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preis M. 1.20. |
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preis M. 1,60. |
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Juristisch- RR EREBE
Grenzfragen..- =
Zwanglose Abhandlungen.
Herausgegeben von
Geh. Justizrat Prof. Dr. jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr.med. A. Hoche,
Halle a. S. Freiburg i. B.
Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, p
Lublinitz i. Schles.
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men
Halle a. S.
Carl Marhold Verlagsbuchhandlung.
1907.
Kornfeld, Geh. Med.-Rat Dr. Hermann, Kgl. Gerichtsarzt in
Gleiwitz. Psychiatrische Gutachten und richterliche Be-
urteilung. B. G. B. § 104, § 6. St. G. B. § 5l.
Bresler, Oberarzt Dr. Joh., in Lublinitz. Greisenalter und
Criminalität.
| Hoppe, Dr. Hugo, Nervenarzt in Königsberg i. Pr. Der Alkohol
| im gegenwärtigen und zukünftigen Strafrecht.
| Vereinigung für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie im
| Grossherzogtum Hessen. Bericht über die vierte Haupt-
versammlung am 17. Juli 1906 zu Butzbach. Herausge-
geben im Auftrage des Vorstandes von Privatdozent Dr.
A. Dannemann.
Erörterung über die Einrichtung von Gefängnislehrkursen. Von Prof.
Dr. Mittermaier in Gießen und Strafanstaltsdirektor G. Clement
in Butzbach. — Die Tätigkeit des medizinischen, im besonderen des
psychiatrischen Sachverständigen vor Gericht. Von Prof. Dr. Mitter-
maier, Oberstaatsanwalt Theobald, Landgerichtsdirektor Bücking
und Prof. Dr. Sommer in Gießen.
Gross, Dr. jur. Alfred, Prag. Kriminalpsychologische Tat-
bestandsforschung. |
Bresler, -Oberarzt Dr. Joh., Lublinitz. Die pathologische An-
schuldigung. — Beitrag zur Reform des § 164 des Straf-
gesetzbuchs und des $ 56 der Strafprozeßordnung.
raca Gutachten
| und
richterliche Beurteilung,
B. @ B. § 104, $6. St @ B. § 5i
Von N
Geheimen Medizinal-Rat Dr. Hermann Kornfeld,
Kg]. Gerichtsarzt in Gleiwitz O.-Schl.
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Alle Rechte vorbehalten.
Halle a. S.
Verlag von Carl Marhold.
1907.
J BER psychiatrische
""renzfragen,
Zwanglose Abhandlungen
Herausgegeben von
Prof. Dr. jur. A. Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche,
Halle a. S. Freiburg i. B.
Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler,
Lublinitz i. Schles.
V. Band, Heft 1.
Psychiatrische Gutachten und richterliche 2
o Beurteilung. |
B. G. B. $ 104, § 6; St. G. B. $ 51.
- Von
Dr. Hermann Kornfeld, Gleiwitz O.-S.
Gelegentlich der Besprechung der Ansichten der beiden an-
geführten Autoren soll obiges Thema abgehandelt werden:
J. Grasset: Demi-fous et Demi-Responsibles. Rev. d. d. m.
15. II. 1906.
Mercier: Criminal Responsibility 1905.
Motto:
Sed trahit invitam
Nova vis; aliudque eupido
Mens aliud suadet.
Video meliora proboque
Deteriora sequor.
I.
Die Halbnarren — Lombroso’s mattoidei — existieren -
nach Grasset nicht bloss in der Belletristik (bei Turgenjew, Tsche-
chow, Gorki; bei Cervantes, Bourget etc.). Entgegen den beiden
herrschenden Ansichten, nach deren einer es nur Verantwort-
liche und Nichtverantwortliche, nach deren anderer es über-
haupt nur Grade der Verantwortlichkeit gibt, will G. wissen-
schaftlich nachweisen, dass die Demi-fous eine wohlcharakteri-
sierte Gruppe bilden. Abgesehen von den partiellen Delirien
gewisser Geisteskranker in den Anstalten und häufig bei’ perio-
discher Störung in den freien Zwischenräumen (Epileptische)
gibt es Demi-fous, welche niemals, auch nicht vorübergehend,
wirklich irre und unzurechnungsfähig : sind: Die Dysharmoni-
schen und die Originale und Exzentrischen (Régis), die
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3890 Í
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Psychasthenischen, die Impulsiven (Exhibitionisten, zum Teil
Vagabonden, Klepto-, Pyro- etc. -manen). So z. B. Guy de
Maupassant, Villemain, Schuhmann, Rousseau, anag, Nitzsche,
a anbar E. Poë, Voltaire.
Das“ "Gehlrl; Speziell die graue Rinde, besitze, wenigstens
i a ‚boher.W abrscheinlichkeit, für den höheren und niederen
.. 5 Beychismhs: versehielöne Zentren, so daß eine Erkrankung der
ersten die Intelligenz nicht vollständig aufzuheben braucht.
Und infolge der verschiedenen Entwickelung dieser Zentren.
könne jemand intelligent und unvernünftig sein; ja ein Genie,
ohne gesunden Menschenverstand: Mentale und Psychische —
der altbiblische Unterschied zwischen Seele und Geist klingt
beiläufig hier durch. *) ; Ä
Gegen Höricourt, Bernheim, Le Dantei u. A.
weist G. überzeugend nach, daß Vorhandenzäin von Mittel-
stufen ganz und garnichts beweist für die Evolutionstheorie;-
namentlich nichts dafür, daß (nach Spencer) „eine Lebens-
weise, bei der die Moralität nicht mitspielt, sich gradatim un-
merklich in eine moralische oder unmoralische transformiert“.
Die Existenz der drei verschiedenen Klassen: Vernünftige, Demi-
fous. und fous, wird nicht dadurch erschüttert, daß es Fälle
gibt, bei denen die Unterbringung in eine der Klassen unent-
schieden bleiben muß.
Einem geistesgesunden Menschen könne man keine motiv-
losen Handlungen suggerieren. „Verantwortlich ist jeder, der
. < . imstande ist, den vergleichsweisen Wert seiner ver-
schiedenen Antriebe und Beweggründe zu beurteilen.“
Der Sachverständige habe nun bei diesen Demi-fous zu
entscheiden, „ob der Zustand ihres Nervensystems ihnen er-
laubt, zu wissen,. was sie gemacht haben, die Tragweite ihrer
Handlung zu erkennen, sie verantwortlich macht oder nicht.
Und die Gesellschaft habe die Pflicht: >»
1. sie ärztlich zu behandeln,
2. bei ihrer Verheiratung den ärztlichen Rat befolgen zu
lassen, a 5 |
—
*) Vergl. des Verfassers: Verbrechen und Irresein im Lichte der alt-
biblischen Auffassung. Marhold, 1905.
er p as
3. die Rechtsbrecher unter ihnen in Spezial-Asyle zu
schicken.“
„Die überzeugtesten Spiritualisten meinen doch, daß Gei-
stesstörung eine körperliche, keine Seelenkrankheit ist (S. 893).*
Es sei also nach G. davon auszugehen, daß Geistesstörung eine
Erkrankung des Körpers ist und lediglich der ärztlichen Be-
"handlung unterliegt.
Das ist nun allerdings grundverschieden von der Ansicht
des Verfassers, daß, wo ein nachweisbaresKörperleidenSymp-
tome von Geistesstörung bedingt, von einer eigentlichen
Seelenstörung nicht gesprochen werden darf. Es ist gleich-
giltig, ob jemand deliriert, weil er Typhus, Lungenentzündung
etc. hat, ob infolge Alkohol oder anderer Gifte, von Auto-
intoxikation, oder von Hirn-Syphilis, -Geschwülsten, -Erwei-
chung etc.; ob diese körperliche, spez. Gehirnkrankheit akut
oder chronisch ist. Ein Beweis für die so verbreitete Ansicht,
daß Gehirn- und Geistesstörung zusammenfällt, ist — das wird
ja anerkannt — nicht geliefert; und namentlich nicht durch
die Sektion. Aber auch ihre einfache Möglichkeit, geschweige
Wahrscheinlichkeit, ist nicht plausibel gemacht. Die Erfah-
rungen über die Wahnbildung, induziertes Irresein, psychische
Epidemien, vor dem Tode eintretende Klarheit sprechen u. A.
deutlich genug dagegen.
Noch weniger sollte die Tatsache, daß Geistesstörung, die
-ohne nachweisbare Körperstörung aufgetreten ist und weiterhin
von körperlichen Störungen gefolgt war, zu der petitio prin-
zipii führen, daß doch eine Gehirnstörung ursprünglich be-
standen haben müsse, die nur mit unseren jetzigen Mitteln
nicht zu diagnostizieren gewesen wäre.
Wie Verfasser anderweit*) auszuführen Gelegenheit hatte-
Das Gehirn erkrankt durch ungeeignete Zufuhr von Blut. Da nun
alles, was zur Erhaltung des Individuums dient, sowohl zu der
körperlichen, wie der geistigen, nur durch das Blut zugeführt
‚wird, so können geistige Einwirkungen selbstverständlich auch
| *) Anmerk. zu Blandford: Scelenstörungen 1878. Krit. d. geistigen.
Gesundh. in Friedr. Blätt. f. ger. Med. 1878. Hdb. d. ger. Med. 1884
Entmündigung 1891 ete |
er u,
nur mittels des Blutes eine funktionelle oder organische Stö-
rung im Gehirn bewirken. |
Daß nun .die richterliche Auffassung der Geistesstörung
als krankhafte Störung des Geistes lediglich für die Beurtei-
lung der psychiatrischen Gutachten in foro zu Grunde gelegt
wird, beweist schlagend die folgende, vielleicht wichtigste
R.-G.-Entscheidung in dieser Beziehung. Sie soll daher aus-
führlich wiedergegeben werden.
B. G. B. § 104. Nach dem Standpunkt des B. G. B. ist die Frage
der Geschäftsunfähigkeit aus den Erscheinungen der angeblichen
Erkrankung im Verkehrsleben, also aus der eigenen Darstellung
des Beklagten, seinen Erklärungen, dem an den Tag gelegten
Verständnis des rechtlichen Vorgangs und seiner Folgen, sowie
aus den Wahrnehmungen anderer über das Verhalten des Be-
klagten zu lösen. Der ärztliche Befund und die ärztliche Wissen-
schaft kann auch hier für das Verständnis mancher Erscheinungen
wertvolle Aufschlüsse bieten. Von einer Gebundenheit des Richters
an den ärztlichen Ausspruch kann aber hier nicht die Rede sein,
zumal da es sich um eine wesentlich tatsächliche Frage handelt.
Bei der Frage der Geschäftsfähigkeit eines Menschen kommt
das Denkvermögen, als Erkenntnis- und Schlußvermögen, sowie
das Vermögen, Vorstellungen und daraus entspringende Begehren
in Handlungen umzusetzen, dann das Willensvermögen, letzteres
in positiver und negativer Richtung, der Widerstandsfähigkeit
gegen einen anderen Willen in Betracht. Von dem normalen Zu-
stande des Geschäftsfähigen abweichende Dauerzustände — Geistes-
krankheiten — können auf angeborener Verkümmerung der Organe,
die als Sitz der geistigen Funktionen erachtet werden, auf mangel-
hafter Entwicklung dieser Organe und auf pathologischen Ver-
‚änderungen, somit auf physiologischem Gebiete liegen. Die Wir-
kung kann eine geringere und eine stärkere, sogar eine so
weitgehende sein, dass nach gewöhnlicher Lebensauffassung ein
‘vernünftiges Handeln nicht mehr erkennbar wird. Die Willens-
schwäche, insbesondere in ihrer passiven Seite, dem Mangel an
‚Widerstandskraft, kann einem solchen geistigen Defekte ent-
springen; sie kann aber auch bei voller geistiger Ungetrübtheit
ihren Grund lediglich in psychischen Eigenschaften, wie Gutmütig-
keit, Mangel an Mut oder an Beständigkeit und Festigkeit des
Willens, haben. Die Geschäftsunfähigkeit oder nur Geschäftsbe-
schränktheit begründende Anomalie des. geistigen Zustandes eines
Menschen kann somit nach dem Grunde der Entstehung, wie nach
der Art der Erscheinung verschieden sein. Das B. G. B. gibt
‘aber keinen Anhaltspunkt für die Unterscheidung zwischen Geistes-
krankheit und Geistesschwäche nach der Art und dem Grunde
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der Anomalie. Die Unterscheidung der Geisteskrankheit und der
Geistesschwäche mit ihren verschiedenen rechtlichen Folgen der
_Geschäftsunfähigkeit und Geschäftsbeschränktheit sollte auch nicht
auf den Grund und die Art der Anomalie des geistigen Zu-
standes begründet werden. Man hielt die Auffassung des Lebens
für genügend, um auf diesen Unterschied zwei verschiedene Ent-
mündigungsfälle zu gründen. Hiernach kann nur der Grad der
Anomalie für die Untersuchung entscheidend sein. Steht der
Kranke in seinem Denken, Wollen und Handeln infolge einer
geistigen Anomalie, gleichviel auf welchem Grunde sie beruht,
nach allgemeiner Lebensauftassung auf einer so niedrigen geistigen
Stufe, daß sein Handeln so wenig. Beachtung verdient als das
eines Kindes unter sieben Jahren, so liegt Geisteskrankheit im
Sinne des Gesetzes vor, während der geringere Grad der Anomalie
mit der Rechtsfolge der Geschäftsbeschränktheit als Geistes-
schwäche erscheint (Planck, B. G. B. II. Aufl. Bd. I, S. 58;
Hölder, Kommentar z. B. G. B. I. Bd. Allgemeiner Teil S. 81;
R. G. Z. Bd 50, S. 203). Das Gericht muß wohl von den phy-
siologischen und psychiatrischen Erörterungen in den Gutachten
der Sachverständigen Kenntnis nehmen, aber es hat keine Ver-
anlassung, sich auf diese Gebiete zu begeben. Die Beweiswürdi-
gung hat nach den eingangs angeführten Grundsätzen zu erfolgen.
Das Urteil der Aerzte, die bei derselben Grundlage im Entmün-
digungsverfahren Geistesschwäche im Sinne des $ 114 B. G. B.,
im gegenwärtigen Prozesse aber Geisteskrankheit im Sinne des
$ 104 Z. 2 B. G. B. annahmen, für die Bildung des eigenen Ur-
teils für nicht maßgebend zu erachten, stand dem Berufungsrichter
gemäß § 286 Z. P. O. frei. (R. G. VI, 14. XI. 1904.) Entsch.
d. R. G. pag. 43, Nr. 138.
II.
Sir Fritz James Stephen sagt in seinem berühmten
kriminalistischen Werke: „Um gehörig zu verstehen, was untet
Zwang und nichtgesunder geistiger Beschaffenheit (insanity)
gemeint ist, bedarf es einer bestimmten Auffassung von Frei-
heit und Gesundheit, d. h. von normaler, durch Krankheit
nicht affizierter Willenstätigkeit.“ Er bedauert, daß Gefühl
und Willen bei der Entscheidung der Zurechnungsfähigkeit
nicht berücksichtigt sind.
Nach dem englischen Gesetz (Lewis, Smith und
Hawke: The insane and the law 1895) muß „in allen Fällen,
wo insanity. behauptet wird, klar bewiesen werden, daß der
zur E
‚Angeklagte zur Zeit der Tat unter einem solchen Verstandes-
defekt infolge von Geistesstörung litt, daß er die Natur und
Beschaffenheit seiner Handlung nicht erkannte; oder, daß er,
-wenn er sie erkannte, nicht erkannte, daß sein Handeln Un-
recht war“. Viele Richter nehmen an: Verantwortlichkeit
‚hinge davon ab, ob er anders konnte? (if he could help it?)
‚Andere Richter fragten: War die Person imstande, die Natur
‚der Handlung zu verstehen und ein richtiges, vernünftiges Ur-
teil über ihre Folgen. für ihn und andere zu fällen; und war
'sie soweit frei, als die Handlung in Betracht kam?
Blandford, eine anerkannte Autorität auf dem Gebiete
der Psychiatrie, definiert obiges Erkennen unter Umständen
als „das eines infolge von Krankheit unter dem geistigen
Niveau stehenden Menschen, dessen Verantwortlichkeit daher
entsprechend vermindert ist“.
Mercier (Criminal Responsibility 1905) möchte die Prü-
fung der Geisteskrankheit von Rechtsbrechern auf folgende
‚Grundsätze gestützt wissen (S. 203):
ee Die Mehrzahl Geisteskranker ist gesund bezüg-
lich eines erheblichen Teils ihrer Handlungen; und: wenn sie
in diesem Teil Verbrechen begehen, mit Recht strafbar. Die
Jury hat zu entscheiden, ob die Geistesstörung die Handlung
‚beeinflußt hat oder nicht. Jedoch sind sie milder zu bestrafen.
Voraussetzung für den vollständigen oder teilweisen StraferlaB
(auf Grund der Unfähigkeit, die Natur und Beschaffenheit der
Tat zu erkennen, sowie der Unfähigkeit zu erkennen, daß sie
Unrecht war) ist: Die Erkenntnis muß auch eine Würdigung
der Umstände, unter denen die Tat erfolgte, in sich schließen,
und berücksichtigt werden, daß jemand erkennen kann, die
Tat sei Unrecht, aber nicht, wie unrecht sie sei.“ Er hält
— und so auch das Komitee, welches der Med. Psych. Assoc.
1896 berichtete — eine Änderung der Gesetzesvorschriften
bez. der krim. Zurechnungsfähigkeit nicht für erforderlich; insb.
nicht einen Zusatz betreffend des Verlustes der Kontrolle über
den Willen (gegen Stephen). - Denn „in der Praxis begegnen
wir nicht Geisteskranken, bei denen Defekt oder Störung des
Willens ge:ondert von solchen des Verstandes isoliert vor-
handen sind. Ausgenommen seien allerdings gewisse Zwangs-
DEE ge
handlungen (Besessensein und in gewissen Fällen moral in-
sanity)“.
Im deutschen Straf- sowohl wie im B. G. B. wird bei.
den Handlungen das Hauptgewicht auf den Willen gelegt. In
Betracht kommt vor allem
St. G. B. $ 51.
„Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der
Täter zur Zeit der Begehung der Tat sich in einem Zustande von
Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit be-
fand durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen
war.“
Bei Personen zwischen 12 — 18 Jahren kommt außerdem die
‚geistige Fähigkeit in Betracht, die Strafbarkeit der Handlung zu
erkennen, Nachgebildet ist dem § 51 im B. G. B.: 8 104 Abs. 2
(Geschäftsunfähigkeit), sowie $ 827 a OEE für
Schaden).
Hiernach wird im allgemeinen angenommen, daß jede Hand-
lung, so weitsienicht automatisch, oder durch körperliche Erkrank-
ungen (Krämpfe, Veitstanz u. Ä.) bedingt ist, bei strafmündigen
Personen mit freiem Willen erfolgt; daß aber eine Geistesstö-
rung an und für sich nicht notwendig die Beraubung des freien
Willens bedingt. |
Vgl. R. G. VI. 14. XI. 1904 zu S. 104. Entsch. d. R. G.
S. 43, Nr. 138.
EE Bei der Frage der Geistesstörung eines Menschen
kommt das Denkvermögen, als Erkenntnis und Schlußvermögen,
sowie das Vermögen, Vorstellungen und dort entspringende Be-
gehren in Handlungen umzusetzen; dann das Willensvermögen,
letzteres in positiver und negativer Richtung, der Widerstands-
fähigkeit gegen einen anderen Willen in Betracht... ..
Die Willensschwäche, insbes. nach ihrer passiven Seite, der
Mangel an Widerstandskraft, kann einem geistigen Gefühl ent-
springen, sie kann aber auch bei voller geistiger Ungetrübtheit
lediglich in psychologischen BRUNNEN. Bar ihren Grund
haben.
Das Gericht muß wohl von den physiologischen und. psycho-
logischen etc, Erörterungen in dem Gutachten des Sachverständigen
Kenntnis nehmen, aber es hat keine Veranlassung, sich auf diesem
Gebiete zu begegnen. ....
Ferner:
Entsch. des R. G. in Strafsachen. Bd. I, S. 149. Urteil
vom 17. I. 1880. St. P. O. 8 203. | |
= FO: a
„Das Ldg. spricht aus, daß Angekl. an der fixen Idee leide,
von Unbekannten beschimpft und verfolgt zu werden und sich
dadurch in Beziehung auf eine bestimmte Richtung seiner Geistes-
tätigkeit in einer krankhaften Störung derselben befinde; es spricht
auch aus, daß die Aufhebung des geisteskranken Zustandes bei
ihm nicht zu erhoffen sei; es gesteht ihm aber sonst ein richtiges
logisches Denken, Reden und Handeln zu. Daraus erhellt, daß
es nur eine partielle..... krankhafte Geistesstörung des An-
geklagten unterstellt hat, die sich lediglich in einer bestimmten
Richtung offenbare, während im übrigen der Gebrauch seiner Ver-
standeskräfte und die Freiheit seines Handelns nicht beschränkt
sei. Da es nun auch wirklich die Verhandlung mit dem Angekl.
bewirkt, seine Erklärung entgegengenommen, sein Verzicht auf
Zeugen berücksichtigt und die Feststellung der Tat auf sein Ge-
ständnis gestützt hat, so muss angenommen werden, dass es zur
Zeit der Verhandlung den geistigen Zustand des Angeklagten als
vorhanden angenommen hat, welcher die Verhandlung mit ihm er-
möglichte.“
Oberlandesgericht Lübeck, 22. V. 1892. Jur. W. 1887,
Bl. 118, Nr. 11 (Schaffer-Ahrens):
„Forensisch kommt es nicht auf die psychische Diagnose, ob
jemand geisteskrank ist, an, sondern, ob der Zustand die Zurech-
nungsfähigkeit aufhebt: Also kann jemand trotz Verfolgungswahn
handlungsfähig sein.“
Entsch. Oberlandesg. Stuttgart, 25. X. 1889.
„Nicht jede Art und jeder Grad von Geistesstörung hebt die
Willens- und Handlungsfähigkeit auf; es ist vielmehr in jedem
Falle zu untersuchen, ob nach Lage der Sache ein Zusammenhang
der geistigen Störung und der in Frage stehenden Rechtshand-
lung gegeben ist. Die Rechtshandlungen eines Melancholikers
z. B., der in technisch medizinischem Sinne für geisteskrank er-
klärt wird, werden meistens vollkommen gleichgiltig sein. Das
frühere Obertribunal hat mit Recht sich dahin ausgesprochen, daß,
wer bloß an fixen Ideen leide, sich durchaus nicht in einem die
Zurechnungsfühigkeit unbedingt ausschließenden Zustande befinde.“
Man muss also annehmen, da zu einer letztwilligen Ver-
fügung, zu einer Zeugenaussage, zu einer Verteidigung nach
den entsprechenden Richtungen hin ein freier Wille gehört,
daß ein solcher ungeachtet des Bestehens einer geistigen Stö-
rung nach Ansicht des Gerichts bei jemanden doch vorhanden
sein kann. Dafür sprechen auch folgende gerichtliche Urteile:
Entsch. d. R. G. U. v. 8. I. 1897. 29. Bd. S. 324.
IT ss
| Verhandlungstähigkeit.
„vorderrichter: „wenn auch der Angekl. in manchen Bezieh-
ungen verworrene Anschauungen verrate“, so...
wüßte er doch sehr gut, weshalb er vor Gericht stehe; daß
er die Fragen über geine persöplichen Verhältnisse richtig beant-
wortet und sich für die Beschuldigungen in der Hauptsache durch-
' aus angemessen verteidigt habe, daß endlich . . . sein Gedächtnis
kein schlechteres als bei geistig beschränkten Personen überhaupt sei.“
Rg.: Die Beziehungen auf das U. vom 17. I. 1880, Bd. 1,
S. 149 sind verfehlt, weil dieses den ganz anders liegenden Fall
im Auge gehabt habe, daß der sonst noch vollkommen denkfähige
Angekl. an partieller Geistesstörung leide. „Richtig ist es,
daß dem angegebenen Urteil ... welches sich mit der Frage be-
‚schäftigte, ob eine Hauptverhandlung mit dem Angekl., der an Geistes-
störung leide, möglich sei, der Fall:zu Grunde lag, daß nach der
Unterstellung des Vorderrichters nur eine partielle, auf einzelne fixe
Ideen oder falsche Vorstellungen beschränkte Störung der Geistes-
tätigkeit des Angekl. vorlag, die sich lediglich in einer bestimmten
Richtung offenbarte, während im übrigen der Gebrauch seiner Ver-
standeskräfte und .die Freiheit seines Handelns nicht beschränkt
war, während nach der Begründung des angefochtenen Urteils von
einer solchen Form der Geistesstörung nicht die Rede ist, viel-
mehr — an sich unbeschränkt — die gegenwärtige Geistesstörung
des Angekl. festgestellt wird. Dennoch aber erscheint der in jenem
Urteile des R. G. am Schlusse der betreffenden Ausführung sich
vorfindende Satz:
„Die Beurteilung der Frage, : ob der Angekl. sich in einem
solchen Zustande geistiger Freiheit befinde, daß mit ihm in
giltiger Weise strafgerichtlich verhandelt werden kann, steht
lediglich dem erkennenden Richter zu“, richtig. ....
Unzulässig muß es erachtet werden, die Möglichkeit der Ver-
handlungsfähigkeit geisteskranker Angekl. lediglich auf die Form
der in sog. fixen Ideen sich ausprägenden Geistesstörung zu be-
schränken; denn die Formen der Geistesstörung sind so mannig-
fache und ihre Übergänge so feine und oft schwer erkennbare,
daß die Beschränkung jener Möglichkeit auf eine bestimmte Form
der Geistesstörung etwas Willkürliches an sich tragen würde. Es
muß vielmehr immer Gegenstand der konkreten Feststellung bleiben,
ob die Geisteskrankheit eines Angekl. eine derartige ist, daß er...
verhindert sein würde... in der Verhandlung seine Interessen
vernünftig zu vertreten, seine Rechte zu wahren und seine Ver-
teidigung in verständiger und verständlicher Weise vorzuführen.“
Ferner St.G.B. § 160. R.G.III B. Golt. 1905. Urt. v. 6. 2.
1905. | |
„Der Tatbestand wird dadurch, daß der Verleitete den falschen
Eid in einem Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit
— 12 —
geleistet hat, nicht unbedingt, sondern nur dann ausgeschlossen,
wenn zufolge dieser Störung den Schwörenden die Vorstellung für
das Wissen und die Bedeutung des Eides gefehlt hat. Nach dem
Gutachten des Sachverständigen war nicht ausgeschlossen, daß F.
‘bei den im Eid: gemachten Aussagen in einem Zustande krank-
'hafter Störung des Geistes gehandelt habe und sich deshalb nicht
habe feststellen ‚lassen, ob F. schuldhafterweise, sei es
'wissentlich oder fahrlässig, falsch geschworen habe. ...
Ersichtlich .... hat damit nur zum Ausdruck gebracht
werden sollen, daß der Zeuge infolge krankhafter Störung seines
Geistes bei Abgabe seines Zeugnisses keine genügende Vorstellung
darüber gehabt habe, ob die von ihm bekundeten Wahrnehmungen
‚der Wahrheit entsprochen. hätten oder nicht.“
Für das Wesen der Pflegschaft kann z.B. ein Geisteskranker
sehr wohl Verständnis haben:
| R. G. 26. IX. 1904.
- „Ein Geisteskranker, der unter Pflegschaft steht, kann mit
Erfolg Aufhebung derselben beantragen, wenn der Antrag mit
voller Erkenntnis der Sachlage gestellt ist.“
$ 193 in Verb. mit $ 41 und 42. .Golt. Arch. 51. . Jahrg,
4.—5. Heft,- 1905.
Ä Wille.
Auch bei Geistesstörung kann, ungeachtet Freisprechung nach
$ 51, auf Einziehung der Schrift erkannt werden. . Der Wille
kann auch bei Geistesstörung tatsächlich auf Wahrnehmung be-
rechtigter Interessen gerichtet sein. Es ist überdies tatsächlich
festgestellt, daß der Angekl. in der freien Betätigung seines
Willens nicht behindert war, soweit es darauf ankam, seine Inter-
essen und Rechte, die er für verletzt hielt, zu verteidigen. Ein
solcher Wille ist für die Anwendung $$ 185, 186, nicht aber für
§ 164 von rechtlicher Bedeutung.
Das St. G. B. $ 1—3 spricht von Handlungen. Hand-
lungsfähigkeit (Planck, B. G. B. I, S. 149) umfaßt so-
wohl die Fähigkeit zu rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen
(Geschäftsfähigkeit), wie die Verantwortlichkeit für unerlaubte
Handlungen und für Verletzung obligatorischer Verpflichtungen.
Willenserklärungen (Staudinger, Komm. zum b.
G. B. I, S. 292) sind solche Handlungen, d. h. irgendwie
wahrnehmbare Betätigungen des menschlichen Willens, welche
nach der Lebenserfahrung einen Schluß darauf zulassen, daß
durch sie der Handelnde eine Gestaltung, oder Veränderung
-privater Rechtsverhältnisse vornehmen will. Zu B. G. B. § 104,
II, wird dort (S. 309) bemerkt: Die freie Willensbestimmung
kann hier nur im Sinne der normalen Willensbestimmung
aufgefaßt. werden, welche erfolgt auf Grund richtiger Auffassung
der Erscheinungen der Außenwelt in vernünftiger Überlegung..
Bekanntlich sind die Ansichten der Psychiater darüber
geteilt, ob der Sachverständige lediglich sich über die Art des
Geisteszustandes aussprechen oder auch die Folgerung ziehen.
soll bez. der Beraubung des freien Willens, der Zurechnungs-
fähigkeit. Weshalb er in einem Gutachten, in dem es sich
doch ‚lediglich um geistige Vorgänge handelt, diese FO PRIRE
nicht ziehen. soll, ist nicht abzusehen.
Planck (Komm. I. B. G. B. $ 104, Anm. 2 spricht sich
in bejahendem Sinne :aus:
„Entw. 1, 8 64 sprach von den des Vernunftgebrauchs be-
raubten Personen. .. e. In der 2. Komm. hat. man mit Rück-:
sicht auf die geltend gemachten Bedenken beschlossen, sich an,
$ 51 St. Œ. B. anzuschließen. Auch durch diese Fassung werden.
nicht alle Zweifel beseitigt; aber sie gewährt den Vorteil, daß
auf der reichen strafrechtlichen Literatur über diesen Gegenstand
fortgebaut: werden kann. Unter einem Zustande krankhafter
Störung der Geistestätigkeit sind ebenso wie unter Geistesstörung
des $6 Abs. 1 auch die Zustände angeborener anormaler Störung
der Geistestätigkeit mit zu verstehen. Ob der freie Wille durch
einen solchen Zustand ausgeschlossen wird, ist eine medizinische
oder durch ‚Untersuchung des einzelnen Falles zu entscheidende
Frage.“ ;
Gerade weil die Rechtssprechung die Ansicht vieler Psy-
chiater nicht teilt, daß der Geist ein unteilbares Ganze ist,
der nicht partiell erkranken und sonst gesund sein kann, muß
der Sachverständige, soweit möglich, ausführen, inwieweit die
Störung die einzelnen Geistesvermögen, Denken, Fühlen und
Wollen, beeinträchtigt hat. Daß aber die partielle Geistes-
störung von Juristen anerkannt wird, ergibt sich aus zahl-
reichen Entscheidungen (cf. oben). So erst neuerdings aus der
Entsch. R. G. IV vom 8. V. 1905. J. W. p. 395:
„Die Anwendung des $ 1569 sei mithin auch nicht bei nur
partiellem ` Wahnsinn und nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil:,
dem geisteskranken Gatten... . noch die Fähigkeit verblieben
ist, die meisten bürgerlichen und die Vermögensangelegenheiten.
zu besorgen. A |
Es entsteht zunächst die Frage, ob es besondere Willens-
=> Ji =
erkrankungen gibt. Binswanger (Binswanger und Sie mer-
ling, Lehrbuch der Psychiatrie 1904, S. 46) verneint diese Frage
schlankweg. „Willensstörungen im Sinne der alten Psychiatrie,
welche auf der Annahme einer eigenen Willenssphäre aufge-
baut war, gibt es nicht. Störungen der sog. Willenshand-
lungen werden verursacht durch ..... krankhafte Vorgänge
auf dem Gebiete der Empfindungen, der Vorstellungsbildung,
der Ideen-Assoziation und der Gefühlserregungen.*“ [Psycho-
logen, wie James (Textb. of Psych. 1892), sind darin aller-
dings anderer Meinung.)*) In demselben Lehrbuche (S. 90)
spricht Westphal von Melancholikern mit krankhafter Willen-
losigkeit. Höffding (Psychol. 1893, übers. v. Bendixen,
8.461) spricht sich dahin aus: „Während des Zwischenraumes
zwischen dem Auftauchen des Willens und der Handlung sollen
die Motive miteinander ringen, damit das innerste Wesen der
Seele für die Handlung bestimmend werde. Dieses Spiel der
Möglichkeit kann indeß eine anziehende oder ängstigende Ge-
walt auf das Gemüt ausüben, sodaß es sich darin verliert,
nicht zu Entschluß und Handlung zu kommen. Hier liegt der
Weg zum Wahnsinn.“
Wenn man aber auch z. B. Zwangsideen, Willenslosigkeit
nicht auf primäre Willenserkrankung zurückführt, sondern sie
nur als Folge bezw. Begleiterscheinungen von Erkrankungen
der Intelligenz und des Gefühls auffaßt, jedenfalls wird bei
Begutachtung wegen Geistesstörung nachzuweisen sein, ob und
inwieweit die Bedingungen des Willens krankhaft verändert .
waren; denn wie das vorgesetzte Motto zeigt, ist Abweichung
vom rechtlichen Handeln bei geistesgesunden Menschen zu-
gleich mit Erkenntnis des Unrechtes der Handlung Bea
charakteristisch für Rechtsbrecher. .
Wenn im englischen Recht nicht vorgeschrieben ist,
daß die Abwesenheit des freien Willens zur Zeit der Tat
*) „Der fundamentale Akt des Willens besteht in einer Spannung
der Aufmerksamkeit. Ist das Denken bez. eines Entschlusses zum Ab-
schluß gekommen , so tritt alsbald das mysteriöse Band zwischen dem Ge-
danken und den Bewegungs-Zentren in Aktion; und in einer Weise, welche
wir nicht einmal vermuten können, leisten die körperlichen Organe | dann
Gehörsam; als wenn sich dies von selbst verstände.*
==. 15 =
straflos macht, so erscheint es doch selbstverständlich, daß
tatsächlich die Begutachtung auf dasselbe Ziel hinauskommen
muß, wie bei uns.
„Ich denke“, sagt Mercier (S. 149), „es ist klar, daß Ver-
antwortlichkeit auf das Wollen beschränkt ist, und daß keine
Handlung von-rechtswegen strafbar sein kann, welche nicht ge-
wollt ist. ... Je gründlicher der freie Wille die Handlung durch-
dringt und bei derselben mitspielt, desto vollständiger ist die Ver-
antwortlichkeit des Handelnden.“
Bei uns setzt das Gesetz voraus, daß bei Strafmündigen
durchschnittlich eine genügende Geistesfähigkeit vorhanden ist,
um zu erkennen, was recht und unrecht, strafbar und straflos
ist; daß ihre Handlungen in rechtlicher Beziehung auf ver-
ständliche Beweggründe zurückzuführen sind, daß diese Hand-
lungen, wozu natürlich auch Reden und andererseits bewußte
Unterlassung von Handeln und Reden gehört, auf dasjenige
schließen lassen, was der Handelnde auf Grund seines Ver-
standes und seiner Gefühle gewollt hat.
Die Wahl, ob man eine Handlung begehen. oder unter-
lassen soll, führt zu einer Entscheidung; und mit dieser ist
das Motiv zum Handeln gegeben. Unzurechnungsfähige Geistes-
kranke handeln aus unvernünftigen, unverständlichen, perversen
Motiven oder ohne solche. Es ist nachzuweisen, ob der An-
geklagte unfähig war, mit der vom Gesetz voraysgesetzten ge-
sunden Überlegung zu wählen. Das englische Gesetz ver-
langt den Nachweis, daß er Recht und Unrecht nicht zu unter-
scheiden vermochte; das deutsche, daß er seines freien
Willens beraubt war. Ersteres folgerte aus jenen intellekten .
Gesichtspunkten, ob der freie Wille bei der Tat vorhanden
war; letzteres hat den Charakter der Tat, als einer Willens-
äußerung, im Auge und spricht direkt aus, worauf die psychia-
trische Beurteilung der Tat hinauskommen soll. Ein Paazpiener
Unterschied ist demnach nicht vorhanden.
Der Sachverständige wird sich also über rein geistige Zu-
stände auszusprechen haben. Für seinen Standpunkt wird es.
aber von grundlegender Wichtigkeit sein, daß er Psychologie .
und körperliche Krankheit auseinanderhält. Krankheiten -des
Körpers können den Menschen unfähig machen, sich seiner
Organe gehörig zu bedienen, z. B. genügende Gesichtseindrücke
> 6.
aufzunebmen, wenn die Medien der Augen trübe oder gar un-
durchsichtig sind. Die Fähigkeit zum Sehen kann dabei.
erhalten sein, was sich klar herausstellen kann, wenn die Ver-
dunkelung behoben worden ist. Die Augäpfel können intakt,
aber das Sehzentrum kann verändert und hierdurch das Sehen
behindert oder aufgehoben sein. Kann die Erkrankung: be-
hoben werden, z. B. durch Operation einer Gehirngeschwulst,
durch antiluötische Behandlung, so wird sich dann zeigen,
daß die Fähigkeit zum Sehen nicht geschädigt zu sein
braucht. Das Gleiche gilt, wenn die Assoziations-Bahnen im
Gehirn geschädigt sind; ebenso, wenn die Fähigkeit der Ge-'
webe, frühere Sinneseindrücke von Neuem hervorrufen zu.
lassen — früher als eine Art Phosphoreszieren betrachtet —,
also das Gedächtnis gelitten hat. Aber .die menschliche Seele
wird ebenso wie in dem Beispiel des Sehens, nicht krankhaft
affiziert, wenn 'nur irgendwelche körperliche Krankheiten sie
veikinderi; auf die Außenwelt in gesunder Weise einzuwirken.
Umgekehrt verhält es sich bei den Krankheiten der Seele.
Der Körper des Menschen ist materiell nur gradweise von
dem der Tiere verschieden. Die Verschiedenheit des Menschen
vom Tiere beruht nicht auf einem Mehr und Weniger, insbes.
nicht auf einer feineren Organisation des Gehirns, sondern,
darauf, daß bei dem Menschen etwas hinzugekommen ist, was
im Tierreich nicht anzutreffen ist, und was eine bis ins Uaend-
liche fortgesetzte Evolution des Tieres ihm nicht geben konnte: .
Auf dem Vorhandensein der menschlichen Seele. Wenn man,
wie dies doch von so vielen Psychiatern geschieht, den Um-
stand unberücksichtigt läßt, daß die pathologische Anatomie
mit ihren Versuchen, die Psychose im eigentlichen Sinne auf
materielle Vorgänge zurückzuführen, vollständig Fiasko ge-
macht hat; daß von den im Gehirn bei Geisteskranken nicht
selten vorgefundenen Veränderungen diejenigen nicht in Be-
tracht kommen, die als Folge der geistigen Störung aufzu-
fassen sind, so ist es erstaunlich, daß Gehirn- und Geistes-
krankheiten_nach immer für identisch gehalten werden. Daß
eine krankhafte Veränderung des Gehirns beim Träumen `
existiert, wird doch von niemandem angenommen; und doch
ist der Zustand so vieler Geisteskranker weiter nichts als ein
ze a
fortgesetzter Traum, aus dem manche nach kürzerer oder
längerer Zeit allmählich oder plötzlich erwachen, wie z. B.
Fälle von kurz vor dem’ Tode erlangter Klarheit chronischer
Geisteskranker beweisen.
Bekanntlich hat Cervantes im Don Quixote ein able
Erwachen in durchaus naturgetreuer Weise dargestellt. Das
ist jedenfalls ein auffälliger Widerspruch in so vielen Lehr-
büchern, daß Rückfälligkeit, wenn sie bis zu einem gewissen
Grade angestiegen ist, nun auf einmal Geistes- resp. Gehirn-
krankheiten sein sollen; ebenso der Irrtum, wenn er so einge-
wurzelt ist, daß man ihn als fixe Idee, als partiellen Wahn
anspricht; ebenso die Leidenschaft, wenn sie eine solche Höhe
hat, daß sie den Befallenen unfähig macht, zur Zeit der Tat
die Strafbarkeit seiner Handlung einzusehen (Ira furor brevis
est). |
= Das kann doch nicht zweifelhaft sein, daß eine exzessive
Höhe eines leidenschaftlichen Ausbruches, z. B. die plötzliche
augenscheinliche Erkenntnis von der Untreue eines angebeteten
Weibes, jemanden ebenso vorübergehend sinnlos machen kann,
wie sinnlose Trunkenheit. Hat man es im letzteren Falle in-
deß mit einer körperlichen Affektion zu tun, also damit, daß
die im Alkohol vergifteten Organe dem Geiste nicht mehr ge-
horchen können, so stellt das obige Beispiel die exzessive
Eifersucht, wiederum einen rein geistigen Prozess dar. In
beiden Fällen wird der Täter trotz der vorübergehenden Sinn-
losigkeit — bei der Trunkenheit wenigstens ın England; selbst-
verständlich, wenn sie nicht unverschuldet ist — als zur Zeit
der Tat zurechnungsfähig erachtet werden müssen und zwar
auf Grund der Erwägung, daß jemand im ruhigen, bezw. nüch-
ternen Zustande sich von den Gesetzen der Moral völlig
durchdringen lassen, so gefestigt sein muss, dass er auch in
den Momenten der Leidenschaft, der Trunkenheit keinen Rechts-
bruch begeht.
Aus dem Vorgehenden ergibt sich, daß für diejenigen
Störungen der Handlungen eines Menschen, die einer Störung
des Geistes als Folge einer körperlichen Krankheit zuzuschreiben
sind, der Arzt als der berufene Sachverständige zu gelten hat.
Wo solche indeß nicht nachzuweisen sınd, wo die Erkrankung
2
= I:
sich als eine rein geistige darstellt, kann es zweifelhaft sein,
ob der Kriminalist oder Psychologe, der erfahrene Gefängnis-
beamte, nicht besser imstande sind, den Zustand zu beurteilen,
als ein Arzt. Für eine große Anzahl der Fälle wird allerdings
der Psychiater der erfahrenste, in der geeignetsten Weise vor-
zugehen fähige Sachverständige sein; und besonders dann,
wenn er zugleich Erfahrungen über die Geistesverfassung der
Rechtsbrecher hat, und die Psychologie, nicht die Pathologie,
zur Grundlage macht für das, was er beurteilen soll: rein
geistige Zustände, abnorme Seelenvorgänge.
Zwei Klippen sind es vornehmlich, an denen der Sach-
verständige Gefahr läuft, in seinem Gutachten anzustoßen.
Die eine betrifft den Umstand, ob er sich über die Tragweite
des Ausspruches „in der Regel“, „höchst selten“, „ausnahms-
weise“ klar ist. Der Verteidiger kann ev. dann mit Recht ein-
werfen: „Warum soll hier nicht eine Ausnahme, wenn auch
eine noch so seltene, vorliegen können?“ Die zweite ist, daß
er nicht im allgemeinen beantworten soll, ob der Täter gesund
oder krank ist; sondern: Ist er in bestimmten Beziehungen für
gesund zu erachten? für zurechnungsfähig? für straffähig?
zeugnis-, vernehmungs-, letzwillig zu verfügen fähig? Wie
oben erwähnt, kann bei einem Wahn, ja mehreren Wahnvor-
stellungen, nur eine partielle Geistesstörung vorliegen. Wer
kann überhaupt bestimmt wissen, ob jemand tief im Innern
eine Wahnidee hegt? Wie schwer ist es, wie .oft vom
Zufall abhängig, daß die Anstaltsärzte feststellen, daß ein zur
Beobachtung Eingelieferter partiell verrückt ist?
Und wo ist die Grenze zwischen eingewurzeltem Irrtum
und Wahnidee, zwischen unverbesserlicher Kriminalität und
moral insanity, zwischen Dummheit und Schwachsinn? In
ersterer Beziehung, in Bezug auf Irrtum und Geistesstörung ist
folgende Stelle in Kuno Fischer (Schopenhauers Leben,
Werk und Lehre, 1898, S. 523) von Interesse:
„Schopenhauer hat in seiner Lehre... .. den TENT
des absoluten Egoismus ins Auge gefaßt. Wenn dieser Egoismus
EE sich ..... praktisch gebärdet; wenn er (S. 271),
der theoretische Egoismus, ernstlich wähnt, dass alle Objekte
ausser dem eigenen Leben Phantome sind, so gehört er ins Irren-
haus,“
Der Sachverständige hat in der Tat nur zu begutachten,
ob der Rechtsbrecher imstande war, bez. der bestimmten Tat
einzusehen, daß er sich straffähig gemacht hatte. Glaubt er
von höheren Motiven aus die bestehenden Gesetze nicht be-
achten zu dürfen, so ist wiederum die Frage, ob er ein
Märtyrer oder ein Geisteskranker ist? ein echtes Genie oder
ein Verrückter? Unter Geistesstörung zur Zeit der Tat ist
die Leidenschaft in den höchsten Graden gewiß auch als vor-
übergehende Störung des Geistes, als krankhafte, zu bezeichnen.
Daß sie nicht exkulpiert*), liegt in vielen Fällen daran, daß
auch in den modernen Staaten jenes erhabene Gebot des
Dekalogs: „Du sollt dich nicht gelüsten lassen .. . .“, in den
Strafgesetzen zu Grunde gelegt wird. Eine große Reihe von
Leidenschaftsverbrechen würde unterblieben sein, wenn kein
strafbares Begehren der Leidenschaft vorangegangen und dem-
nach den Paroxysmus nicht hätte zur Entwickelung gelangen
lassen; und so zeigt sich auch hier wieder, daß alle Fäden
der Ethik, der Beziehungen des Menschen zu Gott und zu
seinen Mitmenschen auf die ewigen Gesetze des Decalogs zu-
rückzuführen sind.
Drei in jüngster Zeit erfolgte Freisprechungen mögen hier
Platz finden:
I. Vor den Geschworenen von Rom stand vor einigen Tagen
ein hübscher, junger Mann, ein Musikkorporal, Roberto Tommasini.
Er war angeklagt, mit seiner Schwester ein sträfliches Liebesver-
hältnis gepflogen und sie erschossen zu haben; die Schwester er-
wiederte seine Neigung. Um ihrer Leidenschaft zu entfliehen,
verlobte sich das junge Mädchen mit einem anderen Mann, wäh-
rend er sich durch eine Geliebte zu trösten suchte. Vergebens
war jedoch ihr Bemühen. - Da ihre Leidenschaft größer war als
die kalte Überlegung, beschlossen sie, gemeinsam zu sterben. Ein
sicherer Schuß machte dem Leben der Schwester ein Ende; der
zweite Schuß drang in die Brust des Bruders, ohne ihn zu töten.
Ein bei dem Verwundeten gefundener Zettel enthielt die Ver-
sicherung, daß sie gern sterben. Tommasini leugnete übrigens
intimere Beziehungen zu seiner Schwester als eine tiefe keusche
Neigung. Bloß die Verleumdungen des Bräutigams seiner Schwester
*) In Frankreich allerdings nicht selten.
2%
und anderer schlechter Menschen hätten sie in den Tod getrieben.
Die Sachverständigen gaben ihr Urteil dahin ab, Tommasini wäre
derartig von kranker Leidenschaft und Erregung besessen ge-
wesen, daß seine strafgerichtliche Verantwortlichkeit in bedeutendem
‚Maße vermindert erscheine. Dieser Ansicht schlossen sich die Ge-
schworenen an, die auf Grund vollkommener Unzurechnungsfähig-
keit im Moment der Tat den unglücklichen Bruder freisprachen.
Tommasini wurde bloß wegen unbefugten Tragens einer Waffe zu
'100 Tagen Arrest verurteilt, wobei ihm die Untersuchungshaft
eingerechnet wurde, sodaß er sofort freigelassen wurde. Weinend
fiel er seiner älteren Schwester in die Arme — und weinend ver-
ließen beide die Stätte des Gerichts, (Bresl. Ztg.)
II. Die Rache des betrogenen Ehemannes. Vor dem Kriegsge-
richt zu Bukarest spielte sich der Schlußakt eines Dramas ab, das
vor wenigen Wochen in Pitesi allgemeines Aufsehen erregt hatte.
Dort lebte der Oberleutnant D. in anscheinend glücklicher Ehe
mit der ihm erst seit wenigen Monden angetrauten jungen und.
sehr hübschen Tochter eines Popen. Eines Tages bekam der
Oberleutnant Kasernendienst, der ihn 24 Stunden von seiner Be-
hausung fernhielt. Des Abends sandte er seinen Burschen mit
einem Auftrage an seine Frau, die ihm sagen ließ, daß sie den
Besuch des Doktors empfangen habe. Daril wurde durch diese
‚Mitteilung beunruhigt. Einmal fürchtete er, daß seine Frau er-
krankt sei, und dann hielt er es auch für möglich, daß unter dem
. Doktor der Tierarzt gemeint sein könne, von dem er wußte, daß
er seine Frau mit Liebesanträgen verfolgte. Er entschloß sich,
heimlich Umschau in seinem Hause zu halten, und eilte aut Neben-
wegen nach seiner Wohnung. Dort fand er die Türen verschlossen,
und auf sein lautes Pochen und Rufen antwortete niemand. Da-
‚gegen bemerkte er, daß im Salon das Licht ausgelöscht wurde,
worauf er mit einem wuchtigen Fußtritt die Tür eintrat und in
den Salon drang. Dort huschte seine Frau an ihm vorüber ins
Freie, während ein Geräusch hinter dem Sofa verriet, dass sich
dort jemand versteckte. Außer sich vor Wut eilte jetzt D. in
das daneben befindliche Schlafgemach, ergriff seinen dort liegenden
Revolver und feuerte in das Versteck. Es zeigte sich bald, daß
er mit den Schüssen einen jungen Studenten, den früheren Ge-
liebten seiner Frau, erschossen hatte, der an dem Tage zufällig
auf Besuch nach Pitesti gekommen war, bei welcher Gelegenheit
es ihm rasch gelungen war, das Herz der jungen Frau von neuem
zu gewinnen. Das Kriegsgericht sprach unter dem Beifall des
Publikums den Oberleutnant frei, da es annahm, daß dieser in
einem Moment der Sinnesverwirrung gehandelt habe, ver-
urteilte ihn aber wegen Verlassens seines Postens zu zwei Monaten
Arrest.
23,9 ==
' IH. Eine Familientragödie in Berlin: Die 38 Jahre alte Uhr-
macherfrau Elisabeth H., geb. W. war angeklagt,. am 30.
‚November v.. J. ihre 6 jährige Tochter Ekaterina vorsätz-
lich, aber ohne Überlegung getötet und ihren 7 Jahre alten Sohn
Meleti zu töten versucht zu haben. Die Angeklagte gibt in
ruhiger, bestimmter Sprache folgendes Bild ihrer unglücklichen
‚Ehe: Unsere im Jahre 1898 geschlossene Ehe war in den ersten
drei Jahren‘ sehr glücklich. Dies hörte auf, als Frl, D, mit
meinem Manne in, Beziehungen trat. Seitdem wurde mein Mann
schlechter und brutaler gegen mich, 'entzweite sich in dem Ge-
'schäfte, wo er arbeitete, mit aller Welt, gab schließlich seine
schöne Stellung auf und blieb eine Zeit lang stellungslos,: etablierte
sich dann als Uhrmacher, vernachlässigte aber sein Geschäft und
‚wurde gegen mich gemeingefährlich roh. Da ich mir keinen an-
deren Rat mehr wußte, suchte ich die Person, mit der er mich
hinterging, in ihrer Wohnung auf. Auf meine -Bitten, doch yon
meinem Mann abzulassen, .antwortete sie: „Es tut mir ja sehr
leid, daß ich mich’ mit Ihrem Mann eingelassen habe; aber ich
bin doch auch ein Mensch!“ Seit dieser Zeit wurde mein Leben
unerträglich. Mein Mann spie mir ins Gesicht, beschimpfte mich
in der gemeinsten Weise und schlug mich, daß ich oft aus Mund
und Nase blutete.e. Auch mit Füßen hat er mich getreten, daß
ich ohnmächtig wurde. Nach solchen Auftritten warf er mich
aus der Wohnung, so daß ich häufig auf der Bodentreppe näch-
tigen oder auf der Straße herumlaufen mußte. Schließlich tauchte
in mir der Gedanke zu sterben auf. Meine Kinder, die ich über
alles liebte, wollte ich doch nicht zurücklassen, auch gegen sie
war mein Mann roh und herzlos. Am Schreckenstage vormittags
zwischen 10 und 11 Uhr, kaufte ich in einer Drogerie für eine
Mark Lysol, verteilte es in drei Gläser und sagte zu den Kindern:
„Es ist Wein, wenn wir den trinken, dann werden wir den Himmel
und die Engel sehen und vom Vater wegkommen!* Die Kinder
glaubten mir unbedingt und konnten die Zeit nicht erwarten, bis
sie trinken konnten. Endlich reichte ich ihnen den Trank und
leerte mein Glas auch. Wir verloren alle drei das Bewußtsein.
Erst im Krankenhause kam ich wieder zu mir, als man mir den
Magen ausgepumpt hatte. Mein armes Mädchen habe ich infolge
der Vergiftung durch den Tod verloren, der Knabe ist gerettet
worden. Ich bitte die Herren, zu meiner Entschuldigung folgendes
zu berücksichtigen: mein schweres Augenleiden, denn ich bin
außerordentlich kurzsichtig, das auf meine Kinder vererbte Augen-
leiden, meine trostlose Gegenwart, den Ausblick auf eine trostlose
Zukunft und vor allen Dingen die ungerechte und brutale Be-
handlung meines Ehemannes. Ich habe die Tat aus Verzweiflung
und Mutterliebe verübt, denn meine Kinder waren mein ein und
mein alles. Ich wollte sie vor einem so grausamen Schicksal be-
wahren, wie es mir beschieden war. Weiter habe ich nichts zu
sagen. — Es gelangte dann noch ein Brief zur Verlesung, den
die Angeklagte kurz vor der Tat an ihren Mann geschrieben hat.
Darin heißt es: „Hier hast Du meine Antwort auf Deinen gestrigen
Schlag: den ich heute unternehme, wird .Dich :wohl besser treffen.
Du selbst sollst jetzt leiden für alle. die bitteren Tränen, die ich
um Dich geweint habe, für alle die Tausend Ungerechtigkeiten,
die ich erlitten habe, und für die Mißhandlungen, die Du mir zu-
gefügt hast. O, wie wird Dein Herz beben, wenn Du mit einem
Male drei Leichen im Hause hast, Du Feigling! Deine Kinder,
die Du niemals geliebt hast, und denen Du kein freundliches Wort
gesagt hast, sind tot, ihr Blut komme auf Dich, da Du und die
D. die Schuld trägst. Alles dies um ein loses, für Jeden
erreichbares Frauenzimmer. Wir feiern jetzt bessere Weihnachten
wie Du und Deine Geliebte. Elender Heuchler, ich hasse Dich
bis in den Tod!“ — Die Beweisaufnahme bestätigte vollinhaltlich
diese Leidensgeschichte; der Ehemann der Angeklagten und seine
Geliebte D. machten von ihrem Zeugnisverweigerungsrechte
Gebrauch. Trotzdem die Sachverständigen die Zurechnungsfähig-
keit der Angeklagten bejaht hatten, verneinten die Geschworenen,
indem sie offenbar den Ausführungen des Verteidigers folgten,
daß die Tat in einem durch Verzweiflung herbeigeführten Moment
der Bewußtseinstrübung begangen worden, sämtliche Schuldfragen,
worauf das Gericht die so schwer geprüfte Gattin und Mutter
freisprach.
(reisenalter und Griminalität.
— 2
Dr. Johannes Bresler,
Oberarzt an der Prov.-Heil- und Pflegeanstalt zu Lublinitz (Schlesien).
Alle Rechte vorbehalten.
Halle a. 8.
Verlag von Carl Marhold
1907.
Juristisch-psychiatrische
Grenziragen.
Zwanglose Abhandlungen
Herausgegeben von
Prof. Dr. jur. A. Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche,
Halle a. S. Freiburg i. B.
Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler,
Lublinitz i. Schles.
V. Band, Heft 2/3.
In der Einleitung zur ersten Auflage seiner Psychopathia
sexualis klagt der Altmeister der gerichtlichen Seelenkunde,
v. Krafft-Ebing, dass es das traurige Vorrecht der Medicin
und speciell der Psychiatrie sei, beständig die Kehrseite des
Lebens, menschliche Schwäche und Armseligkeit, schauen zu
müssen, aber er hofft, der Arzt möge darin seinen Trost finden,
dass er auf krankhafte Bedingungen vielfach zurückzuführen
vermag, was den ethischen und ästhetischen Sinn be-
leıdigt, und dass er damit die Ehrenrettung der Menschheit
vor dem Forum der Moral, des Einzelnen vor den Richtern und
den Mitmenschen übernimmt.
Diese „Ehrenrettung“ erscheint mir eine besonders dank-
bare Aufgabe beim Greisenalter. Denn das Gefühl der
Achtung vor einem greisen Haupte, von den meisten Sitten-
gesetzen gefordert und selbst ohne Mitwirkung der Erziehung
in Jedem von uns gesprossen, wird verletzt und wandelt sich
leicht in Abscheu beim Anblick eines Greises, der am Lebens-
abend sich auf die Bahn des Verbrechens verirrt und nach einem
mühevollen und segensreichen Erdenwallen die letzten Tage im
Zuchthaus fristet. Doppelt schwer wird ihm die Schuld be-
messen. Denn er musste doch eine grosse Erfahrung, einen
festen Charakter besitzen und Weisheit gilt ja als Vorzug des
Alters und er hat das Ideal, das wir Alle erstreben, ein hohes
ehrenvolles Alter, entehrt. Retten wir die Ehre eines solchen
Greises, so schützen wir dieses Menschheitsideal. Wer wollte
nach Gerechtigkeit rufen, in wem rührt sich nicht das Gefühl
einer gewissen Erleichterung und Befriedigung, wenn er den
Richter mildernde Umstände einem Greise auf der Anklagebank
zubilligen oder seine Schuldlosigkeit aussprechen hört? Aber
in das Mitleid mit dem Freigesprochenen mischt sich die Freude,
die Menschheit als solche vor einer Schande bewahrt zu sehen.
1*
E 2
Wenn im Nachstehenden versucht wird, aus den vielen,
unbenutzt herumliegenden Bausteinen eine Grundlage für die
Beurtheilung seniler Verbrecher zu fügen, so glaube ıch also
nicht befürchten zu müssen, dass darin ein neuer Angriff auf
Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit gesehen und dass der
bekannte Vorwurf wiederholt wird, den die Psychopathologie
öfter hört, wenn sie sich mit Objekten des Strafrechts be-
schäftigt.
Die „öffentliche Meinung‘ schwankt in dem Urtheil über
Nutzen, Umfang und Tragweite psychiatrischer Thätigkeit vor
Gericht hin und her. Heute klagt‘ sie, dass davon des Guten
zu viel geschieht („Die Abwälzung strafbarer Personen auf die
Irrenhäuser hat während des letzten Jahrzehnts einen auffallend
grossen Umfang angenommen. Im Volksbewusstsein erregt die
Art, wie sich vor den forensischen Schranken Justiz und medi-
cinische Wissenschaft gegenüberstehen, längst Befremden. Auch
an gesetzgeberischer Stelle beginnt’ man diesen Vorgängen er-
höhte Aufmerksamkeit zuzuwenden‘“‘ — im Berliner Tageblatt vom
16. Juli 1906); ein anderes Mal glaubt sie sich aufregen zu
sollen, dass die Worte des Psychiaters unbeachtet im Gerichts-
saal verhallten. Wenn nun bekannt würde, dass z. B. in Preussen
jährlich reichlich über 300000 strafrechtliche Verurtheilungen,
und jährlich etwa 300 Freisprechungen wegen Unzurechnungs-
fähigkeit in Folge krankhafter Störung der Geistesthätigkeit
auf Grund der Beobachtung in der Irrenanstalt ($ 81 St. P. O.)
(nach der amtlichen Statistik in den Jahren 1904 und 1905
zusammen 585) stattfinden, dass ferner die Gesammtzahl der in
diesen beiden Jahren gemäss $ 81 St. P. O. den Irrenanstalten zur
Beobachtung Ueberwiesenen 915, hiervon die Zahl der auf Grund
des Ergebnisses dieser Beobachtung Freigesprochenen mithin
noch nicht ?/, beträgt, so würde man wahrscheinlich diese Zahl
sehr niedrig finden. —
Ich will zunächst statistisch nachweisen, dass schon ausser-
halb des Bereichs desPathologischen eineZunahme
der Verbrechen, und zwar bestimmter Arten, im
Greisenalter stattfindet. Alsdann soll das zusammen-
gestellt werden, was über die leichteren, daher
ir IB, ge
schwer erkennbaren psychischen Abweichungen und
Krankheiten der Greise bekannt ist.
Eine monographische Bearbeitung dieses Themas existirte
bis jetzt nicht. Die Criminalstatistik für das Deutsche Reich,
welche sich sehr eingehend mit den jugendlichen Delinquenten
befasst, widmet den greisen Verbrechern kein besonderes
Studium.
I.
Ueber die Criminalistik des Greisenalters gewinnt man
aus der „Criminalstatistik für das Deutsche Reich“ interessante
Daten. Schon 1899*) habe ich in der Statistik für 1897 ge-
funden, dass bei einer Art von Verbrechen, nämlich „Unzucht
mit Gewalt an Bewusstlosen, Kindern, Nothzucht, Verleitung
zum Beischlaf durch Täuschung,“ die Verurtheilungen im
Greisenalter nicht in dem Maasse abnahmen, wie bei den ande-
ren Deliktskategorien. Ich hatte nur diejenigen Delikte zum
Vergleich herangezogen, wo im Ganzen mehr als 5 Greise ver-
urtheilt worden waren, weil bei niedrigeren Zablen der Zufall
eine zu grosse Rolle spielen könnte. Da ergab sich, dass die
Zahl der Verurtheilten im Alter von 60 bis 70 Jahren zu der-
jenigen der Verurtheilten im Alter von 70 und mehr Jahren
bei den genannten sexuellen Delikten sich wie 2:1 verhält,
bei den übrigen schwankte dieses Verhältniss von 4:1 bis 8:1.
Bei „fahrlässiger Inbrandsetzung“ fand ich, dass sogar mehr
Personen im Alter von 70 Jahren und darüber, nämlich 7, ver-
urtheilt worden waren als in dem vorangehenden Altersdecennium,
nämlich 6, und dass von jenen 7 Greisen 6 ohne Vorstrafen
waren. Die von mir damals angestellte Berechnung der Pro-
zentzahl der Nichtvorbestraften unter den Verurtheilten ergab
ein Ansteigen dieser Zahl schon vom fünften Decennium an.
Die nachfolgende Tabelle zeigt dies ausführlicher.
*) Greisenalter und Verbrechen. Psych. Wochenschrift I. Jahrgang,
1899.1, 8. 142.
ee
18 bis 21 bis 25 bis
unter 21 | unter 25 | unter 30
Jahre Jahre Jahre
15 bis
unter 18
ahre
unter 15
Jahren
Verurtheilte über-
haupt 11678 | 25649 | 69982 | 56902 | 61923
Verurtheilte ohne :
Vorstrafen ° 10356 19716 51300 32600 31 207
PEREAS, be en fee De mem aE
| 88 % 76% 73% 57 % 50%
30 bis 40 bis 50 bis 60 bis | 70 Jahre
unter 40 | unter 50 | unter 60 | unter 70 und
Jahre Jahre Jahre Jahre | darüber
Verurtheilte über-
haupt 84950 | 46020 | 21951 7198 1451
Verurtbeilte ohne
Vorstrafen 39062 22752 11718 4383 981
| 46% 49% 53% 60% 67%
Die nachstehenden beiden Tabellen ergeben auch für die
folgenden Jahre ein ähnliches Resultat. Die Statistik für 1898
: und 1900 war mir leider nicht zugänglich.
Verhältniss der Gesammtzahl der Verurtheilten zur Zahl der
verurtheilten Greise (beide Geschlechter).
1899 1901 1902 1903
Gesammtzahl 478139 | 497 310 | 512329 | 505 353
ohne Vorstrafen 282924 | 287963 | 293450 | 285549
Greise 1952 | 1981 1984 | 1988
ohne Vorstrafen | 1369 1375 1313 1325
(I
Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze überhaupt.
(Criminalstatistik für das deutsche Reich.)
EEE 15 bis 18 bis 21 bis 25 bis 30 bis 40 bis 50 bis 60 bis |70 Jahre
Jahren unter 18 | unter 21 | unter 25 | unter 30 | unter 40 | unter 50 | unter 60 | unter 70 und
h Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre darüber
überhaupt 12902 | 26930 | 70382 | 62593 | 65887 | 86147 47502 | 21715 | 7418 1466
Verurtheilte ohne |
Vorstrafen 11345 20786 51183 35543 32493 38 656 22333 11226 | 4269 985
Verurtheilte 1901
überhaupt 13417 | 28152 | 68963 | 64620 | 71196 | 90756 | 49885 | 23157 | 7759 1513
Verurtheilte ohne
Vorstrafen 11902 21806 49294 | 35713 34 440 39911 22 370 11477 4353
Verurtheilte | 1902 im
überhaupt 14202 | 28506 | 69070 | 64588 | 75307 | 93507 | 52323 | 24149 | 7967 1499
Verurtheilte ohne
Vorstrafen 270 22276 49 386 35231 | 35536 40459 23 23035 | 11844 | 4398 11 844 4398
Verurtheilte | | 1908
|
|
_
überhaupt 14264 | 27883 | 66079 | 62672 | 74985 | 93547 | 52016 | 23550 | 7844 | 15833
Verurtheilte ohne |
Vorstrafen 12802 21831 46890 33917 | 34774 39612 | 22231 11311 4263
Was die relative Häufigkeit der Nichtvorbestraften im
O —
Greisenalter anlangt, so könnte sie auf den ersten Blick damit
genügend erklärt scheinen, dass mit zunehmendem Alter die
Feststellung der Vorstrafen schwieriger, die Verheimlichung
leichter wird. Nun trifft dies aber gerade bei den Beamten
nicht zu, deren Vorleben den Behörden doch hinreichend bekannt
zu sein pflegt. Denn die Statistik giebt hierfür folgende Zahlen:
Verbrechen und VergehenimAmte (männlich und weib-
Gesammtzahl der Ver-
urtheilten
ohne Vorstrafen
Zahl der Verurtheilten im
Alter von 70 Jahren und
darüber
ohne Vorstrafen
lich zusammen):
1316
1059
8
8
1342
1098
7
4
1341
1054
er
í
7
|
| 1899 | 1901 | 1902
|
1908
1250
1005
8
7
Verbrechen und Vergehen im Amte nach den ein-
zelnen Lebensaltern (männlich und weiblich zusammen).
Unter 15 Jahre alt
15
18
21
25
30
4)
50
60
ohne Vorstrafen
bıs unter 18 Jahre
ohne Vorstraten
bis unter 21 Jahre
ohne Vorstrafen
bis unter 25 Jahre
ohne Vorstrafen
bis unter 30 Jahre
ohne Vorstrafen
bis unter 40 Jahre
ohne Vorstraten
bis unter 50 Jahre
ohne Vorstrafen
bis unter 60 Jahre
ohne Vorstrafen
bis unter 70 Jahre
ohne Vorstrafen
70 Jahre und darüber
ohne Vorstrafen
alt
alt
alt
alt
alt
alt
alt
alt
rldaae alt -_ I ı rt I 2
|
1.1899 | 1901 | 1902 WEHREN EB RE ER 1901
s i
18 22
17 21
102 99
94 90
161 152
142 140
224 240
182 193
377 406
293 320
243 233
182 184
142 126
109 96
41 56
32 44
8 7
8 4
1902
z
58
166
143
260
202
413
323
217
159
134
104
57
43
7
7
_1903 |
|
|
|
1903
2
2
13
81
78
141
127
266
225
340
264
221
165
125
87
52
37
8
-
‘
— 10 =>
Man kann also in Anbetracht dieses Verhältnisses der Vor-
strafen nicht behaupten, dass die verbrecherischen Neig-
ungen im Alter zunehmen oder dass die verbrecherischen
Greise Gewohnheitsverbrecher von langer Lebensdauer sind.
Verhältniss der Gesammtzahl der Verurtheilten zu
derjenigen der Greise bei einzelnen Verbrechens-
arten.
Unzucht mit Gewalt, an Bewusstlosen u. s. w., an Kindern,
Nothzucht; Verleitung zum Beischlaf durch Täuschung. (Nur
männliche.)
——, —
| 1899 | 1901 | 1902 | 1903
Gesammtzahl 4557 5107 5067 5375
ohne Vorstrafen 2677 2959 2817 3023
Greise 79 93 90 76
ohne Vorstrafen 58 64 60 51
Die verhältnissmässig geringe Abnahme dieses Deliktes im
Greisenalter zeigen folgende Ziffern:
Verurtheilte
im Alter von 50 | im Alter von 60 | im Alter von 70
bis unter 60 bis unter 70 Jahren und darüber
Jahren Jahren |
1899 365 185 19
ohne Vor-
strafen 164 104 58
1901 439 o To ær 93
ohne Vor-
strafen 208 143 64
1902 | 1902 | 430 |€ 228 90
ohne Vor-
strafen 199 sin OOO a 117 60
1903 462 297 | 76
ohne Vor-
strafen 211 159 | 51
EEE i vo
Zur Würdigung dieser Zahlen seien beispielsweise die ent-
sprechenden Ziffern bei einfachem Diebstahl mitgetheilt (nur
männlich).
Verurtheilte
im Alter von 50 | im Alter von 60 | ,
bis unter 60 bis unter 70 Fe Alter von 70
Jahren ` Jahren | ahren und darüber
1899 Æ 2207 Ei 815 TES
ohne Vor-
strafen 1040 455 107
1901 2504 916 em 173
ohne Vor-
strafen 475 BE Zn En 105
= 1902 | 2454 921 199
ohne Vor-
strafen s a a E 448 124
EEE | 21u | s39 © æ
ohne Vor-
strafen 1021 115
Desgleichen bei Beleidigung (nur männlich).
1899 4531 1625 352
ohne Vor-
strafen 2956 1158 265
1901 u 4510 1599 325
ohne Vor-
strafen 2788 1098 258
1902 < 4798 1730 332
ohne Vor-
strafen 3016 1215 241
1903 4737 1648 358
ohne Vor-
strafen 1141 280
Das Missverhältniss wird klar, wenn man gegenüberstellt,
dass im Greisenalter für „Unzucht etc.“ die natürliche Ursache
als vermindert gelten müsste, dagegen bei Diebstahl die ver-
— 12 —
ringerte Erwerbsfähigkeit, bei Beleidigung das gesteigerte Selbst-
bewusstsein des Alters, das Gefühl den Anderen an Erfahrung
überlegen zu sein und auf einen gewissen Respekt Anspruch
zu haben, die Entstehung des Delikts begünstigen kann.
Fahrlässige Inbrandsetzung.
Gesammtzahl 695 656 461 636
ohne Vorstrafen 560 519 350 497
Greise 6 $ 7 10
obne Vorstrafen 5 6 5 8
weibliche
Gesammtzahl
‘männliche
131 188 136 188
|
ohne Vorstrafen 121 176 120 171
Greisinnen 3 10 3 6
ohne Vorstrafen 2 9 3 4
Im Jahre 1901 wurden 9 Frauen im Alter von 50 bis unter
60 Jahren, 6 Frauen im Alter von 60 bis unter 70 Jahren, dagegen
10 Frauen im Alter von 70 Jahren und darüber wegen fahr-
lässiger Inbrandsetzung verurtheilt; im Jahre 1903 betrug dieZahl
der im Alter von 60 bis unter 70 Jahren verurtheilten Frauen
7, die Zahl der im Alter von 70 und mehr Jahren Verurtheilten 6.
Bei denjenigen Delikten, welche im Greisenalter mit den
höchsten. absoluten Ziffern vertreten sind, — gefährliche Körper-
verletzung, einfacher Diebstahl, Beleidigung — ist das Ver-
hältniss der Greisenziffer zur Gesammtziffer dennoch ein kleines.
(Nur Männer).
‘0 Jahre und darüber | Gesamnitzalıl
Gefährliche Körperverletzung.
1899 183 | 87 719
1901 209 | 90 881
1902 198 90 200
1903 200 88 926
= I.
70 Jahre und darüber Gesammtzahl
Beleidigung
1899 352 40811
1901 325 41 275
1902 332 42 884
1908 | 358 42 525
Einfacher Diebstahl
1899 162 (815) 50 135
1901 173 (916) 54791
1902 199 (921) 55 785
1903 203 (879) 53827
Auffallend ist hier die Zunahme der verurtheilten Greise
nach dem Jahre 1903 hin. Die in Klammern daneben gesetzten
Ziffern der Verurtheilten im Alter von 60 bıs unter 70 Jahren
lehren ebenso wie die der Gesammtzahl der Verurtheilten,
dass diese Zunahme nur das Greisenalter betrifft.
Bemerkenswerth ist, dass 1903 bei der Rubrik: Ungesetz-
liche Trauung durch den Geistlichen und vorschrifts-
widrige Eheschliessung die Zahl der Verurtheilten im
7. Jahrzehnt noch einmal wieder zunimmt, in dem sonst ein
zum Theil steiler Abfall der Verurtheiltenzahl stattfindet; das
Gleiche trifft man bei: Andere Verbrechen und Vergehen
in Bezug auf ein Concursverfahren, während bei: Verbrechen
und Vergehen in Beziehung auf den Personenstand das 6. und
T. Jahrzehnt dieselben Ziffern aufweisen. 1901 stehen diese
Jahrzehnte bei der Rubrik Ungesetzliche Trauung etc.
gleich. Bei ihr ist in allen Jahrgängen das Verhältniss der
verurtheilten Greise zur Gesammtzahl der Verurtheilten das
grösste, das überhaupt in dieser Hinsicht die Statistik bietet,
nämlich
| 1899 | 1901 | 1902 | 1903
Zahl der verurtheilten Greise 3 4 7 3
ohne Vorstrafen 3 4 6 3
Gesammtzahl 82 84 139 84
== HdR
Zuwiderhandlungen in Bezug auf Concessionspflicht
usw., gegen behördliche Anordnungen betreffs der
Sicherheitsvorrichtungen bei gewerblichen An-
lagen.
1899
m. | w.
1901 1902 | 1903
m. | w. m. | w. m. | w.
Gesammtzahl 781212685/7912|281919115[3228'978213417
ohne Vorstrafen 4950 | 1947 | 5072 | 1998 | 5848 | 2291 | 6282 | 2397
Unter 15 Jahre alt 9 |110; 6) 6 |10] 9 |11 | 14
ohne Vorstrafen 8 10 5 6 8 9 9 13
15bisunter18Jahrealt | 38 | 50 | 25 | 39 | 37 | 45 | 36 | 28
ohne Vorstrafen . 31 | 43 | 24 | 39 | 36 | 39 | 30 28
18 bisunter21 Jahrealt | 76 | 66 | 57 | 51 | 76 | 74 | 67 | 70
ohne Vorstrafen 5S | 58 | 47 | 47 | 63 | 68 | 56 56
21 bis unter25Jahrealt | 323 | 150 | 356 | 159 | 372 | 203 | 379 | 177
ohne Vorstrafen 254 | 123 | 278 | 138 | 292 | 163 | 310 | 133
25 bis unter 30 Jahre alt |1172] 304 |1128! 370 11325| 425 |1433! 454
uhne Vorstrafen 833 | 238 | 857 | 293 | 939 | 321 | 1005 | 333
30 bis unter 40 Jahrealt [2947| 876 2955| 895 |3350|1014|3532)1084
ohne Vorstrafen 1835 | 620 | 1836 | 621 |2119| 710 | 2254 | 779
40bıs unter 50 Jahre alt |1984! 694 |1918| 734 |2341| 831 |2550| 852
ohne Vorstrafen 1167 | 495 | 1111| 480 | 1379| 562 | 1532| 559
50 bis unter 60Jahrealt | 914 | 372 | 933 | 374 |1174| 434 11302| 484
ohne Vorstrafen 551 | 249 | 563 | 250 | 742 | 285 | 798 | 310
60bisunter 70 Jahre alt | 287 | 119 | 332 | 143 | 374 | 153 | 386 | 201
ohne Vorstrafen 172 | 78 | 225 | 89 | 231 | 103 | 2% | 140
70 und mehr Jahre alt | 55 | 40 | 67 | 44 ; 52 | 39 | 69 | 50
ohne Vorstrafen 35 | 29 | 43 | 32 | 35 | 30 | 46 | 43
Man ersieht aus dieser Tabelle unschwer die relativ hohe
Zahl verurtheilter Greisinnen im Alter von 70 und mehr Jahren.
Die Thatsache der relativen Häufigkeit nicht vorbestrafter
Delinquenten im Greisenalter bleibt also in ihrer Eigenthüm-
lichkeit und in ihrer Bedeutung für die Criminalistik des
letzteren bestehen, desgleichen die relative Häufigkeit gewisser
Verbrechensarten im Greisenalter. Wie sollte man das Letztere
anders erklären wollen als mit dem specifischen Einfluss des
Alters selbst? Diese naheliegende Annahme findet ihre Stütze,
=. To ze
wenn es einer solchen bedürfte, in dem Umstande, dass manche
Strafgesetze Altersschwäche als schuldbefreien des Moment
namentlich anführen und gesondert neben Geisteskrankheit.
Im oldenburgischen Strafgesetzbuche von 1814 sind „ent-
schuldigt gegen alle Strafe“ ..... „4. Personen, welche durch
hohen Alters, Schwäche ihren Verstandesgebrauch verloren
haben“ ...... Wörtlich ebenso drückt sich das bayerische
(1813) und das hannoverische Strafgesetzbuch (1840) aus, nur
heisst es im letzteren „gänzlich verloren“ .... und „durch
hohe Altersschwäche“. Auch ist hier bezüglich der straf-
mildernden. Umstände des Alters eine bestimmte Jahresgrenze
gesetzt: III. Milderung der gesetzlichen Strafe. Art. 102:
„Hohes Alter wirkt nur nach zurückgelegtem sechzigstenJahre
insofern eine Milderung, dass der zur Kettenstrafe oder zum
Zuchthause Verurtheilte unbedingt mit den schweren Arbeiten
verschont wird, wie er denn auch derselben zu entheben ist,
sobald er während der Strafzeit das sechzigste Jahr über-
schreitet.“
Als strafbefreiendes Moment ist die Altersschwäche
ausdrücklich auch im finnländischen (1889) und im schwedischen
(1864) Strafgesetzbuch angeführt. Im ersteren lautet der be-
treffende Paragraph: „Eine strafbare Handlung ist nicht vor-
handen, wenn sie von einem Geisteskranken begangen ist oder
von einem, der zufolge Altersschwäche oder anderer ähnlicher
Ursache den Gebrauch des Verstandes verloren hat“. Im
schwedischen: „Die Handlungen Wahnsinniger und Solcher,
welche des Gebrauchs des Verstandes infolge Krankheit oder
Altersschwäche beraubt sind.“ In letzterem wird auch unter
den Strafmilderungsgründen besonders genannt: „Wer
bei Begehung eines Verbrechens infolge körperlicher oder Geistes-
krankheit oder durch Altersschwäche oder andere unverschuldete
Verwirrung des völligen Gebrauches der Vernunft beraubt war,
wird milder bestraft, wenn er nicht als straflos anzusehen ist.‘
Die Zurechnungsfähigkeit ist nach dem Alter hin an
keine Jahresgrenze gebunden etwa wie es eine solche in anderen
rechtlichen Beziehungen gab und giebt. Im alten Rom waren
Personen, welche das 70. Jahr überschritten hatten,
sr O
von der Ausübung öffentlicher Aemter und der Pflicht
Zeugenschaft zu leisten, befreit.*) Bei uns darf das
Schöffen- und Geschworenenamt mit dem 65. Lebensjahre ab-
gelehnt werden; bei unbesoldeten Stellen in der Gemeindever-
waltung tritt das Recht der Ablehnung und Niederlegung mit -
dem 60. Jahr ein und Personen über 60 Jahre brauchen keine
Vormundschaft zu übernehmen. B. G. B. 1786.
In manchen Ländern bestehen für gewisse Aemter, speciell
militärische Stellen, obere Altersgrenzen, bei denen das Amt
niedergelegt werden muss. (Anders die Gerusia und dgl.)
Solche Einrichtungen sind natürlich nicht maassgebend für die
Frage der Zurechnungsfähigkeit bei Greisen; denn ist es schon
strittig, an welches Jahr allgemein und begriffsweiseder Beginn des
Greisenalters zu legen sei,soherrscht bei den einzelnen Individuen
noch viel grössere Verschiedenheit hinsichtlich des Eintritts der
degenerativen Alterserscheinungen;; es giebt bekanntlich rüstige
Greise von 80 bis 90 Jahren und dekrepide Greise mit 60 Jahren.
Ich bin deshalb auch weit davon entfernt, hier etwa psychia-
trische Vorschläge zur Strafrechtsreform anzubringen. Diese
könnten nur von der Annahme ausgehen, dass viele verurtheilte,
namentlich nichtvorbestrafte Greise zur Zeit der That schen
geistesschwach oder wenigstens im Beginn des Alterblödsinns
waren. Aber zu einer solchen Behauptung könnte nur der
positive Ausfall einer epikritischen Verfolgung der einzelnen
Fälle selbst das Recht geben. Die Nothwendigkeit genauer
Prüfung des Geisteszustandes bei erstmalig zur Verurtheilung ge-
langenden Greisen ergiebt sich jedenfalls aus obigen statistischen
Daten sehr deutlich und dürfte mit der Anerkennung des speci-
fischen Einflusses des Greisenalters auf die relative Häufigkeit
gewisser Verbrechen eo ipso zugestanden sein. —
Die alte römische Bestimmung bezüglich der Zeugenschaft
der Greise erscheint wohl der Wiedergeburt in zeitgemässer
Form werth, wenn Gross**) sagt:
*) A. Thibaut, Ueber die Senectus. Archiv für civilistische Praxis.
VIII, S. 74. 1825.
**) H. Gross, Die Erforschung des Sachverhaltes strafbarer Handlungen.
II. Auflage. München. 1902. Seite 12, Kapitel: „Von den Zeugen“.
eu 17 ze
„Im Greisenalter kommen beide Geschlechter wieder zu-
sammen, wie sie in der Kindheit waren. Sie beobachten und
besprechen die Dinge meistens nach dem Loose, welches ihnen
im Leben zu theil geworden ist, häufig aber weiter hinaus-
gehend, als es den Thatsachen entspricht: verbittert oder ver-
söhnend. Nicht zu vergessen ist bei diesen Leuten, dass sie
fremden Einflüssen fast ebenso zugänglich sind wie die Kinder“.
Ueber die Psychologie des Greisenalters ist nicht viel
Wissenschaftliches geschrieben. Cicero’s Dialog „de senectute“
und Jakob Grimm’s Rede „über das Alter“ (1860) sind mehr
Lobpreisungen des Lebensabends als psychologische Unter-
suchungen der Greisenseele.e Auch die medicinischen Psycho-
logien, z. B. diejenige Lotze’s lassen hier im Stich. W. Wundt
berührt in der neuesten Auflage seiner „physiologischen Psycho-
logie“ das Greisenalter nicht, ebensowenig Ziehen in seinem
gleichnamigen Werke, Spamer und Andere.
Ueber die körperlichen, normalen und pathologischen
Erscheinungen des Greisenalters existiren mehrere Werke.
Eine Berücksichtigung der Altersveränderungen einzelner Organe,
des Bluts, der Athmung, Haut, Muskeln, Knochen, Drüsen,
Sinneswerkzeuge etc. kann aber hier natürlich nicht statthaben.
Wer sich darüber genauer zu informiren wünscht, dem em-
pfehle ich das Buch von F. Friedmann, die Altersveränder-
ungen und ihre Behandlung‘, Berlin und Wien, 1902; über die
Psychologie und die Geisteskrankheiten des höheren Alters ist hier
aber sehr wenig, Forensisches nur andeutungsweise zu finden.
Eine recht annehmbare Auffassung und Darstellung der
psychischen Altersveränderungen finde ich bei J. E. Erdm an n*).
Er schreibt: „Im vierten Lebensalter liessen sich wieder zwei
neunjährige Perioden unterscheiden, deren erste vom vier-
undfünfzigsten bis dreiundsechszigsten Jahre die des alten
Mannes, die folgende die des Greisenalters genannt werden
könnte, welcher letzte Name bekanntlich zur Bezeichnung beider
zusammen dient. (Beim Weibe reicht das vierte Lebens-
alter vom fünfundvierzigsten bis sechzigsten Jahre). Schon in
*) J. E. Erdmann, Psychologische Briefe. II. Auflage. Leipzig
1856. S. 70.
> 19 =
leiblicher Hinsicht wird dies Lebensalter falsch beurtheilt, wenn
man in demselben nur Abnahme der Lebensthätigkeit sieht, an-
statt dass man vielmehr die veränderte Richtung desselben
hervorheben müsste. (Auch das Mannesalter könnte sonst, wenn
man sich auf den Standpunkt des Jünglings stellt, als Decadenz
bezeichnet werden.) In einer abstrakten, aber wichtigen Formel
ist diese Eigenthümlichkeit des vierten Lebensalters als ein
Zurücktreten desperipherischen Lebens gegen das
centrale bezeichnet. Daher verschwinden die schützenden
Bedeckungen gegen die Aussenwelt, die Organe, mit welchen
sie percipirt wird, werden schwächer, die Zähne, die Waffen
gegen die Aussenwelt, brauchen sich ab oder fallen aus, die-
jenigen Muskeln, welche zum Angriff dienen, die Streck-
muskeln, werden schwächer, die körperliche Masse nimmt ab,
der Mensch wird magerer und durch mindergerade Haltung
kleiner, der Schlaf wird wieder länger, alles Veränderungen, .
welche der Entwicklung vom Kindesalter zur Jugend hin dia-
metral entgegengesetzt sind. Das innere Leben des Geistes
entspricht ganz dem, was jene Veränderungen andeuteten. Ein
Band nach dem anderen, welches ihn an die Aussenwelt fesselte,
zerreisst, die Freunde sterben, der Altersgenossen werden immer
weniger, die Kinder haben ihren eigenen Hausstand und lassen
sich nur selten sehen; einsam mit der vieljährigen Gefährtin,
wenn sie ihm blieb, sitzt er daheim. Was er von der Welt
erfährt, afficırt ihn nicht sehr, sein langes Leben hat ihm be-
reits sehr Aehnliches gezeigt und ihn überrascht Nichts. Er
theilt nicht die Befürchtungen und nicht die Hoffnungen der
jüngeren Generation, denn er hat es erfahren, dass jene zu
schwarz malen und diese betrügen. Er, der ein strenger Vater
war, nimmt den Enkel in Schutz gegen den eigenen Sohn,
weil er es erfahren hat, dass Unarten noch nicht den künftigen
Verbrecher ankündigen; er schüttelt schlau den Kopf, wenn
von irgend einer politischen Begebenheit seine Umgebung eine
Umgestaltung der ganzen Welt hofft, er hat es gesehen, dass
die Menschen zu allen Zeiten dieselben bleiben. Dies pflegen
nun die Andern Stumpfheit des Geistes zu nennen. Das ist
sie gar nicht; das eigentliche Resultat des Erlebten, das, wozu
jede Empfindung und jedes Erlebniss dienen sollte, die allge-
Dk
nd
— 2) —
meinen Gesetze, die hält er fest und spricht sie, moralisirend
und in goldnen Sprüchen redend, gern aus. Er schwelgt in
den Schätzen des eignen Innern, die er sammelte. Darum kann
man sagen, dass sich in diesem Alter gewissermaassen das me-
lancholische Temperament wiederhole. Weil die Thätigkeit des
Gesetzgebers und des Philosophen diese Analogie darbieten,
dass jener die allgemeinen Resultate zieht aus dem, was all-
mählich sittliche Gewohnheit ward, dieser sich über das besinnt,
was seine Zeit als anerkannte Norm des Seins und Handelns
fühlt, deswegen kann man sich den Minos nur als Greis
denken, deshalb haben ein Plato, ein Reid, ein Kant ge-
rade in ihrem Greisenalter die herrlichsten Schätze ihres Innern
der Welt offenbaren können. Die Leidenschaften schweigen und
darum ruht die nach Aussen gerichtete Thatkraft, aber die
Weisheit ist nicht minder ein Beweis vom Leben als jene und
sie ist es die dem Greise ziemt, dem nichts schlechter steht,
als Mangel an Würde. Senile Geckenhaftigkeit ist der ent-
setzlichste Anblick, den es giebt. Je mehr das Allgemeine den
Sieg gewinnt über die einzelnen Eindrücke, um so weniger
wird Werth gelegt auf die einzelnen Dinge, desto ruhiger der
Tod erwartet, der bei den Meisten am Ende des vierten Lebens-
alters eintritt. Ich sage mit Absicht bei den Meisten, denn
worauf schon der Umstand, dass das vierte Lebensjahr eine
gleichsam rückläufige Bewegung zur Kindheit hin zeigt, worauf
dieser zu weisen scheint: dass nämlich das Ziel dieser Be-
wegung eine zweite Kindheit sei, dies bestätigt auch die Er-
fahrung, freilich nur an Wenigen, die wir Glückliche nennen
und mit Recht, wenn wir dabei nur nicht vergessen, dass der
Ausspruch: „Glück ist Verdienst“ ebenso richtig ist, wie der
andere, dessen Umschreibung er enthält: „Jeder ist seines
Glückes Schmied“. Ich denke, Sie werden mir nicht die Para-
doxie zumuthen, dass ich den Zustand, wo ein alter Mann
kindisch wird, als das normale Ziel des Lebens ansehe. Nein,
ich spreche von den sehr seltenen Fällen, wo ein Mensch das
fünfte Lebensalter erreicht, das in der That in demselben
Sinne eine zweite Kindheit genannt werden kann, wie in der
Heiligen Schrift davon gesprochen wird, dass wir wieder werden
sollen wie die Kinder, oder von dem von Neuem geboren
ee Di uas
werden. Lassen Sie mich dieses Alter das des - Jubelgreises
nennen, in der That jubelt über ihn die Natur, wie bei seinem
Anblick unser Herz. Es wiederholt sich, wo ein Mensch dies
Ziel erreicht, jene heitere Freude an allem Dasein, die das
Kindesalter charakterisirte, diese Lust an Allem, diese uner-
schütterliche Zufriedenheit, die für Alles sich interessirt, weil
Alles, was erfahren wird, Genuss giebt. Dieser Hunger nach
Wissen, der nie gesättigt wird und doch nie quält, weil die
wieder erworbenen Kinderaugen stets Neues und Schönes sehen
und freudig harrend den kommenden Dingen ins Antlitz schauen.
In diesem Alter schreibt ein Humboldt seinen Kosmos, dichtet
ein Göthe seinen Divan, ergeht er sich nachher wie ein Kind
in der Welt der Kinder, in der Welt phantastischer Märchen
und schliesst es, indem er einen Chor erlösender Geister singt.
Schon im Alterthum gab es Einen, der auch in dieser Be-
ziehung der Göthe desselben genannt werden kann. Fast neun-
zigjährig verfasste Sophokles das Stück, in welchem wir
uns wundern könnten, so christlich klingende Töne der Versöhn-
ung zu vernehmen, wenn wir ihren Sänger nicht eingegangen
wüssten in das Alter des seligen Jubelgreises. An der Schwelle
dieses Alters stand Kant, als er jenen heiter klaren „Streit
der Facultäten“ schrieb, und Plato hatte sie vielleicht über-
schritten, als er sein reifstes Werk vollendete. An dieses
Alter streifte Haydn heran, als er seine Jahreszeiten kom-
ponirte, und er war im schönsten Sinne Kind geworden, als er,
getödtet von der reinsten Lust, Gottes Stimme in seinem Werke
zu hören, starb. Dies Alter erreichte und durchlebte voll-
ständig der, dessen Pinsel an unbefangener heiterer Darstellung
Keiner übertraf, Tizian. Auf diese zwei Mal Geborenen
blicken Sie, wenn ich als das Ziel des Menschen die zweite
Kindheit bezeichne, und vergessen Sie die entsetzlichen Kari-
katuren, die unsere verkümmerte Zeit in den, vor Ablauf sogar
des vierten Lebensalters kindisch Gewordenen so häufig uns
darbietet. Wie die Pflanze erst dann ihre Evolution vollendet
hat, wenn ihr Leben sich wieder in den Involutionszustand
-des Samenkornes zurückgezogen hat, so soll der. Mensch nor-
7 maler Weise zur zweiten Kindheit gelangen, zu welcher das
Greisenalter der Weg ist, ....... “ — Man habe das Greisen-
— 292 —
alter einerseits wie Marasmus und Blödsinn geschildert, anderer-
seits als das eigentliche Ideal des Menschenalters dargestellt;
beides sei falsch. „Jedes Lebensalter ist das schönste, wo es
seiner Idee entspricht, jedes schrecklich, wo es seinen Beruf
verfehlte, das ungeborsame Kind, der träge Jüngling, der un-
zuverlässige Mann, der greise Geck, der mürrische Jubelgreis
Unsere Kenntnisse von den durch das Greisenalter be-
dingten geistigen Veränderungen stammen also bislang aus der
Erfahrung und Beobachtung des täglichen Lebens, aus der em-
pirischen Psychologie. „Der Mensch mit alterndem Gehirn wird
bedachtsamer in Ansichten und Urtheilen; sein geistiges Assi-
milationsvermögen ist nicht mehr so gross, die Phantasie hat nicht
mehr die Wärme und Frische der jungen Jahre, das Denken
erfolgt langsamer, dasGedächtnissnimmt ab, derIdeenkreis wird ein
eingeschränkter, der Wille ist nicht mehr so fest, vielmehr
leichter bestimmbar.“ (v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psy-
chiatrie, VII. Auflage, 1903, Seite 619.) So etwa äussern sich
die meisten ärztlichen Schriftsteller.
Experimentell-psychologisch ist dieser Gegenstand
meines Wissens erst einmal in Angriff genommen worden und
und zwar von P. Ranschburg und R. Bálint *). Als Ver-
suchspersonen dienten 12 Männer im Alter von 61—80 Jahren,
die sich körperlich gesund und rüstig zeigten und in geistiger
Hinsicht keinerlei bemerkbare Symptome einer Demenz boten,
zu den Kontrollpersonen 10 männliche Individuen im Alter von
20—39 Jahren. Mittelst der hier nicht näher aufzuführenden
psychophysischen Apparate und unter Beachtung der erforder-
lichen und üblichen Vorsichtsmaassregeln wurden untersucht:
einfache und zusammengesetzte Reactionsvorgänge auf akustische
sowie — insofern durchführbar — auf optische Reize, ferner
verschiedene Arten der Ideenassociation und zwar elementare Ur-
*) Dr. P. Ranschburg und Dr. R. Bálint, über quantitative und quali-
tative Veränderungen geistiger Vorgänge im hohen Greisenalter. Experimen-
telle Untersuchungen aus dem psychophysiologischen Laboratorium an der
Kgl. Universitätsklinik für Psychiatrie in Budapest. Allgemeine Zeitschrift
für Psychiatrie, Bd. 57, S. 689. |
— 283 —
theilsreactionen, Additionsreactionen und freie Ideenassociationen.
Die Zahl der Versuche belief. sich auf ca. 5000. Es ergab sich
Folgendes: Die einfache Reactionszeit für Hörreize — sowohl
bei muskulärer als auch sensorischer Reactionsform — erscheint
bei Greisen um 13% länger als bei Personen im beginnenden
Mannesalter. Die Dauer der einfachen Wahlreactionen der
Greise ist um 32,3% , d. h um ungefähr eine Drittel ihrer
Zeitdauer länger als diejenige der jugendlichen Versuchsper-
sonen. Der Vorgang der Unterscheidung und einfachen Wahl
ist bei den Greisen um 44% länger als die Dauer dieses Vor-
ganges bei jugendlichen Personen. Bei den optischen Wort-
reactionen betrug das Plus an Reactionszeit 18% zu Ungunsten
der Greise. Es liess sich hier jedoch nicht berechnen, wieviel
hierbei auf Altersveränderungen des peripheren Sehorgans, wie-
viel auf die Verminderung der centralen Funktion entfällt. Die
Additionsreactionen der Greise sind um 13,3 % länger alsdiejenigen
der Kontrollpersonen:: die durchschnittliche F'ehlerzahl betrug bei
ersteren 5,7%, bei letzteren 6,8%, ist also bei den Greisen
niedriger. Die reine Additionszeit — d. h. nach Abzug der
Werthe für die Wortreactionen — ist jedoch bei beiden Gruppen
ziemlich dieselbe; die Addition einstelliger Zahlen scheint da-
her infolge ihrer ausserordentlichen Eingeübtheit auch im späten
Greisenalter keine merkliche Einbusse an Schnelligkeit zu er-
leiden. Die Dauer der Urtheilsreactionen (elementare Urtheile,
mehrdeutig bestimmte Associationen) ist bei den Greisen um
17,3% länger als bei den Kontrollpersonen. Dabei sind die
Urtheilsreactionen auch qualitativ minderwerthig, insofern sie
ein mehr als doppelt so grosses Fehlerprocent als bei den
Kontrollpersonen aufweisen. Die reine psychologische Zeitdauer
elementarer Urtheilsfunktionen (d. i. nach Abzug der einsilbigen
Wortreactionen) ist bei Greisen um 18,6% länger. Die Reac-
tionsdauer der freien Ideenassociation ist bei den Greisen um
40,3% länger als diejenige der jugendlichen Versuchsper-
sonen, die reine Zeitdauer der freien Association (d. i. wiederum
nach Abzug der Reactionszeit der einsilbigen Wortlesereactionen),
ist um mehr als die Hälfte länger. Als charakteristisch für
die Art der Ideenverbindung der Greise liess sich Folgendes fest-
stellen: „Die Ideenverbindung geschieht weitaus überwiegend
nach begrifflicher Verwandtschaft (85%), wobei die Verbind-
ungen nach causaler und zweckbestimmender Beziehung eine
unvergleichlich größere Rolle spielen, als bei jungen Individuen
ähnlicher Bildungsstufe (27,0 : 5,6); die Verknüpfung der
Ideen erfolgt fast durchwegs ihrem Sinne nach (97,4 : 2,0);
Klang- und Reim-, d. h. rein akustische Aehnlichkeiten leiten
fast nie (0,2 %) die Verbindung der Begriffe. Die sehr ge-
ringe Anzahl der Associationen nach zeitlicher und räumlicher
Koexistenz, sowie das absolute Ueberwiegen der begrifflich ver-
wandten Verknüpfungen, ferner auch das gänzliche Fehlen
mittelbarer Associationen weisen einmüthig auf die Thatsache
hin, dass die verknüpfende Kraft der Vorstellungen sich aus
dem Kreise des Ausgangsbegriffes (Reizwortes) nicht zu ent-
fernen vermag, desto weniger weite Sprünge unternimmt, mit
einem Worte, dass die Elasticität der Vorstellungsthätigkeit im
Greisenalter auch in qualitativer Hinsicht abnimmt, dass ferner
der Vorrath an associabilen Vorstellungen ebenfalls eine Ein-
busse erleidet.“
Wenn, wie wir weiter oben erfahren haben, Erdmann —
mit Recht — betont, dass die Lebensthätigkeit des Greises nicht
nur durch eine Abnahme, sondern auch durch eine veränderte
Richtung gekennzeichnet wird, so sehen wir in vorstehenden
Ergebnissen Ranschburg’s und Bälint’s theilweise eine ex-
perimentelle Bestätigung jener empirisch gewonnenen Ansicht *).
Betrachtet man in den Tabellen der genannten Forscher
jedoch nicht nur die Durchschnittsergebnisse der Gruppen: von
Jüngeren Personen einerseits und Greisen andererseits, sondern
durchmustert die Resultate bei den einzelnen Versuchspersonen,
so zeigt sich, wie Ranschburg und Bälint selbst hervor-
heben, die weitere Erfahrung des täglichen Lebens wissenschaft-
lich bestätigt, das sich „auch unter den Greisen Individuen mit
jugendlich rascher Geistesarbeit finden.“
*) Nach einer privaten Mittheilung, die mir Herr Dr.Ran sehbärg ge-
macht, ist er gelegentlich seiner Versuche über die Auffassungsfähigkeit
mit seinem Mnemometer zu dem entschiedenen Resultate gelangt, dass mit
wachsendem Alter von ungefihr 40—50 Jahren an das Bewusstseinsfeld
enger wird. Auch die Merkfähigkeit nimmt, wie er gelegentlich bei Ver-
suchen an älteren Patienten mit seiner Wortpaarmethode feststellen konnte,
leicht constatirbar ab.
— DB —
Unter den Psychiatern ist es J. L. A. Koch*), welcher
besonders davor warnt, psychische Aenderungen des höheren
Alters, die bei jedem Menschen auftreten, unter allen Umständen
für etwas krankhaftes anzusehen **); sie sind es, so lange sie
sich innerhalb physiologischer Grenzen halten, ebensowenig,
wie die mit dem Einsetzen der übrigen Lebensphasen hervor-
tretenden neuen oder doch modificirten psychischen Regungen
und Eigenschaften. Im Alter sich geltend machende Bedächtig-
keit und Vorsichtigkeit eines von Natur begabten und ener-
gischen Mannes kann durch eine gereiftere Lebenserfahrung und
ähnliche Umstände bedingt sein. Ebenso kann es lediglich
physiologisch sein, wenn ein Greis mit seinen Gedanken mit
Vorliebe in der Vergangenheit lebt und ihm diese in einem
verklärten Lichte erscheint u. dergl. Es kommt vielmehr .darauf
an, unter welchen näheren Umständen sich diese Erscheinungen
zeigen, mit welchen anderen sie einhergehen. Leider geschieht
es aber nur allzuhäufig, dass man bei einem älteren Menschen
noch psychische Unversehrtheit annimmt, wo schon senile
psychopathische Minderwerthigkeit oder wie man den Zustand
nun benennen mag, vorliegt. Die senile. psychopathische
Minderwerthigkeit wird nicht durch die Summe der Jahre be-
wirkt, sondern durch pathologische Veränderung im Nerven-
system. Sie braucht nicht bis zur Demenz fortzuschreiten, der
Zustand kann selbst längere Zeit innerhalb der Grenzen der
Minderwerthigkeit verharren. Verfrühtes Einsetzen der
senilen Aenderungen und ein starker Contrast zwischen
den neuen Eigenschaften und dem, was man früher an dem
Betreffenden gewohnt war, bieten in der Regel Anhaltspunkte,
um zwischen Pathologischem und Physiologischem zu unter-
scheiden. Gleichwohl muss man sich nach Koch immer davor
hüten, einzelnen Erscheinungen, wie z. B. einer vorüber-
gehenden Gedächtnissschwäche, eine weitergehende Bedeutung
beizumessen als ihr zukommt, zumal allerlei füchtige oder auch
*) J. L. A. Koch, die psychopathischen Minderwerthigkeiten. 1891,
S. 358.
**) Die Ansicht Seneca’s (Epist. 103): Senectus enim insanabilis
morbus est — ist auch in neuerer Zeit immer wieder aufgetreten, aber wohl
ebenso oft widerlegt worden.
= 20
mehr oder weniger anhaltende elementare Anomalien des
Seniums irre leiten können, und man muss sich immer ver-
gegenwärtigen, dass man nicht in jedem einzelnen Falle mit
völliger Sicherheit zu entscheiden vermag, ob ein Zustand noch
in den Grenzen des Physiologischen liegt oder nicht. Alshauptsäch-
lichste, bei der senilen psychopathischen Degeneration auftretende
psychische und somatische Anomalien zählt Koch auf: einige
Abstumpfung und Verlangsamung der geistigen und seelischen
Vorgänge, zumal eine stumpfe Bedächtigkeit, Abnahme der
Thatkraft, oft neben einer kleinlichen Geschäftigkeit, einige Ab-
stumpfung des Gedächtnisses für neuere Erlebnisse, aber nicht
für die gelobte alte Zeit, Zerstreutheit, einige Verarmung der
Phantasie, oft auch des Geniüthslebens (immer wenigstens — mehr
oder weniger bewusste — selbstsüchtige Regungen, unter Um-
ständen als eine Zunahme schon vorhanden gewesener Selbst-
sucht‘; dabei vielleicht noch eine gewisse eitle Selbstgefälligkeit,
Geschwätzigkeit, Misstrauen, gegen andere gerichtete Verdäch-
tigungen, Reizbarkeit, Eigensinn, launenhaftes Wesen, die Be-
fürchtung, dass das Vermögen oder das Einkommen nicht zu-
reichen möchte, Geizen und dann wieder in-den-Tag-hinein-
Hausen, oberflächliche Rührseligkeit, hypochondrische Regungen,
Steigerungen des Geschlechtstriebs. (Immer dabei körperliche
Anomalien wie Ernährungsstörungen, Schwindelgefühle, Kopf-
schmerz, Störungen des Schlafs, selbst Anwandlungen von
Sprachstörungen). Eine Schwächung auf dem Gebiet des all-
gemeinen Gefühls- (und Willens-) Lebens findet sich nach
Koch auch schon bei der senilen psychopathischen
Disposition und Belastung; sie ist bei der senilen psy-
chopathischen Degeneration immer vorhanden. Hat
die Abstumpfung auch das intellectuelle und das ethische Leben
ergriffen, so liegt eine senile psychopathische Degene-
ation vor. Es muss jedoch nicht jede moralische Schwächung
darauf beruhen, sondern es bedarf in jedem Falle der näheren
Prüfung der Sache. — Es trifft nicht ausnahmslos zu, dass die
Abnahme des Gedächtnisses wesentlich auf die Erlebnisse des
Kranken aus neuerer und neuester Zeit geht. Manchem senil
psychopathischen Degenerirten, zumal aber senil Dementen
fallen doch recht viele Einzelheiten aus seinem früheren Leben
— 27 —
aus und darunter bisweilen Dinge, von denen man kaum be-
greift, wie er sie vergessen konnte. Mancher senil Degenerirte,
der seine Schwäche fühlt, schämt sich ihrer und sucht sie zu
verbergen. — Koch hebt auch die Schwankungen und das
Interkurriren besonderer Ereignisse auf dem psychischen und
somatischen Gebiete bei der senilen psychopathischen Minder-
werthigkeit hervor. Bisweilen sind mit einer gewissen Regel-
mässigkeit die Nächte schlechter als die Tage. An psycho-
pathischen Zuständen, die interkurrirend bei der senilen psycho-
pathischen Minderwerthigkeit vorkommen, führt Koch auf: ver-
einzelte und vorübergehende Sinnestäuschungen oder Wahnvor-
stellungen, vorübergehende Angstzustände, Dämmerzustände,
Erregungszustände verschiedener Art, impulsive Ausbrüche, Er-
scheinungen, die von der Umgebung nicht beachtet und erkannt
werden und zu gefährlichen Handlungen eines im übrigen bloss
senil Degenerirten (nicht psychotischen) Menschen Anlass geben
können.
Mit Koch haben wir schon das engere Gebiet der psy-
chischen Abnormitäten des Greises, die Psychopathologie be-
treten und wir wollen nun im Folgenden die Ergebnisse einer
Reihe psychiatrischer Beobachtungen Revue passiren lassen.
Für den Zweck dieser Studie kann es sich dabei aber nur, wie
schon bemerkt, um die Grenzzustände und die Uebergänge
handeln. Die sinnenfälligen Krankheitsbilder schwerer Ver-
worrenheit, hallucinatorischer Erregungen und tiefer Demenz
sollen unberücksichtigt bleiben, weil sie forensisch ‚keine
Schwierigkeiten bieten.
Zum Verständniss und zur Würdigung eines Phänomens,
das für die Altersveränderungen am Nervensystem, besonders
für die Entwicklung des Senium praecox, von grösster
Wichtigkeit ist, nämlich der Arteriosklerose, d. i. Verhärt-
ung und Verkalkung der Schlagadern, muss hier Einiges vor-
ausgeschickt werden. Dabei sei gleich bemerkt, dass die Arte-
riosklerose nicht selbst eine regelmässige, charakteristische Er-
scheinung des Alters ist, — denn sie ist bei der genauesten
Durchsuchung des Gefässsystems von Greisen von 80—100
Jahren am Sectionstische vermisst worden, obwohl der Körper
sonst alle Zeichen der Senescenz hatte (Harry, Bamberger bei
— 98: —
Friedmann, S. 88) —, sondern die physiologische Gefässinvo-
lution des höheren Alters ist als prädisponirendes Moment für
die Entwicklung der Arteriosklerose anzusehen (Bäumler, Gener-
sich, ebenda).
Durch Rumpf’s*) Untersuchungen erscheint es festge-
stellt, dass diesen degenerativen Veränderungen der Gefässe A b-
weichungen in den chemischen Bestandtheilen des
Blutes und der Gewebe zu Grunde liegen. Er fand im
Blute Arteriosklerotischer Vermehrung der organischen Substanz,
des Natriums, Kaliums und löslichen Calciums. Der Calcium-
gehalt war besonders in der Niere ausserordentlich hoch. In
weiter vorgeschrittenen Fällen tritt neben der-Vermehrung der
Erdalkalien eine Herabsetzung des Wassergehaltes des Blutes
und theilweise auch des Herzens und der Leber zu Tage mit
entsprechender Vermehrung der Trockensubstanz. Die Ver-
mehrung des Calciums im Blute betrifft nur zum Theil das
lösliche, daneben kommt auch eine Erhöhung von schwer lös-
lichem Calcium vor, das vermuthlich organisch gebunden ist.
In den Organen besteht nicht nur Vermehrung des unlöslichen
Calciums, sondern auch vielfach des löslichen.
Wodurch diese chemische Veränderung im Blute entsteht,
darüber sind die Meinungen noch getheilt. Jedenfalls ist durch
obige Ergebnisse ein grosses Gebiet psychisch-nervöser Er-
krankungen, für das bisher in den Gefässveränderungen nur
eine anatomische Grundlage secundärer Natur vorhanden war,
unserem Verständniss erschlossen worden. Die mittelbar durch
Arteriosklerose bedingten nervösen und psychischen Störungen
stellen sich somit nach dem gegenwärtigen Stande unseres
Wissens als Symptome einer Blut- und Stoffwechsel-
erkrankung (Erschwerung der Ausscheidung der Erdmetalle,
Zurückhaltung derselben im Körper) dar **).
°*) Th. Rumpf. Ueber Arteriosklerose. Münch. med. Wochenschrift
1905, S. 45. 5 |
-© ¥*) Es wird also nicht befremden dürfen, wenn z. B. ein forensisches
Gutachten über eine arteriosklerotische Geistesstörung mit den Worten
schliesst: .N. leidet an. einer. Blutkrankheit, ‚durch. welche die geistigen
Funktionen in dem Grade dauernd gestört werden etc.
— 9 —
Vom Gesichtspunkte der klinischen Erscheinungen und der
anatomischen Veränderungen an den Gefässen und der Nerven-
substanz ist die Arteriosklerose in der letzten Zeit besonders
von Alzheimer*) sehr eingehend durchforscht worden.
Alzheimer beschreibt die leichteste, d. i. die nervöse
Form der Arteriosklerose folgendermaassen: Sie ist „im wesent-
lichen charakterisirt durch rasche psychische, vielfach auch
körperliche Ermüdbarkeit, Gedächtnissschwäche, Kopfschmerz
und Schwindelanfälle.
Schon zu Beginn der vierziger Jahre kann man das fertige
Krankheitsbild beobachten. Die meisten meiner Kranken waren
zwischen dem 50. und 65. Jahre. Herzhypertrophie und Nieren-
schrumpfung stärkeren Grades fehlen häufig. Die Kranken
werden oft reizbar, zu anhaltender Arbeit, zur Weiterführung
ihrer Berufsgeschäfte unfähig. Eine geistige Thätigkeit er-
scheint nur mehr in ganz eingeschliffenen Bahnen möglich, die
geistige Produktivität ist erlahmt. Die Ermüdbarkeit macht
sich meist sehr augenfällig bemerkbar, schon wenn man sich
mit dem Kranken unterhält, die Merkfähigkeit prüft, ihn nur
kurze Zeit rechnen lässt. Gewöhnlich wird sie auch von dem
Kranken selbst sehr unangenehm empfunden.
Dasselbe gilt für die Gedächtnissschwäche. Manchmal klagt
der Patient sehr darüber, ohne dass es möglich ist, sie mit den
gewöhnlichen Methoden nachzuweisen. Es ist dann wohl mehr
eine subjektive Empfindung der Erschwerung des Zurückrufens
einzelner Vorstellungen als ein Ausfall. Jedenfalls ist die Re-
actionszeit oft messbar verlängert. Manchmal gelingt es dem
Kranken, auf Umwegen das zunächst nicht zugängliche Er-
innerungsbild zu finden. Besonders leidet das Namen- und
Zahlengedächtniss unserer am wenigsten fest im Gedächtniss ver-
ankerten Erinnerungsbilder, am stärksten im Bereich der Merk-
fähigkeit, aber auch bezüglich der alten Erinnerungen.
Der Kopfschmerz wird gewöhnlich in der Stirne, selten
am Scheitel oder Hinterkopf als Druck oder Benommenbeits-
gefühl, oft von quälender Intensität geschildert. Häufig ist er
*) Alzheimer, die Seelenstörungen auf arteriosklerotischer Grund- -
lage, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. 59, S. 695.
zu. 90. eu
dauernd, in einem Falle verschwand er jedesmal im Laufe des
Tages. Ein Kranker klagte regelmässig über Zunahme der
Kopfschmerzen bei der Defäkation.
Die Schwindelanfälle treten spontan, oder aber bei plötz-
licher Veränderung der Körperlage, beim Verlassen des Bettes,
bei körperlichen und geistigen Anstrengungen ein.
Oft wird über Flimmern vor den Augen, manchmal über
Ohrensausen geklagt.
Wie Windscheid bemerkt, wird Alkohol ın der Regel
schlecht vertragen.
Bei immer wiederholten Prüfungen der Kranken tritt eine
auffallende Schwankung in der Intensität der Erscheinungen zu
Tage. Manchmal fand sich auch eine deutliche Erschwerung
in der Auffindung etwas ferner liegender Sachbezeichnungen
und eine auffallende Erschwerung des Wortverständnisses als
vorübergehendes Symptom. T
Stets besteht klare Krankheitseinsicht, meist sogar eine
ausgesprochene Furcht, blödsinnig zu werden.
Das Leiden bleibt oft Jahre lang stabil, erscheint aber
auch weitgehender Rückbildung fähig. Es geht selten ın eine
der schweren progredienten Formen über. Der Tod erfolgt
schliesslich an Apoplexie, Coronararteriensklerose oder inter-
kurrenten Erkrankungen.
Die histologische Untersuchung lehrte, dass schwere Aus-
fälle im nervösen Gewebe nicht vorhanden und die wesent-
lichen Erscheinungen der Stauung in der Blutcirculation ın-
folge der Gefässveränderungen zuzuschreiben sind.
Bei der zweiten Gruppe, in der Alzheimer die Fälle
von schwerer progredienter arteriosklerotischer Hirndegeneration
zusammenfasst, beginnt die Krankheit mitunter ähnlich wie bei
der nervösen Form mit Kopfschmerz, Schwindelanfällen und
Gedächtnissschwäche. „Bald aber treten schwere psychische
Erscheinungen auf, wenn die Krankheit nicht schon mit solchen
eingesetzt hat. Manchmal macht sich eine unzufriedene,
weinerliche Stimmung, manchmal Ausbrüche von Gereiztheit,
unbeugsamem Starrsinn, auch Zustände von rathloser Unruhe
bemerkbar. Recht häufig kommt es dann zu einer auffälligen
a, BL
Schlaffheit, einem ganz stumpfen apathischen Verhalten. Wenn
man sich eingehender mit dem Kranken beschäftigt, kann man
ersehen, dass es sich dabei nur zum kleineren Theile um wirk-
liche Ausfälle handelt. Ursache des apathischen Verhaltens
ist die ausserordentliche Erschwerung der Auffassung, des Ge-
dankenablaufes, der Reproduktionsthätigkeit. Der Zustand zeigt
erhebliche Schwankwngen, plötzlich “überrascht der Kranke
wieder durch treffende Bemerkungen über seine Person, Ver-
hältnisse, Lage und Umgebung. Der rasche Wechsel ist höchst
frappirend. Allmählich aber kommt es zu immer tiefer grei-
fenden, wirklichen Ausfällen. Die Merkfähigkeit erscheint
schwer gestört. Von dem Gebiete der alten Erinnerungen
sind oft noch grosse Inseln erhalten, zu denen man erst durch
umständliche Fragen gelangt. Dabei macht sich erst eine grosse
Ermüdbarkeit bemerkbar. Die Interessen des Kranken schlafen
immer mehr ein, aber manchmal weckt z. B. ein Besuch der
Angehörigen wieder Vorstellungen und Empfindungskreise, die
man schon lange erloschen glaubte.“ Die Stimmung des
Kranken ist meist leer, oft weinerlich, nie exaltirt. Sinnes-
täuschungen und Wahnideen treten nach Alzheimer nur in den
vorübergehenden Erregungszuständen,, Grössenideen nie auf.
Die Kranken werden immer stumpfer und blöder, doch ist der
geistige Verfall kein gleichmässiger, einzelne Theile der früheren
Persönlichkeit bleiben auffällig lange erhalten. Das Krankheits-
bild wird durch Schwindelanfälle oder apoplektische Anfälle
mit ihren Folgen (Bewegungsstörungen, Sprachstörung, Asym-
bolie, Benommenheit, Rathlosigkeit, Hallucinationen und Ver-
wirrtheit mit Erregungszuständen) in der mannigfaltigsten Weise,
je nach dem anatomischen Sitz der Veränderungen, varlirt.
Selbst bei dieser Form ist die Krankheitseinsicht auffällig
lange, manchmal sogar bis in die Demenz hinein erhalten.
Oft begleitet eine schwere melancholische Verstimmung,
heftige Angstzustände fast den ganzen Krankheitsverlauf oder
es geht wenigstens ein längeres rein melancholisches Krank-
heitsbild voraus. Das Alter schwankt zwischen 52 und 64
Jahren, die Krankheitsdauer zwischen 1 und 6 Jahren. — Die
Untersuchung des Gehirns ergab nicht nur starke Veränderungen
der Gefässe, sondern auch Entartung der Nervenzellen.
— 382 —
Es ist hier nicht der Ort, auf diese Variationen der
schweren arteriosklerotischen Gehirndegeneration und auf die
Unterscheidung der letzteren von andern ähnlichen Zuständen,
besonders der eigentlichen Dementia senilis einzugehen. Alz-
heimer sagt hierüber: „Dazu bleibt es bei der arteriosklero-
tischen Hirnatrophie, abgesehen von anfallsweise auftretenden
Erregungszuständen, im wesentlichen bei einfachen Ausfallser-
scheinungen, während bei der Dementia senilis und paralytica
viel häufiger Reizerscheinungen, depressive und exaltative Affecte,
Wahnbildungen, eigentliche psychotische Elemente mit einher-
gehen. So erscheint der arteriosklerotisch Demente immer mehr
als Hirnkranker, der Paralytiker und senil Demente als Geistes-
kranker.“ Das Dämmer- und Traumhafte, das der paralytischen
und senilen Depression anhaftet, fehlt bei der arteriosklerotischen
völlig. Bei letzterer bleibt der Kern der Persönlichkeit und ein
richtiges Urtheil des Kranken über sich selbst viel länger er-
halten. Die Affecte sind abgesehen von vorübergehenden Er-
regungszuständen vorzugsweise normaler Natur. Die psychischen
Ausfälle sind bei der Dementia senilis und paralytica allge-
meiner.
Um diese letzten Sätze, auf die es mir besonders ankommt,
verständlich zu machen, musste ich die Ausführungen Alz-
heimers eingehender wiedergeben. Die Beschreibung dieses
Autors fusst nicht auf Erfahrungen an sogenanntem forensischem,
sondern klinischem Material, an Personen, die nicht criminell
geworden sind. Ich meine, dass sie deshalb gerade für die
Beurtheilung gerichtlicher Fälle um so werthvoller ist. Denn
durch die Beziehungen zur Strafe oder allgemein zum Kampf
ums Recht werden solche Krankheitsbilder, bei denen die sub-
jektiven Beschwerden eine grosse Rolle spielen, sehr in ihrer
Klarheit und Natürlichkeit beeinträchtigt, jedoch nicht immer
mit Absicht des Kranken. Bekanntlich ist die Arteriosklerose oft
latent vorhanden und tritt erst aus gewissen Anlässen, z. B. in-
folge einer Gemüthserschütterung zu Tage. Als solche wirkt
bei criminell gewordenen Sklerotikern oft schon Ermittlung
oder Untersuchungshaft. Nervöse und psychische Störungen wie
die eben geschilderten kommen dann zum Vorschein oder ver-
schlimmern sich. Der Sklerotiker besinnt sich, dass sie ihm im
Laufe des Prozesses irgend wie nützen können, er übertreibt
sie, bewirkt dadurch aber nur, dass man an seiner Ehrlichkeit
zweifelt, denn man merkt allmählich doch die Uebertreibung
aus dem Missverhältniss zwischen den subjektiven und objektiven
Symptomen. Andere besinnen sich, dass sie eigentlich schon zur
Zeit der Strafthat solche Symptome hatten, schildern sie recht
drastisch und erwarten damit möglichst mildernde Umstände
zu erzielen. Denn für geisteskrank halten sie sich selbst nicht
und wollen sie nicht gehalten werden, nur für „hochgradig
nervös“. Gelingt ihnen jener Nachweis und stimmt er mit den
objektiven Befunden überein, so mag bei sonstiger Eignung
des Falles die Annahme verminderter Schuldfähigkeit, noch
mehr aber die Voraussage verminderter Straffähigkeit
zutreffen. —
Unter dem Begriff der einfachen, präsenilen Demenz
fasst Binswanlger*) gewisse, Anfangs der 50er Lebensjahre
sich bemerkbar machende geistige Schwächezustände auf, von
denen er folgende Schilderung giebt:
„Es betrifft meistens Fälle, bei welchen die geistige Ent-
wicklung eine relativ dürftige geblieben ist. Ohne eigentlich
schwachsinnig im vulgären Sinne genannt werden zu können,
zeigen derartige Individuen eine gewisse Unfertigkeit der gei-
stigen Entwickelung, die sich besonders dadurch kennzeichnet,
dass sie unfähig sind, irgend eine Aufgabe in ihrem Leben bis
zum Ende durchzuführen; dass sie überall finanziell, z. Th. auch
moralisch Schiffbruch leiden, und dass sie in dem ewigen Mühen
und Ringen um ihre Existenz frühzeitig unterliegen. Oft schon
zu Ende der 40er oder Anfang der 50er Jahre erleidet die an
sich schon geringwerthige Schärfe des Urtheils eine weitere,
auch dem Fernerstehenden offenkundige Einbusse. Die Schaffens-
kraft erlahmt, der früher rastlos thätige Mann wird stumpf,
willensschwach, gleichgültiger; das Gedächtniss weist ebenfalls
bedenkliche Lücken auf; die Körperhaltung ist schlaff, die
Sprache tonlos, zitternd, die Extremitätenbewegungen ebenfalls
kraftlos mit leichtem statischen und ataktischen Tremor. Irgend
*) O. Binswanger, Die Abgrenzung der allgemeinen progressiven
Paralyse. Berliner klinische Wochenschrift, 1894. Nr. 52. S. 1181.
3
— 34 _ ù‘
ein grober geschäftlicher Fehler, z. B. die Unfähigkeit, die
Bücher weiterzuführen, oder offenkundige Irrthümer in der
Kassenführung oder unsinnige, zwecklose Bestellungen führen
einen Eclat herbei und zwingen diese Menschen, auch dem
letzten Reste von Scheinthätigkeit zu entsagen. Leichte mecha-
nische Beschäftigungen oder bei gebildeten Patienten angeb-
liches Studium von Büchern und Zeitschriften, vor Allem aber
die Sorge um Speise und Trank füllen ihr Tagewerk aus. Sie
bedürfen einer steten Beaufsichtigung, weil sie in krankhafter
Selbstüberschätzung ihrer Fähigkeiten, besonders unter dem
Einfluss leichter affektiver Erregungen, selbständig zweckwidrige
Handlungen begehen oder bei ihrer hochgradigen Urtheils- und
Willensschwäche von anderen Leuten zu schädlichen, ja unge-
setzlichen Handlungen verleitet werden können.“ *)
Wir wollen hier die Melancholie im Sinne Kraepelins**)
nur kurz erwähnen. Er versteht darunter alle krankhaften,
ängstlichen, mit Versündigungs-, Verfulgungs- und hypochon-
drischen Ideen verbundenen Verstimmungen der höheren
Lebensalter, welche nicht Verlaufsabschnitte anderer Formen
des Irreseins darstellen, also in ursächlichem Zusammenhange
zu den allgemeinen Altersveränderungen stehen, — eine Krank-
heit mit allmählich sich vollziehender Entwicklung, welcher
meist bereits Monate, bisweilen selbst Jahrelang allerlei unbe-
stimmte Anzeichen: Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Appetit-
losigkeit, Verstopfung, Mattigkeit, Schwere in den Gliedern,
Herzklopfen, Ohrensausen, Arbeitsunlust voraufgegangen sind.—
Diese Zustände sind nach Kraepelin vielleicht als der krank-
hafte Ausdruck jenes schon dem gesunden Alter eigenthüm-
lichen Gefühls der wachsenden Unfähigkeit und Unzulänglich-
keit zu betrachten, im Gegensatz zu dem überquellenden Kraft-
bewusstsein der Jugendjahre. Auch eine andere, von Krae-
pelin aufgestellte Form des „Irrsinns des Rückbildungsalters“,
*) Von der einfachen paralytischen Domenz unterscheiden sich diese
Zustände durch das Fehlen der für jene typischen körperlichen Symptome,
und durch den Verlauf. Die präsenil Dementen verharren viele Jahre gleich-
miässig in diesem Zustande geistiger Abstumpfung und körperlicher Schwäche
bis schliesslich irgend ein intercurrentes Leiden das Ende herbeiführt.
**) E. Kraepelin, Psychiatrie. VII. Auflage. II., S. 441. 1904.
nämlich der präsenile Beeinträchtigungswahn, erinnert
an das Misstrauen und die Reizbarkeit des Greisenalters.
Es wird gewöhnlich angenommen, dass bei eigentlicher
geistiger Erkrankung im Greisenalter ein Uebergang der nor-
malen Alterserscheinungen in Geisteskrankheit, eine Steigerung
derselben stattfindet. So sagt v. Krafft-Ebing*): „Unver-
merkt kann diese senile Charakterveränderung in einen geistigen
Schwächezustand übergehen, der bis zu tiefer Demenz vor-
schreitet... .. Egoismus, Geiz, Misstrauen, Lapsus judicii et
memoriae werden immer deutlicher. Schwindel-, Schlag-, epilep-
tiforme Anfälle treten nicht selten auf und hinterlassen ausge-
sprochene intellektuelle Defekte. Häufig zeigt sich schon längere
Zeit, bevor sie manifest werden, ein auffälliger Nachlass der
ethischen Gefühle und sittlichen Correktive“. Bei weiterem
Fortschreiten des Leidens folgen schwere Gedächtnissstörung,
Unorientirtheit u. s. f.
Ein anderer Autor, Weygandt**), schreibt: „Gewöhnlich
sind Züge unverkennbar, welche an die normale Psychologie
des Seniums erinnern, indem die geistige Regsamkeit nachlässt,
ein gewisser Öonservativismus und Misoneismus entsteht; der
Greis ist ein laudator temporis acti, lebt mit seiner Phantasie
in der „guten alten Zeit“ und wird immer egoistischer, miss-
trauischer, geiziger, seine Interessen schrumpfen zusammen,
das Nächstliegende, die Mahlzeit, der Sorgenstuhl, die Pfeife
erscheinen ihm wichtiger als grosse ideale Aufgaben, das Ur-
theil wird milder, oder weniger scharf, der Wille erschlafft,
die Reden werden faselig.“
Bei Hoche***) finden wir folgende Bemerkung über das
Verhältniss der senilen Eigenthümlichkeiten zur senilen Geistes-
störung: „Zunächst treffen wir senile Züge, die als normale
Eigenthümlichkeit der geistigen Verfassung der Greise zu
*) v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie.
Stuttgart 1892. S. 170.
**) W. Weygandt, Atlas und Grundriss der Psychiatrie. München,
J. F. Lehmann. 1902, S. 524.
***) A. Hoche, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. Berlin 1901,
S. 619.
3*
au. RR a
gelten haben: Die schwindende Elasticität und der
Eigensinn, die Ermüdbarkeit, das Sinken der Merk-
fähigkeit, die Abstumpfung der höheren Gefühle und
damit die egoistische Einengung der Gemüthsregungen,
die Neigung zu hypochondrischer oder misstrauischer Auf-
fassung u. s. w. Alle diese Dinge sind nicht als „krankhafte
Störungen der Geistesthätigkeit“ aufzufassen und zu bewerthen,
so lange nicht gröbere Störungen aus der Reihe der
noch zu nennenden hinzutreten; sie geben aber funktionellen
Psychosen, die sich bei Greisen entwickeln, ihr besondres
„seniles* Gepräge, wobei ein gröberer intellectueller Defekt
nicht immer vorhanden zu sein braucht (senile Melancholie,
senile Manie, senile Verworrenheit, senile Delirien, senile Wahn-
bildungen u. s. w.).“
Auch nach Wollenberg*) stellen die unter dem Bilde
der Demenz verlaufenden Fälle nur eine Steigerung der noch
in die physiologische Breite fallenden Altersveränderungen ins
Pathologische hinein, dar: allgemeine Abnahme der psychischen
Leistungen, Verschlechterung der Merkfähigkeit und der Auf-
fassung, Erinnerungstäuschungen und Konfabulationen, Ver-
engerung des Ideenkreises, stumpfes, nur noch der Befriedigung
der niederen sinnlichen Triebe dienendes Verhalten, Verlust
der ethischen und ästhetischen Gefühle (letzteres eines der
frühen Zeichen der eintretenden Schwäche und sich zunächst
in einer nur der näheren Umgebung erkennbaren Abstumpfung
der betreffenden Qualitäten bekundend).
In diesem letzten Punkte — Verlust der ethischen und
ästhetischen Gefühle — wird man Wollenberg nicht voll
beistimmen können, dass die senile Demenz „nur eine Steige-
rung der noch in die physiologisch e Breite fallenden Alters-
veränderungen ins Pathologische hinein darstellt.“ Eher lässt
sich der ethische Verlust aus den folgenden Sätzen Wollen-
berg’s erklären: „Gleichzeitig verändert sich ihre Persön-
lichkeit auch sonst in ungünstiger Weise, indem gewisse
Züge, die früher ihre charakteristische Eigenheit ausgemacht
*) R. Wollenberg, Senile Geistesstörungen im Lehrbuch def
Psychiatrie, herausgegeben von O. Binswanger und E. Siemerling. Jena
1904, S. 321.
is, 97
haben, sich ins Karikirte verzerren: der früher vorhandene
Sinn für Ordnung und Regelmässigkeit wird zu kleinlichster
Pedanterie, die Festigkeit und Willensstärke zu störrischem
Eigensinn, die lebhafte Libido sexualis zu schamloser Verliebt-
heit, die in den häufigen, insbesondere gegen Kinder gerichteten
unsittlichen Handlungen seniler Individuen ihren charakte-
ristischen Ausdruck findet.“ Aber das trifft auch nur für wenige
Fälle zu, denn die Steigerung der Libido sexualis tritt gewiss
auch bei senil Dementen auf, deren Geschlechtstrieb schon
ganz erloscheu war. Es muss sich also um komplicirtere ur-
sächliche Verhältnisse bei der Entstehung der senilen Libido
sexualis handeln.
Reicher ist die psychiatrische Litteratur an Einzelstudien,
welche sich mit den senilen Geisteskrankheiten im engeren
Sinne befassen. Ich will hier der Kürze halber und weil viele
dieser Arbeiten mehr der Gruppirung und Klassification sowie
den rein klinischen Fragen gewidmet sind, ihrer nur einige
wenige berücksichtigen.
Wille*), der zwischen einfachen und komplicirten Seelen-
störungen bei Greisen unterscheidet, weist in ersterer Bezieh-
ung besonders auf das Vorkommen leichter Depressionszustände,.
die, ohne mit eigentlichen psychischen Schwächesymptomen ver-
knüpft zu sein, sich nur als anhaltende Verstimmungen, Un-
lust zu gewohnter Thätigkeit, Hang zur Einsamkeit, Mangel
sonstiger Interessen und Sympathien, manchmal auch als hypo-
chondrische Befürchtungen äussern. Solche Kranke werden
unter Verkennung ihres Zustandes nie in Anstalten, höchstens
in Pfründnerhäuser geschickt, wo plötzlich und unerwartet unter-
nommene Selbstmordversuche die Sache aufklären. Diese
Zustände können vorübergehen oder zu geistiger Schwäche
führen. Bei der komplicirten Form, dem eigentlichen Alters-
blödsinn, geht nach Wille in = Regel ein Vorläufer-
Stadium von längerer oder kürzerer Dauer voraus: „Unter
körperlichen Beschwerden wie Schwindel, Kopfweh, Unbehag-
*) Wille, die Psychosen des Greisenalters, Allgemeine Zeitschri‘t für
Psychiatrie. Band 30, S. 272.
aa AI
lichkeit, Gefühl der Ermüdung und Schwäche verbunden mit
Schlafsucht, die mit Schlaflosigkeit; Appetitlosigkeit, die mit
Heisshunger und Durst abwechselt; Frösteln, also Symptomen,
die nur ein allgemeines Unwohlsein ausdrücken, sich aber nicht
auf eine bestimmte Organerkrankung beziehen lassen, bildet
sich ein gewisser Grad geistiger Schwäche heraus, eine Art
Vergesslichkeit, Unfähigkeit gewohnten Handelns, die momentan
den Kranken noch bewusst werden. Bei anderen Kranken
äussert sich die psychische Störung als allmähliche Umwandlung
ihres Charakters. Sie werden reizbar, misstrauisch,. eigensinnig,
launenhaft, geizig; andere streit- und zanksüchtig, geschwätzig,
trunksüchtig, geil und verschwenderisch.“ Vielfach wird dieses
Stadium von einem schlagartigen Anfall eingeleitet. Dieser
Zustand ist rückbildungsfähig, geht aber nicht selten in bleibende
psychische Schwäche oder in acute geistige Störung schwereren
Grades über. Wichtig ist, dass manchmal die Symptome
nur Nachts auftreten, während die gleichen Kranken
unter Tags nur geringe Abweichungen von ihrem
Verhalten darbieten oder als psychisch nicht gestört er-
scheinen. So wie es dunkel wird, verlassen sie das
Bett anscheinend unter dem Einfluss von Herz-
affectionen oder von Sinnestäuschungen, wandern
mit sich sprechend unruhig umher und machen da-
bei die verkehrtesten Handlungen. Aus dem weiteren
Verlauf hebt Wille hervor Verlust des Schicklichkeitsgefühls;
es stellen sich in höherem Grade bisher ungewohnte Nei-
gungen ein z. B. zum Genuss geistiger Getränke, zu geschlecht-
lichen Akten, zur Aneignung fremden Eigenthums etc., die sie
rücksichtslos zu befriedigen suchen. Dabei Intelligenzverfall,
Gedächtnissschwäche für die jüngste Vergangenheit und Gegen-
wart, geistige und körperliche Hülflosigkeit. „Dieses psychische
Krankheitsbild hat manche Analogie mit dem Irrsinn der Kinder
und in umgekehrter Richtung mit der geistigen Entwicklung
des ersten Kindesalters. In ersterer Beziehung haben wir auch
hier vorwaltend ein Delirium der Akte, der Handlungen statt
eines Deliriums der Vorstellungen; in letzterer sehen wir ein
stufenweises Abnehmen der psychischen Thätigkeiten, bis sie
zum Schlafzustande des Säuglingsalters gesunken sind.“
— 3239 —
Fürstner*) bemerkt, dass hohes Alter an und für sich
als nicht maassgebend erachtet werden kann, eine Geistesstörung
als senile zu bezeichnen. So wie ein 50jähriger Träger einer
ausgesprochen senilen Geisteskrankheit sein kann, so kann ein
70 jähriger eine durchaus typische bieten. Es fehlt für das
Greisenalter eine Abgrenzung, wie sie für das Kindesalter gegen-
über der körperlichen und geistigen Reife vorhanden ist. Die
Eigenthümlichkeiten des Greisenalters sind nicht so konstant
wie die des puerilen. Auch kennen wir das Seelenleben eines
Knaben aus eigener Erfahrung, das eines Greises ist dem Be-
obachter auf diesem Wege in der Regel nicht bekannt geworden
Der intellectuelle Defekt allein eines bejahrten Geisteskranken
ist nicht immer ausschlaggebend für die Bezeichnung „senil“.
Erbliche Belastung fand er nur in 20°), und zwar gab sich
diese auffällig häufig in der Weise kund, dass in der unmittel-
baren oder höheren Aszendenz oder in den Nebenlinien orga-
nische Hirnerkrankungen, namentlich Apoplexien, Herdaffec-
tionen in vorgerückten Jahren zu verzeichnen waren.
Er zieht daraus den richtigen Schluss, dass der durch Verer-
bung übertragene Schwächezustand eher dem Circulations-
apparatals dem Öentralnervensystem angehaftet haben
dürfte. Ausserdem berichtet er Stammbäume von vier Familien
zu besitzen. in denen senile Mitglieder mehrerer Generations-
stufen durch Suicidium zu Grunde gingen, für dessen Erklärung
mehrfach auch dieselben auxiliären Momente namhaft gemacht
wurden. Als ursächliche Faktoren führt Fürstner ferner an:
Aufgabe langgewohnter körperlicher oder geistiger Thätigkeit,
Entfernung aus vertrauten, liebgewonnenen Verhältnissen **).
Schon beim körperlich und geistig rüstigen Menschen pflegt
*) Fürstner, Ueber die Geistesstörungen des Senium. Archiv für
Psychiatrie, Band XX, S. 458. 1889.
**) „Warum wehren sich die Alten instinktiv gegen die Pensionirung
und verfallen und sterben danach meist rasch? Weil das Gefühl der Pflicht
und die Einbildung nothwendig zu sein, aufhören, dem Körper Spannkratt
und Widerstandsfähigkeit zuzuführen.“ Erhard, Ketzerische Betrachtungen
eines Arztes.
Geist, Klinik der Greisenkrankheiten, Erlangen, 1860, hält es für
möglich, dass plötzliche Entziehung gewohnter Reize bei Greisen Ursache
des Selbstmordes werden kann. |
— 40 —
allzulange freiwillige oder erzwungene Musse deprimirend zu
wirken; diese Verstimmung nimmt bei Greisen oft einen patho-
logischen Charakter an, indem bei ihnen nicht selten vom Mo-
mente der Ruhe an eine thatsächliche Abnahme der intellec-
tuellen Potenz eintritt, die dem Träger nicht entgeht und ihrer-
seits die Depression steigert.
Der ätiologische Werth trüber Lebensschicksale und -Er-
fahrungen wird nach Fürstners Ansicht oft überschätzt; die
Reaction auf solche bleibt bei Senilen eher hinter dem ge-
wohnten Maass zurück, die Spuren des Unglücks werden auf-
fallend schnell verwischt. Eine erhebliche Rolle spielen die
verminderte Funktionsfähigkeit einzelner Sinnesorgane; häufig
der erst im späteren Lebensalter beginnende Trunk.
Von den Geistesstörungen des Seniums hebt Fürstner
als besonders wichtig die einfache mit hypochondrischen Symp-
tomen komplicirte Melancholie hervor, die seitens der Um-
gebung oft übersehen, in ihrer Gefährlichkeit unterschätzt wird.
„Der depressive Affekt erscheint bei senilen Melancholikern
einmal weniger tief und nachhaltig, wechselnder in der Inten-
sität als bei Individuen, die zur Zeit körperlicher und zeistiger
Reife in gleicher Weise erkranken. Sodann ist der Uebergang
aus noch normaler, depressiver Stimmungslage zu pathologischer
verschwommener, der Affekt gelangt auch weniger zum Aus-
druck, er tritt uns mehr unter dem Bilde schmerzlicher Apathie,
bei zunehmender Gleichgiltigkeit gegen die Vorgänge in der
Umgebung und misstrauischem Abwehren jedes Liebesdienstes
entgegen. Stunden, Ja Tage lang erscheint der Kranke dann
wieder zugänglicher, mittheilsamer, ja vorübergehend heiterer,
von Neuem die Umgebung zur Sorglosigkeit verleitend . . . .*
Zu den hypochondrischen Klagen geben mit Vorliebe den ersten
Anstoss reale somatische Störungen, wie sie das Alter mit sich
bringt, Trägheit der Verdauung, Beeinträchtigung der Harn-
sekretion, verminderte Schärfe der Sinnesorgane, auch hier
pflegt sich der Uebergang von der normalen zur pathologischen
Perception und Beurtheilung ungemein schleichend auszubilden.“
Auch in der Willenssphäre macht sich der Einfluss der senilen
Eigenart auf die Gestaltung des Krankheitsbildes geltend: völlige
Energielosigkeit und eine Willensschwäche, die auch bei den
== Aj Ze
einfachsten Verrichtungen Beihülfe nöthig macht, einerseits,
brüske Entschlüsse, raptusartige Gewaltthätigkeiten gegen die
eigene Person oder die Aussenwelt andererseits stehen unver-
mittelt nebeneinander. „Unbedeutende Vorkommnisse, ein Streit
mit der Umgebung, das Versagen eines Wunsches, vermehrtes
körperliches Unbehagen oder Schmerzen lösen Suicidiumver-
suche aus, bei deren Ausführung es weder an Energie noch
an Planmässigkeit mangelt.“ Dabei können Warnungssignale,
wie sie sonst bei Melancholischen unter solchen Umständen
als Verstärkung und lebhaftere Aeusserung des Affektes auf-
treten, gänzlich fehlen. Mancher scheinbar völlig isolirt da-
stehende und unerklärliche Selbstmord seniler Personen ist
lediglich die Folge einer larvirt verlaufenden melancholischen
Verstimmung, wie dies auch von W illeausgesprochen worden ist.
In der gleichen impulsiven Weise kommen Gewaltakte
gegen die Umgebung vor. Die Kranken sind nachträglich oft
nicht einmal im Stande, ein einigermaassen stichhaltiges Motiv
für ihre Handlungsweise anzugeben. „Die Gefahren, die diese
scheinbar so leichten psychischen Störungen bergen, machen
die Behandlung und Verpflegung seniler Melancholiker, sei es
in oder ausserhalb der Anstalten, zu einer viel schwierigeren
und verantwortungsvolleren Aufgabe, als von Aerzten und Laien
heute oft genug angenommen wird.“ Ein ähnliches unmittel-
bares Umsetzen von Impuls in Handlung findet sich, nach
Fürstner, höchstens bei jugendlichen oder hereditär ganz
besonders schwer disponirten Individuen.
Die Schilderung der agitirten und stupiden Form der
Melancholie können wir hier übergehen.
Maniakalische Erregung kommt nicht selten vor; sie ist
regelmässig mit Intelligenzdefekt verbunden, infolgedessen das
Quantum der producirten Vorstellungen vermindert, die Ideen-
flucht weniger copiös erscheint, andererseits bei dem gesteigerten
Bewegungsdrang leicht unmoralische Impulse auftreten: sexuelle
Vergehen, Diebstähle, Verschleuderung von Hab und Gut, un-
sinnige Projekte und Unternehmungen. Auch die senile Manie
erinnert nach Fürstner in mehr als einem Zuge an die puerile.
Infolge der Altersveränderungen im Gehörorgan treten
subjektive und als solche erkannte Geräusche auf, welche nach
ie, AD er
Monate, Jahre langem Bestehen sich ganz allmählich in Sinnes-
täuschungen umwandeln. Bei der Schwerhörigkeit entstehen
aus dem Verhören und Missverstehen derartiger Kranker zu-
nächst Irrthümer, die später zu Wahnideen verarbeitet werden.
Durch das so vielen Senilen eigene Misstrauen entwickeln sich
typische Beeinträchtigungs- und Verfolgungsideen ohne Syste-
matisirung der Wahnideen und ohne stärkere Affektbetheiligung.
Uebergehen wir, der weiteren Schilderung Fürstner's fol-
gend, diejenigen Formen seniler Geistesstörung, welche, auf
atheromatösen Prozessen beruhend, mit deutlichen Veränderungen
im Circulationsapparat des Gehirns (Schwindelanfällen, Läh-
mungen) und mit hochgradiger hallucinatorischer Verworren-
heit einhergehen, so bleibt noch die eigentliche „Dementia
senilis.“ Die allmählich fortschreitende Abnahme der
Intelligenz ist das vorwiegendste Symptom. Die Daten der
jüngsten Vergangenheit werden zuerst vergessen, nach und
nach dehnt sich der Defekt auch auf weiter zurückliegende
Zeiten und Verhältnisse aus. Die ethischen Vorstellungen er-
weisen sich als wenig widerstandsfähig, „sodass man bei ge-
wissen Fällen wohl berechtigt ist, von einer acqui-
rirten Moral insanity der Greise zu sprechen.“ Zu-
weilen werden sich die Senilen der Abnahme der Intelligenz
bewusst und es entwickeln sich neben erhöhter Reizbarkeit
und Morosität Depressionszustände, die noch nicht als patho-
logisch zu bezeichnen sind.
Die zwischen relativer Klarheit und traumhafter Benommen-
heit wechselnden Bewusstseinszustände hebt auch Wollenberg
(a. a. 0.) hervor. Kranke, die alle zeitlichen und örtlichen
Verhältnisse durcheinander bringen, trotz ihrer 70 oder 80 Jahre
nach ihren Eltern verlangen, sich in ihrer eigenen Häuslichkeit
nicht zurechtfinden, nachts im Hause herumirren, zwecklos in
ihren Sachen herumkramen, ohne selbst zu wissen, was sie
suchen, zeigen bald wiederum ein äusserlich geordnetes Ver-
halten und verwerten die ihnen noch gebliebenen Erinnerungen
und Vorstellungsreste in zusammenhängender Weise.
Zur Illustration der groben Täuschungen, welche bei un-
zureichender Untersuchung das wechselnde Verhalten des Geistes-
zustandes bei Altersschwachsinn herbeiführen kann, erzählt
= AS we
Wollenberg*) folgenden Fall: Ein ausgesprochen senil de-.
menter Kranker seiner Beobachtung, der neben schwer ge-
störter Merkfähigkeit die erwähnten Bewusstseinsschwankungen
zeigte, kürzlich auch einen hallucinatorischen Angstzustand mit
Selbstmordversuch durchgemacht hatte, der aber aus der
weit zurückliegenden Vergangenheit manchmal noch ganz zu-
sammenhängend und amüsant erzählen konnte, brachte gelegent-
lich des Entmündigungsverfahrens eine (ärztliche!) Bescheini-
gung bei, nach der er durch besonders regen Geist, grossartige
Auffassung, logische Gliederung und Schlussfolgerung, Esprit
u. s. w. Bewunderung erregen müsse und nur .eine gewisse
Zerstreutheit und Gedächtnissschwäche für die Gegenwart zeige,
wie sie auch häufig bei jüngeren Gelehrten vorhanden sei. Im
Entmündigungstermin nannte er als Jahreszahl 1837 oder 1847,
beklagte es, dass er (der 80jährige!) keine Eltern mehr habe,
wusste von der Gegenwart so gut wie nichts, erzählte aber in ge-
ordneter Weise allerhand Erlebnisse aus seinem früheren Leben. —
Die senile Gedächtnissschwäche hat schon von jeher ein-
zelne Forscher beschäftigt. Aristoteles, der Begründer
der Associationspsychologie, (Ueber das Gedächtniss und die
Wiedererinnerung, deutsch von J. Ziaija, Jahresbericht des
kgl. Gymnasiums zu Leobschütz, 1879) verglich das schlechte
Gedächtniss der Greise mit dem der kleinen Kinder und erklärt
es bei beiden mit der starken „Bewegung“, — hier der Zu-
nahme, dort der Abnahme —, in der sie sich befinden.
Von Ribot (Les maladies da la mémoire, Paris 1881,
S. 99) wird die eigenthümliche Erscheinung, dass nach der
Gegenwart hin der Gedächtnissinhalt abnimmt, unter das all-
gemeine biologische Gesetz gestellt: „dans l’ordre biologique,
la dissolution se fait dans l’ordre inverse de l’évolution.“
Ueber solche allgemeine Betrachtungsweisen ist die Be-
handlung dieses Phänomens auch bis heute nicht hinausge-
kommen. Analytische Untersuchungen des aus den jüngeren
Jahren gebliebenen Gedächtnissschatzes der Greise fehlen noch.
Hingegen giebt es hiervon in der Litteratur einige sehr instruc-
*) R. Wollenberg, Kapitel Senile Geistesstörungen, in: Lehrbuch
der Psychiatrie, herausgegeben von O. Binswanger und E. Siemerling.
Jena 1904, S. 322.
m A
tive Schilderungen. So erzählt Pelman*) folgenden drasti-
schen Fall:
von H., 90 Jahre alt, nahm früher eine hohe Stellung an
einem unserer kleinen Höfe ein, hat viel gesehen und erfahren
und erzählt zuweilen mit Behagen und wenn auch lückenhafter
Gedächtnisstreue von seinem Leben am Hofe Ludwigs XVI., der
französischen Revolution und von seinen Feldzügen unter dem
Erzherzog Karl. In der Gegenwart dagegen vergisst er das
eben Gesehene und Gehörte in demselben Augenblick. Tausend-
mal kann er an einem Tage seinen Diener fragen: wer er wäre,
was er von ihm wünsche und wo sein Zimmer sei. Seine Ver-
wandten kennt er ebensowenig, so oft sie ihn auch besuchen,
unl von seiner Lage und Umgebung hat er keine Idee. Da-
bei hat er deutlich das Bewusstsein seiner Vergesslichkeit und
so viel aus seiner früheren Hofcarriere behalten, dass er das
Unschickliche fühlt, Jemanden um seinen Namen zu fragen,
der ihm freundlich und als alter Bekannter entgegenkommt.
Seine absolute Unkenntniss sucht er daher höchst schlau hinter
übertriebenen Lobeserhebungen zu verbergen, behauptet sehr
viel Gutes und Rühmenswerthes über den Besucher gehört zu
haben, sehr erfreut über den Besuch zu sein etc., bis er end-
lich aus den Fragen, die man an ihn über sein Befinden stellt,
entnehmen kann, dass er einen Arzt vor sich habe. Dass er
dann eben erst beim Herzoge oder sonstwo von dem berühmten
und bekannten Arzte hat reden hören, versteht sich von selbst.
Ueberaus peinlich ist ihm der gänzliche Mangel an Geld und
man kann dem alten Manne keine grössere Freude machen,
als wenn man ihm immer wieder und wieder verspricht, dass
man ibm Geld verschaffen wolle. Noch während man mit ihm
spricht oder ihm nur den Rücken gedreht hat, wiederholt sich
dieselbe Scene und so Tag für Tag unzählige Male, denn in
den 14 Monaten, wo ich ihn täglich mehrere Male besuchte,
hat er mich nie gekannt.
*) C. Pelman, Ueber das Verhalten des Gedächtnisses bei den ver-
schiedenen Formen des Irrsinns. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie,
Bd. 21, S. 115. 1864.
Die Criminalität geistig erkrankter Greise hat
gegenüber derjenigen der übrigen Geisteskranken die beiden
Besonderheiten, dass sie relativ viele Fahrlässigkeitsvergehen
und auffallend zahlreiche sexuelle Verbrechen aufweist. In
Bezug auf die andern Deliktsarten unterscheiden sich die Geistes-
kranken bei den einzelnen Lebensaltern kaum erheblich,
Fahrlässiger Meineid kommt allerdings nicht so häufig vor, als
man bei der senilen Gedächtnissverminderung erwarten könnte.
Dagegen ist z. B. fahrlässige Inbrandsetzung ein nicht unge-
wöhnliches Verbrechen geisteskranker Greise; einer besonderen
Erklärung hierfür bedarf es nicht; auf die nächtliche Unruhe
mancher geistesgestörter Greise, die bei Tage verhältnissmässig
geordnet und klar erscheinen, ist schon hingewiesen.
Fast specifisch zu bezeichnen sind die sexuellen Delikte
der geisteskranken Greise. Diese Erscheinung müsste noch
durch umfassende Untersuchung nicht nur des Geisteszustandes,
sondern auch der Geschlechtsorgane solcher Personen genauer
studirt werden. Gegenwärtig liegen zwar zahlreiche Einzelbeob-
achtungen, namentlich aus der forensischen Praxis, in der
Litteratur vor, aber sie harren noch der systematischen Ver-
arbeitung.
Freilich wird es seine Schwierigkeiten haben, das, worauf
es neben der Feststellung des Geisteszustandes ankommt, näm-
lich die Spermabildung, zu constatiren, die wohl meistens die
Funktionsfähigkeit der Geschlechtswerkzeugemit ihren besonders
häufigen arteriosklerotischen Veränderungen überdauert. Die
Spermatozoenbildung ist im Greisenalter keineswegs ganz auf-
gehoben; nur zeigen sich die Samenfäden verändert, nämlich
die Köpfe deformirt und der Schwanz verkürzt und die Beweg-
lichkeit hat abgenommen. Der Samen enthält in vermehrter
ze >46: -a
Zahl weisse und rothe Blutkörperchen sowie Blutfarbstoff-
körnchen, verfettete Hodenzellen und Epithelien, Prostatakörner
und gelbes Pigment; er ist daher mehr bräunlich gefärbt und
gelatinös (bei Friedmann, a. a. O. S. 135, 136). Häufig ist
die senile Involution der männlichen Geschlechtsorgane von
Samenfluss begleitet. (Ebenda 137.) Nach Demange (ebenda
citirt, S. 131) besitzen die Samenfäden in höherem Alter, wenn
der Generationsakt ausführbar ist, in vollem Maasse die Fähig-
keit der Befruchtung. —
Für die Sexualität, wenn auch nicht gerade der männlichen
Personen über 70 Jahre, d. h. der Greise, so doch wenigstens
der über 60 Jahre alten Männer glaube ich nach langem Suchen
einen zuverlässigen zahlenmässigen Ausdruck gefunden zu
haben in dem Ergebniss einer Berechnung, die ich an der Hand
des Materials der „Preussischen Statistik“ (Heft: Geburten,
Eheschliessungen und Sterbefälle; Verlag des Königlichen sta-
tistischen Bureaus in Berlin) angestellt habe in der Annahme,
dass bei den ehelichen Verbindungen alter Männer mitjungen
Mädchen die Sexualität der ersteren am prägnantesten zum
Vorschein kommt und dass wir, ohne anderweitige Vor-
aussetzungen, eine stete Verminderung der Sexualität nach
den höheren Altersstufen hin erwarten müssten.
Nach dieser Berechnung befindet sich eine Ehe mit
einem Mädchen bis 20 Jahren unter
1900 |1901 | 1902| 1903 | 1904 |
|
85 | 79 | 73 | 79 85 | Ehen von Männern über
40 bis 50 Jahre alt
267 | 236 | 285 | 411 | 322 | Ehen von Männern über
50 bis 60 Jahre alt
296 | 353 | 289 | 337 | 487 | Ehen von Männern über
60 Jahre alt.
Wir sehen also nicht den erwarteten Anstieg der Ziffern
zwischen dem 6. Decennium und dem späteren Lebensalter,
wie er zwischen dem 5. und 6. Decennium so stark in die
Augen springt, ja in 1900 und 1902 sind diese Ziffern fast
gleich, und in 1903 sind Ehen mit einem Mädchen bis 20 Jahren
ze AN
bei über 60 Jahre alten Männern sogar erheblich häufiger als
bei Männern im Alter über 50 bis 60 Jahre! —
Nach von Krafft-Ebing*) sind die Unzuchtsdelikte der
geisteskranken Greise an Kindern motivirt durch physiologisch
fortbestehende Libido bei durch senile Demenz geschwächter
Ethik oder, am häufigsten, durch auf Grund pathologisch - ana-
tomischer Veränderungen im Gehirn wieder erwachte und
abnorm starke Libido bei gleichzeitiger Geistesschwäche. Da-
bei kann die Libidio isolirt bestehen oder Theilerscheinung
einer manischen Erregung sein. Zufolge der mangelhaften
Potenz wählen solche Greise besonders gern Kinder zu Opfern
ihrer Lüste oder beschränken sich auf läppische sexuelle Akte,
z. B. Exhibition. Die sexuellePerversionundethische
Depravation kann jahrelang dem Verfall der In-
telligenz vorausgehen. v.Krafft-Ebinghältbei sexu-
ellen Delikten von Greisen diePrüfung des Geistes-
'zustandes immer für geboten. Verdacht auf Geistes-
schwäche bei einem solchen Delinquenten ist vorhanden, wenn
er dekrepid ist, sein Geschlechtsleben schon längst erloschen
war, oder der Trieb, früher nie besonders erheblich, mit grosser
Stärke, Rücksichtslosigkeit, Schamlosigkeit und in perverser
Richtung sich bethätigt. Die Intelligenz kann anfangs gerade
noch dazu hinreichen, um bei dem Verbrechen die Oeffentlich-
keit zu meiden und die zur Vermeidung der Entdeckung nöthige
Vorsicht zu üben, nicht aber um dem Triebe selbst zu wider-
stehen und die sittliche Bedeutung der Handlung voll zu er-
messen.
Die perversen geschlechtlichen Handlungen solcher Greise
sind nach v. Krafft-Ebing **) einfach Aequivalente des un-
möglichen physiologischen Aktes; als solche führt er aus den
Annalen der gerichtlichen Medicin an: Exhibition der Genitalien,
wollüstiges Betasten der Genitalien von Kindern, Verleitung
dieser zur Manustnpration des Verführers, Onanisirung der Opfer,
Flagellation derselben. Auch homosexuelle Neigungen, passive
*) v. Krafft-Ebing, L>hbrbuch der Gerichtlichen Fsychopathologie.
III. Auflage. 1892. S. 170, 171.
**) v, Kraftt-Ebing, Psychopathia sexualis. X. Auflage. 1898. S. 37.
— 48 —
Päderastie, mutuelle Masturbation und Sodomie ist bei Greisen
beobachtet. |
Zustände höchster sexueller Erregbarkeit wie Nymphomanie,
Furor uterinus, kommen auch bei früher ehrbaren, der Dementia
senilis verfallenen Matronen vor.
L. Kirn *) sagt, nachdem er von der Unzucht an Kindern
durch rohe, geschlechtlich überreizte Männer in jungen und
mittleren Jahren gesprochen: „Allein es fällt uns alsbald auf,
wie häufig wir bemoosten Häuptern auf der Anklagebank be-
gegnen, Greisen mit weissen Haaren, die ihr Gelüste an kleinen
Mädchen zu befriedigen suchten. Wenn sich nun auch unter
diesen einzelne bejahrte Individuen finden, welche Jahrzehnte
lang in ausgedehntester Weise sexuellen Gelüsten gefröhnt haben,
die theils aus Abstumpfung für die naturgemässe Befriedigung,
theils aus Unfähigkeit derselben weiter nachzukommen, bei fort-
dauerndem Reize, sich nunmehr denUnmündigen zuwenden undmit
diesen ihr wollüstiges Spiel treiben, so sind dieselben doch der
Mehrzahl nach keine Wollüstlinge, keine „sexuellen Gourmands“,
vielmehr Leute der armen Bevölkerung, oft einfache Landleute.
Es sind in der Regel Greise, deren frühere sittliche Vergangen -
heit nicht angetastet werden kann, die sich bis dahin eines
guten Leumundes erfreut hatten; ja — dies halte ich besonders
wichtig zu erwähnen — es sind häufig Männer (meist Ehe-
männer oder Wittwer), deren natürlicher Geschlechtstrieb —
was bei Bewohnern kleiner Landorte oft mit voller Evidenz
nachgewiesen werden kann — seit Jahren, vielleicht schon seit
Jahrzehnten vollkommen geschwiegen hatte, die jetzt, wie der
populäre Ausdruck sagt,in „einen neuen Trieb gerathen“ waren.**)
*) L. Kirn. Ueber die Klinisch-forensische Bedeutung des perversen
Sexualtriebes. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. XXXIX, S. 217.
1883.
**) Hinter diesem volksthümlichen Ausdruck, den Kirn hier anführe
steckt meines Erachtens mehr als jene sexuelle Beziehung, welcher schon
manche auffällige Altersmesalliance ihr Dasein verdankte Der „neue Tricb*
(vielleicht mit Johannistrieb identisch ?) macht sich bei Manchen in der ge-
samten Lebensbethätigung geltend. Es giebt Leute, die, wenn erst die 60
oder 70 Jahre glücklich überwunden sind, einstweilen nicht nur nicht mehr weiter
zu altern, sondern geradezu jünger zu werden und ınit neuer Lebensfrische,
auch neue Kraft aus dem vollen Maass ihrer Jahre zu schöpfen scheinen,
es, A
Diese Leute stehen im Alter zwischen 60 und 80 Jahren, alle
zeigen schon körperlich mehr oder weniger die Zeichen der
Senescenz: gebleichte oder spärliche Haupthaare, Arcus senilis,
atrophische, oft zahnlose Kiefer, geschlängelte, rigide Arterien,
vorgebeugte Haltung, Langsamkeit in allen Bewegungen, psychisch
bald nur einen gewissen Mangel des Gedächtnisses, namentlich
für die jüngste Vergangenheit, Erinnerungsdefekte aller Art,
oft eine gewisse geistige Dede und Armuth, gemüthliche Weich-
heit mit gleich bereiten Thränen , hypochondrische kleinliche
Klagen über körperliche Zustände, bald eine gemüthliche Ab-
stumpfung in Bezug auf Familie und Freundschaft oder eine
ausgesprochene moralische Schwäche.“ Bei einer kleineren Zahl
besteht bereits eine ausgebildete Dementia senilis. Kirn
schildert solche Fälle, wo die unzüchtigen Handlungen in den
Anfang einer Altersverblödung fielen. Die Verurthei-
lung erfolgte bei ihnen unter Annahme mildernder Umstände.
Auch er hält es für nothwendig, dass alle bejahrten Leute,
die wegen Sittlichkeitsvergehen angeklagt sind, auf ihren
Geisteszustand untersucht werden, wobei es besonders wichtig
ist, sich soviel als möglich ein Urtheil über das geistige Vor-
leben zu bilden und den früheren Zustand mit dem jetzigen
zu vergleichen, eine Forderung, welcher selbstverständlich das
Streben fernliege, bei jedem solchen Inkulpaten, der in höheren
Jahren. steht, ohne Weiteres einen Defekt oder eine Alteration
im geistigen Gebiet annehmen zu wollen.
Nach Kirn beobachtet man nicht selten im Einleitungs-
stadium der senilen Demenz in Folge eines Reizzustandes
des Gehirns, welcher der sich vollziehenden Atrophie voraus-
geht, eine mässige Erregung, welche bald zum Trunke,
bald zu geschlechtlichem Antriebe führt, während in Folge
des sich gleichzeitig vollziehenden psychischen Schwächezu-
standes die Widerstandskraft gegen diesen Trieb mehr oder
weniger gelähmt ist. Er hält die Zurechnungsfähigkeit in
solchen Fällen nicht für aufgehoben, wohl aber in höherem
oder geringerem Grade vermindert, während bei ausgebildeter
ohne dabei von der bekannten Altersglückseligkeit, die schon den Anstrich
der geistigen Entrücktheit trägt, „verklärt“* zu sein.
4
— 50 —
Dementia senilis man sich für Ausschluss der freien Willens-
bestimmung zur Zeit der That zu erklären habe.
Was nun noch den Alkoholismus des Greisenalters,
d. h. den erst in hohem Alter beginnenden Alkoholmissbrauch,
anlangt, so hält ihn Forel für eine häufige Ursache der senilen
Demenz und glaubt eine besondere Krankheitsform, die De-
mentia senilis alcoholica aufstellen zu müssen. Im Allgemeinen
besteht jedoch die Ansicht, dass der bei Greisen sehr häufig
beobachtete Hang zur Trunksucht bereits als ein Symptom der
sich entwickelnden geistigen Störung aufzufassen ist. Nach
Dobrick*) liegt die Sache indess meist so, dass der Alkohol-
genuss in jüngeren Jahren eine grosse Rolle gespielt und die
spätere Gefässatheromatose bedingt hat. Aehnlich äussert sich
Meschede**). Ihm ist in seiner 40jährigen Erfahrung noch
kein Fall bekannt geworden, dass Jemand erst im Greisenalter
ein Potator geworden sei, ‘abgesehen von denjenigen Fällen,
wo im Greisenalter als Symptom der Psychose Steigerung
der Triebe und speziell auch eine Neigung zu Spirituosen her-
vortritt; die meisten Alkoholiker, die potatores strenui, sterben
relativ frühzeitig ab und nur ganz ausnahmsweise ***) erreichen
Alkoholiker ein höheres Alter. Hoppet) wiederum meint,
dass, wenn auch die Trunkenbolde frühzeitig wegsterben, doch
zahlreiche Männer sich dem reichlichen Alkoholgenuss hingeben,
ohne als Trinker bezeichnet zu werden, und dass der Alkohol
wohl doch bei dem Altersblödsinn eine wichtige ursächliche
Rolle spielt.
*
*) Dobrick, Ueber Alterspsychosen. Allgemeine Zeitschrift für Psy-
chiatrie, Bd. 56, S. 979, 1899.
**) Meschede, Discussionsbemerkung. Ebenda, S. 983.
***) Auf solche Ausnahmen berufen sich — nebenbei bemerkt — be-
kanntlich die Vertheidiger des Alkohols, um nicht nur seine Unschädlich-
keit, sondern womöglich seinen Nutzen zu beweisen, verschweigen aber oder
wissen nicht, dass ausnahmsweise wiederstandsfähige Naturen auch anderen
Schädlichkeiten zum Trotz ein hohes Alter erreichen können.
+) Hoppe, Discussionsbemerkung. Ebenda, S. 984.
Es ist vielleicht nicht überflüssig, an der Hand von Jahres-
berichten eine Uebersicht zu schaffen über die forensische
Thätigkeit der Anstalten beizweifelhaften Geistes-
zuständen von incriminirtenGreisen. Ichhabe zu diesem
Zwecke etwa 150 Berichte nachgesehen. Die nachstehende
Tabelle zeigt, was die Autoren bisher schon richtig, aber nur
schätzungsweise angegeben hatten, das erhebliche Ueberwiegen
der sexuellen Delikte (fast ein Drittel. Dann folgt Meineid
(und Anstiftung dazu) (6), dessen Häufigkeit nicht so allgemein
bei den Greisen angenommen wird als zu erwarten stände.
Dann Brandstiftung (5). Dann folgt auffallender Weise der
Mord (bezw. Mordversuch) 3 mal, und zwar ist jedesmal die
Ehefrau das Opfer des Delikts; einmal Anstiftung zum Mord.
Bei den beiden Fällen von Diebstahl handelte es sich um Vor-
bestrafte; ich halte das nicht für Zufall; denn der Diebstahl,
ein sonst so häufiges Delikt, ist kein vom Greisenalter an sich
begünstigtes.
Aus dieser Statistik ersehen wir ferner, was bei der kli-
nischen Betrachtung bisher weniger zur Geltung kam, dass
Dementia senilis vorwiegend in den sechziger Jahren eintritt.
Sie ist also nicht die Folge hohen Alters, keine „Schwäche
hohen Alters“, sondern der Ausdruck davon, dass ein ge-
schwächter Organismus den Bedingungen der mit Naturnoth-
wendigkeit und mit gewissen Ansprüchen hereinbrechenden
Involution nicht gerecht zu werden vermag, ähnlich dem Ver-
sagen mancher Individuen beim Einsetzen der Pubertät.
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Im Vorstehenden glaube ich das was für Richter und
Gerichtsarzt bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse
über die Psychologie und Psychopathologie des Greisenalters
zu wissen wünschenswerth scheint, ziemlich erschöpfend zu-
sammengestellt zu haben. Diese Dinge sind ja in Wirklichkeit
weit mannigfaltiger und es bleibt noch Vieles zu erforschen
und klarzustellen. Vielleicht giebt meine Arbeit den Anstoss
dazu, dass man sich mit dem Studium des normalen und krank-
haften Seelenleben des Greises mehr befasst und vor Allem zu-
nächst mit der Grenzbestimmung, was bei ihm normal, was ab-
norm zu nennen ist. eine Aufgabe, die hier unvergleichlich
schwieriger ist als beim Erwachsenen und selbst beim Kinde.
Wer möchte sich daher vermessen, die Richter der Willkür,
ihre ärztlichen Berather der Unwissenheit zu zeihen, wenn ab und
zu bei incriminirten Greisen ein Fehlurtheil zu Stande kommt!
Das Rechtsbewusstsein wird sich wohl nur selten dagegen
auflehnen, wenn bei Greisen, die vor das Forum des Straf-
richters gelangen, von mildernden Umständen oder vielmehr
mildernden Zuständen und vom $ 51 des R. St. G. freigebiger
Gebrauch gemacht wird, als bei Personen der anderen Lebens-
alter. Nur übereifrige Weltverbesserer werden meinen, dass
auch beim verurtheilten Greise die Strafe um seiner Besserung
willen erfolgen müsse, oder werden Werth darauf legen, dass
gerade seine Bestrafung abschreckend wirke, dass gerade an ihm
Sühne geübt werde. Die Beschränkung auf Maassnahmen, welche
gegebenenfalls die Gesellschaft vor gemeingefährlichen Hand-
lungen eines Greises schützen, dürfte meistens hinreichen, um
das Rechtsgefühl der Mitmenschen zu befriedigen. Für den
davon betroffenen senilen Delinquenten selbst kann freilich
eine solche objektive Schutzmaassnahme härter sein als
eine bestimmt bemessene schwere Strafe.
In der Regelung des Strafvollzuges bei Greisen, in seiner
Anpassung an die besonderen Verhältnisse der Greise, in der
Möglichkeit seiner theilweisen Umgestaltung zu einer Art Für-
sorge wird darum das Problem am leichtesten zu lösen sein.
Die gegenwärtigen Strafvollzugsbestimmungen entbehren meines
Wissens überhaupt jeder Sondervorschrift über Greise.
Heynemann’sche Buchdruckerei, Gebr. Wolff, Halle a. 3
Der
Alkohol im gegenwärtigen
und zukünftigen Strafrecht.
en
Von
Dr. Hugo Hoppe,
Nervenarzt in Königsberg i. Pr.
—
Alle Rechte vorbehalten.
Halle a. d. S.
Verlag von Carl Marhold.
1907. |
Juristisch-psychiatrische
Grenziragen.
Zwanglose Abhandlungen
Herausgegeben von
Prof. Dr. jur. A, Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche,
Halle a. S. = Freiburg i. B,
Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler,
Lublinitz i. Schles.
V. Band, Heft 4/5.
mu e onia Tk
Der Alkohol im gegenwärtigen und zukünftigen
Strafrecht.
Von
Dr. Hugo Hoppe, Nervenarzt in Königsberg i. Pr.
Mit Betrübnis und banger Sorge muß es Gesetzgeber und
Richter, den Moralstatistiker und Sozialhygieniker, sowie jeden
Menschenfreund und jeden ordnungsliebenden Bürger erfüllen,
daß die Kriminalität seit einigen Jahrzehnten andauernd zu-
nimmt.
In Deutschland kamen auf 100000 Straimündige
i. J. 1882 996 Verurteilte (mit Ausschluß der Wehrpflichts-
verletzungen), und diese Zahl ist bis 1901 fast andauernd, mit
wenigen Schwankungen, auf 1223 oder um 22% gestiegen,
Auch in den letzten Jahren hat noch eine Steigerung statt-
gefunden. Im Jahre 1901 betrug die Zahl der Verurteilten
(mit Einschluß der Wehrpflichtsverletzungen) 497310, 1902
512329, 1903 505556, 1904 rund 517000. In Österreich
ist nach Bosco die Zahl der Straftaten, auf 100000 Einwohner
berechnet, von 1465 in den Jahren 1871—75 auf 2324 ın den
Jahren 1896—98 gestiegen. In Italien betrug die Zahl
der gemeinen Verbrechen, ebenso auf 100000 Einwohner, in
den Jahren 1883—85 390, in den Jahren 1896 — 99 aber 845,
während in derselben Zeit sich die Übertretungen von 1142
bis 1812 gesteigert haben. In Belgien sind von 1886 — 90
von den Polizeigerichten durchschnittlich jährlich 126890 Per-
sonen abgeurteilt worden, 1896—97 aber 168785; in der gleichen
Zeit stieg die Zahl der von den Korrektionsgerichten Abge-
urteilten von 38381 auf 53261.
Besonders stark zugenommen haben allenthalben die Per-
sonendelikte, zumal die gefährlichen Körperverletzungen. Nach
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der Kriminalstatistik für das deutsche Reich 1901 (Stat. d. D. R.,
N. F., Bd. 146, II, S. 17) ist in Deutschland die Zahl der
Personendelikte und Sachbeschädigungen, auf 100000 Straf-
mündige berechnet, von 434 im Jahre 1882 auf 656 i. J. 1901
oder um mehr als die Hälfte gestiegen. Die Körperverletzungen
sind in derselben Zeit von 175 auf 530 oder um 84%, speziell
die gefährlichen von 121 auf 250 oder um mehr als das
Doppelte gestiegen; in den letzten Jahren hat noch eine weitere
Steigerung stattgefunden. Nimmt man Perioden von je 5
Jahren, so kamen im Durchschnitt auf 100000 Strafmündige:
Perioden wegen Körperverletzung
Verurteilte
1883—1887 153
1888—1892 173
1893— 1897 219
1898—1902 239.
Das bedeutet eine Steigerung um 56,2% im letzten Jahr-
fünft gegenüber dem ersten. Der Diebstahl hat dagegen ab-
genommen.
In Österreich stiegen von 1882—1901, auf 100000
Strafmündige, die leichten Körperverletzungen von 340 auf 498,
die schweren von 27 auf 33.
In Frankreich sind nach Bosco, auf 100000 E. be-
rechnet, die Körperverletzungen von 50,3 im Durchschnitt
der Jahre 1861 —65 auf 86,7 in den Jahren 1896 —99 oder
um 77% gestiegen, in Dänemark die Gewalttätigkeiten und
Roheitsdelikte von 82 in den Jahren 1871—75 auf 128 in
den Jahren 1879—1901 oder um 56%.
Wie die Kriminalstatistik weiter zeigt, spielt bei der Steige-
rung der Kriminalität die Zunahme der Rückfälligen (Vor-
bestraften) die Hauptrolle.
In Deutschland ist die Zahl der Rückfälligen, auf
100000 Strafmündige berechnet, von 259 im Jahre 1882 auf 528
im Jahre 1901 gestiegen, hat sich also mehr als verdoppelt.
In Österreich betrug die Prozentzahl der Vorbestraften
im Durchschnitt der Jahre 1866—70 44,9%, 1896—1900 aber
52,7% (Österr. Stat., Bd. 71, 1904, H. 3, S. XCIX).
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In Italien ist die Zahl der Vorbestraften von 27,42%
im Jahre 1890 auf 30,26% im Jahre 1898 gestiegen.
Bei den Delikten, die die größte Steigerung erfahren
haben, den Roheitsdelikten, macht sich die Zunahme der Rück-
fälligen am stärksten geltend. Bei Körperverletzungen ist in
Deutschland die Zahl der Rückfälligen (auf 100 000 Str.) von 36 auf
134 oder um 272%, bei Widerstand von 14 auf 30 oder um 114%,
bei Sittlichkeitsverbrechen von 5 auf 14 oder 180%, bei Haus-
friedensbruch von 8 auf 26 oder um 225%, bei Sachbeschä-
digung von 8 auf 20 oder um 150% gestiegen. Es entfällt
der bei weitem größte Teil der Zunahme der Rückfälligen, und
zwar 71%, auf Roheitsdelikte, auf Körperverletzungen allein 36%.
Während die Körperverletzungen im Jahre 1894 18,8%
aller Verurteilungen Rückfälliger bildeten, war ihre Zahl im Jahre
1901 auf 22,2% gestiegen. Die Körperverletzungen nehmen
also in steigendem Maße an den Verurteilungen Rückfälliger
Teil und bilden jetzt beinahe den vierten Teil dieser Verur-
teilungen.
Es ist keine Frage, daß an der erschreckenden Zunahme
der Kriminalität, besonders der Roheitsverbrechen im allge-
meinen, als speziell der Rückfälligkeit, die wachsende Ausbrei-
tung des Alkoholismus, die in den letzten Jahrzehnten allen
Statistiken nach stattgefunden hat, in hohem Maße beteiligt ist.
Zeigen doch alle Erfahrungen, daß ein sehr großer Teil
der Straftaten unter dem Einfluß der Trunkenheit (im Rausch)
oder der Trunksucht verübt werden.
„Für die Sach- und Fachkundigen aus der Geir
waltung der meisten deutschen Gefangenen- und Strafanstalten
gilt es“, wie Baer, der erfahrene Gefängnisarzt von Plötzen-
see betont, „als ganz zweifellos, daß der Alkoholismus, wie
kein zweites Moment, eine Hauptquelle und eine Hauptursache
für die Entstehung der Verbrechen und die Rückfälligkeit der
Verbrecher abgibt“ (Alkoholismus, 5. 354).
Geh. Ober-Reg.-Rat Krohne, früher langjähriger Direktor
des Zellengefängnisses Moabit in Berlin, erklärte auf Grund
seiner reichen Erfahrungen in einem Vortrage ım Jahre 1883:
„Von den Verbrechen gegen Leib und Leben sind die ein-
fachen und schweren Körperverletzungen sämtlich, Todschläge
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und fahrlässige Tötung mit wenigen Ausnahmen auf den
Branntwein zurückzuführen. Auch beim Mord ist in sehr
vielen Fällen Branntwein die Ursache des Verbrechens. ....
Die Verbrechen gegen die Sittlichkeit, mögen sie Notzucht,
Unzucht mit Erwachsenen und Kindern?’heißen, haben fast aus-
schließlich ihre Ursache im Branntwein. Das ist meine Erfahrung
seit 20 Jahren in Oldenburg, Schleswig-Holstein, Hessen und
Brandenburg. 70% aller Verbrechen und Vergehen stehen
mehr oder weniger in ursächlichem Zusammenhang mit dem
Branntwein“ (cit. Baer, Trunksucht, 1890, S. 45). Für Brannt-
wein muß nur überall Alkohol oder alkoholische Getränke ge-
setzt werden, denn in den Weinländern wirkt ganz ebenso der
Wein und in den Biergegenden das Bier. In England äußerte
sich bei Eröffnung einer Groß-Jury i. J. 1877 Lord Coleridge
folgendermaßen: „Die Verbrechen aus Gewalttätigkeit ent-
stehen mit wenigen Ausnahmen im Wirtshaus und sind durch
Trunkenheit bedingt. Neun Zehntel der Gefängnisse würden
wir leeren können, wenn wir England nüchtern machen
könnten“ (zit. Baer, ebenda). Ähnlich spricht sich Hilty,
Oberauditeur der eidgenössischen Armee, über die militärischen
Delikte aus: „Gelänge es, den Alkohol aus den Kasernen zu
schaffen, so könnte man die Militärjustiz aufheben“ (Helenius,
Alkoholfrage, S. 225).
In der Tat ergeben die Statistiken, daß die im Gelegen-
heitsrausch und von Gewohnheitstrinkern begangenen Straf-
taten einen außerordentlich großen Beitrag zu der gesamten
Kriminalität liefern. Besonders bekannt geworden ist die um-
fassende Statistik des obengenannten Gefängnisarztes Baer
aus der Mitte der 70er Jahre über 32857 Gefangene aus 120
verschiedenen Strafanstalten Deutschlands (Alkoholismus, S.
251 ff... Danach waren von 30041 männlichen Verbrechern
43,9% Trinker, und zwar 23,5% Gelegenheits- und 20,4% Ge-
wohnheitstrinker ; von 2796 Frauen waren 18,1% Trinker, und
zwar 7,1% Gelegenheits- und 11% Gewohnheitstrinker. Be-
sonders stark überwiegen die Gelegenheitstrinker in den Ge-
fängnissen, in den Zuchthäusern nur wenig, während in den
Besserungs- und Korrektionsanstalten nur Gewohnheitstrinker
waren und fast die Hälfte aller Insassen bildeten. Und vor
u ge
allem sind es die Personendelikte, speziell Körperverletzungen,
Widerstand und Sittlichkeitsverbrechen, bei welchen die Trinker,
zumal die Gelegenheitstrinker, am stärksten beteiligt waren;
in den Gefängnissen für Männer waren bei Körperverletzungen
51,4%, bei Widerstand 68,3%, bei Sittlichkeitsverbrechen
55,7% der Verurteilten Gelegenheitstrinker. Der Gewohn-
heitstrunk spielte andererseits die bedeutendste Rolle bei Raub-
und Straßenraub, bei Diebstahl und bei Brandstiftung (rund
25—30% in den Zuchthäusern für Männer).
Einen noch stärkeren Anteil des Alkohols an den Straf-
taten ergeben andere Statistiken. Von 2437 Delikten, die im
letzten Vierteljahr 1895 in Baden zur Verurteilung gekommen
waren, waren 34,7%, und zwar Majestätsbeleidigungen 71%,
Widerstand 64%, Raub 57%, Nötigung und Bedrohung 46%,
Körperverletzungen 43% , Sittlichkeitsdelikte 383% im Rausch
verübt worden. Sichart fand in Württemberg unter 3181
Zuchthäuslern (von 1878—1888) 29,5% Gewohnheitstrinker,
Marambat unter 2950 Verbrechern aus dem Gefängnis
St. Pelagie zu Paris 72%, unter 5322 Verbrechern aus dem
Zieentralgefängnis zu Poissy 66,4% Trinker. Wieselgren er-
mittelte an schwedischen Strafanstalten, daß von 24398 männ-
lichen Sträflingen 54,1%, bei Mord, Totschlag und anderen Ge-
walttaten sogar 78,35%, zur Zeit der Tat betrunken waren.
Geill konstatierte im Strafgefängnis zu Kopenhagen, daß von
1845 Sträflingen 46,12% notorische Trinker und außerdem
12,41% zur Zeit der Tat berauscht waren. Wadlın stellte
bei einer sehr sorgfältigen Untersuchung im Staate Massa-
chusets ı. J. 1894/95 fest, daß von,8440 Verbrechen 43,13% im
trunkenen Zustand und 50,88% infolge von Trunksucht verübt
waren. Schließlich sei noch eine Statistik von Löffler aus
Wien angeführt, wonach 1896 und 1897 in Wien von 1159
wegen Roheits- und Sittlichkeitsdelikten und Delikten gegen
die staatliche Autorität Verurteilten 58,8%, und zwar bei
Widerstand 77,7%, bei Sachbeschädigung 63,4%, bei schwerer
Körperverletzung 54,1%, betrunken waren.
In welchem Maße der Rausch besonders bei Roheitsdelikten
beteiligt ist, zeigt sich aus dem starken Ansteigen dieser Straf-
taten an den 3 Tagen von Sonnabend bis Montag, an welchen
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erfahrungsgemäß am meisten getrunken wird, speziell an Sonn-
und Festtagen.
In Wien fielen von den oben genannten Straftaten auf
die 3 Tage 59,6%, also 3/,, auf Sonntag allein 28,03% oder
über !/,. Körperverletzungen hatten am Sonntag verübt in
Zürich (1891) nach Lang von 141 Verurteilten 42,6%, in
Düsseldorf-Derendorf (1894) unter 205 Sträflingen 55%, in
Worms (1893) nach Aschaffenburg unter 254 Verurteilten
35,1%, in Heidelberg nach Kürz von 1115 Verurteilten 45%, an
Festtagen 11,2%.
Besonders schlagend ist aber in dieser Beziehung das Er-
gebnis einer über ganz Deutschland ausgedehnten amtlichen
Erhebung, welche für die Kriminalstatistik zum ersten Male
für das Jahr 1902 angestellt und in dem eben erschienenen
Bande der Kriminalstatistik für 1902 (Stat. d. deutsch. R., N. F.,
Bd. 155, II, S. 34) veröffentlicht worden ist. Danach hatten
von den im Jahre 1902 wegen gefährlicher Körperverletzung Ver-
urteilten, im ganzen 97 376, die Tat 34652 oder 36% an einem
Sonn- oder Feiertage, 60543 an einem Werktage begangen,
während bei 2181 der Tag nicht mehr angegeben werden
konnte. Auf einen Werktag fielen 198, auf einen Sonn- oder
Feiertag aber 578 Körperverletzungen, also beinahe 3mal so
viel. Das Ergebnis würde sich, wie direkt betont wird, noch
mehr zu gunsten des Werktages verschieben, wenn auch die
besonderen Feiertage der einzelnen Staaten und Landesteile
oder gar örtliche Festtage und Veranstaltungen hätten in Be-
rücksichtigung gezogen werden können.
Demnach ist es sicher nicht übertrieben, wenn Löffler
es als zweifellos hinstellt, „daß mehr als die Hälfte aller Roh-
heitsverbrechen, insbesondere mehr als die Hälfte aller Körper-
verletzungen, von Trunkenen begangen sind“. In Deutschland,
wo im Jahre 1904 220164 Personen wegen Verbrechen und Ver-
gehen gegen die Person verurteilt worden sind, ist also anzu-
nehmen, daß mindestens von 110000 die Straftat im Rausch
begangen worden ist. Im ganzen wurden in Deutschland im Jahre
1904 sind 517 000 Personen wegen Verbrechenund Vergehen gegen
Reichsgesetze verurteilt. Rechnet man bei sehr geringem An-
satz, daß auch nur 40 % im Rausche oder infolge von Trunk-
= e
sucht gehandelt haben, so resultieren 268000 solcher Ver-
urteilter. Dabei sind die Delikte gegen die Landesgesetze,
sowie die von den Militärgerichten abgeurteilten Straftaten
nicht berücksichtigt. Man wird daher die Zahl der Personen,
die in Deutschland jährlich wegen einer durch Rausch oder
Alkoholismus herbeigeführten Straftat verurteilt werden, auf
mindestens 300000 schätzen können.
Diese ganz ungeheure Zahl zeigt, welche gewaltige Be-
deutung der Alkohol für die Kriminalität hat und welche
Wichtigkeit der strafrechtlichen Beurteilung und Behandlung
der von Trunkenen und von Trinkern begangenen Straftaten
zukommt.
Selbstverständlich entspricht diese Bedeutung keinem Zu-
fall, sondern sie ist der Ausdruck eines Naturgesetzes. Sie
ist die natürliche und notwendige Folge der Wirkungen,
die der Alkohol auf den Menschen, speziell auf seinen
Geist, ausübt.
Der Alkohol ist ein Gift, und zwar gehört er zusammen
mit seinen nächsten Verwandten, dem Äther und dem Chloro-
form, in die Klasse der narkotischen Gifte, welche die Eigen-
schaft haben, die Gehirnfunktionen nach einem Anfangsstadium
anscheinender Erregung zu lähmen, bis schließlich völlige Be-
wußtlosigkeit eintritt. Natürlich gibt es, wie bei allen Giften, so
auch beim Alkohol eine untere Grenze (Schwellenwert), unterhalb
welcher eine schädliche Einwirkung nicht zu beobachten ist. Im üb-
rigen ist die Stärke der Vergiftungserscheinungen und die Schnellig-
keit, mit der sie auftreten, nicht nur abhängig von der Größe
der einverleibten Dosis, sondern auch individuell außerordentlich
verschieden und bei jedem Individuum auch zu verschiedener
Zeit sind unter verschiedenen Verhältnissen ungleich.
Die Erscheinungen derakuten Alkoholvergiftung, des
Rausches, sind bei seiner Häufigkeit in den Hauptzügen allge-
mein bekannt. Im Beginn der Alkoholwirkung zeigt sich ge-
wöhnlich unter Rötung des Gesichts (Lähmung der gefäßver-
engernden Nerven) und Beschleunigung der Herztätigkeit eine
zunehmende Lebhaftigkeit, Hebung der Stimmung, . Erhöhung
des Kraftgefühls und anscheinende Erleichterung und Beschleu-
nigung des. Vorstellungsablaufs. Mit zunehmender Alkohol-
= 10. =
aufnahme wird die Stimmung immer munterer, erregter, der
Bewegungsdrang stärker, das Benehmen laut und lärmend, das
Selbstgefühl und die Reizbarkeit steigert sich und äußert
sich oft in Streitsucht, die Vorstellungen werden immer leb-
hafter und überstürzen sich, dabei werden sie oberfläch-
licher und inhaltsärmer, und die Auffassung wird immer
ungenauer und schlechter, das Bewußtsein trübt sich in steigen-
dem Maße. Mehr oder weniger parallel damit gehen körperliche
Lähmungserscheinungen, die sich vorzugsweise in Schwere und
Unsicherheit der Bewegungen (Ataxie), Zittern der Hände,
Schwanken beim Gehen, Lallen der Sprache kundgibt. Oft
= verbindet sich damit Übelkeit und Erbrechen. Die Lähmung
der körperlichen und geistigen Funktionen steigert sich
immer mehr, bis schließlich der Trinkende hinfällt und
in einen schlafähnlichen Betäubungszustand gerät, aus dem
er nur schwer zu erwecken ist. Bekannt ist der „Katzen-
jammer“, der sich oft nach dem Erwachen zeigt und
kürzere oder längere Zeit andauert, bis schließlich der normale
Zustand sich wieder herstellt. |
Es ist also ein ganz typisches Krankheitsbild, das sich bei
jedem Rausche, von einzelnen Nuancen und von den Intensi-
tätsgraden abgesehen, stets in derselben Weise wiederholt und,
wie gesagt, allgemein geläufig und bekannt ist. Aber erst
den Forschungen Kraepelins und seiner Schüler, die in
den 90er Jahren die Wirkungen kleinerer und größerer Alkohol-
mengen auf die Geistestätigkeit experimentell mit Hilfe feiner
Untersuchungsmethoden studiert haben, verdanken wir eine
genaue Analyse der Erscheinungen.
Danach wirkt der Alkohol, und zwar schon in verhältnis-
mäßig geringen Mengen, die einem viertel bis einem Liter
Bier entsprechen, nach zwei Richtungen störend auf die
Gehirntätigkeit ein. Einmal setzt der Alkohol die geistige
Leistungsfähigkeit herab: beim Rechnen werden z. B. mehr
Fehler gemacht, das Auswendiglernen wird beeinträch-
tigt, die Auffassung von Sinnesreizen und die Merkfähig-
keit wird verschlechtert, die Verarbeitung äußerer Eindrücke,
das Aneinanderreihen sinngemäßer Vorstellungen wird erschwert.
Anderseits erhöht der Alkohol die psychomotorische Erregbar-
er le
keit, indem die Auslösung von Willensantrieben erleichtert
und die Reaktion auf Reize beschleunigt wird. Die Wahl
zwischen zwei Bewegungen geschieht vorschnell, ehe noch die
Überlegung walten kann, in welcher Richtung die Bewegung
erfolgen soll, und es wird deshalb häufig die falsche ausge-
führt. Die Beschleunigung der Bewegung erfolgt also auf
Kosten der Richtigkeit, es wird ins Blaue hineingehandelt, die
vorzeitige Reaktion führt zur Fehlreaktion. Was im Versuch
nur leicht angedeutet ist, zeigt sich im Rausche in brutaler
Ausbildung. „Der Erschwerung der Auffassung entspricht die
Unfähigkeit des Betrunkenen, den Vorgängen in seiner Um-
gebung zu folgen, sich zurecht zu finden, die Schwierigkeit,
seine Aufmerksamkeit zu erregen, die bis zur völligen Em-
pfindungslosigkeit sich steigernde Abstumpfung seiner Sinnes-
organe. In der Verlangsamung seiner assoziativen Vorgänge
finden wir das Sinken der intellektuellen Leistungen wieder,
die Unmöglichkeit, verwickeltere Auseinandersetzungen zu geben
oder zu verstehen, die Urteilslosigkeit gegenüber eigenen oder
fremden Geistesprodukten , den Mangel an klarer Überlegung
und an Einsicht in die Tragweite seiner Worte und Hand-
lungen. ..... Die Erleichterung der motorischen Reaktion ist
die Quelle des erhöhten Kraftgefühls, aber auch aller jener
unüberlegter und zweckloser impulsiven und gewalttätigen
Handlungen, welche dem Alkohol eine solche Berühmtheit.
nicht nur in der Geschichte der übermütigen und törichten.
Streiche, sondern auch namentlich in den Annalen der Affekt-
verbrecher verschafft haben“ (Kraepelin).
Aber nicht nur durch Steigerung der Erregbarkeit, sondern
auch durch die Erschwerung der Auffassung und der Ver-
arbeitung von Eindrücken, durch dieTrübung des Bewußtseins wird
der Rausch die Ursache von Verbrechen. Die mangelhafte Auf-
fassung und die Trübung des Urteils führen den Berauschten
leicht dazu, Worte und Handlungen mißzuverstehen, die Situa-
tion falsch zu deuten oder zu verkennen, und zwar, da die
Empfindlichkeit erhöht ist, gewöhnlich im Sinne der Beein-
trächtigung. So faßt der Trunkene ein harmloses Scherzwort
als Stichelei oder Kränkung, einen gutmütigen Spott, ein ge-
legentliches Lächeln als Verhöhnung, Ehrverletzung, Beleidi-
u, AO): wo
gung, das versehentliche Unterlassen eines Grußes als Miß-
achtung, eine unbeabsichtigte Handbewegung als Drohung, ein
zufälliges Anstoßen als beabsichtigte Rempelei auf. Und da
die ruhige Überlegung gehemmt oder ausgeschaltet ist, so er-
folgt bei der gesteigerten Reizbarkeit oft ganz impulsiv die
maßlose Reaktion. „Würde“, so sagt Aschaffenburg,
„durch den genossenen Alkohol der normale Ablauf der Reak-
tion nicht gestört, so könnte die ruhige Überlegung zur Gel-
tung kommen, die, zweckmäßigste Form der Abwehr des oft
nur vermeintlichen Angriffs, des sicher oft harmlosen Reizes
gefunden werden. Aber die psychologische Verarbeitung wird
durch den vorausgegangenen Trunk verhindert, die Beantwor-
tung des Reizes erfolgt frühzeitig; ehe die psychische Ver-
arbeitung vollendet ist, hat die gesteigerte motorische Erreg-
barkeit bereits zugeschlagen. Das Urteil des Verstandes hinkt der
raschen Tat nach.“ Bei Angehörigen der „privilegierten“ Stände
kommt es an Stelle oder als Folge solcher Gewalttätigkeiten leicht
zu Duellforderungen mit oft blutigem Ausgang des „Ehren-
handels“.
Indem ‘der Alkohol das Selbstbewußtsein, das Kraftgefühl
und den Tatendrang steigert und die Hemmungen lähmt,
die sonst unser Handeln so wohltätig beeinflussen, wird der
Trunkene auch spontan herausfordernd und aggressiv. Er wird
roh, gemein und ‚schamlos, verliert die Herrschaft über seine
Triebe und alles Maß in seinen Worten und Handlungen, über
deren Bedeutung und Tragweite ihm der Überblick verloren
gegangen ist. Infolge der Steigerung auch der sexuellen Er-
regbarkeit durch den Alkohol kommt es leicht zu unsittlichen
Attentaten aller Art, von der Beleidigung ehrbarer Frauen
durch unsittliche Anträge und mehr oder weniger „scherz-
haften“ unsittlichen Betastungen bis zu dem schwersten Sitt-
lichkeitsverbrechen.
Die gesteigerte motorische Erregbarkeit, der Bewegungs-
drang des Trunkenen äußert sich ferner in allerlei übermütigen
Streichen, in dummen „Witzen“, die oft sehr schlimm ablaufen,
in zwecklosen Sachbeschädigungen und Unfug aller Art. Jeder
Anregung, jeder zufällig auftauchenden oder durch einen äußeren
Anlaß hervorgerufenen Vorstellungen wird ohne Überlegung
si DE ge
nachgegeben. Kaum gedacht, ist der Gedanke schon zur Tat
geworden.
Das Charakteristische bei den Rauschhandlungen ist eben
die Impulsivität. Die Hemmungen, die Regulatoren für unser
Handeln, sind im Rausch teilweise oder ganz fortgefallen.
Einem Schiffe gleich, das, seines Mastes oder seines Steuers be-
raubt, dahin treibt, ein Spielball von Wind und Wellen, ist
der Trunkene ein willenloser Spielball der entfesselten Triebe
und Leidenschaften, die in blindem Walten sein Handeln be-
stimmen und ihn häufig genug zu strafbaren Handlungen fort-
reißen.
Es frägt sich nun, wie solche in der Trunkenheit be-
gangenen strafbaren Handlungen vor Gericht zu beurteilen sind.
Es ist dies eine außerordentlich schwierige Frage, die die Ge-
setzgeber und Rechtslehrer aller Zeiten und aller Länder be-
schäftigt hat und, wie die Gesetzgebungen zeigen, in der ver-
schiedensten Weise behandelt worden ist. Im römischen Recht
wurde, einigen Texten der Digesten nach, die Trunkenheit
als mildernder Umstand bei Straftaten betrachtet.
Aristotelesund Quintilian dagegen verlangen bei jedem
Trunkenheitsdelikt eine schwerere resp. doppelte Strafe, eine
für die Trunkenheit und eine für das darin ausgeübte Delikt.
Auch im Corpus juris canonici gilt die Trunkenheit als an
und für sich strafbar, jedoch wenn sie vollständig ist, als ein
Umstand, der die Zurechnungsfähigkeit aufhebt (Nesciunt
quid loquntur, qui vino nimis indulgunt).
-Justinian erwähnt zweiReskripte des Kaisers Hadrian,
wonach bei gewissen militärischen Delikten Trunkenheit einen
mildernden Umstand bilden soll. Marcian spricht von der
Trunkenheit als Anlaß zu impulsiven Handlungen und hält sie
für einen allgemeinen Grund zur Strafmilderung. Die Kaiser
Theodosius, Arkadius und Honorius bestimmten, daß
bei Majestätsbeleidigungen, die im Rausch ausgestoßen werden,
dieser als Wahnsinn betrachtet werde, also Straflosigkeit
sichere (Heinze, S.54. Nach Thomas von Aquino ist
Trunkenheit eine „Totsünde“, weil der Mensch ohne Not sich
unfähig mache seine Vernunft zu gebrauchen, verzeihlich nur,
=. Gr, a
wenn die Unkenntnis von den Wirkungen des Weins oder zu
geringe Widerstandsfähigkeit dazu geführt habe; vollständige
Trunkenheit schließe die Zurechnungsfähigkeit aus, aber die
freiwillige (selbstverschuldete) Trunkenheit lasse die Verant-
wortlichkeit unberührt.
Nach diesen Grundsätzen wurde im allgemeinen im Mittel-
alter verfahren.
In vielen Ländern (z. B. Italien, Deutschland, Portugal,
Holland) galt der Grundsatz: Ebrius punitur non propter delic-
tum, sed propter ebrietatem (Ventosa, S. 365). Ein außer-
ordentlich strenges Gesetz im Sinne des Aristoteles erlieb
Franz I. in Frankreich im Jahre 1536: „Wenn Trinker in der
Trunkenheit oder Weinstimmung eine strafbare Handlung be-
gehen, so soll ihnen der Trunkenheit wegen nicht verziehen
werden, sondern sie sollen mit der für dieses Delikt vorge-
sehenen Strafe und außerdem für die Trunkenheit bestraft
werden.“ Obgleich diese Bestimmung in Frankreich bis zum
Jahre 1785 in Kraft blieb, wurde es doch Gewohnheit, bei
zufälliger (gelegentlicher) Trunkenheit Strafmilderung zuzu-
lassen, indem die Strenge des Gesetzes für die gewohnheits-
mäßige Trunkenheit (Trunksucht) reserviert blieb.
Nach der Ansicht des bedeutendsten italienischen Rechts-
lehrers des 16. Jahrhunderts, Julius Clarus, schließt die
Trunkenheit den dolus, aber nicht die culpa aus und macht
deshalb eine besondere Strafe nötig. Nur in dem Falle, wo
der Täter ohne seine Schuld trunken werde, wenn ihm z. B.
Salz in den Wein geschüttet werde, müsse er völlig straflos
bleiben (Heinze, S. 56).
Der berühmte holländische Strafrechtslehrer Antonius
Matthaeus forderte, daß die Straftaten der Trunkenen
milder bestraft werden, die der Trunksüchtigen aber mit ge-
wöhnlichen Strafen belegt werden. Viel strenger war das ältere
englische und französische Recht. Nach dem alten englischen
Gesetz wurden die im Zustand der Trunkenheit begangenen
Straftaten verübt, strenger bestraft als die nüchtern und
kalten Blutes (Heinze, S. 61).
Was die zur Zeit geltenden Strafbestimmungen betrifft, so
wird in England, Irland, Schottland, in den Vereinigten Staaten,
=x MB. a
in Schweden und in Rumänien Trunkenheit nicht als Entschul-
digungsgrund angesehen. In Finland, wo demjenigen, dem bei
der Begehung eines Verbrechens der volle Gebrauch des Verstandes
mangelte, eine Strafminderung zuerkannt wird, wird direkt be-
tont, daß ein Rausch oder eine ähnliche vom Täter selbst ver-
schuldete Geistesverwirrung nicht allein als Grund zu solcher
Strafminderung gelte. In Rußland wird Trunkenheit bei Straf-
taten im allgemeinen nicht berücksichtigt, nur bei Störung
des Gottesdienstes und Beleidigung von Behörden gilt unver-
schuldete Trunkenheit als Strafausschließungsgrund. In
Österreich wird die Handlung oder Unterlassung nicht als
Verbrechen zugerechnet, wenn die Tat in einer ohne Absicht
auf das Verbrechen zugezogenen Berauschung oder einer an-
dern Sinnesverwirrung begangen war, in welcher der Täter
sich seiner nicht bewußt war; doch wird in diesem Falle die
Trunkenheit als eine Übertretung bestraft (siehe unten S. 27).
Nach dem italienischen Strafgesetzbuch kommen die für Aus-
schluß resp. erhebliche Schmälerung der Zurechnungsfähigkeit
geltenden Bestimmungen (im ersten Fall Straflosigkeit, im
zweiten Strafmilderung) auch gegen denjenigen zur Anwen-
dung, der sich zur Zeit der Begehung der Tat infolge zu-
fälliger Trunkenheit in dem vorgesehenen Zustand (des
Ausschlusses resp. der erheblichen Schmälerung der Zurech-
nungsfähigkeit) befand; handelt es sich aber um selbstver-
schuldete Trunkenheit, so treten im Fall des Ausschlusses
der Zurechnungsfähigkeit Strafen ein, die nur milder sind als
bei Straftaten im nüchternen Zustande, im Fall der erheb-
lichen Schmälerung der Zurechnungsfähigkeit aber wesentlich
schwerere Strafen als bei zufälliger Trunkenheit; in beiden
Fällen werden die Strafen noch erhöht, wenn die Trunkenheit
eine gewohnheitsmäßige ist. In Portugal wird Trunken-
heit als mildernder Umstand angesehen, wenn sie entweder
nicht vollständig und vom Täter nicht vorauszusehen war
(einerlei ob sie der Fassung des verbrecherischen Entschlusses
vorherging oder nachfolgte), oder wenn sie nicht vollständig war
und vom Täter, jedoch ohne verbrecherische Absicht, selbst ver-
schuldet war und der Fassung des Entschlusses vorherging;
oder endlich vollständig war und vom Täter, jedoch ohne verbreche-
rische Absicht und nach Fassung des Entschlusses selbst ver-
schuldet war. Nach dem spanischen Strafgesetzbuch gilt Trunken-
heit als mildernder Umstand, wenn diese nicht eine gewohn-
heitsmäßige war oder zeitlich dem Beschluß zur Begehung
der Tat folgt. Nach dem norwegischen Strafgesetzentwurf vom
Jahre 1896 wird eine in selbstverschuldeter Trunkenheit
ausgeführte Straftat, wenn diese bei fahrlässiger Begehung
strafbar ist, mit der für fahrlässige Begehung angedrohten
Strafe belegt. Hier aber sowohl wie in allen den genannten
Staaten bleibt die Trunkenheit natürlich unberücksichtigt, wenn
sich der Täter absichtlich in den trunkenen Zustand versetzt
hat, um den Mut zur Tat zu gewinnen oder sich mildernde
Umstände zu sichern. In Rußland wird sogar für diesen Fall
das höchste Maß der für ‘dieses Verbrechen in den (Gesetzen
vorgesehenen Strafe festgesetzt. Auf die Bestimmungen in dem
Vorentwurf zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch komme
ich noch weiter unten zurück.
In den übrigen Ländern, speziell in Deutschland, Frank-
reich, Belgien, Holland, Dänemark, Schweden, Ungarn und,
Bulgarien, ist die Trunkenheit gar nicht berücksichtigt, resp.
nicht ausdrücklich erwähnt. In den meisten dieser Länder
wird aber wohl die Trunkenheit nach allgemeinen Grundsätzen
behandelt, d. h. nach den Bestimmungen, die von der
Ausschließung (resp. Verminderung) der Zurechnungsfähigkeit
durch vorübergehende oder dauernde geistige Störungen han-
deln. So speziell in Deutschland, wo „sinnlose“ Trunkenheit
nach $ 51 des R. St. G. B. zu den Zuständen von Bewußt-
losigkeit (oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit) gehört,
durch welche die freie Willensbestimmung aufgehoben wird.
Im übrigen sind die Richter in Deutschland geneigt, Trunken-
heit als Milderungsgrund gelten zu lassen.*) Das deutsche
*) Nach Fochier (S. 255) ist dies aber in Holland, Dänemark und
Schweden nicht der Fall.
In Frankreich ist es nach Fochier (S. 253) durch Einführung
der mildernden Umstände ins Strafgesetzbuch dem Richter ermöglicht, auch
die Trunkenheit als solchen aufzufassen. Die Strafrechtslehrer Rossi und
Ortolan betrachten die Trunkenheit als Ursachen von Unzurechnungsfähigkeit,
wenn sie durch keinerlei Verschulden herbeigeführt ist, zum mindesten aber
Militärstrafgesetzbuch dagegen bestimmt ausdrücklich, daß bei
strafbaren Handlungen gegen die Pflichten militärischer Unter-
ordnung sowie bei allen in Ausübung des Dienstes begangenen
strafbaren Handlungen die selbstverschuldete Trunken-
heit keinen Strafmilderungsgrund bildet.
Überschauen wir alle diese Gesetzesbestimmungen über
die Trunkenheitsdelikte, so finden wir in den modernen Ge-
setzgebungen keinen wesentlichen Fortschritt in der Auf-
fassung und Behandlung dieser Delikte gegenüber dem
Altertum und Mittelalter. Samt und sonders tragen sie den
Fortschritten der Wissenschaft in der Erkenntnis der Rausch-
zustände und der Alkoholfrage nieht oder nicht genügend
Rechnung. Am rationellsten verfahren, wie noch aus den
späteren Ausführungen hervorgehen wird, diejenigen Gesetz-
gebungen, in denen der Rausch als besonderer Zustand gar
nicht erwähnt wird, so daß die Möglichkeit besteht, ihn in
foro nach den allgemeinen Bestimmungen über die krankhalten
Geisteszustände zu behandeln.
Als besonders rückständig erweisen sich die Bestimmungen,
die „selbstverschuldete“ und „zufällige“, unverschuldete
Trunkenheit unterscheiden. Als unverschuldet kann doch nur eine
Trunkenheit gelten, die eine Person sich zugezogen hat, ohne
Natur und Wirkung der alkoholischen Getränke zu kennen.
Solche Fälle kommen aber in unserer Zeit, wo die meisten
die alkoholischen Getränke schon in früher Jugend kennen
lernen und ihre Wirkung zum mindesten an anderen zu beob-
achten alle Tage Gelegenheit haben, kaum vor, gehören jeden-
falls zu den allergrößten Seltenheiten. Daß Jemandem mit
Gewalt alkoholische Getränke beigebracht werden, kommt
als einen mildernden Umstand. Diesen Grundsätzen folgen auch die meisten
französischen und ebenso auch die belgischen Gerichtshöfe. In einem Lehr-
buch des belgischen Strafrechts vom Jahre 1887 heißt es: Die Trunkenheit
kann nur, wenn sievollständig und zufällig ist, ein Grund zur Rechtfertigung
sein; ist sie partiell, so schwächt sie nur die geistigen Fähigkeiten und
kann nur einen mildernden Umstand bilden. Ist sie aber durch eigene Schuld
hervorgerufen, so kann sie keinen mildernden Umstand bilden, da der Täter
für das verantwortlich ist, was er gewollt hat. War sie beabsichtigt, so
bildet sie einen erschwerenden Umstand.
2
— 18 —
wohl auch kaum vor. Auch die noch in die Kategorie der
unverschuldeten Trunkenheit zu rechnenden Fälle, wo Jemand
ein sehr alkoholreiches Getränk trinkt, während er ein alkohol-
armes zu trinken vermeint, oder wo dem Trinkenden sein
alkoholarmes Getränk durch Hineingießen von konzentrierten
alkoholischen Getränken (Spiritus, Kognak u. dgl.) oder anderen
narkotischen Mitteln hinter seinen Rücken in ein starkes ver-
wandelt wird, so daß schnell Rauschwirkung eintritt, sind gegen-
über der Unzahl von Räuschen, die tagtäglich auf gewöhn-
lichen Wegen entstehen, so selten, daß sie für die Praxis kaum
in Betracht kommen. In der Praxis handelt es sich fast
immer nur um „selbstverschuldete“* Trunkenheit im Sinne der
Gesetzgebungen.
Allerdings haben verhältnismäßig nur wenige Personen beim
Trinken die ausgesprochene Absicht, sich einen Rausch anzutrinken,
obgleich ein solcher Vorsatz oder wenigstens die Gewißheit, daß
die Sache mit einem tüchtigen Rausch endigen werde, bei gewissen
Kneipzusammenkünften und festlichen Gelegenheiten unter den
Teilnehmern gar nichts so seltenes ist. In den meisten Fällen
aber geht die Sache so vor sich, daß bei dem Trinkenden
das erste Glas und oft noch dazu die anregende Gesellschaft
den Durst nach dem zweiten erweckt, das zweite Glas das
dritte nach sich zieht usw., und sich so unmerklich, ohne daß
es der Trinker will und ohne daß es ihm zum Bewußtsein
kommt, ein Rauschzustand entwickelt, der eventuell noch durch
besondere Verhältnisse, durch eine zeitweilige Indisposition,
durch den gesellschaftlichen Trinkzwang usw., beschleunigt
wird.
Kann man unter solchen Umständen von einer Selbstver-
schuldung sprechen? Wenn überhaupt von einer Schuld die
Rede sein kann, so beginnt. sie mit dem ersten Glase resp.
mit dem ersten Schluck, und dann nimmt an dieser Schuld
die ganze Welt teil, denn die ganze Welt trinkt alkoholische
Getränke und erachtet dies nicht nur für etwas Selbstverständ-
liches, sondern verführt oder zwingt auch den Einzelnen zum
Trinken, und hält denjenigen, der die „edle Gottesgabe“ ver-
schmäht, selbst noch heutzutage, wo die Antialkoholbewegung
u GE
große Fortschritte gemacht hat, vielfach für einen Sonderling,
den man belächelt und bemitleidet.
Unter den obwaltenden Verhältnissen sind die einzelnen
Menschen, besonders die Männer, in ihrer Entscheidung, ob
sie alkoholische Getränke zu sich nehmen sollen oder nicht,
durchaus nicht frei, sondern stehen einer allmächtigen über
die ganze Erde verbreiteten uralten Sitte und einem ungeheuren
von der ganzen Gesellschaft ausgeübten Trinkzwange gegen-
über, dessen Sklaven alle sind, die in der Gesellschaft leben.
Von Kindesbeinen an wird die Trinksitte geübt, schon in
frühester Jugend beginnt die Gewöhnung an alkoholische Ge-
tränke. Ganz alkoholfrei wächst, wie zahlreiche umfassende
Erhebungen an Schulen übereinstimmend ergeben haben, nur
ein geringer Bruchteil der Kinder auf, ein beträchtlicher Pro-
zentsatz bekommt selbst in den jüngsten Stufen regelmäßig
ein- oder mehrmals täglich alkoholische Getränke. Zu dieser
Gewöhnung von Kindesbein an kommen mit dem Eintritt in
die Reihen der Erwachsenen die Trinksitten des öffentlichen
Lebens und der allgemeine Trinkzwang, um bei den Einzelnen
je nach Veranlagung und äußeren Einflüssen zu einer langsameren
oder schnelleren Vergrößerung der gewohnheitsmäßigen Alkohol-
menge und zu mehr oder weniger zahlreichen Alkoholexzessen zu
führen. Gibt es doch tausend Gelegenheiten und Veranlassungen,
um einen kräftigen Trunk zu begründen, tausende Ereignisse, die
der Sitte gemäß mit Alkohol „begossen“ werden müssen. Bei
festlichen Veranstaltungen, besonders bei Vereins- und Volks-
festen, gehören Exzesse zu den selbstverständlichsten Vor-
kommnissen, bei den gemütlichen Sitzungen der zahlreichen
Vereine, zumal der Sport-, Gesangs- und Vergnügungsver-
eine, zur Regel, und in studentischen Verbindungen sogar
ein- oder mehreremal die Woche zu den unentrinnbaren Ver-
Pflichtungen jedes Mitglieds, die an der Hand des Trinkkom-
ments „gesetzmäßig“ vor sich gehen. Alle diese Trinksitten
werden als etwas ganz Selbstverständliches, beinahe wie eine
Naturnotwendigkeit geübt, ohne daß sich der Einzelne etwas
dabei denkt und die meisten Menschen etwas dabei finden.*)
*, Auch Heinze hält es zwar, wie er in seinem umfassenden Referat
über die strafrechtliche Beurteilung der Trunkenheit auf dem internationalen
2x
= Oy —
Im Trinken selbst also und auch im Vieltrinken liegt nach
Gefängniskongreß zu Petersburg (1891) auseinandersetzte, vom moralischen
und rechtlichen Standpunkte für verwerflich, sich freiwillig und wissentlich
in einen Zustand zu versetzen, der die Herrschaft des zivilisierten Menschen
über sich selbst vernichtet, und das Verantwortlichkeitsgefühl leichtsinnig
aufs Spiel zu setzen, das er in der Gewöhnung an die öffentliche Ordnung
gewonnen hat. - Auch er meint, daß derjenige, der sich berauscht, eine rechts-
widrige Handlung begeht, da, wer in der Gesellschaft lebt, jeden Augenblick
in die Lage komme, gesetzliche Pflichten zu erfüllen, und andrerseits vor-
aussehen müsse, daß die Folgen des Rausches andere gesetzwidrige Hand-
lungen sein können. Doch gesteht auch Heinze zu, daß es mildernde
Umstände und Ausnahmen gebe, wo eine andere Beurteilung eintreten müsse,
In einzelnen Fällen könne die Wirkung des Alkohols eine außerhalb aller
Verhältnisse stehende Intensität haben, und auch der erfahrene Trinker könne
außergewöhnlichen Verhältnissen zum Opfer fallen, sodaß man ihn nicht in
jedem Falle des Leichtsinns und der Unbesonnenheit anklagen könne. Noch
wesentlicher und viel weniger beachtet seien die Trinksitten des Landes,
der Gesellschaftsklasse, der man angehört: „Dort, wo der Wein-, Bier-, Brannt-
weingenuß allgemein verbreitet ist, ist auch der Trinker, den das übliche
Quantum berauscht hat, weniger tadelnswert, als Jemand, der sich inmitten
einer sehr mäßigen Bevölkerung berauscht hat. Die Lebensgewohnheiten
und die Sitten der speziellen Kreise, in denen der Trinker sich bewegt,
können gleichfalls einen bemerkenswerten Einfluß ausüben. Bei Gelegenheit
von Festen, Gastmählern und ähnlichen Zusammenkünften, kann der Um-
stand, daß man mit den übrigen nicht mithält und ihnen nicht die Spitze
bietet, als eine offensichtliche und tadeinswerte Beleidigung aufgefaßt wer-
den. Mit Recht will keiner für einen Schwächling oder Sonderling gelten.
Dort, wo es üblich ist, auf die Gesundheit zu trinken, muß man nicht allein
nachkommen, sondern auch die Ehrung erwidern. Bei gewissen Toasten
ist es bestimmt, oder sogar streng erforderlich, daß man die Gläser völlig
leert. Es gibt Trinkgesellschaften, in denen der Einzelne sich, ohne sich
lächerlich zu machen, ohne sich einen schweren Tadel oder selbst Strafen
zuzuziehen, einem Trinkduell (Bierjunge) oder dem Trinken einer bestimmten
Quantität, zu der er verurteilt worden ist, nicht entziehen kann. Es muß
auch daran erinnert werden, daß oft nichtsnutzige oder boshafte Personen
absichtlich andere, speziell unerfahrene Leute, mittels falscher Vorspiegelungen,
fortwährenden Anregungen oder verführerischen Freihaltens in einen Rausch
versetzen, und das dabei die Schuld des Opfers auf Null sinken kann. Auch
andere Umstände sind zu bedenken. Wer läßt z. B. gern ein volles Glas
stehen, das bezahlt ist, oder läßt die bestellte Flasche, die bezahlt und
geöffnet ist, unberührt? Wie oft kann es gerade dieses letzte Glas sein,
das den Krug überlaufen läßt und die Trunkenheit zu einer vollstän-
digen macht. Dort, wo die Volkssitten und die öffentliche
Meinung den mäßigen und unter Umständen auch den be-
u Oi s
der allgemeinen Volksanschauung keine Schuld; im Gegenteil
den leistungsfähigen Trinker, der „viel vertragen“ kann, um-
schwebt in weiten Kreisen des Volkes ein gewissßr, Nimbus
des Heldenhaften, des Recken. Wo beginnt nun die Schutd? Die
Schuld beginnt nach der Volksanschauung, die auch noch viele :°- 7:
Ausnahmen zuläßt, in dem Augenblicke, wo einer mehr trinkt, `
als er vertragen kann“. Jeder kann trinken, soviel er will,
aber er darf sich nicht betrinken, er muß sein Maß
kennen und innehalten, wenn er genug hat, er muß wissen,
wann er aufzuhören hat, und was der Redensarten mehr sind.
Solche Redensarten und die darin sich offenbarenden An-
schauungen beruhen zunächst auf einer völligen Unkenntnis
der Natur und Wirkung der alkoholischen Getränke. Wer so
spricht, bedenkt nicht, daß der Alkohol gerade die Überlegung
und die Urteilsfähigkeit beeinträchtigt, kraft derer wir imstande
wären, unseren eigenen Zustand zu beurteilen, daß er unsere
Selbstbestimmungsfähigkeit vernichtet und ein planvolles, ziel-
bewußtes Handeln nach festen Grundsätzen verhindert. In der
euphorischen, behaglichen Alkoholstimmung, die ja vielfach ab-
sichtlich dazu benutzt wird, um Sorgen zu zerstrenen und Be-
denken hinwegzuscheuchen, vergessen wir schnell unsere
Prinzipien, und die schönsten Vorsätze schwinden dahin.
Wieviele gehen nicht täglich zum Biere, zu einer Kneiptafel,
mit der festen Absicht, nach einer bestimmten Anzahl von
Gläsern oder zu einer bestimmten Zeit nach Haus zu gehen!
Aber immer und immer wieder stellt sich heraus, daß sie nicht
imstande sind, ihrem Vorsatz gemäß zu handeln. Sobald sie
das erste Glas oder die ersten Gläser getrunken haben, sind
ihre guten Vorsätze dahin, und sie erweisen sich häufig als
die seßhaftesten Zecher, die nicht eher fortgehen, als bis sie
volltrunken sind oder als bis sie aus dem Lokal geführt oder
gewiesen werden.
Der Einzelne hat es eben, wenn er erst angefangen hat zu
trinken, gar nicht mehr in der Hand, wenigstens nicht unter
trächtlichenKonsumvon Wein,Bieruudanderenalkoholischen
Getränken billigt, da kann auch den Einzelnen, der nicht
gegen den Strom schwimmt, dafür nur eine geringe vder gar
keine Schuld treffen.“ (S. 111—113.)
— 2 —
allen Umständen, aufzuhören, wann er will, weil mit jedem
Glase, das er trinkt, seine Überlegung, sein Urteil, seine
Willenskräft immer mehr gelähmt und seine freie Willensbe-
stianzuhg “immer mehr ausgeschaltet wird, und weil er ganz
". X: almählisch- und: unmerklich in den trunkenen Zustand hinein-
ara?
Außerdem ist zu bedenken, daß es außerordentliche zahl-
reiche Neuropathen gibt, nervöse, reizbare, impulsive, willens-
schwache Naturen, die dem Alkohol gegenüber wenig
widerstandsfähig sind, und die, sobald sie erst einmal ange-
fangen haben zu trinken oder „Blut zu lecken“, wie der
Fachausdruck in Zecherkreisen lautet, nicht mehr aufhören
können, gerade diese haben bei ihrer Nervenschwäche viel-
fach ein Verlangen nach Reizmitteln, die ihnen in den alko-
holischen Getränken überall reichlich zur Verfügung stehen,
ja allerorten geradezu aufgedrängt werden. Es sind das die
Elemente, aus denen sich das Heer der Trinker vorzugsweise
rekrutiert.
Ja, solche Leute dürfen eben garnichts trinken, das ist
eine Erkenntnis, die sich heut allgemein, wenigstens in wissen-
schaftlichen Kreisen, durchgerungen hat. Aber woher weiß
der Einzelne, ob er zu diesen krankhaft veranlagten Naturen
gehört, wo hat er den Maßstab zu seiner eigenen Beurtei-
lung, wer weist ihn darauf hin, daß er abstinent leben muß und
wer denkt daran, einen Arzt zu befragen, ob er alkoholfähig
ist oder nicht? Übrigens gibt es noch zahlreiche Ärzte, die
gerade für diese Frage ein geringes Interesse und Verständnis
haben und, selbst Freunde des Alkoholgenusses, sehr geneigt
sind, die Frage lau und allzu nachsichtig zu behandeln. Aber
selbst, wenn der Einzelne auf diesem oder jenem Wege dazu
gebracht, den Entschluß gefaßt hat, enthaltsam zu leben,
wird ihm dieser Entschluß von der Gesellschaft sauer genug
gemacht. Denn er findet überall Menschen, die mit allen Mitteln,
mit Zureden, mit Neckereien oder mit Spott und Hohn ver-
suchen, ihn zum Trinken zu bewegen, ganz abgesehen von
den zahlreichen anderen Versuchungen und Verführungen, die
tagtäglich und allerorten an ihn herantreten.
Außerdem handelt es sich bei der Forderung, daß man
= 99
beim Trinken das Maß nicht überschreiten dürfe, daß man
wissen müsse, wann man genug und aufzuhören habe usw.
nur um heuchlerische Phrasen, die in Wirklichkeit selten
Jemand ernst nimmt. Man entschuldigt nicht nur allge-
mein den Rausch und drückt dabei ein Auge resp. beide
Augen zu, sondern man findet von Zeit zu Zeit einen solchen
ganz in der Ordnung und versteigt sich beim Anblick eines
Berauschten höchstens zu einem verständnisvollen Lächeln.
Die „feucht - fröhliche Stimmung“, die nichts anderes ist, als
der Ausdruck der Angetrunkenheit, des mehr oder weniger
fortgeschrittenen Rausches, findet überall begeisterte Lobredner;
sie ist von zahlreichen Dichtern besungen worden und erscheint
den meisten im Schimmer dichterischer Verklärung. Das Sprich-
wort: „Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver
Mann“, besteht, wie Cramer richtig sagt, noch durchaus zu
Recht, es entspricht in der Tatder Anschauung des Volkes. Und so
haben. denn auch die meisten von denen, die das „Maßhalten“
predigen, nicht nur selbst wiederholt, zumal bei gewissen fest-
lichen Gelegenheiten, das Maß überschritten oder „des Guten
etwas zu viel getan“, wie der euphemistische Ausdruck lautet,
sondern sie waren und sind nur allzu bereit, besonders als
Gastgeber, auf andere durch liebenswürdiges Zureden, Zuprosten
u. dgl. einen gelinden Zwang auszuüben und sie dahin zu
bringen, das Maß zu überschreiten, denn „so jung kommen
wir ja nie wieder zusammen“, und „es ist doch nur einmal
Fasching im Jahre“, und was der aufmunternden Redensarten
mehr sind.
Wenn man so der Sache auf den Grund geht und gerecht
urteilen will, so kann man nur sagen, daß es unter der
Herrschaft der bestehenden und durch Jahrhunderte alte
Überlieferungen geheiligten Trinksitten und Vorurteilen unver-
meidlich ist, daß sich tagtäglich zahllose Personen einen
Rausch antrinken, ohne daß sie eine größere Schuld trifft,
als sie der übrigen Gesellschaft zur Last gelegt werden kann.
Wie kann man bei solchen Vorkommnissen, die sich tag-
täglich hunderttausendfach wiederholen, und an denen sich die
ganze Gesellschaft aktiv und aufmunternd beteiligt, von einer
Selbstverschuldung des Einzelnen reden?
==. OR.
Es gilt auch, wie ich schon bemerkte, durchaus für keine
Schande, sich einen Rausch anzutrinken, im Gegenteil, es ge-
hört, wie Cramer sich ausdrückt, bei Hoch und Niedrig zur
Erziehung, bei einer Kneiperei seinen Mann zu stellen. Aber
man verlangt, daß der Berauschte sich nicht gehen läßt, daß
er sich in der Gewalt hat, daß er sich nicht auffällig benimmt
und vor allen Dingen nicht mit dem Strafgesetz in Konflikt
kommt. „Wir verlangen“, sagt Cramer, „von jedem ge-
sunden erwachsenen Menschen, daß er, wie man sich auszu-
drücken pflegt, Direktion hat, die namentlich auf den Hoch-
schulen (in den Verbindungen) den Studenten anerzogen wird“.
Dabei handelt es sich nach Cramer lediglich darum, „eine
Reihe hemmender, kontrastierender Vorstellungen von solcher
Macht dem betreffenden Individuum einzuprägen, daß trotz
der Vergiftung des Gehirns mit Alkohol nicht von dem,
was die gesellschaftlichen Pflichten verlangen, abgewichen
wird.“
Ist das nun möglich? Es ist ja richtig, daß viele im
Rausche sich zu beherrschen wissen, aber nicht immer und
nicht unter allen Umständen. Cramer selbst gibt zu, daß
das erzieherische Bestreben entsprechend der Variabilität bei
dem einen leichter, bei dem anderen schwerer erreicht werde,
und daß selbst bei ganz trinkfesten Menschen gelegentlich ein
Versagen dieser Hemmungen vorkomme. Aber es handelt
sich nicht nur um ein gelegentliches Versagen der Hemmungen.
Das beweist schon der Umstand, daß gerade bei den Studenten,
speziell bei den Verbindungsstudenten, die Rauschdelikte so
häufig sind. Ich erinnere nur an die Ausschreitungen von
Korps und Burschenschaften an süddeutschen Universitäten,
von denen man nicht allzuselten in den Zeitungen liest. Der
Alkohol übt ja, wie wir gesehen haben, eben gerade eine
solche Wirkung auf das Gehirn aus, daß er die Hemmungen
hinwegräumt, die „Direktion“ zerstört und die Selbstbeherr-
schung vernichtet. Was nützt die beste Erziehung, die Ein-
prägung der mächtigsten Kontrastvorstellungen im nüchternen
Zustande für den Rauschzustand, wenn der Alkohol die Eigen-
schaft hat, gerade diese Vorstellungen hinwegzuräumen. Die
„Direktion“ im Rausch besteht auch garnicht in dem Vor-
— 925 —
herrschen kräftiger Hemmungen, sondern ist im allgemeinen
weiter nichts, als die Bewahrung des Gleichgewichts, der loko-
motorischen Fähigkeit und einiger gesellschaftlicher Formen.
Es ist meist auch nicht der Mangel an „Direktion“ im Sinne
Cramers, sondern ein reiner Zufall, ein äußerer Anlaß, der
den Berauschten in Konflikte bringt, ebenso wie es gewöhn-
lich nur das Fehlen eines äußeren Anlasses ist, was die meisten
im Rausche vor Konflikten bewahrt.
Wenn man also zwar den Rausch zuläßt oder gar billigt,
aber als eine Forderung der guten Erziehung verlangt, daß
der Mensch ım Rausche sich beherrsche, sich ın der Gewalt
habe, ordnungsgemäß benehme und Konflikte mit dem Straf-
gesetz vermeide, so heißt das verlangen, daB die Naturgesetze
aufgehoben werden, die naturgemäßen Wirkungen des Alkohols
auf das Gehirn nicht zur Geltung kommen. Berausche Dich,
wird gesagt, aber zeige keine Zeichen des Rausches, nimm
Alkohol zu Dir, so viel Du willst, aber die psychische Ver-
arbeitung äußerer Eindrücke darf nicht beeinträchtigt, das Be-
wußtsein nicht getrübt, die Erregbarkeit nicht erhöht, die Be-
wegungen dürfen nicht gesteigert, die Hemmungen nicht aus-
geschaltet werden. Man könnte ebensogut als eine Forderung
der guten Erziehung aufstellen, daß die Wangen des Trinkenden
sich nicht röten dürfen, oder daß seine Herztätigkeit nicht ge-
steigert werde.
Die Direktionslosigkeit im Rausch, die eine natürliche
Folge des Rausches ist und bei den einzelnen je nach ihrer Indi-
vidualität und den äußeren Umständen stärker oder schwächer,
deutlicher oder weniger deutlich hervortritt, auf einen Mangel
an Erziehung zurückzuführen, ist somit ein Unding, ebenso
wie es ein Unding ist, von einer selbstverschuldeten
Trunkenheit zu sprechen.
In den künftigen Strafgesetzgebungen, z. B. bei einer
Revision des deutschen Militärstrafgesetzbuches, wird demnach
vor allen Dingen der Begriff der selbstverschuldeten Trunken-
heit fortfallen müssen.
Ähnliches gilt von der Auffassung der Trunkenheit alsFahr-
lässigkeit, wie diese in der norwegischen Strafgesetzgebung
hervortritt, wonach Trunkenheitsdelikte mit der für das ent-
— 26 —
sprechende fahrlässige Delikt vorgesehenen Strafe belegt werden.
Die Bestrafung tritt ein, „weil ein Jeder, der sich auch nur
im einzelnen Falle dem Alkoholgenuß hingibt, damit rechnen muß,
daß er dadurch in den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit
geraten und darin Handlungen begehen kann, die ihn an sich in
Konflikt mit dem Strafgesetz bringen könnten“(Klöckn er S.786).
Besonders energisch gibt Ziehen der Ansicht Ausdruck, daß
der Rausch, wenn er zu Straftaten geführt habe, als fahrlässige
Handlung bestraft werden müsse (S. 55). „Das Fortwerfen eines
brennenden Streichholzes in der Nähe eines Heuschobers wird
bestraft, wenn ein Brand entsteht; bleibt unbestraft, wenn
keiner entsteht. Fahrlässigkeit wird im allgemeinen nur be-
straft, wenn sie zu bestimmten Wirkungen geführt hat. Das-
selbe gilt vom Rausch. .. . Das Strafmaß ist von der Bedeu-
tung der Handlung, zu welcher der Rausch geführt hat, ab-
hängig zu machen. ... Jedenfalls entspricht und frommt es
auch dem sittlichen Bewußtsein des Volkes weit mehr, wenn
der Rausch, der zu dem Verbrechen geführt hat, als wenn
das Verbrechen im Rausch bestraft wird. Das Volk wird
darauf hingewiesen, wo die wirkliche Verschuldung liegt.
Heute hält man einen Rausch für weniger fahrlässig, als
das Wegwerfen eines brennenden Streichholzes in der Nähe
von brennbaren Gegenständen. Das Bewußtsein der Fahr-
lässigkeit bei dem Rausch ist durch die heutige Bestrafungs-
weise geradezu künstlich erstickt worden.“ Also auch Ziehen
sieht im Rausch ein Verschulden, ein fahrlässiges Verschulden.
Nun, wenn wirklich im Rausch eine Fahrlässigkeit liegt, so
beginnt sie, wie ich oben eingehend auseinandergesetzt habe,
nicht erst in dem Augenblick, wo der Rausch anfängt, denn
den kann keiner bestimmen, sondern mit dem ersten Glase,
ja mit dem ersten Schluck, und dann machen sich alle, die
überhaupt alkoholische Getränke zu sich nehmen, einer Fahr-
lässigkeit schuldig. Das kann man gelten lassen. Man darf
das brennende Streichholz nicht mit dem Rausch, sondern
muß es mit dem Trinken, mit dem ersten Glase vergleichen.
Nicht das Bewußtsein der Fahrlässigkeit bei dem Rausch,
sondern beim Trinken, ist künstlich erstickt worden, aber nicht
so sehr durch das heutige Bestrafungssystem, das ja nur
ein Ausdruck der allgemeinen Volksanschauung ist, als durch
die Volksanschauung selbst, durch die Trinksitten und den
Trinkzwang. Erst wenn sich die Volksanschauung über den
Alkohol und das Trinken von Grund aus geändert haben wird,
wenn die allgemeine Volksanschauung im Trinken alkoholischer
Getränke eine ebensolche Fahrlässigkeit sehen wird, als im
Genuß von Opium und Morphium oder im leichtsinnigen Han-
tieren mit Licht, mit explodierenden Stoffen u. dgl., erst dann
wird es möglich sein, ein Rauschdelikt als Fahrlässigkeitsdelikt
zu bestrafen.*)
Ebenso zu beurteilen ist die von vielen (z. B. Weber,
S. 778) geforderte Bestrafung nicht der Straftat, sondern des
Rausches an sich, wenn dieser zu einer Straftat geführt hat, wie
dies z. B. nach dem österreichischen Strafgesetzbuch $ 523 ge-
schieht. Es heißt dort: „Trunkenheit ist an denjenigen als
Übertretung zu bestrafen, der in der Berauschung eine Hand-
lung verübt hat, die ihn außer diesem Zustand als Verbrechen
zugerechnet würde (s. oben S. 15). Die Strafe ist Arrest von
1—3 Monaten. War dem Trunkenen aus Erfahrung bewußt,
daß er in der Berauschung heftigen Gemütsbewegungen aus-
gesetzt sei, so soll der Arrest verschärft, bei größeren Übel-
taten bis zu 6 Monaten erkannt werden.“
Ähnlich, aber nur mit stärkerer und nach der Art des
Delikts abgemessener Strafe bedroht ist die Trunkenheit, wenn
sie zu Straftaten geführt hat, im Entwurf zu einem Gesetz
gegen die Trunkenheit in Deutschland vom Jahre 1881, das
allerdings zur Annahme nicht gelangt ist. In diesem heißt es:
„Wer sich in einem bis zur Ausschließung der freien
Willensbestimmung gesteigerten Zustande der Trunkenheit ver-
*) Klöckner führt gegen die Bestrafung der Trunkenheitsdelikte
als Fahrlässigkeitsdelikte folgendes an: „Dagegen spricht vor allen, daß der
sich Betrinkende zunächst garnicht damit rechnet, daß er sich betrinken
könne, sondern daß dieser Zustand sich nach und nach ergibt, ohne daß der
Trinker sich dessen recht bewußt wird. Wollte man sich mit der bloßen
Tatsache begnügen, daß Jemand im Zustande einer annehmbar selbst-
verschuldeten Trunkenheit eine an sich strafbare Handlung begangen hat,
so würde man allerdings mit dem Grundsatze brechen, daß ohne ein Ver-
schulden eine Strafe nicht eintreten kann. Damit würde man den ersten
Grundsatz jeder Strafrechtspflege erschüttern‘' (S. 786).
— 2% —
setzt und in demselben eine Handlung begeht, welche in freier
Willensbestimmung begangen, seine strafrechtliche Verurtei-
lung zur Folge haben würde, wird nach den nachfolgenden
Bestimmungen bestraft. Die Strafe ist nach demjenigen Ge-
setze festzusetzen, welches auf die in freier Willensbestimmung
begangene Handlung Anwendung finden würde. An Stelle
einer hiernach angedrohten Todesstrafe oder lebenslänglichen
Freiheitsstrafe tritt Gefängnisstrafe nicht unter einem Jahre.
In den übrigen Fällen ist die Strafe*) zwischen einem Viertel-
teil des Mindestbetrages und der Hälfte des Höchstbetrages
der angedrohten Strafe zu bestimmen, wobei an Stelle der
Zuchthausstrafe Gefängnisstrafe von gleicher Dauer tritt. So-
weit bei Freiheitsstrafen das Viertteil des Mindestbetrages 6
Monate, und soweit die Hälfte des Höchstbetrages 5 Jahre
übersteigt, tritt eine Ermäßigung auf die angegebenen Beträge
ein. Die Vorschrift des vorstehenden Absatzes findet auf fahr-
lässig begangene Handlungen, sowie auf Übertretungen keine
Anwendung, desgleichen bleibt sie ohne Anwendung, wenn
der Täter in der auf Begehung der strafbaren Handlung ge-
richteten Absicht sich in den bezeichneten Zustand versetzt
hat.“ Die Reichstags-Kommission zur Beratung des Gesetzes
gab diesem Paragraphen folgende einfachere Fassung: „Mit
Gefängnis bis zu 3 Jahren oder mit Geldstrafe bis zu 1000 M.
wird bestraft, wer in einem durch selbstverschuldete Trunken-
heit herbeigeführten Zustand der Bewußtlosigkeit, durch
welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist,
eine Handlung begeht, durch welche etc.“ (es werden bestimmte
Folgen strafbarer Handlungen, wie Tod, schwere Körperver-
letzung, Brand, Sachbeschädigung, Widerstand, Gefahren, auf-
geführt).
Einige Strafgesetzgebungen sehen für Rauschdelikte eine
schwerere Strafe vor, wenn die Trunkenheit eine gewohn-
heitsmäßige ist, oder. was dasselbe ist, wenn sie bei Ge-
wohnheitstrinkern, bei Trunksüchtigen vorkommt. Es spricht
= *) Bei Haft und Gefängnisstrafen kann dann noch auf Schärfung durch
Schmälerung der Kost, auf Arbeitshaus oder Unterbringung in eine
Trinkerheil- oder Bewahranstalt erkannt werden (siehe weiter
unten).
sich in solchen Bestimmungen die ganz veraltete Anschauung
aus, daß die Trunksucht ein Laster sei, das Jeder nach seinem
freien Willen annehmen oder ablegen könne. Heute ist aber
als wissenschaftliche Tatsache allgemein anerkannt, daß die
Trunksucht kein Laster, sondern eine Krankheit ist. Sie ist
eine Krankheit, die sich bei unseren Trinksitten, wonach der
regelmäßige, tägliche Genuß von alkoholischen Getränken eine
durchaus selbstverständliche, billigenswerte und zweckmäßige
Gewohnheit darstellt, bei zahlreichen Individuen langsam
und schleichend entwickelt, ohne daß es ihnen zum Bewußt-
sein kommt. Es gilt hier ganz dasselbe, wie vom Rausch,
der auch allmählich und unmerklich entsteht. Und wie in
den wenigsten Fällen der Rausch vorsätzlich erworben wird,
so gilt dies in noch höherem Grade von der Trunksucht. Kein
Trinker beginnt mit dem festen Vorsatz, Trinker zu werden,
etwa ähnlich Richard II, der auf die Bühne tritt mit den
Worten: „Ich bin gewillt ein Bösewicht zu werden“. Alle
späteren Trinker haben mit geringem und mäßigem Genuß
angefangen und sind allmählich, langsamer oder schneller,
wie es eben ihre Natur und die Trinksitten der Kreise, in
denen sie lebten, mit sich brachten, zu stärkerem und un-
mäßigem Genuß übergegangen, wobei sich ein immer größeres
Verlangen nach alkoholischen Getränken entwickelte, bis schließ-
lich die unwiderstehliche, krankhafte „Sucht“, das gewohn-
heitsmäßige Sichberauschen, da war.
Unter der Herrschaft der Trinksitten ist es auch geradezu
unabwendbar, daß unzählige Personen zu Trinkern werden,
denen das Trinken ein unwiderstehliches Bedürfnis ist. Die
Schuld trägt wieder nicht der Einzelne, sondern die ganze
Gesellschaft, welche die Trinksitten pflegt und mit aller
Macht aufrecht erhält und so die Trinker geradezu heran-
züchtet. Es ist eine Ungerechtigkeit und ein Widersinn sonder-
gleichen, wenn sie dann den Einzelnen dafür, daß er in der
krankhaften Sucht, in die er durch ihre Schuld geraten ist,
sich gewohnheitsmäßig berauscht, nicht nur nicht bestraft,
wenn er im Rausch eine Straftat begeht, sondern noch härter
bestraft, als den, der durch keinen krankhaften Trieb zum
Trinken gezwungen wird und sich nur gelegentlich berauscht.
— 50 —
Rauschdelikte bei Trunksüchtigen verdienten im Gegenteil
höchstens eine mildere Strafe, als bei Gelegenheitstrinkern,
wenn sie überhaupt strafwürdig sind.
Wir müssen uns jetzt der Frage zuwenden, wie es denn
überhaupt mit der Strafwürdigkeit resp. der Zurechnungsfähig-
keit der Rauschdelikte steht. In welcher Weise beeinflußt der
Rausch die Zurechnungsfähigkeit? Nach dem Österreichischen
Strafgesetzbuch gilt die Zurechnungsfähigkeit als ausgeschlossen,
wie wir gesehen haben, für „die volle Berauschung (oder eine
andere Sinnesverwirrung), in welcher der Täter sich seiner
nicht bewußt war“, während nach dem italienischen Gesetz-
buch die Trunkenheit (je nach ihrem Grade), ebenso wie eine
Geistesstörung oder geistige Abnormität die Zurechnungsfähig-
keit ausschließen oder beschränken kann.
Im deutschen Strafgesetzbuch ist, wie gesagt, die Trunken-
_ heit als Strafausschließungsgrund nicht besonders erwähnt. Es
ist hier nur der § 51i des R. Str. G. B. vorhanden. der auf
Trunkenheitszustände Anwendung finden kann. Der Wortlaut
des Paragraphen ist folgender: „Eine strafbare Handlung ist
nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der
Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder
krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch welchen
seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“
Die richterliche Praxis ist im allgemeinen wenig geneigt,
den Paragraphen auf Rauschzustände anzuwenden*). Eine
Ausnahme bilden allerdings die sog. pathologischen, besser
gesagt, die atypischen oder komplizierten Rauschzu-
stände, deren Anerkennung als Zustände von krankhafter
Störung der Geistestätigkeit auch in der Juristenwelt keinen
Widerstand findet. Es sind das Zustände von seelischer Stö-
*) Den Entwurf zu einem Gesetz gegen die Trunkenheit vom J. 1881
begründeteallerdings der Staatssekretär des Reichsjustizamts von Schelling
im Reichstage damit, daß der $ 51 auf Trunkenheitszustände in einer Aus-
dehnung angewandt werde, welcher die Rechtssicherheit gefährde. Wenn
dies wirklich damals der Fall gewesen sein sollte, so gilt dies doch jetzt
sicher nicht mehr. Die von v. Schelling angeführten Fälle betreffen übrigens
pathologische Rauschzustände.
a A u
rung, die bei neuropathischen, minderwertigen oder prä-
disponierten Individuen durch Alkoholgenuß ausgelöst werden,
ganz akut einsetzen und sehr rasch verlaufen. Das Haupt-
symptom ist die Angst, die ganz gegenstandslos sein kann,
meist aber mit Beeinträchtigungs- und Verfolgungsideen, auf
grund von illusionärer Umdeutung der Vorgänge in der Um-
gebung und von Personenverkennung, sowie mit Orientierungs-
verlust und starker Bewußtseinstrübung verbunden ist. Die
Angst wird im weiteren Verlaufe öfter durch eine zornmütige
Wut ersetzt oder verdeckt und findet gewöhnlich ihre motorische
Entladung in Gewaltakten aller Art, in sinnlosen Drohungen
und Schimpfereien, in blinden Umherschlagen, wilden Abwehr-
bewegungen oder rücksichtslosen, wütenden Angriffen auf die
Umgebung. Nach minutenlanger bis mehrstündiger Raserei
endet der Zustand meist mit einem tiefen Schlaf, aus dem die
Kranken klar, aber ohne Erinnerung für das Vorgefallene
(Amnesie) erwachen. Eine Disposition zu solchen Zuständen
bilden geistig abnorme oder deutlich krankhafte Zustände, vor
allen Epilepsie, dann Hysterie, Schwachsinn, Psychopathie und
degenerative Veranlagung, ferner Kopfverletzungen und chroni-
scher Alkoholismus. Auslösende Momente sind Exzesse, be-
sonders sexuelle, schwächende bezw. schädigende Einwirkungen
(andere Krankheiten, Strapazen, Entbehrungen), große Hitze
oder starke Temperaturschwankungen, Vergiftungen anderer Art
oder auch psychische Erschütterungen, Kummer, starker Ärger,
Schreck u. dergl. Die atypischen Rauschzustände können während
des Trinkens auftreten, ohne daß es bis zu deutlicher Trunkenheit
gekommen ist, oder auch durch irgend eine äußerliche Ver-
anlassung, wie das Erscheinen eines Schutzmannes oder An-
drohung mit Verhaftung, sich in die Trunkenheit einschieben
(„Blaukoller“), oder schließlich im Halbschlaf nach einem
Rausch durch eine plötzliche Unterbrechung des Schlafes (alko-
holische Schlaftrunkenheit) entstehen. Ohne Frage findet für
diese Zustände, die mit dem gewöhnlichen Rausch nur das ge-
meinsam haben, daß sie auch durch Alkoholgenuß entstanden
sind, im übrigen aber ein besonderes Krankheitsbild zeigen,
der zweite Teil des Paragraphen Anwendung, der von der
krankhaften Störung der Geistestätigkeit spricht.
— 32 —
Im übrigen sind die Richter nur bei „sinnloser“ Trunken-
heit bereit, die Zurechnungsfähigkeit auszuschließen. Dabei
wird aber der Begriff der sinnlosen Trunkenheit im allgemeinen
außerordentlich eng begrenzt. Sobald ein Trunkener sich noch
auf den Füßen zu halten, die Leute und Dinge in seiner Umgebung
zu erkennen, auf Reden in irgend einer Weise, z. B. mit Schimpf-
worten oder Drohungen, zu reagieren und ein paar zusammen-
hängende Worte zu sprechen vermag, ist nach gewöhnlicher
richterlicher Anschauung, die der landläufigen Ansicht des
Publikums entspricht, die „sinnlose Trunkenheit“ noch nicht
erreicht. Eine solche wird meistens eigentlich nur dann an-
genommen, wenn der Trunkene überwältigt vom Alkohol am
Boden liegt, oder ganz wirres Zeug spricht oder nur unver-
ständliche Worte lallt. Die Richter sind also, ebenso wie die
Laien, vielfach geneigt, die Sinnlosigkeit resp. die „Bewußt-
losigkeit* in $ 51 mit völliger Besinnungslosigkeit im medizini-
schen Sinne gleichzustellen, und kommen so bei Trunkenheits-
zuständen kaum je zu Freisprechungen wegen Unzurechnungs-
fähigkeit. Das entspricht aber durchaus nicht der Absicht des
Gesetzgebers und dem Sinne des Gesetzes, wie die Vorge-
schichte des Gesetzes und die Motive zu diesem beweisen.
Die jetzige Fassung des $ 51 ist im wesentlichen aus den
Gutachten hervorgegangen, welche die königlich preußische
Deputation für das Medizinalwesen sowie die medizinische
Fakultät zu Leipzig und das königlich sächsische Medizinal-
kollegium der Kommission zur Redaktion des Gesetzes erstattet
haben. Das Gutachten der preußischen Deputation, das zu-
nächst eingeholt wurde, schlug folgende Fassung des Gesetzes
vor: „Ein Verbrechen oder Vergehen ist nicht vorhanden,
wenn die freie Willensbestimmung dadurch, daß er (der Täter)
sich zur Zeit der Tat in einem Zustand von krankhafter
Störung der Geistestätigkeit befand, oder durch Ge-
walt, oder durch Drohungen oder durch besondere körper-
liche Zustände ausgeschlossen war.“ Es wurde bemerkt,
daß diese „alle diejenigen Seelenzustände umfassen, welche,
ohne zu den wirklichen Geisteskrankheiten zu gehören, doch
den Menschen der freien Willensbestimmung berauben.“ Welche
Seelenzustände im einzelnen gemeint waren, ergibt sich aus
dem Gutachten des Dresdener Medizinalkollegiums. Es wird
in diesem, wie die Motive ausführen, „noch besonders da-
rauf aufmerksam gemacht, daß es sich nicht bloß um die
Trunkenheit und Schlaftrunkenheit, um das Fieberdelirium
und die abnormen psychischen Zustände der Gebärenden
handelt, sondern daß auch noch andere psychische Zustände
hierher gehören, wie z. B. das Nachtwandeln, der psychische
Zustand nach einem epileptischen Anfall, der Zustand der
Verwirrung im höchsten Grade mancher Affekte, wie des
Schreckens, der Angst und der Furcht, der abnorme Zustand
der Vergiftung durch manche Narkotika. Das gemeinsame
psychologische Merkmal aller dieser Zustände sei die transi-
torische Störung des Selbstbewußtseins, und deshalb
sei auch nach diesem gemeinsamen Merkmalen die Bezeichnung
zu wählen.“ Und man wählte in der Erwägung, „daß für die
außer den krankhaften Störungen der Geistestätigkeit auf die
Willensfreiheit störend einwirkenden Zustände sich der Ausdruck
Bewußtlosigkeit als der gemeinverständlichste und richtigste
ergibt“, die Worte „Zustand der Bewußtlosigkeit“ an Stelle
des zuerst beabsichtigten „bewußtloser Zustand“. Ob jener Aus-
druck in der Tat der gemeinverständlichste und richtigste war, er-
scheint sehr fraglich. Der Ausdruck „Bewußtseinstrübung“
oder „Bewußtseinsstörung“ hätte weniger zu Mißverständnissen
Anlaß gegeben.
Die Motive zu § 51 unterscheiden so zwei Kategorien
von Zuständen, die die freie Willensbestimmung aufheben
können: die krankhafte Störung der Geistestätigkeit und da-
neben „diejenigen auf die Willensfreiheit störend einwirkenden
Zustände, die gewöhnlich nicht als Krankheit aufgefaßt zu
werden pflegen“, und für die der Ausdruck „Bewußtlosigkeit“
gewählt‘ wurde. Zu diesen Zuständen, deren gemeinsames
Merkmal eben, wie die Motive ausführen, die transitorische
Störung des Selbstbewußtseins ist, gehört nun nach dem
Gutachten des Dresdener Medizinalkollegiums vor allem die
Trunkenheit. Es genügt aber nicht jeder Zustand von „Be-
wußtlosigkeit“, sondern dieser Zustand muß, wie der Relativ-
satz angibt, so beschaffen sein, daß durch ihn die freie Willens-
bestimmung ausgeschlossen ist. Auch dieser Relativsatz zeigt,
3
u Be
daß unter „Bewußtlosigkeit“* nicht eine völlige Aufhebung,
sondern nur eine Störung des Bewußtseins gemeint sein kann,
denn „fehlt das Bewußtsein ganz, so kann selbstverständlich
ebensowenig eine Willensfreiheit, als eine Aktionsfähigkeit
vorhanden sein, ja es fehlt nicht bloß die Freiheit des Willens,
sondern der Wille überhaupt“ (v. Schwarze, S. 436). Bei
völligem Mangel des Bewußtseins sind nur instinktartige Tätig-
keitsakte möglich, und daß diese nicht zuzurechnen seien,
brauchte das Gesetz nicht erst zu sagen. „Der Trinker,
welcher auf der Erde liegt, stößt instinktiv um sich, ohne nur
im geringsten zu wissen, daß er schlägt und wohin er schlägt.
Hier ist unbestritten volle Bewußtlosigkeit und infolge der-
selben Unzurechnungsfähigkeit eingetreten. Allein man (sc. der
Gesetzgeber) geht weiter und nimmt Unzurechnungsfähigkeit
auch dann an, wenn zwar Bewußtsein noch vorhanden, aber
dessen innerer Zusammenhang aufgehoben worden ist... ...
Es genüge diejenige Störung des Bewußtseins, wo das vor-
handene Bewußtsein die Folgen des Tuns nicht mehr zu er-
fassen vermag — wo das Bewußtsein... seine Dienste ver-
sagt, weil ihm die nötige Kontinuität verloren gegangen ist‘“.*)
+) Zu einem ähnlichen Resultat kommt auch der Staatssekretär des
Reichsjustizamt v. Schelling in seiner zur Begründung des Gesetzent-
wurfs betrefis der Bestrafung der Trunkenheit 1881 im Reichstage ge-
haltenen einleitenden Rede. Er weist zunächst darauf hin, daß das Gutachten
der preußischen wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen die
Begrenzung des preußischen Strafgesetzes auf Wahnsinn und Blödsinn als
Strafausschließungsgründe getadelt und die Forderung gestellt habe, dass
außer den Geisteskrankheiten auch noch gewisse Grade der Trunkenheit,
der Schlaftrunkenheit und des Fieberdeliriums als möglicher Grund der Un-
zurechnungsfähigkeit zu berücksiehtigen seien. „Es entstand nun aber die
Frage“, so fuhr v. Schelling fort, „bis zu welchem Grade sich die Trunken-
heit gesteigert haben müsse, um als Strafausschließungsgrund zu gelten.
Der Ausdruck „Bewußtlosigkeit* scheint auf den höchsten lähmungsartigen
Grad der Trunkenheit hinzudeuten. Allein, m. H., in diesem Zustand bildet
der Körper nur eine willenlose Masse, die keinem andern Gesetz als dem
der Schwere folgt. In diesem Stadium ist die Aktionsfähigkeit aufgehoben:
der Gesetzgeber würde etwas Unmögliches vorausgesetzt haben, wenn er
über eine in diesem Zustand begangene Handlung hätte disponieren wollen.
Daher führt die logische Auslegung zu dem Resultat, daß unter Bewußt-
losigkeit nicht die völlige Abwesenheit des Bewußtseins, sondern nur die
un 5:
Das österreichische Str. G. B., das im Entwurf (vom 7. No-
vember 1874) beim entsprechenden Gesetzesparagraphen in An-
lehnung an das deutsche Str. G. B. auch die Bezeichnung „Be-
wußtlosigkeit‘“ hatte*), hat diese fallen gelassen und dafür
„volle Berauschung“ gewählt**), „weil die Volltrunkenheit“, wie
es in den Motiven heißt, „nicht zur völligen Bewußtlosigkeit
gehen muß, um eine darin begangene Handlung als nicht
strafbar zu erklären, da der Volltrunkene strafbar bleiben
muß, wenn er ein gewisses Bewußtsein noch beibehalten, die
Trunkenheit aber doch einen solchen Grad erreicht hat, daß
der Täter das Strafbare seiner Handlungen nicht einzusehen
oder seinen Willen nicht frei zu bestimmen vermag.“
Nach alledem unterliegt es keinem Zweifel, daß der Ge-
setzgeber unter Bewußtlosigkeit nicht völlige Aufhebung, son-
dern nur Störungen des Bewußtseins verstanden wissen will,
und zwar alle derartigen Störungen, „die ohne im engeren
Sinne unter allen Umständen krankhaft zu sein, doch das
Handeln des Menschen nicht als einen Ausdruck seines unge-
trübten Willens erscheinen lassen“ (Hoche, Handb. d. ger.
Psychiatrie, S. 460). Es ist auch zweifellos, daß man bei
diesem Begriff speziell Trunkenheitszustände, und diese in
erster Linie, im Auge gehabt hat.
Störung der Kontinuität desselben verstanden werden muß, und dies
ist jetzt die herrschende Ansicht unter den Lehrern des deutschen Straf-
rechts. Damit aber fällt die Grenze der Zurechnungsfähigkeit noch in den
Zustand der Exaltation, welche den lähmungsartigen Erscheinungen voraus-
zugehen pflegt, und es ist daher lediglich der Würdigung des Richters der
Tatfrage und der sein Ermessen leitenden Sachverständigen anheimgegeben,
ob die Trunkenheit im einzelnen Falle bis zur Ausschließung der freien
Willensbestimmung sich gesteigert hat (Reichstagsverh. 1881, S. 777 und 778).
*) § 56. „Eine Handlung ist nicht strafbar, wenn derjenige, welcher
sie begangen hat, zu dieser Zeit sich in einem Zustand von Bewußtlosigkeit
oder krankhafter Hemmung oder Störung der Geistestätigkeit befand, welcher
es ihm unmöglich machte, seinen Willen frei zu bestimmen oder das Straf-
bare seiner Handlung einzusehen“.
**) In 8 2 Abs. c heißt es: „Die Handlung der Unterlassung wird
nicht als Verbrechen angesehen, wenn die Tat in einer ohne Absicht auf
das Verbrechen zugezogenen vollen Berauschung oder in einer andern Sinnes-
verwirrung, in welcher der Täter sich seiner Handlung nicht bewußt war,
begangen wurde.“
Ik
= Ie
lm Rausche stellt der Handelnde unfraglich nicht mehr
die ursprüngliche Persönlichkeit dar, sondern diese ist ver-
ändert, sodaß man viele Menschen im Rausche garnicht wieder-
erkennt, die psychischen Funktionen stehen in lockerer oder
gar keiner Verbindung mit dem erworbenen Bewußtseinsinhalt,
das eigentliche Wollen der Persönlichkeit, das nur bei er-
haltenem Selbstbewußtsein zum Ausdruck gelangt, wird durch
die Tat nicht dargestellt.
Es fragt sich nun, wie der Rausch beschaffen sein muß,
um eine derartige „Bewußtlosigkeit“, resp. Bewußtseinsstörung
hervorzurufen, daß dadurch die freie Willensbestimmung aus-
geschlossen ist. Im allgemeinen scheint der Gesetzgeber dabei
nur an hohe, resp. die stärksten Grade der Trunkenheit ge-
dacht zu haben. Auch nach Hofmann (Lehrb. }der ger.
Mediz., 5. Aufl., 1891, S. 931) scheint es, daß das Gesetz nur
bei den höheren und späteren Stadien der Trunkenheit, wo
das Unterscheidungsvermögen hochgradig getrübt ist, Zurech-
nungsfähigkeit ausschließen will. „Es unterliegt jedoch keinem
Zweifel, daß schon in den früheren Stadien des Rausch-
zustandes, und noch bevor das Unterscheidungsvermögen
in dem vom Gesetze offenbar gemeinten Grade alteriert ist,
die Fähigkeit des Betreffenden, gewissen Impulsen zu wider-
stehen, so wesentlich beeinträchtigt sein kann, daß auch schon
deshalb die Zurechnungsfähigkeit als aufgehoben angesehen
werden muß. Dies muß umsomehr zugegeben werden, als
sich aus dem Gebahren Berauschter unschwer erkennen läßt,
daß überhaupt der Einfluß des Alkohols sich früher in Stö-
rungen der Selbstbestimmungs-(Selbstbeherrschungs-) fähigkeit
und in Alterationen des Fühlens bemerkbar macht, als in
solchen der Intelligenz.“
Ähnlich äußert sich Heilbronner: „Soweit sich der
Begriff der Bewußtseinsstörung überhaupt klinisch fassen läßt,
wird man nicht umhin können, sie für viele — NB. auch
leichtere — Fälle von Trunkenheit anzuerkennen“ (S. 22).
Nach Meyer (Lehrbuch des Strafrechts, 3. Aufl., S. 142,
cit. Schwarze, S. 439) „hebt schon ein solcher Grad von
Trunkenheit die Zurechnungsfähigkeit auf, wonach der geistige
Zustand des Betrunkenen hinter der Minimalgrenze des nor-
FE:
malen Bewußtseins zurückbleibt“. Eine Entscheidung des
Deutschen Reichsgerichts (V, S. 338) betont direkt, daß nicht
nur die höchsten Grade des Rausches unter das Gesetz fallen:
„Es genügt die Feststellung einer Trunkenheit, die dem Trinker
die Erkenntnis von der Bedeutung eines Vorganges unmöglich
macht, selbst wenn er sonst nicht bis zur Besinnungslosigkeit
betrunken war“ *).
Diese Entscheidung legt den Nachdruck auf die Störung
der Intelligenz, resp. der Erkenntnis, wie überhaupt richter-
lcherseits die Neigung besteht, bei Fragen nach der Zurech-
nungsfähigkeit vorzugsweise Intelligenz- oder Erkenntnisstö-
rungen im Auge zu haben, Gefühls- und Affektsstörungen aber
zu vernachlässigen. Die Störung der Erkenntnis, des „Bewußt-
seins* ist aber bei der Trunkenheit nicht das wesentlichste.
Hofmann betont mit Recht, daß der Einfluß des Alko-
hols sich früher in Störungen der Selbstbeherrschungs-
fähigkeit und in Alterationen des Fühlens bemerklich
macht, als in solchen der Intelligenz. Wir haben aus den
Resultaten der Kraepelinschen Untersuchungen ersehen, daß
die Wirkungen des Alkohols, neben der Änderung und Labili-
tät der Stimmung, im wesentlichen in einer Erleichterung der
motorischen Willensantriebe, der motorischen Impulse bei
gleichzeitiger Erschwerung und Abnahme der intellektuellen
leistungen, speziell der Auffassung und des Urteilsvermögens
bestehen. Bei den meisten Rauschdelikten scheint die Er-
lichterung der motorischen Impulse das wesentlichste zu sein.
Diese Delikte stellen sich im allgemeinen als impulsive, trieb-
artige Affekthandlungen dar, die durch keine hemmenden Vor-
stellungen, durch keine Überlegung aufgehalten werden. Wie
wir ferner gesehen haben, treten die Wirkungen des Alkohols
auf die seelischen Funktionen schon bei verhältnismäßig ge-
ringen Mengen ein und steigern sich mit der aufgenommenen
Menge. Der Übergang vom Beginn der Alkoholwirkung, die
*) Eine andere Reichsgerichtsentscheidung allerdings erklärt anscheinend
im Widerspruch damit eine Trunkenheit, die nicht in Bewußtlosigkeit aus-
geartet ist, als nicht zu denjenigen Zuständen gehörig, welche die Straf-
barkeit einer begangenen Gesetzesverletzung ausschließe. Es fragt sich nur,
was das Reichsgericht hier unter „Bewußtlosigkeit* verstanden hat.
as 798: es
man als alkoholische Anregung, als „Angeheitertsein“, be-
zeichnen kann, bis zum „Vollrausch“ oder der „sinnlosen
Trunkenheit“, von der leichten Beeinträchtigung der seelischen
Funktionen bis zu ihrer Lähmung und völligen Aufhebung
erfolgt meist ganz allmählich, ohne daß es die trinkende
Person merkt. Die Schnelligkeit, mit der sich dieser Über-
gang vollzieht, und die Stärke des Rausches ist nicht
nur von dem aufgenommenen Quantum abhängig, sondern
auch von zahlreichen individuellen Faktoren, wie persönlicher
Widerstandsfähigkeit, dem Füllungszustand des Magens, dem
körperlichen Befinden, Frische oder Übermüdung, Gemütsstimm-
ung u. dergl., oder äußeren Einflüssen, lebhaften psychischen
Erregungen, Witterung, Temperatur etc. Es braucht ja nur
auf die starke Wirkung verhältnismäßig geringer Alkoholmengen
in den Tropen, sowie auf Kinder und Frauen hingewiesen zu
werden.
Es ist deshalb, wie v. Schwarze ganz richtig betont
(S. 441), „nicht zu billigen, wenn, wie es häufig in der
Praxis geschieht, das Quantum der Spirituosen als ent-
scheidend angesehen, und namentlich aus der geringen
Quantität ein Zweifel gegen die Annahme der Trunkenheit ab-
geleitet wird“. Auch das äußere Gebahren gibt keinen sicheren
Maßstab für die Schwere der psychischen Schädigung*). Wo
allerdings starker Bewegungsdrang, schwankender Gang, Un-
sicherheit der Bewegungen, deutliches Lallen vorhanden ist,
wird man im allgemeinen einen so erheblichen Grad der „Be-
wußtlosigkeit“, resp. der psychischen Störung annehmen können,
daß von einer freien Willensbestimmung kaum mehr die Rede
sein kann. Nun weist Cramer (S. 49) zwar darauf hin,
daß nach Genuß bestimmter (schwerer) alkoholischer Getränke
die Herrschaft über bestimmte Bewegungen, z. B. die Sprache
oder die unteren Extremitäten, verloren gehe, während im
übrigen das Bewußtsein fast intakt sei. Man kann aber wohl
nur sagen, daß das Bewußtsein dabei scheinbar fast intakt
sei, denn wieweit das Bewußtsein dabei wirklich intakt ist,
*) Ähnliches gilt ja auch für die Dämmerzustände der Epileptiker und
anderen „Trancezuständen“, wo vielfach das äußere Gebahren und Auftreten
die Schwere der Bewußtseinsstörung garnicht ahnen läßt
— 39 —
wird in solchen Fällen wohl nie untersucht. Nur soviel scheint
im allgemeinen sicher, daß gewisse alkoholische Getränke
(z. B. Absinth) infolge der Beimengungen (ätherische Sub-
stanzen etc.) eine, besonders starke lähmende, bezw. schädigende
Wirkung auf die Bewegungszentren ausüben, während unter
anderen Umständen wieder starke Bewußtseinsstörungen ohne
erhebliche Bewegungsstörungen und ohne besondere Auffällig-
keiten im äußeren Verhalten vorhanden sein können. Man
darf also beim Fehlen solcher Erscheinungen einen Rausch
nicht für ausgeschlossen halten.
Ähnliches gilt von einem weiteren sehr wichtigen Zeichen
für die Tiefe der Bewußtseinsstörung im Rausch, dem Ver-
halten der Erinnerung nach dem Rausch an die Vorgänge
während des Rausches. Erfahrungsgemäß ist nach schweren
Bewußtseinsstörungen die Erinnerung für die Vorgänge und
Erlebnisse während dieser ausgelöscht oder stark beeinträch-
tigt, „weil die psychischen Eindrücke in keine feste Verbin-
dung mit dem Selbstbewußtsein getreten sind, deshalb nicht
haften und nicht reproduziert werden können“ (Weber, S. 772).
Die Erfahrung zeigt nun, daß unter Umständen schon bei
mäßigen Rauschzuständen, die vielleicht nur als Anheiterung
oder „Spitz“ bezeichnet werden würden, die Erinnerung hinter-
her eine sehr mangelhafte sein oder ganz fehlen kann. „Wir
können uns“, sagt Cramer (S. 40) sehr richtig, „im Rausche
stundenlang unterhalten, ohne am nächsten Tage eine Erinne-
rung zu haben, was wir gesagt haben, wo wir gewesen und
mit wem wir zusammengewesen sind. Wir brauchen dabei
unserer Umgebung nicht einmal aufzufallen“. Daß übrigens
auch die bei grober Prüfung scheinbar intakte Erinnerung recht
lückenhaft sein kann, hat Heilbronner einmal experimentell
festgestellt, indem er in einer höchstens als ganz leicht ange-
heitert zu bezeichnenden Umgebung eine Viertelstunde lang
die Gespräche wörtlich mitstenographierte und die Aufzeich-
nungen am nächsten Tage den Betreffenden vorlas. Es zeigte
sich, daß keiner von ihnen seine Worte vollinhaltlich an-
erkennen wollte (S. 21). Solche einwandfreien Beobachtungen,
die ein jeder alle Tage machen kann, zeigen, daß gewöhnlich
schon bei ganz leichtem Rausch, bezw. im Beginn der Alkohol-
zes Ao Du
vergiftung, die Bewußtseinsstörung einsetzt, der Zusammenhang
des Bewußtseins verloren geht! „Schon bei dem leichtesten
Rausch“, betont Ziehen sehr richtig (S. 54), „ist die Erinne-
rung bereits gewöhnlich nicht normal.“ Wir wissen nicht
mehr recht, was wir sprechen und was wir tun. Das Persön-
lichkeitsbewußtsein schwindet. Die Richter sind aber im all-
gemeinen geneigt, wenn Angeschuldigte, die im Rausch ge-
handelt haben, erklären, von den Vorgängen nicht das ge-
ringste zu wissen, dies für eine „faule Ausrede“ zu halten.
In sehr vıelen Fällen kann aber den Erklärungen der An-
geschuldigten, wie auch v. Schwarze betont, volle Glaub-
würdigkeit beigemessen werden. „Das Benehmen nach der
Ernüchterung ist oft Zeugnis für die Wahrheit. Reue und
Scham geben sich oft sehr entschieden kund“ (S. 445). Jeden-
falls ist ein solcher Erinnerungsausfall, wenn er festgestellt
oder allen Umständen nach wahrscheinlich ist, das sicherste
Zeichen für eine so erhebliche Störung des Bewußtseins, resp.
für eine solche „Bewußtlosigkeit“, daß dadurch die freie
Willensbestimmung ausgeschlossen erscheint.
Ebenso ist eine dunkle und getrübte (summarische) Er-
innerung zu werten. v. Krafft-Ebing vertritt allerdings die
ziemlich allgemein verbreitete Meinung, daß bei teilweiser
resp. summarischer Erinnerung. „bloßes Angetrunkensein“ vor-
liege, und die Zurechnungsfähigkeit nicht aufgehoben sei (S. 356
und 357). Ziehen stellt dem gegenüber mit Recht die Frage,
weshalb dem Alkoholrausch nicht dasselbe zuzubilligen sei,
was den hysterischen und epileptischen und anderen Dämmer-
zuständen zugestanden werde. „Dort beweist die summarische
Erinnerung Bewußtlosigkeit (natürlich im Sinne des Gesetzes),
hier nicht. Man könnte doch meinen, was den übrigen Dämmer-
zuständen recht ist, ist auch den akuten Rauschzuständen
billig.“
Andrerseits spricht aber das Vorhandensein der Erinnerung
an die Tat nicht gegen einen „sinnlosen“ Rausch, da die Er-
fahrung zeigt, daß auch nach starker Trunkenheit und erheb-
licher Bewußtseinsstörung die Erinnerung wenigstens an die
hauptsächlichsten Vorkommnisse erhalten sein kann. Ähnliches
gilt ja auch für die Dämmerzustände der Epileptiker. Amnesie
a A
spricht für, Fehlen der Amnesie aber nicht gegen die Bewußt-
seinsstörung.
Im ganzen muß man sagen, daß nach dem heutigen Stande
der Wissenschaft die Aufhebung des Persönlichkeitsbewußtseins,
die Veränderung der Persönlichkeit, bei einem weit geringeren
Grade des Rausches einsetzt, als man allgemein glaubt. Die
Grenze ist allerdings schwer zu ziehen. Das gilt aber auch
für die Beurteilung vieler anderer geistiger Störungen.
Wegsn der außerordentlichen Schwierigkeit der Beurteilung
dieser Zustände ergibt sich als selbstverständliche Forderung,
daß die Richter, die sich gewöhnlich für die Beurteilung
von Trunkenheitszuständen selbst für kompetent halten*),
wenigstens bei schwereren Trunkenheitsdelikten stets einen
sachverständigen Arzt zuziehen. „Eine quantitative Abschätz-
ung der Störung ist bei der Beurteilung abnormer psychischer
Zustände überall unumgänglich“, sagt Weber (S. 773) richtig.
Der Gesetzgeber hat, wie die Motive zum § 51 ergeben,
bei der Rauschwirkung nur die Bewußtseinsstörung im Auge
gehabt und seine Absicht dahin kundgegeben, daß Trunken-
heit als strafausschließend zu gelten habe, wenn sie einen Zu-
stand der Bewußtseinsstörung hervorgerufen hat, durch welche
die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Die psychi-
schen Veränderungen, welche größere Alkoholmengen hervor-
rufen, beschränken sich aber nicht auf die Störung des Be-
wußtseins, die nur eine, unter Umständen wenig oder gar-
nicht hervortretende, Seite der Rauschwirkung darstellt, sondern
sie sind, wie bereits auseinandergesetzt worden ist, weit um-
fangreicher und betreffen fast alle Seiten der Psyche, den
Willen, die Gefühlssphäre und den Intellekt.
Man hat auch in den letzten Jahrzehnten einsehen gelernt,
daß der Rausch weiter nichts ist, als eine Geistesstörung, aller-
dings eine sehr schnell vorübergehende (transitorische) Psy-
chose mit ganz typischem Verlauf und günstigem Ausgang.
Schwarzer sagt in seiner Monographie über transitorische
*) Cramer bemerkt sehr richtig: „Bei der allgemeinen Verbreitung
des Genusses geistiger Getränke haben die Gesetzgeber (?) sich auf den
Standpunkt gestellt, daß, soweit der Rausch in Betracht kommt — sit venia
verbo — jeder Richter ein Sachverständiger ist.“
— 42 —
Geistesstörungen (S. 32): „Die Trunkenheit ist zweifellos ein
pathologischer, psychopathischer Zustand .. .. sie kann bei-
nahe alle Formen der wirklichen Geisteskrankheiten bis zur
mania accutissima darstellen.“
In dem Referat, das Weber der forensisch-psychiatrischen
Vereinigung in Dresden im Juni 1901 über die strafrechtliche
Beurteilung des Rausches erstattet hat, äußerte er sich folgen-
dermaßen; „Daß ein abnormer, beziehentlich krankhafter
psychischer Zustand bei der Trunkenheit vorliegt, kann ja
nicht bestritten werden ... Man wird um die Tatsache nicht
herumkommen können, daß die Trunkenheit ein pathologischer
Zustand ist, und nicht nur die sogenannte Volltrunkenheit,
sondern die Trunkenheit in allen ihren Abstufungen von
den geringsten Graden der gesetzten Vergiftung an. . . . Sehen
wir uns die Erscheinungen des Rausches näher an, so
haben wir in ihm ein ganz typisches Krankheitsbild vor
uns, wie bei jeder andern narkotischen Vergiftung, einen
Symptomenkomplex, der sich bei jeder Alkoholvergiftung regel-
mäßig in der gleichen gesetzmäßigen Weise abspielt, und bei
dem, ist einmal die Vergiftung bis zu einem gewissen Grade
gediehen, die sogenannte freie Willensbestimmung eine sehr
bescheidene, beziehentlich gar keine Rolle spielt... .. Daß der
Rausch keine normale, sondern eine krankhafte Störung der
Geistestätigkeit ist, kann nicht bezweifelt werden“ (S. 768 und
769). Weber betont daher auch, daß bei der Beurteilung der
Trunkenheit ohne Zweifel beide der in $ 51 des Strafgesetz-
buches angeführten Abweichungen von der Norm in Betracht
kommen, sowohl die krankhafte Störung der Geistestätigkeit,
als die Bewußtlosigkeit. |
Auch Ganser betonte in der Diskussion zu diesem Vor-
trage, daß „jeder Rausch ein krankhafter Geisteszustand ist“
(S. 776). Und Wollenberg bemerkt im Handbuch der ge-
richtlichen Psychiatrie (S. 63): „Der gewöhnliche Alkoholrausch
bietet in seinen verschiedenen Stadien weitgehende Analogien
mit bekannten Irrsinnsformen und ist, streng genommen, selbst
nichts anderes als eine künstlich hervorgerufene Gei-
stesstörung akutester Art und bester Prognose.“
Der medizinischen Klassifizierung und Beurteilung der
un. dm, =
Trunkenheit haben sich auch viele juristische Autoritäten an-
geschlossen. In der bereits oben erwähnten Versammlung der:
forensisch-psychiatrischen Vereinigung begann Rechtsanwalt
Dr. Klöckner sein Korreferat über die Frage mit dem Satze:
„Die Trunkenheit ist ein krankhafter psychischer Zustand, eine
Vergiftungserscheinung, die die freie Willensbestimmung mehr‘
oder weniger beschränkt, in ihren höheren Graden vollständig
aufhebt. Das ist ein auch für Juristen feststehendes-
Ergebnis der medizinischen Wissenschaft“ (S. 780).
Und in der Diskussion gaben die meisten Juristen zu, daß die
Trunkenheit ein krankhafter Zustand sei.
Der Strafrechtslehrer v. Bähr schreibt bereits i. J. 1875:
„Vom medizinisch -psychologischen Standpunkte aus ist die
Trunkenheitnichts anderes, als eine vorübergehende Geisteskrank-
heit...“ (Grünhuts Zeitschr., S.58). Fischererklärteauf dem
internationalen Gefängniskongreß zu Petersburg 1890 (Bd. II,
S. 162): „Les troubles, qui viennent d’être décrits, présentent
une analogie indéniable avec d’autres formes de l'aliénation
mentale, particulièrement avec l’epilepsie, les cas de délir ete.“
Sehr entschieden spricht sich v. Schwarze dahin aus,.
daß es sich beim Rausch um eine krankhafte Geistesstörung
handelt: „Der durch die Trunkenheit geschaffene Zustand ist,
wie jede andere krankhafte Störung der Geistestätigkeit zu
beurteilen. . . Die Selbstbestimmung wird nicht sowohl durch
die Trunkenheit beschränkt oder aufgehoben, sondern dies ge-
schieht durch krankhafte Störungen der Gehirnfunktionen,
wie sie durch die Trunkenheit erzeugt werden, dieser aber
nicht ausschließlich eigentümlich sind. Es ist daher ziemlich
einflußlos, ob man die Bewußtseinsstörungen als Fälle der Be-
wußtlosigkeit im Sinne des Gesetzes oder als krankhafte Stö-
rungen der Geistestätigkeit ansieht. Wie die Trunkenheit die
Ursache einer Geistesstörung sein kann*), und sodann nur die
letztere als das Hindernis freier Selbstbestimmung in Betracht
kommt, so gilt dies auch von der Sinnesverwirrung, die aus
hochgradiger Trunkenheit entstehen kann“ (S. 442).
* v. Schwarze meint damit wohl die durch Trunksucht, durch
chronischen Alkoholismus ausgelösten alkoholischen Geistesstörungen, wie
den Säuferwahnsinn und den akuten halluzinatorischen Alkoholwahnsinn.
= di Ze
Es kann nach alledem keine Frage sein, daß der Rausch
ine durch Alkohol hervorgerufene Geistesstörung ist und
strafrechtlich wie diese, d. h. als ein Zustand krankhafter Stö-
rung der Geistestätigkeit im Sinne des § 51 zu werten ist.
Nun ist es ja richtig, daß der Gesetzgeber zur Zeit der Ab-
fassung des Paragraphen bei den damaligen Anschauungen
der Wissenschaft dieser Ansicht nicht war, sondern, wie ge-
sagt, die Trunkenbheitszustände zu den Zuständen der „Bewußt-
losigkeit* gerechnet hat. Doch ist es bei der absichtlich
ganz allgemein gewählten Fassung des Gesetzes, wie Höpker
richtig ausführt, wohl berechtigt, ohne sich mit den ursprüng-
lichen Absichten des Gesetzgebers in Widerspruch zu setzen,
heut, bei der fortgeschrittenen Erkenntnis, die Trunkenheit zu
den Zuständen krankhafter Störung der Geistestätigkeit im
Sinne des § 51 zu rechnen. „Hätte das Gesetz“, sagt Höpker,
„alle geistigen Zustände, die es für strafausschließend ansieht,
namentlich aufgeführt, so würde man kaum berechtigt sein,
‚einer nicht aufgeführten Geisteskrankheit dieselbe Eigenschaft
zuzusprechen, selbst wenn nachgewiesen werden sollte, daß
‚dieselben Eigenschaften, derentwegen der Gesetzgeber die
übrigen Krankheiten des Geistes als Strafausschließung an-
erkannt hat, auch bei der nicht aufgeführten vorhanden sind,
und daß sie nur deshalb nicht angeführt sei, weil sie zur Zeit
‚der Entstehung des Gesetzes noch nicht in ihren Folgen er-
kannt war, da dann der Gesetzausleger zum Gesetzgeber würde.
. . . Unser Fall liegt jedoch anders, und es würde auch nie-
mand Bedenken tragen, einen Geisteszustand, der erst seit
kurzem als Krankheit anerkannt ist, unter den Begriff des § 51
zu subsummieren, da die allgemeine Fassung gerade mit Rück-
sicht darauf gegeben ist, daß der Richter, sobald er die Über-
zeugung gewonnen hat, der Täter habe ın einem Zustande
krankhafter Störung der Geistestätigkeit die Straftat ausgeführt,
auf die Ursache dieses Zustandes garnicht einzu-
gehen braucht, um Strafausschließung eintreten zu lassen;
vorausgesetzt, daß die freie Willensbestimmung des Täters
‚durch den Zustand ausgeschlossen erscheint. Beı der Trunken-
heit hat man Bedenken getragen, ebenso zu verfahren, weil
‚der Gesetzgeber ausdrücklich ausgesprochen hat, daß sie unter
ze Me e
die Bewußtlosigkeitszustände zu rechnen sei, und verlangte
den Nachweis, daß der Alkohol eine Störung des Bewußtseins.
hervorgerufen habe, durch welche die freie Willensbestimmung
ausgeschlossen war, um den $ 51 in Anwendung zu bringen.
Es ist nun nicht einzusehen, worin der Unterschied in beiden
Fällen liegen soll. Nachdem man neuerdings erkannt hat, daß
die Trunkenheit wohl imstande ist, Zustände der Geistesstörung
zu erzeugen, kann man sich doch deshalb nicht abhalten lassen,
diesen Teil des Paragraphen anzuwenden, weil die Trunken-
heit schon in anderen Fällen strafausschließend wirken kann.
Denn der Gesetzgeber kann doch dadurch, daß er die hoch-
gradige Trunkenheit zu den Bewußtlosigkeitszuständen rechnete,
nicht haben sagen wollen, daß, falls man entdecken sollte,
daß durch den Alkoholgenuß auch krankhafte Störungen der
Geistestätigkeit hervorgerufen werden könnten, der sonst für
solche Fälle gegebene Teil des $ 51 nicht in Anwendung
kommen dürfe“ (S. 12 und 13).
Es würde übrigens das zweckmäßigste sein, wenn bei der
Revision des Strafgesetzbuches, die Worte „von Bewußtlosig-
keit“ in dem § 51 ganz gestrichen würde. Denn die Bewußt-
seinsstörungen, speziell die in den Motiven angeführten (Trunken-
heit, Schlaftrunkenheit, Fieberdelirium, die abnormen psychi-
schen Zustände der Gebärenden, das Nachtwandeln, der psy-
chische Zustand nach einem epileptischen Anfall etc.), sind doch
unzweifelhaft krankhafte Störungen der Geistestätigkeit, z. T.
sogar, wie das Fieberdelirium und die postepileptischen Zustände,
ausgesprochene Geistesstörungen und seinerzeit nur aus
praktischen Gründen, weil die damalige Anschauung sie nicht
dazu rechnete, sondern als krankhafte Zustände besonderer Art
ansah, besonders als strafausschließend angeführt worden.
Heute, bei dem Fortschritt der Wissenschaft, hat diese Hervor-
hebung besonderer psychischer Krankheitszustände keinen
rechten Zweck mehr, zumal ihr Zustandsbild, wie wir dies
2. B. bei der Trunkenheit gesehen haben, nicht durch die Be-
wußtseinsstörung erschöpft wird. |
Es wird aber überhaupt bei Trunkenheitszuständen auch
der Begriff der Bewußtlosigkeit des $ 51 so wenig wie
ae AB s
‘möglich in Anwendung gezogen. Es kommt höchst selten vor,
-daß bei einem eines Trunkenheitsdelikts Angeklagten ein Zu-
‚stand der „Bewußtlosigkeit* angenommen wird, und Frei-
sprechung erfolgt. Daß diese Praxis nicht in der Absicht des
Gesetzgebers liegt und eine Ungerechtigkeit bedeutet, dürfte
nach den vorangegangenen Erörterungen klar sein.
Ziehen betont sehr richtig: „Wenn genau derselbe Zu-
stand statt nach Alkoholgenuß bei einem Epileptischen auf-
tritt, würde man ihn unzweifelhaft zu den Zuständen der Be-
wußtlosigkeit rechnen und den Täter freisprechen.“ Ähnlich
‚äußert sich Cramer (S.54): „Würde infolge eines anderen
-Giftes, als der Alkohol, z. B. durch Kohlenoxydgas, ein Zu-
stand hervorgerufen, der in seinen Erscheinungen mit denen
‚eines auch nur mäßigen Rausches sich deckte, so würden Sach-
verständige und Richter, wenn es in diesem Zustande zu einem
Konflikt mit dem Strafgesetzbuche gekommen wäre, kein Be-
‚denken tragen, den 8 51 des Strafgesetzpuches in seine Rechte
treten zu lassen“ (S. 36). Und Weber bemerkt (S. 771):
„Wenn wir sehen, daß bei diesem Zustande. auch ohne daß
‚das Bewußtsein erheblich oder überhaupt beeinträchtigt ist,
von vornherein und allmählich steigend die intellektuelle
Leistungsfähigkeit eine erhebliche Herabminderung erfährt, die
Auffassungsschärfe herabsetzt, das Urteil getrübt ist, intensive
psychomotorische Reizerscheinungen sich geltend machen, die
Affekte gesteigert, die sittlichen Gefühle geschädigt sind, so
würde man die gleichen Erscheinungen bei jeder anderen psy-
chischen Affektion mit zweifellosem Erfolge gegenüber der Zu-
‘rechnungsfähigkeit geltend machen.“ Der Alkohol aber bildet
‚einen Ausnahmefall, hier wird die Konsequenz fast regelmäßig |
nicht gezogen, obgleich man von der Richtigkeit dieserKonsequenz
"wissenschaftlich überzeugt ist, und der Geisteszustand während
des Rausches wird möglichst wenig oder garnicht berücksichtigt.
Und dies geschieht nicht nur von seiten der Richter, sondern,
wie schon der oben angeführte Satz Cramers andeutet, auch
von seiten der sachverständigen Ärzte. Zu diesen gehört
‘Cramer selbst, der den offensichtlichen Widerspruch
zwischen der wissenschaftlichen Auffassung und der Praxis
‚offen zugibt. Wollenberg betont ausdrücklich: „Auch ein
ze AT Zu
großer Teil jener vorübergehenden psychischen Störungen, die
infolge akuter Alkoholintoxikation als „normaler“ Rauschzu-
stand auftreten, müßte streng genommen die gleiche Beurtei-
lung erfahren; dies gilt insbesondere von den in Zuständen
normaler maximaler alkoholischer Berauschung begangenen
Handlungen, bei denen es oft vom Zufall abhängt, in welcher
Richtung die Entäußerung erfolgt. ... Wenn diese und ähn-
liche Fälle nur deshalb, weil der Alkoholberauschte seinen
Zustand und die daraus entstehenden Folgen selbst verschuldet
hat*), nicht als Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit ange-
sehen werden, so ist dies eine bewußte Inkonsequenz,
da ein prinzipieller Unterschied zwischen den Zuständen des
Alkoholrausches und jenen andersartig bedingten Bewußtseins-
störungen offenbar nicht existiert (S. 651).
Woher nun diese bewußte Inkonsequenz, dieser offen-
kundige Widerspruch zwischen Wissenschaft und Praxis? Erer-
klärt sich und wird hauptsächlich begründet durch den „Zwang
der Verhältnisse“ (Heilbronner), durch die außerordentliche
Massenhaftigkeit der Rauschdelikte, deren man sich nicht er-
wehren zu können glaubt, wenn man auch nur einen Teil der
wegen solcher Delikte Angeklagten in Berücksichtigung ihres
Geisteszustandes freisprechen wollte. „Die Exkulpierung auch
nur in der Mehrzahl der Trunkenheitsdelikte würde einfach
die Rechtssicherheit in Frage stellen“ (Heilbronner, S. 23).
Dazu kommt die Rücksicht auf die Volksauffassung (Cramer,
*) Dabei bedenkt man aber nicht, daß auch die alkoholischen Psychosen»
wieder Säuferwahnsinn und halluzinatorische Wahnsinn der Trinker, die doch
die freie Willenskraft aufheben, durch „selbstverschuldeten* Alkoholmißbrauch
entstanden, also selbstverschuldet sind und eigentlich, nach der Volksauf-
fassung eine weit schwerere Verschuldung darstellen,da sie durch fortgesetzte
Exzesse entstanden sind, während beim Rausch nur ein einmaliger Exzeß
zu Grunde liegt. In der Tat hat auch ein Pariser Kriegsgericht kürzlich
einen Soldaten, der in einer ausgesprochenen Alkoholpsychose einen Menschen
getötet hatte, verurteilt mit der Motivierung, daß er seinen Zustand durch
die Trunksucht verursacht und folglich die in diesem Zustand verübte
Handlung selbst verschuldet habe. Nach denselben Grundsätzen wäre auch
die Alkoholepilepsie selbstverschuldet, und ein Dämmerzustand bei einem
Epileptiker, der in Folge von Trunksucht epileptisch geworden ist, dürfte
keinen Strafausschließungsgrund bilden.
— 48 —
S. 38) und das besonders von Ziehen hervorgehobene und auch
von Wollenberg angedeutete moralische Motiv, daß der
Rausch durch einen „selbstverschuldeten* Alkoholexzeß her-
vorgerufen sei, während dies sich bei ähnlichen Zuständen
- anderer Art, bei den epileptischen Dämmerzuständen, um eine
unverschuldete Krankheit handle (s. Anm. zu S. 47).
Und diesen Erwägungen tragen auch meist die medizini-
schen Sachverständigen Rechnung. Aschaffenburg betont
direkt im Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie (S. 18): „Es
muß auch eine Abwehrmaßregel der Gesellschaft gegen die
Ausschreitungen der Angetrunkenen geben, und vorläufig liegt
diese nur in deren Bestrafung.* Viele ärztliche Autoren wollen
deshalb ein Gutachten über einen gewöhnlichen Rausch als
nicht zu den ärztlichen Kompetenzen gehörig ablehnen. So
meint Wollenberg (a. a. O.): „Indessen wird der Sachver-
ständige, so lange dieser Standpunkt (sc. der Bestrafung der
Rauschdelikte als Fahrlässigkeit) nicht anerkannt ist, in foro
sich gegenwärtig zu halten haben, daß weder die Feststellung des
gewöhnlichen Rausches an sich, noch die Beurteilung seines
Grades mit Bezug auf die Zurechnungsfähigkeit zur Kompetenz
des medizinischen Sachverständigen gehört.“ Cramer und
Heilbronner fordern ausdrücklich, daß der Arzt es ablehnen
solle, sich über einen „normalen“ Rausch gutachtlich zu
äußern. Cramer sagt in einem der Schlußsätze zu seinem
Aufsatz: „Da der Arzt nur über Krankheit ein Gutachten
abgibt, nicht aber über einen normalen Rausch und
dessen Grade, wird er, wenn er überhaupt gefragt wird,
es ablehnen, sich gutachtlich zu äußern“ (S. 60). Und Heil-
bronner meint: „Der Arzt wird, wenn er als sachverständiger
Berater gerufen wird, nicht aus einem Kompromisse zwischen
wissenschaftlichen Anschauungen und praktischen Erforder-
* Cramer steht also nicht an, den Tatsachen solche Gewalt anzutun,
daß er dem Rausch die Bedeutung als Krankheit abspricht, ja ihn sogar
im Gegensatz zur Krankheit setzt. Er müßte ganz folgerichtig auch der
Kohlenoxydvergiftung und alle Vergiftungen überhaupt die Bezeichnung
„Krankheit“ absprechen. Und doch werden alle diese Zustände mit Einschluß
der akuten „normalen“ Alkoholvergiftung in den Lehrbüchern der Pathologie
abgehandelt.
— 49 —
nissen eine künstliche Definition der sinnlosen Trunkenheit
schaffen dürfen, und wird die Beantwortung der Frage nach
dem Vorliegen einer solchen in der gewöhnlichen Fassung ab-
zulehnen haben. Als Sachverständiger hat sich . . . der Arzt
über die Trunkenheit nur dann zu äußern, wenn noch be-
sondere krankhafte Momente vorgelegen haben.“
Mir scheint dieser Standpunkt ebenso unhaltbar, wie der
praktisch - gleichbedeutende, den z. B. Gaupp einnimmt,
indem er erklärt: .daß der Rausch im wissenschaftlichen Sinne
zwar immer eine Geistesstörung sei, daß aber im vorliegenden
Falle keine Geisteskrankheit oder Bewußtlosigkeit im Sinne
des § 51 des R. Str. G. B. vorliege“, wobei er in den Sinn des
$51 die Absicht des Gesetzgebers hineindeutet, Trunkenheits-
zustände vom Geltungsbereiche dieses Paragraphen auszu-
schließen. Das widerspricht aber, wie ich gezeigt habe, den
Tatsachen direkt
Es sind, wie gesagt, rein äußere Gründe, teils Erwägungen
moralisierender Natur, teils die Rücksicht auf die Volksanschau-
ung, welche „in der Trunkenheit nicht einen Freibrief für alle
möglichen Delikte sehen will“, und auf die Massenhaftigkeit
der Trunkenheitsdelikte, die zu diesem unkonsequenten und
unnatürlichen Standpunkte führt.
Zunächst bat der Arzt gar nicht das Recht, wie Cramer,
Heilbronner und Wollenberg es wünschen, das Gutachten
über einen „normalen“ Rausch abzulehnen, wenn er dazu auf-
gefordert wird. Da nach dem ausgesprochenen Willen des
Gesetzgebers unter den § 51 auch die Trunkenheit fällt, und
zwar die Trunkenheit ganz allgemein (und nicht nur Trunken-
heit, bei der noch „besondere krankhafte Momente vorgelegen
haben“, wovon in den Motiven zum $ 51 nichts steht), so kann
die Mitwirkung des Arztes bei der Entscheidung der Frage,
ob bei einem Rausch die Bedingungen des $ 51 erfüllt sind,
im Einzelfalle gar nicht entbehrt werden, und der Arzt darf
sich daher dieser Pflicht, die von ihm gefordert wird und nach
dem Gesetze zu leisten ist, nicht entziehen*), sofern er sich
*) Von Schelling sagt in seiner oben zitierten Reichstagsrede: „Es ist
der Würdigung des Richters und der sein Ermessen leitenden Sach-
verständigen anheimgegeben, ob die Trunkenheit im einzelnen Falle bis
4
s= N. -—
die sachverständige Beurteilung eines Geisteszustandes und
seiner Wirkungen auf die Zurechnungsfähigkeit überhaupt zu-
traut. Ich wüßte auch nicht, wer anders die sachgemäße
Feststellung eines Rausches, seines Grades und seines Ein-
flusses auf die Handlungsfähigkeit, wenn dies in foro für not-
wendig erachtet wird, vornehmen soll, als der psychiatrisch
gebildete Arzt.
Die meisten Laien halten sich allerdings, wie schon be-
merkt, wegen der außerordentlichen Häufigkeit des Rausches,
den viele selbst wiederholt durchgemacht haben, für sach-
verständig genug, einen Rauschzustand beurteilen zu können.
Aber die Erfahrung ergibt zur Genüge, daß gerade in dieser
Beziehung von Laien, die nur nach einigen äußeren Merkmalen
urteilen, so häufig schwere Irrtümer begangen werden. Wie
oft kommt es nicht vor, daß Personen, die betrunken sind, von
ihrer Umgebung für nüchtern gehalten werden, weil sie das Gleich-
gewicht und die Formen noch einigermaßen bewahren, während
anderseits häufig genug Personen für trunken gehalten, und
als Trunkene behandelt werden, die von irgend einer andern
Krankheit befallen sind! Wer die Beurteilung von Rausch-
zuständen Laien und den Richtern überläßt, weil diese ge-
nügend Gelegenheit haben, Rauschzustände zu beobachten, und
sich für zuständig halten, kann mit demselben Recht auch
die Beurteilung von Geistesstörungen Irrenwärtern und andern
Irrenanstaltsbeamten überlassen, weil diese dauernd mit Geistes-
kranken umgehen und die reichlichste Gelegenheit haben, Gei-
stesstörungen zu beobachten. Und noch eins. Sowohl die
Ärzte, die es überhaupt ablehnen, sich über „normale“ Rausch-
zustände zu äußern, als die, die prinzipiell erklären, daß
„normale“ Rauschzustände die freie Willensbestimmung im
Sinne des $ 51 nicht ausschließen, setzen sich, da sie denselben
Standpunkt auch bei den Zuständen „normaler maximaler
Berauschung“, also bei der „sinnlosen Trunkenheit“, wie Heil-
zur Ausschließung der freien Willenskraft sich gesteigert bat.“ Schelling
hält also die Zuziehung von Sachverständigen bei der Beurteilung von
Trunkenheitszuständen vor Gericht für selbstverständlich. Und ebenso selbst-
verständlich ist e3 daher, daß die Sachverständigen nicht bei solchen Zustän-
den das Gutachten prinzipiell ablehnen.
>, i 22
bronner direkt ausspricht, einnehmen, mit dem Volksbewußt-
sein in Widerspruch, das ihnen zum Teil angeblich für die
Haltung maßgebend ist, denn das Volksbewußtsein will ohne
Frage bei sinnloser Trunkenheit die Zurechnungsfähigkeit aus-
geschlossen wissen, und auch kein Richter steht an in Fällen,
wo er sinnlose Trunkenheit für konstatiert hält, die Zurech-
nungsfähigkeit auszuschließen.
Nun gibt es auch Autoren, die einen vermittelnden
Standpunkt einnehmen, indem sie zwar Zustände der „Voll-
trunkenheit“ als Bewußtlosigkeit im Sinne des $ 51 auf-
fassen, im übrigen aber bei Rauschzuständen die Zurech-
nungsfähigkeit bejahen. Sie statuieren also, wie Ziehen
(a. a. O.) sich ausdrückt, für den Alkoholrausch eine spezielle,
etwas engere Bewußtlosigkeit, als bei ganz ähnlichen Zuständen
anderer Herkunft. Auch dieser Standpunkt ıst unhaltbar. Mit
Recht erklärt Ziehen: „Für den nach seiner Wissenschaft
objektiv urteilenden Arzt scheint mir ein solches Abmodeln
der Begriffe verfehlt. Ich stehe nicht an, jeden Alkoholrausch,
wenn die Erinnerung nur summarisch ist, zu den Zuständen der
Bewußtlosigkeit zurechnen. Das Gesetzbuch mutet unsschon genug
prokrustesartige Einzwängungen und Anpassungen zu ; soweit darf
das Sacrificium intellectus nicht gehen, daß wir denselben
Begriff hier so und dort anders definieren. Wir haben die
Gesetzgebung nicht aus und mit moralischen Mo-
tiven nachträglich zu ergänzen.“
In der Tat ist es doch, wie ich an anderer Stelle über
diesen Gegenstand ausgeführt habe*), „in der Wissenschaft
unmöglich, zweierlei Buch zu führen und Zustände, die durch
ein allgemein gebrauchtes Gift hervorgerufen werden, anders
zu beurteilen, als ganz entsprechende Zustände, die durch ein
seltenes Gift erzeugt werden. Man müßte ja denn auch dazu
kommen, die Rauschdelikte verschieden zu beurteilen, je nach-
Tann
*) 1. Die forensische Beurteilung und Behandlung der von Trunkenen
und von Trinkern begangenen Delikte. Zentralbl. f. Nervenheilk. und Psy-
€hiatrie 1906, 2. Alkohol und Kriminalität. Wiesbaden 1906, S. 183.
Ich kannte übrigens damals die Ziehenschen Ausführungen über den
Gegenstand noch nicht.
4*
dem man sich in einem Lande befindet, wo diese seltene
Ausnahmen sind, wie wahrscheinlich in den muhamedanischen
Ländern, oder an der Tagesordnung sind, wie bei uns. Nein,
der Arzt steht da als Vertreter seiner Wissenschaft und hat
einzig und allein zu entscheiden nach den Normen, die ihm
seine Wissenschaft an die Hand gibt, ganz gleichgiltig, welche
Konsequenzen sich daraus für die Praxis ergeben. Die Wissen-
schaft darf ihre Resultate nicht nach den bestehenden Verhält-
nissen ummodeln, sondern die Verhältnisse des praktischen
Lebens müssen sich nach den Resultaten der Wissenschaft
umgestalten.*“ Weil vorläufig der Staat den zahllosen Rausch-
delikten nicht anders entgegenzutreten weiß, als daß er die
Täter ohne Rücksicht auf ihren Geisteszustand zur Zeit der
Tat für kürzere oder längere Zeit in Gefängnisse und Straf-
anstalten sperrt — ohne in Wirklichkeit dadurch irgend eine
Besserung herbeizuführen, im Gegenteil, die Rauschdelikte
nehmen, wie gezeigt worden ist, außerordentlich zu —, so soll
der Arzt als Sachverständiger dieses unzweckmäßige Vorgehen
mit dem Stempel der Wissenschaft sanktionieren, indem er
bei Trunkenheitszuständen entweder sich für unzuständig er-
klärt und den Täter dem Urteil des Richters, d. h. der Ver-
urteilung überläßt, oder sein Gutachten in einem dem Richter
gefälligen Sinne abgibt?
Es kann nicht scharf genug gegen diese Anschauung
Front gemacht werden. Solche „durch praktische Rück-
sichten denaturierten Gutachten“ liegen sicher nicht im Inter-
esse der Rechtsprechung und der Gerechtigkeit, auch ent-
sprechen sie nicht den Absichten, die die Gesetzgebung mit
den Bestimmungen über die Hinzuziehung von Sachverständigen
hat. Die Rechtsprechung hat das lebhafteste Interesse, die
tatsächlichen Verhältnisse festzustellen, und deshalb zieht der
Richter, um auf Gebieten, auf denen ihm die Fachkenntnisse
mangelt, Aufklärung über die tatsächlichen Verhältnisse zu
erhalten und sein Urteil zu läutern, Sachverständige zu. Der
Sachverständige hat daher die Pflicht — und dazu ist er auch
durch seinen Sachverständigeneid gezwungen —, die vom
Richter an ihn gestellten Fragen, unbeeinflußt durch äußere
Rücksichten irgend welcher Art, „nach bestem Wissen und
u GF a
Gewissen“, zu beantworten und das Gutachten zu erstatten
einzig und allein nach den Kriterien, die ihm die Wissenschaft
in ihrer Anwendung auf den einzelnen Fall in die Hand gibt.
Und so hat auch bei Rauschdelikten der ärztliche Sachverständige
das Gutachten nur auf Grund der durch seine Fachwissenschaft
geleiteten Untersuchung über den psychischen Zustand des
Angeklagten zur Zeit der Tat abzugeben*), gleichgiltig, wodurch
dieser Zustand herbeigeführt worden ist, und sich dabei nicht
durch Rücksichten auf die etwaigen praktischen Konsequenzen
des Gutachtens leiten zu lassen. Er hat sein Gutachten ebenso
abzugeben, wie bei Geistesstörungen anderer Art, bei denen
er sich doch auch nicht durch Erwägungen bestimmen läßt,
was bei einem auf Unzurechnungsfähigkeit lautenden Resultate
die Behörden hinterher mit dem freigesprochenen Delinquenten
anfangen, und ob genügende und zweckmäßige Einrichtungen
zur Unterbringung gemeingefährlicher Geisteskranker vorhanden
sind oder nicht.
Man kann im allgemeinen Weber nur beistimmen, wenn
er sagt: „Der ärztliche Sachverständige wird . . . den Rausch
immer als krankhaften Zustand ansehen und daraus seine
Konsequenzen ziehen “müssen“ (S. 773). Was der Richter,
bezw. die Gesellschaft mit den wegen einer im Rausche be-
gangenen Straftat Angeklagten anfängt, wenn sie wegen Un-
zurechnungsfähigkeit zur Zeit der Tat freigesprochen sind, das
mag Sorge der Gesetzgeber sein, geht aber den Sachverstän-
digen als solchen garnichts an. Wenn Aschaffenburg
(Handbuch d. ger. Psychiatrie S. 8) meint, daß es eine Ab-
wehrmaßregel der Gesellschaft gegen die Ausschreitungen der
Trunkenen geben müsse und diese vorläufig nur in deren Be-
strafung liege, so spricht er nicht vom Standpunkte des Sach-
verständigen, sondern von dem der Gesellschaft, bezw. des
Strafrichters.
*) Ich kann Ziehen nur beistimmen, wenn er die Tätigkeit des Sach-
verständigen vor Gericht dabin präzisiert, daß dieser einfach eine möglichst
eingehende Schilderung und Zergliederung der durch den Alkohol in dem
speziellen Falle hervorgerufenen psychischen Symptome zu geben und ihren
Einfluß auf die Handlung darzulegen, das weitere aber dem Richter zu
überlassen habe.
— 54 —
Aber Aschaffenburg ist auch im Irrtum, wenn er die
Bestrafung für die einzige vorläufig mögliche Abwehrmaßregel
gegen die Ausschreitungen der Trunkenen erklärt. Durch die
Bestrafung wird ja, wie gesagt, nicht das mindeste erreicht.
Die Trunkenheitsdelikte nehmen, wie zumal die gefährlichen
Körperverletzungen zeigen, immer mehr zu, und besonders
stark ist diese Zunahme bei den Rückfällen, die sich seit 1382
beinahe vervierfacht haben. Läßt sich denn auch irgend je-
mand, der wegen eines Rauschdelikts bestraft worden ist, durch
die Strafe von weiterem Trinken abhalten? Zum Abstinenten
macht die Strafe sicher niemanden, und doch müßte dies die
Folge sein, wenn die Strafe ihren Zweck erfüllen soll, denn
wer erst einmal wieder anfängt zu trinken, ist nie davor sicher,
abermals in einen Rausch zu geraten und im Rausche wieder
eine Straftat zu begehen. Will die Gesellschaft also eine Ab-
wehrmaßregel gegen die Ausschreitungen der Trunkenen haben,
so ist die einzig wirksame die, daß sie Jeden, der im Rausch
eine Straftat verübt hat, zur Enthaltsamkeit bringt resp. er-
zieht. Auch unter den augenblicklichen Verhältnissen, wo ge-
wöhnlich ohne Rücksicht auf den Geisteszustand des Berauschten
die Bestrafung erfolgt, läßt sich ohne Änderung der Gesetz-
gebung in dieser Beziehung viel erreichen, wenn nur die
Richter und die Strafvollstreckungsbeamten von der Notwendig-
keit der Abstinenz für alle, die im Rausche sich vergangen
haben, durchdrungen sind, wozu allerdings ein genügendes
Verständnis der Alkoholfrage bei diesen Instanzen die Voraus-
setzung ist.
Vor allen Dingen verspricht das Prinzip der bedingten
Verurteilung gerade bei Rauschdelikten, wo es, soweit mir
bekannt, noch garnicht Anwendung gefunden hat, einen großen
Erfolg (natürlich vorzugsweise bei erstmalig Angeklagten
und bei Gelegenheitstrinkern), wenn die Vollziehung der Strafe
mit der Maßgabe ausgesetzt wird, daß der Verurteilte von nun
an alle alkoholischen Getränke zu meiden, also enthaltsam zu
leben, unter Umständen auch einer Enthaltsamsvereinigung
(Guttempler, Blaues Kreuz etc.) sich anzuschließen habe*),
2 Ein entsprechender eindringlieher Rat und eine Verwarnung wird in
jedem Falle zweckmäßig sein.
ed, EB, u
daß aber, sobald ein Rückfall in die Trinksitten gerichtskundig
werde, speziell bei Begehung eines weiteren Rauschdelikts, die
Vollziehung der Strafe erfolgen werde. Wenn dazu die ernsten
Vorhaltungen des Richters und eine eindringliche kurze Auf-
klärung über den verbrechenzeugenden Einfluß des Alkohols
kommen, so wird eine solche Maßregel ihre Wirkung sicher
nicht verfehlen, zumal wenn es sich, wie bei so vielen Fällen,
um ganz anständige und achtbare, durchaus nicht kriminell
veranlagte Personen handelt, die nur durch einen gelegent-
lichen Rausch zu einer Straftat geführt worden sind, deren
sie im nüchternen Zustande nie fähig gewesen wären. Hier
wird ohne Frage die drohende Strafe, das dauernd über
ihnen hängende Damoklesschwert, den gewünschten Erfolg
haben*,. Dazu würde noch die indirekte günstige Wirkung
kommen, die ein solches Verfahren auf die Anschauungen des
Volkes über das Trinken und die Trinksitten haben müßte
*) Die bedingte Verurteilung wird, wie ich sehe, auch von Heinze
(S. 139) empfohlen, aber nur bei dem Delikt der Trunkenheit selbst, die
Heinze bestraft wissen will (ich komme darauf noch zurück), und „be-
sonders dann, wenn der Schuldige sich im allgemeinen gut führt und nur in
einem Augenblick der Versuchung unterlegen ist und, wenn man hoffen
kann, daß die ihm drohende Strafe für die Zukunft eine genügende Warnung
sein wird. Diese Wirkung kann noch durch geeignete Ermahnung des
Richters verstärkt werden“. Von der Notwendigkeit der Abstinenz spricht
aber Heinze nicht, was seinen einfachen Grund darin hat, daß man da-
mals (1890) die Abstinenz in Deutschland noch nicht kannte. — Bereits
Friedrich der Große hat in einem speziellen Falle in einer Kabinettsorder
an den Etatsminister v. Dankelmann (Arch. Borussiae Bd. 8) ähnliche An-
schauungen geäußert: „Da ich aus Eurem Berichte vom 24. dieses mit
mehreren erfahren habe, wie ein jetziger Rektor zu Schniegel in Polen,
namens Kutzner, vor einigen Jahren in der Trunkenheit sich vergangen,
daß derselbe sich verschiedene unbesonnene Expressionen über mein Sujet
entfahren lassen, und was für eine Bestrafung ihm durch den Kriminalsenat
in Berlin erkannt werden soll, so ist Euch darauf zur Resolution, daß, weil
dieser Mensch durch die Trunkenheit in die elenden Umstände gesetzt
worden, daß er seine Vernunft gar nicht mächtig gewesen und deshalb aller-
hand unbesonnenes Zeug ausgestossen hat, so mehr zu verachten, als zu
bestrafen ist, Ich demselben die ihm diktierte Strafe gänzlich erlassen will,
dergestalt, daß er des Falles nicht einmal eine Geldbuße erlegen, sondern
zum höchsten mit einem Verweis und Verwarnung sich hinfüro vor dem
Trunk zu hüten, abgefertigt werden soll (zit. nach Juliusburger im Alkohol-
gegner, Sept. 1906).
und geeignet wäre, den Alkoholmißbrauch und damit die
Rauschdelikte einzudämmen.
Wenn aber von der Möglichkeit der bedingten Verur-
teilung kein Gebrauch gemacht wird, und die Vollziehung der
Strafe erfolgt, so muß wenigstens während des Strafvollzugs
alles geschehen, um die Häftlinge zur Abstinenz zu erziehen.
Eine solche Erziehung kann, wie jetzt allgemein anerkannt
ist, in zweckmäßiger Weise nur in einer abstinenten Umgebung
erfolgen, und daraus ergibt sich die Notwendigkeit, daß die
Strafanstalten alkoholfrei werden, oder daß wenigstens für die
kriminellen Trinker besondere Strafanstalten bestimmt werden,
in denen die Abstinenz durchzuführen ist. Diese muß sich
natürlich auch auf alle Beamten erstrecken. Aufgabe dieser
Beamten ist es dann, „mit der Überzeugung und Erfahrung,
welche die persönliche Enthaltsamkeit verleiht“ (Dalhoff),
die Gefangenen über Wesen und Wirkungen der alkoholischen
Getränke aufzuklären und auf sie dahin einzuwirken, daß sie
den festen Entschluß fassen, abstinent zu leben. Die Ein-
wirkung hat auch dahin zu gehen, daß die Sträflinge nach
ihrer Entlassung einer Enthaltsamkeitsvereinigung beitreten,
der sie bei der Entlassung überwiesen leben, um hier den
nötigen Anschluß und Halt zu finden; unter Umständen auch,
daß sie sich, besonders, wenn es sich um Gewohnheitstrinker
handelt und die Haftzeit eine zu kurze ist, um eine genügende
erziehliche Behandlung möglich zu machen, nach der Ent-
lassung noch auf einige Zeit freiwillig in eine Trinkerheil-
anstalt begeben.
Alle diese Maßnahmen sind schon bei den heutigen Ver-
hältnissen und bei der heutigen Gesetzgebung möglich. Die
Einführung der Abstinenz in die Strafanstalten dürfte aller-
dings vorläufig noch einigen Schwierigkeiten und von manchen
Seiten auch einem gewissen Widerstande begegnen.
Es fragt sich nun, wie die Strafgesetzgebung in Bezug
auf die Rauschdelikte zweckmäßig dem heutigen Stande der
Wissenschaft gemäß abzuändern ist. Die Bestrafung der
Trunkenheitsdelikte ist ja im allgemeinen widersinnig, da, wie
wir gesehen haben, der Rausch ein krankhafter Geisteszustand
ist, der die Zurechnungsfähigkeit aufhebt oder mehr oder
za BI a
weniger erheblich beschränkt. Daher ist nicht Bestrafung,
sondern Behandlung am Platze. Die spezielle Erwähnung der
Trunkenheit als eines Strafausschließungsgrundes oder straf-
mildernden Umstandes, wie dies im italienischen Strafgesetz-
buch geschehen ist, halte ich nicht für notwendig. Der $ 51
des deutschen R. Str. G. B. genügt vollständig, da die Trunken-
heit eben zu den in diesem Paragraphen gekennzeichneten Zu-
ständen der Bewußtlosigkeit bezw. der krankhaften Störung
der Geistestätigkeit gehört.
De lege ferenda könnte, wie schon erwähnt, vom wissenschaft-
lichen Standpunkte aus die Erwähnung des Zustandes der Be-
wußtlosigkeit fortbleiben, da die Bewußtlosigkeit im Sinne des
851 auch eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit ist. Will
man aber vom praktischen Standpunkte aus vorläufig noch die
Erwähnung der „Bewußtlosigkeit“ beibehalten, so wird man, um
Mißverständnisse zu verhüten, dafür besser „Bewußtseins-
störung“ oder „Bewußtseinstrübung“ setzen. Vom praktischen
Standpunkte aus wird es vielleicht auch geraten sein, um
einen Zweifel über die Absichten des Gesetzgebers nicht auf-
kommen zu lassen, in einem Zusatzparagraphen zu bemerken:
„Strafbare Handlungen, die im Rausch begangen sind, sind
nach Maßgabe des $ 51 zu beurteilen, vorausgesetzt, daß der
Täter sich den Rausch nicht in der Absicht, die Handlung zu
begehen, angetrunken hat.“
Nun bestehen aber zwischen völligem Ausschluß und un-
gestörten Vorhandensein der freien Willensbestimmung, zwischen
Zurechnungsfähigkeit und Uuzurechnungsfähigkeit zahlreiche
Zwischenstufen und Übergänge, deren Nichtbeachtung in dem
heutigen Gesetz eine offenbare Lücke und eine Ungerechtig-
keit bedeutet. Deshalb geht schon seit längerer Zeit das Be-
streben der Strafrechtsreformer dahin, diese Zwischenstufen
im Gesetz als Fälle „geminderter Zurechnungsfähigkeit“ zu
berücksichtigen und für diese Fälle eine mildere bezw. zweck-
mäßigere Strafe von mehr erziehlicher Natur zu setzen. Wenn,
wie zu hoffen ist, diese Bestrebungen bei der Reform des
deutschen Strafgesetzbuches ihre Verwirklichung finden werden,
wird es auch möglich sein, was unbedingt nötig erscheint, bei
leichteren Graden des Rausches, in denen die Zurechnungs-
ae D s
fähigkeit nicht völlig ausgeschlossen, sondern nur mehr oder
weniger beeinträchtigt erscheint, eine geminderte Zurechnungs-
fähigkeit zu statuieren und eine mildere Behandlung eintreten
zu lassen. |
Da die nachweisbaren Wirkungen der Alkoholvergiftung
auf unser Seelenleben und unser Handeln schon nach sehr ge-
ringen Mengen beginnen, die bisher für harmlos galten, so ist
klar, daß Niemand, der unter Alkoholwirkung steht, ganz un-
beeinflußt handelt, und daß die Beeinträchtigung der freien
Willensbestimmung schon nach verhältnismäßig kleinen Mengen
anfängt, um bei Steigerung der Menge in allmählicher Minde-
rung der Zurechnungsfähigkeit ziemlich schnell zum völligen
Ausschluß zu führen. Gerade der Rausch in seinen verschie-
denen Abstufungen zeigt außerordentlich klar die Notwendig-
keit, den Begriff der geminderten Zurechnungsfähigkeit ins
Strafgesetzbuch einzuführen. In praxi wird es in allen Fällen
von Rauschdelikten, resp. Delikten, die unter Alkoholwirkung
verübt sind — mag es sich nun um bloße Minderung oder um
völligen Ausschluß der freien Willensbestimmung handeln —
notwendig sein, zu erwägen, ob die Tat als eine Folge der
Alkoholwirkung zu betrachten ist oder nicht, ob sie also ohne
den Alkohol auch begangen wäre oder nicht, dabei ist aller-
dings zuzugeben, daß die Entscheidung in vielen Fällen recht
schwer sein kann. Wenn aber den Umständen nach anzu-
nehmen ist, daß derjenige, der eine Straftat unter Alkohol-
wirkung verübt hat, diese im nüchternen Zustande nicht be-
gangen hätte, daß also der Alkohol bestimmend auf das
Handeln des Täters eingewirkt hat, so wird a) bei einem
leichten Rausch, bei dem nur eine Minderung der Zurech-
nungsfähigkeit angenommen werden kann, die im Gesetz für
Zustände geminderter Zurechnungsfähigkeit vorgesehene mildere
Strafe, b) bei einem erheblicheren Rauschzustande, wo völliger
Ausschluß der freien Willensbestimmung anzunehmen ist, Frei-
sprechung erfolgen müssen. In beiden Fällen wird aber außer-
dem, wenn anders die Eindämmung der Trunkenheitsdelikte als
eine Aufgabe der Strafgesetzgebung erscheint, darauf hinzu-
wirken sein, daß der Täter zur Enhaltsamkeit gebracht wird.
In den Fällen, wo wegen geminderter Zurechnungsfähigkeit
— 59 —
Verurteilung erfolgt, wird dies entweder ganz so, wie es oben
de lege lata als zweckdienlich bezeichnet wurde, durch Aus-
setzung des Strafvollzugs (bedingte Verurteilung) unter
der Bedingung der nunmehrigen Enthaltsamkeit von alkoholi-
schen Getränken zu erreichen sein, und zwar besonders bei
Gelegenheitstrinkern und bei bisher unbestraften Personen;
oder aber, wenn es sich um haltlose, vorbestrafte, speziell
wegen Rauschdelikte vorbestrafte Personen oder um gewohn-
heitsmäßige Trinker handelt, bei denen man sich von der Wir-
kung der bedingten Verurteilung keinen besonderen Erfolg
versprechen kann, durch eine bisher fehlende Bestimmung,
die es dem Richter ermöglicht, den Übeltäter im Anschluß an
die Haft*) oder an ihrer Stelle in eine Trinkerheilanstalt
bringen zu lassen, wo er zur Abstinenz zu erziehen und so-
lange zu behandeln ist, bis dieser Zweck erreicht erscheint,
(wozu nach allgemeiner Erfahrung 1—2 Jahre nötig sind).
Sollte es sich herausstellen, daß das betreffende Individuum
unheilbar ist, oder sollte sich dies gleich bei der Gerichtsver-
handlung als das Resultat des sachverständigen Gutachtens.
ergeben, so muß der Richter befugt sein, die Unterbringung in
einer Trinkerbewahranstalt unter Umständen auf Lebens-
zeit**), auszusprechen. Die gleiche Bestimmung wird natürlich
erst recht Anwendung finden auf Personen, die bei einem
Trunkenheitsdelikt wegen Ausschluß der freien Willensbestim-
mung zur Zeit der Tat freigesprochen sind. Hier wird es
sich aber empfehlen, noch eine Bestimmung anzubringen, die
eine bedingte Einweisung in die Trinkerheilanstalt, entsprechend
der bedingten Verurteilung, ermöglicht für solche Personen,
die Gewähr bieten, daß sie das feierlich an Gerichtsstelle ab-
gegebene Versprechen, von nun an abstinent zu leben und
einer Enthaltsamkeitsvereinigung beizutreten, auch halten.
*) In welcher Weise die Strafanstalten behufs zweckmäßiger Behand-
lung solcher Individuen zu organisieren sind, ist bereits oben auseinander-
gesetzt worden.
*) Natürlich muß hierbei eine nachträgliche Korrektur durch
richterlichen Beschluß und eine event. Entlassung nach jahrelangen Auf-
enthalt in der Trinkerbewahranstalt möglich sein, falls sich wider Erwarten.
doch noch eine Heilung herausstellt.
— 60 —
werden. Ein solches Versprechen wird gewiß in einer Anzahl
von Fällen genügen, das gewünschte Verhalten zu erzielen,
zumal da, wenn das Versprechen gebrochen wird, die Einwei-
sung in die Trinkerheilanstalt droht. Die Strafgesetzbestim-
mung, die in solcher Weise eine zweckmäßige Behandlung der
wegen Trunkenheitsdelikte Angeklagten ermöglichen würde,
könnte etwa folgenden Wortlaut haben:
$ 5lb. „Wer im Rausch eine Straftat begangen hat
und wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit zu einer
milderen Strafe verurteilt ist, wird, falls die Verurteilung
nicht bedingt erfolgt, im Anschluß an die Strafe
(oder an Stelle derselben) in eine Trinkerhetlanstalt auf
die Dauer von längstens 2 Jahren oder, wenn es sich
um einen unheilbaren Trinker handelt, in eine Trinker-
bewahranstalt auf Lebenszeit (resp. für so lange Zeit,
als es von dem Leiter der Anstalt erforderlich er-
achtet wird) eingewiesen. Das gleiche gilt für Per-
sonen, die im Rausch ein Vergehen oder Verbrechen
begangen haben und wegen Ausschluß der freien Willens-
bestimmung zur Zeit der Tat freigesprochen worden sind.
Doch kann nach richterlichem Ermessen die Einweisung
in die Trinkerheilanstalt ausgesetzt werden, wenn der
Täter das feste Versprechen gibt, von nun an abstinent
zu leben und einer Enthaltsamkeitsvereinigung beizutreten.“
Eine Ausnahme von diesen Bestimmungen bilden natürlich die
bisher noch nicht eingehender besprochenen Trunkenheitsdelikte
besonderer Art, wo der Täter die Straftat im nüchternen Zu-
stande geplant und sich absichtlich in den Zustand der Trunken-
heit versetzt hat, um die Bedenken (Hemmungen) hinwegzu-
räumen und den nötigen Mut zur Ausführung zu haben, oder
sich mildernde Umstände zu sichern. Gegenüber der Unzahl
von Trunkenheitsdelikten, die auf gewöhnlichem Wege zu stande
kommen, spielt diese Kategorie von Delikten eine verhältnis-
mäßig geringe Rolle, jedenfalls eine viel geringere, als zahl-
reiche Richter und das Publikum überhaupt annehmen. Es
kann keine Frage sein, daß diese Art von Delikten, die zu
den „actiones liberae in causa* gerechnet werden, keine eigent-
lichen Rauschdelikte, sondern Delikte gewöhnlicher Art sind,
— 61 —
bei denen der Rausch nur als ein Mittel verwendet wird, die
Tat zu stande zu bringen. Mit dem Sichbetrinken, sich in den
Zustand der Trunkenheit versetzen, beginnt die strafbare
Handlung, und es ist gleichgiltig, ob dieses Mittel auch als
ein unter allen Umständen taugliches erscheint und ob der
Täter im weiteren Verlaufe im Besitz seiner freien Willens-
bestimmung blieb oder nicht*). Der Kausalnexus zwischen
Absicht und Erfolg ist gewahrt und daher ist der $ 51 hier
unanwendbar und die Tat als solche zu bestrafen **).
Es bleibt, was die strafrechtliche Bedeutung der akuten
Alkoholvergiftung betrifft, noch übrig, den Rausch an und für
sich, ohne daß er zu einer Straftat führt, als Vergehen ins
Auge zu fassen, als welches er auch in vielen Strafgesetz-
gebungen behandelt wird. Allerdings sind die Gesetze, die
den Rausch als eine gemeinfährliche und unsittliche Handlung
mit Strafe bedrohen, vorzugsweise in der Absicht erlassen
worden, die Trunksucht zu treffen und zu bekämpfen.
Gegen die Trunkenheit, bezw. Trunksucht an sich, richteten
sich von jeher mehr oder weniger strenge Strafbestimmungen.
Die meisten modernen. Strafgesetzbücher haben solche Be-
*) Sehr treffend bemerkt Höpker (S.32): „Das Tun des Verbrechers
in der vollen Trunkenheit ist kein Handeln. Dazu gehört Überlegung, und
diese besitzt der Verbrecher in solchen Momenten nicht mehr, sondern es
ist ein einfacher äußerer Umstand, auf dessen Eintritt der Verbrecher ge-
rechnet hat, dessen Tätigkeit als handelnder Mensch mit Eintritt der vollen
Trunkenheit völlig abgeschlossen ist. Warum man meint, man könne sein
Verhalten im bewußtlosen Zustande nicht ebenso gut in seine Berechnung
aufnehmen, wie ein anderes Ereignis aus der Außenwelt, ist mir unerfind-
lich. Es sind, sobald Bewußtlosigkeit eingetreten, das Benehmen und Ver-
halten des Täters ebenso unabhängig von ihm als bewußten Verbrecher,
wie jeder andere Zufall, auf den er in seiner Berechnung baut.“
**) Einzelne Strafgesetzgebungen, wie die russische, sehen die absicht-
liche Trunkenheit sogar als erschwerendes Moment an. Als solches wird
sie auch in Frankreich behandelt, denn sie zeigt, wie Fochier sagt, „eine
besonders raffinierte Überlegung des Verbrechens, sie offenbart den Willen
des Verbrechers, sich jedes Schwanken im Augenblicke des Handelns zu
unterbinden, die Schiffe hinter sich zu verbrennen, um sich in die Unmög-
lichkeit zu versetzen, durch Gewissensbisse oder Schwäche von der Absicht
abzustehen*.
— 62
stimmungen*), welche die Trunkenheit mit Strafe belegen,
*) Das englische Gesetz lautet: Wer auf einer Straße oder an
einem anderen Öffentlichen Ort oder in einem konzessionierten Schankraume
trunken betroffen wird, wird mit Geldstrafen bis zu 10 sh., im Wiederholungsfalle
innerhalb Jahresfrist bis zu 20 sh., im neuerlichen Wiederholungsfalle inner-
halb Jahresfrist bis zu 40 sh. bestraft. Wer sich im betrunkenen Zustande
auf einer Straße oder einem andern öffentlichen Ort entweder eines ruhe-
störenden oder ungebührlichen Benehmens schuldig macht oder bei der Be-
aufsichtigung eines Fuhrwerks, eines Pferdes oder von Vieh oder einer
Dampfmaschine oder im Besitz einer geladenen Feuerwaffe betrunken ist,
wird bis zu 40 sh. oder mit Gefängnis bis zu einem Monat mit oder ohne
harte Arbeit verurteilt. Im Nichtvermögensfalle kann auf Gefängnis mit
harter Arbeit erkannt werden. £
Ähnlich bestimmt das französische Gesetz: Wer im Zustande
offenbarer Trunkenheit auf Straßen, Wegen, Plätzen, in Kaffeehäusern oder
Schenken angetroffen wird, ist mit Geldstrafe von 1—5 Fr. zu bestrafen.
Bei Rückfall innerhalb weniger als Jahresfrist nach der zweiten Verur-
teilung (im gleichen Bezirk) wird das Vergehen mit sechs Tagen bis zu
einem Monat Gefängnis und Geldstrafe von 16—200 Fr. bestraft, im neuer-
ichen Rückfalle innerhalb Jahresfrist bis zum Doppelten des höchsten
Maßes, sowie mit Verlust bestimmter bürgerlicher Rechte.
Das norwegische Gesetz vom Jahre 1900 bestimmt: Wer sich
vorsätzlich oder fahrlässig in einen Zustand offenbarer Trunkenheit versetzt,
in dem er an einem öffentlichen oder für den allgemeinen Verkehr bestimmten
Orte betroffen wird, wird mit Geldstrafe von 2—800 Kr. bestraft; hat er
dreimal innerhalb eines Jahres eine solche Strafe verbüßt, so kann auf Ge-
fängnis erkannt werden. Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig in einen Zu-
stand von Trunkenheit versetzt, in dem er den allgemeinen Frieden und die
Ordnung oder den gesetzlichen Verkehr stört, die Umstehenden belästigt
oder Hausgenossen oder Andere gefährdet, wird mit Geldstrafe oder Ge-
fängnis bestraft. — Jeder, der infolge von Trunkenheit den allgemeinen
Frieden und die Ordnung oder den gesetzlichen Verkehr stört, die Um-
stehenden belästigt oder sich selbst, Hausgenossen oder andere gefährdet,
kann so lange, bis er nüchtern ist, in Haft gesetzt werden, falls dies zur
Abwehr notwendig erscheint.
Das niederländische Gesetz zur Unterdrückung des Mißbrauchs
geistiger Getränke bestimmt: Mit Gefängnis von 1—6 Tagen oder Geld-
buße mit 1—25 Gulden wird bestraft, wer Handlungen, bei denen zur Ver-
hütung von Gefahr für Leben oder Gesundheit dritter Personen besondere
Vorkehrungen der Umsicht nötig werden, im Zustande der Trunkenbeit
begeht ; unbeschadet schwererer Strafen, falls dabei eine andere strafbare
Handlung begangen ist. Mit Geldstrafe von 1—10 Gulden wird bestraft
wer sich in offenbarem Zustande der Trunkenheit auf öffentlichem Wege
oder auf einem dem Publikum zugänglichen Platze befindet. Im Wieder-
= De de
wenn sie sich öffentlich, d. h. an öffentlichen Orten, zeigt
(einige verstehen unter öffentlichen Orten auch die Schenken),
holungsfalle innerhalb eines Jahres wird Geldstrafe resp. Gefängnis von
1-3 Tagen, bei der zweiten Wiederholung aber von 1 bis zu 14 Tagen
angedroht.
Das schwedische Strafgesetzbuch vom 1. Febr. 1864 enthält fol-
gende Bestimmung: Wer sich an geistigen Getränken derart berauscht hat,
daß dieser Zustand durch sein Verhalten oder seine geistige Störung merk-
wr wird, ist mit Geldstrafe bis zu 20 Reichskronen zu bestrafen, falls er
'in dem Zustande auf einer Straße, einem Wege oder einem andern öffent-
lichen Orte betroffen wird.
In Österreich besteht ein Spezialgesetz für die Landesteile Galizien
und Bukowina vom Jahre 1877, das folgendermaßen lautet: „Wer sich in
Gast- oder Schankräumlichkeiten, auf der Straße oder an sonstigen Öffentlichen
Orten im Zustande offenbarer ärgerniserregender Trunkenheit befindet, oder
wer an solchen einen andern absichtlich in den Zustand der Trunkenbeit
versetzt, wird mit Arrest bis zu einem Monat oder mit Geldstrafe bis zu
50 Fl. bestraft.“ „Wer während eines Jahres dreimal wegen Trunkenheit
bestraft wird, dem kann von der politischen Bezirksbehörde bis zur Dauer
` eines Jahres der Besuch der Gast- und Schankräumlichkeiten seines Wohn-
sitzes und der nächsten Umgebung untersagt werden. Die Übertretung
dieses Verbots wird mit Arrest bis zu einen Monat oder mit Geldstrafe
bis zu 50 Gulden bestraft.“
Das ungarische Strafgesetzbuch vom Jahr 1879 bestimmt ganz
kurz: Wer an einem öffentlichen Orte in ärgerniserregender Weise be-
trunken erscheint, ist mit Geld bis zu 25 Gulden zu bestrafen.
Das deutsche Strafgesetzbuch enthält nur eine kurze Bestimmung,
die sich allein gegen die Trunksucht richtet, im § 361: „Mit Haft wird be-
straft, wer sich dem Spiel, Trunk oder Müßiggang dergestalt hingibt, daß
er in einen Zustand gerät, in welchem zu seinem Unterhalte oder zum
Unterhalt derjenigen , zu deren Ernährung er verpflichtet ist, durch Ver-
mittelung fremder Behörden Hilfe in Anspruch genommen werden muß.“
Der § 362 bestimmt dann, daß solche Verurteilte zur Arbeit, welche ihren
Fähigkeiten und Verhältnissen angemessen sind, angehalten und neben der
Verurteilung zur Haft, auch auf Verweisung an die Landespolizeibehörden
und Unterbringung in einem Arbeitshause bis zu 2 Jahren erkannt werden
kann. Das deutsche Militärstrafgesetzbuch bestimmt: „Wer im Dienst
oder, nachdem er zum Dienst befehligt worden, sich durch Trunkenheit
zur Ausführung seiner Dienstverrichtung untauglich macht, wird mit mitt-
leren oder strengen Arrest oder mit Gefängnis oder Festungshaft bestraft.“
Zugleich kann auf Dienstentlassung erkannt werden.
Im Entwurfe eines Gesetzes zur Bestrafung der Trunkenheit vom
23. März 1881 waren noch weitergehende Bestimmungen vorgesehen, welchen
die Bestimmungen in den erstgenannten Ländern zum Vorbild gedient
== g =
so Galizien, Norwegen, England, Frankreich. In den meisten
Gesetzgebungen wird aber auch die öffentliche Trunkenheit
nur dann bestraft, wenn sie zur Verübung von Skandal führt,
so im deutschen Strafgesetzentwurf von 1881, in Galizien,
Ungarn, Rußland, Luzern. Das belgische Gesetz fügt als straf-
würdig noch hinzu ein Verhalten, das die betreffende Person
und andere in Gefahr bringt, während das norwegische Gesetz
nur von einem unpassenden Verhalten spricht. Das englische
Gesetz unterscheidet einfache Trunkenheit, die mit einer ge-
ringeren Strafe belegt wird, und Trunkenheit mit störendem
Verhalten, die schwerer bestraft wird.
In Schweden, Frankreich, Holland, Galizien ist nur die
einfache offensichtliche Trunkenheit berücksichtigt. Das italie-
nische Gesetz spricht von offensichtlicher vollständiger Trunken-
heit. Rußland setzt sinnlose Trunkenheit auf gleiche Stufe
mit Trunkenheit, die öffentliches Ärgernis erregt. Das hollän-
hatten. Mit Geldstrafen bis zu 100 M. (in der Fassung der Kommission
60 M.) oder mit Haft bis zu 2 Wochen wird bestraft, wer in einem nicht
unverschuldeten Zustande ärgerniserregender Trunkenheit an öffentlichen
Orten betroffen wird. Ist der Angeschuldigte in den letzten 3 Jahren
wegen dieser Übertretung mehrmals rechtskräftig verurteilt worden, oder
ist derselbe dem Trunke gewohnheitsmäßig ergeben, so tritt Haft ein. (In
der Fassung der Kommission lautet der Nachsatz: ist auf Geldstrafe bis
zu 150 M. oder auf Haft zu erkennen.) Ist der Beschuldigte dem Trunke
gewohnheitsmäßig ergeben, so tritt Haft ein. (Die der Militärgerichtsbar-
keit unterworfenen Militärpersonen sind in diesen Fällen mit Arrest bis
zur gesetzlich zulässigen Dauer zu bestrafen.) In diesem Falle ist die Haft-
strafe durch Schmälerung der Kost zu schärfen, dabei kann, ebenso wie bei
Schärfung der Strafe in Fällen, wo in der Trunkenheit eine Straftat ver-
übt ist, der Verurteilte zu Arbeiten, welche seinen Fähigkeiten und Ver-
hältnissen angemessen sind, innerhalb und außerhalb der Anstalt angehalten
werden. Auch kann erkannt werden, daß die verurteilte Person nach ver-
büßter Strafe der Landespolizeibehörde zu überweisen sei. An Stelle der
Unterbringung in ein Arbeitshaus kann in diesen Fällen Unterbringung in
eine zur Heilung oder Verwahrung von Trunksüchtigen bestimmten Anstalt
eintreten (in der Fassung der Kommission 'nur bei gewohnheitsmäßigem
Trunk). Mit Geldstrafe bis zu 100 M. oder mit Haft bis zu 2 Wochen
wird bestraft, wer bei Verrichtungen, welche zur Verhütung von Gefahr,
für Leben oder Gesundheit Anderer oder von Feuersgefahr besondere Auf-
merksamkeit erfordern, sich betrinkt oder betrunken in andern als in Not-
fällen solche Verrichtungen vornimmt.
=. 65 s
dische Gesetz droht eine schwerere Strafe dem Trunkenen an,
der die Ordnung und den öffentlichen Verkehr stört oder die
Sicherheit eines anderen bedroht.
Einige deutsche Gesetzgebungen erlauben die Entfernung,
resp. die Arretierung, von Trunkenen, die sich störend erweisen,
bis zu 24 Stunden.
Die Strafe ist in vielen Fällen einfacher Trunkenheit meist
eme Geldstrafe, so in Frankreich (1 bis5 Fr.), in Belgien (1 bis
15 Fr.), in Holland (50 Kr. bis 15 Fl.), in Ungarn (bis 25 FI.),
in Galizien (bis 50 Fl), in Italien (bis 30 Lire), in England
(bis 10 sh.), in Schottland (bis 5 sh.), in Schweden (3 Reichs-
kronen 16 sh.), in Rußland (25 Rubel); oder an ihrer Stelle
eine Haftstrafe, so in England (bis zu 1 Monat), in
Schottland (wenn die Geldstrafe nicht sofort gezahlt werden
kann, bis 24 Stunden), in Schweden (Gefängnis bei Wasser und
Brot), in Galizien (bis 2 Monate), in Rußland (bis 7 Tage), in
Luzern (bis 3 Tage), im deutschen Strafgesetzentwurf (bis 14
Tage).
In den meisten Ländern wird die Strafe bei Rückfall ver-
schärft. Gewöhnlich ist ein bestimmter Zeitraum festgesetzt,
innerhalb welcher ein Rückfall eine Verschärfung der Strafe
ermöglicht, so in England 1 Jahr (beim ersten Rückfall Strafe
bis 20 sh, beim zweiten und folgenden Rückfall bis 40 sh.), in
Holland in den einfachen Fällen beim ersten Rückfall 6 Monate
(ev. 1—3 Tage Haft), beim zweitem Rückfall i. Jahr (1—14 Tage
Haft), bei jedem’ folgenden Rückfall 6 Monate (1—21 Tage Haft),
in den schwereren Fällen 1 Jahr (1—14 Tage Gefängnis, resp.
50 Kr. bis 21 Fl.), in Belgien 6 Monate (beim ersten Rückfall
5—25 Fr. Geldstrafe, beim zweiten Gefängnis von 8 Tagen
bis 3 Wochen) und eine Geldstrafe von 26—78 Fr., entweder
zusammen oder als Ersatz, in Frankreich 1 Jahr innerhalb des-
selben Gerichtsbezirks (bis 3 Tage beim ersten Rückfall, 6 Tage
bis 1 Monat und Geldstrafe von 16—100 Fr. bei wiederholten
Rückfällen), nach dem deutschen Entwurf 3 Jahre (bis 6 Wochen
Gef. mit Verschärfung durch Essensbeschränkungen). In Frank-
reich kann der Rückfällige auch der Ausübung gewisser öffent-
licher Ehrenrechte auf die Dauer von 2 Jahren verlustig gehen,
| 5
me. ee
in Belgien in bestimmten Fällen für 2—5 Jahre, in Schweden
beim dritten Rückfalle des aktiven und passiven Wahlrechts.
Die Strafen für den Rückfall wollen vor allem die Trunk-
sucht treffen. In einzelnen Ländern ist diese direkt mit Strafe
bedroht. Italien bestraft den Gewohnheitstrinker, der an einem
öffentlichen Ort im Zustande öffentlicher vollständiger Trunken-
heit betroffen wird, mit Arbeitshaus oder Strafarbeit von 6
bis 24 Stunden. In Appenzell werden die Gewohnheitstrinker
mit Geldstrafe von 5--10 Fr. und im Rückfall bis 50 Fr. oder
Haft bis 8 Tagen bestraft.
In mehreren Ländern ist im Rückfalle die Unterbringung
des Trinkers in einem Arbeitshaus oder einer Trinkerheil- oder
-bewahranstalt möglich, so in Holland beim dritten Rückfall
(Arbeitshaus 3 Mon. bis 1 Jahr), nach dem deutschen Straf-
gesetzbuch (Arbeitshaus) und nach dem Entwurf eines Trunk-
suchtsgesetzes von 1881 (Arbeitshaus oder Trinkerheil- oder
-bewahranstalt).. Eine besondere Maßregel ist das Verbot des
Besuches von Schenken, wie es in Galizien (beim dritten Rück-
fall innerhalb eines Jahres bis zur Dauer von 1 Jahre) und
in zahlreichen Schweizer Kantonen besteht.
Einzelne Gesetzgebungen bedrohen schwerer die Trunken-
heit, die sich bei Ausübung einer besonders gefährlichen Be-
schäftigung, bei amtlichen Verrichtungen oder bei gewissen
Ansammlungen zeigt, so Holland, Belgien, Stadt Basel und
der deutsche Gesetzentwurf von 1881. ‘In Belgien kann das
Waffentragen bis zu einem Jahre verboten werden.
Mit allen diesen Bestimmungen aber, die sich naturgemäß
nur gegen die Öffentliche Trunkenheit richten, resp. gegen
die Trunkenheit auf verantwortlichen und gefährlichen
Posten, wird sehr wenig erreicht, wie die Erfahrungen in allen
den Ländern zeigen, wo solche Gesetze in Geltung sind. Die
Zahl der wegen Trunkenheit Verhafteten und Angeklagten ın
Großbritannien z. B. nimmt ständig zu. Im Jahre 1860 betrug
diese Zahl 88000, 1899 aber 214000. Und wo eine solche
Zunahme nicht konstatiert wird, wie in Frankreich (hier ist
sogar ein kleiner Rückgang eingetreten), betont der offizielle
Bericht der Justizverwaltung (1901), man müsse fürchten,
daß diese Abnahme nur eine scheinbare sei. und nur einem
ee OT A
Nachlaß in der Wachsamkeit oder in der Strenge der mit der
Ausführung der Gesetze betrauten Organe zuzuschreiben sei.
Eine erziehliche Wirkung, die man von der Bestrafung hofft,
kann dieser sicher nicht beigemessen werden. „Wer überhaupt
oder im einzelnen Falle Lust hat, sich zu betrinken, wird sich
durch eine solche Bestrafung nicht abhalten lassen“, sagt
Klöckner (S. 785) sehr richtig. „Höchstens dürfte sie ge-
eignet sein, das heimliche Trinken des Trinkers in der Häus-
lichkeit zu vermehren.“
Ganz abgesehen davon, ist es, wie aus den bisherigen Er-
örterungen zur Genüge erhellen dürfte, überhaupt ein Unding,
den natürlichen Folgezustand einer Handlung, nämlich des
Trinkens alkoholischer Getränke, zu bestrafen, die an und für
sich nicht nur nicht strafbar ist, sondern auch allgemein ge-
billigt und verherrlicht wird. Der Rausch schließt eben unter
den heutigen Verhältnissen keine Selbstverschuldung in sich,
wie die Strafbestimmungen voraussetzen.
Dazu kommt noch das soziale Moment, daß von einer Be-
strafung der Trunkenheit vorzugsweise oder fast ausschließlich
die Angehörigen der ärmeren Volkskreise betroffen werden
würden, die nicht, wie die Angehörigen der wohlhabenden
Kreise, in der Lage sind, sich im trunkenen Zustande dem An-
blick der Öffentlichkeit durch Benutzung einer Droschke zu
entziehen, sondern zu Fuß nach Hause gehen müssen. Es
würde daher, wie Klöckner mit Recht betont, eine Bestrafung
der Trunkenheit dem Bewußtsein der unbemittelten Kreise
als Klassenjustiz erscheinen. Es gilt hier dasselbe, was
Klöckner gegen die Bestrafung der Trunkenheit als Fahr-
lässigkeit sagt (s. oben S. 27).
Eher zu rechtfertigen sind strafgesetzliche Bestimmungen,
die sich gegen die Beförderung der Völlerei durch die
Gastwirte richten (Galizien, Italien, Norwegen, deutscher Gesetz-
entwurf von 1881). Aber ganz abgesehen davon, daß es schwer
zu bestimmen ist, wo die Förderung der Völlerei anfängt, sind
auch von solchen Gesetzen, denen sich der Einzelne ziemlich
leicht entziehen kann, besondere Erfolge bei der Bekämpfung
der Trunksucht, worauf ja alle diese Gesetze abzielen, nicht
zu erwarten.
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Ar
ze 08. a
Eine wirksame Bekämpfung der Trunksucht oder des
chronischen Alkoholismus durch das Strafgesetz, sowie
seine strafrechtliche Würdigung hat wieder ein genaues wissen-
schaftliches Verständnis dieser Erscheinung zur Voraussetzung.
Die Untersuchungen Kraepelins und seiner Schüler
haben ergeben, daß die Wirkung einer größeren Alkoholgabe
(die etwa 11/2—?2 1 Bier entspricht) auf die psychische Funk-
tion nicht rasch verfliegt, sondern gewisse Nachwirkungen
hinterläßt, die nach 24 Stunden noch nicht ganz verschwunden
sind. Wird diese Gabe nach je 24 Stunden wiederholt, so
tritt allmählich eine Häufung der Wirkungen ein, die schon
nach 12tägiger Dauer der Alkoholverabreichung in der zu-
nehmenden Herabsetzung der psychischen Leistungen sehr
deutlich nachweisbar ist. Hiernach stellt Kraepelin eine
streng wissenschaftliche Definition des chronischen Alkoholis-
mus auf, die allerdings weit über diejenige des täglichen
Lebens hinausgeht: „Trinker ist jeder, bei dem eine Dauer-
wirkung des Alkohols nachzuweisen ist, bei dem also die
Nachwirkung einer Alkoholgabe noch nicht verschwunden ist,
wenn die nächste einsetzt.“ Der regelmäßige Genuß mittlerer
Alkoholmengen ist so, wie Kraepelin betont, nichts weniger
als eine für die geistige Gesundheit gleichgiltige Sache, son-
dern es beginnt überall da, wo eine neue Alkoholgabe einsetzt,
bevor die ziemlich lange dauernde Nachwirkung der früheren
geschwunden ist, mit überraschender Schnelligkeit die Ent-
wickelung aller derjenigen Störungen, die wir unter dem Namen
des chronischen Alkoholismus zusammenfassen.
Wenn ich von den begleitenden Organerkrankungen ab-
sehe, die sich bei den einzelnen Trinkern je nach ihrer Indi-
vidualität langsamer oder schneller, schwächer oder stärker
entwickeln, und wenn ich hier nur die ebenfalls mit größerer oder
geringerer Schnelligkeit und Intensität auftretenden geistigen
Veränderungen ins Auge fasse, als deren Grundiage sich bei
Sektionen mehr oder weniger deutliche pathologische Verände-
rungen im Gehirn, in seinen Häuten und Gefäßen finden, so
sind es drei Züge, die das Krankheitsbild des chronischen
Alkoholismus in mehr oder weniger ausgeprägter Weise be-
herrschen: 1. Abnahme der geistigen Leistungen, 2. Abstumpf-
=. 360%.
ung und Entartung der sittlichen Gefühle und 3. krankhafte
Reizbarkeit.
Wie oben erwähnt, läßt sich schon im Experiment bei
regelmäßigem Genuß mäßiger Alkoholmengen sehr bald eine
deutliche Herabsetzung der geistigen Leistungen feststellen.
Um wieviel stärker muß sich die Abnahme der geistigen Fähig-
keiten bei jahrelangem Alkoholmißbrauch geltend machen!
Sie zeigt sich in einer Abnahme der Auffassungskraft, der Ur-
teilsfählgkeit, der Kombinationsgabe und des Gedächtnisses,
sowie in einer wachsenden geistigen Schwerfälligkeit, Trägheit,
Interesselosigkeit und Einsichtslosigkeit, Erscheinungen, die
mit der Zeit bis zum deutlichen alkoholischen Schwachsinn
(alkoholischer Demenz) sich steigern und mit krankhaftem
Mißtrauen und mit Wahnideen verbinden können.
Hand in Hand mit den intellektuellen Schädigungen geht
eine Abschwächung des Willens, der sittlichen Gefühle, Vor-
stellungen und Grundsätze. Vor allem leidet die Energie, die
Fähigkeit, nach festen Grundsätzen zu handeln. Der Trinker
wird so immer mehr und mehr ein Spielball äußerer Verlock-
ungen, namentlich der immer unbezwingbarer werdenden Nei-
gung zum Alkohol. Die besten Vorsätze werden bei der
ersten Gelegenheit über den Haufen geworfen, die heiligsten
Versprechungen und Schwüre im nächsten Augenblick ge-
brochen. Das Pflicht-, Ehr- und Schamgefühl stumpft sich
immer mehr ab, die Wahrheitsliebe, die Ehrlichkeit schwindet,
an ihre Stelle tritt Heuchelei, Lug und Trug. Die altruistischen
Gefühle verlieren sich und machen einem krassen Egoismus
Platz. Der Trinker kennt bald weiter nichts als die Befrie-
digung seiner Launen, Neigungen und Lüste, denen er alles
opfert. Während er nach außen den liebenswürdigen Bieder-
mann spielt, tyrannisiert er seine Familie in ärgster Weise.
Und kommt es durch Verminderung seiner körperlichen und
geistigen Leistungsfähigkeit, durch Vernachlässigung seiner
Arbeit, seines Geschäftes oder seiner Amtspflichten zu dem
fast unvermeidlichen wirtschaftlichen Niedergang oder zum Zu-
sammenbruch, so scheut er; da die sittlichen Vorstellungen
ihre Macht über ihn verloren, häufig auch die einen sittlichen
Halt gewährenden Familienbande sich gelockert haben, schließ-
— 70 —
lich vor Verbrechen nicht zurück, um sich die Mittel zu seinem
Weiterleben zu beschaffen und seinen Lüsten zu fröhnen. So
resultieren Vermögens- und Sittlichkeitsdelikte aller Art.
Außerdem bildet noch die gesteigerte Reizbarkeit und Er-
regbarkeit, das dritte Hauptsymptom im Bilde des chronischen
Alkoholismus, das meist schon sehr früh auftritt, eine ergiebige
Quelle für Straftaten. Bekannt ist ja die Streitsucht, der Jäh-
zorn, die Zornesmütigkeit, die Rohheit des Trinkers, die ihn
so leicht in Konflikte bringt, bei geringen Anlässen zu Wutaus-
brüchen führt und sich in wüstem Skandalieren, in rohen Be-
schimpfungen und Bedrohungen, in zwecklosen Zerstörungen
in rücksichtslosen Mißhandlungen, besonders der Angehörigen
entladet, und häufig genug infolge des krankhaften Mißtrauens
oder von Sinnestäuschungen, von Wahnvorstellungen, besonders
von Eifersuchtswahn, zu den brutalsten Gewaltakten führt. Bei
genügend langer Dauer und Intensität des chronischen
Alkoholmißbrauchs nehmen die Erscheinungen an Schwere zu
bis zur völligen geistigen und körperlichen Zerrüttung und bis
zum höchsten Grade moralischer Verkommenheit, wie man sie
sonst kaum kennt.
So stellt sich der chronische Alkoholismus, ganz abgesehen
von den auf seinem Boden entspringenden akuten alkoholischen
Geistesstörungen, dar als ein typisches, wohlumschriebenes
Krankheitsbild, das im allgemeinen sich stets in der gleichen
Weise entwickelt, wenn auch diese Entwicklung bei den ver-
schiedenen Individuen je nach ihrer körperlichen und geistigen
Widerstandsfähigkeit langsamer oder schneller verläuft, und
die einzelnen Symptome mehr oder weniger schnell und mehr
oder weniger deutlich in die Erscheinung treten.
Es fragt sich nun, wie dieser „Habitualzustand des chroni-
schen Trinkers“, wie Heilbronner ihn nennt, forensisch zu
beurteilen und zu behandeln ist. Es kann nach der voran-
gegangenen Schilderung kein Zweifel sein, und es herrscht auch
darüber keine Meinungsverschiedenheit, daß dieser Habitual-
zustand des chronischen Trinkers eine krankhafte Störung der
Geistestätigkeit darstellt, der auch, wie schon erwähnt, meist
ganz deutliche und zum Teil auch charakteristische Hirnver-
änderungen zu grunde liegen. Auch eine Entscheidung des
=
Reichsgerichts besagt, „daß die einfache Degeneration des
Trinkers so weit gehen kann, daß sie die Anwendung des § 51
rechtfertigen würde.“ Wie Heilbronner betont, würde
der Arzt aus rein psychiatrischen Erwägungen sogar recht
häufig in die Lage kommen, seine Anwendung zu befür-
worten. „Mancher schwere chronische Trinker ohne psycho-
tische Symptome steht in ethischer und intellektueller Bezieh-
ung nicht höher als ein beginnender Paralytiker, dem der Schutz
des $51 eben wegen seiner Paralyse unbedenklich zuzubilligen
sein wird, sobald die Diagnose einwandfrei gestellt ist“ (S. 133).
Trotzdem zieht Heilbronner nicht die Schlußfolgerung , daß
der Alkoholiker in gleicher Weise zu beurteilen sei, sondern
er statuiert für diesen ebenso einen Ausnahmezustand, wie für
den Berauschten. „Wenn das gleiche“, sagt Heilbronner
a. a. O. „fast ausnahmslos nicht geschieht, so sind für diese
andere Auffassung zweifellos dieselben Erwägungen maßgebend,
welche die exzeptionelle Beurteilung der akuten Alkoholintoxi-
kation veranlassen. Die Verschiedenheit derärztlichen
“und der richterlichen Betrachtungsweise muß also
bezüglich der Beurteilung des einfachen Habitualzustandes des
Trinkers zu einer analogen Schlußfolgerung führen, wie sie
oben bezüglich der Beurteilung des einfachen Rausches gezogen
‚wurde, daß nämlich der Arzt sich des Gutachtens über
die forense Beurteilung des chronischen Alkoholis-
mus zu enthalten hat, wenn er nicht krankhafte Momente
im engern Sinne und über den allgemein bekannten Habitual-
zustand hinaus hat nachweisen können.“ Heilbronner will
es ausschließlich dem Richter überlassen wissen, „ob der die
für die Annahme der Schuld unentbehrliche Überzeugung, daß
eine forensisch zu berücksichtigende krankhafte Störung der Gei-
stestätigkeit nicht vorgelegen habe, gewinnen und den An-
geklagten verurteilen könne, oder ob er ihn, wenn auch nur
wegen fortbestehender Zweifel über Vorliegen oder Nichtvor-
liegen dieses Schuldausschließungspunktes freisprechen muß.“
Ich kann hier auch nur dasselbe sagen, wie oben bezüg-
lich der Rauschzustände, daß dieser Standpunkt, der wieder
nur der Massenhaftigkeit der Trinker und der Trinkerdelikte
und der daraus folgenden geringen Geneigtheit der Richter,
as > s
den Geisteszustand der Trinker zu berücksichtigen, seine Ent-
stehung verdankt, unhaltbar erscheint, aus ähnlichen Gründen,
wie ich sie oben auseinander gesetzt habe.
Wenn in der richterlichen und ärztlichen Beurteilung des
chronischen Alkoholismus eine Verschiedenheit besteht, so hat
eben, da es sich um die Feststellung eines Geisteszustandes,
also um einen in ärztliches Gebiet fallenden Gegenstand han-
delt, die richterliche Betrachtungsweise sich der ärztlichen an-
zupassen, und nicht umgekehrt die wissenschaftliche und daher
einzig sachgemäße Betrachtungsweise des Arztes vor der laien-
haften Betrachtungsweise des Richters die Segel zu streichen.
Wenn Heilbronner sagt, daß der Arzt bei Trinkern aus
rein psychiatrischen Erwägungen sogar recht häufig in ‘die
Lage kommen könnte, die Anwendung des $ 51 zu befür-
worten, so wüßte ich nicht, welche andere Erwägungen für
einen zur Beurteilung eines Geisteszustandes zugezogenen Arzt
maßgebend sein sollen, als rein psychiatrische. Er soll sagen,
was seine Wissenschaft darüber lehrt, und sich nicht nach
den Anschauungen der Juristen richten.
Nur dadurch, daß der Arzt öffentlich und auch vor Gericht
den wissenschaftlichen Standpunkt vertritt. wozu er, da er ja
sein Gutachten nach bestem „Wissen und Gewissen“ abzu-
geben hat, auch verpflichtet ist, kann allmählich eine den
wissenschaftlichen Tatsachen entsprechende Umänderung der
richterlichen Betrachtungsweise eintreten und dann auf grund
dieser sachgemäßen Betrachtungsweise auch eine sachge-
mäße und zweckentsprechende Behandlung der Trinker er-
folgen. Denn es wird niemand behaupten wollen, daß die
Einsperrung der kriminellen Trinker in eine Strafanstalt auf
kürzere oder längere Zeit, je nach der Schwere der Straftat,
die sie begangen haben, eine zweckmäßige Behandlung der
alkoholischen Degeneration, des „Habitualzustandes“ sei, aus
der ihr kriminelles Verhalten hervorgeht. Nach Verbüßung
ihrer Strafhaft werden die Trinker völlig ungebessert auf die
Menschheit wieder losgelassen.. Der erste Schritt aus der
Strafanstalt führt gewöhnlich in die Kneipe, wo die in der
Strafanstalt etwa gefaßten guten Vorsätze unter der narkoti-
echen Einwirkung des Giftes sofort vergessen sind, und das
a Foo a
Trinkerleben beginnt von neuem, und bringt sie schnell wieder zu
Straftaten. So kehren die Trinker von Zeit zu Zeit immer
wieder in die Strafanstalt zurück, oft 20- und 30mal, wenn
ihr Leben lange genug dauert.
Etwas unzweckmäßigeres und widersinnigeres, als diese
Bestrafung der kriminellen Trinker, kann man sich nicht denken.
Der Trinker ist ein Kranker und daher einer speziellen Be-
handlung, aber nicht einem schematischen Strafsystem zu unter-
ziehen. |
Sehr richtig sagt Schäfer: „Ein Trinker, dessen Trunk-
sucht hinlänglich bezeugt ist, ist kein Objekt richterlicher
Tätigkeit, sondern er gehört derjenigen Behörde, welche mit
der Wahrung der öffentlichen Wohlfahrt betraut ist.“
Alles, was ich oben über die Behandlung der wegen Trunken-
heitsdelikten Angeklagten gesagt habe, gilt erst recht für die
chronischen Alkoholisten. So lange also noch eine Bestrafung
von kriminellen Trinkern erfolgt, muß sie wenigstens in ab-
stinenten Strafanstalten erfolgen, die nach dem Muster der
Trinkerheilanstalten umzugestalten sind. Im übrigen wird bei
ausgesprochenen Graden von chronischem Alkoholismus der
Ausschluß der freien Willensbestimmung nach $ 51 angenommen
werden müssen, während geringere Grade in dem oben
als notwendig bezeichneten Zusatzparagraphen werden Berück-
sichtigung finden können, in dem für die Fälle verminderter
Zurechnungsfähigkeit eine mildere, bezw. anders geartete Strafe
festgesetzt werden soll. Es wird dann aber in beiden Fällen;
ebenso wie bei den wegen Trunkenheitsdelikten Angeklagten,
eine Erziehung zur Abstinenz in Trinkerheil-, resp. Trinker-
bewahrunstalten einzutreten haben (bei geringeren Graden von
Trunksucht oder beginnender Trunksucht wird unter Umständen
auch die bedingte Verurteilung zur Erzielung der abstinenten
Lebensweise genügen), und es müssen deshalb ganz ent-
sprechende gesetzliche Bestimmungen getroffen werden.
Der § 51b. wird daher zweckmäßig etwa folgende erweiterte
Fassung erhalten: |
$51b. „Wer im Rausch oder infolge von Trunksucht
eine Straftat begangen hat und wegen verminderter Zu-
rechnungsfähigkeit zur Zeit der Tat zu einer milderen
= GE n
Strafe verurteilt worden ist, wird, falls die Ver-
urteilung nicht bedingt erfolgt, im Anschluß an die
Strafe (oder an Stelle derselben) in eine Trinkerheil-
anstalt auf die Dauer von längstens 2 Jahren oder,
wenn es sich um einen unheilbaren Trinker handelt, in eine
Trinkerbewahranstalt auf Lebenszeit eingewiesen. Das
gleiche gilt für Personen, die im Rausch oder infolge von
Trunksucht eine Straftat begangen haben, aber wegen
Ausschluß der freien Willensbestimmung zur Zeit der
Tat freigesprochen werden mußten. Doch kann bei
Rauschdelikten die Einweisung in die Trinkerheilanstalt
ausgesetzt werden, wenn der Täter das feste Versprechen
gibt, von nun an abstinent zu leben und einer Enthalt-
samkeitsvereinigung beizutreten.“
Die Anhörung von ärztlichen Sachverständigen ist natür-
lich bei der Handhabung dieses Gesetzes nicht zu entbehren.
Es kann keine Frage sein, daß die Aufnahme solcher Be-
stimmungen in das Strafgesetz, zu deren Ausführung allerdings
die Errichtung der nötigen Zahl von öffentlichen Trinkerheil-
und Trinkerbewahranstalten erforderlich ist, außerordentlich
segensreich sein und die Zahl der von Trunkenen und von
Trinkern begangenen Delikte ganz bedeutend verringern
würde. Die rückfälligen Trinker würden ganz oder fast ganz
von der Anklagebank schwinden. Damit würde zugleich eine
sehr wirksame Bekämpfung der Trinksitten und der Trunksucht
verbunden sein.
Eine weitere Bekämpfung der Trunksucht durch das Ge-
setz ist aber noch durch ähnliche Bestimmungen gegenüber
den nicht kriminellen Trinkern möglich, Bestimmungen, die
die Trinker der Behandlung zuführen sollen, bevor sie noch
kriminell geworden sind, also ihren Verfall in Kriminalität
verhüten sollen. Eine Reihe von Staaten haben bereits solche
Bestimmungen sowohl gegenüber kriminellen, als gegenüber
nichtkriminellen Trinkern.
So lautet das englische Trunksuchtsgesetz vom 12. August
1858: „Eine Person, die eines strafbaren Verbrechens über-
führt ist, auf welches Gefängnis oder Strafarbeit steht, kann,
wenn der Gerichtshof überzeugt ist, daß Trunkenheit die
a TR. ve
direkte oder mitwirkende Ursache der Straftat gewesen ist
und der Angeklagte ein gewohnheitsmäßiger Trinker ist, durch
Richterspruch an Stelle der Strafe oder im Zusatz zu derselben
auf längstens 3 Jahre in eine staatliche oder andere konzessio-
nierte Trinkerheilanstalt, deren Leiter ihn aufzunehmen bereit
ist, geschickt werden. Außerdem können Gewohnheitstrinker,
die sich der öffentlichen Trunkenheit mit einem bestimmten
Vergehen schuldig machen und innerhalb der letzten 12
Monate vor diesem Vergehen wegen des gleichen Vergehens
bestraft sind, auf längstens 3 Jahre in ein staatliches oder
konzessioniertes Trinkerasyl geschickt werden.“
In Amerika kann auf Antrag der Vertrauensmänner, die
die Asyle beaufsichtigen , jede Person, die wegen Trunkfällig-
keit oder wegen eines durch Trunk verursachten Vergehens
zur Haft in Korrektionshäusern oder in Gefängnissen verurteilt
worden ist, durch Verfügung des Magistrats, resp. des Richters,
in ein Trinkerasyl bis zum Ablaufe der gerichtlichen Strafzeit
versetzt werden. Ä
Das norwegische Gesetz vom Jahre 1900 hat folgende
Bestimmungen: „Muß ein wegen Trunkenheit zu Gefängnis-
strafe Verurteilter als der Trunksucht verfallen erachtet werden,
so kann die Anklagebehörde im Urteil zu seiner Unterbring-
ung im Zwangsarbeitshause oder in einer durch den König
anerkannten Trinkeranstalt für so lange ermächtigt werden,
als die Leitung des Arbeitshauses oder der Trinkeranstalt zu
seiner Heilung nötig erachtet, doch nicht über 18 Monate, so-
fern er nicht früher in derselben Weise versorgt war. Erfolgt
eine solche Unterbringung, so kann der Vollzug der verhängten
Gefängnisstrafe ganz oder teilweise entfallen, es kann dabei
Erstattung der Auslagen verlangt werden. Personen, die der
Trunksucht verfallen sind und freiwillig eine durch den König
anerkannte Trinkeranstalt aufsuchen, sollen, sofern dies die
Billigung erhält und seitens der Anstaltsverwaltung für deren
Heilung geboten erachtet wird, in der Anstalt für den von
ihnen selbst beim Eintritt bestimmten Zeitraum, doch nicht
über 2 Jahre, festgehalten werden dürfen. Haben sie beim
Eintritt einen solchen nicht bestimmt, so dürfen sie trotz des
Verlangens, die Anstalt zu verlassen, so lange als für ihre
ii. IE
Heilung nötig erachtet wird, doch nicht über 1 Jahr, festge-
halten werden.“
Nach dem Thurgauschen Trinkergesetzentwurf vom Jahre
1900 kann auf Antrag des Gerichts die Zwangsversorgung von
“Trinkern eingeleitet werden, und zwar der heilbaren in einer
Trinkerheilanstalt, der unheilbaren in einem Asyl für unheilbare
Trinker. Nach dem Schweizer Trinkergesetzentwurf können
Gewohnheitstrinker, wenn sie eine Straftat begangen haben,
neben der Gefängnisstrafe zur Unterbringung in ein Trinker-
asyl verurteilt werden, wenn auf höchstens einjährige Strafe
erkannt wird. Außerdem können die wegen Ärgernis erregender
Trunkenheit, rückfälliger I,andstreicherei, Vernachlässigung der
Familie etc. verurteilten Trinker neben der Strafe einem Trinker-
asyl überwiesen werden.
Auch der deutsche Strafgesetzentwurf gegen die Trunken-
heit vom Jahre 1881 enthält Bestimmungen über Unterbring-
ungen von kriminellen und nicht kriminellen Trinkern in Trinker-
heil- oder Trinkerbewahranstalten (s.ob. S.64 Anm.). Ohne Frage
tuen solche Bestimmungen außerordentlich not. Dem modernen
Standpunkte dürfte etwa folgender Wortlaut entsprechen:
„Wer infolge von Trunksucht seine Pflichten gegen seine
Familie gröblich verletzt, diese der Gefahr des Notstands aus-
setzt, seine Angehörigen öfter mißhandelt oder ihre Sicherheit
bedroht, wer ferner wegen öffentlicher Trunkenheit wiederholt
sistiert oder wegen Trunksucht entmündigt ist, kann auf An-
trag seiner Angehörigen, seiner Freunde, der Ortspolizeibehörde
oder des Staatsanwalts durch richterlichen Beschluß nach An-
hörung eines Sachverständigen in einer Trinkerheil- oder Trinker-
bewahranstalt untergebracht werden“.
Von gesetzlichen Bestimmungen bezüglich der Herstellung
und des Vertriebs alkoholischer Getränke könnte als wirksam
nur ein völliges Verbot, eine Prohibition, in Betracht kommen,
wie sie in einer Reihe von amerikanischen Staaten besteht
und, wie die Erfahrungen zeigen, die Kriminalität sehr günstig
beeinflußt. Doch ist der Boden dafür auf dem Kontinent,
mit Ausnahme vielleicht einiger nordischer Staaten, noch lange
nicht vorbereitet. Es muß ein vollständiger Umschwung der
Volksanschauung in Bezug auf die alkoholischen Getränke ein-
u U: zz
treten, ehe an solche radıkalen Gesetze gedacht werden kann.
Die Prohibition wird aber einst fraglos einen hervorragenden
Platz einnehmen als eines der wichtigsten Gesetze über den
Alkohol in einem Strafgesetz der — Zukunft.
Literatur.
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den individuellen Organismus. Berlin 1878.
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de stat. Bd. 15, IV. S. 19—200.
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envisagée dans la législation peneale. Rapports au IV. Congrès pénil.
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Monatsschr. f. Psychiatrie 1897, Bd. IL., S. 52—57.
Vereinigung für gerichtliche
Psychologie und Psychiatrie
im Grossherzogtum Hessen.
Bericht über die
vierte Hauptversammlung am 17. Juli 1906 zu Butzbach.
Herausgegeben im Auftrage des Vorstandes
von Privatdozent Dr. A. Dannemann.
Enthält:
Erörterung über die Einrichtung von Gefüngnislehrkursen.
Von Prof. Dr. Mittermaier in Gießen
und Strafanstaltsdirektor G. Clement in Butzbach.
Die Tätigkeit des medizinischen, im besonderen des
psychiatrischen Sachverständigen vor Gericht.
Von Prof. Dr. Mittermaier, Oberstaatsanwalt Theobald, Landgerichts-
direktor Bücking und Prof. Dr. Sommer in Giessen.
Alle Rechte vorbehalten.
Halle a. S.
Verlag von Carl Marhold.
1907.
Juristisch-psychiatrische
Grenzfragen.
Zwanglose Abhandlungen
Herausgegeben von
Prof. Dr. jur. A, Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoche,
- Halle a.S. Freiburg i. B,
= Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler,
| Lublinitz i. Schles.
V. Band, Heft 6.
Vereinigung für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie
im Großherzogtum Hessen.
IV. E E zu Butzbach, den 17. Juli 1906.
Vorsitzender:
Herr Generalstaatsanwalt Dr. Preetorius- Darmstadt.
I. Begrüssung.
II. Erörterung über die Einrichtung von
Gefängnislehrkursen.
1. Professor Dr. Mittermaier-Gießen.
M. H.! Wenn man heute die Frage nach der Einrichtung
von Gefängnislehrkursen behandelt, so darf und muß man sich
kurz fassen; denn diese Angelegenheit ist vielfach erörtert,
über ihre Bedeutung hat wohl jeder sich eine Meinung gebildet;
und auch die praktische Durchführbarkeit ist schon zur Genüge
erprobt. So darf man eigentlich nur noch die Frage aufwerfen,
wie man die Kurse wohl einrichten könnte. Einiges wenige
aber mag dieser Erörterung doch vorausgeschickt werden.
Die Aufgabe eines Gefängniskurses für den Juristen
kann nicht die sein, ihn zu einem Anstaltsdirektor zu machen.
Will man Gefängnisbeamte ausbilden, dann muß man bessere,
tiefere Vorbildung bieten, als das in einem Kurs möglich ist;
der praktische Jurist soll hier nur die Verhältnisse der Ver-
brecher und die des Strafvollzugs kennen lernen, da er von
beiden in seiner Praxis wissen muß. Dazu muß der Kurs
auch eingerichtet sein.
Es bedarf keiner Ausführung darüber, daß jeder Jurist in
der Praxis die sozialen und individuellen Faktoren des Ver-
brechens beachten’ muß. Sonst würde er doch niemals ein ge-
rechtes und zweckvolles Urteil geben können. Es gibt nun
Viele, die meinen, man könne diese Verhältnisse ganz gut
1%
und zur Genüge im täglichen Leben kennen lernen; es sei ja
doch unmöglich, sie wissenschaftlich exakt zu erforschen, oder
gar mit einer solchen wissenschaftlichen Erkenntnis dem Ver-
brechen im Verständnis näher zu kommen, als mit dem ein-
fachen gesunden Menschenverstand und praktischem Takt. Denn
die Menschenseele sei eben unergründbar. Die Richtigkeit
dieser Anschauung bestreite ich aber entschieden! Gewiß ist
auch heute noch die geniale Erschließung der Menschenseele
durch einen Dichter von keiner wissenschaftlichen Forschung
übertroffen. Aber dennoch hat diese neben jener Platz, denn
sie ist jedem zugänglich, Künstler aber wird nur selten jemand.
Und daß wissenschaftliche Feststellung der Faktoren, die auf
unser Denken und Handeln einwirken, möglich ist, das haben
doch wohl die Einzelpsychologie und die Massenpsychologie
der Statistik schon zur Genüge bewiesen. Begreift man nicht
die Taten der Menschen ganz anders, wenn man aus der
Statistik erkennt, welch unfehlbare Wirkung die Preisschwan-
kungen, die Verschiedenheiten der Arbeitsmöglichkeit, der
Unterschied von Stadt und Land, das Alter haben? Lemt
man nicht die Tätigkeit der Seele viel genauer kennen, wenn
uns das psychologische Experiment ihre Reaktion klar macht?
Sind nicht schon die Untersuchungen über die Alkoholwirkung
imstande, uns das Verhalten eines Menschen zum genauesten
Verständnis zu bringen? Und gar die Untersuchungen unserer
Psychiater tun das noch viel mehr. Wenn wir also gewiß nie
einen Menschen in seinem Fühlen und Denken vollständig
sezieren, nie eine Tat nach Prozenten von "psychologischen
Faktoren analysieren können, so können wir doch auf Grund
genauer Studien das Wesen der Seele immer besser verfolgen
und begreifen. Die Wissenschaft der Psychologie ist zwar
noch in ihren Anfängen, aber sie hat uns schon über vieles
aufgeklärt, und ich zweifle keinen Moment an ihrer Fortent-
wicklung. |
Soll sich der Jurist diese Kenntnisse aneignen, so kann
er das sehr gut auf der Universität tun, falls ihm hier Ge-
legenheit dazu geboten wird; er kann es durch eigenes Studium
der vorhandenen reichen Literatur tun. Aber es wird ihm
vieles erst klar werden, wenn er im Leben die Beispiele zu
u
den theoretischen Darlegungen kennen lernt. Diese kann und
wird er sicher in der Praxis finden. Aber dem jungen Juristen
fehlt diese noch; erst allmählich verfolgt er genügend Verbrecher-
typen, um sich ein Bild derselben machen zu können. Kann
da nicht der genaue Einblick in das Leben einer Strafanstalt
aushelfen? Ist nicht der Strafvollzug förmlich ein Spiegel der
Verbrechensfaktoren ? “Ich meine, nichts kann uns so die Bei-
spiele für das Leben einer Verbrecherseele bieten, als das Ge-
fängnis!
Der Strafvollzug muß viel intensiver als der Strafprozeß
die Psychologie, die Psychiatrie, die Gesundheit und Krank-
heit des Menschen, die Bedeutung von Erziehung und Unter-
richt, der Seelsorge, des Alkoholismus, der Arbeitsverhältnisse,
der Landstreicherei, die Wohnungsfrage beachten. Im Gefängnis
ist viel bessere Gelegenheit dazu, als anderswo, und da man
jeden einzelnen Faktor hier zu bekämpfen sucht, muß man ihn
aufs genaueste erforscht haben. Das ist bekanntlich schon
geschehen. Gerade die Gefängnismänner haben uns zuerst auf
die Kriminologie hingewiesen, und mit Recht hat man das be-
kannte Handbuch des Gefängniswesens von Holtzendorff
und Jagemann den Anfang eines Systems der Verbrechens-
lehre genannt. Darum: der Strafvollzug bietet die beste Ge-
legenheit, die Verhältnisse des Verbrechens kennen zu lernen.
Der Jurist muß aber auch den Strafvollzug um seiner
selbst willen kennen lernen! Einmal gehört dieser, so gut wie
der Prozeß, zu den Mitteln der Verbrechensbekämpfung, und
wer bei dieser mitarbeiten will, kann das doch nur dann mit
Aussicht auf Erfolg tun, wenn er die Bedeutung der einzelnen
Bekämpfungsfaktoren kennt, Wir sind doch nicht Juristen
nur um der Eleganz der Formen willen, sondern um dem
Leben zu dienen. Und der ist kein guter Sozialarzt, sondern
zur ein Mathematiker, der nicht das Weeen der Größen kennt,
mit denen er rechnet.
Ja ich sage, daß der Jurist sogar die Wirkung der Ein-
sperrung bei seinen Entscheidungen mit berücksichtigen muß.
Er muß sich überlegen, welche Wirkung der Vollzug der Unter-
suchungshaft hat; wenn ihm die Wahl der Strafarten oder der
Strafgrößen offen steht, muß er die Bedeutung der einzelnen
E ven
mit in Anschlag bringen! Das mag manchem ketzerisch klingen.
Aber einmal geschieht es tatsächlich schon täglich und überall,
und sodann steht nirgendwo, daß diese Rücksichtnahme unge-
setzlich sei, oder dem Geist unseres Strafgesetzes nicht ent-
spreche. Ist doch die Einrichtung der mildernden Umstände
förmlich auf diese Rücksichtnahme zugeschnitten! Ä
Diesen Zwecken denke ich mir also einen Gefängniskurs
dienstbar! — Sie können nur erreicht werden bei praktischer
Anschauung. Das theoretische Studium der Statistik, Psycho-
logie, Anthropologie, Soziologie, der Gefängnisgeschichte muß
daneben hergehen, aber genügt eben nicht, sowenig. wie dem
Arzt ein Studium aus Büchern allein genügt. Bei einer Kunst
muß man sehen, beobachten, proben. Das theoretische Studium
ist auch eine vorzügliche, ja unerläßliche Vorbereitung für die
praktische Anschauung; ohne jenes versteht man die Praxis
nur halb, und die Vorbereitung ermöglicht es, ein Verständnis
in kürzerer Zeit zu gewinnen.: Während nun ein golches
Studium sehr gut auf der Universität betrieben werden kann,
ist der junge Student noch nicht für die praktische Anschau-
ung reif. Um Menschen zu verstehen, muß man selbst einiges
vom Leben kennen gelernt, muß schon etwas in der Praxis
drin gestanden, mit andern zusammen. praktisch gearbeitet
haben. Darum wäre es verkehrt, wollte. man das Studium
des Strafvollzugs. einfach in die Universitätszeit verlegen. Hier
kann nur die theoretische Grundlage gegeben werden. Ja,
ich glaube, daß diese am besten während des Hochschul-
studiums gegeben wird. Denn hier sind die Lehrmittel dazu
am leichtesten zu beschaffen, und kann, was gerade das
wünschenswerte ist, möglichst allen Juristen ‚diese Kenntnis
verschafft werden. Umgekehrt wäre sogar die Zeit für einen
theoretischen Kurs kaum während der Praxis zu erhalten.
Man darf aber wieder nicht vergessen, , daß schon jetzt,
die Fülle des von unseren Studenten zu bewältigenden ‚Stoffes
sehr groß ist, und daß.das theoretische Studium nicht genügt,
um ‚ein volles Verständnis für die Praxis zu ‚erhalten, denn
dazu gehört noch die Kenntnis von den Grundsätzen, die sich
der Praktiker. selbst gebildet hat, die also der Praktiker des
Strafvollzugs dem Juristen vermitteln muß.
u as
Aus all diesem geht für mich klar hervor, daß man Kenntnis
und Verständnis des Strafvollzugs nur erreichen kann durch
ein doppeltes: ein vorbereitendes theoretisches Studium und
einen praktischen Kurs. Das erste legen wir am besten auf
die Universität, den zweiten können wir nur für die j jungen
Praktiker einrichten,
Ganz in dieser Art ist die Einrichtung noch nirgendwo
verwirklicht, denn es fehlt ihr überall noch der erste Teil des
theoretischen Studiums. Anfänge zu diesem bieten unsere
Universitäten wohl schon; aber eine strenge Durchführung
und eine systematische Verbindung des Studiums mit den
Kursen existiert noch nicht. Gerade in 'dieser Verbindung
aber möchte ich den Kursen erst ihren vollen Wert zuerkennen.
Jedoch müssen wir stets nach dem Spruch, daß man das Gute
nicht vernachlässigen soll, wenn man das Bessere nicht erhalten
kann, das tun, was eben erreichbar ist. Und wenn wir die
theoretische Vorbereitung nicht sofort einrichten können, so
wollen wir doch den praktischen Kurs nicht auch aufgeben.
Solche Kurse bestehen bekanntlich schon an -manchen
Plätzen; und über alle erfahren wir bisher nur günstiges! In
Baden werden Gefängniskurse seit 1886, zuerst als vier-
wöchentliche, dann als zweiwöchentliche gehalten, in Preußen
seit 1895 (aber mit einer fast zehnjährigen Pause!), in Bayern
seit 1900, in Hamburg erstmals 1904. Ebenso sind sie in
Elsaß-Lothringen bekannt. In Sachsen und Württem-
berg hat man nur die auch in Hessen seit 1903 vorgesehene
Einrichtung einer längerdauernden Beschäftigung jünger Prak-
tiker im Gefängnisdienst. Eine Reihe von Berichten sind über
diese Kurse erstattet, der beste wohl von dem, der sie zuerst
einführte, Excellenz von Jagemann, in Aschaffenburgs
Monatsschrift für Kriminalpsychologie, I, 374, im Jahre 1905,
wozu neuerdings noch die Berichte in den Blättern für- Ge-
fängniskunde, 38, 505 und 39, 209,367, kommen. |
Als praktische Form hat sich dabei die Einrichtung eines
zweiwöchigen Kurses an einer Zentralanstalt herausgestellt,
wobei die Beamten dieser Anstalt, eventuell neben ihnen Theo-
retiker, durch Vorträge über alle Zweige des Anstaltslebens
unterrichten, Diskussionen stattfinden und der Anstaltsbetrieb
=, 9.
nach allen Richtungen gezeigt und erklärt wird. Eine nicht
zu große Zahl jüngerer praktischer Juristen, Assessoren oder
Amtsrichter, auch einmal von Theologen, wird auf freie Mel-
dung zugezogen. Die Anregung, die die Teilnehmer erhalten,
die praktische Unterweisung, ist überall sehr fruchtbringend,
wie ich aus eigener Erfahrung als Teilnehmer des badischen
Kursus von 1894 weiß. Der Praktiker lernt dem Beschuldigten
ganz anders gegenübertreten, als Vorsteher eines Amtsgefäng- .
nisses dieses viel besser zu leiten und in der Schutzfürsorge
viel mehr zu wirken.
Etwas derartiges läßt sich in Hessen nach meinem Dafür-
halten ohne Schwierigkeit einführen, wir sind sogar in beson-
ders günstiger Lage. Denn die zwei hessischen Zentralanstalten,
Butzbach und Marienschloß, liegen so nahe beieinander, daß
sie beide dem Kursus dienen können. Außerdem ist es von
Butzbach aus leicht möglich, eine Reihe interessanter, lehr-
reicher Anstalten zu besuchen: Wehlheiden, Wabern, Ziegen-
hain, Diez, Preungesheim, Arbeiterkolonien, Arbeitshäuser, Er-
ziehungsanstaltenı. Gerade solche Besuche sind von großer
Wichtigkeit. Weiter können auch die Lehrkräfte der Landes-
universität herangezogen werden. Und endlich möchte ich
darauf hinweisen, daß es sich wohl ermöglichen lassen sollte,
den hessischen Juristen eine theoretische Vorbildung zu geben,
so daß der Kursus selbst noch mehr nützen kann. Entweder
würde diese Vorbereitung auf der Universität zu geben sein;
oder aber ich denke mir, daß jeweils im Winter die sich als
Teilnehmer meldenden Referendare, Assessoren und Amtsrichter
schon in den drei Provinzen eine Art Vorkurs durchmachen,
der von den Oberstaatsanwälten geleitet wird. Es wäre sogar
wünschenswert, wenn die Teilnahme an solchen vorbereitenden
Kursen als Bedingung für die Aufnahme zum Hauptkurs auf-
gestellt würde. Dieser könnte dann vielleicht auf zehn Tage
abgekürzt werden.
Ich fasse meine Darlegungen zusammen in einige Thesen:
1. Die Einführung von Gefängniskursen in Hessen ist
dringend erwünscht.
2. Sie ist ohne zu große Schwierigkeiten durchführbar.
u. HG
3. Wünschenswert und möglich ist die Einrichtung von
a) einer theoretischen Vorbildung auf der Universität,
b) eines jährlichen 10—14 tägigen Kurses für höchstens
20 Teilnehmer, die möglichst das zweite juristische
Examen bestanden haben.
2. Strafanstaltsdirektor G, Clement- Butzbach.
Der Strafvollzug, in der selbstverständlichen Beschränkung
auf die Freiheitsstrafe, leidet unter zwei Übeln: unter einem
gewissen Vorurteil und unter dem Mangel an Interesse von
seiten mancher Juristen. Nicht wenigen im Amte befindlichen
Richtern und Staatsanwälten ist er ein unbekanntes Gebiet.
Die gesetzlichen Bestimmungen des materiellen Strafrechts
und der Strafprozeßordnung über den Strafvollzug sind so
dürftig, daß sie kaum Anlaß bieten, sich theoretisch eingehender
mit demselben zu beschäftigen.
Wenn nun auch einige Strafrechtslehrer trotz der Fülle
des Materials und der knapp bemessenen Zeit bei ihren Vor-
lesungen über Strafrecht dem Strafvollzuge- einige Stunden
widmen und ihren Hörern Gelegenheit verschaffen, an einem
Nachmittag im Semester ein größeres Gefängnis zu besichtigen,
so reichen die dadurch gegebenen Anregungen doch nicht aus,
um ein nachhaltiges Interesse für den Strafvollzug zu wecken.
Sobald der junge Jurist in die Praxis übertritt, fehlt ihm jede
Anregung, dem Gefängniswesen seine Aufmerksamkeit zuzu-
wenden und sich mit dem Gefängnisdienste bekannt zu machen.
Meine Herren! Ich darf Ihnen vielleicht aus meiner zwölf-
jährigen Praxis folgendes verraten, wobei ich niemand ver-
letzen, niemand persönlich zu nahe treten will. Die Fälle,
die ich anführe, bitte ich anzusehen als Symptome für die all-
gemeine Interesselosigkeit, die der Stand, dem ich nach meiner
Ausbildung anzugehören die Ehre habe, dem Strafvollzuge
entgegenbringt. Während meiner Tätigkeit an der hiesigen
— 10 —
Strafanstalt sind schon mehrere Akzessisten, oder nach der
neueren Bezeichnung Referendare, am hiesigen Amtsgericht
tätig gewesen. Die Herren kommen als Protokollführer öfter
in die Strafanstalt, machen mir bei dem ersten Termin auf
dem Bureau einen Besuch und bitten mich, ihnen nach Beendi-
gung des Termines zu gestatten, einen Blick in die Anstalt zu
werfen. Nach einer knappen Viertelstunde ist die Neugierde
befriedigt, und der junge Herr verschwindet auf Nimmerwieder-
sehen, ohne von der Anstalt, ihren Insassen und Einrichtungen
weitere Notiz zu nehmen. Von den während des gleichen
Zeitraums in Friedberg tätigen Amtsanwälten haben nur zwei
die Anstalt eingehender besichtigt. Diese Interesselosigkeit
hängt zusammen mit dem von mir erwähnten Vorurteile Man
betrachtet den Strafvollzug vielfach als eine ganz inferiore
Angelegenheit,. die Beschäftigung mit demselben als etwas
durchaus Unwissenschaftliches, und man behauptet allen Ernstes,
daß eine Gefängniswissenschaft überhaupt nicht existiere. Und
doch ist über die Fragen des Strafvollzuges und des Gefängnis-
wesens eine umfangreiche Literatur erwachsen, an der die be-
deutendsten geistigen Kapazitäten auf dem Gebiete der Wissen-
schaft und der Staatsverwaltung beteiligt sind. Ich brauche
nur die Namen Mittermaier, v. Holtzendorff, v. Schwarze,
v. Jagemann, v. Liszt, Bär und Krohne zu nennen, für
Deutschland an die Jahrbücher für Gefängniskunde und Besse-
rungsanstalten von Julius, Nöllner und Varrentrapp, an die
. Blätter für Gefängniskunde, das Organ des Vereins der deut-
schen Strafanstaltsbeamten, an die Jahresberichte der Rheinisch-
Westfälischen Gefängnisgesellschaft zu erinnern, für England
die Jahresberichte der Howard-Association, für Nord-Amerika
die der New-Yorker Gefängnisgesellschaft, für Frankreich die
Bulletins de la société générale des prisons zu erwähnen, nicht
zu gedenken der zahlreichen Monographien und der glänzenden
Bearbeitungen, die die Verhandlungen der internationalen Ge-
fängniskongresse erfahren haben, um darzutun, daß es eine
Wissenschaft vom Strafvollzuge gibt, der alle modernen Kultur-
völker einen Teil ihrer geistigen Arbeiten gewidmet haben.
„Sie ist“, wie Krohne sagt, „eine. Wissenschaft von hervor-
ragend sozialer Bedeutung, die ihre Wurzeln bis in die inner-
= AT
sten Tiefen aller Fakultäten erstreckt, von ihrer ethischen
Seite in die Theologie, von ihrer rechtlichen in die Jurispru-
denz, von ihrer physiologischen in die Medizin, von ihrer
psychologischen und sozialpolitischen in die Philosophie ein-
dringt, die für die praktische Lösung ihrer Fragen die höch-
sten Anforderungen an unsere Baukunst und Technik stellt.“
Unser Hauptstrafmittel ist die Freiheitsstrafe, die der
Richter, wenn sie Erfolg haben, wenn sie den Rückfall ver-
hüten soll, zweckmäßig bemessen muß. Dies kann er nur,
wenn er ihr Wesen, wenn er ihren Inhalt kennt, wenn er
weiß, wie dieselbe vollzogen wird, welche Wirkung dieselbe
auf das einzelne Individuum ausüben wird, wenn er sich klar
darüber ist, was es heißt, jemandem auf kürzere oder längere
Zeit die Freiheit zu entziehen. Jede Unkenntnis des Richters
hierüber muß den Erfolg der Strafe beeinträchtigen.
Noch ungünstiger wirkt die Unkenntnis, wenn Richter
oder Staatsanwälte vor die Aufgabe gestellt werden, die Frei-
heitsstrafe selbst vollstrecken zu lassen. Wie soll ein Amts-
richter als Gefängnisvorstand ersprießlich wirken, wenn ihm
die Kenntnis des Gefängniswesens abgeht. Man wird mir ent-
gegenhalten, daß der Amtsrichter sehr wohl imstande sei, an
der Hand des Reglements sein Gefängnis zu leiten. Ganz wohl!
Aber das Reglement ist lückenhaft und versagt regelmäßig _
wo man es am nötigsten braucht. Es gibt ihm keine Aus-
kunft, wie er den Arbeitsbetrieb einzurichten habe, und doch
ist die Durchführung eines geordneten Ärbeitsbetriebes gerade
in den kleineren Gefängnissen ebenso schwierig als wichtig,
einerseits, weil nicht immer Arbeitsgelegenheit und Arbeits-
kräfte vorhanden sind, andererseits, um arbeitsscheuen Vaga:
bunden das Gefängnis nicht zu einem beliebten Vor,
halt zu mächen. |
Das Reglement unterstützt den Richter nicht bei der Aus-
wahl des Aufsichtspersonals und. noch weniger bei der prak-
tischen Ausbildung desselben.
Um den geschilderten Mängeln abzuhelfen, hat man in
einigen deutschen Staaten Lehrgänge für Gefängniswesen ein-
gerichtet, über die ich mich hier nicht weiter zu verbreiten
= 79 —
habe, weil Herr Professor Mittermaier in dankenswerter
Weise ausführlich hierüber gesprochen hat.
‘ Die Einrichtung derartiger Kurse soll sich allerwärts be-
währt haben, und die günstigen Erfolge ermutigen unsere Ver-
einigung, auf dem einmal betretenen Weg fortzuschreiten, in-
dem, durch theoretischen Unterricht auf der Universität und
durch besonders eingerichtete Lehrkurse an den beiden Zentral-
strafanstalten in Hessen jedem Juristen vor der Anstellung
Gelegenheit gegeben werden soll, sich mit dem Strafvollzuge
vertraut zu machen und theoretische und praktische Kennt-
nisse über das Gefängniswesen sich zu erwerben.
Wenn Herr Professor Mittermaier fürchtet, daß die
Studenten das Kolleg über Gefängniswissenschaft nicht regel
mäßig besuchen würden, so möchte ich als Praktiker dem
Theoretiker raten, die Gefängniskunde als Prüfungsgegenstand
in die Fakultätsprüfung aufzunehmen. Aus meiner Studenten-
zeit erinnere ich mich, daß die Kollegien über Nationalökonomie
und Staatswissenschaft von Juristen schlecht besucht wurden,
so lange diese Materie in dem zweiten, dem Staatsexamen ge-
prüft wurde. Der Kollegienbesuch wurde ein außerordentlich
reger von dem Zeitpunkte an, in dem diese Gegenstände in
die Fakultätsprüfung verlegt wurden.
Daß es für jeden Justizbeamten, der strafrechtlich. tätig
ist, sei es als Richter oder Staatsanwalt, oder als Vorsteher
eines Gefängnisses, hohen Gewinn bringt, wenn er durch Ein-
blick in den Strafvollzug den Inhalt, die Bedeutung und die
Wirkung der Strafe kennen lernt und dabei Seelenstudien
macht an den von der Außenwelt losgelösten Gefangenen, be-
darf nach dem Gesagten wohl keiner näheren Ausführung.
Allerdings wird der praktische Unterricht, der auf einer gründ-
lichen theoretischen Vorbildung aufbauen kann, wesentlich
konzentrierter sein können, als derjenige der Assessoren, die
einem zweimonatigen Aüsbildungskursus an einer hessischen
Zentralstrafanstalt sich unterziehen. Es dürfte sich vielmehr
empfehlen, den badischen oder hamburgischen Lehrplan hier
zu Grunde zu legen.
Alljährlich hätte hiernach ein Kursus von zwölftägiger
Dauer stattzufinden. Wenn vor- und nachmittags gearbeitet
z JI
wird, halte ich diese Zeit für ausreichend. Wünschenswert
wäre es, wenn jedem Teilnehmer einige Zeit vor Beginn des
Kursus je ein Exemplar der Dienst- und Hausordnung und
der Dienstanweisung für die Beamten zugestellt würde.
Die Teilnahme ist eine freiwillige, sie erstreckt sich aber
auf die volle Dauer des Lehrgangs. Zur Teilnahme zugelassen
‘ werden Gerichts-Assessoren, Staatsanwälte, Richter und Rechts-
anwälte (was wohl ausführbar wäre, wenn der Kursus in die
Gerichtsferien gelegt würde) und event. auch Referendare.
Von einem späteren Zeitpunkte an wäre die Zulassung ab-
hängig zu machen von dem Nachweis der theoretischen Aus-
bildung auf der Universität. Bei der außerordentlichen Wich-
tigkeit und dem Vorteile für die Strafrechtspflege wäre die
Großherzogliche Regierung zu bitten, die Kosten des Aufent-
halts in Butzbach oder Marienschloß ganz oder teilweise zu er-
setzen.
Den Teilnehmern ist Gelegenheit zu geben, die Straf-
anstalt, den Gefängnisdienst in allen Teilen und in allen
Zweigen kennen zu lernen. Von der Registratur, dem Kassen-
wesen und der sonstigen Buchführung nur das Wichtigste.
Eingehender sind zu behandeln: Unterricht und Lektüre, Seel-
sorge, der Dienst des Arztes, am eingehendsten der Polizei-
dienst, die Beköstigung, der Arbeitsbetrieb, die Ausübung der
Disziplinarstrafgewalt und das für die Rückfallsprophylaxe so
außerordentlich wichtige Fürsorgewesen, und zwar durch ein-
leitende, kurze theoretische Vorträge und praktische Unter-
-= weisung. Zu diesem Zwecke wären die in jedem Dienstzweige
eingeführten Formulare, Listen und Register vorzulegen, zu
erläutern und zu besprechen, ebenso Personalakten von Ge-
fangenen (erstmals bestraften und rückfälligen).. Die Teil-
nehmer müßten praktisch kennen lernen den Dienst des Auf-
sehers, des Oberaufsehers, des Kammeraufsehers, der Werk-
meister, des Ökonomen, des Rechnungsbeamten. Sie müßten
dem Früh- und Abendrapport der Aufseher beiwohnen, ebenso
dem Schul- und Religionsunterricht, dem Chorgesang, den Be-
amtenkonferenzen; sie müßten die Beamten in die Zellen zu
den Einzelbesprechungen mit den Gefangenen begleiten.
=. Ti
Diese praktischen Unterweisungen würden am zweck-
mäßigsten auf die Vormittage verlegt, soweit dies nach dem
Dienstplan der Anstalt möglich ist.
Das dort Gesehene und Gehörte wäre am Nachmittag zu
besprechen. Die Besprechungen könnten durch kurze Vorträge
des Direktors oder der Ressortbeamten eingeleitet werden.
An diese würden sich dann Fragen und Meinungsäußerungen
aus der Reihe der Teilnehmer anschließen, so daß eine rege
und für alle Teile gewinnbringende Erörterung sich von selbst
ergeben würde.
Meine Herren! Derartige Lehrkurse sind anstrengend.
Ich hatte dank des wohlwollenden Entgegenkommens des
Herrn Generalstaatsanwalts und des Großh. Ministeriums Ge-
legenheit, mit meinem Kollegen, Herrn Direktor Bornemann
in Marienschloß, einem von dem Königl. Preußischen Ministe-
rium des Innern, unter dem Vorsitze des Geheimen Ober-Regie-
rungsrats Dr. Krohne, allerdings nur für praktisch geschulte
Gefängnisbeamte eingerichteten Kursus in Düsseldorf beizu-
wohnen. Die regelmäßige Arbeitszeit dauerte von 81/,—1 Uhr
und nach einstündiger Frühstückspause von 2—5 Uhr; manch-
mal fanden auch noch von 6—7 Uhr Vorträge und Besprech-
ungen statt.
Aber sie sind gewinnbringend, und dankbar denke ich an
die anregenden Stunden zurück.
Den wichtigsten Erfolg eines Lehrkursus für den Richter
erblicke ich nicht nur darin, daß er die Gefängnistechnik
kennen lernt, sondern vor allem auch darin, daß er Gelegen-
heit hat, in der Psyche des Gefangenen zu lesen, daß die Be-
schäftigung mit der Kriminalpsychologie, welche der Kursus
mit sich bringt, den Teilnehmer lehren, als Strafrichter nicht
nur das Verbrechen als objektiv in die Welt tretende Erschei-
nung, sondern auch den Verbrecher bei Festsetzung von Strafe
und Strafmaß ins Auge zu fassen.
MeineHerren! Ein konkretes Beispiel. Vor wenigen Tagen
wurde ein junger, kaum 23jähriger Mensch wegen Widerstands
gegen die Staatsgewalt ın die Zellenstrafanstalt eingeliefert,
in der er jetzt zum fünften Male Aufnahme gefunden, und da-
mit, wenn ich nicht irre, den Rekord erreicht hat. Er war
— 15 —
schon hier wegen Körperverletzung, Diebstahls, Betrugs im
ursächlichen Zusammenhang mit Urkundenfälschung und wegen
Gefangenenbefreiung. Seine längste Strafe war ein Jahr. Wenn
der Strafrichter gesehen hätte, mit welch gleichgültiger Miene
er zum fünften Male die Schwelle des Gefängnisses über-
schritten hat, wie dreist und ungeniert er sich als alter Be-
kannter vorgestellt hat, bei dem nur zu verwundern war, daß
er nicht, auf die alte Bekanntschaft pochend, Anspruch auf
besonders gute Behandlung erhoben hat, ich bin sicher, der
Richter hätte, statt auf zwei Monate, auf eine wesentlich
höhere Strafe erkannt und das Kalkul des im Zuhörerraum
der Strafgerichte und von „duften Brüdern“ im Untersuchungs-
gefängnisse ausgebildeten Kriminalstudenten zuschanden ge-
macht. Ich bin nicht Optimist genug, um anzunehmen, daß
der Mann nach Verbüßung der höheren Strafe die Anstalt ge-
bessert verlassen hätte, aber er hätte sich vielleicht doch in
acht genommen und das Böse gelassen, weniger aus Liebe
zım Guten als aus Furcht vor der Strafe. Für den Mann
hört die Strafe auf, ein Übel zu sein.
Diskussion:
Vorsitzender: Meine Herren! Daß ich als oberster Auf-
sichtsbeamter über die Gefängnisse in Hessen gerade der Ein-
richtung der Gefängniskurse ein sehr warmes Interesse ent-
gegenbringe, brauche ich wohl nicht besonders zu versichern.
Ich habe auch seiner Zeit Unterrichtskurse, zunächst nur in der
Zellenstrafanstalt, eingerichtet; zunächst nur an dieser, weil
ich warten wollte, bis die Erweiterung des Landeszuchthauses
Marienschloß durch Errichtung des Zellenbaues vollzogen ist,
der im Frühjahr 1907 eröffnet wird. Ich habe also zunächst
an jener Strafanstalt allein zweimonatige Kurse für Assessoren
ins Leben gerufen. Wir haben uns damals des langen und
breiten über die Angelegenheit sowohl mündlich wie schrift-
lich unterhalten; Herr Direktor Clem ent ist ein beredter
Zeuge dafür, daß wir alle verschiedenen Punkte, die dabei in
Betracht kamen, auf das allersorgfältigste überlegt haben. Wir
ee l0 -s
kamen zır den zweimonatigen Kursen aus den verschiedensten
Gründen. Erstens haben wir uns gesagt, daß mit dem bloßen
Besichtigen einer Strafanstalt eine wirklich objektive und in-
time Kenntnis aller derjenigen Dinge nicht gewonnen ist, die
nun einmal die Gefängniswissenschaft fordert, und die nament-
lich eine psychologische Vertiefung in die einzelnen Gefangenen
voraussetzen; und andererseits hatte ich den Hintergedanken,
— es war nur ein Hintergedanke, nicht der eigentliche be-
stimmende Gedanke; insofern möchte ich das, was Herr Prof.
Dr. Mittermaier gesagt hat, berichtigen —, wir hatten den
Hintergedanken, daß durch solche zweimonatige sehr gründ-
liche Kurse, die in alle Zweige des Gefängniswesens eingingen,
auch möglicherweise ein Stock von jungen Beamten heran-
wachse, die im Falle der Notwendigkeit einer Stellvertretung
für einen Direktor einspringen könnten. Ich möchte da etwas
ganz Inferiores erwähnen, was die Herren, die der Strafanstalt
ferner stehen, nicht kennen. Wenn zur Zeit ein Direktor be-
urlaubt wird auf einige Wochen, so wird er mangels anderer
geeigneter Persönlichkeiten ersetzt durch den ersten Ober-
beamten, in der Regel durch den Ökonomen, den Rechner
oder einen derartigen Beamten, die Subalterne sind. Das
kann zu Schwierigkeiten führen. Es gibt unter den akademisch
gebildeten Beamten immer den oder jenen empfindlichen
Herrn, dem es nicht angenehm ist, wenn ein nicht akademisch
Gebildeter die Direktion führt. Das hat schon dahin geführt,
daß z. B. in der Beamtenkonferenz, in der der Direktor natur-
gemäß der Vorgesetzte ist, in den Fällen der Vertretung durch
subalterne Beamte dieser nicht den Vorsitz führen soll, sondern
der älteste akademisch gebildete Beamte, sei es der Geistliche, sei
es der Arzt. Um solchen Konflikten und Schwierigkeiten zu
begegnen, um solche Möglichkeiten überhaupt auszuschließen,
schien es uns, und zwar nicht bloß dem Herrn Minister und
mir, sondern auch Herrn Direktor Clement, das Geeignetste
daß man für Leute sorgt, die akademisch gebildet und ver-
möge einer entsprechenden spezialistischen Ausbildung in der
Lage sind, im Falle solcher Beurlaubungen den Direktor zu
vertreten, mit der vollen Sachkunde, die eine solche Vertre-
tung erfordert. Aber ich möchte nochmals betonen, das war
u ET: a
nur ein Nebengedanke; der eigentliche treibende Gedanke war
der, den Assessoren die Möglichkeit zu geben, sich in der Ge-
fängniskunde so auszubilden, daß alle diejenigen Errungen-
schaften erreicht werden, die vorhin sowohl Herr Prof. Mitter-
maier wie Herr Direktor Clement in beredten Worten ge-
schildert haben. Nun muß ich sagen, wenn man an die Kurse
herantritt, die jetzt von den beiden Herren vorgeschlagen
werden, so erwächst die Frage: werden nicht die zweimonatigen
Kurse, die schon bestehen, einfach aufgehoben werden müssen ?
Werden sie dann nicht überflüssig sein? Ich möchte dabei
betonen, was bereits von Herrn Direktor Clement angedeutet
wurde, daß ein auffälliger Mangel an Interesse für diesen Stoff
bei unseren jungen Juristen besteht. Es ist seinerzeit von
mir bei dem Ministerium der Antrag gestellt worden, diese
zweimonatigen Kurse einzuführen. Ich habe damals schon, in
dem Gefühle, daß damit eigentlich nur ein Schlag ins Wasser
getan sei, im Ministerium hervorgehoben, wenn nicht den
Assessoren die Möglichkeit eines gewissen Unterhalts gewährt
werde, würden sich wohl schwerlich Assessoren finden, die
sich für zwei Monate nach Butzbach setzten, lediglich um Ge-
fängniskunde zu studieren. Die Erfahrungen, die wir gemacht
haben, haben diese meine Befürchtungen vollständig bestätigt.
Erst nachdem ins Budget auf mein Ansuchen eine Summe auf-
genommen wurde, die dazu dienen soll, wenigstens die äußer-
lichen Kosten des Aufenthalts zu decken, erst dann sind Mel-
dungen gekommen. Es hat aber bis jetzt nur ein einziger von
dem Vorteile, der geboten ist, Gebrauch gemacht. Ich muß
sagen, es ist höchst bedauerlich, daß das bis jetzt noch nicht
öfter geschehen ist; es ist mir auch unbegreiflich. Es ist klar,
daß von den Assessoren, die jedes Jahr die erste Prüfung be-
stehen, eine ganze Reihe unmöglich sofort auf Verwendung
rechnen können. Sind sie aber wirklich verwendet, sind sie
als Richter, Amtsanwälte, stellvertretende Staatsanwälte, Hilfs-
gerichtsschreiber usw. mit einem Amte betraut, so kann man.
es den Herren nicht übel nehmen, wenn sie sich sagen: warum’
soll ich jetzt diese Verwendung in die Schanze schlagen, und
mich zwei Monate nach der Strafanstalt setzen, nur um Ge-
fängniskunde zu studieren? Wenn ich die zwei Monate hinter
2
— 18 —
mir habe, finde ich vielleicht keine Verwendung mehr, also
behalte ich lieber, was ich habe. Aber diejenigen, die nicht
verwendet sind, die als Volontäre, sei es bei einer Staats-
anwaltschaft, einem Amtsgericht oder Landgericht, arbeiten,
die könnten sich doch melden, könnten den Versuch machen
und eine Eingabe an uns richten, um auf die Weise heraus-
zubekommen, ob man sie zu derartigen Kursen in Zellenstraf-
anstalten zuläßt.
Ich glaubte, diese Bemerkungen machen zu sollen, um
von vornherein davor zu warnen, daß man etwa mit allzu-
großen Hoffnungen an die Einrichtung solcher Kurse heran-
trete. Es ist kein Zweifel, es besteht ein Mangel an
Interesse, und nur diejenigen, die einmal den Strafvollzug
mit eigenen Augen haben ansehen und studieren können, sind
eigentlich in der Lage gewesen, von dem Vorurteil und der
Gleichgültigkeit, die bezüglich dieser Materie noch die Juristen
beherrschen, freizuwerden.
Ich komme auf den Punkt zurück, den ich vorhin er-
wähnte. Es ist recht schwer zu entscheiden, ob neben den
Kursen, die jetzt durch uns ins Leben gerufen werden sollen,
noch diese zweimonatigen Kurse ihren Platz behalten können,
oder ob nicht das eine durch das andere ersetzt werden soll;
namentlich wenn die Hoffnung in Erfüllung geht, die Herr
Professor Mittermaier in so beredter Weise aussprach, und
die ich warm unterstützen möchte, daß die Studenten
schon während ihrer Studienzeit in einer inten-
siveren Weise als bisher auf die Gefängniswissen-
schaft hingewiesen und in der Gefängniswissen-
schaft unterrichtet werden; denn dann werden eine
Reihe von Vorkenntnissen bereits vorhanden sein, auf denen
demnächst derjenige, der den Kursus abhält, fußen kann, wäh-
rend heute diejenigen Assessoren, die einen solchen Kursus
mitmachen, vollständig voraussetzungslos ihre Tätigkeit be-
ginnen und ihren Instruktoren mehr Arbeit machen, als es
der Fall sein wird, wenn diese mit solchen zu tun haben, die
bereits eine Idee von der Sache sich bildeten und schon theo-
retisch in den Stoff eingeführt worden sind.
Das sind die Fragen, die wir uns überlegen müssen, die
= GI
vielleicht Sie weniger interessieren, die aber mich demnächst
interessieren werden, wenn ich über die Sache an das Ministe-
rium berichte. Im übrigen bin ich durchaus damit einver-
standen, daß solche Kurse eingerichtet werden; nur ist mir
fraglich, ob gerade der nächste Winter schon dazu geeignet
sein wird. Ich möchte die Herren, die das nicht wissen, darauf
aufmerksam machen, daß wir in Hessen einer großen durch-
greifenden Umgestaltung des Strafvollzugs entgegensehen. Es
ist zur Zeit ein Zellenbau bei dem Landeszuchthaus Marienschloß
im Bau begriffen, der Bau ist längst unter Dach, und es darf
mit Sicherheit erwartet werden, daß er im Frühjahr 1907 er-
öffnet wird. Ist der Zellenbau fertig, so werden sämtliche
Zuchthausgefangene, die zur Zeit in der Zellenstrafanstalt zu
Butzbach verwahrt sind, nach Marienschloß überführt, so daß
dann das Landeszuchthaus Marienschloß alle männlichen Zucht-
hausgefangenen aus dem ganzen (Großherzogtum in seinen
Mauern bergen wird, und umgekehrt, die Zellenstrafanstalt
Butzbach nur Gefängnisgefangene beherbergt. Es war das,
wie ich weiter bemerken will, entschieden ein Mangel unseres
Strafvollzugs, daß quasi unter einem Dach Zuchthausgefangene
und Gefängnisgefangene verwahrt wurden. Es war dann außer-
ordentlich schwer, die Differenzierung herauszubekommen, die
der Gesetzgeber bei der Schaffung der beiden Strafarten ge-
wünscht und vorausgesetzt hat.
Es wird aber weiter das Mainzer Gefängnis umgebaut in
eine Weiberstrafanstalt, und das Darmstädter Gefängnis ganz
aufgehoben; wir werden also in Butzbach und Marienschloß
Zentralstellen des Strafvollzugs bekommen, die unendlich viel
mehr 'bieten, als viele vorzüglich geleitete Strafanstalten in
Preußen und anderen großen Bundesstaaten Deutschlands. Die
beiden Strafanstalten werden dann namentlich in der Lage
sein, sowohl Einzelhaft wie Gemeinschaftshaft zu vollziehen,
werden in der Lage sein, bei Prüfung des Materials, das ihnen
zugewiesen wird, auf das allersorgfältigste zu individualisieren,
und werden so namentlich einer Gefahr wirksam begegnen
können, die sich in der Zellenstrafanstalt wiederholt bemerkbar
gemacht hat, der Gefahr der Psychosen, die herbei-
geführt wird durch die Einwirkung der Einzelhaft.
9%
2 NÖ o
Ich sagte schon: es fragt sich, ob der nächste Winter
der geeignete Zeitpunkt sein wird, um solche Gefängniskurse,
wie sie von beiden Herren gewünscht werden, einzuführen.
Ich möchte fast glauben, daß es richtiger wäre, wenn wir
warten, bis die Neuordnung der Verhältnisse eingetreten ist,
und bis auch die beiden Direktoren sich an diese Neuordnung
gewöhnt und entsprechende Erfahrungen gesammelt haben.
Dann kann aber ohne weiteres mit solchen Kursen begonnen
werden, und bis dahin wird auch hoffentlich schon bei der
Hochschule eine Anregung Erfolg gehabt haben, die dahin geht,
die Gefängniswissenschaft in irgend einer Form in
den Studienplan mit einzufügen. Ob es soweit kommen
wird, daß die Gefängniswissenschaft als ein Examensgegenstand
bezeichnet wird, das möchte ich noch bezweifeln. Die Herren
Studenten müssen bereits so außerordentlich Vieles zum Examen
sich einprägen, daß jede Erweiterung des Gebietes jedenfalls
mit einer gewissen Skepsis wird betrachtet werden müssen.
Es kommt auch dabei in Betracht, daß ja auch der studierende
Jurist nicht immer die Zukunft des Beamten im Auge hat,
insbesondere nicht des richterlichen oder des Anstaltsbeamten,
sondern ein großer Prozentsatz von Studierenden wird dem-
nächst in die Praxis übertreten, als Rechtsanwälte, Bank- oder
Eisenbahnbeamte, Regierungsbeamte usw. Für die Rechtsan-
wälte hat es gewiß ein großes Interesse, den Strafvollzug
kennen zu lernen, aber für Verwaltungsbeamte, für Herren,
die später im Bankwesen arbeiten, wird die Prüfung in der
Gefängniswissenschaft nutzlos sein; sie wird nichts schaden,
aber durch die Zeit, die darauf verwendet werden muß, ihr
Studium doch entsprechend belasten.
Nun, das sind Fragen, über die sich die Fakultät schlüssig
machen muß und die zunächst sie interessieren. Im großen
ganzen begrüße ıch die Einrichtung solcher Gefängniskurse
mit Freude, und die Erfolge, die in anderen Bundesstaaten da-
mit erzielt worden sind, lassen hoffen, daß auch bei uns, wenn
die Kurse entsprechend eingerichtet werden, und wenn uns von
der Regierung mit dem nötigen Nachdruck dabei zur Seite
getreten wird, sie auch eine ähnliche Belebung erfahren werden,
=a O
wie das ın anderen Bundesstaaten tatsächlich bereits der
Fall ist.
Das sind die Bemerkungen, die ich zunächst einmal machen
wollte. Ich eröffne nun die Diskussion.
' Direktor Clement: Zu der Frage, ob die zweimonatigen
Kurse beizubehalten wären neben dem allgemeinen Kursus,
der von der Vereinigung angestrebt wird, möchte ich folgendes
bemerken.
Ich glaube, daß die Frage zu bejahen ist; ich halte es für
notwendig, daß die zweimonatigen Kurse beibehalten werden.
Aber ich glaube, die dazu berufenen Organe werden vorsichtig
sein müssen bei der Auswahl der Leute, die an den zwei-
monatigen Kursen gegen Entgelt teilnehmen sollen. Man wird
von vornherein prüfen müssen: hat es Zweck, die Leute in
dieser intensiven Weise ausbilden zu lassen? Sind die Leute
ihrer Persönlichkeit nach veranlagt, demnächst einen Straf-
anstaltsdirektor zu vertreten oder zu ersetzen, haben sie
hinreichenden Blick für das praktische Leben, um das später
tun zu können? Wenn man so vorgeht, so wird die Zahl
derjenigen Herren, die einen zweimonatigen Kursus absol-
vieren, nicht allzugroß sein; die Kosten werden nicht zu groß
sen, und der Gewinn wird der gleiche . bleiben, während
andererseits gerade die allgemeinen Kurse, die die Vereinigung
im Auge hat, der Rechtsprechung zu gute kommen sollen, und
den Vorstehern der kleinen Gefängnisse, namentlich den Amts-
richtern und Oberamtsrichtern, die den Strafvollzug in den
Haftlokalen zu leiten haben.
Vorsitzender: Ich glaube wohl, daß man sich damit
einverstanden erklären kann. Ich möchte nur nochmals be-
tonen, daß bis jetzt nur überhaupt ein einziger Herr da war,
der von diesen Kursen Gebrauch gemacht hat. Es ist das sehr
bedauernswert. Wir haben selbstverständlich schon bei der
Anmeldung darauf Rücksicht genommen, nur solche Persön-
lichkeiten zuzulassen, von denen wir nach Maßgabe ihrer
ganzen Antecedenzien annehmen konnten, daß sie für den
Strafvollzug die entsprechende Befähigung besitzen. Ich kann
— 29 —_
auch sagen, daß manchmal eifrige junge Assessoren zu mir
auf das Bureau gekommen sind, und fragten, wie es mit den
Kursen stehe, ob man zugelassen werden könnte, und daß
Einzelnen, die übrigens nur oberflächliches Interesse gezeigt
hatten, von vornherein abgewinkt wurde, weil ich sie für
durchaus ungeeignet hielt. Also ich gebe zu, der Hinterge-
danke, von dem ich vorhin sprach, hat allerdings in Bezug
auf die Auswahl der Persönlichkeiten eine gewisse Rolle ge-
spielt; aber bis jetzt war von einer Auswahl eigentlich gar
nicht die Rede, weil nur ein einziger mit der ernsten Absicht,
den Kursus mitzumachen, sich gemeldet hatte.
Was die innere Einrichtung des Kursus anbelangt, so
wird das Sache der Praxis sein. Es ist sehr schwer, vorerst
schon eine Art Programm für einen derartigen Kursus zu ent-
werfen, das muß der betreffende Strafanstaltsdirektor. der den
Kursus leitet, zunächst am grünen Tisch mit sich selber aus-
machen, muß ganz genau überlegen, in welcher Weise er die
Zeit ausfüllt, muß auch namentlich diejenigen Persönlichkeiten
zu interessieren suchen, die bei den Vorträgen, die dort ge-
halten werden müssen, sich beteiligen. Vorträge müssen, ja
gehalten werden, wenn auch nicht in dem großen Umfange,
wie in solchen Staaten, wo hauptsächlich Amtsrichter, Staats-
anwälte usw. teilnehmen, wo eine Universitätsvorbereitung
noch gar nicht stattgefunden hat. Vorträge müssen gehalten
werden, nicht nur von dem Direktor, von dem Geistlichen,
von dem Arzt; das sind alles Dinge der näheren Ausarbeitung,
die wir in unserem Kreise kaum entscheiden können, bei denen
natürlich auch die Regierung ein gewichtiges Wort mitzureden
hat. Denn darüber kann kein Zweifel bestehen, ohne eine
sehr nachhaltige Unterstützung der Regierung, und zwar finan-
zielle Unterstützung, können wir den Gedanken überhaupt
nicht in die Tat umsetzen; das ist undenkbar. Ich nehme an, ein
Amtsrichter möchte an einem zwölftägigen Kursus teilnehmen;
er muß vertreten werden. Geschieht das während der Gerichts-
ferien, so wird die Frage keine Schwierigkeiten machen; ge-
schieht es aber außerhalb der Gerichtsferien, so kann die
Frage erwachsen, ob ein Vertreter eingestellt werden mub,
und ebenso ist es bei Amtsanwälten, Staatsanwälten usw.
— 923 —
Auch wird die Zahl derjenigen, die bereit sind, hierher
zu gehen, ohne daß eine Vergütung geleistet wird, nicht zu
groß sein. Es kann sein, daß ich in dieser Beziehung schwärzer
sehe, als sich durch die Tatsachen rechtfertigen wird; aber zu-
nächst wird man diese Möglichkeit zweifellos mit in Betracht
ziehen müssen. Wenn auch das Großherzogtum klein ist, so
gibt es doch bei uns Entfernungen, die mit erheblichen Reise-
kosten verbunden sind, die nieht jeder gern trägt. Ich nehme
an, es will ein Amtsrichter in Wöllstein an dem Kursus in
Butzbach teilnehmen, so hat der eine recht weite Reise zu
machen. Das sind Dinge der näheren Ausarbeitung, die wir
noch überlegen müssen. Aber der Grundgedanke, der heute
zum Ausdruck gebracht worden ist, berührt ungemein sym-
pathisch, und ich glaube, wir sollten uns festlegen auf die
Thesen, die von Herrn Professor Mittermaier aufgestellt
worden sind, vielleicht mit der einzigen Abschwächung, daß
ein gewisser Spielraum gelassen wird, indem man sagt: zehn
bis vierzehn Tage.
Was den Ausschluß der Referendare betrifft, so möchte
ich mich fast dafür aussprechen. Die drei Jahre der Refe-
rendarzeit sind so ausgefüllt durch die verschiedenen Akzesse,
wie man es früher genannt hat, weiter bei den Militärtaug-
lichen durch militärische Übungen, die fortwährend die Zeit
verkürzen, daß ich es nicht für zweckmäßig halte, Referendare
auch zu diesen Kursen heranzuziehen, namentlich wenn man
bedenkt, daß diese Herren zunächst alles aufwenden müssen,
um die eigentliche juristisch-technische Praxis zu bewältigen.
Ich meine, es wäre richtiger, wenn wir als Vorbedingung für
die Teilnehmer an den Kursen die Absolvierung der Staats-
prüfung ansetzen, dann natürlich auch weitergehen und nicht
bloß Assessoren, sondern auch angestellte Richter und Staats-
anwälte zu den Kursen einladen.
Oberstaatsanwalt Theobald: Ich möchte mich dem Vor-
schlag des Herrn Direktor Clement anschließen, daß durch
die geplante Einrichtung von vierzehntägigen, für weitere
Kreise des Juristenstandes bestimmten Kursen die bestehende
Einrichtung, wonach Gerichtsassessoren gegen Gewährung einer
Vergütung, Kurse von zweimonatiger Dauer in der Anstalt
durchmachen, nicht beseitigt wird. Die Beibehaltung eines
solchen Kursus ist schon um deswillen notwendig, weil die
kurze Zeit von zwölf bis vierzehn Tagen zur Vorbereitung für
das Amt eines Gefängnisbeamten zweifellos viel zu kurz ist.
Wer selbst mit dem Gefängniswesen zu tun hat, der weiß, auf
wie zahlreiche Dinge es da ankommt, die man nicht im Hand-
umdrehen lernen kann, daß vielmehr eine Tätigkeit von Monaten,
ich möchte fast sagen von Jahren notwendig ist, um alles,
worauf es ankommt, richtig erfassen zu lernen. Jedem Ge-
fängnisbeamten kommt es fast täglich vor, daß er Dinge sieht,
die nicht in Ordnung sind, die er früher nicht beachtete, auf
die er aus Anlaß eines Einzelfalles aufmerksam wird, und die
nun den Gegenstand seines Nachdenkens bilden. Ich glaube
also, daß schon aus diesem Grunde die sehr wohltätige be-
stehende Einrichtung nicht aufgehoben werden sollte.
Das Wort hatte ich eigentlich ergriffen, um zum Ausdruck
zu bringen, daß meiner Ansicht nach das harte Urteil, das
von zwei Vorrednern über die Interesselosigkeit der jüngeren
Juristen in Bezug auf Gefängniswesen ausgesprochen worden
ist, doch in diesem Maße wohl nicht begründet ist. Es ist
von dem Herrn Generalstaatsanwalt in seiner letzten Ausfüh-
rung die zuerst aufgestellte Behauptung, daß nur ein einziger
sich bereit erklärt habe, einen Kursus durchzumachen, bereits
eingeschränkt worden dahin, daß eine Reihe anderer sich ge-
meldet haben, die aber zurückgewiesen wurden. Ich weiß das
wenigstens von einem Herrn, den ich selber veranlaßt habe,
sich zu melden, der das auch getan hat, der die ernstliche
Absicht hatte, sich auszubilden, den Kursus durchzumachen,
der aber nicht angenommen wurde. Ich glaube, gerade der
Umstand, daß nicht alle zugelassen werden, veranlaßt einen
- oder den anderen, davon abzusehen, weil er sich einer Zurück-
weisung nicht aussetzen will. Ich erkenne vollständig als
berechtigt an, daß eine Auswahl getroffen wird, aber der Um-
stand trägt doch dazu bei, daß die Zalıl der sich Meldenden
geringer sein wird. Es kommt vielleicht auch dazu, daß die
Einrichtung noch nicht genügend bekannt ist, und deshalb sich
manche nicht melden, die, wenn sie aufmerksam gemacht
ie: O5 s
würden, das tun würden. Ich möchte deshalb den Herren
Kollegen empfehlen, daß sie Assessoren, die frei sind, keine
Verwendung fanden, auf diese Einrichtung hinweisen, nament-
lich solche, von denen man annimmt, daß sie sich eignen, um
unter Umständen als Vertreter eines Gefängnisbeamten zu
fungieren.
Auch was Herr Direktor Clement in Bezug auf die Inter-
esselosigkeit der Studierenden gesagt hat, möchte ich nicht
vollständig unterschreiben. Es wäre doch möglich, daß dieses
eigentümliche Verhalten nicht ausschließlich auf Interesselosig-
keit zurückzuführen wäre, sondern auch auf eine gewisse Be-
scheidenheit und Rücksichtnahme auf die Beamten des Gefäng-
nisses; daß so ein junger Mann denkt: wenn ich da stunden-
lang in der Anstalt herumgehe, so behellige und belästige ich
die Beamten, das ist mir peinlich. Ich kann versichern, daß
ich oft in ähnlicher Lage gewesen bin. Ich habe oft Gelegen-
heit, dienstlich in eine Klinik für psychische und nervöse Krank-
heiten zu kommen; die Herren sind sehr liebenswürdig, er-
klären sich bereit, mich herumzuführen, ich habe von jeher
für die Einrichtungen und die Personen, die dort untergebracht
sind, großes Interesse, und nehme diese bereitwillige Aufforde-
rung, die einzelnen Kranken zu besuchen, mit großer Freude
dankbar an. Aber es kommt mir doch oft der Gedanke: darfst
du die Güte der Herren noch länger in Anspruch nehmen?
sie haben ihre Arbeiten zu tun, und da denke ich, ich darf
meine Anwesenheit nicht allzulange ausdehnen, und entferne
mich manchmal, wenn ich auch Interesse daran hätte, einen
oder den anderen, der dort untergebracht ist und verpflegt
wird, genauer anzusehen, oder eine oder die andere Einrich-
tung mir zeigen zu lassen. In viel höherem Maße mag das
bei jüngeren Herren der Full sein. Ich habe die feste Über-
zeugung, wenn bekannt gemacht würde: an dem ersten eines
jeden Monats, vormittags neun bis zwölf Uhr, kann die Anstalt
von jungen oder älteren Juristen, und überhaupt von Inter-
essenten, die sich als solche legitimieren, besichtigt werden,
so würden Besucher aus dem ganzen Lande in großer Zahl
kommen und von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Mir
ist es’schon oft begegnet, daß ich gefragt worden bin: be-
— 4% —
suchen Sie die Anstalt? Kann ich mich vielleicht anschließen,
oder wie kann man das machen? Man nimmt also an, die
Anstalt wird nur ausnahmsweise zur Besichtigung geöffnet,
und die Gelegenheit findet sich nicht, so unterbleibt es. Ich
glaube, daß wir doch nicht zu hart über die Interesselosig-
keit urteilen dürfen, und daß, wenn entsprechende Anregung
undBekanntmachung erfolgen, man auch davon Gebrauch machen
wird.
Geheimrat Neidhart: Ich möchte darauf hinweisen, daß
nicht nur Juristen, sondern auch Männer anderer Berufskreise
ein Interesse an der Kenntnisnahme dieser Anstalten haben
können; es gilt das insbesondere von den Ärzten. Wir haben
zwar im Großherzogtum nur einen Arzt, der im Hauptberuf
Gefängnisarzt ist, wir haben aber eine Reihe von Ärzten, sämt-
liche Kreisärzte, die auch als Gefängnisärzte fungieren; auch
Ärzte, die an psychiatrischen Anstalten tätig sind, würden wohl
gern von den Einrichtungen im Gefängniswesen Kenntnis
nehmen. Ich möchte also bitten, wenn die neue Einrichtung
getroffen wird, daß es freigelassen werde, unter Umständen
auch Ärzte daran teilnehmen zu lassen.
Wenn gesagt wurde, daß die Kenntnis des Gefängniswesens
keinen Gegenstand der Prüfung bilde, so möchte ich hinzu-
fügen, daß es im Ärztestaatsexamen allerdings einen Prüfungs-
gegenstand bildet. Für das schriftliche Examen ist eine Reihe
Fragen vorhanden, die sich auf das Gefängniswesen beziehen.
Eine gewisse Kenntnis der Gefängniseinrichtungen wird bei
den beamteten Ärzten vorausgesetzt.
Vorsitzender: Ich glaube, wenn wir nunmehr zu einer
Beschlußfassung übergehen wollen über die Thesen, die Herr
Professor Mittermaier aufgestellt hat, so müssen wir zu-
nächst uns schlüssig machen über die Vorfragen, ob unter den
Interessenten, die an den Kursen eventuell teilnehmen sollen,
die Referendare eingeschlossen werden oder nicht, und weiter
die Erweiterung, die Herr Geheimrat Neidhart eben vorge-
schlagen hat, daß nämlich auch Ärzte teilnehmen sollen. Nur
. möchte ich Herrn Geheimrat Neidhart bitten, das Wort
„Ärzte“ näher zu präzisieren. Meinen Sie alle diejenigen
ER,
Ärzte, die das Staatsexamen gemacht haben, oder nur ange-
stellte Kreisärzte ?
Geheimrat Neidhart: Alle Aspiranten für eine Tätigkeit
im Staatsdienst.
Vorsitzender: Also mit anderen Worten, solche, die
das Staatsexamen gemacht haben, oder beamtete Ärzte. (Zu-
stimmung.)
Was die Bezahlung betrifft, so habe ich mir eigentlich ge-
dacht, daß ein Ersatz der Reisekosten sicher gewährt werden
könnte. Die Reisekosten sind allerdings in vielen Fällen, wenn
es sich z. B. um eine Reise von Gießen nach Butzbach handelt,
so minimal, daß mancher deshalb kaum einen Federstrich wird
tun wollen.
Es wird sich fragen, welche weitere Vergütung geleistet
werden soll. Soll sie geleistet werden in Form eines normalen
Tagegeldes? Das wird wohl schwerlich von der Regierung
akzeptiert werden. Oder soll man eine bestimmte Summe fest-
setzen. i
Wenn man Ärzte zulassen will, so wird es wohl richtig
sein, die Beteiligung auf beamtete Ärzte zu beschränken, nicht
auch auf solche zu erstrecken, die das Physikatexamen ge-
macht haben, aber noch nicht beamtete Ärzte sind.
Geheimrat Neidhart: Wenn man beamtete Ärzte zu-
zieht, so werden diese nach Analogie der Medizinalbeamten-
kurse täglich 10 M. erhalten.
Es sind das ja Interessen der verschiedenen Ministerien.
Ein Ausweg wäre wohl der: man läßt zu sämtliche Ärzte, die
entweder beamtete Ärzte sind, oder die Qualifikation für eine
beamtete Arztstelle erworben haben. Diejenigen, die beamtete
Ärzte sind, werden Vergütung erhalten; diejenigen, die nicht
beamtete Ärzte sind, müssen freiwillig kommen.
Vorsitzender: Ich glaube, daß dem Vorschlage des
Herrn Geheimrat Neidhart zugestimmt werden kann. Es
wird sich also nur noch fragen, ob man Referendare zuläßt
oder nicht.
— 28 —
Herr Balser: Ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, daß
in Mainz seither schon geschehen ist, was geschehen konnte,
indem die Herren Referendare, soweit sie bei der Staats-
anwaltschaft beschäftigt waren, in dem Gefängnisdienst einen
achttägigen Kursus durchmachen mußten. Herr Oberstaats-
anwalt Schmidt, jetzt Reichsgerichtsrat in Leipzig, hat großen
Wert darauf gelegt, die Herren mit Arbeiten beauftragt, und
es sind recht gute Arbeiten von ihnen geliefert worden. Viel-
leicht könnte man den Ausweg finden, daß man nicht grund-
sätzlich die Tätigkeit der Referendare ausschließt, aber immer-
hin sie als Ausnahme betrachtet. Ich glaube auch aus den
Thesen des Herrn Professor Mittermaier das herausgehört
zu haben.
Professor Mittermaier: Ich dachte das so, daß etwa in
den drei Städten Mainz, Gießen und Darmstadt in diesem
Winter vierzehntägig am Samstagabend Vortragskurse gehalten
werden, von dem Herrn Öberstaatsanwalt und von anderen
Juristen, die mit der Sache beschäftigt sind; ich kann das in
Gießen das eine oder andere Mal auch tun, oder Herr Land-
richter Privatdozent Dr. Friedrich wird sich der Sache unter-
ziehen; dann auch von Ärzten, die an den Strafanstalten in
Mainz, Gießen und Darmstadt tätig sind; daß in den einzelnen
Provinzen die Herren, die sich für die Sache interessieren, alle
vierzehn Tage einmal zusammenkommen, und auf diese Weise
eine Vorbereitung erzielt wird, so lange wir auf der Universität
noch nicht in der Lage sind, das zu tun. Wenn wir auch
selbst an der Universität es tun, so können die Herren, die
jetzt an der Universität hören, doch erst in fünf oder sechs
Jahren in die Kurse kommen; die Herren, die jetzt schon mit-
machen wollen, können davon noch keine Vorteile ziehen.
Deswegen dachte ich, daß man zuerst einen Versuch in. dieser
Weise einrichtete. Ich glaube, das sollte nicht zu schwierig
sein; es wäre eine schöne Aufgabe für unsere Vereinigung,
die damit auf eine neue Bahn gelenkt würde.
Vorsitzender: Ich glaube doch, daß es praktisch
nicht einfach ist. Wenn wir eine theoretische Vorbildung auf
der Universität als wünschenswert bezeichnen, so müßten wir
a 19 —
eigentlich zu dem Schluß kommen, daß diese theoretische Vorbil-
dung die Voraussetzung des demnächst sich anschließenden Kursus
sein müßte; und ich glaube nicht, daß es leicht sein wird, eine
solche theoretische Vorbildung in den drei Provinzialstädten
derart einzurichten. Wenn Sie an Richter, Staatsanwälte usw.
denken, so sind die nicht immer so leicht zu haben. Der
Staatsanwalt sitzt ja am Platze, aber denken Sie an die Aınts-
richter. Ich meine, man sollte den Wunsch aussprechen, daß
eine theoretische Vorbildung in der Gefängniskunde demnächst
auch auf der Universität eingeführt wird, sollte aber davon
unabhängig die Kurse ins Auge fassen, die wir vorhin be-
sprochen haben.
Nach einigen auf die Redaktion der Thesen sich be-
ziehenden Bemerkungen formeller. Natur wird folgende Reso-
lution genehmigt:
1. Die Einführung von Gefängnislehrkursen in Hessen ist
dringend erwünscht, um die Juristen und zum Staatsdienst
bestimmten Ärzte mit der Bedeutung der Strafe, dem Ver-
brecher und dem Wesen des Verbrechens vertraut zu machen.
2. Solche Kurse lassen sich ohne zu große Schwierig-
keiten einführen, ihre Einrichtung bedarf aber der Unterstütz-
ung und Mitwirkung des Großh. Ministeriums der Justiz.
3. Erstrebenswert sind:
a) Eine theoretische Vorbildung in der Gefängniskunde.
b) Alljährliche 10—14 Tage währende praktische Kurse
an den großen Strafanstalten Butzbach und Marien-
schloß für höchstens 20 Teilnehmer aus den Kreisen
der Richter, Assessoren, Staatsanwälte, Gerichts-
assessoren, Rechtsanwälte, Referendare, beamteten
Ärzte oder solchen, die das Staatsexamen abgelegt
haben. |
Die Versammlung beschließt, der Vorstand wolle Schritte
tun, um die theoretische Vorbildung schon im Winter 1906/7,
den ersten Gefängnislehrkursus im Laufe des Jahres 1907 ein-
zurichten. '
III. Die Tätigkeit des
medizinischen, im Besonderen des psychiatrischen
Sachverständigen vor Gericht.
1. Professor Dr. Mittermaier:
M. H.! Wir haben Ihnen die Frage vorgelegt, und sie ist uns
von anderer Seite nahe gelegt worden: „Wie soll der Sach-
verständige, insbesondere der medizinische und ganz besonders
der psychiatrische Sachverständige dem Richter gegenüber-
stehen, nicht nur auf dem Gebiete der Strafjustiz, sondern
auch im Zivil- und im Entmündigungsverfahren?“
Wenn wir uns diese Frage stellen, so scheint sie recht
wenig zu enthalten, was für uns praktisch von akutem Inter-
esse wäre! Aber einiges Nachdenken zeigt uns, daßj die
Frage eine Reihe von überaus interessanten Punkten enthält. Ich
will nur einen einzigen herausgreifen, um Ihnen zu zeigen,
nach welcher Seite man diese Frage bei uns auch noch an-
fassen könnte. Ich sage mir, daß in ihr eigentlich die ganze
Frage nach der richterlichen Aufgabe, nach dem Zweck und
nach der besten Einrichtung der richterlichen Tätigkeit ent-
halten ist. Die Aufgabe des Richters besteht in der Fest-
stellung eines Tatbestandes und der Anwendung eines Ge-
setzes auf denselben. In der Kenntnis des Gesetzes ist nun
heute der Richter auf sich selbst angewiesen. Und auch die
Verhältnisse des Tatbestandes, dessen technische Beziehungen.
oder die physiologischen, psychologischen, psychiatrischen Ver-
hältnisse einer Person — des Angeklagten oder zu Ent-
mündigenden — muß der Richter selbst verstehen. Wer
=’ 5 ll
einen Vorgang, ein Verhältnis des Lebens rechtlich beurteilen
will, der muß seine Bedeutung verstehen. Daher kann nie-
mals der Sachverständige derart an die Stelle des Richters
treten, daß jener bindend über die technischen Verhältnisse
eines Vorgangs, die psychiatrische Seite des Falles urteilte und
der Richter ohne Rücksicht auf sein eigenes Verständnis diesem
Urteil sich unterwerfen müßte. Gewiß wäre eine solche Tei-
lung der Aufgaben manchem erwünscht, aber das Ergebnis
wäre vermutlich ein klägliches: während sich doch heute jeder
Richter bemüht, die zu beurteilenden Verhältnisse selbst zu be-
greifen, würde er bei jener Einrichtung reiner Formalist, eine
reine Rechenmaschine werden.
Zum Zweck seiner Beurteilung muß aber auch der
Richter den Zweck, die Bedeutung des Gesetzes kennen: er
muß ganz allgemein die Verhältnisse verstehen, auf die das
Gesetz Anwendung finden soll, um einen sicheren Standpunkt
in der rechtlichen Bewertung eines Falles zu haben. So muß
er die ökonomische Bedeutung des Eigentums und Besitzes,
den Wert der Sachen kennen, um den Diebstahl richtig
würdigen zu können; der Wucher ist nur unter Kenntnis der
Lebensverhältnisse der Opfer, der Bankerott nur unter genauem
Verständnis der Handelsverhältnisse richtig zu begreifen. Eben-
so kann man den Zweck der Strafen nur begreifen, wenn man
die Psychologie der Täter, die Bedeutung innerer und äußerer
Faktoren für das Zustandekommen von Handlungen versteht.
Dasselbe gilt für die Bedeutung der Entmündigung Trunk-
süchtiger oder die Zwangserziehung. Es ist von der größten
Wichtigkeit, daß die Lehre des Rechts sich mit der Dar-
stellung der wirtschaftlichen, technischen, psychologischen Be-
deutung der Lebensverhältnisse befasse.
Kein Richter sollte an die Beurteilung eines Falles heran-
gehen, den er nicht wenigstens im allgemeinen lin seiner sozia-
len Bedeutung; würdigen kann. Jeder sollte ebenso, wie der
Gesetzgeber, von der Bedeutung der Trunksucht, der Bedeutung
der Geisteskrankheit oder der einer Verwahrlosung der Jugend
unterrichtet sein, bevor er sich auf den Richterstuhl setzt.
Insofern muß er also von vornherein sachverständigen Unter-
richt genossen haben, und ein Ideal wäre es, wenn er auf allen
— 3829 —
Gebieten menschlichen Wissens sachverständig unterrichtet wäre.
Daß wir das aber nicht sein können, daß zu dem der Richter ein
Menschenalter studieren müßte und doch nicht voll gerüstet
wäre, daß selbst Tage von 48 Stunden nicht ausreichten, das
wissen wir alle!
So tritt jeder Richter nur mit einer bescheidenen Allge-
meinkenntnis über die zu beurteilenden Vorgänge in den Ge-
richtssaal. Um aber jeden Fall so genau zu verstehen, als die
Gesetzesanwendung das erheischt, muß er sich weiter unter-
richten. Dazu hilft ihm der Sachverständige, den ich nach
dieser Erwägung am ehesten einen Lehrer des Richters in
technischen Fragen nennen möchte.
Wenn nun der Richter sich belehren läßt, wird er unter
Umständen seine Auffassung von der Bedeutung des Gesetzes
ändern müssen. Kommt er nun selbst völlig unvorbereitet,
ohne jede Grundlage für die Belehrung des Sachverständigen
zur Verhandlung, so wird er vielleicht der Belehrung gar
nicht gewachsen sein und keinen Nutzen aus ihr ziehen können,
oder er wird durch die ihn überraschende neue Kenntnis in
seiner Auffassung über die Bedeutung des Gesetzes erschüttert
werden und nun nicht mehr mit Sicherheit einen Spruch
fällen, den er voll verantworten kann. Hat umgekehrt der
Richter sich eine starre Auffassung gebildet, dann wird ihm
kein Sachverständiger helfen können.
Ich möchte danach dem Sachverständigen wohl die
Stellung des Richtergehilfen zuweisen, die ihm vielfach
gegeben wird, aber doch dabei bemerken, daß wir gerade mit
dieser Auffassung vorsichtig sein müssen. Denn sie führt
zu der Meinung, daß der Sachverständige mithilft zu richten,
d. h. verantwortlich den Tatbestand zu beurteilen. Das aber
tut er eben nicht! Er ist nicht mit dem Schöffen, Ge-
schworenen oder Handelsrichter auf eine Stufe zu stellen.
Er soll nur dem Richter die Möglichkeit bieten, daß er den
Sachverhalt richtig verstehen lerne. Zu dem Zweck legt er
dem Richter einen Erfahrungssatz aus einem besonderen Ge-
biet dar, wie das Fr. Stein in seinem vortrefflichen Buch
über „Das private Wissen des Richters‘ (Leipzig 1893) so gut
ausführt.
— 33 —
Aus dieser Auffassung ergeben sich eine Reihe von Folge-
rungen für die praktische Seite der Frage:
Einmal soll der Richter den Sachverständigen als einen
Lehrer ansehen, dem er vertraut; er soll suchen, selbst sich
unterrichten, sich Verständnis verschaffen zu lassen. Er muß
deshalb sich von dem Sachverständigen nicht nur einen Lehr-
satz sagen lassen, dem er glaubt, sondern zum Verständnis ge-
hört Überzeugung über die Grundlage des Wissens. Der
Sachverständige würde seiner Aufgabe nicht gerecht, wenn er.
nicht diese Elemente seiner Erfahrungssätze mitteilen wollte.
Danach kann auch der Satz unseres Prozeßrechts, daß der
Richter die Tätigkeit des Sachverständigen „leiten“ sollte, nur
heißen, daß er ihm mitteile, worüber er der Belehrung bedürfe.
Aber auch für ganz falsch halte ich die beliebte Praxis, vom
Sachverständigen eine bestimmte Meinung über den juristisch
wichtigen Vorgang selbst, z. B. ob der Angeklagte „zurechnungs-
fähig“ sei, zu verlangen. Das ist eine rein richterliche Auf-
gabe.
Es ist ferner für mich unzweifelhaft, daß nie ein Richter
gezwungen werden kann, Sachverständige zuzuziehen, außer
durch die Vorschrift des $ 244 Strafprozeßordnung oder durch
Vorschriften des Entmündigungsverfahrens ($ 654 Z.P.O.) und
ähnliches. Wenn Löwe-Hellweg im Kommentar zur Straf-.
prozeßordnung $ 73 Note 2 meinen, daß schon wegen der
Möglichkeit der Nachprüfung des Urteils Sachverständige wohl
zugezogen werden müßten, so ist das irrig und nach der.
ganzen Stellung des Gutachtens in unserem Prozeßrecht unbe-
greiflich. Denn da das Gutachten vom Richter frei verwertet
wird, ist es ja niemals der Gegenstand oder der Grund einer
Beschwerde. Die Löwesche Auffassung habe ich auch nirgend-.
wo sonst gefunden. Der Richter wird ja nur vom Gutachter
darüber belehrt, wie er einen schwachen Teil des Tatbestandes
betrachten solle, und es ist ganz gleichgültig, woher er diese
Fähigkeit nimmt; der Richter kann ja auch niemals zur Er-
langung. der rechten Fähigkeiten genötigt werden. — Es wärd‘
auch praktisch verkehrt, den Richter zu dieser Zuziehung zu
nötigen; er würde dann sich viel weniger bemühen, selbst đië
3
— 34 —
entsprechenden Kenntnisse sich anzueignen. Und umgekehrt hat
nur die freigesuchte Belehrung vollen Wert.
Nicht so’ ganz einfach ist die Beantwortung der Frage, ob
und wie der Richter die Qualität der Sachverständigen prüfen
solle. Von Bedeutung kann das ja nur gegenüber den von den
Parteien beigebrachten Sachverständigen sein. In dem bekannten
Plötzensee-Prozeß in Berlin 1905 erkundigte sich der Gerichts-
hof in öffentlicher Sitzung bei seinem Amtsarzt über die Be-
fähigung eines von der Verteidigung geladenen Sachverständigen.
Nun wird man es dem Richter nicht wohl absolut versagen
können, daß er solche Erkundigungen einziehe, denn er muß
wissen, von wem er seine Belehrung empfängt. Aber ganz
abgesehen von der praktischen Bedeutungslosigkeit einer solchen
Erkundigung — der Richter ist ja nie gezwungen, einem Sach-
verständigen zu glauben — und von der Taktfrage, kann man
doch auch die Erkundigung über die Befähigung des einen
Sachverständigen bei einem andern als dem Wesen und der
Wirkungsart des Gutachtens widersprechend bezeichnen.
Denn da dieses nie den Richter bindet, so kann und soll es
nur durch seine sachliche, innere Bedeutung und Überzeu-
gungskraft wirken. Jene Erkundigung aber hindert das direkt
und stellt darüber die persönliche und amtliche Autorität, die
der freien verstandesmäßigen Belehrung widerspricht. Nur
ein sachlicher Meinungsstreit mehrerer Sachkundiger kann für
berechtigt erklärt werden.
Sehr einleuchtend ist nach meiner Auffassung vom Sach-
verständigen der Rat, den Hans Groß in seinem berühmten
Handbuch für Untersuchungsrichter gibt, den Gutachter so
früh als möglich zuzuziehen, unter Umständen selbst bevor
man wisse, ob und wozu man ihn brauche Denn es ist klar,
daß von vornherein Fehler vermieden werden, wenn der
Richter mit möglichster Sachkunde dem Tatbestand gegenüber-
tritt.
Umgekehrt dürfen wir auch für den Sachverständigen ver-
langen, daß er eine gewisse Gesetzeskenntnis habe, denn wenn
er dem Richter Unterweisung dahin geben soll, wie dieser
rechtlich bedeutungsvolle Vorgänge ansieht und würdigt, so
muß er doch wissen, welche Bedeutung seine Wissenschaft für
=. 6: su
das Recht hat, z. B. muß er über den Sinn der Bestimmungen
über Zurechnungsfähigkeit oder über Entmündigung völlig im
Klaren sein. Wieviele Gutachter sind aber derart unter-
richtet?
Endlich ergibt sich aus meiner Grundauffassung auch klar,
daß der Sachverständige niemals Zeuge ist, nie mit diesem auf
einer Stufe steht; denn wenn auch der Zeuge ganz gewiß
„Schlüsse zieht“, so teilt doch nur der Sachverständige die
Obersätze der Schlüsse mit. Ja der Sachverständige braucht
gar keine Schlüsse selbst zu ziehen, er braucht auch nicht
einmal das Objekt zu kennen, für dessen Beurteilung seine
Tätigkeit, seine Belehrung gewünscht wird. Deswegen ist es
auch falsch, daß der Zeugeneid genügen soll, um ein Gut-
achten zu decken. Deswegen sind auch die heute teilweis
vertretene Meinung und der Vorschlag der Reichs-Justiz-
kommission zur Reform des Strafprozesses zu $ 79 falsch, daß
der Sachverständige auch erst nach seinem Gutachten beeidigt
werden kann; beim Zeugen kann man den Nacheid begreifen;
beim Gutachter ist er verkehrt, da der Richter doch ganz un-
möglich etwa mit der Erklärung, er traue diesem Gutachten
nicht, er verstehe es nicht, er könne es nicht verwerten,': es
sei belanglos, den Sachverständigen unbeeidigt lassen kann!
‚So wollte ich nun, m. H., zeigen, wie ich aus einer theore-
tischen Betrachtung über das Wesen des Sachverständigen zur
Betrachtung einer Reihe praktischer Fragen komme, über die
man sehr wohl sich noch klar machen, noch reden kann, über
die gerade zwischen Juristen und Gutachtern oft Meinungs-
verschiedenheiten bestehen, deren Besprechung daher sehr wohl.
zu einer leichteren Lösung ihrer gemeinschaftlichen. Aufgabe-
führen kann.
2. Oberstaatsanwalt Theobald-Giessen.
M. H.! Bei der vorgerückten Zeit will ich sofort in medias res
gehen. Siehaben schon aus dem Wortlaut der Tagesordnung ge-
sehen, daß es hier nicht unsere Aufgabe sein soll, die Lehre von
dem Sachverständigenbeweis systematisch und erschöpfend vor-
zuführen; dazu ist die Zeit nicht ausreichend; das würde auch
3%
z B6-
kaum den Zwecken dienen, für die unsere Vereinigung bestimmt
ist. Wir wollen vielmehr einzelne praktisch wichtige Fragen,
Fragen, die den Juristen wie den Mediziner interessieren, hier
herausgreifen und zum (Gegenstand der Diskussion machen,
und unsere Ausführungen sollen die Einleitung dazu sein. Ich
kann auf diese Fragen sofort eingehen, umsomehr als Herr
Professor Mittermaier von dem Standpunkt der Theorie aus:
die maßgebenden Gesichtspunkte, die in der Frage des Sach-
verständigenbeweises zu berücksichtigen sind, vorgetragen hat.
Nach der von uns vorgenommenen Verteilung des Stoffes,
will ich zunächst über die Fragen sprechen, in welchen Fällen
Sachverständige vor Gericht zuzuziehen sind, und wem die
Auswahl der Sachverständigen zusteht.
Was die erste Frage betrifft, so enthält das Gesetz da-
rüber, in welchen Fällen Sachverständige zuzuziehen
sind, keine grundsätzliche Bestimmung. Nur in einigen Fällen
ist in der Zivilprozeßordnung wie in der StrafprozeBordnung
die Zuziehung von Sachverständigen ausdrücklich vorge-
schrieben. In der Zivilprozeßordnung geschieht es in dem Ab-
schnitte von dem Verfahren in Entmündigungssachen, § 654/55.
Da heißt es, daß der zu Entmündigende persönlich unter Zu-
ziehung eines oder mehrerer Sachverständigen zu vernehmen
ist und daß die Entmündigung nicht ausgesprochen werden
darf, bevor das Gericht einen oder mehrere Sachverständige:
über den Geisteszustand des zu Entmündigenden gehört hat
Dieselbe Bestimmung gilt auch für das, die Anfechtung eines
Entmündigungsbeschlusses betreffende Verfahren vor dem
Prozeßgericht (Landgericht). Ausnahmsweise kann jedoch in
diesem Falle die Vernehmung eines Sachverständigen unter-
bleiben, wenn das vor dem Amtsgericht abgegebene Gutächten
für genügend erachtet wird. ($ 671 Abs. 2, C.P.O.)
Die Strafprozeßordnung bestimmt in den $$ 87/93, daß in
gewissen Fällen Sachverständige zugezogen werden müssen.
Es sind dies die Fälle der richterlichen Leichenschau, der
Leichenöffnung, des Giftmordes, der Münzverbrechen, und Fälle,
in denen es sich um die Ermittlung der Echtheit oder Unechtheit
eines Schriftstückes durch Schriftenvergleichung handelt. Münz-
verbrechen und Schriftenvergleichung können wir übergehen, da
— 397 —
dabei die Tätigkeit ärztlicher Sachverständiger, die uns in
erster Linie interessiert, nicht in Betracht kommt.
Hinsichtlich der Leichenschau und der Leichenöffnung be-
stimmt das Gesetz: die Leichenschau wird unter Zuziehung
eines Arztes vorgenommen; die Zuziehung kann indes unter-
bleiben, wenn sie nach dem Ermessen des Richters entbehrlich
ist. Die Leichenöffnung soll im Beisein des Richters von zwei
Ärzten, unter welchen sich ein Gerichtsarzt befinden muß, vor-
genommen werden. Demjenigen Arzt, welcher den Ver-
storbenen in der dem Tode unmittelbar vorausgegangenen
Krankheit behandelt bat, ist die Leichenöffnung nicht zu über-
tragen. Derselbe kann jedoch aufgefordert werden, der Leichen-
öffnung anzuwohnen, um aus der Krankheitsgeschichte Auf-
schlüsse zu geben.
Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so ist nach § 91
St.P.O. die Untersuchung der in der Leiche oder sonst ge-
fundenen, verdächtigen Stoffe durch einen Chemiker oder durch
eine für solche Untersuchungen bestehende Fachbehörde vor-
zunehmen. |
Diese Bestimmungen geben in einem Punkte Anlaß zu
näheren Erörterungen: Bei der Leichenschau kann, wie be-
merkt, die Zuziehung des Arztes unterbleiben, wenn sie nach
dem Ermessen des Richters entbehrlich ist. Das ist der
Grundsatz der freien Beweiswürdigung, von dem im allge-
meinen die Strafprozeßordnung beherrscht wird. Von dieser
Bestimmung, daß die Zuziehung unterbleiben kann, wird in
sehr vielen Fällen von den Gerichten Gebrauch gemacht,
namentlich in Fällen des sogenannten tragischen Ablebens.
Hiervon handelt § 157 der Strafprozeßordnung, welcher lautet:
„Sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß jemand eines
nicht natürlichen Todes gestorben ist, oder wird der Leichnam
eines Unbekannten gefunden, so sind die Polizei- und Gemeindebe-
hörden zur sofortigen Anzeige an die Staatsanwaltschaft oder
an den Amtsrichter verpflichtet. Die Beerdigung darf nur auf
Grund einer schriftlichen Genehmigung der Staatsanwaltschaft
oder des Amtsrichters erfolgen.“
In der Praxis wird in solchen Fällen in der Regel wie
folgt verfahren: Auf Anzeige der Ortspolizeibehörde schreitet
— 388 —
das Amtsgericht so bald wie möglich ein, begibt sich an Ort
und Stelle und nimmt die Leichenschau vor. Dabei geschieht
es nun häufig, daß das Gericht von der Bestimmung des Ab-
satz 2 des § 87 Gebrauch macht und einen Arzt nicht zuzieht.
Ich halte diese Praxis für verfehlt, und weil die Sache von
groBer Wichtigkeit ist, bringe ich sie hier zur Sprache.
Ich halte diese Praxis um deswillen für verfeblt, weil der
Richter, wenn er auch über eine gewisse Uebung und Er-
fahrung verfügt, in der Regel nicht in der Lage ist, alle die
Gesichtspunkte zu berücksichtigen, auf die es hierbei ankommt,
z. B. bei der Feststellung, ob jemand sich selbst das Leben
genommen, oder infolge gewaltsamer Einwirkung eines An-
deren gestorben ist. Es wird in solchen Fällen oft gesagt: „die
Sache ist so einfach, und ich besitze so viel Erfahrung, daß
ich das selbst beurteilen kann“. Es läßt sich nun zwar nicht
verkennen, daß Fälle vorkommen, in denen die Zuziehung eines
Sachverständigen keinen Zweck hat; wenn z. B. der Tod ein-
getreten ist in Gegenwart einer Reihe ganz zuverlässiger, glaub-
würdiger Zeugen. Es hat sich z. B. einer ertränkt in Gegen-
wart von einem halben Dutzend Personen, die über den Fall
Auskunft geben und sagen: Der Mann ist ins Wasser ge-
sprungen, untergegangen und alsbald tot herausgezogen worden.
Oder wenn jemand von einer Scheunentenne herunterfällt
und einen Schädelbruch erleidet, in dessen Folge alsbald der
Tod eintritt. Wenn das von einer Reihe von Zeugen bekundet
wird, kann man von der Zuziehung eines Arztes absehen. Die
große Mehrzahl der Fälle ist aber anders gelagert.
Da wird die Leiche Stunden, Tage oder Wochen nach einge-
tretenem Tode aufgefunden, und nun ist die Frage zu beant-
worten: Hat der Verstorbene sich selbst das Leben genommen,
oder liegt gewaltsamer Tod vor? Ich glaube, daß in diesen
Fällen fast ausnahmslos die Zuziehung eines sachverständigen
Arztes notwendig ist. Namentlich ist sie notwendig in den be-
sonders schwierigen Fällen, in denen der Tod durch Erhängen
eingetreten ist. Viele von uns wissen aus eigener Erfahrung,
wie schwierig es ist, in solchen Fällen festzustellen, ob Selbst-
mord vorliegt, oder das Verbrechen eines Dritten und es
sollte deshalb auch der erfahrene Richter sich nicht selbst die
Fähigkeit zutrauen, die Frage von sich aus zu ‘entscheiden,
sondern er sollte einen Sachverständigen zuziehen. Es ist
schon vorgekommen, daß solche Leichen beerdigt worden sind,
und nach einiger Zeit hat sich ein Verdacht gegen bestimmte
Personen ergeben, die Leiche ist exhumiert worden, und die
eingehende Untersuchung hat tatsächlich das Vorhandensein eines
Verbrechens nachgewiesen.
Abgesehen von solchen Fällen kommt es häufig vor, daß
nachträglich Gerüchte aufkommen in der Richtung, daß die
Sache nicht in Ordnung sei, daß eine bestimmte Person ver-
dächtigt wird, gewaltsam eingewirkt und dadurch den Tod
herbeigeführt zu haben. Wenn auch gar nichts an der Sache
ist, und kein begründeter Verdacht vorliegt, führt ein der-
artiges Gerücht doch häufig zu den größten Unannehmlich-
keiten für die beteiligten Personen und zu den größten Weite-
rungen und Auseinandersetzungen. Oft mußte die Ausgrabung
und ärztliche Untersuchung der Leiche vorgenommen werden,
um.die vollständige Grundlosigkeit des Gerüchts darzutun und
es zum Schweigen zu bringen. Hat eine ärztliche Unter-
suchung stattgefunden, ist der objektive Befund aufgenommen,
so ist allen solchen Gerüchten von vornherein der Boden ent-
zogen.
Die Gründe, die in den Fällen des tragischen Ablebens
gegen die Zuziehung des Arztes geltend gemacht werden,
haben meiner Ansicht nach keine Berechtigung. Es könnte
sich höchstens um die dadurch erwachsenden höheren Kosten
handeln. Diese sollten aber doch, selbst wenn sie höher
wären, wie sie bei uns sind, nicht in Betracht kommen bei
derartigen wichtigen Dingen. Selbst wenn sich die dadurch
veranlaßte Ausgabe [nachträglich als unnötig herausstellt,
oder.man von vornherein schon annehmen konnte, daß es nicht
nötig sei, den Arzt zuzuziehen, so ist durch die Zuziehung doch
dem indirekt öffentlichen Interesse gedient. Wie nämlich jeder
erfahrene Praktiker bestätigen wird, ist es vom größten Wert für
den Gerichtsarzt, daß er über ein großes Material verfügt, daß er
reiche Erfahrungen auf diesem Gebiete gesammelt hat. Dies
ist aber in den meisten Bezirken nur möglich, wenn er bei
jeder sich bietenden Gelegenheit zugezogen wird.
— 40 —
Abgesehen von den erwähnten, in der Zivilprozeßordnung
und der Strafprozeßordnung vorgesehenen Fällen entscheidet
darüber, ob ein Sachverständiger zuzuziehen ist, das freie
Ermessen des (Gerichts. Es ist das eine Folgerung des
Grundsatzes der freien Beweiswürdigung, die, wie gesagt, in
unserm Zivil- wie in unserm Strafprozeß herrscht und zum
Ausdruck kommt in $ 260 St.P.O. und in dem damit im
wesentlichen übereinstimmenden $ 286 C.P.O. Das Gericht
entscheidet nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhand-
lung geschöpften Überzeugung. In den Motiven zur Strafprozeß-
ordnung heißt es: „Es hat das Gesetz darüber, in welchen
Fällen Sachverständige zuzuziehen sind, so wenig Bestimmung
getroffen, wie darüber, in welchen Fällen ein Zeugen-
beweis zu erheben sei. Auch in technischen Fragen entschei-
det.die Überzeugung des Richters, und es folgt daraus, daß
er von Einholung von Gutachten absehen kann; ferner daß er
an das abgegebene Gutachten nicht gebunden ist, und daß er
bei dem Widerspruch mehrerer Gutachten ohne weiteres einem
oder dem anderen den Vorzug geben darf, wenn er eines
Obergutachtens oder einer weiteren Aufklärung nicht zu be-
dürfen glaubt.“ Auch die Rechtsprechung des Reichsgerichts
stimmt mit dieser Auffassung überein; ich glaube nur eine
kurze Stelle aus einer einzigen Entscheidung vorlesen zu
sollen, die dies dartut. Da heißt es:
„Angesichts der $$ 73 fig. St.P.O., ihres Wortlautes, wie
ihrer Motive, kann darüber kaum ein Zweifel obwalten, daß
‚das Gesetz — von einigen hier nicht in Betracht kommenden
Ausnahmefällen abgesehen — es frei in das gewissenhafte Er-
messen des Tatrichters hat stellen wollen, inwieweit er bei der
Entscheidung besondere Fachkenntnisse, wissenschaftliche Er-
fahrungen, künstlerische oder gewerbliche Übung voraus-
setzender Fragen den Sachverstand von Experten heranzuziehen
für notwendig hält oder solcher Hilfe entbehren zu können
glaubt. Der in der Literatur gelegentlich gemachte Versuch, für
sogenannte technische Fragen anderen Grundsätzen Geltung
zu verschaffen, erscheint verfehlt.“ (R. G. E. XXV. S. 327.)
Mit Recht ist indes in der Literatur darauf hingewiesen
worden, daß das Absehen von der Einholung eines Sachver-
ständigengutachtens bei technischen Fragen doch nur zu den
seltenen Ausnahmefällen gehören darf und gehören wird, und
daß der gewissenhafte Richter in derartigen Fragen sich des
Sachverständigen bedient. Nur wenn der Richter im allge-
meinen befähigt erscheint, die betreftende Frage ohne jeden
Beirat zu lösen, wird er von Zuziehung eines Sachverständigen
absehen können, nicht aber wenn die im einzelnen Falle mit-
wirkenden Richter im Besitz der erforderlichen Sachkenntnis
zu sein glauben.
Mit dem Satz, daß das freie Ermessen des Richters darüber
entscheidet, ob ein Sachverständiger zu vernehmen sei, ist nur
zum Ausdruck gebracht, daß das Gericht selbst frei darin ist,
ob es von Amts wegen einen Sachverständigen zuziehen will
oder nicht; nicht aber ist damit zum Ausdruck gebracht, daß
es grundsätzlich die Zuziehung eines Sachverständigen ablehnen
darf, auch wenn die Erhebung eines Gutachtens durch die
Prozeßbeteiligten, durch die Staatsanwaltschaft oder durch den
Angeklagten verlangt wird und der Sachverständige in den
Formen, die die Prozeßordnung vorschreibt, zu diesem Zwecke
vor Gericht geladen wird.
Maßgebend hierfür ist im Strafprozeß § 244 St.P.O. Da
heißt es:
„Die Beweisaufnahme ist auf die sämtlichen vorgeladenen
Zeugen sowie auf die anderen herbeigeschafften Beweismittel
zu erstrecken.“
In der Praxis gestaltet sich die Sache folgendermaßen.
Wenn die Staatsanwaltschaft der Ansicht ist, daß zur Be-
gründung der Anklage auf das Gutachten eines Sachverständigen
Bezug zu nehmen sei, so wird sie bereits im vorbereitenden
Verfahren das Gutachten von dem Sachverständigen erheben
oder wird, wenn eine Voruntersuchung geführt wird, bei dem
Untersuchungsrichter die Erhebung des Gutachtens in Anregung
bringen und bei Einreichung der Anklageschrift auf die Be-
gutachtung des Sachverständigen sich beziehen, und diesen zur
Hauptverhandlung laden. Das Gericht muß dann den so ge-
ladenen Sachverständigen auf Grund des $ 244 der Strafprozeß-
ordnung auch in der Hauptverhandlung vernehmen, einerlei,
E O n
ob es seine Zuziehung für notwendig oder zweckmäßig hält
oder nicht.
In gleicher oder ähnlicher Weise verhält es sich, wenn
nicht die Staatsanwaltschaft, sondern der Angeklagte sich auf
das Gutachten eines Sachverständigen beruft. Er wird seinen
Antrag vielleicht schon im Vorverfahren bei der Staatsanwaltschaft
stellen; wenn diese nicht darauf eingeht, demnächst bei dem
Vorsitzenden des Gerichts, vor dem die Sache zur Verhandlung
kommt. Wenn dann auch der Vorsitzende der Ansicht ist
den Sachverständigen nicht nötig zu haben, und die Ladung
ablehnt, so kann der Angeklagte nach $ 219 der Strafprozeb-
ordnung den Sachverständigen unmittelbar laden lassen
d. h. ihm selbst eine Ladung zustellen, die ihn verpflichtet,
vor Gericht zu erscheinen. Es kann also in dieser Weise
sowohl von dem Staatsanwalt wie namentlich von dem An-
geklagten bewirkt werden, daß ein Sachverständiger gegen
die Ansicht und gegen den Willen des Gerichts vernommen
werde. | |
Im Zusammenhang damit steht die Frage: Wem steht
die Auswahl der Sachverständigen zu? Darüber sagt
die Strafprozeßordnung in $ 73: Die Auswahl der zuzuziehen-
den Sachverständigen und die Bestimmung ihrer Anzahl erfolgt
durch den Richter. Die gleiche Bestimmung enthält für den
Zivilprozeß § 104 C.P.O. Daß |dieser Satz so, wie er da
steht und wie ich ihn verlesen habe, nicht richtig sein kann,
werden Sie schon aus dem Ergebnis unserer Betrachtungen in
Bezug auf die Frage, wann Sachverständige zu vernehmen
seien, schließen können. Wenn die Staatsanwaltschaft und
wenn der Angeklagte auch gegen die Ansicht des Gerichts
einen Sachverständigen vorladen und das Gericht zwingen
kann, diesen Sachverständigen zu vernehmen, so steht die
Auswahl über den zuzuziehenden Sachverständigen nicht unter
allen Umständen dem Gerichte zu, sondern. in diesem letzteren
Falle eben der Staatsanwaltschaft oder dem Angeklagten. Also
der Satz ist so, wie er dasteht, zweifellos nicht richtig. Die
Motive der Strafprozeßordnung begründen ihn damit, daß sie
sagen: der Sachverständige ist ein Gehilfe des Richters, des-
halb wird er von dem Richter ausgewählt — nebenbei be-
— 3 —
merkt — die einzige Stelle in den Motiven, in der man auf
die alte Theorie von der Gehilfenschaft des Sachverständigen
sich bezieht. John (Strafprozeßordnung Bd. I, S. 657) be-
zeichnet die Vorschrift als eine unschädliche Reproduktion
einer falschen Doktrin und stellt ihr den nach dem Ausge-
führten als richtig anzuerkennenden Satz entgegen: „Der
Sachverständige wird von demjenigen ausgewählt,
derihn brauchen will.“
Eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß der von Amts-
wegen zugezogene Sachverständige von dem Richter ausgewählt
werde, ist in § 73 Absatz 2 St.P.O. und übereinstimmend
damit in $ 404 Abs. 2 C.P.O. enthalten. Da heißt es:
„Sind gewisse Arten von Gutachtern und Sachver-
ständigen öffentlich bestellt, so sollen andere Personen nur dann
gewählt werden, wenn besondere Umstände es erfordern,“ eine
nicht zwingende, sondern nur instruktionelle Vorschrift, die
aber fast ausnahmslos befolgt wird.
Für uns ist von Interesse, festzustellen, welche Ärzte als
Sachverständige für gerichtliche Angelegenheiten bestellt sind.
Nach einem Amtsblatt des Großh. Ministeriums des Innern und
der Justiz, Abteilung für Öffentliche Gesundheitspflege vom
T. November 1879 sind als Sachverständige für gerichtsärzt-
liche Gutachten in Strafsachen einschließlich der Gutachten
über den Geisteszustand eines Angeschuldigten, sofern diese
nicht auf Grund der Beobachtung einer Irrenanstalt durch die
Ärzte derselben abgegeben werden sollen, öffentlich bestellt
und den Requisitionen der Gerichte und der Staatsanwälte
Folge zu leisten verpflichtet: die Kreisärzte und Kreisassistenz-
ärzte der Kreisgesundheitsämter, und diejenigen praktischen
Ärzte, welche als sogenannte zweite Gerichtsärzte zur Ver-
tretung und Assistenz der beamteten Ärzte besonders bestellt
und verpflichtet sind. Die in demselben Amtsblatt enthaltene
Regelung der Zuständigkeit der Medizinalbeamten darf ich hier
übergehen, erwähnen möchte ich aber noch die allgemeines
Interesse bietende Bestimmung, daß zur Abgabe von
gerichtsärztlichen Obergutachten als sachverständige Fach-
behörde im Sinne $ 83 Abs. 3 der Strafprozeßordnung die
= di s
Abteilung Großh. Ministeriums des Innern für öffentliche Gesund-
heitspflėge bestellt ist. | |
“Eine weitere Ausnahme von dem Grundsatz, daß die Aus-
wahl der von Amts wegen zuzuziehenden Sachverständigen
durch das Gericht erfolgt, findet sich in $ 404, Absatz 3 der
Zivilprozeßordnung. Darnach hat das Gericht, wenn sich die
Parteien über bestimmte Personen als Sachverständige einigen,
dieser Einigung Folge zu geben; das Gericht kann jedoch die
Wahl der Parteien auf eine bestimmte Anzahl beschränken.
In gewisser Hinsicht kann als eine Ausnahme von dem
angeführten Grundsatz auch die Verfügung Großh. Minis-
terıums der Justiz vom 3. Mai 1900, das Verfahren in
Entmündigungssachen betreffend (Amtsblatt Nr. 12), igelten
insofern darin empfohlen wird, als Sachverständige in erster
Linie solche Personen zuzuziehen, welche auf dem Gebiete der
Irrenheilkunde besondere Erfahrungen besitzen und, wenn solche
Personen nicht zu erreichen sind, regelmäßig den zuständigen
Kreisarzt oder dessen Vertreter als Sachverständigen zu wählen.
Was die Zahl der Sachverständigen betrifft, so soll nach
der angeführten Bestimmung der Strafprozeßordnung, in gleicher
Weise wie bei ihrer Auswahl, maßgebend sein die Verfügung
des Richters. Allein wenn es nicht richtig ist, daß die Aus-
wahl der Sachverständigen in allen Fällen durch das Gericht
erfolgt, wenn der Richter gezwungen werden kann, Sachver-
ständige, die von dem Staatsanwalt oder von dem Angeklagten
geladen sind, zu vernehmen, so bestimmt das Gericht auch
nicht unumschränkt über die Zahl der Sachverständigen.
Wortlaut und Sinn des $ 244 St.P.O. stehen dem entgegen.
Darnach ist die Beweisaufnahme auf die sämtlichen vor-
geladenen Zeugen und Sachverständigen zu erstrecken.
Es läßt sich nicht verkennen, daß mit dem damit dem Ange-
klagten gewährten Recht Mißbrauch getrieben werden kann.
Indes ist die Bestimmung nicht so zu verstehen, daß der
Angeklagte beliebige Personen und in beliebiger Zahl als Sach-
verständige laden könne, vielleicht nur zu dem Zweck, um
dadurch die Sache hinauszuziehen und eine Verurteilung zu
erschweren oder unmöglich zu machen. In solchen Fällen
könnte auf Grund der Feststellung, daß eine Verschleppung
EN ee
bezweckt ist und nicht die Absicht besteht, ein Recht des An-
geklagten zu wahren, die Vernehmung solcher Sachverständigen
zurückgewiesen werden, was auch von dem Reichsgericht als
zulässig erklärt worden ist. Es kann auch der Richter die
Sachverständigenqualität einer als Sachverständiger geladenen
Person prüfen und kann diese wegen Mangel der erforderlichen
Qualität zurückweisen. Herr Professor Mittermaier hat schon
erwähnt, daß kürzlich ein Fall vorgekommen ist (in dem Plötzen-
see-Prozeß) in dem ein anerkannter gerichtlicher Sachverständiger
über die Qualität eines von dem Angeklagten benannten Sach-
verständigen vernommen wurde. Man könnte daran denken,
daß ein solches Prüfungsrecht ausgeschlossen sei mit Rücksicht
auf den mehrfach erwähnten Paragraph 244 St.P.O. Nun,
dem Wortlaut nach allerdings; aber es unterliegt nicht dem
mindesten Zweifel, daß das Gericht nur verpflichtet ist, die-
jenigen als Sachverständige geladenen Personen zu vernehmen,
die wirklich sachverständig sind. Nicht darauf kann es an-
kommen, daß einer als Sachverständiger von dem Ange-
klagten bezeichnet wird oder sich selbst so nennt, sondern
ob er es wirklich ist, und die Entscheidung, ob diese
Voraussetzung vorliegt, ob die dem Gericht vorgeführten
Personen wirklich sachverständig sind, kann selbstverständlich
nur dem Richter zustehen. Welche Mittel nunmehr das Gericht
anwendet, um diese Frage zu entscheiden, muß ihm selbst
überlassen bleiben, und ich möchte der Ansicht des Herrn
Professor Mittermaier nicht beipflichten, daß es unzulässig sei,
darüber einen anerkannten, dem Gericht bekannten, bewährten
Sachverständigen zu hören. Es könnte doch schließlich vor-
kommen, daß ein wildfremder Mensch als Sachverständiger,
vorgeführt wird, von dem das Gericht nicht weiß, wer er ist,
ob er die Vorkenntnisse besitzt, die notwendig sind, um als
Sachverständiger zu fungieren, ob er die Fachkenntnisse be-
sitzt, die vielfach erst durch eine besondere, wissenschaftliche
Tätigkeit. erworben werden und die ihn befähigen, ein Gut-
achten abzugeben. . Die Möglichkeit, diese Fragen zu prüfen,
muß gegeben sein. Die Prüfung wird unter Umständen in der.
Weise eintreten können, daß das Gericht sich befragt über den
Studiengang der betreffenden Persönlichkeit, über sein Vorleben
z de =
und sich darüber vergewissert, ob die erforderlichen Kenntnisse
vorhanden sind. Wenn das Gericht nicht in der Lage ist, dies
von sich aus festzustellen, so glaube ich nicht, daß es gehindert
ist, einen anerkannten Sachverständigen zuzuziehen und diesen
mit der erforderlichen Prüfung und Untersuchung zu betrauen.
In der Praxis sind diese Fälle äußerst selten. Mir ist aus
unserem Großherzogtum nicht ein einziger solcher Fall bekannt
geworden. Wohl sind Fälle vorgekommen, in denen die Sach-
verständigen-Qualität bezweifelt worden ist, aber schließlich ist
es, ohne daß Weiterungen entstanden wären, zur Vernehmung
der betreffenden als Sachverständige benannten Personen ge-
kommen. Die Gerichte tun m. E. auch gut daran, wenn sie
bei der Zulassung von Sachverständigen nicht allzustreng ver-
fahren, weil die Prüfung, ob Jemand wirklich sachverständig
ist, in der Regel zu großen Weitläufigkeiten führt, unter Um-
ständen eine Aussetzung der Verhandlungen notwendig macht
und große Kosten verursacht. Im Laufe der Vernehmung der
betreffenden Person wird sich ja in’ der Regel bald heraus-
stellen, wes Geistes Kind sie ist. Der einigermaßen erfahrene
Richter wird bald merken, ob die Person Sachverständnis be-
sitzt. Das Gericht ist auch in der Lage, einen anderen Sach-
‚verständigen über das Gutachten des unbekannten Sachver-
ständigen zu vernehmen, und vor allen Dingen ist es nicht ge-
zwungen, das Gutachten des angeblich Sachverständigen, dessen
Sachkenntnis es bezweifelt, seiner Entscheidung zu Grunde zu
legen. Solche Gutachten werden keinesfalls die Beweiskraft
anderer entgegenstehender Gutachten anerkannter Sachver-
ständiger wesentlich abschwächen können.
Nach diesen Grundsätzen würde es sich auch entscheiden,
ob ein praktischer Arzt, der als psychiatrischer Sachverständiger
geladen wird, als solcher zuzulassen sei. Es ist im einzelnen
Falle zu prüfen, ob er die erforderliche Fachkenntnis besitzt,
und wenn man auf die angegebene Weise dies feststellt, so
wird er als Sachverständiger nicht zurückgewiesen werden
können. Allgemeine Regeln lassen sich darüber nicht aufstellen,
man kann weder sagen: ein praktischer Arzt kann nicht als
psychiatrischer Sachverständiger fungieren, noch kann man den
gegenteiligen Satz aufstellen. Das Gesetz gibt keinen Anhalt,
ze AT
welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um die Qualität
als Sachverständiger anzunehmen. Nach allgemeinen Grund-
sätzen müssen nur gewisse Fachkenntnisse vorhanden sein, die-
durch eine spezialwissenschaftliche Tätigkeit oder eine künst-
lerische oder gewerbliche Übung erlangt sind und die den
Betreffenden befähigen, ein Gutachten abzugeben. Ob diese
Voraussetzungen gegeben sind, unterliegt im einzelnen Falle
der Entscheidung des Gerichts. |
Eine weitere hier zu erörternde Frage ist die, in welchen
Fällen eine Verpflichtung besteht, als Sachverstän-
diger tätig zu werden. Darüber bestimmt $ 75 der Straf-
prozeßordnung in Übereinstimmung mit § 407 der Zivilprozeß-
ordnung folgendes:
„Der zum Sachverständigen Ernannte hat der Ernennung
Folge zu leisten, wenn er zur Erstattung von Gutachten der
erforderlichen Art öffentlich bestellt ist* — das würde für die
Gerichtsärzte zutreffen —, „oder wenn er die Wissenschaft,
die Kunst oder das Gewerbe, deren Kenntnis Voraussetzung
der Begutachtung ist, öffentlich zum Erwerb ausübt“ — das
trifft die praktischen Ärzte —, „oder wenn er zur Ausübung der-
selben öffentlich bestellt oder ermächtigt ist“ — das wird z. B.
auf die Professoren an der Universität zutreffen.
Von diesem Grundsatz gibt es verschiedene Ausnahmen
Die Gründe nämlich, die den Zeugen berechtigen, das Zeugnis
zu verweigern, berechtigen auch den Sachverständigen, die
Abgabe des Gutachtens zu verweigern. Hier kommen haupt-
sächlich in Betracht: verwandtschaftliche und schwägerschaft-
liche Beziehungen zu dem Angeklagten oder den Parteien und
die Fälle, in denen jemand Kraft eines Amtes oder Berufs
verpflichtet ist, das, was ihm bei Ausübung desselben anver-
traut ist, zu bewahren, was namentlich für Ärzte von großer
Bedeutung ist. Endlich müssen öffentliche Beamte über Um-
stände Schweigen beobachten, auf welche sich ihre Pflicht. zur
Amtsverschwiegenheit bezieht, sofern sie nicht von ihrer vor-
gesetzten Behörde von der Pflicht zur Verschwiegenheit ent-
bunden sind.
Nach § 76 St.P.O. und $ 408 Z.P.O. kann auch aus
anderen Gründen ein Sachverständiger von der Verpflich-
— 48 —
tung zur Erstattung des Gutachtens entbunden werden. Welches
diese Gründe sind, ist im Gesetz nicht gesagt; die Bestimmung
beruht aber unbestritten auf der Erwägung, daß es in vielen
Fällen eine Härte wäre, einen Sachverständigen zu zwingen,
ein Gutachten abzugeben, eine Härte um deswillen, weil er
z.B. mit Arbeiten überhäuft ist und vielleicht seine Gesund-
heit schädigen, oder weil es ihm erhebliche pekuniäre Nach-
teile bereiten würde, wenn er sich längere Zeit, vielleicht
Tage oder Wochen, mit der Vorbereitung und Erstattung eines
Gutachtens befassen und darüber seine Berufsgeschäfte ver-
nachlässigen müßte. In solchen Fällen ist das Gericht berech-
tigt, den Sachverständigen von der Erstattung des Gutachtens
zu entbinden.
Dies gilt auch für die Fälle, in denen der Saive
von dem Angeklagten auf Grund des § 219 St.P.O. unmittel-
bar geladen worden ist. Denn das dem Angeklagten durch
diese Bestimmung gewährte Recht kann nicht soweit gehen,
daß dadurch Interessen des Sachverständigen, die von dem
Gesetz im Fall seiner amtlichen Zuziehung als Be an-
erkannt sind, beeinträchtigt werden.
Eine weitere Ausnahme von der Verpflichtung zur Sach-
verständigentätigkeit ist in $ 76, Absatz 2 St.P.O. und $ 408,
Absatz 2 Z.P.O. enthalten:
„Die Vernehmung eines öffentlichen Beamten als Sach-
verständigen findet nicht statt, wenn die vorgesetzte Behörde
des Beamten erklärt, daß die Vernehmung den dienstlichen
Interessen Nachteile bereiten würde.“
Hier ist es nicht die Wahrung des Amtsgeheimnisses,
worauf sich diese Bestimmung gründet, sondern hauptsächlich
die Erwägung, daß ein Beamter, der vielleicht wegen seiner
besonderen Kenntnisse, Fähigkeiten und praktischen Erfahrung
mit Vorliebe als Sachverständiger benannt wird, seinem Dienst
allzusehr entzogen werden könnte, wenn er fortgesetzt mit
Erstattung von Gutachten belastet würde. Im solchen Fällen
kann die vorgesetzte Behörde im dienstlichen Interesse be-
stimmen, daß der Beamte nicht als Sachverständiger zu ver-
nehmen ist. Der Fall unterscheidet sich von dem vorgenannten
dadurch, daß im ersteren das freie Ermessen des Gerichts, im
— 49 —
letzteren die vorgesetzte Behörde entscheidet, und daß in dem
ersteren wesentlich persönliche, im letzteren dienstliche Inter-
essen für die Entscheidung maßgebend sind.
Zusätzlich zu dem Vorgetragenen sei noch erwähnt, daß
‚dem mehrerwähnten Recht des Angeklagten, einen Sachver-
ständigen unmittelbar zu laden, die Pflicht des Sachverständigen
‚entspricht, auf diese Ladung vor Gericht zu erscheinen. Vor-
aussetzung ist aber in diesem Falle, daß ihm die gesetzliche
Entschädigung für Reisekosten und Versäumnis bar dargeboten,
oder der Nachweis geführt wird, can diese bei dem Gerichts-
schreiber hinterlegt ist.
Zum Schluß noch ein kurzes Wort zu der Frage: Welcher
Platz ist dem Sachverständigen anzuweisen, der zu einer ge-
richtlichen Verhandlung geladen ist? Hierzu ist folgendes zu
bemerken: Eine Reihe von Bestimmungen unserer Prozeßord-
nungen, die für Zeugen gelten, sind auch für Sachverständige
für anwendbar erklärt worden. Bei der grundsätzlichen Ver-
schiedenheit der Tätigkeit von Zeugen und Sachverständigen
kann indes keine Rede davon sein, daß eine gleiche Behand-
lung beider in Bezug auf die Platzfrage einzutreten habe. Die
Zeugen werden einzeln und in Abwesenheit von einander ver-
nommen, sie verlassen zunächst den Gerichtssaal, werden dann
hereingerufen, werden vernommen, treten ab und ihre Tätig-
keit ist erledigt. Anders bei dem Sachverständigen. Er hat
während der ganzen Verhandlung im Gerichtszimmer anwesend
zu sein, hat dem Gang der Verhandlungen zu folgen, muß in
der Lage sein, zur Unterstützung seines Gedächtnisses sich
Aufzeichnungen zu machen. Das alles ist notwendig, damit
er nachher ein zuverlässiges Gutachten erstatten kann. Es
gilt dies auch für den Fall, daß er schon vorher die Akten
eingesehen und sein Gutachten schriftlich erstattet hat. Es
kommt fast in jeder Verhandlung vor, daß sich das eine oder
andere ändert, daß die Zeugen, wenn sie vereidigt sind, andere
Aussagen machen, als im Vorverfahren, daß neue Zeugen neue
Gesichtspunkte hereinbringen. Dies alles muß der Sachver-
ständige berücksichtigen, er muß sein Gutachten unter Um-
ständen ergänzen, abändern oder sonst anders behandeln, als
es schriftlich niedergelegt ist. Alle diese Dinge sind auch
4
=. B
bei der Platzfrage zu berücksichtigen. Der Platz ist so zu
wählen, daß der Sachverständige den Anforderungen, die an
ihn gestellt werden, auch genügen kann. Er muß deshalb
nicht hinter, sondern vor den Schranken Platz nehmen und
einen bequemen Sitz an einem Tische haben, damit er in der
Lage ist, alles zu hören und Aufzeichnungen zu machen.
Wenn man dem Grundsatz folgt, daß der Sachverständige der
Gehilfe des Richters ist, so könnte man denken, daß sein Platz
am Tische des Richters wäre. Aber dann wäre der Richter
in einer schiefen Lage, wenn es sich um einen Sachverstän-
digen handelt, den er für überflüssig hält, der ihm aufgedrängt
wird, dessen Sachkenntnis er bezweifelt. Auch praktische Be-
denken werden dem entgegenstehen, denn der Platz wird in
der Regel nicht ausreichen. Es wäre eine dankbare Aufgabe
für die Architekten, bei dem Bau neuer Gerichtssäle auf das
Bedürfnis für einen angemessenen und geeigneten Platz für
die Sachverständigen Rücksicht zu nehmen. Für jetzt wäre
es zu empfehlen, daß der Sachverständige nicht hinter den
Schranken, da wo die Zeugen sitzen, Platz nimmt, son-
dern vor den Schranken, zwischen den Schranken und
dem Gerichtstisch, etwa an derselben Stelle, wo der Verteidiger
sitzt, aber doch nicht an dem gleichen Tische mit diesem.
Letzteres um deswillen nicht, damit nicht unter Umständen
eine falsche Beurteilung der Stellung und der Tätigkeit des
Sachverständigen bei dem Publikum und vielleicht auch bei
den Richtern (Geschworenen) eintritt, die im einzelnen Falle
die Meinung von der Bedeutung und dem Wert des Gutachtens
ungünstig beeinflussen könnte.
3. Prof. Dr. Sommer:
M. H.! Die Punkte, über die ich sprechen will, sind:
1. die Vorbereitung des Gutachtens,
2. die Fassung desselben,
3. die Bewertung des Gutachtens,
4. eine Reihe von Außerlichkeiten.
Was die Vorbereitung des Gutachtens betrifft, so
sind zwei Haupterfordernisse zu nennen: 1. die persönliche
Untersuchung, 2. die Kenntnisnahme der Akten.
z pi
Es herrschen Unklarheiten über das Verhältnis dieser
beiden Voraussetzungen. Man glaubt manchmal, daß eins von
beiden ausreiche, das ist jedoch unrichtig. Nur aus der Ver-
bindung dieser beiden vorbereitenden Methoden kann ein ein-
wandfreies Gutachten hervorgehen. Man muß darüber klar
sein, daß man sich bei persönlicher Untersuchung, zumal wenn
es nur eine einmalige ist, ohne Kenntnis der Vorakten täusche
kann. Eine ganze Menge von Krankheitsfällen zeichnet sich
dadurch aus, daß jemand momentan gesund erscheint, wäh-
rend hinterher zahlreiche Krankheitssymptome herauskommen.
Manche der ärztlichen Gutachten, mit denen Sie als Juristen
in der Praxis Schwierigkeiten haben, weil ein Gutachten dem
anderen widerspricht, erklären sich daraus, daß einzelne Gut-
achter nur ein Momentbild vor sich hatten. Die eigentliche
Beobachtung ist richtig gewesen, aber der Schluß ist falsch,
weil ein einmaliges Sehen und Untersuchen oft nicht genügt
um ein ausreichendes Urteil zu bilden. Infolgedessen empfiehlt
es sich in der Regel, mehrfach zu untersuchen und die ge-
samte Aktenlage sorgfältig mit dem Bilde zu vergleichen, das
man selbst gesehen hat. Es stellt sich häufig heraus, daß ent-
weder in den Akten zu wenig steht, oder mehr als man
momentan wahrnehmen konnte. In beiden Fällen ist die
Kenntnis des Tatbestandes, der in den Akten festgelegt ist,
notwendig, damit man entweder das momentane Urteil danach
modifizieren, oder aus der persönlichen Untersuchung die
Lücken des in den Akten enthaltenen Materials ergänzen
kaon
Ist diese Voraussetzung richtig, so hat meiner Auffassung
nach die Gerichtsbehörde die Verpflichtung, möglichst die Er-
füllung dieser beiden Bedingungen herbeizuführen, also zu be-
wirken, daß der Arzt imstande ist, persönlich zu untersuchen
und die Akten genau zu lesen.
Wenn eine Überweisung erfolgt nach $ 81 der Strafpro-
zeßordnung, sind diese Bedingungen selbstverständlich erfüllt.
Man hat dann den Betrefienden sechs Wochen in der Anstalt,
und es ist die persönliche Untersuchung in reichlichem Maße
gewährleistet. Zweitens hat man die Möglichkeit, die Akten
zu lesen, und wenn man weitere Erhebungen oder :Verneh-
4*
— 52 —
mungen veranlaßt, so können diese noch brauchbares Material
bringen. |
Ganz anders ist die Sache, wenn man plötzlich vor-
geladen wird. Das ist nach meiner Erfahrung häufig der
Fall bei Schwurgerichtsverhandlungen. Wie es zusammen-
hängt, daß dies grade bei Schwurgerichtsverhandlungen ein-
tritt, wage ich nicht bestimmt zu entscheiden. Tatsache ist,
daß es öfter vorkommt. Es ist wohl so zu erklären, daß im
letzten Moment alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um
noch ein ärztliches Gutachten zu erlangen. Daß ein solches
‚Verfahren rechtlich zulässig ist, ist selbstverständlich; ob es
aber praktisch richtig ist, den Arzt in eine solche Verlegen-
heit zu bringen, das ist fraglich. Nach meinen Erfahrungen
hat es öfter die schlimmsten Wirkungen. Was ist die Folge?
Der Sachverständige bestimmt meist das Gericht, zu gestatten, .
daß er in der Pause den Betreffenden untersuchen kann. Nun
ist es aber eine außerordentliche psychische Anstrengung, den
ganzen Vormittag zuzuhören und dann in der Mittagspause
‚eine Untersuchung vorzunehmen, nachher nochmals zuzuhören
und hinterher eine vielleicht entscheidende Rede über die
Sachlage zu halten. Dann kommt noch dazu, daß man häufig
nicht in der Lage ist, mit einer einmaligen Untersuchung rasch
zu stande zu kommen. Es wäre vielleicht anders, wenn man
die Untersuchung einige Tage vorher vollziehen könnte. Ander-
seits kommen Fälle vor, in denen man bei einer solchen ein-
maligen Untersuchung auf Punkte trifft, die psychiatrisch
wichtig sind, während in den Akten nichts davon steht. Es
ist mir vorgekommen, daß ich bei einer solchen Untersuchung
während der Verhandlungen auf Momente stieß, die geeignet
waren, psychiatrische Bedenken zu veranlassen. Es ist aber
eine außerordentlich peinliche Situation, von solchen psychia-
trischen Erwägungen, die oft auf Aussagen der Untersuchten
beruhen, Gebrauch zu machen, weil die allgemeine Meinung
.gegen den Wert solcher Aussagen von Angeschuldigten geht.
Es ist klar, daß darum Richter oder Staatsanwalt leicht sagen:
da kommt ein Sachverständiger herein und untersucht den
Angeklagten, um Sachen zu finden, die den Akten wider-
sprechen. Bei dieser Sachlage ist wenig Aussicht, daß die
un. p
Bedenken des Arztes berücksichtigt werden. Ich habe es er-
lebt, daß Angaben eines Angeschuldigten, die ich bei einer
solchen Gelegenheit über Dämmerzustände bei seinem Vater
erhielt, und die den Auskünften bei den Akten widersprachen,
nicht geglaubt wurden, während die nachträglich von mir an-
gestellten Ermittelungen ihre Richtigkeit erwiesen.
Ich meine, es sollte in jeder Weise, sowohl von der Staats-
anwaltschaft wie von der Rechtsanwaltschaft, immer darauf
hingewirkt werden, daß wir Mediziner in die Lage kommen,
rechtzeitig und eingehend unsere Untersuchungen mit
Kenntnis der Akten vorzunehmen; es liegt das in ihrem
eigenen Interesse, sie werden dann viel weniger wider-
sprechende, oder sonst Schwierigkeiten verursachende Gut-
achten bekommen.
Die schlimmsten Fälle sind nach meiner Erfahrung die-
jenigen, wenn eine Vorladung ganz unerwartet an den Arzt
kommt, er soll in den nächsten Tagen irgend wohin fahren, .
eine angeklagte Person habe ihn durch ihren Rechtsanwalt
vorgeladen. Mir ist es vorgekommen, daß ich am Abend die
Mitteilung bekam, ich müsse am nächsten Tage in einem ziem-
lich entfernten Orte in Oberhessen sein und einem Termin als
Sachverständiger beiwohnen. Es ist natürlich nicht möglich,
unter solchen Umständen ein befriedigendes Gutachten abzu-
geben, es würde eine Stümperei sein, die man dabei lieferte.
Außerdem ist es für einen vielbeschäftigten Arzt, besonders
Anstaltsdirektor, oft sachlich unmöglich, so rasch abzukommen.
Gesetzlich ist gegen solche Anforderungen nichts zu machen;
die Bestimmung ist da. Wir können nun hier in unserer Ver-
einigung nicht reden über die lex ferenda, sondern müssen uns
an die lex lata halten, und sehen, wie sich im Rahmen der
bestehenden Gesetze solche Mißstände vermeiden la@sen. Da-
her sollten wir gewissermaßen unter uns ausmachen, daß der
Gutachter möglichst rechtzeitig herangezogen
wird, so daß er ein Urteil möglichst gründlich vorbereiten
kann.
Nun kommt die Frage: Wann soll man den Sachver-
ständigen zuziehen? Nach meiner Erfahrung ist es das rich-
tigste, daß die Staatsanwaltschaft oder der Untersuchungsrichter
ganz im Anfange ein Sachverständigenurteil einholt. Die
Situation kann sich so entwickeln, daß auch in den Fällen,
in denen wir als Ärzte nicht bestimmt sagen können, eine
Person gehört unter den $51, doch in vielen Punkten die
Feststellung des Psychiaters von großem Wert für die juristi-
sche Auffassung der strafrechtlichen Handlung wird. Ich habe
Fälle erlebt; in denen die Staatsanwaltschaft in richtiger Weise
bestimmte psychologische oder psychiatrische Feststellungen
des Gutachtens in der späteren Fassung der Anklage
berücksichtigt hat: das ist ein Beweis, daß dieses Zusammen-
wirken, psychiatrische und juristische Überlegung, gerade im
Anfang des Verfahrens von den günstigen Folgen sein kann.
Wenn der Staatsanwalt sein Urteil schon in der Anklageschrift
formuliert hat und hinterher kommt das psychiatrische Moment
erst in die Sache hinein und bringt eine Abweichung von
seiner Auffassung, so ist es naturgemäß, daß jener nicht ohne
. weiteres von seinem Standpunkte abgehen mag.
Ich meine, wir sollten uns dahin aussprechen, daß es
richtig ist, möglichst. zeitig ein Gutachten einzuholen und dann
auch gleich im Anfange möglichst sorgfältig die Frage zu
prüfen, wer bei der vorhandenen Sachlage zu gm Gutachten
zugezogen werden soll.
Es wird sich aus dem nunmehr obligatorisch gewordenen
Unterricht der Mediziner in Psychiatrie ganz naturgemäß er-
geben, daß besonders in Fällen, in denen ein praktischer Arzt
als Hausarzt die Entwicklung irgend eines Individuums, z. B.
eines Kindes, in der Familie kennt, der Richter sich sagen
wird: der betreffende Arzt hatte Gelegenheit, als Hausarzt eine
Reihe von Beobachtungen zu machen, wir wollen ihn daher
als Sachverständigen hören. Ich sehe nicht ein, warum man
nicht au®h einmal einen Nichtpsychiater als psychiatrischen
Sachverständigen zuziehen soll. Auf der anderen Seite halte
ich es für unrichtig, daß der erste beste praktische Arzt von
dem Angeschuldigten als Sachverständiger benannt und zuge-
zogen werde.
Ganz ähnlich ist das Verhältnis zwischen den Anstalts-
ärzten und den Kreisärzten. Die Kreisärzte sind in mancher
Beziehung entschieden im Vorteil; sie hatten an Ort und
==, 355 we
Stelle Gelegenheit, schon vor einer strafrechtlichen Verwick-
lung mit manchen Leuten über einen bestimmten Menschen
zu sprechen, sie kennen vielleicht den Betreffenden seit langer
Zeit selbst, wissen kleine Züge, die von ihm kolportiert werden.
Es ist also für den kreisärztlichen Kollegen viel leichter, nach
dieser anamnestischen Richtung schon eine bestimmte Summe
von Erfahrungen mitzubringen, als dem Anstaltsarzt, der das
Material erst zusammensuchen muß.
Es läßt sich für den Juristen in dieser Beziehung nur die
eine Regel geben, daß er diejenigen zuziehen soll, die nach
seiner Meinung am besten in der Lage sind, die Vorgeschichte
zu beurteilen und methodisch den Betreffenden zu untersuchen;
mehr kann man nicht sagen. Dogmatisieren läßt sich die
Sache nicht. Selbstverständlich wird ein Anstaltsarzt, der
Gelegenheit hatte, den Angeschuldigten längere Zeit in der
Anstalt zu beobachten, in dieser Beziehung in viel besserer
Lage sein.
Ich behandle weiter die Fassung des Gutachtens.
Sie hängt mit dem ersten Punkt näher zusammen. Wir
müssen uns dabei einigen über das Verhältnis der von
juristischer Seite gestellten Fragen zu der psychiatrischen
Untersuchung im allgemeinen. Die juristische Fragestellung
ist völlig determiniert durch die Fassung des Gesetzes. Selbst-
verständlich muß der Jurist immer das fragen, was angesichts
der Sachlage nach der Fassung des Gesetzes notwendig ist.
Ich brauche aber nur hinzuweisen auf die Tatsache der Rechts-
entwickelung in Bezug auf die Begriffe der Zurechnungsfähig-
keit, die im Laufe der letzten hundert Jahre gewechselt haben.
Schon daraus ersehen Sie, daß die juristische richtige Frage-
stellung immer nur eine Folge der zur betreffenden Zeit ge-
gebenen Fassung des Gesetzes ist, während der Psychiater
selbstverständlich wesentlich ausgehen muß von der Gesamt-
untersuchung der Persönlichkeit. Wenn er untersucht, darf
er nicht bloß die Frage prüfen, die Richter oder Staats-
anwalt gestellt haben, sondern er muß versuchen, mit allen
‘erreichbaren Methoden in die gesamten psychischen, bezw.
psychopathischen Züge des Betreffenden Einblick zu gewinnen.
Es handelt sich um die Aufgabe, die Beziehungen zwischen
— 56 —
dem gesamten psychologischen Material, das er sich metho-
disch verschafft, und den speziellen Rechtsfragen, die an ihn
gestellt werden, klarzustellen. Praktisch ist es das Beste, daß
man sich gewöhnt, nach einer Darstellung des gesamten psy-
chiatrischen Befundes, die von dem Juristen gestellten Fragen,
soweit sie medizinischer Natur sind, im Sinne der Gesetz-
gebung ganz exakt zu beantworten, damit der Jurist auf die
Fragen, die ihn bei der Rechtslage interessieren, ganz be-
stimmte, klare Antworten hat. Andererseits halte ich es aber
für richtig, daß man den gesamten Bestand von Ermittelungen
und Untersuchungen, die man angestellt hat, in der Schluß-
formulierung des Gutachtens nicht ignoriert zu Gunsten der
speziellen Fragen. Wir werden in vielen Fällen in der Lage
sein, auf Grund der genauen Untersuchung noch irgend welche
wichtige Punkte hervorzuheben. Ich habe es in den letzten
zehn Jahren immer so durchgeführt und meine Assistenten
darauf hingewiesen, daß ich auf Grund der Gesamtuntersuch-
ung den ganzen psychiatrischen Tatbestand formuliere und
dabei auf die speziellen juristischen Fragen nach Möglichkeit
eingehe. Die praktischen Juristen, mit denen ich darüber ge-
sprochen habe, bestätigten mir in der Regel, daß sie mit
diesem Verfahren einverstanden sind. Wenn es sich z. B.
um Personen handelt, die nicht unter § 51 des St.G.B. fallen,
bei denen man sich aber sagt, daß der Zustand, den dieser
Paragraph voraussetzt, eintreten kann, so halte ich es für
richtig, daß man, sozusagen, eine Signalfahne aufsteckt, indem
man sagt: „der Fall liegt so, daß er nach der bisherigen Ge-
setzgebung nicht unter den § 51 fällt, aber man hat auf be-
stimmte psychiatrische Punkte in Zukunft zu achten“. So ist
mir z.B. ein Männ zur Begutachtung gekommen, der von
einem anderen Arzt für melancholisch erklärt war. Ich unter-
suchte die Sache und fand, daß der Mann deprimiert war,
daß sich aber die Depression nicht bis zu der Zeit seines Ver-
gehens zurückdatieren ließ, so daß man ihn nicht unter den
Schutz des $ 51 stellen konnte. Der Mann würde dann wohl
nach wieder eingetretener Verhandlungsfähigkeit verurteilt
worden sein. Ich habe damals geschrieben, daß nach meiner
Meinung der Mann z. Z. der Handlung nicht geisteskrank war.
= BT a
Ich riet aber dabei, wenn die Sache zur Verhandlung käme,
unter allen Umständen von einer Freiheitsstrafe abzusehen,
weil ich überzeugt sei, daß er in diesem Falle Selbstmord be-
gehen würde. Ich habe später erfahren, daß er zu einer Geld-
strafe verurteilt worden ist. Da der Fall mich interessierte,
habe ich bei dem Bürgermeister des Ortes angefragt, wie es
gegangen sei. Derselbe schrieb mir: Von dem Moment an,
als der Mann zu einer Geldstrafe verurteilt worden war, sei
es immer besser mit ihm gegangen und jetzt sei er ganz
munter und gesund. Wenn ich mir in diesem Fall vielleicht
eine Gebietsüberschreitung erlaubt habe, so meine ich doch,
damit richtig gehandelt zu haben. j
Was von den gutachtlichen Bemerkungen über die Art
der Strafe und den eventuellen Strafvollzug gilt, stimmt auch
für andere Sachen, so z. B. in Vormundschaftsangelegenheiten.
Es gibt Fälle, in denen man von vornherein sagen muß: es
ist psychiatrisch“ völlig unrichtig, eine bestimmte Person zum
Vormund zu machen, weil man mit an Gewißheit grenzender
Wahrscheinlichkeit sie als ungeeignet zur Vertretung des
Kranken bezeichnen kann. Man möge in diesen Dingen ein
gewisses Entgegenkommen in Bezug auf unsere Vorschläge
walten lassen.
Ich verlange also, daß der Mediziner dem Juristen seine
Fragen nach Möglichkeit bestimmt beantwortet, soweit sie
zu seiner Aufgabe gehören. Andererseits ist es zweckmäßig,
wenn man in dieser Weise auch einmal über das Bereich der
gestellten Frage hinausgeht, und auf Grund der gesamten
Untersuchung sagt, wie nach der oder jener Seite die Sache
liegt.
Was den dritten Punkt der Bewertung des Gut-
achtens betrifft, so stene ich auf dem Standpunkt, der
Wert des Gutachtens sollin dem Gutachten selbst
liegen. Seine ganze Art und Weise soll so sein, daß ein
unbefangener Jurist, der mit einigen psychologischen und
psychiatrischen Begriffen an die Sache herangeht, es als über-
zeugend anerkennen kann. Ich meine, wie ich es auch litera-
risch schon ausgesprochen habe, daß die Juristen ganz
au BO
frei entscheiden sollen. Aber andererseits hat der Jurist
auch die moralische Verpflichtung, auf das Gutachten und
seine Gründe sorgfältig. einzugehen. Er darf nicht ad libitum,
weil ihm das Gutachten momentan nicht paßt, es ablehnen,
sondern soll es nach seinen inneren Verhältnissen anerkennen
oder zurückweisen.
Ich muß sagen, daß in den letzten Jahren in Hessen nur
außerordentlich wenige Fälle vorkamen, in denen Streitigkeiten
entstanden sind. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist
‘das nicht eingetreten, und ich halte das entschieden für einen
gesunden Zustand. Ich meine, man soll das Gutachten
‚von vornherein methodisch fundamentieren und soll
die Ergebnisse der Untersuchung so formulieren, daß der Jurist
auf dem Gebiet, auf dem sich seine Fragen bewegen, einen
klaren Einblick erhält. Nieh# in einer dogmatischen Autorität
der ärztlichen Gutachten, sondern in ihrer methodischen
Beweisführung sehe ich die beste Gewähr für eine prak-
tische Verständigung zwischen. psychiatrischer und juristischer
Auffassung. |
Nun fragt es sich, wie weit der Jurist auf psychiatrischem
Gebiet orientiert sein soll. Die Frage des psychiatrischen
Unterrichts hat uns schon das vorige Mal beschäftigt. Wir
haben einen Antrag an das Ministerium formuliert, und das
Ministerium hat ihn an die juristische Fakultät zur Bericht-
erstattung gegeben. Wir halten: die Sache für praktisch
notwendig, aber da kommen dann die formalen Bedenken;
man scheut sich, irgend etwas obligatorisch zu machen, was
es bis jetzt nicht gewesen ist. Ich glaube aber, man wird
doch innerhalb weniger Jahrzehnte dahin kommen und sich
sagen müssen, daß der Jurist bestimmte Materien gehört haben
muß. Ich bin dabei nicht der Meinung, daß der Jurist in
Psychiatrie geprüft werden soll. Wir haben in dem medizini-
schen Studium ähnliche Fälle, daß in einer Materie nicht ge-
prüft wird, daß sie aber doch gehört werden muß. Ich glaube,
daß wir mit unserem Antrag immer wieder kommen müssen,
bis er schließlich durchgeht, und wir dürfen uns durch den
momentanen Abfall, den wir erlebt haben, nicht irre machen
— 59 —
lassen. Es wird noch dazu kommen, daß gewisse
psychiatrische Kenntnisse von den Juristen als
obligatorisch verlangt werden. Unterdessen hat das
Großh. Ministerium in dem Erlaß über die Vorbildung der
Juristen sehr deutlich auf die Notwendigkeit der psy-
chiatrischen Kenntnisse für die Juristen hingewiesen. Wir
müssen für diesen Hinweis von unserem Standpunkt sehr dank-
bar sein.
Man könnte sagen: In Gießen ist eine obligatorische Einfüh-
“rung nicht notwendig, weil die Juristen das Fach ohnehin hören-
Die Sache hat sich so entwickelt, daß tatsächlich eine große Menge
Juristen Psychiatrie hören. Ich habe mir die größte Mühe ges
geben, hieraus eine Tradition zu bilden. Aber ob ich im Stande sein
würde, bei der Belastung, unter der ich fortwährend leide, dies
Kolleg für Juristen auf die Dauer zu halten, wenn Herr Privat-
dozent Dannemann, dem ich dasselbe übergeben habe, fehlte,
erscheint mir zweifelhaft. Es wäre wünschenswert, daß unter
diesen Umständen eine Sicherheit gegeben würde, daß die
forensische Psychiatrie Gegenstand des Unterrichts bleibt, und
zwar nicht bloß in der Weise, daß jedesmal von dem Professor
der Psychiatrie verlangt wird, daß er diesen Teil des Faches
mit vertritt; denn das erfordert außerordentlich zeitraubende
Vorbereitung. Man wird bestrebt sein müssen, den jetzt be-
stehenden Zustand zu konsolidieren, wie es von mir schon be-
antragt worden ist.
Davon abgesehen, wird gerade die Berührung zwischen
Juristen und Medizinern in unserer Gesellschaft viel dazu bei-
tragen, um gegenseitige Kenntnisse zu verbreiten. Die Ärzte
werden die juristische Fragestellung immermehr verstehen lernen,
und die Juristen werden sich immermehr auf psychiatrischem
Gebiete einarbeiten.
Auch kann man an einen Unterricht der schon in der
Praxis befindlichen Juristen und Ärzte denken. Ich habe
schon die nötigen Vorbereitungen getroffen. Sie werden sich
erinnern, daß ich bei der vorigen Versammlung in Hofheim
im November 1905 von dem Kurs der medizinischen Psycho-
=, b
logie in Gießen gesprochen habe. Ich habe damals schon
gesagt, daß auch das juristische Gebiet dabei gestreift werden
solle. Unterdessen ist der Plan mit großem Erfolg ausgeführt
worden. Wir haben beispielsweise auch die Gesetzgebung über
die Fürsorgeerziehung dabei berücksichtigt.
Im Anschluß an diesen Versuch, der sehr gut abgelaufen
ist, hat sich der Plan entwickelt, eine analoge Veranstal-
tung für das Gebiet der forensischen Psychologie
und Psychiatrie im allgemeinen zu treffen, schon im
nächsten Frühjahr. Herr Kollege Mittermaier und ich
haben mit den Vorbereitungen schon begonnen. Wir werden
den Plan wahrscheinlich wieder in Form eines eine Woche
dauernden Kursus ausführen. Ich möchte schon jetzt die Ver-
treter der Behörde bitten, daB sie uns unterstützen. Das ganze
Programm wird den Mitgliedern der Vereinigung bekannt ge-
macht werden. Der Zweck der Veranstaltung ist der, daß die
beiden Auffassungen forensischer Fragen, einerseits die juristi-
sche, andererseits die medizinisch-psychiatrische, sich gegen-
seitig näher treten.
Dann käme ich zu dem vierten Punkt, den sogenannten
Äußerlichkeiten.
Es handelt sich in erster Linie um die äußere Stellung
des Sachverständigen. Herr Oberstaatsanwalt Theobald
hat das größtenteils schon dargestellt. Ich erwähne nur fol-
gendes: Man muß den psychiatrisch-medizinischen Sachver-
ständigen in die Lage setzen, daß er die Zeugenaussagsn richtig
nachschreiben, und sein Gutachten dadurch richtig vorbereiten
kann. Es empfiehlt sich, für diesen Zweck einen besonderen
Tisch mit Schreibmaterial etc. zur Verfügung zu stellen.
Dann kommt in Betracht das Vorbringen von Gut-
achten in Gegenwart des Angeklagten, sowie die Mit-
teilung von Gutachten im Entmündigungsverfahren an die zu
Entmündigenden; das sind Punkte, die sich nicht so rasch er-
ledigen lassen; ich möchte sie nur berühren, um sie vielleicht
einer späteren Besprechung zu überlassen. Es ist im höchsten
Grade peinlich, wenn man in Gegenwart dessen, um den es
25 Bi a
sich handelt, alle möglichen Dinge über ihn vorbringen soll.
Ähnliches gilt von der Behandlung von Simulationsfragen.
Die Strafprozeßordnung verlangt, daß alles in Gegenwart der
Beteiligten geschieht, aber für den Arzt ist es sehr peinlich.
Wir können ja die Reichsgesetze nicht ändern, aber es war
notwendig, die Sache einmal in diesem Kreise vorzubringen.
Vielleicht findet sich doch ein Weg, um diese Unannehnlich-
keiten zu vermeiden.
Weiter wäre unter den Äußerlichkeiten zu erwähnen die
Frage der Gebühren, die ebenfalls schon dargestellt worden
ist, so daß ich nur kurz sagen möchte: Die psychiatrische
Untersuchung erfordert, wenn sie gründlich sein will, ein
großes Maß von Arbeit, und dies sollte bei der Honorierung
berücksichtigt werden.
4. Herr Landgerichtsdirektor Bücking:
M.H.! Ich habe nur ein kurzes Referat über den Unterschied
zwischen Sachverständigen und sachverständigen Zeugen. Mit
den sachverständigen Zeugen befaßt sich ein einziger Paragraph
der Strafprozeßordnung, $ 85, der konform ist dem $ 414 der Zivil-
prozeßordnung. Er besagt: „Insoweit zum Beweis vergangener
Tatsachen oder Zustände, zu deren Wahrnehmung eine be-
sondere Sachkunde erforderlich war, sachkundige Personen zu
vernehmen sind, kommen die Vorschriften über den Zeugen-
beweis zur Anwendung.“ Damit ist der Charakter des sach-
verständigen Zeugen klargestellt: er ist Zeuge, reines Beweis-
mittel. Herr Prof. Mittermaier hat im Eingang seines Vor-
trags die Streitfrage aufgeworfen, ob der Sachverständige als
Beweismittel oder als Richtergehilfe anzusehen sei. Diese
Frage kann bei dem sachverständigen Zeugen nicht in Betracht
kommen. Wir Praktiker messen übrigens dieser rein theore-
tischen Unterscheidung eine besondere Bedeutung nicht bei.
Wir sind ja formell an die Aussage des Sachverständigen
unter keinen Umständen gebunden. Sehen wir ihn als Beweis-
mittel an, so unterliegt seine Aussage der freien richterlichen
Beweiswürdigung, betrachten wir ihn dagegen als Richter-
gehilfen, so kann sein Gutachten doch immer nur als Vor-
schlag für unser Urteil angesehen werden, den wir nicht an-
— 62 —
zunehmen brauchen. Die Hauptsache bleibt immer, daß der
Sachverständige sich Autorität verschafft dem Gericht gegen-
über durch den materiellen Inhalt seiner Ausführungen, daß
er -durch diesen das Gericht von der Richtigkeit seines Gut-
'achtens überzeugt. Ich freue mich, daß’dies auch von der Sach-
verständigen-Seite durch Herrn Professor Sommer anerkannt
worden ist. Die Prozeßordnungen tragen ja den beiden Ge-
sichtspunkten Rechnung. In dem Abschnitt über die Sachver-
ständigen ist einerseits Bezug genommen auf die Vorschriften
über die Ablehnung von Richtern, was darauf schließen läßt,
daß das ‚Gesetz in dem Sachverständigen einen Richtergehilfen
sieht, andererseits ist gesagt, daß die Bestimmungen über die
Zeugnisverweigerung Anwendung finden. Es gibt eine Reihe
von Fällen, in denen man nicht zweifelhaft sein kann, daß der
Sachverständige Richtergehilfe ist. Das trifft z. B. zu in dem
Falle des § 654 Z. P. O., in welchem der Sachverständige den
Richter zunächst nur bei der Vernehmung des zu Entmündı-
genden durch geeignete Fragestellung unterstützt, ein Gut-
achten aber noch gar nicht anschließt, auch überhaupt nicht
anzuschließen braucht. Im Gegensatz dazu kommt einem Kauf-
‘mann, der als Sachverständiger über das Vorhandensein von
Handelsgebräuchen vernommen wird, die er bei Ausübung
seines Berufs wahrgenommen hat, wohl die Eigenschaft eines
reinen 'Beweismittels zu.
= Wie bereits hervorgehoben, hat die beregte Streitfrage
aber überhaupt auszuscheiden bei dem sachverständigen Zeugen,
dem lediglich der Charakter eines Beweismittels beigelegt wird.
Der sachverständige Zeuge gibt Auskunft über Tatsachen,
deren Wahrnehmung eine besondere Sachkunde erfordert; er
ist also Zeuge, und unterscheidet sich von den gewöhn-
lichen Zeugen dadurch, daß er ‘Wahrnehmungen widergibt,
die ein Mensch mittels seiner allgemeinen Bildung und der
ihm zu Gebote stehenden allgemeinen Erfahrungssätze allein
nicht machen konnte, sondern zu .denen eine besondere Sach-
kenntnis gehörte. Er hat insbesondere aber mit dem gewöhn-
lichen Zeugen das gemeinsam, daß er sich über, der Ver-
gangenheit angehörige, vorprozessuale Tatsachen äußert, und
lediglich die Unterlagen liefert für ein Urteil, das von einem
— 63 —
anderen abgegeben ist. Er hat daher nicht, wenn er auch in-
folge seiner Sachkunde dazu befähigt ist, aus dem, was er
wahrgenommen hat, bezüglich der streitigen Frage gutacht-
liche Schlüsse zu ziehen. Hierdurch unterscheidet er sich -von
dem Sachverständigen, dessen Aufgabe gerade hierin :be-
steht. Seine Sachkunde kann der Sachverständige allerdings
in doppelter Weise dem Gericht zur Verfügung stellen. Er
kann rein wissenschaftliche Ausführungen machen und dem
Gericht deren Anwendung auf den konkreten Fall überlassen,
er kann aber auch — und das wird in den meisten Fällen
von seiten des Gerichts verlangt werden — seine Sachkunde
in Verbindung bringen mit dem Tatsachenmaterial und eine
förmliche gutachtliche Äußerung über letzteres abgeben. Wenn
ich auf dem medizinischen Gebiet Beispiele anführen soll, so
ist sachverständiger Zeuge der Arzt, der einen Kranken be-
handelt hat und im Laufe des Prozesses lediglich Angaben
über die Krankheitserscheinungen macht, die er mittels
der ihm zu Gebote stehenden Sachkunde wahrgenommen, oder
der Psychiater, der in seiner Anstalt zunächst ohne Rücksicht
auf ein demnächst zu erstattendes Gutachten einen Patienten
beobachtet, untersucht und sachgemäß befragt hat, und nun-
mehr vor Gericht seine Wahrnehmungen bekundet, ohne sich
über Vorliegen, Art und Bedeutung einer Erkrankung, ihre Ur-
sachen und Folgen zu äußern. Oft wird es übrigens angezeigt
sein, sich bei den sachverständigen Zeugen nicht nur mit der
Wiedergabe ihrer Wahrnehmungen zu begnügen, sondern ihnen
auch die technische Schlußfolgerung daraus zu übertragen, zu
der sie mit Rücksicht auf die Unmittelbarkeit ihrer Beobaclı-
tungen besonders qualifiziert erscheinen; damit aber vereinigen
sie in ihrer Person eine doppelte Rolle: sie sind Zeugen und
Sachverständige. Das ist insbesondere von großer Wichtig-
keit für die Frage der Beeidigung und der Gebühren. Der
sachverständige Zeuge leistet, wie der gewöhnliche Zeuge, nur
den Zeugeneid, während bei Hinzufügung eines Gutachtens
noch der Sachverständigeneid erforderlich wird. Oft ist es
zweifelhaft, auf welchem Gebiete sich eine Frage bewegt. Die
Praxis neigt deshalb zur Abnahme des Doppeleides, zumal
nach der Rechtssprechung der Zeugeneid den Sachverständigen-
— 64 —
eid nicht deckt. Umgekehrt braucht der Experte Depositionen
über Wahrnehmungen, die er nach seiner Bestellung, wenn
auch vor seiner Beeidigung, zum Zwecke der Erstattung seines
Gutachtens gemacht hat, neben dem Sachverständigeneid nicht
mit besonderem Zeugeneid zu bekräftigen. Das eidliche Ver-
sprechen, das Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen
zu erstatten, ist auch, auf die Angaben des Experten über den
bei der Untersuchung ermittelten Befund zu beziehen (cf. Ent-
scheidung des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. Il, S. 157).
Es soll dies sogar für Angaben gelten, welche ein Ange-
klagter dem Gerichtsarzt über die Begehung der Tat gemacht
hat (cf. Entscheidung des Reichsgerichts v. 18. 9. 05 u. Hess,
Rechtsspr. VI, S. 173). Doch dürfte in solch zweifelhaftem
Fall immerhin die Abnahme des Doppeleides zu empfehlen
sein. |
Von Wichtigkeit ist die Frage, ob Sachverständiger oder
sachverständiger Zeuge, auch für die Bemessung der Gebühren,
die, für Sachverständige höher sind, als für Zeugen. Ich
habe es in der Praxis wiederholt erlebt, daß Ärzte, welche
lediglich als Zeugen beeidigt worden waren, die Beantwortung
von Fragen ablehnten, die ihrer Ansicht nach auf dem Gebiete
der Sachverständigen- Bekundung lagen, so lange sie nicht als
Sachverständige beeidigt worden seien, wohl mit Rücksicht da-
rauf, daß sie fürchteten, andernfalls nur die Gebühren als
Zeugen zu bekommen. In dieser Beziehung kommt es jedoch
nach der Rechtsprechung auf die Form der Beeidigung nicht
an, sondern es ist der materielle Inhalt der Aussage maß-
gebend. In einem Spezialfall hatte ein Psychiater, nachdem er
lange als sachverständiger Zeuge vernommen worden war, zum
Schluß auf eine Frage des Gerichts bekundet, er habe den
Eindruck gehabt, daß der Patient nervenkrank sei. Es wurde
ihm mit Rücksicht auf die Art seiner Beeidigung nur die
Zeugengebühr angewiesen, auf seine Beschwerde hin aber die
Expertengebühr zuerkannt, weil seine Schlußdeposition materiell
ein sachverständiges Gutachten enthalte.
Der Unterschied zwischen Sachverständigem und sachver-
ständigem Zeugen ist endlich noch von Wichtigkeit für die
Frage der Verpflichtung zu gerichtlicher Aussage. In dieser
Beziehung steht der Sachverständige gleichfalls besser, .als der
sachverständige Zeuge, denn er hat neben den Gründen, welche
einen Zeugen berechtigen, das Zeugnis zu verweigern, zu seinem
Schutze noch den $ 75 St.P.O., $ 407 C.P.O. Er braucht
das Gutachten nur dann zu erstatten, wenn die Kunst, die
Wissenschaft oder das Gewerbe, deren Kenntnis Voraussetzung
der Begutachtung ist, zum Erwerb öffentlich ausübt, während
auf die sachverständigen Zeugen dieser Paragraph keine An-
wendung findet. Hat sich beispielsweise ein Arzt von seiner
Praxis zurückgezogen, in einem Spezialfall aber doch noch
einmal Hülfe geleistet, so wird er als sachverständiger Zeuge
demnächst über seine Wahrnehmungen deponieren müssen,
während er die Erstattung eines Gutachtens auf Grund von
§ 407 C.P.O., § 75 St.P.O. ablehnen kann.
Vom Gerichte kann der sachverständige Zeuge nicht zu-
tückgewiesen werden, während dasselbe in der Auswahl der
Sachverständigen grundsätzlich nicht beschränkt ist. Der Herr
Oberstaatsanwalt hat schon ausgeführt, iawieweit dieser letztere
Grundsatz durch andere Bestimmungen durchbrochen ist. Für
den sachverständigen Zeugen besteht er überhaupt nicht. Der
sachverständige Zeuge kann nicht zurückgewiesen werden, denn
er ist Zeuge; nur muß dem Gericht auch hier die Befugnis zu-
gesprochen werden, die der Herr Öberstaatsanwalt auch für
die Feststellung der Qualifikation eines Experten in Anspruch
genommen hat, in geeigneter Weise eventuell unter Zuziehung
anderer Sachverständiger zu prüfen, ob die Wahrnehmungen
des angeblich sachverständigen Zeugen Anspruch auf Bedeu-
tung machen können, ob insbesondere der wahrnehmenden
Persönlichkeit die nötige Sachkunde innegewohnt hat.
Nur kurz berühren will ich noch zum Schlusse die Frage
des Berufsgeheimnisses. Bei dem medizinischen Sachverständigen
wird sie selten eine Rolle spielen, denn wer sich von ihm
zwecks Erstattung eines Gutachtens untersuchen läßt, willigt
damit auch in die Wiedergabe des Befundes ein; dagegen kann
ein Arzt über die frühere Behandlung eines Kranken, über
welche er als sachverständiger Zeuge vernommen werden soll;
9
ui; GO.
oft Aussage nicht machen, ohne vorher der Verpflichtung zur
Verschwiegenheit entbunden worden zu sein. Solche frühere
Tätigkeit kann ihn allerdings auch an der Erstattung eines
sachverständigen Gutachtens behindern.
Das sind im wesentlichen die Unterschiede zwischen dem
Sachverständigen und dem sachverständigen Zeugen, wenn auch
eine erschöpfende Behandlung mit Rücksicht auf die vorge-
rückte Zeit ausgeschlossen war.
Asynemann’sche Buchdr., Gebr. Wolff, Halle (8. )
Kriminalpsychologische
Tatbestandsforschung.
Von
Dr. jur. Alfred Gross
in Prag.
Mit 7 Tabellen.
Alle Rechte vorbehalten.
Halle a. N.
Verlag von Carl Marhold
1907.
Juristisch-psychiatrische
Grenzfragen.
Zwanglose Abhandlungen.
Herausgegeben von
Prof. Dr. jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoche,
Halle a. S. Freiburg i. B.
Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler,
Lublinitz i. Schles.
V. Band, Heft 7.
Diese Blätter sind
Herrn Hofrat Prof. Dr. Horaz Krasnopolski
in treuer Dankbarkeit
zugeeignet.
I. Einleitung.
Die auf der Verwertung eines einfachen Assoziations-
experimentes beruhende psychologische Diagnose des
Tatbestandes hat sich in kurzer Zeit, in der angewandten
Psychologie ebenso wie in der Kriminalistik, einen nennens-
werten Platz erworben. Entgegen den ersten Arbeiten,
welche zunächst auf eine prinzipielle Erfassung des
Problems hinausliefen und die präjudizielle Vorfrage zu be-
antworten berufen waren, inwiefern überhaupt an eine
Möglichkeit zu denken sei, aus dem in den Reaktionen
deklarierten Assoziationsverlaufe auf das Vorhandensein
gewisser Tatbestände direkt zu diagnostizieren, wurde
in den neueren Untersuchungen auf eine exakte Forschung
und Verwertung jener Momente hingearbeitet, von welchen
wir nach jenen Vorarbeiten annahmen, dass ihnen für
Existenz oder Nichtexistenz der uns interessierenden
Komplexe symptomatische Bedeutung zukomme.
Wie früher wurde auch hier in erster Linie auf die
Bewertung der Reaktionsworte, sowohl nach ihrer rein
inhaltlichen, als auch materiell-qualitativen Beschaffenheit
hingearbeitet, daneben bildeten die übrigenKomplexmerk-
male, als Reaktionszeit, Perseverationstendenz der Vor-
stellungen und Reproduktion den Gegenstand eingehender
Forschung.
In diesem Sinne stellte der Verfasser im verflossenen
Studienjahre an der Wiener Universität im Rahmen
kriminalpsychologischer Übungen gemeinsam mit Herrn Prof.
A. Löffler, für dessen die Sache ungemein fördernde Unter-
stützung auch an diesem Orte inniger Dank zum Ausdrucke
gebracht sei, diesbezügliche Untersuchungen an, welche,
wie schon hier bemerkt sei, höchst erfreuliche Resultate
a, ii s
lieferten. Neben eingehender Prüfung aller uns bisher be-
kannten Komplexmerkmale, wurde nicht unterlassen, den
von den Vp. abgegebenen Selbstbeobachtungsproto-
kollen, welche einen nicht zu unterschätzenden Kommentar
für die in den Reaktionen zum Ausdrucke gelangten
Assoziationen zu bieten imstande sind, gehörige Berück-
sichtigung zu schenken. |
Da sich an unseren Übungen auch eine Reihe von
Praktikern beteiligte, konnte neben der rein theoretischen,
auch die praktisch forense Richtung der Methode zur Er-
örterung gelangen und hatten wir gerade unseren Prak-
tikern manch guten Wink zu verdanken. Der bei den
Wiener Experimenten eingeschlagene Vorgang entspricht
im Allgemeinen dem meiner Prager Versuche; wie hier
wurden auch dort, da nur reine Laboratoriumsversuche in
Betracht kamen, künstliche Tatbestände als Grundlage ver-
wendet, wobei wir stets bestrebt waren, bei den „schuldigen“
Vp. neben der Kenntnis des Taatbestandes möglichst starken
Gefühlston künstlich hervorzubringen.
Dem einzelnen Versuche ging stets eine kurze Ein-
übung mittels „freier Assoziationen“ voraus, die mit Rück-
sicht darauf, dass wir es ausnahmslos mit Studenten zu
tun hatten, keinerlei Schwierigkeit .bot; nach etwa zehn
Probereaktionen konnte stets auf das Experiment selbst
eingegangen werden.
Um allen Seminarbeteiligten die Möglichkeit zu bieten,
sich ohne jede Beeinflussung von Seite des Beobachters,
darüber zu äussern, wer nach ihrer Ansicht „unschuldig“
und wer der „Schuldige“ sei, wurde der Vorgang beobachtet,
dass diese „Jury“ ihr Votum zuerst abgab und der Ex-
perimentator als letzter seine Diagnose stellte. Auf diesem
Wege wollten wir uns Kenntnis darüber verschaffen, ob
es denn wirklich zur Beantwortung der Frage nach dem
Vorliegen des Tatbestandes einer besonderen psychoanaly-
tischen Begabung bedürfe, oder ob es nicht möglich sei,
derartig offenkundige, gewissermassen in die Augen
springende Resultate zu erzielen, dass dieselben jeden
in die Lage versetzen, daraufhin die Frage, wer von dem
Za 7 e
gesuchten Tatbestande Kenntnis habe, direkt zu beantworten,
ohne dass er erst in der Seele des Inquisiten zu lesen
genötigt wäre.
Zur näheren Darstellung gelangt im Folgenden ein
Lokalversuch, in welchem als Versuchsobjekt Herrn Pro-
fessor Löfflers Arbeitszimmer diente!). Aufgabe des
Experimentators war es, zu finden, wer von drei Versuchs-
personen, von den in diesem Lokale befindlichen Gegen-
ständen, sei es durch eigene Wahrnehmung, sei es durch
Mitteilung, Kenntnis besitze.
Die einzelnen Objekte wurden Vp. nicht besonders
gezeigt oder gar eingeschärit; überhaupt wurde bei der
Besichtigung keinerlei Einfluss genommen, nur über
besonderes Befragen der Vp. bereitwillig Auskunft erteilt.
ll. Der Tatbestand.
Das fragliche Lokal wies folgende Einzelheiten auf:
1. Vom Fenster aus Aussicht auf einen Garten mit
Baumallee, auf diesen Teilinhalt haben die Reizworte 5-8
(Tabelle I) Bezug.
2. Auf einem braun polierten Schreibtische befinden sich
zwei Briefbeschwerer, von denen der eine ein Stein-
salzwürfel ist, während der andere ein Stück
Tramwayschiene darstellt; weiters eine Photo-
graphie (mit dem Bildnis von Frau Prof. L.) sowie eine
Briefwage, auf welcher zur Zeit der Besichtigung des
Zimmers zufällig ein an S. Magnifiz. den gegenwärtigen
Rektor der Universität Czernowitz, Herrn Prof. Eugen
Ehrlich adressierter Brief lag; diesem Teilkomplexe
entsprechen die Reizworte 18—27.
3. An Bildern zeigt das Zimmer u. a. zwei Böcklin
(„Sommertage* und „badende Knaben“ darstellend),
sowie zwei Dürerbilder, von denen das eine Dürers
Selbstporträt ist, während das andere den Bürger-
meister Holzschuher von Nürnberg wiedergibt; auf
diese Bilder haben die Assoziationen 19—388 Bezug.
1) Von zwei anderen Versuchen berichtet Löffler selbst in
Aschaffenburg’s Monatsschrift 1906 S. 449 ff.
ar 8 —
4. Ein rot gestrichener Rauchtisch mit Zigarrenbehälter
und einem als Selbstanzünder fungierenden Spiritus-
brenner erscheinen in den Reizworten 45—49 verwertet.
5. Um mit dem visuellen Eindrucke auch einen Vorgang
zu verbinden und auf diese Weise bei der Vp. einen
stärkeren Gefühlston hervorzubringen, sollte ihr auf-
getragen werden, im Zimmer nach einer bestimmten
Brieftasche zu suchen; dieselbe befand sich in einem
Bücherschrank und um zu ihr zu gelangen, musste Vp.
einen Werkzeugkasten entfernen. Diese Brieftasche
sollte der „schuldigen“ Vp. beim Experiment als „Legi-
timation“ für ihre „Schuld“ dienen. Um die Vp. in
Verlegenheit zu bringen, sollte sie während des Suchens
von Frau Prof. Löffler plötzlich überrascht werden;
leider gelang dies nicht vollends, da Frau L. zu spät
erschien und bei ihrem Eintritte die Brieftasche bereits
gefunden war; auf den dargestellten Teilinhalt haben
die Reizworte 58—64 Bezug.
6. Als weiterer Teilkomplex erscheint R. 67—71; hierbei
handelt es sich um einen im Zimmer aufgestellten
Ofenschirm, der gelbe Tulpenblumen zeigt, sowie um
einen Papierkorb mit gleichem Muster.
7. Auf einem kleinen Tische liegt die Theresiana; aufge-
schlagen sind „zufällig“ Abbildungen von Folterwerk-
zeugen und Tortur; dieser Komplex erscheint in
R. 73—78 wiedergegeben.
8. Als letzter Teilinhalt fungiert R. 81 ff., welcher sich auf
eineim Zimmer befindliche kleinefranzösische Bronze,
die „Arbeit“ darstellend, bezieht.
Als Vp. dienten Herr Hugo Jeremias Sp., 20 Jahre
alt, Herr Robert St., 22 Jahre alt und Herr Viktor O.,
23 ‚Jahre alt, sämtlich Hörer der Rechte, als Teilnehmer an
unseren kriminalpsychologischen Übungen genaue Kenner
der Assoziationsmethode.
Herr Prof. Löffler fungierte bei diesem Experimente
als Zeitnehmer, der Schreiber dieses als Beobachter. Die
Reaktionszeit wurde, wie in Prag mittels der Fünftel-
sekundenuhr gemessen und jeder Vp. eingeschärft, mög-
lichst rasch und sinnvoll zu reagieren und im Falle der
„Schuld“ nach Möglichkeit „Unkenntnis“ zu simulieren.
Nach Abgabe aller Reaktionen wurde das von Jung
begründete sogenannte Reproduktionsverfahren an-
gewendet, welchesbekanntlich darin besteht, dass Vp. befragt
wird, womit sie auf jedes einzelne Reizwort reagiert hat2).
Leider wurden falsche Reproduktionen, d. h. solche,
bei denen Vp. ein von der früher abgegebenen Reaktion
verschiedenes Wort brachte, nur zum Teildem Wort-
laute nach protokolliert, während in den übrigen Fällen die
Tatsache, dass die Reproduktion anders ausfiel, als die
frühere Reaktion, vermittels des Vermerkes „unrichtig“
registriert wurde. Dieser Ausdruck bedeutet daher auch,
insofern erin der beigegebenen Tabelle erscheint, die mangel-
hafte Reproduktion, während „Fehler“ den gänzlichen
Ausfall der Reproduktion besagt, sei es, dass hier Vp.
faktisch nichts einfiel, oder dass sie aus Vorsicht, um sich
nicht zu verraten, die Reproduktion verweigerte.
Die beigegebene Tabelle I enthält eine ausführliche
Darstellung des Versuches.
Il. Versuchsergebnisse.
1. H. stud. jur. Sp.
Während die ersten vier Assoziationen irrelevant sind
und nichts Auffälliges zeigen, wird durch den Zuruf grün
(Ass. 5) der erste Teilinhalt angeregt und durch die zwei
unmittelbar folgenden Reizworte (Fenster- Allee) wieder-
holt angeschnitten; wiewohl auch hier die Assoziationen
als ganz harmlos erscheinen, ist es verdächtig, dass bei
Assoziation 6 (Fenster-Türe) die richtige Reproduktion aus-
bleibt und dass dasselbe auch bei den folgenden Reaktionen
der Fall ist. |
2) Dieses Reproduktionsverfahren ist nicht zu verwechseln mit der
von Wertheimer eingeführten Reproduktionsmethode (vergl. dessen
Abh. „Tatbestandsdiagnostische Reproduktionsversuche‘“ in Hans Gross
Archiv für Kriminalanthrop. 1906), für welche ich, um allen Ver-
wechslungen vorzubeugen, die Bezeichnung „Erzählungsmethode“ in
Vorschlag bringe.
=. TO e
Mit dem zugerufenen Reizworte Steinsalz ist der zweite
Teilinhalt ziemlich stark angeschnitten. Vp. gelingt es,
eine inhaltlich unauffällige Reaktion bei kurzer Reaktions-
zeit aufzubringen, dagegen misslingt ihr auch hier wieder
die Reproduktion, indem sie zwar gleich zwei Worte bringt,
von denen aber weder das eine, noch das andere die richtige
Reaktion ist; teilweise unrichtig reproduziert ist auch die
Assoz. „Schiene-Bahn‘“ (14).
Als direkt komplexverräterisch muss die Reaktion
„Beschwerer‘“ auf das Reizwort ‚Brief‘ bezeichnet werden;
mögen zwar Reaktionen in Form von Wortzusammen-
setzungen nichts Aussergewöhnliches, ja für gewisse
Personengruppen gradezu typisch sein, so muss doch die
hier gewählte Assoziation als höchst verdächtig be-
zeichnet werden und dürfte seine Beziehung zum Tatbestande
kaum in Frage stehen; kein Wunder, wenn unter diesen
Umständen auch die richtige Reproduktion ausbleibt.
Auf die gleiche Ursache ist aller Wahrscheinlichkeit
nach auch die unrichtige Reproduktion bei der bald darauf
folgenden Ass. „beschweren-weinen“ zurückzuführen. Die
einmal aufgetauchte und nunmehr perseverierende Vor-
stellung „Briefbeschwerer“ kann Vp. nicht mehr los werden;
unter dem Einflusse dieser Komplexkonstellation reagiert
sie auf „Briefwage“ genau so wie bei Ass. 15 — mit
„Beschwerer“ — eine Reaktion, die ohne die vorangeführte
Komplexkonstellation ganz unmöglich wäre — und braucht
hierzu noch eine Reaktionszeit von 6,2 Sek.! — dass hier
auch die richtige Reproduktion ausbleibt ist nur natürlich).
Die nachfolgenden, auf die im Zimmer befindlichen
Bilder Bezug habenden Reizworte haben, wenn wir von
3) Interessant war das Mienenspiel, mit welchem Vp. diese Assoz.
begleitete und in dem sich deutlich affektive Erregung ausprägle.
Während sich Vp. bei Assoz. (19) „Briefwage-Beschwerer‘ in ihrer
Verlegenheit, auf den unangenehmen Zuruf rasch eine harmlose
Reaktion zu finden, die Lippen biss, lachte sie später, als sie die
richtige Reproduktion nicht fand. (Über die Bedeutung des Lachens
für die Psychoanalyse s. Jung, Diagn. Assoziationsstudien, VIII. Beitr.
Assoziation, Traum und hysterisches Symptom, Journal f. Psych. u.
Neur. Bd. 8, 1906. S. 37.)
a a ce
zwei falschen Reproduktionen absehen, ziemlich vollständig
versagt!
Verdächtig erscheint erst Assoz. (45) „rauchen-nicht‘“ —
Vp. ist Nichtraucher, was auch, wie später noch aus-
zuführen sein wird, für das Experiment selbst von Einfluss
war; Reaktionszeit beträgt, trotzdem es sich um eine
recht billige Assoziation handelt 1'6 Sek.! Dem mit der
angeführten Assoz. angeschnittenen Komplexe ist es wohl
noch zuzuschreiben, wenn Vp. bei Ass. 47 auf „Anzünder“
die exorbitante Reaktion ‚Auslöscher‘‘ — bei einer Reaktions-
zeit von 1'6 Sek. — bringt. Bemerkt sei noch, dass bei
Ass, 42 eine ganz auffallende und erheblich lange Ver-
schlechterung der Reproduktion eintritt; nicht weniger als
sechs Reaktionen sind teils falsch, teils „nach längerem
Zögern“ wiedergegeben!
Bemerkenswert ist bei Assoz. 58 „Werkzeug-Utensilien“‘
die abnorme Reaktionszeit von 3,0 Sek., wobei daran ge-
dacht werden muss, dass hier die Reaktion eigentlich
nichts anderes, als einen anderen Ausdruck für das Reiz-
wort bringt; verdächtig erscheint auch die mangelhafte
Reprod. bei Ass. 61 f.
Klar und ohne Zweifel tritt uns bei Vp. der 7. Teil-
komplex — das auf einem Tische liegende theresianische
Strafgesetzbuch — entgegen. Auf Buch folgt die prompte
Reaktion Tisch; ‚Kaiser-Josef“ enthält eine mittelbar
komplexe Reaktion, das Mittelglied ist Maria Theresia
(s. hierüber unten); falsche Reproduktion.
Unter dem Einfluss der perseverierenden Vorstellung
steht Assoz. 78 „Kodex-Karolinus“ bei einer Reaktions-
zeit von 1,4 Sek., sowie die unrichtige Reproduktion
„Austriacus“; typischist,dassVp.anden ‚Kodex Theresianus“
wie festgebannt, nach einem anderen Gesetzestitel sucht
und so zu dem verdächtigen „Karolinus‘“ und zu dem noch
exorbitanteren ‚Austriacus“ die Zuflucht nimmt (das
Nähere hierüber später).
Dem Einflusse der Komplexkonstellation ist vermutlich
auch die von da ab eintretende Verlangsamung der
Reaktionszeit zuzuschreiben.
12
2. H. stud. jur. St.
Im Gegensatze zur ersten Vp. weist diese eine durch-
schnittlich Jängere Reaktionszeit auf (siehe Tabelle II).
Dagegen finden sich hier, wenn wir von der den Komplex
ansprechenden Assoziation „Buch-Strafgesetz‘‘ (73) absehen,
nicht eine einzige Reaktion, welche auf Komplex-
konstellation hindeuten würde!
Auch die Reproduktion zeigt hier ein wesentlich
günstigeres Bild, indem bei dieser Vp. die richtige 'Er-
innerung im Ganzen bloss in sieben Fällen versagte.
Dass es unter diesen Umständen nicht schwer fiel, bei
dieser Vp. mit voller Überzeugung auf Unkenntnis des
Tatbestandes zu schliessen braucht nicht erst bemerkt zu
werden. |
Des Interesses halber sei hier noch auf Ass. 25
„Ehe:44°“ verwiesen; mit der hier gewählten Reaktion
ist der den „Begriff der Ehe“ normierende § 44 des österr.
allg. bürgerl. Gesetzbuches gemeint, eine Assoz., welche
uns mit Rücksicht darauf, dass sich Vp. zur Zeit des
Experimentes im Prüfungsstadium befand, nicht wunder
nimmt. Damit ist zugleich wieder ein Beleg für die bereits
von Jung mehrfach beobachtete Tendenz gegeben, dass
manche Vp. mit Vorliebe ihre Reaktionen dem Stande,
welchem sie angehören resp. dem von ihnen gewählten
Berufe entnehmen‘).
3. H. stud. jur. O.
Gab die eben angeführte Vp. herzlich wenig Anlass
zu besonderen Bemerkungen, so trifft das Gegenteil für
Vp. O. zu. Während die ersten zwölf Assoziationen —
wenn wir von drei falschen Reproduktionen absehen —
4) Vgl. Experimentelle Beobachtungen über das Erinnerungs-
vermögen, im Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, 1905,
Nr. 196 S. 659 u. das von mir in Z. f. Strafrechtsw. XXVII S. 181 ff auszugs-
weise referierte Assoziationsexperiment, in welchem eine Vp. auf den
Zuruf „Mann“ mit „Loch“ reagierte, eine Assoziation, die auf den ersten
Blick uns als exorbitant erscheinen muss, tatsächlich aber ihre natürliche
Erklärung darin findet, dass Vp. Maschineningenieur ist uad das
„Mannloch“ als technischer Ausdruck in der Maschinenlehre dient.
— 13 —
nichts Verdächtiges enthalten, erscheint bereits Ass. 13
„Steinsalz-Ofen“ komplexverdächtig; um zu der an sich
sinnlosen Reaktion Ofen zu gelangen, braucht Vp. eine
Reaktionszeit von 1,4 Sek. und weiss sich dann bei der
Reproduktion nicht an die abgegebene Reaktion zu erinnern.
Anscheinend sinnlos ist die darauf folgende Assoz. „Schiene-
Papier“; in der Tat haben wir es mit einer mittelbar
komplexen Reaktion zu tun, welchein der Vorstellungskette
(Tramway)schiene-Briefbeschwerer-Papier ihre einfache
Erklärung findet. Die hier aufgebrauchte Reaktionszeit
von 1,6 Sek. übersteigt das normale Mittel um ein
Bedeutendes (s. Tabelle Il), daneben ist auch unrichtige
Reproduktion zu verzeichnen! Die auf diese Weise angeregte
Komplexkonstellation hält dauernd an.
. Hierauf ist zunächst ganz unzweifelhaft die unrichtige
Reproduktion bei „Brief-Karte“ zurückzuführen; diesem
Komplexe ist es aber auch zuzuschreiben, wenn Vp.,
welche an unverfänglichen Stellen sehr rasch reagierte,
für die Assoziation „beschweren-Tisch‘“ (worunter selbst-
verständlich Schreibtisch gemeint ist) eine Reaktionszeit
von 4 Sek. braucht und sich trotz dieser langen Überlegung
bei der Reproduktion nicht mehr an die abgegebene Reaktion
zu erinnern weiss.
Bei Ass. 19 reagierte Vp. auf Briefwage ganz flach
mit Brief bei einer Rz. von 2 Sek.; die unrichtigen Re-
produktionen (leicht, schwer) lassen sich einfach erklären,
wenn man daran denkt, dass bei Vp. die Erinnerung
durch den Komplex „Briefwage-Briefbeschwerer‘ gestört
wurde. Zugleich ist hier das Ausbleiben der Erinnerung
und der Wortlaut der unrichtigen Reprod. ein Beleg dafür,
dass das Reproduktionsverfahren u. U. einen höchst wert-
vollen Kommentar für die Erklärung einer Reaktion
abzugeben imstande ist.
Der nachfolgende Zuruf „Ehrlich“ wird als Adjektivum
aufgefasst und erzeugt wie bei den zwei anderen Vp.
die adversative Reaktion ‚„unehrlich“, bei kurzer Rz.
Ganz charakteristischer Weise ist aber diese Vp. allein
nicht imstande, sich bei der Reproduktion, auf die kurz
sa A a
vorher abgegebene Reaktion zu erinnern, trotzdem es sich
hierbei um eine höchst geringwertige Assoziationsart
(Gegensatzreaktion) handelt, bei welcher sich die Erinnerung
fast ausnahmslos einstellt. Auf dieses Moment wird
noch später zurückzukommen sein.
Komplexverdächtig ist weiter Ass. 47 „Anzünder-Zünd-
hölzchen“ bei einer zu langen Reaktionsz. von 2 Sek. Re-
produktion ist vollständig ausgeblieben. „Spiritus-Brenner“
(49) ist eine bereits ihrem Wortlaute nach komplexver-
räterische Assoziation; Reaktionszeit 1,4 Sek., Reproduktion
erfolgte zwar richtig, aber nach längerem Zögern.
Zur Reaktion auf den Zuruf „Werkzeug“ (58) braucht
Vp. 1,6 Sek., um dann auch noch falsch zu reproduzieren.
Bemerkenswert ist, dass von Ass. 60 an die Reproduktion
anhaltend schlechter wird: an fünf Stellen erfolgt un-
richtige Wiedergabe, in vier Fällen bleibt dieselbe ganz aus.
Direkt auf das Vorliegen des Versuchskomplexes weist
Ass. 67 „Schirm-Ofen“ hin, welche kurz darauf in um-
gestellter Form (Ofen-Schirm) wiederkehrt; während dort
die Erinnerung überhaupt ausgeblieben ist, wird hier falsch
reproduziert. Unter dem Einfluss der Komplexkonstellation
steht die unmittelbar folgende höchst flache Assoz. ‚Papier-
korb-Papier‘ bei einer exzessiv langen Reaktionszeit von
2 Sek.; der noch perseverierenden Komplexvorstellung ist
wohl auch die zu lange Reaktionszeit der folgenden Ass.
zuzuschreiben. Als komplexverdächtig erscheint weiter
der Umstand, dass bei Ass. 73 falsch reproduziert wird,
desgleichen die unrichtigen Reproduktionen bei Ass. 82
und 83.
IV. Die Diagnose.
Nach Abwicklung des Versuches wurden vom Ex-
perimentator die Ergebnisse erläutert, sodann unter Be-
obachtung des oben dargestellten Vorganges die Diagnose
dahin gestellt, dass Herr St. (Vp. II) unbedingt un-
schuldig, Herr O. (Vp. II) zweifellos schuldig und Herr
Sp. (Vp. D) als im höchsten Grade verdächtig erscheine,
letzterer müsse entweder gleich Herrn O. das fragliche Lokal
s IR. m
aus eigener Wahrnehmung kennen oder von den in
demselben befindlichen Gegenständen von irgend einer Seite
genaue Mitteilung erhalten haben. Bezüglich der Herren
St. und O. war die Diagnose vollständig richtig, bezüglich des
Herrn Sp. insofern nicht ganz präzis, als ich diese Vp. nur
als „im höchsten Grade verdächtig“ bezeichnete, während
sie ebenso wie Herr O. schuldig war, indem beide das
betreffende Zimmer gesehen hatten. Von Herrn O. war ich
speziell in der Lage zu konstatieren, dass er nicht nur das
Versuchslokal kenne, sondern daselbst auch die Adresse des
für Herrn Prof. Eugen Ehrlich bestimmten Briefes gelesen
haben müsse, was Vp. auch zugab, indem sie sich, unter
der allgemeinen Heiterkeit der Seminarbeteiligten ob ihrer
Indiskretion bei Herrn Prof. Löffler entschuldigte.
Zu dieser Annahme veranlasste mich die Tatsache,
dass Herr O. allein, offenbar unter dem Einflusse der durch
die Assoz. „Briefwage-Brief“ hervorgerufenen Komplex-
konstellation, ausserstande war die Reaktion „unehrlich“ zu
reproduzieren.
Wie bereits bemerkt, wurden auch die übrigen Seminar-
beteiligten um ihr Urteil befragt, welches von geringen
Ausnahmen abgesehen, völlig zutreffend ausfiel. Nicht
ohne Grund verweise ich auf diesen Umstand, da er mir
ein Beleg dafür zu sein scheint, dass es zur Verwertung
der Assoziationsmethode im Dienste der Kriminalistik nicht
einer besonderen psychoanalytischen Begabung bedarf.
V. Die einzelnen Komplexmerkmale.
1. Der inhaltliche Charakter der Reaktionen.
Unter den uns bisher bekannten sogenannten Komplex-
merkmalen, d. h. unter jenen Momenten, denen unter Um-
ständen für die Frage nach dem Vorhandensein eines Tat-
bestandes symptomatische Bedeutung zukommt, ist in erster
Linie der inhaltliche Charakter der Reaktionsworte zu nennen.
Die Berücksichtigung dieses Merkmales empfiehlt sich neben
Anderen schon aus dem Grunde, weil „schuldige“ Vp.
zuweilen Reaktionen bringen, welche nach ihrem blossen
Wortlaute bereits Komplexkenntnis verraten, in welchen
se. Ne. we
Fällen man sich sagen muss, Vp. hätte derart überhaupt
nicht reagieren können, wenn ihr der Versuchstatbestand
unbekannt gewesen wäre.
Derlei charakteristische Reaktionen finden sich, wenn
auch in geringer Zahl bei den „schuldigen“ Vp. im oben
dargestellten Experimente. So reagierte Herr Sp. auf Schiene
mit Beschwerer, eine Assoziation, die sich ohne Komplex-
kenntnis überhaupt kaum denken lässt; das Gleiche muss
bezüglich der Ass. „Briefwage-Beschwerer“ gelten.
In ihrem Selbstbeobachtungs-Protokolle erklärte hier-
zu Vp., dass die Vorstellung von dem auf dem Schreib-
tische befindlichen Briefbeschwerer so stark gewesen sei,
dass esihr „unmöglich gewesen wäre, sich ihr zu entziehen“.
Gleich verhängnisvoll wurde dieser Komplex auch für
die andere „schuldige* Vp., da die Assoziation „Schiene-
Papier“ als mittelbar komplex auf Kenntnis des Tatbestandes
hinweist, desgleichen die Ass. „Beschwerer-Tisch“, sowie
die flache Reaktion „Brief“ auf „Briefwage“.
Auch der Teilkomplex „Rauchtisch“ istin der erwähnten
Richtung nicht ohne Folgen geblieben. Herr Sp. reagierte
auf „Rauchen“ mit „nicht“, was sich daraus erklärt, dass
ihm bei Besichtigung des Versuchsobjektes Zigaretten an-
geboten wurden, die er als „Nichtraucher“ ablehnte. Noch
ansprechender sind die auf diesen Komplex bezüglichen
Reaktionen des Herrn O., der sich als „Raucher“ mit dem
Rauchtische eingehender beschäftigte, dann aber auch dem-
entsprechende Reaktionen abgab; die Assoz. „Anzünder-
Zündhölzchen“ ist bereits ihrem äusseren Wortlaute ver-
dächtig, Ass. „Spiritus-Brenner“ weist direkt in unzwei-
deutiger Weise auf Komplexkenntnis hin. Typisch ist es
übrigens, dass diese Vp. allein den Zuruf „Kraut“ in dem
Sinne auffasst, in welchem er beabsichtigt war und ihn
sinnvoll mit „rauchen“ beantwortet.
„Ganz umgebracht“ wurde Herr Sp., wie er bemerkte,
durch die Theresiana; dabei ist es charakteristisch, dass
sich während des Experimentes hierbei ein neuer mittel-
barer Komplex einschlich, der eine längere Zeit hindurch
Vp. beunruhigte. Die bereits nach ihrer äusseren Be-
arg, =
schaffenheit mittelbar komplexe Ass. „Kaiser-Josef“ lässt
merkwürdigerweise unter dem Einflusse des Komplexes
der „Theresiana“ die Vorstellung „Kodex-Josefinus“ auf-
treten, von welcher sich Vp. „unmöglich losreissen* kann.
Dass sie auf den folgenden Zuruf Kodex, der schon durch
die vorangehende Ass. in Bereitschaft steht, nicht mit
„Josefinus*“ antworten dürfe, weiss sie. Wie festgebannt
sucht sie daher nach dem Namen eines anderen Gesetz-
gebers und greift so in ihrer Bedrängnis zu „Karolinus“
resp. „Austriacus* (s. hierüber unten).
Bemerkenswert ist schliesslich in dieser Richtung noch
bei Herrn O. die Ass. „Schirm-Ofen“, welche bald darauf
in umgekehrter Form wiederkehrt.
So erscheinen in materiell qualitativer Richtung einzelne
Ass. derart signifikant, dass aus ihnen allein bereits zu-
versichtliche und begründete Schlüsse auf Kenntnis des
untersuchten Tatbestandes gezogen werden können. M.E.
wird auch bei allen künftigen Assoziationsversuchen aus
dem oben dargestellten Grunde dieses Merkmal in erster
Linie in Betracht kommen müssen.
Selbstverständlich werden sich die Ergebnisse je nach
der Stärke des Gefühlstones, der momentanen Disposition
des Untersuchten und seiner Individualität überhaupt ver-
schieden gestalten. Sicherlich wird man auf Personen
treffen, deren Reaktionen nur ganz vereinzelt materiellen
Selbstverrat enthalten, zumal daran zu denken ist, dass
für diese Frage nicht allein die Eigenheit des Untersuchten,
sein Charakter, seine grössere oder geringere Verstellungs-
kunst, sein Erinnerungsvermögen und dergl. in Betracht
kommen, sondern auch die Beschaffenheit des zur Unter-
suchung stehenden Komplexes eine bedeutende Rolle spielt.
Ist der Tatbestand banal und handelt es sich überall nur
um gewöhnliche Dinge des Alltagslebens, so werden auch
die Reaktionen materiell nichts Auffälliges zeigen, und es
wird der Experimentator möglicherweise dann genötigt sein,
von diesem Momente ganz abzusehen und lediglich die
übrigen Komplexmerk male als Grundlage für seine Diagnose
zu verwenden.
2
a 18 u
Ganz ungerechtfertigterweise machen in dieser Richtung
Kramer-Stern?) den „Vertretern der Prager Schule“ den
Vorwurf, sie hätten „den ganzen Vorgang für zu einfach
gehalten“, indem sie den „direkten inhaltlichen Selbst-
verrat für das Normale“ ansahen. Dies haben die Vertreter
der sog. Prager Schule nie getan. Was Wertheimer
betrifft, so glaube ich, dass. dieser nicht im Entferntesten
daran gedacht hat, aus der inhaltlichen Beschaffenheit der:
Reaktionen allein Schlüsse zu ziehen; ich selbst hatte
wiederholt Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass sich Fälle
finden werden, in denen der Tatbestand keine Besonder-
heiten aufweist und dementsprechende gewöhnliche, ihrem
Äusseren nach ganz unauffällige Reaktionen zur Folge
haben wird, in denen daher lediglich die übrigen Kriterien
zu Rate gezogen werden können).
Und wennKramer-Stern daraufhin zu dem „Ergebnis“
gelangen: „Die Komplexhaltigkeit von Reaktionen kann
sich in. einer ganzen Reihe sehr verschiedener Kriterien
bekunden; und bei der Diagnose müssen alle diese Kriterien
gleichzeitig berücksichtigt werden“, so haben sie damit
nichts Neues gefunden.
Bereits in einer meiner ersten Publikationen”) bemerkte
ich: „nie dürfen die Ergebnisse dieser Assoziationsversuche
von einem einseitigen Standpunkte beurteilt und gewertet
werden. Nicht aus einer Reaktion allein, nicht deshalb,
weil der Untersuchte im einzelnen Falle zur Reaktion eine
längere Zeit brauchte, nicht dies ‚allein überzeugt mich
von ihrer Schuld oder Unschuld. Nur das Gesamtergebnis,
die Reaktionen überhaupt, die Art und Weise, wie sie
erfolgten, .. .. nur alles zusammen bietet mir ein Bild,
aus welchem ich im gegebenen Falle auf Kenntnis oder
Unkenntnis des Tatbestandes urteilen kann .... *.
5) Selbstverrat durch Assoziation in Beiträge zur Psych. der Aus-
sage 2. Folge 4. H. S. 30.
6) Vgl. neuerdings meine Abhandlung „Die Assoziationsmethode
im Strafprozess“ in Z. f. Strafrechtsw. XXVII. S. 199 ff.
1) Zur psych. Tatbestandsdiagnostik, Monatsschrift für Kriminalps.
u. Strafrechtsref., 1905, S. 183.
= y
Damit ist zugleich auch die von Kramer-Stern8) auf-
gestellte Behauptung, dass wir unsere Forderungen haupt-
sächlich auf solche Assoziationen aufbauen, die schon
ihrem Äusseren nach komplexverräterisch sind, widerlegt.
Zutreffend hingegen ist ihre Bemerkung, dass derartige
materiellen Verrat übende, d. h. dem gesuchten Tatbestande
unzweifelhaft entnommene Reaktionen, dort, wo sie vor-
liegen, das schwerste Indiz für die Kenntnis des Tatbestandes
abzugeben imstande sind. Aus diesem Grunde dürfte es
angezeigt sein, auch künftighin in erster Linie die Reaktionen
ihrem Wortlaute nach zu untersuchen und hierbei auch
qualitative Abnormitäten, wie Wiederholungen, Sinnlosig-
keit, Krüppelreaktionen u. dgl. nicht aus dem Auge zu lassen.
Notwendig erscheint es mir aber, hierbei auf die nicht
geringe Gefahr hinzuweisen, welche u. U. mit einer Prüfung
jeder einzelnen Reaktion, nach der materiell-qualitativen
Seite hin, verbunden sein kann. Dergleichen Bedenken
möchte ich insbesondere gegen das von Jung ein-
geschlagene Verfahren geltend machen, welcher es unter-
nimmt, den jeder einzelnen Assoz. möglicherweise zugrunde-
liegenden Zusammenhang zu deuten und zu erklären.
Begreiflich ist ein solcher Vorgang, wenn man über tüchtige
psychoanalytische Qualitäten verfügt, und wenn man, wie
dies bei der psychiatrischen Verwertung der Assoz. fast
durchwegs der Fall ist, im Untersuchten nicht einen Gegner,
sondern einen Freund findet, der im eigenen Interesse jede
mögliche Unterstützung gewährt (s. hierüber noch unten).
Ist dies alles jedoch nicht der Fall, dann kann jenes
Deuten der einzelnen ÄAssoz., welches ja wesentlich von
subjektiven, vielfach durch vorgefasste Meinung getrübte
Vermutungen beeinflusst wird und nicht zum geringen Teile
vom psychologischen Takte des Einzelnen abhängig ist,
leicht auf Irrwege leiten. Nicht darf also, rebus sic stantibus,
der Beobachter seine Aufgabe darin erblicken, die einzelnen
Assoz. zu entziffern und herauszufinden, auf welchen Um-
stand vermutlich eine bestimmte Reaktion zurückzuführen
sei u. dgl.; wäre dies seine Aufgabe, dann wäre er ihr
8) a. a. O.
ef e
sicherlich nicht gewachsen. Denn stets könnte sich sein
Urteil vorzüglich bloss auf Mutmassungen stützen, die
niemals Grundlage einer exaktenDiagnose bilden dürfen.
M. E. hat die qualitative Verwertung des Wortlautes
der Reaktionen lediglich in der Richtung zu erfolgen, dass
dort, wo sich in eklatanter Weise ein Zusammenhang
zwischen einigen Reizw. und dem gesuchten Komplexe
ergibt, diesbezügliche Schlüsse gezogen werden; dort aber,
wo sich eine solche Verwandtschaft nicht in einer für
Jedermann erkennbaren Weise zeigt, muss auf die Verwertung
dieses Kriteriums Verzicht getan werden, und können
dann lediglich die übrigen Komplexmerkmale in Betracht
kommen?).
Als solches erscheint zunächst
2. Die Perseverationstendenz der Vorstellungen.
Wir verstehen darunter bekanntlich das Bestreben einer
im Bewusstsein aufgetretenen Vorstellung, auch späterhin
„frei in das Bewusstsein zu steigen“;10) begünstigt wird
diese Tendenz, wenn einer Vorstellung besonders grosses
Interesse entgegengebracht wird oder wenn die Vorstellung
von vornherein mit lebhaftem Gefühlstone ausgestattet ist.
Zutreffend wurde allgemein die hohe Bedeutung dieser
Erscheinung, welche neben der Assozialions- oder Re-
produktionsstärke auf den ganzen Vorstellungsverlauf den
grössten Einfluss ausübt, erkannt. So weist bereits
Fechner!!!) bei Besprechung der Wiederholungsemp-
findungen auf die Fälle hin, in welchen wir dann, wenn
9) Übereinstimmend bemerken auch Kramer-Stern (a. a. 0. S.
31), dass man sich auf die inhaltliche Wertung der Reaktion
allein nicht verlassen dürfe, dass es insbesondere auch nicht angehe,
in negativer Richtung „das Fehlen eines solchen inhaltlichen Verrates
als Beweis für die Harmlosigkeit oder Unschuld der Versuchsperson“
zu deuten.
10) G. E. Müller und A. Pilzecker, Experimentelle Beiträge zur
Lehre vom Gedächtnis. Zeitschr. für Physiol. u. Psych. der Sinnes-
org. 1900, Ergänzungsb.l S. 58.
1) G. T. Fechner, Elemente der Psychaphysik, Leipzig 1860.
2. T. S. 499 ff.
2]
wir unsere Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Phänomen
durch längere Zeit konzentriert haben, in einem späteren
unbeschäftigten oder ermüdeten Zustande, das von uns
früher intensiv beobachtete Bild in voller Klarheit im
dunklen Gesichtsfelde erkennen. Die gleiche Erscheinung
ist auch für akustische Erlebnisse, sowie für die Reproduktion
von Bewegungen zu konstatieren !?).
Diese Art der Wiederholungsempfindungen führen
Müller-Pilzecker darauf zurück, dass durch die zu
wiederholtenmalen mit besonderer Intensität aufgetretenen
Empfindungen in gewissen Partien des Nervensystems
das Streben hervorgerufen wird, „diese Nervenerregungen
in der früheren Beschaffenheit und Reihenfolge“ wieder
zu reproduzieren.
Mit diesem dem Sinnengedächtnisse angehörenden
Phänomene verbindet Fechner das ganze Gebiet der un-
willkürlichen Halluzinationen, angefangen von den zumeist
auf Kongestivzustände zurückzuführenden einfachen Hallu-
zinationsphasen, in denen wir Gegenstände zu erblicken
vermeinen, die nicht vorhanden, oder Geräusche zu ver-
nehmen glauben, die faktisch nicht zu hören sind, bis zu
den Phantasiebildern, welche den Fiebernden quälen und
den unseligen Phantasmen, die den Wahnsinnigen nicht
zur Ruhe kommen lassen ?).
Auch diese Halluzinationen sind vielfach auf die gleiche
Ursache wie die sog. Wiederholungsempfindungen zurück-
zuführen, indem eine unter besonderen Umständen wirklich
gemachte Wahrnehmung unauslöschlich haften bleibt und
unter dem Einflusse der Perseveration immer wieder Vor-
stellungen ins Bewusstsein emporschickt#).
12) Ein interessantes Selbsterlebnis referiert Fechner a. a. O
S. 501 f.
13) Verwiesen sei hier bloss auf die gradezu historisch gewordenen
und in der Litteratur an zahlreichen Stellen berichteten Halluzinations-
erscheinungen des Buchhändlers Nicolai; vgl. insbesondere I. Müller:
Über die phantastischen Gesichtserscheinungen, 1826, S. 20 ff.
14) Von einem hierher gehörigen interessanten Fall spricht
Fechner (a. a. O. S. 512 f.), in welchem ein Mädchen einmal einen
exorbitant ausgestatteten Menschen, der eine rote Mütze trug und an
22
Abgesehen von diesen, zumeist bereits dem Gebiete
der Pathologie angehörenden Fällen, spieltdie Perseverations-
tendenz der Vorstellungen auch im Seelenleben des Ge-
sunden eine ausserordentliche Rolle.
In dieser Tendenz hat zunächst die in der experi-
mentellen Psychologie als motorische Einstellung'’) be-
zeichnete Erscheinung ihren Grund, auf die gleiche Tendenz
ist es aber auch beispielsweise zurückzuführen, wenn uns
plötzlich eine früher einmal gehörte Melodie einfällt, welche
uns nun den ganzen Tag über verfolgt und die wir nicht
los werden können, trotzdem sie vielleicht absolut nicht
zu den uns gerade beschäftigenden Dingen passt. Das
gleiche Perseverationsstreben bringt aber auch jene zahl-
reichen kleinen Störungen und Irrtümer mit sich, wie sie
das Alltagsleben in hundertfältiger Gestalt aufweist, von
deren Vorhandensein der Irrende oft erst durch Dritte
Kenntnis erlangt, so wenn wir uns versprechen, verlesen,
verschreiben u. dgl. m. Auch diese Erscheinungen können
vielfach nicht anders erklärt werden, als dass ein kurz
vorher gesprochenes, gelesenes oder geschriebenes Wort
noch späterhin „nachklingt“* und so seinen störenden Ein-
fluss auf das Folgende ausübt !®).
Schliesslich kann die Bedeutung der Perseverations-
tendenz der Vorstellungen darin bestehen, dass eine einmal
aufgetauchte Vorstellung das Bestreben hat, sei es über-
haupt längere Zeit zu verweilen oder bald nach ihrem
Verschwinden wieder aufzutauchen, auch für unsere
diagnostischen Untersuchungen gar nicht in Abrede gestellt
werden. Überzeugung hiervon erlangte ich teils durch
Selbstbeobachtung, teils durch die Erklärungen meiner
einem Knochen nagte, erblickte und darob so sehr erschrak, dass ihm
noch ungezähltemale das Bild dieses Mannes als Phantasma erschien
und dass es erst langer Zeit bedurfte, bis diese Erscheinung allmählich
verblasste. |
15) Über den Begriff der motorischen Einstellung vgl. Laura
Steffens in Zeitschr. f. Psych. 1900, 23. Bd.
16) Vgl. Mehringer u. Mayer, Versprechen und Verlesen, Stutt-
gart 1895 insbes. S. 53 ff. und die fesselnde Darstellung in Freud's
„Zur Psychopathologie des Alltagslebens“.
Pen 293 -—-
Versuchspersonen. Es ereignen sich Fälle, in welchen eine
durch ein Reizwort erzeugte Vorstellung ihre Wirksamkeit
während des ganzen Versuches äussert und sich gleich
einem roten Faden durch die ganze Reaktionsreihe zieht.
Auf diesen Umstand ist das vielfach beobachtete Auf-
treten habitueller Deckreaktionen, wie ich sie be-
zeichnen möchte, zurückzuführen, welches darin besteht, dass
entweder ein früher zugerufenes Reizwort späterhin zu
wiederholtenmalen als Reaktion verwendet wird, oder dass
Vp. überhaupt mit einem und demselben Worte ganz ver-
schiedene Zurufe beantwortet.
Bereits Aschaffenburg!”) beobachtete diese Er-
scheinung und begründete den Umstand, dass ein früheres
Reaktionswort späterhin. auch dort, wo dasselbe absolut
nicht am Platze ist, zur Verwendung gelangt, damit, dass
die jener Assoziation entsprechende Vorstellung bei der
betreffenden Vp. allzulange im Bewusstsein gehaftet
habe. Dem gegenüber betonen Müller-Pilzecker'®), m. E.
mit Recht, dass man aus dem häufigeren Auftreten solcher
Wiederholungen noch keinerlei Schlüsse auf besondere
Qualitäten der Vp. ziehen dürfe und führen derlei minder-
wertige Reaktionen in erster Linie auf ein mangelhaftes
Eingehen auf das Versuchsverfahlren zurück !9).
Diese Ansicht scheint mir die richtige zu sein; ich
fand sie u. a. bei ungebildeten Vp. bestätigt, welche
uneingedenk der ihnen zu Anfang erteilten Belehrung
immer wieder aus der Rolle fielen und ihre Reaktionen
17) Exp. Studien in Kraep. psych. Arbeiten Bd. 1, S. 278, 2 B. S. 31.
18) a. a. O. S. 63.
-~ , 19) Auf eine nähere Darstellung und Erläuterung der Perseverations-
tendenz der Vorstellungen, insbesondere auch den weittragenden Ein-
fluss, den dieselbe auf unseren ganzen Denkprozess ausübt, kann
in diesem Zusammenhange nicht eingegangen werden; nicht versagt
sei, auf das innige Verhältnis zu verweisen, welches zwischen diesem
Phänomen und der Merkfähigkeit besteht, bezüglich dessen Müller-
Pilzecker (a.a. O.S. 77) zutreffend bemerken, „dass Individuen mit
starker Terseveration in einem Berufe, welcher einen schnellen und
häufigen Wechsel der Richtung der Aufmerksamkeit, eine schnelle Er-
ledigung zahlreicher, ganz verschiedenartiger Geschäfte verlangt, mit
ihren Fähigkeiten nicht am rechten Platze sind“.
24
kritiklos den Gegenständen ihrer unmittelbaren Umgebung
entnahmen bezw. früher gebrauchte Reaktionen sinnlos
auch späterhin wiederholten.
Hingegen können derlei Störungen im normalen
Assoziationsverlaufe bei Vp., welche das Wesen der Methode
vollständig erfasst haben, lediglich mitder Perseverations-
tendenz der Vorstellungen begründet werden, namentlich
dann, wenn sich solche habituelle Deckreaktionen vor-
nehmlich nur an jenen Stellen finden, an welchen Komplex-
konstellationen affektive Erregung erzeugten. In solchen
Fällen nimmt die mit besonderem affektiven Tone aus-
gestattete Vorstellung unsere Aufmerksamkeit so sehr
gefangen, dass wir auf das Wesen des Verfahrens ganz
vergessen und rein mechanisch, um nur überhaupt etwas
zu sagen, ein Wort als Reaktion benützen, das uns gerade
zur Verfügung steht, mag es mit dem Zurufe in noch so
disparatem Verhältnisse stehen.
Daraus ergibt sich für unsere tatbestandsdiagnostischen
Zwecke die Tatsache, dass an und für sich aus einer Reihe
solch habitueller Wiederholungen noch nicht auf das Vor-
liegen einer Komplexkonstellation gefolgert werden darf;
erst dann, wenn wir die Überzeugung gewonnen haben,
dass die Vp. den wahren Gang des Verfahrens erfasst und
demgemäss anhaltend sinnvoll reagiert hat, dann aber
plötzlich an einzelnen Stellen den normalen Assoziations-
verlauf durchbricht, um sich hier der erwähnten Hilfen zu
bedienen, dann kann mit ziemlicher Sicherheit der Schluss
gezogen werden, dass an diesen Stellen die Perseveration
komplexer Vorstellungen die Ursache der Störunggewesensei.
Auch im oben angeführten Experiment machte sich die
Perseverationstendenz vorwiegend in der Richtung geltend,
dass eine durch ein Reizwort erregte Komplexvorstellung
mit solcher Stärke auftrat, dass sie mehrere der folgenden
Assoziationen hindurch das Aufkommen jeder anderen
Vorstellung unterdrückte und die Vp. während dieser Zeit
vollends im Banne hielt. So erklärte Herr Sp., es habe
ihm bei Ass. 73 „Buch-Tisch“ „das offen auf dem Tische
liegendeTheresianische Strafgesetzbuch mitden Abbildungen
25
der Folterwerkzeuge durch längere Zeit so intensiv vor
Augen geschwebt‘“, dass ihm ein Unterdrücken dieser Vor-
stellung unmöglich gewesen sei; der Hand in Hand mit
dieser Perseveration aufgetretenen Auimerksamkeitsstörung
ist denn auch die auffallende Veriangsamung der Reaktions-
zeitzuzuschreiben, welche erst allmählich wieder dasNormale
erreicht.
Bei Herrn O. war es u. A. wieder vornehmlich die
Vorstellung „vom Schreibtisch mit dem darauf befindlichen
Briefbeschwerer‘“, welche seine ganze Aufmerksamkeit so
sehr in Anspruch nahm, dass es ihm dauernd unmöglich
wurde, „sich hiervon loszureissen“ und an etwas anderes
zu denken. Diesem Umstande entspricht auch das exzessive
Anschwellen der Reaktionszeit, welche erst nach sieben
Reaktionen zum Sinken kommt; Vp. war es bekannt,
dass sie sich an dieser Stelle „am meisten verraten haben
müsse“.
Es muss bemerkt werden, dass die Untersuchungen
in der erwähnten Richtung nicht als abgeschlossen an-
gesehen werden dürfen; gerade nach dieser Seite erscheint
mir die Methode eines weiteren Ausbaues fähig und bedürftig,
vornehmlich wird auf detaillierte Protokollierung der
diesbezüglich gemachten Selbstbeobachtungen hinzuwirken
sein. Allerdings kann eine solche spezifizierte Protokoll-
führung, da sie stete Unterbrechung des Reagierens erfordert,
bloss bei offenen Tatbeständen vorgenommen werden.
Berechtigter Grund aber ist m. E. für die Vermutung
gegeben, dass diese Perseverationstendenz der Vorstellungen
in den Fällen des Lebens, in welchen wir es mit wahren
„individuellen Assoziationen“ zu tun haben, in noch
stärkerem Masse in die Erscheinung treten wird, als dies
bereits bei reinen Laboratoriumsversuchen der Fall war.
3. Die Reaktionszeit.
Neben den bisher angeführten Kriterien kommt als
weiteres Komplexmerkmal die Reaktionszeit (Assozia-
tionszeit) in Betracht, worunter wir bekanntlich die zwischen
dem Zurufe des Reizwortes und der Reaktion verfliessende
26
Zeit zu verstehen haben. Wie bereits Claparede®%),
Ziehen?!), Thumb-Marbe22), Jung®3) u. A. dargetan
haben, handelt es sich hierbei um eine zusammengesetzte
Zeitgrösse, beeinflusst von einer ganzen Reihe von Kom-
ponenten, von denen bisher nur einige unserer Kenntnis
zugänglich wurden; von diesen uns bekannten, die Dauer
der Assoziationszeit determinierenden Faktoren kommen in
erster Linie die Perzeption des Reizwortes, das Auftauchen
der durch den Zuruf angeregten Bedeutungsvorstellung
(„Identifikation“), die Assoziation im eigentlichen Sinne,
d.i. das Nachsichziehen der neuen Vorstellung durch die
induzierende, sowie die sprachliche Emotion der Reaktion
in Betracht).
Für diese Reaktionen aber ist wieder mitbestimmend
die Qualität des Reizwortes, in erster Linie seine
äussere Beschaffenheit, wie Länge) und grammatische
Form (Substantivum, Adjektivum, Verbum etc.) und seine
Wortbedeutung — Abstrakta verlangsamen erfahrungs-
gemäss im Allgemeinen die Assoziationszeit gegenüber
Konkreten — weiters die Fassung des Reaktionswortes
und schliesslich die Art der Assoziation selbst, indem die oft
%) L'association des idèes, Paris 1903 p. 275.
21) Die Ideeassoziation des Kindes, 2. Abh. S. 14.
22) A. Thumb u. K. Marbe, Experimentelle Untersuchungen
über die psychologischen Grundlagen der sprachlichen Analogiebildung,
Leipzig 1901, S. 11 fl.
23) Über das Verhalten der Reaktionszeit beim Assoziations-
experiment, Leipzig 1905, S. 3.
%4) Hierbei darf jedoch nicht ausser Acht gelassen werden, dass
nicht überall das Reizwort eine Bedeutungsvorstellung auslöst
und diese eine andere Vorstellung assoziiert, welche in der Reaktion
zu Worte kommt, vielmehr ist der Fall nicht selten, dass eine Vp.
Reaktion an Reiz reiht, wobei sie sich bei der Assoziation weder der
Bedeutung des Zurufes, noch der des Reaktionswortes bewusst wird:
vergl. Thumb-Marbe a. a. O. S. 15 und die schönen Ausführungen bei
Jung, Über das Verhalten... S. 21.
2) Zutreffend heisst es bei Thumb-Marbe (a. a. O. S. 47): „Wir
dürfen nicht tibersehen, dass die zugerufenen Worte eine verschiedene
Länge haben, und dass offenbar die Länge des Reizwortes bei unserer
Messung der Assoziationszeit in Betracht kommt“.
27
rein mechanisch aufgebrachten flachen äusseren Asso-
ziationen im Durchschnitte kürzere Reaktionszeiten auf-
weisen, als die einem eigentlichen Denkprozesse ent-
sprungenen inneren Assoziationen. Nicht zuletzt macht
sich auch der Einfluss der Individualität der untersuchten
Person selbst geltend, insbesondere ihr Alter und Geschlecht,
ihre Bildungsstufe und assoziative Gewandtheit, ihre Auf-
merksamkeit und Ausdauer, kurz, es kommt ihre ganze
jeweilige Bewusstseinslage in Betracht.
Gerade die letztangeführten Momente, welche selbst bei
ein und demselben Individuum nie konstant bleiben,
vielmehr unter dem Einflusse der die Person jeweils be-
schäftigenden Erlebnisse und Strebungen steter Wandlung
unterworfen sind, beweisen am besten, dass es absolut nicht
angehe, die bei einer Vp. für eine bestimmte Reaktionsreihe
gefundene Reaktionszeit, kritiklos späteren Untersuchungen
zugrunde legen zu wollen.
So zeigte u. A. bei meinen Experimenten gelegentlich
eine Vp. (Dame) für eine freie Assoziationsreihe eine mittlere
Reaktionszeit von 1,8 Sek., während bei einem wenige Tage
darauf vorgenommenen Versuche ihre Reaktionszeit trotz
Benutzung der gleichen Reizreihe ein Mittel von 2,2 Sek.
aufwies.
Geht es somit nicht an, die bei einer Vp. einmal.
gefundene mittlere Assoziationszeit ohne weiteres späteren
Untersuchungen zugrunde zu legen, so ist es um so un-
haltbarer, für ganze Gruppen von Personen (Männer —
Frauen, Gebildete — Ungebildete etc.) mittlere Reaktions-
zeiten aufzustellen und diese dann bei diagnostischen
Untersuchungen als Masstab verwenden zu wollen.
Infolge der Ungleichheit der die Reaktionszeit be-
stimmenden Faktoren wird es kaum zwei Menschen geben,
bei welchen diese Faktoren in gleicher Zahl und gleicher
Stärke vorhanden, die gleiche Reaktionszeit zur Folge hätten.
Daraus ergibt sich aber auch die nicht genug zu betonende
Tatsache, dass es schlechthin unmöglich ist, aus
den für gewisse Personengruppen angeblich gefundenen
Zeitmitteln Schlüsse auf die Assoziationen eines bestimmten
28
Individuums ziehen zu wollen; denn nirgendwo spielt wohl
die Individualität der Einzelperson eine so bedeutsame Rolle,
als auf dem Gebiete der das innerste Seelenleben zum
Ausdrucke bringenden Assoziationstätigkeit.e. Durch die
jeweilige Bewusstseinslage streng determiniert, ist diefüreine
bestimmte Vp. unter bestimmten Verhältnissen gefundene
Durchschnittszeit für andere Fälle schlechthin unanwendbar.
Aus diesem Grunde sind die mit geradezu staunens-
werter Mühe und Ausdauer in dieser Richtung geleisteten
Arbeiten für unsere forensen Untersuchungen absolut
wertlos2). Der Verschiedenheit des Materials, welches
den einzelnen Beobachtern zur Untersuchung stand, ent-
sprechen denn auch die ungemein divergierenden Resultate,
zu welchen die einzelnen Schriftsteller gelangten und die
gewiss nicht allein auf eine verschiedene Berechnungs-
methode zurückzuführen sind.
So gibt Galton?”) die durchschnittliche Reaktionszeit
mit 1—8 Sek. an, findet Feré28) bei Männern eine mittlere
Rz. von 7006, bei Frauen von 8306, während sich bei
Aschaffenburg2) dieselbe zwischen 1,2—1,4 Sek. und
bei Jung®0) zwischen 1,3 und 2,2 bewegt, und wieder
Kramer-Stern3!) die Zahlen 1,6 bezw. 1,8 als mittlere
Reaktionszeiten angeben.
M. E. sind alle diese Untersuchungen, welche darauf
hinausgehen, für ganze Gruppen mittlere Reaktionszeiten
aufzustellen, für unsere tatbestandsdiagnostischen Unter-
suchungen bedeutungslos und könnte beispielsweise eine
Vp., welche dem Stande der „Gebildeten“ angehört, des-
26) Übrigens scheint mir auch ihre Bedeutung für die Psychologie
und Psychiatrie höchst problematisch.
| 27) Psychometric experiments, Brain, 1879/80.
28) La Pathologie des &montions, Paris, 1892.
2) Kraepelins Psychol. Arbeiten Bd. 1, S. 27.
%) Über das Verhalten... . S. 5.
3) a. a. O. S. 20; wenn hierbei Kramer-Stern behaupten, dass
ihre Zeitresultate gegenüber den Jung’schen „etwas“ zurückbleiben,
so ist dies nicht zutreffend, da bei einer Zeitgrösse, welche zwischen
1 und 2 Sek. schwankt, eine Differenz von 0,2 Sek. als beträchtlich
bezeichnet werden muss.
=. 96: 2
halb, weil ihre mittlere Reaktionszeit das von irgend einem
Autor gefundene Durchschnittsmass übersteigt, daraufhin
noch absolut nicht als verdächtig erklärt werden.
So reagierte bei meinen Untersuchungen, um nur ein
Beispiel aus vielen hervorzuheben, ein Student der Rechte
durchschnittlich in 5 Sek., überstieg somit das für „Gebildete“
angeblich gefundene Mittel um ein Beträchtliches, während
andererseits ein gewöhnlicher Soldat zu seinen Reaktionen
kaum 1 Sek. brauchte, und doch war jener unschuldig,
dieser schuldig! Man sieht, auf welche Abwege man geraten
würde, wollte man den für die einzelnen Personengruppen
gefundenen mittleren Reaktionszeiten, welche bei den ver-
schiedenen Autoren übrigens nicht unerhebliche Differenzen
aufweisen, absoluten Wert beimessen 83).
Müssen, wie allgemein bekannt, statistische Daten,
überall, wo sie in Frage kommen, mit grösster Vorsicht
und Skepsis verwendet werden, so trifft dies insbesondere
hier zu, wo es sich um Vorgänge handelt, welche vom
innersten Seelenleben des Einzelwesens, zur Zeit und am
Orte der angestellten Untersuchung, in strengster Ab-
hängigkeit stehen; einer anderen Bewusstseinslage entspricht
stets, selbst bei derselben Person eine andere Reaktions-
zeit33).
So kommt dem Bestreben, für ganze Personengruppen
mittlere Assoziationszeiten zu finden, lediglich akademischer
Wert zu; speziell ist solche Mühe für unsere forensen Arbeiten
zwecklos. Vielmehr ist für die psychologische Diagnose
des Tatbestandes unbedingt erforderlich, dass für jeden
Untersuchten im einzelnen Falle eine normale mittlere
Reaktionszeit gefunden werde, d. i. jene Zeit, welcher die
betreffende Person durchschnittlich zur sinnvollen Reaktion
auf irrelevante Zurufe bedurfte. Hierbei wird man sich zur
32) Übereinstimmend bemerken Ihumb-Marbe: ‚Die Ergebnisse
der Untersuchungen über die Assoziationszeiten haben (demnach) nur
für die Konstellation des Bewusstseins, unter welchen sie angestellt
wurden, eine Bedeutung . ... “ (a.a. O. S. 13); vgl. auch meine Ab-
handlung in Z. f. Strafrechtsw. XXVII S. 204 ff.
33) Vgl. auch Aschaffenburg in Kraep. Psych. Arb. Bd. 1, S. 272.
— 30 —
Erreichung exakter Resultate nicht damit begnügen dürfen,
sämtliche an komplexlosen Stellen vorfindlichen Reaktionszeiten
kritiklos zu registrieren, vielmehr erscheint es unbedingt
erforderlich , stets den einem irrelevanten Reizworte voraus-
gehenden Zuruf zu berücksichtigen und jene anscheinend irre-
levanten Assoziationszeiten ganz auszuschalten, welche einem
komplexen Reize unmittelbar folgen; denn es ist eine heute
fast allgemein erkannte Tatsache, dass diese sog. nachkritischen
Assoziationen unter dem Einflusse der oben ausgeführten
Perseverationstendenz, wenn nicht materiell, so doch zeitlich
fast ausnahmslos „leiden“ 34). | |
Für die Bestimmung dieser mittleren Reaktionszeit —
normales Zeitmittel möchte ich sie nennen — kommen ver-
schiedene Berechnungsmethoden in Betracht; die gangbarsten
sind die Bestimmung des arithmetischen und des wahrschein-
lichen Mittels. Die letztere Berechnungsart besteht bekanntlich
darin, dass die in Frage kommenden Reaktionszeiten ihrer
Länge nach, ansteigend von der kürzesten zur längsten neben-
einander gestellt werden und die mittelste Zeitgrösse als wahr-
scheinliches Mittel angesehen wird. Diese Berechnung empfiehlt
sich speziell dort. wo eine Reaktionsreihe einige abnorm lange
Zeiten aufzeigt, welche auf die Bestimmung des arithmetischen
Mittels einen irreführenden Einfluss auszuüben imstande sind,
indem sich auf diese Weise eine Reaktionszeit ergibt, welche
dem wahrscheinlichen Durchschnitt nicht entspricht 3).
In den beigegebenen Tabellen (I-—V) erscheinen darum
beide Methoden verwendet, allerdings ist hier der Unterschied
zwischen den beiden Mitteln kein erheblicher. Dies erklärt
sich einmal daraus, dass die Vp. eine ziemlich konstante Asso-
ziationszeit beobachtet haben, zum anderen, dass die Reizreihe
diesmal bloss 85 Assoziationen enthält. Tabelle II gibt einen
Vergleich der mittleren Reaktionszeiten in Bezug auf die
ganzen Reihen; bemerkenswert ist. dass auch hier, wie bei
früheren Untersuchungen bei den „schuldigen“ Personen das
wahrscheinliche Mittel gegen das arithmetische um ein Geringes
34) Treffend Wertheimer, Exper. Untersuchungen zur Tatbestands-
diagnostik, Inauguraldissertation, Leipzig, 1905, S. 40.
3) Jung, Uber das Verhalten... S. 6.
el
zurückbleibt; positive Schlüsse über Kenntnis des Tatbestandes
können hieraus selbstverständlich noch nicht gezogen werden.
In den Tabellen III—V ist das temporelle Verhältnis
für die irrelevanten, die komplexen und die nachkritischen
Reaktionen detailliert dargestellt. Schon hier weisen bei den
„schuldigen“ die den komplexen Assoziationen entsprechenden
Zeiten eine merkliche Erweiterung gegenüber den Assoziations-
zeiten der irrelevanten Reaktionen auf, namentlich, wenn das
arithmetische Mittel in Betracht gezogen wird. Demgegenüber
zeigt die unbeteiligte Vp. völlige Übereinstimmung zwischen
der mittleren Reaktionszeit der ganzen Reihe und der bei
irrelevanten bezw. kritischen und nachkritischen Assoziationen.
Im übrigen ist aber auch das durch diese tabellarische Zu-
sammenstellung erhaltene Bild keineswegs überzeugend und
könnte auf diesem allein sicherlich keine Diagnose aufgebaut
werden.
Ganz anders aber wird das Bild, wenn wir bei jeder
einzelnen Versuchsperson die exzessiv langen Reaktionszeiten
herausheben und (dieselben selbständiger Betrachtung unter-
werfen36). Als solche exzessive Zeiten bezeichne ich hier
diejenigen, welche das wahrscheinliche Zeitmittel der
.ganzen Reaktionsreihe um die Hälfte übersteigen; nur
eine Differenz von solchem Ausmasse berechtigt uns
m. E., daraufhin zu diagnostizieren.
Da das wahrscheinliche Reihennittel bei Herrn Sp. u. O.
1 Sek., bei Herrn St. 2 Sek. beträgt, so erscheinen hier als
abnorm lange Reaktionszeiten diejenigen. welche dort 1,5 Sek..
hier 3 Sek. übersteigen. |
Solche unverhältnismässig lange Zeiten weist Herr Sp.
zwölf auf (s. Tab. VT), welche sich zwischen 1.6 und 6,2 Sek.
bewegen.
Von diesen entfallen auf:
irrelevante Reaktionen 1 d.i. 83%
nachkritische ,„ s Drg 16,70
komplexe N 2 Vo 180
38) Der in dieser Richtung von Kramer-Stern eingeschlagene
Vorgang erscheint als sehr nachahmenswert.
Fassen wir die nachkritischen und die komplexen
Reaktionen zusammen, wozu wir nach dem oben Ausgeführten
berechtigt sind, so entfallen auf diese komplexe Gruppe 91,7%,
der exzessiv langen Reaktionszeiten, während für die komplex-
freien Stellen bloss 8,3°/, verbleiben.
Ähnliches zeigt sich bei Herrn O.; hier entfallen von
fünfzehn zu langen Reaktionszeiten, welche sich hier zwischen
1,6 Sek. und 4 Sek. bewegen, auf:
irrelevante Reaktionen : 2 d.i. 13,30%,
nachkritische . : 4, „26,7%
komplexe N : 9 5.560,00
Betrachten wir auch hier die beiden letzterwähnten
Gruppen unter Einem, so ergeben sich für diese komplexe
Gruppe 86,7%, aller Fälle, während die unverfänglichen
Stellen bloss mit einem Prozentsatze von 13,3 an den exzessiven
Reaktionszeiten partizipieren.
Stellen wir diesen Ergebnissen die beim Unbeteiligten
erzielten Resultate gegenüber, so erscheint die Sachlage
wesentlich anders. Zunächst zeigt diese Vp. überhaupt nur vier
abnorm lange Reaktionszeiten (3,2--5 Sek.), wovon zwei auf
komplexe, zwei auf irrelevante Stellen entfallen, mit
anderen Worten: die zu langen Zeiten sind hier gleich-
mässig auf die ganze Reihe verteilt, die kritischen Stellen
weisen nicht das geringste Überwiegen gegenüber den komplex-
freien auf, während sich ein solches Prävalieren bei den
Schuldigen in dem ausgesprochensten Masse zeigt (vergl.
Tab. VD.
Sicherlich kann der Umstand, dass die zu langen Reaktions-
zeiten bei den „schuldigen“ Vp. an den komplexen Stellen in
einem unverhältnismässie grösseren Prozentsatze vertreten
sind, als an den komplexfreien, kein Spiel des Zufalls sein:
diese Resultate sind derart signifikant, dass bereits auf ihnen
allein die Diagnose aufgebaut werden könnte.
Dieser Vorgang. die auffallend langen Reaktionszeiten im
einzelnen Falle hervorzuheben und auf ihren Grund zu prüfen.
erscheint mir denn auch als die einzig richtige Art der
Benutzung der Reaktionszeit, welche auch künftighin zu ver-
folgen sein wird. Die blosse tabellarische Zusammenstellung
I
It.
{
iF
JE.
eines durelischnittlichen Zeitwertes hat für unsere Zwecke
keine oder doch nur sehr geringe Bedentung und ist ledielich
geejenet. bei unvorsichtiger Verwendung auf Irrwege zu führen.
Denn in fühlbarster Weise haftet diesen Durchschnittsmassen
jener Mangel an, der allen statistischen Berechnungen eigen
ist: indem die Zusammenstellune der manniefachsten Fälle
emen vermuteten Durchschnitt liefert, ist es unmöglich. dem
Einzelfalle gerecht zu werden; indem die kürzesten und längsten
Reaktionszeiten zusammengelegt werden. wird eine Zeiterösse
eefunden, welehe weder der einen, noch der anderen Richtung
in Wahrheit entspricht.
Auf diesen Umstand ist es denn auch zurückzuführen, wenn
derlei summarisch gewonnene Zeitwerte zuweilen nur um ein
Geringes divergieren; und doch ist nichts gefährlicher, als die
Diagnose auf einen Unterschied von wenigen Zehntelsekunden
zu Stützen. Denn nie dürfen wir vergessen, dass es sich
hier ja doch um die internsten Vorgänge handelt, um Seelen-
funktionen, welche von zahlreichen unsunzugänelichen Faktoren
abhäneie sind, die leicht eine geringe Verschiebung in der
Assoziationszeit zur Folge haben können, ohne dass sich selbst
der Untersuchte dessen bewusst wird.
Aus diesem Grunde halte ich denn auch die Messung der
Reaktionszeit mittels der Fünftelsekundenuhr als vollkommen
hinreichend, welche Messunesart überdies noch den Vorteil
hat, dass hier Aufmerksamkeitsstüruneen. wie sie mit dem
Gebrauche komplizierter Apparate(Lippenschlüssel. Chronoskop)
stets verbunden sind, vermieden werden können. Denn was
soll uns die Messung nach Hundertstel- oder Tausendstel-
sckunden nützen, wenn wir dergleichen subtile Zeitunterschierde
ja doch nicht erklären können 37)?
Sieht man aber von der Bewertung ganz kleiner Differenzen
m den mittleren Reaktionszeiten ab, indem man lediglich die
3”) Dies und nur dies wollte auch die von mir in der Monatsschr.
für Kriminalpsych. u. Strafrechtsref., 1905, S. 183, gemachte Bemerkung,
dass „wir im Allgemeinen der Mittel entbehren, um die subtilen
Unterschiede in den Reaktionszeiten zu messen“ besagen, welche
dann von Prof. Weygandt (l. c. Oktoberheft) so gänzlich miss-
verstanden wurde.
unverhältnismässig langen Reaktionszeiten heraushebt. und findet
man, dass sich dieselben zum allergrössten Teile auf komplexe
Reize beziehen. dann ist der Schluss, dass nur das Vorliegen
einer Komplexkonstellation die Ursache der auffallenden
Verlangsamung der Assoziationszeit gewesen sein konnte, voll-
ständig gerechtfertigt.
Nicht betont braucht zu werden, dass sich die Diagnose
selbstverständlichniemalsaufdie Berücksichtieung' der Reaktions-
zeit zu beschränken hat. dass vielmehr auch in Fällen. wie
dein oben dargestellten, stets auch die übrigen Komplexmerkmale
in Betracht zu ziehen sind. Hier denke ich neben den er-
wähntenMomenten der Beschaffenheit der Reaktionen und der
Perseverationstendenz der Vorstellungen an
4. Die Reproduktion®®).
Wir verstehen unter dem sog. Reproduktionsverfahren
den Vorgang. dass kurz nach Absolvierung der Reaktions-
reihe die Vp. befragt wird. wie sie auf Jedes einzelne Reizwort
geantwortet habe. Hier stellt es sich nun heraus, dass die Vp.
an einzelnen Stellen die frühere Reaktion wieder zu bringen
imstande ist, während an anderen Stellen das Gedächtnis versagt.
sei es, dass sich die Vp. an die geleistete Reaktion überhaupt
nicht zu erinnern weiss und daher die Reproduktion ganz
ausfällt. oder dass faktisch unrichtig reproduziert wird, indem
als Reproduktion ein Wort gebracht wird, welches nicht das
frühere Reaktionswort: ist.
Man wäre versucht, anzunehmen, dass es blossem Zu-
falle unterliegt, ob eine Vp. sich an die kurz vorher ab-
gegebene Reaktion zu erinnern wisse oder nicht. tatsächlich
38) Über den Begriff der Reproduktion vergl. Freud: Die
Abwehrneuropsychosen, Neurolog. Centralblatt, 1894, S. 362 ff.; derselbe:
Zum psych. Mechanismus der Vergesslichkeit in Monatsschr. für
Psychiatrie und Neurol. Bd. IV, 1898, S. 436 ff., und „Über Deck-
erinnerungen“ loc. cit. Bd. VI S. 215 ff.; Jung, Exper. Beobachtungen
über das Erinnerungsvermögen, Centralbl. für Nervenheilkunde und
Psychiatrie Nr. 196, ex. 1905 S. 653 ff. und neuerdings „Die psycholog.
Diagnose des Tatbestandes‘‘ in Schweiz. Zeitschrift, XVII, S. 369 ff.
(abgedruckt in diesen „Grenzfragen“ 1906) und meine Abhandlung
„Die Assoziationsmethode im Strafprozess“ in Z. f. Strafrechtsw. XXVII
S. 209 ff,
ist dem nicht so. Es ist ein Verdienst Jungs, zuerst darauf
hingewiesen zu haben, dass jene Stellen. an welchen die
Erinnerung versagt, nicht kasuelle sind, dass vielmehr mit
einer gewissen (resetzmässiekeit nur bei Assoziationen be-
stinmter Art die richtige Reproduktion ausbleibt. während sich
bei nicht derart qualifizierten die richtige Erinnerung einstellt.
Diese „systematische Bedinetheit* äussert sich in der Richtung.
dass vorzuesweise an jenen Stellen unrichtige reproduziert
wird, welche durch einen eefühlsbetonten Komplex konstelliert
sind, bezw. einer kritischen Assoziation unmittelbar folgen
(sogenannte nachkritische Reaktionen). dass sich hingegen an
indifferenten Stellen fast ausnahmslos die richtige Reproduktion
einstellt.
Die Annahme Jungs fand ich in meinen Untersuchungen
bestätigt: kann man auch nicht behaupten, dass kritische
Reaktionen ausnahmslos unrichtig. irrelevante ausnahmslos
richtig reproduziert werden, so ist jedenfalls. wie noch unten
m zeigen sein wird, die Tatsache evident. dass die durch
einen Komplex konstellierten Assoziationen in einem auffallend
grösseren Masse an den unriehtigen Reproduktionen partizipieren.
als irrelevante,
Diese Tatsache erscheint auffallend und der Erklärung
helürftig, denn man sollte gerade das Umgekehrte erwarten,
lass nämlich bei eleicheültigen Assoziationen, bei welchen
Vp. nicht selten rein mechanisch. obne jegliche Überlewung,
die Reaktion an den Zuruf reiht, die richtige Erinnerung aus-
hleiben, dass sie sich hingegen konstant dort finden werde,
wo die Vp. sich in ihrer Dissimulationstendenz auf die Bedeutune
les Reizwortes „einstellt“ und ihre Reaktion als Produkt eines
eigentlichen, bald kürzeren, bald längeren, Denkprozesses
erscheint.
Die Erfahrung beweist das Gegenteil: die Hlachsten und
billigsten Assoziationen, wie Wortzusammensetzuneen, Klang-
assoziationen, adversative Reaktionen u. dergl. werden mit
einer geradezu frappierenden Richtigkeit wiedergebracht,
während gehaltvolle innere Assoziationen, wenn dieselben unter
dem Eintlusse einer Komplexkonstellation standen. falsch
reproduziert werden.
| 3%
s ee
Zum Belege hierfür greife ich aus dem dargestellten
Experimente ein Beispiel aus vielen heraus: Die ganz ober-
flächlichen Assoziationen „lachen-weinen“ „Meer (als „mehr”
perzipiert) weniger“ werden von Herrn Sp. richtig reproduziert.
während bei den komplexen Assoz. „Steinsalz-Pfeffer“ „Brief-
Beschwerer“ die richtige Erinnerung ausbleibt.
Welches ist der Grund für diese an sich merkwürdige
Erscheinung? Die Ursache hiefür will Jung, den Lehren Freuds
folgend, in dem dem menschlichen Erinnerungsvermögen eigenen
(srundzuge finden, dass wir für angenehme Erlebnisse ein
besseres Gedächtnis besitzen, als für deren Gegenteil. Diese
Abhängigkeit der Erinnerung von dem mit einer Vorstellung
verbundenen Gefühlstone soll wieder darauf zurückzuführen
sein, dass wir uns an Angenchmes oft und gern, selbst nach
Jahren erinnern, ein Gedanke, welchen bekanntlich bereits
Vergil mit den Worten „forsan et haec olim meminisse
juvabit“ zu trefflichem Ausdrucke gebracht hat, während ein
Unlustaffekt die Erinnerung zu hemmen geeignet ist: ebenso
gern als wir uns dort erinnern wollen, ebenso gerne möchten
wir hier vergessen 39).
In gleicher Weise soll auch der Unlustaffekt, mit welchem
im allgemeinen komplexe Vorstellungen verknüpft sind - - man
denke insbesondere an die Vorstellungen eines begangenen
Verbrechens — die falsche Reproduktion zur Folge haben.
während indifferente Assoziationen, da sie jedes Komplex-
zusammenhanges entraten, richtig reproduziert werden.
So wenig ich Freuds Ansicht, dass ein Unlustmotiv die
Erinnerung zu hemmen geeienet ist und die Tatsache. dass
wir „das Unangenehme resp. auch das mit dem Unangenehmen
Assoziierte“ 40) mit Prädilektion vergessen, auf ihre Berechtigung
anzweitle, so wenig möchte ich die Ansicht vertreten, dass auf
diesen Umstand die mangelhaften Reproduktionen bei unseren
diagnostischen Untersuchungen zurückzuführen seien.
3) Vergl. übrigens über die ganze Frage meine Abhandlung:
„Über den Einfluss affektiver Werte auf die Richtigkeit der Aussage"
in Stern's Beiträgen zur Psych. d. Aussage, 2. Folge 3. H. S. 156 fl.
und die daselbst zitierte Literatur.
£) Jung, Experim. Beobachtungen ... . S. 664.
— 37 pem
Zunächst muss daran gedacht werden, dass bei unseren
Experimenten zwischen jenem ersten Auftreten einer Assoziation
und deren Reproduktion gewöhnlich bloss eine ganz kurze
Zeit verfloss, — in der Regel erfolgte das Reproduktions-
verfahren wenige Minuten nach Absolvierung der Reaktions-
reihe -- für dieses minimale Zeitintervall dürfte aber kaum
das Gesetz von der Erinnerungshemmung unlustbetonter Vor-
stellungen Geltung beanspruchen können; denn wenn wir von
einer grundsätzlichen Verschiedenheit des Gedächtnisses
sprechen, so können hier wohl überhaupt nur solche Erlebnisse
in Frage kommen, seit deren Auftreten eine geraume Zeit
verstrichen ist, hingegen kann m. E. in unseren Fällen die
mangelhafte Reproduktion nicht auf die erwähnte Erscheinung
zurückgeführt werden; für derlei geringfügige Zeitintervalle
könnte m. E. lediglich ein ganz ausserordentlich starker Unlust-
ton eine Erinnerungshemmung verursachen, welche bei unseren
Untersuchungen stets zu vermissen war. Wie bereits wiederholt
zu betonen Gelegenheit war, ist es uns, wie ja selbstverständlich,
nirgendwo gelungen, bei den „schuldigen“ Vp. künstlich einen
derartig intensiven (refühlston zu schaffen, wie ihn die Natur
dann mit sich bringt, wenn es sich um ein wahrhaft peinliches
Selbsterlebnis handelt. Selbst dort. wo eine Vp. die ehrlichste
Absicht hatte, Unkenntnis zu simulieren und einen besonderen
Ehrgeiz darein setzte, den Beobachter irrezuführen, selbst dann
war wohl ein wirklich starker Gefühlston nicht gegeben, jeden-
falls mangelte ihm die Intensität auf das Erinnerungsvermögen
hemmend einzuwirken. Wohl liefern unsere Untersuchungen die
oleichen praktischen Resultate, zu welchen Jung gelangte, dahin
echend, dass die mangelhafte Reproduktion nicht die gleich-
»iltigen, sondern vorzugsweise die komplex konstellierten Asso-
ziationen betrifft; im Gewensatze zu Jung möchte ich jedoch die
theoretische Begründung dieser Erinnerungsstörung aus den
oben angeführten Ursachen nicht im „starken Gefühlstone“
suchen.
M. E. ist vielmehr, zumindest insofern unsere Arbeiten
in Betracht kommen, der theoretische Grund für diese Er-
scheinung darin zu finden, dass sich bei jenen Assoziationen,
welchen eine Komplexkonstellation zugrunde liegt, Dissi-
38
mulationstendenz der „schuldigen* Vp. einschiebt, welche neben
einer Verlangsamung der Reaktionszeit bewirkt. dass Vp. nicht
die durch das Reizwort primär erregte Vorstelluine in der
Reaktion zum Ausdrucke bringt, dass sie dieselbe vielmehr.
um sich nicht zu verraten. ablehnt und nach einer anderen
unauffälligen Reaktion sucht. So verlässt die Vp. gewissermassen
jene Bahn, die ihr vom Assoziationszesetze streng vorge-
schrieben ist und schlägt mit ihrer Reaktion einen Seiten-
weg ein, welchen sie später zu finden ausserstande ist.
Ich möchte eine solehe Vp. einem Wanderer ver-
gleichen, welcher in dunkler Nacht durch einen Wald geht
und aus irgend einem Grunde die sichere. webahnte Strasse
verlässt. um einen Nebenwee einzuschlaeen. dann aber nicht
mehr in der Lage ist, die einmal verlassene Bahn wieder-
zufinden.
Wenn also beispielsweise Vp. Sp. unter dem Einflusse
der dureh die Reizworte „Buch, Strafe, Instrument, qualvoll”
aneeschnittenen Komplexvorstellung „Folterinstrumente in der
Theresiana“ auf den Zuruf „Kaiser“ mit „Josef“ (Ass. 77)
antwortet, zur richtigen Reproduktion in der Folge aber nicht
imstande ist, so licet der Grund darin, dass .„‚Josef” nicht die
Benennung der dureh den Zuruf „Kaiser“ primär erregten
Vorstellung darstellt. diese vielmehr „Kaiserin Maria Theresia”
lauten müsste; begreiflicherweise unterdrückt Vp. eine derartige
Reaktion und ereift in ihrer Dissimulationstendenz zu der ihr
unverdächtie scheinenden — allerdings mittelbar komplexen! -
Reaktion ‚Josef (wobei natürlich an ‚Josef II gedacht ist).
Und ganz den gleichen Zusammenhang können wir wn-
mittelbar darauf registrieren, wenn diese Vp. auf Kodex nicht.
wie sie dem Zwanee des Assoziationszesetzes foleend hätte
tun müssen, mit Theresianus. sondern mit Karolinus reagiert.
bei der Reproduktion aber nur soviel bestimmt weiss. dass sie
den Zuruf „Kodex“ nicht mit Theresianus beantwortet habe:
so kommt sie zu der auffälligen Antwort „Austriacus”. einer
Reproduktion. welehe wir uns ganz gut erklären können.
wenn wir daran denken. dass sich Vp. hierbei einerseits daran
erinnert hat, dass die Theresiana. das heisst ein österreichisches
Strafgesetz, in Frage sei, von der wirklich geleisteten Reaktion
a e
aber nur soviel noeh weiss, dass es ein lateinisches Adjek-
tivum auf usendieend gewesen sei; die „Kontamination“
dieser beiden Vorstellungen ergibt in höchst natürlicher Weise
die auf den ersten Bliek als abnorm erscheinende Reproduktion
„Austriacus" 41),
Ähnliche Beispiele liessen sich nach Willkür häufen: allein
bereits die angeführten scheinen das oben Gesaete hinlänglich
zu bestätiven. Haben wir in dem erwähnten Umstande eine
Begründung für die unrichtige Reproduktion komplexverwandter
Assoziationen gefunden. so liegt darin zugleich auch die Ur-
sache dafür, dass sich an unverfänglichen Stellen fast aus-
nahmslos die richtige Erinnerung einstellt. Denn wohnt dem
Reizworte cin Komplexcharakter nicht inne. dann reagiert
Vp. tatsächlich mit dem ersten Einfall. welcher dureh den
Zuruť geweckt wird. und ist, da sich bei der Reproduktion
ganz der gleiche Assoziationsprozess-abspielt. wie bei der ersten
Reaktion, selbst nach mehreren Tagen. wie ich mieh zu über-
zeugen Gelegenheit hatte, in der Lage. richtig zu repro-
duzieren, richtig selbst dann, wenn die betreffenden Assoziationen
lach und inhaltsarm waren.
Allerdings muss hier darauf hingewiesen werden, dass sich
bei unseren tatbestandsdiaenostischen Untersuchungen nicht
in allen Fällen, in denen ein komplexes Reizwort zugerufen
wird, der oberwähnte Vorgang abspielt. dass nämlich Vp.. des
kritischen Charakters des Zurufes sich bewusst. den ihr vom
Assoziationseesetze vorgeschriebenen normalen Weg verlässt:
vielmehr bleibt zuweilen diese „Einstellung“ auf die Bedeutung
des Reizwortes aus, welcher Umstand zur Folge hat. dass Vp.
auch hier mit dem ersten, allerdings gewöhnlich direkt ver-
räterischen, Einfalle reagiert, dessen Bedeutung ihr oft erst
nach stattgehabter Assoziation zu Bewusstsein kommt. #2)
4) Man vgl. hierzu übrigens die interessant ähnliche Konstellation
indem von Freud referierten Selbsterlebnisse , Zum psych. Mechanismus
der Vergesslichkeit“ in Monatsschrift für Psych. u. Neur. 1899, S. 436 ff.
insbes. S 440.
42) In diesem Sinne muss Thumb-\Marbe beigestimmt werden,
wenn sie bemerken: „Der Fall, dass sich an das gehörte Wort eine
Bedeutungsvorstellung anreiht, diese eine andere Vorstellung assoziiert
— 40 —
Wenn nun beim „Sehuldieen*“ auch in solchen Fällen
die Erinnerung anscheinend versagt, so ist dies wohl darauf
zurückzuführen. dass er sich in der Regel an die abgegebene
Reaktion in Wahrheit erinnert, dass er sich jetzt aber auch des
verräterischen Charakters derselben bewusst wird und nur, um
sich nieht abermals zu verraten, vorgibt, sich nicht mehr an
die abgegebene Reaktion erinnern zu können, in der Hoffnung,
auf diese Weise besser davonzukommen. Natürlich ist dies
eine Selbsttäuschung. da das totale Ausfallen der Reproduktion
mit der falschen Wiedergabe auf eine Stufe zu stellen ist.
weshalb ich denn auch bei der Wertung der Versuchsergebnisse
stets die unrichtigen Reproduktionen den völlig mangelnden
vleich behandle. |
Mae ich somit in der theoretischen Begründung der er-
wähnten Erscheinung von Jung abweichen, so besteht voll-
kommene Übereinstimmung bezüglich der in dieser Richtung
praktisch erzielten Resultate: wie Jung 43) konnte auch ich
die Wahrnehmung machen. dass sich unrichtige Reproduktionen
vorzugsweise an komplexhaltigen Stellen finden, während irrele-
vante Assoziationen mit einer gewissen Gesetzmässiekeit fast
ausnahmslos richtig reproduziert werden.
Betrachten wir nun die in dem oben ausgeführten Ver-
suche erzielten Resultate. so ist zunächst die Tatsache auffällig.
dass Herr Sp. und Herr O. (beide „schuldig“) in unvergleichlich
erösserenm Umtanee falsch reproduzierten, als Herr St. (un-
schuldig!)
Während bei der letzterwähnten Vp. bloss an sieben Stellen.
also in 8,2% aller Assoziationen, die richtiee Reproduktion
ausblieb, versagte bei Herrn Sp. die Erinnerung in siebenund-
zwanzig Fällen. also 31.7 °,. und bei Herrn O. sogar in
neunundzwanzie Fällen, das sind 34.1 0/ọ! Untersuchen wir
die unrichtiegen Reproduktionen näher, so entfallen bei Herrn
St. von den sieben mangelhaften Repr. im Ganzen vier Fälle
auf komplexe Reize, bei Herrn Sp. hingegen sechzehn, bei
und dann die letztere von .der Versuchsperson benannt wird, ist jeden-
falls nicht der gewöhnliche.“ (a. a. O. S. 15).
483) Vgl. hierzu neuerdings den Bericht von Emil Zürcher in
Aschaffenburg’s Monatsschrift, Juliheft 1906.
=... k
Herrn O. sogar neunzehn Fälle! Somit ist die falsche Repr.
bei den komplexkonstellierten Assoz. beim Schuldigen viermal
bezw. fast fünfmal so häufig vertreten als beim Unschuldigen!
Rechnen. wir bei den beiden Schuldigen jene Fälle. in
denen zwar richtige Reproduktion, jedoch „nach längerem
Zögern." erfolgte derlei Repr. weist Herr St. überhaupt
nicht auf — zu den unrichtieen hinzu. wozu wir um so mehr
berechtiet sind. als sich dieselben tatsächlich bloss an komplexen
Stellen finden. so beträgt die Zahl der mangelhaften Repro-
duktionen bei den Schuldigen 31. d. s. 35.2 0%, aller Repr.
überhaupt. gegen 7.d.s. 8.20/ beim Unschuldigen!(s. Tabelle VII).
Es entfallen hievon auf komplexe Assoziationen:
bei Herrn Sp. 20 mangelhafte Repr. d. 1.645 %/oaller minderw.Repr.
bei Herrn 0.21 a en POTTO o » "3 ;
während H. St. (unschuldig) im Ganzen vier auf Komplexe
bezügliche unrichtige Repr. zeigt! Somit sind auch hier, ähnlich
wie bei den Reaktionszeiten. «die mangelhaften Repr. auf
kritische und indifferente Stellen in nahezu «leichmässiger
Weise verteilt. Diese Zahlen sprechen... wie ich glaube, eine
zu deutliche Sprache, als dass [ie noch eines Kommentars
hedürften.
VI. Theoretische Erwägungen.
Bei abschliessender Betrachtung der Versuchsergebnisse
kommen Kramer-Stern zu dem Urteile, dass den bei der
Diagnose des Tatbestandes benützten Hilfsmitteln. wenigstens
vorläufig noch nicht jene „zwingende Sicherheit“ zukomme.
welche für eine praktische Anwendung unerlässliches Erfordernis
sci. 44) Demgegenüber sci allerdings darauf hingewiesen, dass
die genannten Autoren nicht sämtliche uns bisher bekannten
Komplexmerkmale benützten, insbesondere die Perseveration
und das Reproduktionsverfahren ganz unberücksichtigt liessen.
von denen namentlich das letztere uns ausserordentlich gute
Dienste geleistet hat; vielleicht wären auch Kramer-Stern
bei Benützung aller Komplexmerkmale zu einem günstigeren
Urteile gelangt.
4) a a. 0. S. 30,
+2
Zutreffend aber ist ihr Hinweis darauf, dass sich cme
Diagnose des Tatbestandes niemals auf blosse Vermutungen
stützendürfe, dass vielmehr den erzielten Resultaten „zwingende
Sicherheit“ zukommen müsse. soll an eine praktiseh-forense
Verwertung gedacht werden. Nur dann, wenn das erzielte
Gesamtbild — komplexe Reaktionen. Perseverationen, abnorme
Reaktionszeiten und mangelhafte Reproduktionen —- so untrüglich
ist. dass die Resultate gewissermassen in die Augen springen
und für jedermann leicht erkenntlich sind. nur dann darf auf
Kenntnis des Tatbestandes diagnostiziert werden. Hier möchte
ich zu dem, namentlich von Jung eineeschlawenen Vorgang.
von welchem zu sprechen bereits oben (NS. 17) Gelegenheit
war, Stellung nehmen. wornach jede einzelne Assozjation auf
ihren inhaltlichen Wert zu deuten gesucht wird. Zunächst muss
darauf hingewiesen werden. dass derlei Untersuchungen nicht
geringe psycho-analytische Fähigkeiten erfordern, und dass
eine derartige Begabung, wie sie der geniale Freud besitzt
und von welcher Jung. Freuds Lehren folgend, glänzende
Beweise liefert, nur äusserst selten zu treffen sein wird.
Aber selbst zugegeben, dass sich diese Psychoanalyse
„erlernen“ lasse, so spricht gegen einen derartigen Vorgang.
insoferne unsere forensen Untersuchungen in Frage kommen.
(lie Tatsache, dass es Freud, ebenso wie Jung, mit Kranken
zu tun hat, für welche das höchste Interesse besteht, dass
der sie störende Komplex aufgefunden werde. da mit der Er-
forschung dieses Komplexes der Krankheitserreger entdeckt
und so zugleich eine rasche Heilung möglich ist. Daraus
ergibt sich, dass hier der Untersuchte mit der grössten Bereit-
williekeit dem Arzte an die Hand geht und ihm jedmögliche
Aufklärung gibt. Ganz anders bei unseren Inquisiten, welche
(las höchste Interesse daran haben, dass der sie beherrschende
Komplex unentdeckt bleibe und darum dem Untersuchenden
den grössten Widerstand entgegensetzen, der u. U. die ganze
Psychoanalyse in Frage stellen kann.
Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass in unseren
Fällen der Untersuchende dem Arzte gegenüber insoferne im
Vorteil ist, als jenem der Tatbestand inhaltlich bekannt ist.
und seine Aufgabe lediglich auf Erforschung des Vorhandenseins
we e a
dieses Komplexes beim Untersuchten hinausläuft. Allein auch
diese Kenntnis würde dem Beobachter, wenn er auf psycho-
analytische Untersuchung angewiesen wäre, nieht selten im
Stiche lassen.
Wie unsere bisherigen Untersuchungen dartun, ist aber der
Inquirent auf derlei Erwägungen absolut. nicht angewiesen; dass
psychoanalytische Begabung., wenn sie jemand besitzt, nicht zuni
Schaden gereicht, braucht nicht erwähnt zu werden. Möglich
aber ist es, und darauf möchte ich besonderen Ton legen, dass
ohne jede Psychoanalyse u. U. mit grösster Präzision diag-
nostiziert werden kann: dieser ist der Unsehuldiee. jener der
Schuldige. Hiervon überzeugten mich am besten unsere Wiener
Arbeiten, bei welehen. wie bereits erwähnt. 4) der Vorgang
eingeschlagen wurde, dass nach Abwieklung des ganzen Ver-
suches (Assoziation und Reproduktion aller Vp.) zuerst die
Seminarbeteilieten befragt wurden, wer nach ihrer Ansicht
der „Schuldige* und wer der „Unschuldige* sei; erst nachdem
diese „Jury“ ihr Votum abgegeben hatte. stellte der Beobachter
seine Diagnose. Hierbei konnten wir die Wahrnehmung machen,
dass mit geringen Ausnahmen vollständig richtig diagnostiziert
wurde und es nur ganz vereinzelt vorkam, dass ein „Sehnldieer”
für „unschuldig“ erklärt wurde und nmeekehrt. Und doch
erlangte der grösste Teil dieser Leute überhaupt erst in unseren
Übungen Kenntnis von der Methode! Ganz erklärlich; denn
es liegt, und dies wird fast allgemein übersehen, die Schwierig-
keit der Aufgabe nicht so schr im „Entlarven“ des Schuldieen
und bzw. Erkennen des Unschuldigen; schwieriger als dies ist
lie Anordnung der Reizreihe, welehe derart erfolgen muss,
dass sie, einerseits für den Unschuldigen ganz unverfänglich,
andererseits doch Komplexe in solcher Zahl und solcher Stärke
aufweist, dass sie für den Scehuldigren verhänenisvoll wird;
lass sich derlei Reizreihen herstellen lassen, glaube ich gezeigt
zu haben. Ist aber einmal die Anordnung der Reizworte eim-
wandfrei, dann ergeben sich die Komplexmerkmale und die
darauf basierende Diagnose von selbst.
Insoweit sich der gegenwärtige Stand der Dinge über-
schen lässt, muss zugegeben werden, dass schon heute in
EUER
t) vgl. diese Abhandlung S. 4.
44
bestimmten Fällen. in welchen der Tatbestand die erforderliche
kEignung besitzt. auf dem Were der psychologischen Tatbestands-
diagnostik mit vollster Präzision die Unschuld konstatiert
werden kann; daneben lässt sich bezüglich jener Personen.
welchen der gesuchte Tatbestand bekannt ist. mit ziemlicher
(rewissheit auf die Schuld oder mindestens den dringenden
Verdacht der Tatbestandskenntnis diaenostizieren.
Wenn ich diese Behauptung aufstelle. vergesse ich nicht
der Schwieriekeiten. welche sich unter Umständen einer
präzisen Diagnose entreeenstellen können. Diese sind aber
ebensowenig in den „unermesslich verschlungenen Pfaden“
unserer Assoziationen. wie Kraus romantisch bemerkte. als
in der Möglichkeit. dass eine schuldige Vp. absolute Unkenntnis
sinmuliere. 46) gelewen. sie sind vielmehr dort zu suchen, wo sie
4#) Einen neuerlichen Beweis für die Richtigkeit der von mir dies-
bezüglich wiederholt aufgestellten Vermutung, gab mir in dem oben
dargestellten Versuche Herr O , welcher vor dem Experimente ein Gegner
der Methode, seine „Überzeugung“ dahin geäussert hatte, dass es bei
einiger Energie unschwer möglich sei, den Beobachter irrezuführen,
nach dem Versuche klein beigeben musste, es sei ihm trotz grösster
Anstrengung ein „Entrinnen* unmöglich gewesen.
Ob man, um hier auch zu der von Kramer-Stern annäreelen
Frage Stellung zu nehmen, zwischen den beiden Geschlechtern eine
verschiedene „Verstellungsfähigkeit‘ in der Richtung anzunehmen hat,
dass Frauenspersonen ganz allgemein über höhere Simulationsqualitäten
verfügen als Männer, glaube ich vorläufig noch sehr bezweifeln zu dürfen.
Wenn die genannten Autoren darauf verweisen, dass sie aus den
Reaktionen einer ihrer weiblichen Vp. nichts herausbekamen und sich
für ihre Behauptung auch auf Hans Gross und Wertheimer berufen,
so möchte ich demgegenüber bemerken, dass meine Experimente, insoferne
hierbei Damen als Vp. in Betracht kommen, eher für die gegenteilige
Ansicht zu sprechen scheinen. U. a. reagierte eine weibliche Vp. in
-einem Falle, in welchem es sich allerdings nicht um einen künstlichen
Tatbestand, sondern um höchst natürliche Eigenkomplexehandelte, derart,
dass sie ihre intimsten Geheimnisse verriet, und dies, trotzdem sie
über eine ausserordentliche Intelligenz verfügte.
Ausserdem konute ich bei weiblichen Vp. wiederholt die Wahr-
nehmung machen, dass Reizworte, die das Gebiet des Sexuellen auch
nur entfernt berührten, zuweilen geradezu erschreckende Reaktionen
lieferten: Assoziationen wie „süss — küssen“ „Bett — Mann“ u. ähnliche
gehörten durchaus nicht zu den Seltenheiten. Übrigens glaube ich in
dieser Richtung auch bei Jung völlige Übereinstimmung zu finden.
—- 45 —
bisher so gut wie ganz unberücksichtigt blieben, in der Inter-
ferenz der Komplexe. 41) Wäre die Seele des „Unschuldigen “
eine tabula rasa, frei von allen Komplexen und wiese bloss
die „schuldige“ Vp. Komplexe auf, dann wäre es cbenso
leicht als sicher, Schuld und Unschuld zu erkennen. Dem
aber ist in der Tat nicht so: es gibt keinen Menschen. der
nicht irgendwelche Komplexe, bald sfärker. bald schwächer
betont, hier in grösserer, dort in geringerer Zahl. aufwiese,
Komplexe des Standes, Berufes, des Sexnallebens, überhanpt
aller im Vordergrunde des Interesses stehenden Erlebnisse und
Strebungen.
Solange diese Komplexe mit den dem gesuchten Tatbestanidle
eirenen Inhalten keine Wesenseleichheit besitzen. vermögen
sic auf den Gang des Verfahrens keinerlei Einfluss zu üben,
Schwieriger aber wird die Sachlage, wenn sich zufällig Inter-
ferenzen zwischen diesen eigenpersönlichen Komplexen und jenen
des Tatbestandes ergeben; hier könnte es dann vorkommen, dass
eine faktisch unschuldiee Vp. in einem oder dem anderen Falle
verdächtig reagiert. Gerade dieser Umstand mahnt dazu, auf
die Herstellung der Reizreihen die höchste Sorgfalt zu ver-
wenden. insbesondere wird in dieser Richtung darauf zu schen
sein, dass die Teilinhalte in der Reihe der Zurufe eine derartige
Anordnung finden, dass sie nicht offen zu Taxe liegen, und so
lediglich dem Schuldieen als Komplexe erkennbar sind, für den
Unsehuldigen aber dunkel und zusammenhanglos bleiben.
Letzteres kann insbesondere dadurch erreicht werden, dass den
kritischen Zurufen abschwächende resp. direkt ablenkende Reiz-
worte unmittelbar vorauszeschickt werden, 48) wodurch bewirkt
wird, dass den „unschuldigen“ Vp. die kritischen Teilinhalte
weder vereinzelt. noch m ihrem Zusammenhange zu
Bewusstsein kommen. Zu einer derartigen Anordnung bedarf
es keiner besonderen Berahung, längere Übung erscheint als
hinreichend.
Auf einen Umstand möchte ich hier noch hinweisen, welcher,
wie ich sehe, in der Literatur wenig berücksichtigt wurde.
41) Vgl. hierüber bereits meine Abhandlung in Z. f. Strafrechtsw.
XXVII. S. 207 f.
48) Über den Begriff der „direkten Ablenkung“ siehe Wertheimer
Inauguraldiss. S. 15,
u 46:
dies ist die Bestimmung eines Reizwortes als eines
komplexen von Seite des Versuchsleiters. Es geht nicht
an, dass der Experimentator von vornherein gewisse Reizworte
als komplex, andere als irrelevant festsetzt und damach die
Wertung der Versuchsresultate vornimmt. Denn ob ein Zuruf
für die Versuchsperson kritisch ist und als solcher auch
von ihr aufgefasst wird, das hängt nicht von der Verfürme
des Beobachters. sondern von der Vp. selbst ab.
So haben sich bei meinen Untersuchungen wiederholt
Fälle ergeben, in welchen Reizworte, welche von vornherein
als komplex gedacht waren, ihre Wirkung vollständig verfeblten,
einfach deshalb, weil sie von der Vp. in einem harmlosen Sinne
apperzipiert und dementsprechend beantwortet wurden, und es
kam andererseits vor, dass die Vp. auf Reizworte, die a priori
als irrelevant gedacht waren, komplex antwortete, deswegen,
weil diese Zurufe bei ihr komplexe Bedeutungsvorstellungen
ausgelöst hatten. |
Daraus ergibt sich aber die wichtige —- m. B. bisher
nicht gewürdigte —— Tatsache. dass man für die Wertung der
Versuchsereebnisse nicht gewisse Stellen von vornherein als
indifferent. andere als kritisch bestimmen und von diesem
Standpunkte aus die Resultate werten darf. vielmehr muss nach
dem Versuche am einzelnen Falle geprüft werden, ob faktisch
ein Zuruf komplex gewirkt hat oder nicht und auf Grund dessen
erst die Wertung vorgenommen werden.
Dieses Moment erscheint mir für die ganze Diagnose von
Wichtiekeit u. zw. einmal in materieller Hinsicht. indem der
Unstand, dass Vp. auf einzelne, vom Beobachter als komplex
angesehene Reize aus dem erwähnten Grunde harmlos reagiert,
auf Unkenntnis des Tatbestandes schliessen lassen kann. dann
aber auch in temporeller Richtung, da unter den erwähnten
Umständen bei Bestimmung des normalen Mittels leicht ein
Fehler nnterläuft. |
Gewiss wird man auf die Dauer nicht bei theoretischen
laboratoriumsversuchen stehen bleiben können. bei denen cs
um die Beschaffung des erforderlichen Gefühlstones stets seine
liebe Not hat. lurfreulicherweise ist dem Vernehmen nach
in letzterer Zeit au verschiedenen Orten die Praxis unserer
ili
m
Ir
j
E
Methode näher getreten; ihre Anwendung auf wirkliche Fälle
des Lebens, selbstverständlich vorläufie noch in einer, dem
cange des Strafverfahrens unpräjudizierlichen Weise, wird
een, ob unsere Arbeiten keinen weiteren Wert haben als
den, die genetische. Psychologie zu bereichern! —-
VII. Die strafprozessuale Frage.
Nachdem im Vorherechenden die Assoziationsmethode in
technischer Richtung Besprechung gefunden hat, sollen die
toleenden Zeilen der Lösung des strafprozessualen Problems
dienen. Hier harren zunächst zwei Fragen der Beantwortung:
in welchen Fällen kann in praxi an eine Anwendung der
Methode gedacht werden? und in welchen Stadium des Straf-
Prozesses könnte dieselbe erfolgen?
Es ist zunächst selbstverständlich. dass die Methode, selbst
wenn sie sich noch so eut bewähren würde, fortan nicht in
allen Straffällen Anwendung erfahren kann oder gar unsere
hisherige Untersuchung zu verdrängen bestimmt ist. 49) Daran
konnte nicht ernstlich gedacht werden und daran hat niemand.
ter mit dem Wesen und Inhalt unserer Arbeiten vertraut ist.
gelacht! Denn es werden sich in der Wirklichkeit Fälle ergeben,
in welchen eine psychologische Diagnose des Tatbestandes von
vornherein als aussichtslos erscheinen wird, in anderen wieder
wird der Erfolg völlig zweifelhaft sein. Wurde beispielsweise
an einem Reisenden in einer einsamen Waldeegend, fernab von
jeder menschlichen Behausune ein Raubmord verübt und das
Opfer aller — dem Inquirenten unbekannten —- Habseligkeiten
beraubt, so würde hier wohl der Diagmostizierende in Ver-
lerenheit kommen, wollte er seine Reizreile zusammenstellen.
für welehe ihm die Komplexe entweder gänzlich abeingen
oder doch nur so spärlich gegeben wären, dass sie kein gc-
eienetes Substrat für eine zweckmässige Reizreihe abzueehen
imstande wären.
Demgegenüber werden allerdings Straffälle vorkommen.
welehe eime ganze Menge gefühlsbetonter, lediglich dem
Schuldigen bekannter Komplexe aufweisen werden; bei diesen
ae a.
ne) Sehr mit Unrecht ‚bezeichnet darum Dr. Stekel in einem
übrigens kaum lesenswerten Artikel in der Wiener „Zeit“ vom 31.Mai 1906
unsere Methode als „Strafuntersuchung der Zukunft,“
kann die Methode bei sorefältigster Zusammenstellung der
Reizreihe und genauer Prüfung der sich ergebenden Komplex-
merkmale Befriedigendes leisten.
Als Fälle. welche für die Anwendung der Assoziations-
methode die erforderliche Eienung besitzen dürften, erscheinen
zunächst Straftaten, welche an einem nur wenigen, womöglich
nur dem Täter zugänglichen Orte begangen wurden, z. B ein
Einbruchsdiebstahl in einem versperrten Raume oder an einem
stets verschlossenen Koffer u. del. Die lokale Koexistenz der
an diesem Orte befindlichen Gegenstände und die raumzeitliche
Assoziation «derselben mit der Straftat. können hier einer
exakten Diagnose die nötige Basis bieten. Erleichtert wird
diese in bedeutendem Masse dann werden. wenn die betreffende
Örtlichkeit Realien besonderer Art aufweist, z. B. Werkzeuge.
Maschinen. Waffen. Bilder. Hier wird man zuweilen. voraus-
gesetzt natürlich. dass der zu untersuchende Vorstelluneskom-
plex die erforderliche Bereitschaft und Gefühlsbetontheit auf-
weist, auf Assoziationen stossen. welche oberflächlich betrachtet
ganz sinnlos wären, die sich aber bei näherer Prüfung als
das Produkt der räumlichen Koexistenz von Gegenständen
der verschiedensten Art darstellen. und welehe darwn auch
vom Unschuldigen gar nicht in einem Gedanken zusammen-
gefasst sein können; gerade dieser Umstand wird den Experi-
mentator zuweilen sogar in die Lage versetzen, den Gedanken
des Schuldieen in lokaler Richtung genau folgen zu können,
was die präzise Diagnose nur zu erleichtern imstande ist. 50)
Weist der Tatort keine derartigen Sonderheiten auf, dann
wird allerdings die inhaltliche Beschaffenheit der Reaktion
nicht viel besagen und man wird um so genauer die übrigen
Momente als qualitative Abnormität. zu lange Reaktionszeit
und mangelhafte Reproduktion berücksichtigen müssen.
Selbstverständlich muss sich mit dem lokalen Moment
das höchstpersönliche der Tat paaren und beim Vorhandensein
der erforderlichen Gefühlsbetontheit den Vorstelluneskomplex
immer und immer wieder in den „Blickpunkt des Bewusst-
seins“ setzen.
E) Vgl. hierzu meine Ausführungen in der Allg, österr. Ger. Ztg.
Nr. 17 v. J. 1905.
se 46 ss
Diesen Fällen werden im forensen Leben jene gegenüber
stehen, welche jedes räumlichen Charakters entbehren. welche
also lediglich in materieller, d. h. inhaltlicher Beziehung in
Betracht kommen. Hieher gehören etwa gefährliche Drohung
oder Erpressung, begangen durch anonyme Schreiben, De-
leidigende Spotteedichte, wie sie namentlich in letzterer Zeit
im Deutschen Reiche vielfach erwähnt wurden u. dere]. Der
Vorteil. welchen diese Tatbestände in sich bergen, ist der.
dass ihr Inhalt faktisch im alleemeinen nur von Schuldieen
(Verfasser, Schreiber) gekannt wird. |
Sicher wird die Schwere der Tat auch die Stärke des
(tefühlstones beeinflussen und damit zugleich auch für die
Versuchsresultate selbst von höchstem Werte sein: in dieser
Richtung hat Grabowsky5l) wohl das Richtige getroffen,
wenn er hervorhebt. dass sich die Assoziationsmethode vor-
züelich für sog. Kapitalsachen (insbesondere Letalitätsver-
hrechen) eienen werde. !
Schwieriger nun als die Beantwortung der ersten Frage
ist die der zweiten. in welchem Prozessstadium die Methode
zur Anwendung gelangen soll. Hier ist m. E. zunächst von
dem von mir wiederholt zum Ausdrucke gebrachten Gedanken
auszugehen, dass die Diagnose in erster Linie zur Erforschung
des „Unschuldigen“ und erst in zweiter Linie zur Überführung
des „Schuldigen® — beide Ausdrücke in unserem Sinne ge-
braucht — dienen soll. Der Fälle, in welchen die Versuchs-
ergebnisse von so überzeugender Stärke sein werden. dass
der Beobachter in der Lage sein wird, sofort mit Bestimmtheit
jemanden als „Schuldig“ zu erklären, wird es in der Wirklich-
keit vermutlich nicht sehr viele geben. Denn nur dann. wenn
das Gesamtbild der Reaktionen inhaltlich verdächtige Asso-
ziationen, abnorme R.-/. bei kritischen Reizen und mangelhafte
Reproduktion an diesen Stellen. sowie qualitative Abnormitäten
aufweisen wird, erst dann wird die Diagnose direkt auf Kenntnis
des Tatbestandes lauten können. |
Hier muss jedoch darauf hingewiesen werden. dass mit
der Diagnose des Tatbestandes nicht die Schuldfraxe im
51) Dr. Adolf Grabow sky „Psychologische Teroa rondi diA gn datik:
Beil. zur Allgem. Zeitung vom 15. Dezember 1905.
4
Ze ih,
strafrechtlichen Sinne, d.h. das zurechenbare, bewusste und
gewollte, rechtswidrige Verhalten eines deliktfähigen Indivi-
duums erforscht werden soll, das was wir mit unseren Arbeiten
bisher bezwecken wollen und damit auch erreichen zu können
glauben, ist vorläufig nichts anderes, als die Beantwortung
der Frage. ob jemand einen bestimmten Tatbestand kenne
oder nicht, womit selbstverständlich noch lange nicht die
Schuldfrage beantwortet ist. Wurde beispielsweise eine Straf-
tat an einem bestimmten Orte begangen, von welchem der
„ Verdächtige“ behauptet, denselben niemals betreten zu haben,
und wird er dann der Unwahrheit dieser Behauptung über-
führt, so vermag dieser Umstand allerdings ein bedeutendes
Indiz auch für die Tatfrage abzugeben, allein auf eine Beant-
wortung der Schuldfrage an und für sich ist eine psycho-
logische Tatbestandsdiagnose niemals gerichtet. Darum sollen
denn auch die Ergebnisse eines solchen Assoziationsverfahrens
in erster Linie dem Ermittlungsverfahren dienen. Wir wissen
es alle und fast täglich wiederholt sich die traurige Erschei-
nung, dass Leute ganz unschuldigerweise auf einen mehr oder
weniger gegründeten Verdacht hin in Untersuchungshaft
kommen, welche dann nach Wochen oder gar Monaten, nach-
dem ihre Unschuld erwiesen wurde, wieder entlassen werden
müssen. Gerade für derartige Fälle soll unsere Verfahrens-
art vorzüglich dienen, gerade hier dazu helfen, den gegen
eine Person bestehenden unbegründeten Verdacht zu zerstreuen
und ihn vor der schwer schädigenden Haft zu bewahren.?2)
52) In diesem Sinne sollte denn auch die Methode in jenem Falle
zur Anwendung gelangen, in welchem sich ein Untersuchungsrichter
an den Verfasser mit dem Ersuchen wandte, die Diagnose an einem
Inkulpaten zu versuchen, welcher im Verdachte stand, einen Mord
begangen zu haben. Der Verdächtige war ein in der betreffenden
Gegend hoch angesehener Landwirt, und eine oventuelle sofortige
unverschuldete Untersuchungshaft hätte ihn schwer geschädigt Dem
Opfer war damals eine Reihe von Gegenständen, wie die Uhr, Geld-
tasche etc. abgenommen worden, doch vermutete man, dass dies der
begüterte Mörder nur deshalb getan habe, um den Schein des Raub-
mordes zu erwecken und damit den Verdacht von sich abzulenken.
Da man mit Rücksicht auf die Stellung des Verdächtigen nicht sofort
mit Untersuchungshaft vorgehen wollte, sollte vorher noch ein Asso-
ziationsexperiment vorgenommen werden, nach dessen Ausgang das
51
Für solche Fälle zweifelhaften Verdachtes der Täterschaft
' vermöchte unsere Methode wertvolle Unterstützung zu leisten,
indem sie grewissermassen ein ultimum remedium für den
Staatsanwalt dafür wäre, ob gegen einen Verdächtigen mit
Untersuchungshaft vorzugehen sei oder nicht. Und vermöchte
man -vermittels der psychologischen Tatbestandsdiagnose dem
entsetzlichen Übel leichtfertiger. Haftverhängung, welche den
Betroffenen nicht nur an der Freiheit, sondern auch an
seinen materiellen Gütern schwer schädigt, ein wenig zu
‚steuern, so wäre sie schon «darum allein der Aufnahme in
den Strafprozess wert. 53)
Noch auf einen Umstand muss hier zurückgekommen
werden. In den bisher vorgenommenen Versuchen war dem
Experimentator — von zwei Fällen abgesehen — überall be-
kannt, dass sich unter den zu Untersuchenden der „Schuldige“
befinde, ein Moment, welches die Beantwortung der Frage,
wer der „Schuldiee“ sei, bedeutend erleichtert. Im Leben
steht aber die Sache ganz anders. Allerdings können auch
hier Fälle vorkommen, in welchen man mit Bestimmt-
heit weiss, dass aus einer Reihe von Leuten jemand der
Schuldige sein müsse, die Person selbst aber fraglich ist, da
von den Beschuldigten der eine die Tat auf den anderen
schiebt. Hier wird allerdings die Sachlage ganz derjenigen
ähneln, welche unseren Versuchen zugrunde lag.
E.”9Die Mehrzahl der Fälle aber ist nicht so beschaffen,
denn es ist möglich, dass von einer: ganzen Reihe von Ver-
dächtieten nicht ein einziger der Schuldige ist. Aus diesem
Grunde wäre m. E. in praxi das Hauptgewicht darauf zu
legen, dass man in erster Linie darauf ausgehe, das Nega-
tivum, d. h. die Unkenntnis, die „Unschuld“ in unserem Sinne
zu konstatieren, und das Positivum, Kenntnis des Tatbestandes,
„Schuld“, erst dann angenommen werde, wenn das ganze
Versuchsbild — dieses und nur dieses in toto betrachtet kann
Ausschlag gecbend sein — diese Annahme rechtfertigt. Aus
weitere Vorgehen eingerichtet werden sollte. Leider kam es in diesem
Falle nicht zu einer Anwendung der Methode, da dieselbe an der —
allerdings hier nicht unbedeutenden — Kostenfrage (!) scheiterte.
63) Vgl. meine Abhandlung „Die Assoziationsmethode im Straf.
prozess“ in Z. f. Strafrechtsw. XXVI, S. 19 ff.
4*
‚diesem Grunde sollen aber auch die Ergebnisse eines tat-
bestandsdiaenostischen Assoziationsexperimentes vor allem für
das EKrmittelunesverfahren (Vorerhebungen und Vorunter-
suchung) von Bedeutung sein. sei es. dass der gegen jemanden
schwebende Verdacht entkräftet oder unterstützt wird.
Ist mit Bestimmtheit aus den Experimentalereebnissen
Unkenntnis des Tatbestandes. somit Unschuld. anzunehmen.
so kann dies zur sofortigen Aufhebung der Haft. eventuell
zur Einstellung des Verfahrens führen. Im entgegengesetzten
Falle sind die Resultate gleich anderen im Strafprozess ver-
wendeten Indizien anzusehen.
Der Verwendung des Assoziationsverfahrens im Straf-
prozesse steht m. E. das Prinzip der Unmittelbarkeit. wonach
bei der Urteilsfällune nur auf dasjenige Rücksicht genommen
werden darf. „was in der Hauptverhandlung vorgekommen
ist“ (S 258 6. St. P. O.) nicht entgegen. Es sollte mit dieser
Bestimmung lediglich ein für allemal mit dem früheren Vor-
gange, wonach sich das Urteil auf dasjenige stützte. „was in
den Akten geschrieben“ stand, gebrochen werden.54) Darum
wurde die mündliche Hauptverhandlune eingeführt. in welcher
‚sich gewissermassen in lebendiger Form. vor den Augen des
erkennenden Gerichtes. die Straftat noch einmal historisch
abspielen soll, deren Ergebnisse die Grundlage des Urteiles
zu bilden haben. Dass alle Beweise erst in der Hauptver-
handlung orieinär aufgenommen werden. steht nirgendwo gc-
schrieben und darum vermag ich denjenigen nicht beizustimmen,
welehe der Ansicht zuneiren. cs müsste ein tatbestands-
(liagnostisches Experiment. wenn es überliaupt Berücksichti-
gung im Urteile finden solle, noch einmal in der Hauptver-
handlung wiederholt werden. Eine derartige Wiederholung
halte ich nicht bloss für ganz unmöglich — man denke nur
an eine Verhandlung vor dem Geschwornengerichte! - - sondern
nach unserer Prozessordnung auch für überflüssig.
Denn welchen Zweck soll es haben, dass ein psveho-
logisches Experiment, welches gar mancherlei Fähigkeiten
54) Vgl. Julius Mitterbacher, Die Strafprozessordnung für die
im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder etc. Wien 1882,
p.374ff., ferner Zucker, oestr. Gerichtsz. 1874, Nr. 41 und Waser, oestr.
Gerichtsz. 1879, Nr. 81.
beim Beobachter voraussetzt, in einer Versammlung von
Leuten vorgenommen wird. welche von der ganzen Prozedur
nichts verstehen. am wenigsten wenn es sich um ein Erkenntnis-
vericht handelt. bei welchem das Laienelement prävaliert.
Hiezu kommt noch die Masse von Eindrücken. welche
der Geriehtssaal mit seiner besonderen Einrichtung, seinem
zahlreichen Publikum ete. bietet und welche von vornherein
jeden Erfolge paralysieren müssen. Daran also. dass ein
(liaunostischer Assoziationsversuch in der Hauptverhandlung
vorgenommen werde. «daran kann nie gedacht werden. Ein
solcher Vorgang scheint mir aber auch nach unserer St. P. O.
als ganz überflüssig. da doch ohne weiters ein. sei es von
einem Sicherheitsoreane oder dem Untersuchungsrichter im
Laufe des Eirmittelungsverfahrens aufgenommenes diaenostisches
Tatbestandsprotokoll,. in Form eines Berichtes®) im Sinne
des § 258 St. P. O. letztes alinca in der Hauptverhandlung
zur Verlesung gelangen kann. ohne dass damit das Unmittel-
barkeitsprinzip verletzt würde.
Wenn von einigen Seiten statt Verlesung des Berichtes
Einvernahme des betreffenden Experimentators vorgeschlagen
wurde. und man dabei darauf hinweist. dass auch sonst sich
Fälle ereienen, in welchen eine Amtsperson über die von ihr
vcmachten Wahrnehmungen als Zeuge einvernommen wird.
z. B. ein Beamter der Polizeibehörde über eine Majestäts-
beleidigung, welche in einer von ihm geleiteten öffentlichen
Versammlung fiel, so kann dieser Vorschlag meinen Beifall
nicht finden. Denn hier handelt es sich m. E. um sinnliche
Wahrnehmungen. welche ein Organ, allerdines anlässlich
einer amtlichen Funktion, gemacht hat, über welche es aber
genau so als Zeuge gehört wird, wie wenn cs die Wahr-
nehmung als Privatperson gemacht hätte. In unserem Falle
aber handelt es sieh nicht um eine derartie zufällige gemachte
Wahrnehmung, sondern vielmehr um eine spontan, in be-
stimmter Absicht. vorgenommene Amtshandlung. Wenn einzelne
Schriftsteller auch für die Fälle letzterer Art. Zeugeneinvernahme
vorschlagen. so halte ich dies einerseits als dem Wesen
55) Vgl. hierüber meine Ausführungen in Z. f. Strafrechtsw. XXVI
S. 38 ff.
5+ --
der Zeugenaussage widersprechend, andererseits aber auch
als dem Zwecke des Prozesses für abträglich. Eine Amts-
person, welche ihre sinnlichen Wahrnehmungen nicht wie
eine Privatperson dem Zufall verdankt, zu diesem vielmehr
durch ihre amtliche Tätigkeit gelangt. soll hierüber in
„Protokollen, Berichten“ oder wie immer man solch schriftliche
Referate nennen mag. Bericht erstatten, nicht aber hierüber
als Zeuge einvernommen werden. 56),
Damit wäre zugleich auch die Frage, welche Personen
im forensen Leben diagnostische Experimente vorzunchnen
hätten, beantwortet. Einen Sachverständigen damit zu þe-
trauen. woran ursprünglich gedacht war, würde nicht nur auf
technische Schwierigkeiten stossen, sondern wohl auch dem
Wesen der Sache selbst kaum entsprechen.57) Denn zweierlei
Aufgaben sind es, deren Erfüllung wir vom Sachverständigen
verlaneen: Er hat zunächst festzustellen, was im konkreten
Falle vorhanden sei, also ein reines Wahrnehmungsurteil
abzugeben. in welcher Funktion er ganz dem sachverständieen
Zeugen ähnelt, und dann hat er diesen „Befund“ unter den
zugehörigen Erfahrungssatz, über welchen er vermöge seiner
besonderen Kenntnisse verfügt. zu subsumieren, um auf diese
Weise das eigentliche sachverständige „Gutachten“ zu gewinnen.
Die Tätigkeit des Diagnostizierenden hingegen ist zunächst
auf die genaue Feststellung des Tatbestandes, soweit ihn
dieser bekannt ist. sodann auf die gehörige Zusammenstellung
der Reizreihe, zu welcher, abgesehen von einiger Übung und
sorgfältiester Umsicht, „besondere“ Fähigkeiten nicht er-
forderlich sind und schliesslich auf die Untersuchung gerichtet.
ob die Versuchsresultate derart sprechend sind, dass man aus
ihnen auf Kenntnis des Tatbestandes schliessen kann. Die letztere
Tätigkeit scheint allerdings auf den ersten Blick besondere
56) Dementspricht'denn auch vollständig die,B. desoesterr. Kassations-
hofes vom 13. Dezember 1875, Z. 11442, in welcher klar zum Ausdrucke
gelangt ist, dass Mitteilungen der Polizeibehörden über die Ergebnisse
der im Wege von Voruntersuchungshandlungen (§8 24 u. 141 St. P.O.)
unternommenen Amtshandlungen in der Hauptverhandlung zu verlesen
sind. Vgl. auch E. vom 9. November 1878 Z. 8233 und analog die E.
vom 3. Oktober 1879, Z. 7248.
57) Vgl. hierüber meine oben erwähnte Abhandlung p. 361.
s Bh c
Qualitäten beim Untersucher vorauszusetzen, in Wirklichkeit
aber ist zu erwarten, dass die Diagnose auch von Ñeuten,
welcheüberkeine ausserordentliche psycho-analytische Begabung
verfügen, wird vorgenommen werden können. Dass das Vor-
handensein der letzteren nicht gerade schädlich sein wird,
ist selbstverständlich, gereicht es ja auch heute dem Unter-
suchungsrichter nicht zum Nachteile. wenn er auch ein guter
Psychologe ist; unbedingte Voraussetzung aber für die Diagnose
des. Tatbestandes wird diese Begabung nicht sein.
Die Kreierung besonderer „psychologischer Sachverstän-
dieer“, welche übrigens heute auf keine geringen Schwierig-
keiten stossen würde, da gegenwärtig die Zahl der Leute,
welche die Methode wirklich beherrschen. auch unter den
Psychologen eine recht spärliche ist, erscheint darum über-
flüssie. Bei entsprechendem Ausbau und hinlänglicher Vervoll-
kommnung wird das Verfahren anstandslos von Polizeibeaniten
und Untersuchungsrichter vorgenommen werden können.
Abschliessend sei bemerkt:
Zweck der Methode ist es, vor allem denjenigen, welcher
uneerechtfertieterweise im Verdachte einer Straftat
steht. vor der Verurteilung zu retten. zumindest ihn vor
der schwer schädieenden Haft zu schützen, also in erster
Linie dem Prinzipe der Freiheit zu dienen, andererseits
soll sie unsere nicht gerade reichlichen Mittel zur Er-
forschung der Wahrheit58) vermehren und dazu mithelfen, den
Schuldigen der verdienten Strafe zuzuführen, somit beiden
Gedanken, auf welchen der moderne Prozess aufgebaut
ist, dem der Freiheit. ‚wie dem der Wahrheit zum
Durchbruche verhelfen. Darum werden wir nicht zögern,
die Diagnose des Tatbestandes, sobald sie auch bei zahlreichen
„wirklichen“ Komplexen erprobt, befriedigende Resultate
geliefert haben wird, ins forensische Leben einzuführen, und
es wird hiebei vermutlich nicht allzu schwer werden, ihr im
Strafprozesse eine ähnliche Unterkunft zu verschaffen, wie sie
58) Gegen den Wert der Zeugenaussagen wird unser Misstrauen
nach den hierüber gepflogenen Untersuchungen fast; mit jedem Tage
grösser!
andere Indizien liefernde Untersuchungsformen wie Daktylos-
kopie. Schriftvereleichune u. À. besitzen.
Dass ihrer Einführune im Prozesse fundamentale Prin-
zipien entgegenstehen. möchte ich verneinen. Sollten sich
nichtsdestoweniger doch Schwieriekeiten in dieser Richtung
ergeben, dann wird daran zu denken sein. dass „die Prinzipien
um der Gesetze willen da sind“.59) nicht umeekehrt! Zu-
treffend bemerkt darum Ötker,®) der die Erwartung aus-
spricht, «dass die Methode der Assoziationen dem modernen
Strafprozesse „neue Horizonte“ eröffnen werde: „Werden zu-
verlässiee Wege der Wahrheitsermittlung gefunden, so kann
nicht wegen enteegenstehender Prozessprinzipien auf ihre
Verwertung verzichtet werden. Denn das „Prinzip“ will
nur der Wahrheitsfeststellung dienen und wandelt sich mit
den dazu geeigneten Mitteln.“
5) Delbrück, Kritische Betrachtungen zur Reform des Vorver-
fahrens im Strafprozess. Gerichtssaal, Bd. 64, S. 438.
60) Gerichtssaal, Bd. 65, S. 208.
II.
IV.
Vl.
VH.
Inhaltsverzeichnis.
Einleitung . ;
Der Tatbestand .
Versuchsergebnisse
Die Diagnose . . . .
Die einzelnen Komplexmerkmale
I. Der inhaltliche Charakter der Reaktionen
2. Die Perseverationstendenz der Vorstellungen
3. Die Reaktionszeit .
4. Die Reproduktion .
Theoretische Erwägungen
Die strafprozessuale Frag
e.
Die
pathologische Anschuldigung.
Beitrag zur Reform des § 164 des Strafgesetzbuchs
und des § 56 der Strafprozessordnung.
Von
Dr. med. Johannes Bresler,
Oberarzt an der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt zu Lublinitz, O.-Schl.
Alle Rechte vorbehalten.
Halle a. S.
Verlag von Carl Marhold.
1907.
Juristisch - psychiatrische
Grenziragen.
Zwanglose Abhandlungen.
Herausgegeben von
Prof. Dr. jur. A, Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoche,
Halle a. S. Freiburg i. B,
Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler,
Lublinitz i. Schles.
V. Band, Heft 8.
Die pathologische Anschuldigung.*)
Beitrag zur Reform des $ 164 des Strafgesetzbuchs
und des $ 56 der Strafprozeßordnung.
Einleitung.
Meine Herren! Als sich mir anläßlich bestimmter Fälle
der Rechtspflege die verlockende Aufgabe bot, die krankhaft
bedingte falsche Anschuldigung in ibrem Zustandekommen und
ihrer Bedeutung, sowie die Wege zur Verhütung der durch sie
möglichen Gefährdung von Rechtsgütern vom psychiatrischen
Gesichtspunkt darzutun, waren erst zwei Bedenken wegzu-
räumen, welche der Ausführung des Plans im Wege standen. Von
ärztlicher Seite konnte eingewendet werden, daß ein gewisses
Delikt bei jeder Art geistiger Störung vorkommen kann und
im Verlauf irgend einer Art geistiger Störung jeder beliebige
Konflikt mit dem Strafgesetz möglich ist, daß es nicht in der
Theorie und Praxis der gerichtlichen Psychiatrie begründet
liege, noch durch sie gerechtfertigt erscheine, etwa eine patho-
logische Stehlsucht, einen Mordtrieb usw. aufzustellen und so
die alte Lehre von den Monomanien aufzufrischen. Nun, jener
Einwand soll in der Tat den folgenden Ausführungen zur Richt-
schnur dienen: es soll gezeigt werden, bei welchen Formen
von Geistesstörung und in welchen geistigen Ausnahmezuständen
eine pathologische Anschuldigung möglich ist und wie sie ent-
steht.
Der andere Einwand war von juristischer Seite zu er-
*) Vortrag, gehalten in der Versammlung oberschlesischer Juristen und
Ärzte zu Lublinitz am 16. März 1907.
ee Re
warten: man könnte entgegenhalten, daß von uns über die
pathologische Anschuldigung im wesentlichen nur dasselbe mit-
geteilt werden würde, wie von der pathologisch bedingten oder
beeinflußten Zeugenaussage, worüber ja in letzter Zeit so viel
experimentiert und geschrieben worden ist.
Seit Bessel im Anfang vorigen Jahrhunderts die bekannte
„persönliche Gleichung“ entdeckt hatte, ist man sich auch in
psychologischen und juristischen Kreisen allmählich darüber
klar geworden, ein wie unsicheres Werkzeug unsere Sinnes-
apparate trotz ihres feinen Baues und unser Wahrnehmungs-
vermögen trotz des wunderbaren Mechanismus des Gehirns ist,
und so enthalten wohl alle Kriminalpsychologien Belehrungen
über die schon normalerweise vorhandene Unzuverlässigkeit und
Unsicherheit der Aussage. A. O. Klaussmann (Berlin) hat
bereits im Jahre 1899*) auf die Variabilität und Fehlerhaftig-
keit der Zeugenaussagen hingewiesen, die Notwendigkeit, Zeugen
im Gerichtissaal auf ihre Wahrnehmungs- und Aussagefähigkeit
prüfen zu können, an sehr instruktiven Beispielen dargetan ünd
Enqueten über die Zeugnisfähigkeit im großen Stil an vielen
Tausenden von Personen anzustellen empfohlen. Seine Propbhe-
zeiung: „diese Prüfung würde unzweifelhaft ergeben, daß der
weitaus größte Teil der Menschen, der mit gesunden Sinnen
in die Welt gesetzt ist, aus Mangel an Übung dieser Sinne
nicht imstande ist, korrekt zu sehen und zu hören und infolge-
dessen äußere Eindrücke in sich aufzunehmen“ — hat sich in-
zwischen in vollem Umfange bestätigt, nachdem W. Stern
(Beiträge zur Psychologie der Aussage. Von 1903 ab er-
scheinend in Leipzig bei J. A. Barth) solche Experimente über
Zeugenaussagen ausgeführt und diese Untersuchungen später
im Verein mit Anderen zu einem Spezialgebiet der angewandten
Psychologie erweitert hat. Ich muß mich damit begnügen, auf
diese Schriften zu verweisen, sowie auf die in den „Juristisch-
psychiatrischen Grenzfragen“* bereits veröffentlichten
*) A. O. Klaussmann, Zeugenprüfung, Archiv für Kriminalanthro-
pologie, herausgegeben von Prof. Dr. H. Gross, 1899, Band I, S. 39. Vor-
her hat :schun H. Gross („Handbuch für Untersuchungsrichter“ und „Krimi-
nalpsychologie“) die Frage der praktischen Experimente erörtert.
sa f a
Abhandlungen über dieses Thema von Sommer, Schott und
Gmelin*).
Die Geschichte der Lehre von der falschen Anschuldigung
zeigt aber schon, daß von jeher dieses Delikt in der Rechtspflege
eine ganz gesonderte Stellung eingenommen hat, und so ist zu
hoffen, daß gerade von den Juristen die Unterscheidung der
spontanen, interessierten und gleichzeitig krank-
haft beeinflußten oder bedingten Aussage gegen
Jemand, also der pathologischen Anschuldigung, von
der krankhaften Zeugenaussage, gebilligt, vielleicht sogar ge-
fordert wird.
Da die Lehre von der falschen Anschuldigung in ihrer
Entwicklung Manchem als Einleitung für das Folgende wissens-
wert erscheinen mag und tatsächlich einige wichtige forensisch-
psychologische Gesichtspunkte enthält, so sei einiges darüber
vorausgeschickt.
In den älteren Zeiten des römischen Rechts wurde der
Calumnia durch den sogenannten Calumnien-Eid vorgebeugt,
d. h. der Ankläger mußte vor der Anklage beschwören, „calum-
niae causa non postulare“ (lex Acilia repetundarum cap. 19,
Mommsen, Corp. inser. lat. p. 59). Eine Bestrafung der Calum-
nia wurde erst durch die Lex Remmia, gegen die Mitte des
zweiten Jahrhunderts v. Chr. eingeführt. Dem Calumniator
wurde ein K (Kalumnia) auf die Stirn eingebrannt. Zum Bei-
spiel sagt Cicero in seiner Rede pro Roscio Amer. 20: „Si ego
hos bene novi, litteram illam, cui vos usque eo inimici estis,
ut etiam Kalendas omnes oderitis, ita vehementer ad caput
affligent, ut postea neminem alium nisi fortunas vestras accusare
possitis“. Kalumnia und Kalendae gehören zu den wenigen
Worten, die damals und noch später mit K statt mit C ge-
schrieben wurden.
An die Stelle der Brandmarkung trat nach einer Übergangs-
zeit, in welcher die Bestrafung anscheinend verschiedentlich ge-
*) Sommer, Prof. Dr., Die Forschungen zur Psychologie der Aussage.
Juristisch-psychiatrische Grenzfragen. Bd. II, Heft 6,
Schott, Oberarzt, Dr., und
Gmelin, Dr., Landgerichtsrat, Zur Psychologie der Aussage, eben-
da Bd. III, Heft 6/7.
sa Q
handhabt wurde (Infamie des Prätors, Exil, selbst Todesstrafe)
und nachdem der Lex Remmia das Senatusconsultum Tur-
pillianum gefolgt war, die Talion unter Trajan. Dieser straf-
rechtliche Grundsatz erhielt sich unter mannigfacher Art seiner
Handhabung bis zur Carolina, obgleich daneben auch andere
Bestrafungen Platz griffen, die Buß- und Wettpflicht, im angel-
sächsischen Recht Verlust der Zunge, ablösbar durch Wehr-
geld. Auch das preußische Landrecht kennt ihn noch, während
er dem Codex juris bavarici, der Theresiana und den ver-
schiedenen neueren Strafgesetzbüchern ferngeblieben ist.
Schon das Senatusconsultum Turpillianum führt Personen
auf, die von der Calumniastrafe befreit sind. Diese Privile-
gierung fand statt, wenn zwischen Ankläger und Angeklagten
ein Pietätsverhältnis bestand (auch für den Ehemann bei der
Anklage wegen Ehebruchs), ferner in bestimmten Fällen bei
Frauen, nämlich si suam suorumque injuriam persequuntur
endlich auch beim Minderjährigen, wenn er wegen Ehebruchs
klagt („juvenili facilitate ductus vel etiam fervore aetatis accen-
sus“), in den beiden letztgenannten Fällen jedoch nur, wenn
es sich um eine Calumnia evidens handelte.
Wenn im römischen Recht bei der Calumnia’ psychische
Ausnahmezustände zur bestimmenden Regel gemacht werden,
ja eigentlich bestimmte äußere Verhältnisse präsumtiv als
Voraussetzung für psychische Ausnahmezustände angesehen
werden, so darf man wohl fragen, warum im genannten Recht
die Möglichkeit einer seitens Geistesgestörter verübten Calum-
nia nicht einmal erwähnt wird. Es muß wohl als selbstver-
ständlich gegolten haben, daß einem Geisteskranken, der falsche
Anschuldigung begeht, keine Schuld zugemessen wird. In
der deutschen Reichsstrafgesetzgebung ist nicht einmal durch
das Vorhandensein „mildernder Umstände“ im $ 164, welcher
von der falschen Anschuldigung handelt, die Möglichkeit ge-
geben, Ausnahmezuständen wie denen bei der Calumnia Rech-
nung zu tragen. Der Umstand, daß es im $ 164 nur auf die.
wissentlich falsche Anschuldigung ankommt, ist wohl der
Grund des Fehlens „mildernder Umstände“.
ze Te
Gehen wir nun zum eigentlichen Thema über. Unter
pathologischer Anschuldigung fasse ich folgendes zusammen:
I. Die wissentlich falsche Anschuldigung auf Grund krank-
hafter Lügenhaftigkeit oder Triebe. Inhalt der An-
schuldigung Erdichtetes.
Il. Die falsche Anschuldigung auf &rund krankhaft ge-
störter Wahrnehmung oder Denktätigkeit. Inhalt der
Anschuldigung Illusionen, Halluzinationen, Wahnideen.
_ II. Die inhaltlich richtige, aber krankhaft moti-
vierte Anschuldigung.
Die pathologische Anschuldigung der ersten Art erwächst
hauptsächlich auf dem Boden des hysterischen Charakters.
Unter hysterischem Charakter verstehen wir folgendes
Gruppenbild seelischer Eigenschaften: Krankhaft gesteigerte
Beeinflußbarkeit; diese bezieht sich nicht nur auf von außen
kommende Einwirkungen, sondern noch mehr auf die Ab-
hängigkeit von inneren Zuständen und durch letztere
irgendwie zustande gekommenen oder begünstigten Vorstellungen,
auf die sogenannte Autosuggestion, die krankhaft gesteigerte
Selbstbestimmung, vulgär den Eigensinn (auch eine gesteigerte
Subjektivität kann man es nennen), der die Umwelt nur in der
Beleuchtung einseitig gerichteter starker Affekte, einseitiger
Gemütslagen erscheinen und erfaßt werden läßt. Mit einer
Hartnäckigkeit, der alle Mittel der Logik und eine oft be-
stechende Phantasie zur Verfügung stehen, die allen Über-
zeugungsversuchen, selbst dem sinnfälligsten Beweis trotzt,
werden die kompliziertesten Dinge zusammengereimt, erdichtet,
ergänzt, gefärbt usw., wenn nur durch ihre Harmonie mit dem
eigenartigen Innenleben ein seelischer Ausgleich erreicht wird.
Dadurch kommen die Lügen der Hysterischen zustande Zum
Eigensinn gesellt sich die Eigenliebe. Sie wacht eifersüchtig
darüber, daß der eigenen Person keine Zurücksetzung widerfährt.
Die altruistischen Gefühle, selbst die Kindesliebe, werden erstickt.
Wenn es die Selbstsucht fordert und der Zweck, sich interessant
zu machen, sind Hysterische zu den größten Opfern, zum Er-
tragen der heftigsten Schmerzen fähig. Andererseits aber scheuen
sie vor dem gemeinsten Verbrechen und der raffiniertesten Lüge
nicht zurück, wenn nur auf diesem Wege das egoistische Ziel
in. G al
erreichbar ist. Infolge des krankhaften Schwankens des
Affektlebens zwischen Ausbrüchen von Heiterkeit und Ver-
zweiflung, infolge der Sprunghaftigkeit der Interessen, der
Sympathien und Antipathien, zusammen mit der hochgradigen
Eigensucht, der leichten Empfindlichkeit, der Oberflächlichkeit
des Gefühlslebens vermag sich bei einer Hysterischen im Hand-
umdrehen und aus geringfügigsten Anlässen die intimste Freund-
schaft zu Todfeindschaft, Wohltun zu Vernichten umzuwandeln.
Nicht alle Hysterischen besitzen die hier geschilderten Eigen-
tümlichkeiten in so hochgradig ausgeprägtem Maße, bei vielen
sind sie nur angedeutet und wir dürfen bei weitem nicht in
jedem an Hysterie Leidenden einen rachsüchtigen, zu allem Ge-
meinen fähigen Menschen sehen. Der hysterische Charakter
hat zwei Extreme; an dem einen befinden sich diejenigen
Hysterischen, welche, von der Welt nicht verstanden, einer
übertriebenen Religiosität sich hingeben, auf der anderen die-
jenigen, welche durch ihre unangenehmen Eigenschaften und
Triebe zum Verbrechen neigen. Die Frömmelei einer hys-
terischen Person darf jedoch nicht bestimmen, sie einer ver-
brecherischen Handlung für unfähig zu halten.
Ein nach der beschriebenen Richtung sich bewegender
Charakter wird aber dann erst hysterisch genannt werden
dürfen, wenn die bestimmten körperlichen und nervösen Zeichen
der Hysterie bei einem so geaıteten Individuum angetroffen
werden; das sind Störungen der Empfindung, Lähmungen,
Krampfzustände usw. Andernfalls wird es im Zweifel bleiben
müssen, ob es sich nicht um eine einfache noch im Bereich
des Durchschnitts befindliche Charakterdepravierung handelt.
Die falsche Anschuldigung ist nun das Verbrechen, welches
bei den Hysterischen am häufigsten vorkommt. Sie umspinnen
nicht nur den Angeschuldigten mit einem;fein ausgedachten
' Lügengewebe, sondern wissen ihre Angaben durch Selbstver-
stümmelungen, Selbstbeschädigungen, Selbstbinden mit Stricken,
Selbstknebelung unwiderleglich zu machen.
Unter den wegen falscher Anschuldigung Verurteilten über-
wiegt das weibliche Geschlecht außerordentlich stark. Auf
100 männliche Verurteilte kamen 1899 35,8 weibliche (aus
Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung,
=.
II. Aufl. 1906, S. 136, nach Reichsstatistik, Bd. 132, II, 50—65).
Vielleicht hängt dies bis zu einem gewissen Grade auch mit
der Häufigkeit der Hysterie beim weiblichen Geschlecht zu-
sammen. |
Einige Beispiele aus der Literatur werden am besten
veranschaulichen, wie gefährlich und wie zielbewußt das Vor-
gehen solcher Hysterischer ist.
Eine Hysterische E. (Journal of Mental Science, 1872, April.
bei von Krafft-Ebing, Gerichtl. Psychopathologie, S. 247) hatte
die Frau eines Arztes, zu dem sie Zuneigung erfaßt, zu ver-
giften gesucht mittels vergifteter Schokolade. Sie war in Ver-
dacht geraten. Bald darauf erkrankten mehrere Knaben nach
Genuß von Schokoladenkonfekt an Strychninvergiftung, einer
starb; die E. selbst denunzierte wiederholt den Konditor, daß
sie und ihre Bekannten von der bei ihm gekauften Schokolade
erkrankt seien, und drang auf chemisch-polizeiliche Untersuch-
ung. Es wurde festgestellt, daß sie sich bedeutende Mengen
Strychnin unter falschem Namen verschafft, daß sie aus der
Konditorei, in welcher die für den Knaben tödlich gewordene
Schokolade gekauft war, sich Schokoladen-Drops hatte holen
lassen, das Paket geöffnet, aber die Drops zurückgeschickt
hatte, weil sie zu groß seien. Der Konditor hatte sie zurück-
genommen und der Knabe beim Einkauf davon erhalten. Die
E. hatte, wie festgestellt wurde, in anderen Läden das gleiche
Manöver ausgeführt. Sie wurde in die Anstalt für geistes-
kranke Verbrecher geschickt.
Binswanger*) berichtet über folgenden Fall: Ein 13
Jahre altes, von einem luetischen Vater stammendes Mädchen,
dessen zwei Geschwister Krämpfe hatten, entwickelte sich in
der Kindheit normal, nur hatte sie mit zwei Jahren Speichel-
fluß, der bis zum sechsten Jahre andauerte. Mit neun Jahren
Diphtherie mit nachfolgender Gaumen- und Beinlähmung. Bis
zum zwölften Jahre gute Schülerin; von da an unaufmerksam,
zerstreut, „sie saß oft wie abwesend da, blinzelte mit den
Augen, mußte oft ermahnt werden, war verstimmt, sehr schlaf-
süchtig“. Sie verließ im selben Jahre ohne Ursache das Eltern-
*) Binswanger, Die Hysterie. Wien, 1904. S. 743.
= ä0: =
haus, reiste zu einer Tante in einer benachbarten Stadt und
erzählte dort unter anderem, der Vater habe mit ihr geschlecht-
lich verkehrt und ein Kind gezeugt, welches drei Tage lebte
und sehr schwach war. Sie beschrieb den geschlechtlichen
Verkehr mit allen Details; er habe mit einem Instrument erst
die Vagina erweitert. Dort im Hause der Tante oft mehrfache
Ohnmachtsanfälle.e Nach dem Geständnis ihrer angeblichen
Schwängerung trat ein Krampfantall auf, nachher Erschwerung
des Urinlassens, Mißmut, Selbstmordgedanken und -versuch.
Zeitweilig erotisches Verhalten gegen ein Dienstmädchen. Die
Anklage gegen ihren Vater hatte eine gerichtsärztliche Unter-
suchung ihrer Genitalien zur Folge, wobei eine Entwicklungs-
störung der Genitalien (Pseudohermaphrodisia externa) festgestellt
wurde. — Pat. gestand in der Klinik ein, ihren Vater verleumdet
und auch im übrigen oft gelogen zu haben. Es seien ihr solche
böse Gedanken in den Sinn gekommen, die sie dann habe aus-
sprechen müssen. Die Beobachtung ergab eine typische Hysterie.
| Eine andere, an schweren hysterischen Anfällen leidende
Patientin, welche aus vornehmem und gebildetem Hause stammte,
aber allmählich zur Prostituierten herabgesunken war, berichtete
eines Tages voll Entrüstung, daß ihre Vorsätze, ein ordentliches
Leben zu beginnen, vereitelt worden seien durch eine schmäh-
liche „Vergewaltigung“. Sie habe bei einem hohen Beamten
Besuch gemacht, um von ihm eine Unterstützung zu erlangen.
Bei dieser Gelegenheit habe er sie erst durch Drohungen, dann
durch Mißhandlungen gezwungen, ihm willfährig zu sein. Sie
schilderte diesen Vorgang in allen seinen Einzelheiten. Sie sei
mit einem Geldgeschenk abgelohnt worden; der Täter habe
sie dann bei der Sittenpolizei denunziert und dadurch wieder
ins Unglück gestürzt. Den angestellten Nachforschungen zu-
folge war sie in Wirklichkeit um eine Armenunterstützung ein-
gekommen. Es war ihr schriftlich (das Schreiben war von
diesem Beamten unterzeichnet) eine Geldunterstützung abge-
schlagen, dagegen eine Arbeitsstelle angeboten worden.
Vibert*) berichtet von einem Manne, der ganz erschöpft
*) Vibert, Beispiele von Lügen oder vermeintlichen Lügen bei Hys-
terischen. Annales d'hygiène publique. Februar 1894. Allg. Zeitschrift f.
Psychiatrie, 1895, Literatur 3. 42.
ee, Ze
und Blut auswerfend auf der Polizei ankommt und einen
Kutscher beschuldigt, von ihm niedergestoßen zu sein. Ins
Spital gebracht, läßt er sich dort wegen Beschwerden im Bauche
den Leib aufschneiden. Die Leibesöffnung ergab keinen
Befund, der auf eine Verletzung wies. Auch die Untersuchung
gegen den Kutscher verlief resultatlos. Es blieb nur die An-
nahme übrig, daB die ganze Sache auf Einbildung beruhte.
Nach dem Verfasser handelt es sich um Hysterie.
Ein in der Literatur oft zitierter Schulfall ist der folgende
von Rouby beobachtete*): Die Tochter eines Trinkers, bis zur
Pubertät gesund, von da an seltene Hysterie gravis-Anfälle,
neben ausgeprägt .hysterischem Charakter häufige Schlafanfälle.
Sie knüpft ein Liebesverhältnis an, verführt ihren Liebhaber,
verfällt beim Koitus in einen Schlafanfall, was den Mann so
erschreckt, daß er sich zurückzieht und eine andere heiratet.
Wütend darüber, macht sie mit ihrer Mutter ein Komplott, den
Liebhaber zu vernichten. Sie schneidet Weinreben ab, denun-
ziert jenen Mann und seinen Bruder als Täter, behauptet Augen-
zeugin des Krimens gewesen zu sein. Sie beschwört ihre
Aussage und setzt Verurteilung durch. Die ganze Familie
jenes Mannes wird durch sie verleumdet und schlecht gemacht.
Ein Jahr später kommt die Kranke verwundet daher gerannt,
denunziert den Onkel ihres Geliebten des Mordversuchs an ihr,
angeblich aus Rache, setzt auch dessen Verurteilung durch.
Dann spielt sie genau dieselbe Komödie gegen einen anderen
Onkel, der glücklicherweise ein Alibi erbringen kann. Für
kurze Zeit wechselt nun ihre Hysterie die Form. Ihre Mutter
alarmiert das Dorf und führt die Leute zum Bett der Person,
die mit einem Kranz um ihr Haupt daliegt, den ein Engel des
Nachts gebracht haben sollte nebst einer Rolle, auf welcher
stand: Corona martyri. Die Geistlichkeit stellte sich auf ihre
Seite. Man opferte reichlich dem Mirakel. Mutter und Tochter
zogen dann im Lande umher, teils als Heilige, teils als Hetären.
Dann kam die Patientin auf ihren früheren Ideenkreis zurück.
Sie legte Feuer an ibr Haus, schnitt in einem Stall einer Kuh
*) E. Raimann, Die hysterischen Geistesstörungen. Leipzig und Wien
1994. S. 363.
u HH
die Euter ab, denunzierte abermals ıhren Liebhaber, diesmal
ging es ihr schlecht. Sie mußte flüchten, wurde eines Tages
bei Diebstahl betroffen und verurteilt; schließlich wegen Gift-
mord lebenslänglich eingekerkert.
Anonyme Anzeigen mit Beleidigungen sind bekanntlich bei
den Hysterischen recht beliebt. Etwas seltener aber nicht
weniger bemerkenswert ist der in der Prov.-Irrenanstalt Hil-
desheim (Jahresbericht 1899/1900) zur Begutachtung gekommene
Fall einer Frauensperson, die beschuldigt war, verschiedene
anonyme Briefe voll Beleidigung Dritter an sich geschrieben und
dann eine andere bei Gericht als die Verfasserin dieser Briefe
angezeigt zu haben. Sie leugnete, die Briefe geschrieben zu
haben.. Hysterische Krampfanfälle waren bei der Angeklagten
vor und nach der Tat festgestellt, sie war auch zur Zeit der
Beobachtung noch launisch und kindisch und hatte in der An-
stalt hysterische Anfälle. Sie wurde wegen Unzurechnungs-
fähigkeit freigesprochen.
Unzurechnungsfähigkeit braucht keineswegs in jedem Falle
falscher Anschuldigung bei hysterischen Personen vorzuliegen,
selbst wenn die Hysterie durch den Nachweis körperlicher
Symptome außer Zweifel gestellt ist. Es kommt immer noch
auf den Grad des hysterischen Charakters an und es muß von
Fall zu Fall entschieden werden.
Anders liegt die Sache, wenn bei Hysterischen die falsche
Anschuldigung auf einem in das wache Bewußtsein sich fort-
pflanzenden Traumerlebnis beruht, welche das hysterische In- .
dividuum in einem Dämmerzustand erfahren hat. Der folgende
von Binswanger*) beobachtete und mitgeteilte Fall wird
das illustrieren: Eine seiner hysterischen Patientinnen, welche,
wahrscheinlich unter dem Einfluß von Alkoholicis, gelegentlich
einer Landpartie in einen mehrere Stunden dauernden Dämmer-
zustand verfallen war, erhob nachher gegen einen Teilnehmer
des Ausflugs die Klage, daß er sie im Walde vergewaltigt habe.
Sie erzählte den Vorgang mit Angabe selbst geringfügiger
Einzelheiten. Er habe sie auf eine kleine, einsam gelegene
Waldwiese gelockt und sie unter einem mächtigen Eichbaum
*) Binswanger, Die Hysterie. S. 730.
PREE o e
zu Boden geworfen usw. Bei der gerichtlichen Untersuchung,
welche der Angeschuldigte beantragt hatte, wurde festgestellt,
daß er in der fraglichen Zeit den Ort der geselligen Zusammen-
kunft überhaupt nicht verlassen habe. Die Patientin hatte
unter anderem angegeben, daß der Angreifer eine helle schwarz-
gestreifte Hose getragen habe, welche bei dem Kampfe auf
dem Grasplatze über und über mit Grasflecken beschmutzt
worden sei. Es ließ sich leicht feststellen, daß diese Angaben
durchaus unrichtig waren. —
Hierher gehört auch die Frage, ob eine Frauensperson
während des Schlafes unbewußt koitiert werden kann. Brou-
ardel*) hat sich mit dieser Frage eingehend beschäftigt. Er be-
hauptet die Möglichkeit für den natürlichen Schlaf unter der Be-
dingung, daß die betreffende Frau wiederholt geboren hat, und
- bei dem Akt in tiefem Schlaf oder in Schlaftrunkenheit und
in der Meinung gewesen sei, ihr Mann wohne ihr bei; für den
künstlichen Schlaf dann, wenn er infolge Berauschung oder
Narkotica abnorm tief war. Verdacht auf Vortäuschung muß
‚geschöpft werden, wenn die betreffende Person gleich nach
dem Trunk bewußtlos wurde und ohne weitere Beschwerden
bald wieder zu sich kam. Weibliche Personen soll man nur
in Gegenwart von Zeugen chloroformieren oder hypnotisieren,
da öfter Ärzte und Zahnärzte von Chloroformierten auf Grund
sexueller Träume und Erregungen fälschlich eines unsittlichen
Attentats beschuldigt wurden. Der objektive Tatbestand ist
dann sehr schwer festzustellen, zumal geschlechtliche Verge-
waltigungen in bewußtlosen Zuständen durch Magnetiseure,
Hypnotiseure u. dergl. keine Seltenheiten sind. —
Wie auf dem Wege eines krankhaften Geschlechts-
triebs falsche Anschuldigungen zustande kommen können, zeigt
folgender von Türk el**) mitgeteilte Fall: Ein Detektiv, 38
Jahre alt, wird wegen eines peinlichen Mißgriffes, begangen
durch Beschuldigung der Gattin eines hohen Beamten, einen
Diebstahl versucht zu haben, aus seiner Stellung entlassen. Er
*) Brouardel, Annales d'hygiène publique. 3. Serie, Bd. 43, Nr. 1,
1900. Allg. Zeitschr. für Psychiatrie, Bd. 58, 1901, Literaturheft S. 70.
**) S. Türkel, Sexualpathologische Fälle. Archiv für Kriminalan-
thropologie, 1903, XI, S. 214.
Er ll,
eröffnete dem Arzte, daß er nur beim Anblick großer psychi-
scher Angstzustände sexuelle Erregung verspüre, daß er daher,
wenn er nicht genügend wirkliche Diebe ertappe, ganz un-
schuldige Personen weiblichen Geschlechts wegen angeblich
versuchten Diebstahles anhalten und verhaften ließ, um sich an
ihren vor Schreck und Aufregung verzerrten Gesichtern zu
weiden, wobei Ejakulation eintrete. Dieser Mann endete sein
Leben bald darauf durch Erhängen.
Wir haben nun die zweite Art der pathologischen An-
schuldigung zu betrachten, die durch krankhaft gestörte Wahr-
nehmung oder Denktätigkeit zustande kommt.
Bei Wahrnehmungsfehlern kann es sich natürlich um den
Irrtum eines gesunden Menschen handeln, eine Voreingenommen-
heit, die etwas anderes sehen läßt als sich wirklich zugetragen.
Davon soll an dieser Stelle jedoch nicht gehandelt werden*).
Im Bereich des Krankhaften’ spielen bier zunächst die
Alkoholisten mit ihren Illusionen und Sinnestäuschungen
eine große Rolle.
Beispielsweise unter der kleinen Zahl von zehn Fällen
chronischer Alkoholpsychose, die Schröder**) beschrieben hat,
finde ich zwei Männer, die auf die Polizei liefen, um die an-
geblichen Verfolger anzuzeigen. Der eine rannte auf die
Polizei, weil sie hinter ihm herriefen: „Den kriegen wir, uns
kommt er doch nicht hinaus, jetzt muß er herhalten“ — er
wurde von der Polizei einfach abgewiesen. Der andere lief
nachts nackt in den Straßen herum und erzählte den Schutzleuten,
sein Bruder und noch andere Leute seien an sein Bett ge-
kommen, um ıhn zu erschießen.
Liman***) berichtete von den Denunziationen eines alko-
holistischen Halluzinanten, bei dem der Inhalt der Halluzina-
tionen in den wachen Zustand mit hinübergetragen wurde.
Ja, er erschien während des halluzinatorischen Zustands vor-
*) Siehe hierüber Sommer, Prof. Dr., Die Forschungen zur l’sychologie
der Aussage. Juristisch-psychiatrische Grenzfragen, Bd. 1I, Heft 6.
**) P. Schröder, Über chronische Alkoholpsychosen. Halle a. S. 1905.
***) L iman, Archiv f. Psychiatrie, VII, 1877, Seite 658.
E An s
übergehend so lucide, daß eine ganze Anzahl selbst gebildeter
Personen über den Zustand sich täuschen konnte. Er hatte
in seinem deliranten Zustand angegeben, daß jemand nachts
seine Frau ermordet habe, und zwar in so glaubhaft scheinen-
der Weise, daß von den Behörden sofort eingehende Nachforsch-
ungen über den Mord angestellt wurden. (In der Diskussion über
diesen Fall bemerkte Mehlhausens. Zt. zutreffend, daß zuweilen in
der Rekonvaleszenz von Typhus, in einem freien Zustande Wahn-
vorstellungen geäußert werden, die im Fieberdelir aufgetreten
waren und die erst allmählich verschwinden.)
Nach Wollenberg*) können sich falsche Anschuldigungen
ergeben bei den Abortivformen des Delirium tremens, wo das
Krankheitsbild sich nicht weiter entwickelt, sondern auf seine
prodromalen Erscheinungen mit Schlaflosigkeit, Unruhe und be-
ängstigenden Halluzinationen beschränkt bleibt, während am
Tage scheinbar völlige Besonnenheit vorhanden ist,
allerdings ohne Korrektur der nächtlichen Täusch-
ungen.
Bonhöffer**) berichtet folgenden Fall:
Bei einem schon früher an Deiirium und Halluzinose er-
krankt gewesenen Trinker treten, nach mehrwöchiger Reizbar-
keit und Empfindsamkeit gegen Lärm, plötzlich Stimmen auf.
Er geht gegen die Frau mit der Axt los, weil sie ihm Schimpf-
worte und Beschuldigungen an der Tür zurufe. „Führt
seine Frau nach der Polizei, weil sie ihn des Raubmordes
an einer Prostituierten beschuldigt habe, der sich vor Jahren
zugetragen und nicht aufgedeckt worden war.“ Unterwegs
fallen ihm die Schutzleute auf, hört hinter sich herrufen: „Fangt
ihn, den wollen wir totschlagen“, schreit auf der Straße um
Hilfe. Verbringung in die Anstalt, wo ein akuter Angstzustand,
Gehbörs- und Gesichtshalluzinationen festgestellt werden.
Eine reichlich fließende Quelle pathologischer Anschul-
digungen ist der Eifersuchtswahn der Trinker. Man
kann sagen, in demselben Grade wie der übermäßige Alkohol-
genuß den Geschlechtstrieb anregt, so macht sich dieser Wahn
*) [n Hoches Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. 1901. S. 646.
**) Bonhöffer, Die akuten Geistesstürungen der Gewohnbheitstrinker
S. 176.
ze, Ab.
der geschlechtlichen Beeinträchtigung bei den Alkoholisten
geltend. Zwar kommt krankhafte Eifersucht auch bei anderen
psychisch abnormen Zuständen vor, z. B. bei der Hysterie,
aber bei den Geistesstörungen der Trinker ist sie besonders
häufig, ja etwas fast Typisches und daher, zumal in Anbetracht
der großen Zahl der Trinker, von höchster forensischer Wich-
tigkeit. Wie ist es damit nun bei den nichtverheirateten Trinkern?
Nasse*) sichtete 28 Fälle von alkoholischem Verfolgungswahn.
Darunter waren 17 Verheiratete. Von %etzteren fand sich bei
15 der Wahn der Untreue der Gattin, bezw. in einem Falle
des Gatten, nur in zwei Fällen fehlte er. Von den drei Ver-
witweten beschuldigte einer seine verstorbene Frau der Un-
treue; er sah sie in seinen Halluzinationen wiederholt in Be-
gleitung anderer Männer ; die beiden andern Witwer zeigten
diesen Wahn zwar nicht, dagegen litten sie an abnormen
Empfindungen geschlechtlichen Inhalts. Bei den acht Ledigen
endlich litt einer an dem Wahn feindlicher Beeinflussung durch
eine abtrünnig gewordene Geliebte, alle acht aber boten den
Wahn der Beeinträchtigung durch die nächsten Angehörigen,
Vater, Geschwister, Stiefmutter, Schwager.
Solche Anschuldigungen sind ungemein schwer zu be-
werten, weil sie ihre Entstehung dem Anscheine nach nicht
immer bloß in der krankhaften Geistesbeschaffenheit des Trinkers
haben. Oft, allerdings. durch letzteren verursacht, ist das Ver-
hältnis. zwischen den Eheleuten ein gleichgültiges, ja selbst
feindseliges geworden und hat auf der gesunden zum wirklichen
Ehebruch geführt. In solchen Fällen ist es interessant zu
sehen, daß der an krankhaftem Eifersuchtswahn leidende Trinker,
auch wenn er von dem tatsächlichen Ehebruch durch sinn-
fällige Beweise Kenntnis bekommen hat, dennoch nicht diese
als die untrüglichen und allein maßgebenden gelten läßt,
ja sie ganz ignoriert, dagegen an seiner krankhaften Be-
gründung festhält und, was nicht minder wichtig ist, in krank-
hafter Weise darauf reagiert. Das Krankhafte des Eifersuchts-
wahns zu erkennen oder wenigstens zu vermuten, gibt es zwei
*) Nasse, Über den Verfolgungswahnsinn der geistesgestörten Trinker.
Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie. 1878, Bd. 34, S. 178.
a2. 0.
Anhaltspunkte — abgesehen von der Gesamtuntersuchung des
Anschuldigenden, die ja nicht immer sofort möglich sein wird,
1. formal: die Hartnäckigkeit und.der Affekt, womit die an-
geblichen Wahrnehmungen, sowie die gezogenen Schlüsse —
meistens sogen. „Kurzschlüsse* — gegen jeden Einwand des
Richters oder des Arztes verteidigt werden — ein bekanntes
Phänomen der Psychopathologie; 2. inhaltlich: die Ungleich-
artigkeit der Beweismittel, auf der einen Seite ganz gleichgültige,
nebensächliche Dinge und Vorgänge, auf der andern Seite, nament-
lich beim längeren Bestande des Wahns, Angaben, deren Inhalt,
Sinnestäuschungen entstammend, in den Bereich des Unmög-
lichen oder Ungeheuerlichen gehört.
Trotz der Häufigkeit des Eifersuchtswahns der Trinker
kommt es doch nicht so oft vor, daß Leute mit daraufbezüg-
lichen Anschuldigungen die Organe der Rechtspflege in An-
spruch nehmen. Grund ist, daß nach hier und da verbreiteter
Volksanschauung der Gatte das Recht hat, gegen den unge-
treuen Ehegatten mehr oder weniger auf eigene Faust vorzu-
gehen; ähnliche Grundsätze bestehen ja auch in der Recht-
sprechung mancher Völker. Infolgedessen registrieren wir in
forensischer Hinsicht bei dem alkoholistischen Eifersuchtswahn
häufiger Mord oder gefährliche Körperletzung, begangen an
dem angeblich untreuen Ehegatten.
Im Anschluß hieran sei noch erwähnt, daß die kranke
Eifersucht auch bei Cocainisten sehr häufig beobachtet wird;
endlich kommt sie auch nicht selten bei Altersblödsinnigen vor
und führt auch hier öfter zur Tötung als auf den Weg gericht-
licher Anschuldigung.
Ein 48jähriger Mattenflechter*), der seit seiner Militär-
zeit stark, eine zeitlang bis zu vier Liter Schnaps täg-
lich getrunken haben will, seit Jahren als roher, gewalttätiger
Mensch geschildert wird, wegen Gotteslästerung, Bedrohung
und Hausfriedensbruch vorbestraft ıst, seine Ehefrau seit vielen
Jahren mißhandelt, sie auf offener Straße prügelt, verdächtigt
sie im Rausche und später auch nüchtern des Ehebruchs mit
= *) Bonhoeffer, Die akuten Geisteskrankheiten der Gewohnheitstrinker.
Jena 1901. S. 211.
o)
al
er |, A
allen angesehenen Personen seines Dorfes. Er geht zum Geist-
lichen, um diesen zu veranlassen, daß er seiner Frau Vorhal-
tungen wegen ihres Lebenswandels machen solle, und erhebt
dabei „unglaubliche, horrende Anschuldigungen gegen ehren-
werte Männer“. Einheitliche Zeugenaussagen beleumunden die
Frau aufs beste; es ergibt sich keine Spur eines Anhaltes für
jene Verdächtigungen. Einzelne Zeugen sprachen von der
„Einbildung“* des Mannes bezüglich seiner Verdächtigungen.
Dieser erstattete nun gegen einen Milchhändler Anzeige wegen
Vergewaltigung seiner Frau. Die Untersuchung erwies die
völlige Haltlosigkeit der Anschuldigung. Die Folge war viel-
mehr eine Anklage wegen falscher Anschuldigung gegen ihn.
Dreiviertel Jahre später, nachdem er schon wochen- und monate-
lang zuvor geäußert, er werde seine Frau umbringen, erschlägt
er diese, nach reichlichem Alkoholgenuß, auf der Landstraße.
Er wurde zum Tode verurteilt und dann zu lebenslänglicher
Zuchthausstrafe begnadigt. In der Strafhaft entwickelte sich
der ursprüngliche Eifersuchtswahn zu einem ausgedehnten und
komplizierten Beeinträchtigungssystem, mit vereinzelten Gehörs-
halluzinationen, Erinnerungsfälschungen usw. Nach dreijähriger
Dauer der Geistesstörung erfolgte seine Überführung in eine
Irrenanstalt. —
Daß beim Ausbruch nicht nur eines alkoholischen, sondern
eines jeden beliebigen Fieberdeliriums genügende Be-
sonnenheit vorhanden sein kann, um eine krankhafte Wahr-
nehmung in glaubhaft scheinender Weise der Behörde vorzu-
tragen, lehrt u. a. folgende Mitteilung von Kirn*): Kl., 48 Jahre
alter Steinklopfer, dem Branntweingenuß in dem Maße ergeben,
als es sein harter Beruf erfordert, erscheint am 31. Mai bei der
Staatsanwaltschaft mit der Anklage: „Man habe ihn vergiften
wollen, indem man ihm den Schnaps vertauscht habe. Er habe
durch dessen Genuß Kopfweh, Schwindel, schwere Glieder und
Erbrechen bekommen.“ Er übergibt der Behörde einen steinernen
Krug, welcher den vergifteten Schnaps enthalten soll; gleich-
zeitig deponiert er eine ganze Reihe von Schriftstücken, welche
—
*) Kirn, Zur Kasuistik der Psychosen im Gefolge febriler Erkrankungen.
Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. 59, S. 747. 1883.
u. 16:
er ın einer Tasche mit sich führt, aus denen hervorgehen soll,
„daß man ihn schon des Alters wegen habe umbringen wollen“
(Prozeßakten mit Klagen gegen ihn) „Sie hätten ihn alle ‚auf
der Latte‘ (seien übel gegen ihn gesinnt.) Er gehe deshalb
nicht mehr nach Hause. Lieber wolle er in das Gefängnis
geführt werden, um seinen Verfolgern zu entgehen.“ Da die
ärztliche Untersuchung keine Erscheinungen von Vergiftung
auffinden konnte, wurde Kl. als geistesgestört dem klinischen
Hospitale übergeben. Bereits bei der Aufnahme wurde das
Bestehen von hohem Fieber konstatiert; alsbald entwickelte
sich ein hochgradiges, über das ganze Gesicht ausgebreitetes
Erysipel mit psychischen Gehirnerscheinungen. Die höchsten
Temperaturen betrugen am 3. Juni 40.2, am 4. 39,5, am 5.
38,9 Grad Celsius. Am 7. Juni trat mit dem Fieber der Wahn
zurück, am 8. war vollkommene Krankbheitseinsicht vorhanden.
Pat. konnte bald darauf als vollkommen geistig und körper-
lich genesen, entlassen werden.
Auch im Inkubationsstadium des sich bekanntlich sehr
schleichend entwickelnden Typhus treten zuweilen geistige
Störungen, Halluzinationen, Wahnideen auf, wobei der Kranke,
den Eindruck eines besonnenen, vernünftigen Menschen machend,
trotz schon vorhandenen Fiebers nach der Polizei geht und.
gegen vermeintliche Verfolger Anzeige erstattet. —
Das gegebene Feld für das Zustandekommen pathologischer
Anschuldigungen dieser Art ist der Verfolgungswahn (Para-
noia). Die eigentümliche, ihm zu Grunde liegende Gehirn-
krankheit führt zu einer Auffassung der Umwelt in dem Sinne,
als richte sich etwas Feindliches, Bedrohliches, dabei Geheim-
nisvolles aus ihr gegen den Kranken. Dieser anfänglich noch
unbestimmte Eindruck wird nach und nach spezialisiert, indem
- Denken und Sinnestätigkeit im Banne dieser Auffassung arbeiten
und in dem Kranken die Wahnidee, von gewissen Mitmenschen
beeinträchtigt, verfolgt zu werden. auftauchen lassen, während
gleichzeitig Sinnestäuschungen mit einem den Wahnideen ent-
sprechenden Inhalt, besonders die Trugwahrnehmungen be-
schimpfender Worte oder Redewendungen, dem Kranken, der
durch sein Leiden von vornherein der Kritik über seine Krank-
heit beraubt ist, das unverbrüchliche Zeugnis seiner Sinne
)%
— 20 —
lıefera und während krankhafte Empfindungen der Muskeln,
der Haut, wie auch innerer Organe als geheimnisvolle, auf
physikalischem oder chemischem Wege bewirkte Machinationen
gedeutet werden.
Es ist interessant zu sehen, wie sich ein großer Teil der
Geistesk ranken in gewisser, nicht. nur oberflächlicher, sondern
bis in die klinische Betrachtung reichender Weise nach dem
Rechtsbegriff der Schuld und Unschuld teilen läßt. Bei der
Schwermut führt das Bestreben des Kranken, seinen leidenden
Gehirnzustand zu deuten, zu einem Schuldbewußtsein und zu
der Wahnidee, an aller Sünde auf der Welt schuld zu sein,
bei der Verrücktheit dagegen wird die Ursache der Gehirnver-
änderung, die Schuld an derselben nach außen verlegt, die
Leute um ihn herum seien schuld an seinem Zustand *).
Die äußerliche Ruhe und Besonnenheit, der Schein folge-
richtigen Denkens und Redens ist bei dem Verfolgungswahn
häufig ein sehr weitgehender und die Irrtümer, zu denen er
Anlaß gibt, durchaus erklärliche, verzeihliche.
Wenn jedoch Kraepelin in der neuesten Auflage seines
Lehrbuchs der Psychiatrie, 1904, II, S. 595, 596, meint:
„Hier pflegt sich ganz langsam ein dauerndes, unerschütter-
liches Wahnsystem bei vollkommener Erhaltung der Klarheit
wie der Ordnung im Denken, Wollen und Handeln herauszu-
entwickeln“ und S. 609 von „der ausgezeichneten Erhaltung
des Verstandes sowie der Ordnung in Gedankengang, Benehmen,
S. 610 von dem „Fehlen einer selbständigen Willensstörung“
spricht, so muß dies die bei Kraepelin wohl nur infolge
eines lapsus calami unterbliebene Einschränkung erfahren, dab
die genannten Eigenschaften, wo sie überhaupt ‘vorhanden, nur
auf die außerhalb des Wahnsystems gelegenen geistigen
*) Auch die gesunden Menschen gruppieren sich nach diesen beiden
‚Richtungen. Bei den Einen ist, wenn sie etwas vermissen, der erste Ge
danke: das hat mir Jemand entwendet, — oder: das hat mir Jemand ver-
legt, bei den Anderen: das muß ich verloren haben, — oder das muß ich
mir verlegt haben. Diese Erscheinung empfehle ich den juristischen und
psychologischen Seminarien zum Gegenstand des psychologischen Massen-
experiments zu machen. Die Ausführung ist höchst einfach. Man könnte
diese Erscheinung die persönliche Gleichung zweiten Grades nennen
Vorgänge zutreffen oder daß es nur die im Vergleich zu
Schwachsinnszuständen relative Klarheit und Ordnung in
Denken, Wollen und Handeln ist. Ich halte diese Richtig-
stellung und Ergänzung für sehr nötig, da sonst der Nicht-
fachmann, der Kraepelins angeführte Sätze liest, irregelei tet
werden könnte.
Viele Paranoiker haben wenigstens noch so viel Besonnen.
heit, daß sie das Unerlaubte, oft wohl auch Unzwec kmäßige
der Notwehr einsehen; manche erhoffen vom Gericht zunächst
nur weitere Aufklärung der unheimlichen Situation. Werden
sie von der Behörde abgewiesen, so schreiten sie zur Selbst-
hilfe nicht etwa durch einen heimlichen Angriff auf den an-
geblichen Verfolger, sondern sie fallen ganz offen, ja osten-
tativ, womöglich auf offener Straße über ihr Opfer her, um
‚aller Welt zu zeigen, wie sehr sie sich in ihrem Rechte glauben.
Es ist auch vorgekommen, daß solche Verrückte, wenn sie von
den Gerichten abgewiesen wurden, weil sie einen Verfolger
nicht angeben konnten, irgend eine beliebige Person attak-
kieren oder sonst ein Verbrechen begehen, nur zu dem Zweck,
um vor Gericht gestellt zu werden und dabei ihre Beschwerden
vorbringen zu können.
Eine 48 Jahre alte, fast taube Frauensperson wähnte, die
Pfarrer verkündeten von der Kanzel herab, daß sie gestohlen
habe (sie war einmal wegen Diebstahls zu fünfjähriger Freiheits-
strafe verurteilt worden), überall gebe man ihr dies durch
entsprechende Pantomimen zu verstehen, man spreche davon,
daß sie eine Diebin sei. Namentlich bezichtigte sie den Pfarrer
von Montmartre der üblen Nachrede. Sie ließ ihm Warnungen
zukommen und wandte sich an die päpstliche Gesandtschaft
und die Polizei, um Schutz gegen diese Verfolgungen zu er-
langen. Da alles erfolglos blieb, schritt sie zur Selbsthilfe und
feuerte auf den Pfarrer in der Kirche einen Revolver ab, —
nicht um ihn zu töten, sondern um ihn nur zu verwunden und
um damit vor das Gericht zu kommen und ihre Beschwerden
öffentlich zur Sprache bringen zu können *).
*) Blanche et Motet, Annal. med. psychol. März 1872. v. Krafft-
Ebing, Gerichtl. Psychopathologie, S. 133.
—
— 19 —
Über einen Mordversuch am Staatsanwalt, verübt von
einem Paranoiker im Zusammenhang mit der Abweisung einer
pathologischen Anschuldigung berichtet Tebaldi in der Rivista
sperimentale di Psichiatria VI, 1880 (nach dem Referat v. Krafft-
Ebings in der Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie 1881, Lit.
S. 21): Teso, Hausknecht, 45 Jahr, ein originär höchst schwach-
sinniger, ungebildeter, leichtgläubiger Mensch von normalem
. Hirnschädel, aber ungleich entwickelten Gesichtshälften, ver-
liebte sich 1865 in ein Mädchen, glaubte sich wiedergeliebt,
ohne je mit diesem ein Wort gesprochen zu haben. Unter
dem Einfluß einiger Spaßvögel, die den dummen Menschen
wegen seiner Verliebtheit foppten, bildete sich ein erotischer
Wahnsinn. T. verfolgte das Mädchen mit Briefen und erkaltete
nicht in seiner Liebe, selbst als er derbe Abweisung empfing,
1872 wähnte er seine Geliebte in Vicenza wiederzusehen. Da
sie nicht Stand hielt, verfolgte er sie durch die Straßen, in-
sultierte sie. Er wurde verhaftet, verbüßte einen Tag Gefängnis,
sah nicht ein, daß es nicht die Geliebte war. Immer mehr
kam er zur Überzeugung, daß eine Bande feindlich gesinnter
Menschen ihm das Mädchen abspenstig machen wolle. Er
machte gegen diese „Räuberbande“ Anzeige bei Gericht. Der
Richter schickte ihn ins Spital: Nach drei Monaten entließ
man ihn. Der Verfolgungswahn zog immer weitere Kreise.
Er merkte, daß man feindlich über ihn spreche, ihn verlache.
Neue Beschwerden beim Ministerium, beim Staatsanwalt, über-
all vergeblich. Eine ganze Räuberbande ist gegen ihn und
seine Heirat. Eines Tages ermahnte ihn die Mutter des Mäd-
chens, er sölle auf ihre Tochter nicht mehr rechnen, sie werde
sich anderwärts verheiraten. Darüber große Erbitterung. Er
war sehr verstimmt und gereizt, erkannte, daß durch die Ab-
weisung der Gerichte sein Lebensglück zerstört, die Hand
seines „Engels“ verloren sei; da er der Bande nicht habhaft
werden konnte, wollte er sich an den Behörden, die ihm den
* Rechtsschutz gegen die Bande versagt hatten, rächen. Deshalb
machte er den Mordversuch am Staatsanwalt am hellen Tage,
auf frequenter Straße. Er floh nicht, zeigte keine Reue, glaubte
sich im Recht so zu handeln, hielt nach wie vor an seinem
erotischen und Verfolgungswahn fest.
— 23 —
Ein besonders lehrreicher Fall ist der folgende *).
Im Januar 1902. erhielt die Staatsanwaltschaft zu Köslin
von dem Lokomotivführer Th. in Neustettin eine Anzeige
darüber, daß mehrere Männer mit seiner Frau und seinen Kin-
dern in seiner Wohnung und während seiner Abwesenheit seit
Jahren Unzucht trieben, Orgien feierten und hierzu die Kinder
aufs raffinierteste präparierten; er gab auch eine Beschreibung
und Abbildung der zum Erweitern der kindlichen Geschlechts-
teile benutzten Werkzeuge. Auf diese Anzeige hin wurde eine
Anzahl Neustettiner Bürger verschiedener Lebensstellung ver-
haftet, darunter ein Kaufmann, der im Gefängnis starb, ein
Arzt u. a.
Die Ermittelungen förderten nichts Objektives zutage.
Der Mann wurde wegen wissentlich falscher Anschuldigung
verhaftet. Nun ließ man ihn auf seinen Geisteszustand unter-
suchen und es wurde von dem Sachverständigen Geh. Rat
Siemens-Lauenburg nachgewiesen, daß auf dem Boden er-
erbter Anlage und schwerer nervenschwächender Umstände bei
dem Kranken ein kombinatorisches Wahngebäude nebst Be-
ängstigungen und Illusionen (vielleicht auch Halluzinationen)
vorlag, auf Grund deren die Denunziationen entstanden waren.
Den unschuldig Verhafteten hat der Justizminister, obwohl
das Gesetz, betr. Entschädigung für unschuldig erlittene Unter-
suchungshaft noch nicht in Kraft war und keine rückwirkende
Kraft hatte, Geldbeträge bis zur Höhe von 600 M. zahlen lassen.
Zahlreiche Beispiele können dafür vorgebracht werden,
daß es bei einer pathologischen Anschuldigung nicht genügt,
die Nichtigkeit der letzteren in bezug auf ein etwaiges Rechts-
verfahren erwiesen zu haben, sondern, daß derjenige, welcher
eine solche Anschuldigung erhebt, als ein durchaus gemeinge-
fährlicher Geisteskranker zu gelten hat und unschädlich gemacht
werden muß.
= Pelman*) hatte einen hierher gehörigen Fall zu begut-
achten; der Patient W., von Haus aus überspannt und Sohn
*) Bei streng klinischer Betrachtung gehört der Fall zur Paranoia nur
im weiteren Sinne dieses Wortes.
*) Pelman, Einige gerichtlich-medizinische Gutachten über zweifelhafte
Gemütszustände. Friedreichs Blätter. 1881, Heft 2 u. 3.
— 24 —
eines exaltierten Vaters, verlor sein Geschäft und ergab sich
im Ärger darüber eine zeitlang dem Trunke; darauf Charakter-
veränderung und Beeinträchtigungsideen. Er glaubte, die Schuld
an seinen Mißerfolgen bei einem gewissen Sch. zu suchen.
Dieser Sch., der den W. gar nicht kannte, war nämlich in
einen Prozeß verwickelt gewesen, bei dem der Vater des W.
vor einer Reihe von Jahren sein Vermögen eingebüßt hatte.
Der Vater W. hatte seitdem den Sch. als Urheber seines Un-
glücks bezeichnet. Der Sohn W. wollte sich nun, von seinen
Beeinträchtigungsideen geleitet, an Sch. rächen und versuchte
es zuerst damit, daß er eine Klage gegen ihn erhob. Als er
damit abgewiesen wurde, kaufte er einen Revolver, übte sich
im Schießen und schoß den Sch. auf offener Straße an. Durch
dieses Attentat hoffte er nämlich vor die Geschworenen zu
kommen und dort seine Anklage gegen Sch. von neuem vor-
bringen zu können.
Ein seit Jahren an Paranoia leidender Mann glaubte sich
verfolgt von einer garnicht existierenden, von ihm als Hexe
bezeichneten Person und hatte deren Einfluß Tod von Ange-
hörigen und Umstehen von Haustieren zugeschrieben. Als man
eine darauf bezügliche Beschwerde von ihm bei Gericht nicht
sofort entgegennahm und erledigte, stieß er Drohungen aus
und verwirklichte sie noch am Abend desselben Tages, indem
er einem Gerichtsbeamten auflauerte und ihn prügelte*). —
Es kommt auch bei Paranoischen vor, daß sie sich selbst
anklagen; allerdings ist dies eine recht seltene Erscheinung.
Kreuser**) hatte einen solchen Fall zu begutachten, der
deshalb bemerkenswert ist, weil die Nichtberücksichtigung
der Selbstanklagen zu Anschuldigungen der Polizei und der
Gerichte führte, natürlich in krankhaft logischer Begründung.
Es handelt sich um einen 33 jährigen, von Jugend auf geistig
etwas minderwertigen Menschen, der bis zum Jahre 1893 viel-
“fach wegen Eigentumsvergehen, beim Militär auch wegen Deser-
*) Sanna-Salaris, Öffentliche Gewalttätigkeit und Bedrohungen.
. Paranoia persecutoria.. Annal. di Freniatria. Juni 1893. Referat in All-
gem. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 50, Lit. S. 38.
**) Kreuser, Forensische Würdigung der Selbstanklagen Geistes-
kranker. Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. 56, 1899, S. 503.
— 25 —
tierens bestraft und einmal bereits in Beobachtung auf deu Geistes-
zustand gestanden hat. Es wurde damals Geistesstörung bei
ihm nicht konstatiert. „Von 1893 bis 1898 ist er von ver-
schiedenen Gerichten noch sieben Mal wegen Eigentumsver-
gehen verurteilt worden, die er selbst zur Anzeige ge-
bracht hatte. Einige weitere Selbstanzeigen wegen ähnlicher
Vergehen konnten teils wegen Verjährung, teils in Ermangelung
‚ausreichender Beweise zu einer Verurteilung nicht führen.
Wegen eines ebenfalls von ihm selbst zur Anzeige gebrachten
Brandstiftungsversuches (1893) wurde er freigesprochen, da kein
ausreichender Tatbestand vorlag. Den größten Teil der letzten
Jahre hat er infolge der genannten Verurteilungen in Strafan-
stalten zugebracht, in denen über sein Verhalten nicht geklagt
wurde. Von dort aus hat er sich dann am 18. August 1897
zweier weiterer Brandstiftungen angeklagt, die er 1892 in
seiner Vaterstadt und 1895 in T. verübt haben wollte. Beide
Anzeigen bezogen sich auf schwere Brandfälle, bei denen Brand-
stiftung fast mit Sicherheit anzunehmen gewesen war, bei denen
es aber der Untersuchung nicht gelungen war, den Täter zu
ermitteln. Die Selbstanzeigen Sch’s. enthielten ganz detaillierte
Angaben über die angebliche Ausführung der Verbrechen, die
wohl Lokalkenntnis verrieten, aber doch in mehreren wesent-
lichen Punkten mit den Ergebnissen der erstmaligen, wie der
wiederaufgenommenen Voruntersuchung nicht in Einklang ge-
bracht werden konnten. Die Eröffnung eines Hauptverfahrens
ist darum nicht angezeigt erschienen. Am 19. Mai 1895 ließ
nun M. die weitere Selbstanklage folgen, daß er am 10. Okt.
1888 anläßlich seiner dritten unerlaubten Entfernung vom
Truppenteil in der Nähe seiner Vaterstadt einen ihm persön-
lich unbekannten, nach Gestalt, Kleidung und Sprechweise aber
genau beschriebenen Mann in räuberischer Absicht niederge-
schlagen habe. Um die Spuren der Tat zu verwischen, habe
‚er den zwar Betäubten, aber noch Atmenden an das nahe
Flußufer geschleppt und ins Wasser geworfen. So genau seine
Schilderungen über den Hergang bei der Tat und deren Ört-
lichkeit lauteten, so wenig hat die angestellte Untersuchung
irgend einen Anhaltspunkt dafür zu geben vermocht, daß jemals
ein solcher Mord verübt worden ist. Aber auch angesichts
a
— 26 —
dieses negativen Ergebnisses der gerichtlichen Ermittlungen
bleibt M. hartnäckig auf seinen Behauptungen, verlangt er
dringend vor ein Schwurgericht gestellt und zum Tode ver-
urteilt zu werden. Er ist in hohem Grade erbost darüber, daß
diesem Verlangen nicht längst schon entsprochen worden ist,
und er sucht hierfür eine Reihe von Gründen plausibel zu
machen, die alle in schweren Beschuldigungen und Verdäch-
tigungen der Polizei und Gerichte seiner Vaterstadt beziehungs-
. weise einzelner Beamter bei denselben zusammenlaufen.“ Das
negative Ergebnis der Voruntersuchung, wie das erregte Ge-
bahren des M., das er auf Gewissensunruhe und nächtliche
Visionen zurückführte, erweckte Zweifel an seiner geistigen
Gesundheit. Die Anstaltsbeobachtung bestätigte diese Ver-
mutung und ergab das Bestehen einer auf alkoholistischer
Grundlage entstandenen halluzinatorischen Paranoia, die wahr-
scheinlich schon 1888 begonnen hatte. Er war der festen Über-
zeugung, daß die Polizei und die Gerichte deshalb die Wahr-
heit nicht aufkommen lassen wollen, weil diese Verbrechen
im Zusammenhange stehen mit allerlei schmutzigen Affären,
in die gewisse Beamte verwickelt seien. —
Eine Abart der Paranoiker — in gewissem Sinne — sind
die Quärulanten. | |
Soweit nur die pathologische Anschuldigung als tertium
comparationis in Betracht kommt, befindet sich der Jurist
bei den Quärulanten in etwa derselben Lage, wie der Arzt bei
der Hysterie. Hier wie da liegt eine gewisse Spezifität in der
Anschuldigung. Auf den Quärulantenwahn selbst, seine Äuße-
rungsweise und dergl. hier näher einzugehen, kann ich mir
‚ersparen, obwohl er gerade bei unserem Thema eine große
Rolle spielt
Denn die Juristen kommen mit Quärulanten, solchen, die
man für gesund erachten muß, und mit abnormen, in der
Praxis oft genug selber in Berührung.
Ich darf daher als bekannt voraussetzen, daß die an Quäru-
lantenwahn leidenden Personen im verzweifelten Kampfe um
ihr angebliches Recht: sich kennzeichnen: 1. durch die Unfähig-
wu DR 2
keit, in die Rechtslage der Gegenpartei und die Auffassung des
Richters sich hineinzudenken oder darüber eine Belehrung anzu-
nehmen, durch das hartnäckige Stehenbleiben bei der eigenen
Ansicht von Recht und Unrecht, 2. durch die von vornherein
auftretende Deutung des angeblich erlittenen Unrechts ım
Sinne einer mit besonderem Interesse und System gegen ihre
Persönlichkeit gerichteten Verfolgung und Beeinträchtigung,
3. durch die mit maßlosen Entstellungen, Beleidigungen, An-
schuldigungen (Bestechlichkeit, Meineid etc.), Bedrohungen ein-
hergehende Reaktion gegenüber der angeblichen Verfolgung, eine
Reaktion, die den Kranken blind macht gegen die Schädigungen,
welche er sich selbst durch sein rücksichtsloses Vorgehen zu-
fügt, und die sich bald charakterisiert durch ihr Fortschreiten zu
ausgesprochenen Störungen der Wahrnehmung, zu Illusionen,
Halluzinationen und schließlich zu kompletter Wahnbildung
und zur Beschränkung all seines Sinnens und Trachtens auf
den Rechtsstreit, der sich immer nur um dieselbe Sache dreht,
seiner Äußerungen auf immer stereotyper und zur Gewohnheit
werdende prozessuale Redensarten und schriftliche Wendungen,
die ersich angeeignet, und auf Anschuldigungen und Beleidigungen,
mit denen er seine Gegner unter endlosen Eingaben überhäuft.
Dabei ist noch beachtenswert, daß der kranke Quärulant keines-
wegs aufhört zu quärulieren, wenn er etwa in einem Punkte
im Recht gewesen ist und sein Recht wirklich erlangt hat.
Ferner muß ich noch die Bemerkung zufügen, daß der
Quärulant es nicht erst dann wird, wenn er mit der Rechts-
pflege in Konflikt gerät, daß er also nicht, wie es den An-
schein haben kann, durch den Rechtsstreit Quärulant wird.
Das ist selbst dann nicht der Fall, wenn er tatsächlich*) Un-
recht erlitten hat und im Anschluß daran der Quärulanten-
wahn zum Vorschein kommt. Vielmehr sind es stark zu Ver-
folgungswahn disponierte Leute, bei denen die Erschütterung
ihres Rechtsgefühls und aller derjenigen Bestandteile des Ich-
*) In einigen und sehr gebräuchlichen psychiatrischen Lehrbüchern
findet sich noch immer die irrtümliche Darstellung, daß der Quärulanten-
wahn in der Regel von einer mit vollem Recht erlittenen Niederlage im
Rechtsstreit ausgeht. Der kranke Quärulant findet aber. auch wenn er sein
Recht bekommen hat, noch immer einen Anlaß zum prozessieren.
zs Dg —
komplexes, welche rechtliche Empfindungen und Vorstellungen,
das Ich in seinen rechtlichen Beziehungen darstellen, nur als
auslösendes Moment wirkt, ähnlich wie bei einem nerven-
schwachen Menschen ein mäßiger Schreck, ein Unfall, eine
Operation, eine fieberhafte Erkrankung den Bankrott des Ner-
vensystems herbeiführt. Will man also den kranken Quärulanten
in seiner Art richtig erkennen, so bedarf es einer recht ein-
gehenden Analyse und Durchforschung seines Vorlebens, auch
in physischer Beziehung. Schwierig gestaltet sich, allerdings
nur im Anfang des Leidens, die Unterscheidung zwischen dem
Quärulieren eines solchen Geisteskranken und der Streit- und
Händelsucht eines sonst geistig gesunden, wenn auch nicht
gerade durchaus normalen Menschen. Der letztere verbeißt
sich nicht in eine bestimmte Sache, er fängt bald hier, bald dort
‚Streit an: hat er in der einen keinen Erfolg, so nimmt er eine
andere auf; er bewahrt gewisse Formen und schädigt sich
nicht selbst. Er findet auch am Ende einmal seine Befriedigung
im Streiten. — Endlich ist hierbei noch zu bemerken, daß als
gelegentliche Erscheinung das Quärulieren auch bei verschiedenen
anderen Geistesstörungen, bei Schwachsinnigen, bei Neuras-
thenischen, Hysterischen vorkommen kann.
Beispiele von Quärulantenwahn hier anzuführen, unterlasse
ich aus dem schon angegebenen Grunde, weil solche Fälle ın
der juristischen Praxis wohl oft genug vorkommen und den
Juristen zur Genüge bekannt sind.
Auf die Selbstanschuldigungen Geistesgestörter hier einzu-
gehen, was ja nahe liegt, würde zu weit führen. Nur insoweit
als in Selbstanzeigen Anschuldigungen anderer ent-
halten sein können, muß ihrer hier Erwähnung geschehen.
Und dies kann bei jeder Art von Selbstanzeigen eintreten.
Ich erinnere z B. an den bekannten Fall des sogen. „Menschen-
fressers* Bratuscha*), jenes Mannes, der sich in seiner krank-
haften Geistesverfassung und unter Einfluß des Verhörs durch den
Gendarmen bezichtigte, seine zwölfjährige Tochter getötet, zer-
—
*) Siehe die ausführliche Schilderung und Erörterung dieses berühmten
Falles in Psychiatrisch- Neurologische Wochenschrift, Jahrg. VIII, Nr. 27
und ff. 1906 von Prof. Dr. med. H. Zingerle, Ein Beitrag zur forensischen
Bedeutung von Erinnerungsfälschungen.
nr 90: sa
stückelt und teils verbrannt, teils gegessen zu haben und dieser-
halb zum Tode verurteilt, jedoch zu lebenslänglicher Zuchthaus-
strafe begnadigt wurde. Dieser Bratuscha beschuldigte
gleichzeitig seine Frau der Beihilfe. Sie erhielt eine Zucht-
hausstrafe von drei Jahren. Bekanntlich tauchte die angeblich
ermordete Tochter, die in Wirklichkeit entlaufen war und unter
falschem Namen vagabondierte, nach einiger Zeit wieder auf,
und die Wiederaufnahme des Verfahrens ergab, daß es sich
bei Bratuscha um eine pathologische Selbstanschuldigung und
Anschuldigung einer zweiten Person, der Ehefrau, gehandelt
hatte. DBratuscha litt an einem schweren Depressionszustand,
der durch den Verlust der Tochter hervorgerufen war; die
Frau, die er mitanschuldigte, war in ähnlicher Weise erkrankt
und legte ein entsprechendes Geständnis ab. — BeiSchwermütigen,
die am häufigsten zu Selbstanzeigen geführt werden, scheint
die Möglichkeit der pathologischen Anschuldigung am ehesten
gegeben. In zweiter Reihe kommen die hysterischen Denun-
zıanten. Manchmal mag Rachsucht dazu führen, sich eines
fingierten Verbrechens zu bezichtigen und den Gegner als An-
stifter oder Teilnehmer hinzustellen, ein ander Mal gelangt es
den Selbstdenunzianten, die sich zu irgend einem Zweck eines
Verbrechens anklagen, gar nicht zu Bewußtsein, daß unter den
gegebenen Verhältnissen die fingiert Beteiligten ebenfalls der
Bestrafung anheim fallen können oder müssen. So bei einer
Hysterischen, die sich selbst vor Gericht der Kindesabtreibung
bezichtigte, in der Hoffnung, die schon früher angedrohte, von
ihr selbst aber sogar herbeigeführte Verbringung in die An-
stalt und damit das Verlassen des Hauses eines ihr verhaßten
Pflegers bewirken zu können, und die dabei den Anstifter
nannte, offenbar nur, um die Sache glaubhafter erscheinen zu
lassen, — oder bei einem an alkoholischem Verfolgungswahn
leidenden Manne, dem die Stimmen sagten, daß er mit seiner
Schwester wiederholt den Beischlaf ausgeübt habe und der
sich deshalb dem Gericht stellte. In beiden Fällen erfolgte
Überführung in die Untersuchungshaft, bald darauf aber Ein-
stellung des Verfahrens wegen erwiesener Geisteskrankheit und
Grundlosigkeit der Beschuldigungen.*)
| *) Beide Fälle von Prof. A. E. Meyer mitgeteilt im Archiv für Psy-
chiatrie, Bd. 40, 1905, S. 875, Artikel: Selbstanzeigen Geisteskranker.
ae. Bl:
Um eine Hysterische handelte es sich auch in dem Falle,
der in der Prov.-Irrenanstalt Ückermünde (Jahresbericht 1890
bis 1895, S. 24, Begutachter Dr. Schröder) zur Beobachtung
war: Wirtschafterin M. W. aus Spaldingsfelde, 26 Jahre alt.
Mutter leidet an „Weinkrämpfen“. War als Kind launenhaft,
gereizt, zänkisch und faul, lernte mangelhaft. Nach der Ein-
segnung lüderlicher Lebenswandel und geschlechtliche Aus-
schweifungen. Bereits Ende 1880 erregte sie großes Aufsehen
durch die Erzählung von einem bedeutenden Geldfunde, wobei sie
zwei angesehene Männer der Fundunterschlagung beschuldigte.
Es stellte sich bald heraus, daß ihre Erzählung erlogen war.
Anfang des nächsten Jahres trat sie mit einer neuen Anschul-
digung hervor: sie klagte sich selbst der Fruchtabtreibung an
und wiederum mehrere bestbeleumdete und ehrenhafte Männer
der Beihilfe zu diesem Verbrechen und veranlaßte ihre eigene
Verhaftung. Bei ihren zahlreichen gerichtlichen Vernehmungen
verwickelte sie sich in ein unglaubliches Lügengewebe, stellte
sich z. B. als Werkzeug der Sozialdemokratie dar und machte
geheimnisvolle Andeutungen von einer großen Mission, mit der
sie beauftragt war. Wegen Verdachts auf Geistesstörung wurde
sie der Anstalt zur Beobachtung überwiesen; ‘es ergab sich,
daß sie an hysterischem Irresein litt und ihre Selbstanschuldi-
gung, sowie diejenige gegen andere, erdichtet und ein Symptom
dieser Krankheit war.
an auŇaamaamaaaamaŇŘħŮħĖ a
In Zuständen von Benommenheit und Betäubung,
welche durch Kopfverletzungen und Kopferschütter-
ungen hervorgerufen waren, machen die Verletzten nicht
selten falsche Angaben über den Täter und den Vorgang und
es entstehen dadurch verhängnisvolle Verwicklungen.
Einen sehr instruktiven Fall, wobei auf Grund der Aussage
der Verletzten ein Unschuldiger in Untersuchungshaft ge-
nommen wurde, hatte Ziehen*) zu begutachten. In der Nacht
*) Über die Zuverlässigkeit der Angaben der verletzten Person über
die Vorgänge bei einer von ihr erlittenen schweren Schädelverletzung (Raub-
mordversuch in Oldisleben.. Von Prof. Dr. Th. Ziehen. Korrespondenz-
Blätter des Allgemeinen ärztlichen Vereins von Thüringen. 1900. Nr. 2.
= 31: =
vom 17. zum 18. Februar 1899 wurden in Oldisleben der Land-
wirt Müller und seine beiden Kinder im Bett erschlagen, die
Ehefrau Müller wurde am Morgen des 18. Februar mit schweren
Schädelwunden, aber noch lebend, gefunden. Die Kasse war
ausgeraubt. Zufolge einzelner Äußerungen der Frau Müller
lenkte sich der Verdacht auf einen benachbarten Freund Müllers,
den Schmied B. Er wurde verhaftet. Bei der Verletzten war
nach der Beschreibung des Arztes, der die erste Hilfe geleistet,
unterhalb einer 11 cm langen Wunde der rechten Stirnhälfte
der Knochen gänzlich zertrümmert und das Gehirn quoll
zwischen den zertrümmerten und eingedrückten Knochenstücken
hervor; aus dem rechten Ohr und aus der Nase floß Blut.
Die Notizen aus den Akten, welche Ziehen seiner Unter-
suchung voranschickt, sind ein so lehrreicher Beweis dafür, zu
welcher heillosen Verirrung und Verwirrung das unvorsichtige
unkontrollierbare Herumfragen, namentlich durch Unberufene,
an solchen Verletzten führen kann, daß ich diesen Bericht hier
wörtlich wiedergebe:
O. Sch., welcher die Verletzte während des Verbindens hielt,
frug sie: „Hilde, hast du die Kerls nieht gekannt, die dich ge-
schlagen haben?“ Darauf soll sie mit geschlossenen Augen ge-
antwortet haben: „Fraget doch nicht noch, sie sinds gewesen,
Schmied (oder Schmidt).“ Letzteres Wort sprach sie so aus, daß
man darunter sowohl den Namen Schmidt, als auch die Berufsbe-
zeichnung verstehen konnte. Bald darauf „schwand ihr wieder
das Bewußtsein“.
Die Schwester Henriette will auf wiederholtes Befragen „ganz
deutlich“ einmal die Antwort gehört haben: „Zwei große starke
Männer“. Auf die Frage: „wo waren sie denn?“ erwiderte die
ep. M. „Alle beide in der Kammer“ und fügte etwa zwei Minuten
später, ohne unmittelbar gefragt zu sein, hinzu: „Sie hatten die
Schuhe ausgezogen und kamen in Strümpfen herein“. Ein anderes.
Mal gab sie auf die Frage der Schwester, wer sie denn geschlagen
habe, zur Antwort: „Der Meister“. So oft sie gefragt wurde,
zeigte sie hohe Erregung. Deshalb wurde unterlassen, öfter in
sie hineinzureden. Als sie jedoch am 19. Februar wieder einmal
gefragt wurde, äußerte sie: „Es waren Oldisleber* und auf weiteres
Befragen nach dem Namen: „Ich darf es nicht sagen, wenn alles
vorbei ist, will ichs sagen“ und gleich darauf: „Wir wollten nicht
stille halten, und da haben sie uns gepackt“. Auch der Landrat
R. bestätigt, daß diese Aeußerungen (bis auf die letzte) gefallen
seien.
s= I
Am 20. Februar besichtigten Herr Dr. P. und R. die p. M.
und gaben ihr Gutachten dahin ab, daß die p. M. an einer Ge-
hirnentzündung schwer krank sei, sich zur Zeit in einem unzu-
rechnungsfähigen Zustand befinde und zur Zeit kaum eine Erinne-
rung an die Vergangenheit haben dürfte. Auch sprachen sie
Zweifel aus, ob am 19. Februar bei der p. M. wirklich eine Er-
innerung vorhanden gewesen sei.
Am gleichen Tag berichtete die Schwester H. folgendes: Fr.
M. habe seit gestern wiederholt zu ihrer Umgebung geäußert:
„Wenn ihr mir die Handschienen abmacht, will ich euch Alles
sagen“. Deshalb habe sie, d.h. Schwester H., als die p. M.
gestern Abend wieder über ihre Hand geklagt habe, angefangen,
die Binde abzuwickeln und dabei wiederum gefragt. Fr. M. habe
darauf laut und vernehmlich gesagt: „Kaufmann, Arbeiter“. Auf
die weitere Frage, womit er sie geschlagen habe, antwortete sie
kräftig: „Mit einem Hammer“. Auf die wiederholte Frage, wer
denn eigentlich sie geschlagen habe, antwortete sie laut und nach
dem Dafürhalten der Schwester bei vollen Bewußtsein: „Der
Meister“ und nach wenigen Augenblicken „der Schmied“. Eine
Zeugin, Fr. H. M., geb. R., sie trägt zufällig denselben Vor- und
Nachnamen wie die Verletzte, will gehört haben, daß die Frau
noch hinzufügte: „Der die Pferde beschlägt*. Auf die weitere
Frage: Welcher Meister denn?, sagte sie: „Börner“. Die Zeugin
Frau H. M. bestätigte diese Angaben der Schwester und fügte
hinzu, einmal habe die Kranke auf die Frage, wer sie geschlagen,
geantwortet: „Der Bruder“ und auf die weitere Frage, wer denn
der andere gewesen, geäußert: „Schmied Börner“.
Herr Dr. R. bemerkte zu diesen Zeugenaussagen: Die ver-
letzte p. M. macht zwar mitunter ganz klar erscheinende Aeube-
rungen, welche aber bei weiterem Nachfragen den Charakter des
Unbestimmten annehmen, so daß es unmöglich ist, sich unbedingt
auf ihre Aussagen zu verlassen.
Gerichtswegen wurde konstatiert, daß die p. M. am 18. Februar
und am Vormittag des 19. Februar auf wiederholtes Fragen des
Richters nicht reagierte, hingegen am Abend des 19. Februar auf
Befragen, wer sie geschlagen, die vernehmlichen, in kurzen Zwischen-
räumen abgegebenen Aeußerungen fallen ließ! „Börner — Schmied“
(letzteres Wort scharf ausgesprochen).
Ziehen untersuchte die Kr. siebzehn Tage nach der Ver-
letzung. Ein durch letztere bedingter Dämmerzustand war auch
jetzt noch vorhanden und kennzeichnete sich durch eine relative
Apathie, durch die falsche Beantwortung einzelner einfacher
Fragen, wobei sehr charakteristisch war, daß andererseits kom-
pliziertere richtig beantwortet wurden und auch manche Fragen.
=, 83 22
welche eben falsch beantwortet worden waren, einige Minuten
später richtig beantwortet wurden, ferner durch relative Schwer-
besinnlichkeit. Auch kam noch hin und wieder Bettnässen vor.
Ziehen legt dar, daß einfache Namenangaben, wofern sie nicht
mit ganz bestimmten sinnlichen Eindrücken unmittelbar und
eng verknüpft, sehr unzuverlässig sind und daß die zufälligsten
Umstände in solchen Fällen das Äußern einzelner Namen be-
dingen. Die Phantasietätigkeit der Kranken, ihre nachträgliche
Kombination und die Suggestivfragen der Umgebung führen zu
mannigfachen Verwechselungen. Auf Grund des Gutachtens
Ziehens wurde der Beschuldigte B. aus der Haft entlassen.
Im September 1899 wurde der Knecht der Müllerschen Ehe-
leute als der Tat verdächtig verhaftet. Der erdrückende Nach-
weis seiner ungewöhnlichen Geldausgaben hatte auf die richtige
Spur geführt. Der Mörder wurde hingerichtet.
Ziehen erteilt für solche Fälle den Rat, die verletzte
Person in den ersten Tagen nach dem Unfall möglichst wenig
den Suggestivfragen berufener und unberufener Personen aus-
zusetzen und jedenfalls nicht nur die spontanen Äußerungen
und Antworten der verletzten Person, sondern auch die an sie
gerichteten Fragen zu protokollieren. Die Unzuverlässigkeit
der Erinnerung der Verletzten erhellt aus diesem Beispiel sehr
deutlich.“
Besonders Personen, die im Alkoholrausch Kopfver-
letzungen erlitten, machen, wenn sie nüchtern geworden,
zuweilen falsche Anschuldigungen auf Grund von Verwechs-
lungen, Erinnerungsfälschungen und dergleichen. Einen hier-
hergehörigen instruktiven Fall, derin Graz zur Verhandlung kam,
teilt H. Gross mit (Archiv für Kriminalanthropologie, Bd. I,
S. 337, 1899): Ein betrunkener Bursche H. war wegen seines
lästigen Benehmens und Schimpfens von anderen Burschen aus
dem Gasthaus gejagt, zu Boden geworfen und geschlagen
worden. Während diese ins Gasthaus zurückkehrten, ging H.
nach seiner Wohnung zu. Dahin führt, 600 Schritt vom Gast-
haus entfernt, ein breiter, aber nicht mit Geländer versehener
Steg über einen Mühlbach. H. war gegen Morgen voll-
kommen durchnäßt und aus einer schweren Kopfwunde blutend
heimgekommen. Er beschuldigte drei Burschen, sie hätten ihn
3
a 53.
erst niedergeworfen und verprügelt, und, nachdem er längere
Zeit bewußtlos gelegen, seien sie nochmals gekommen und
hätten ihn in den Mühlgraben geworfen. Das Wasser habe
ibn ernüchtert, so daß es ihm als guten Schwimmer gelang,
ans andere Ufer zu kommen, worauf er sich heimschleppte.
Ein B, den H. erkannt haben wollte, wurde wegen schwerer
Körperverletzung angeklagt.
Dieser Vorgang — das Hineinwerfen des H. ıns Wasser —
wurde von den Zeugen eidlich bestritten und H. selbst gab
nach seiner Wiederherstellung zu, daß er ın den Mühlgraben
durch eigene Üpvorsichtigkeit infolge seines gestörten Bewußt-
seins gefallen sein müsse und die Aussage nur auf Einbildung
beruht habe. — |
Traumerlebnisse werden nicht selten in den wahren
Zustand übernommen und als wirkliche Ereignisse gedeutet
und verwertet. Sind sie unangenehmer Natur, geträumte An-
griffe auf das Leben oder geschlechtliche Attentate, so können
sie zur Anschuldigung Anlaß geben. Dies veranschaulicht fol-
gender von Dr. Altmann ın Wien mitgeteilter Fall (Archiv
für Kriminalanthropologie 1899, Bd. I, S. 335): Das 16 jäh-
rige Mädchen M. C. erzählt ihrer, von einem siebenwöchigen
Landaufenthalt zurückgekehrten Mutter, sie sei von ihrem Stief-
vater vor etwa drei Wochen gewaltsam geschlechtlich gebraucht
worden. Die Mutter erstattet Anzeige. Bei der Polizei gab
die M.C. an, der Stiefvater habe sich ıhr schon vorher einmal
mit dem Ansinnen, bei ihr zu schlafen, erfolglos genähert.
Vor drei Wochen aber sei sie, gegen 12 Uhr nachts, plötzlich
erwacht und habe ihren Vater auf sich liegen gefühlt, er habe
sie geschlechtlich gebraucht. Sie habe geschrieen und darauf
habe sich der Vater aus ihrem Bett entfernt und sei in sein
Bett gegangen. Am nächsten Morgen habe sie die Bettwäsche
mit Blut befleckt gefunden. Der Stiefvater, den sie zur Rede
gestellt, habe ihr weißmachen wollen, sie hätte einen unruhigen
Traum gehabt. Der — unbescholtene und als zärtliches Familien-
haupt bekannte — Stiefvater H. wird in Untersuchungs-
haft genommen. Er gab an: „Ich hörte plötzlich meine mit
mir in demselben Zimmer schlafende Stieftochter aus dem
Schlafe ächzen, als wenn sie einen schweren Traum hätte. Ich
— 35 —
rief zu ihr hinüber: ‚Mizi, was hast du denn?‘ Sie rief aber
mehrere Male hintereinander das Wort: ‚Vater‘. — Ich stand
'aus dem Bett auf, wollte Licht machen, da aber kein Streich-
hölzchen da war, so ging ich ohne Licht zu ihrer Lagerstätte
und fragte sie neuerlich, was ihr sei. Sie war wach, saß im
Bette und sagte weinend: ich hätte auf ihr gelegen und als
ich ihr das Unsinnige dieser Äußerung vorhielt, meinte sie, dann
müsse ‚die Trud‘ sie gedrückt haben.“ Daß er ihr einige Zeit
vorher den Antrag gestellt habe, sie solle mit ihm schlafen
geben, stellte H. entschieden in Abrede.
= Die M. C. gibt vor dem Untersuchungsrichter folgende
Schilderung: Gegen Mitternacht habe sie die Empfindung ge-
habt, als wenn jemand auf ihr läge, es sei das Gefühl des
Alpdrückens gewesen. Als sie infolgedessen erschreckt erwacht
sei, sei es ihr vorgekommen, als wenn ihr Vater sich eben aus
ihrem Bett erhoben hätte, es sei dies so ein „Schein“ gewesen.
— Im Bette selbst habe sie beim Erwachen den Vater nicht
gesehen. Sie habe das eben Erlebte mit der seinerzeitigen
Äußerung des Vaters, sie solle mit ihm schlafen gehen, in Zu-
sammenhang gebracht; habe zu weinen begonnen und habe nun
deutlich gesehen, daß ihr Vater sich aus seinem Bett erhoben
habe, zu ihr gekommen sei und sie gefragt habe, was ihr sei.
Sie habe erwidert, er sei bei ihr gelegen, er habe aber das
für einen Traum erklärt. Sie habe damals mit Hemd und
Unterrock bekleidet geschlafen, weil sie die Menstruation ge-
habt hätte, daher erklärten sich auch die Blutflecken in der Bett-
wäsche. In den Genitalien will sie keine Schmerzen gehabt
haben. Sie habe nicht gleich die Anzeige erstattet, weil sie
nach Rücksprache mit ihrem Vater nicht ganz sicher, ob nicht
doch ein Traum vorliege, denn sie habe öfter solche Träume.
Sie habe wegen eines Zwistes mit ihrer Mutter, in
welcher der Vater gegen sie Partei nahm, der Mutter
den Vorfall erzählt.
Die Gerichtsärzte konstatierten, daß die Geschlechtsteile
voll entwickelt und nicht defloriert, auch objektive Zeichen
eines unsittlichen Attentates nicht auffindbar waren, und sprachen
sich dahin aus, daß das Bestehen der Menstruation das Auf-
treten sexueller Traumvorstellungen begünstigt habe.
3%*
=a a
H. warde nach zehntägiger Haft aus der Untersuchung
entlassen.
Endlich muß noch der falschen Anschuldigung durch
Kinder Erwähnung geschehen. Hier befinden wir uns allerdings
auf einem sehr ausgedehnten Grenzgebiet zwischen \ormalem
und Pathologischem. Das Thema: „Das Kind vor Gericht“ oder
das „Kind als Zeuge“ ıst nicht erst in neuester Zeit oft und so
gründlich durchgearbeitet worden. sodaß ich mich hier nur
an einige Hauptpunkte zu halten brauche. Gegenüber An-
zeigen und Aussagen von Kindern pflegt man ja ım allgemeinen
vorsichtig zu sein. Auffallend ist die Meinungsverschieden-
heit bei den Beobachtern über die Beobachtungsgabe und Repro-
duktionstreue der Kinder. Das kommt aber daher, daß Manche
glaubten, einen geistigen Typus des Kindes zu konstruieren,
der im Gegensatz zu dem Durchschnitt des erwachsenen Men-
schen steht und sich von diesem hauptsächlich quantitativ
unterscheidet. Aber es gibt schon bei den Kindern alle geistı-
gen Typen. wie sie unter den Erwachsenen vorkommen, solche,
bei denen die Phantasie selbsttätig oder im Dienste von Trieben
und Leidenschaften meisternd und schöpferisch in die trockene
Registratur der Sinnesfunktionen eingreift und dort ihr Regiment
führt, und solche, bei denen die \Wahbrnehmungen unbeeinflußt,
so wie sie kamen, im Gedächtnis erhalten bleiben. Es gibt unter
den Kindern gute und schlechte Beobachter.
Die pathologischen Anschuldigungen nun, welche bei Kin-
dern vorkommen, sind fast immer erdichtete sexuelle Attentate
von Mädchen, die hysterisch sind oder bei denen mangelhafte
Entwicklung der hemmenden Vorstellungen bei gleichzeitiger
Lebhaftigkeit des Geschlechtstriebes und der hierauf gerichteten
Gedankentätigkeit vorliegt. also eine Art von moralischem Irre-
sein. Häufig sind es bloße Verleumdungen, die aus Rache
oder irgend einem andern Grunde ausgestreut werden, und die
das Kind beim Verhör aus Furcht vor Bestrafung glaubt erst
recht aufrecht erhalten zu müssen. Es gibt aber auch Kinder,
in deren Gehirn die Vorstellungen ebenso als Spielzeug dienen,
wie Pferd und Puppe, und zu ganzen Szenerien und lebenden
Bildern zusammengereimt werden, welche wie wirkliche Erleb-
zu. m
nisse vor der kindlichen Seele stehen. Ist das Kind sonst gut
geartet und leicht erziehbar, so kann aus seinem Phantasie-
reichtum später ein Erzähler- oder Dichtertalent hervorgehen.
Um die Neigung mancher Kinder zur Erdichtung roman-
hafter phantastischer Geschichten an einem berühmten Fall zu
exemplifizieren, pflegtman Goethes Selbstschilderung zu zitieren.
Er hatte als Knabe auch diese Neigung und sagt darüber im
zweiten Buch von „Dichtung und Wahrheit“: „Wenn ich nicht
nach und nach, meinem Naturell gemäß, die Luftgestalten und
Windbeuteleien zu kunstgemäßen Darstellungen hätte verärbeiten
lernen, so wären solche aufschneiderische Anfänge gewiß nicht
ohne schlimme Folgen für mich geblieben. — Betrachtet man
diesen Trieb recht genau, so möchte man in ihm diejenige
Anmaßung erkennen, womit der Dichter selbst das Unwahr-
scheinlichste gebieterisch ausspricht und von einem jeden
fordert, er solle dasjenige für wirklich erkennen, was ihm, dem
Erfinder, auf irgend eine Weise als wahr erscheinen konnte.“
Noch instruktiver ist die Schilderung einer erdichteten An-
schuldigung in Gottfried Kellers „Grüner Heinrich“
{Band I/II, S. 83, Kapitel VIII, „Kinderverbrechen“ über-
schrieben). Der Knabe, zur Rede gestellt über häßliche Schimpf-
worte, die er ausgesprochen, gibt an, diese von Mitschülern
gelernt zu haben. Er wird vom Lehrer und Geistlichen darüber
verhört, und erdichtet auf der Stelle eine lange Geschichte,
wie er von den Kameraden an einen Baum gebunden und ge-
schlagen worden sei, bis er diese Schimpfworte, die sich auf
den Lehrer und den Geistlichen bezogen, ausgesprochen. Nie-
mandem tauchten Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Knaben
auf und so erfuhren seine Mitschüler eine sehr harte Bestrafung.
Man vermutet in dieser Erzählung Kellers sein eigenes Er-
lebnis.
Sind solche Kinder schlecht geartet, wenig anpassungs--und
erziehungsfähig, so entwickelt sich jene höchst merkwürdige
Abart des moralischen Schwachsinns, die nach Delbrücks*)
Vorgang als „Pseudologia phantastica,‘ nach Ranniger**)
*) Delbrück, Die pathologische Lüge und die psyichisch abnormen
Schwindler. 1891.
**) Ranniger, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, Bd. II.
— 38 —
als „krankhafte Lügenhaftigkeit* bezeichnet wird, meines Er-
achtens aber ebenso als krankhaft bedingter Selbstbetrug auf-
zufassen ist, ein psychischer Zustand, bei welchem dem Indivi-
duum nicht mehr zum Bewußtsein kommt, wenn es lügt, oder
objektiv gesprochen, bei dem es zwischen Erdachtem und Er-
lebtem nicht mehr zu unterscheiden vermag. Meist sind dies ganz
harmlose Naturen, nicht selten aber, wenn schlimme Triebe hin-
zutreten, oder wenn, wie gewöhnlich, solche Personen im Konflikt
mit den Forderungen des Lebens unterliegen, werden sie durch
Lügen gemeingefährlich und wir stoßen auch hier auf das Vor-
kommen von pathologischen Anschuldigungen.
nn m a a aa
Es bleibt noch die dritte Art pathologischer Anschul-
digungen zu erörtern. Sie kommt praktisch selten in Betracht
und ich kann mich daher kurz fassen.
So wenig die Anzeige eines Geisteskranken selbst bei
notorisch abnormer Form objektiv Unwahres zu enthalten
braucht, so kann, bei richtigem Inhalt der Anzeige, der Akt
des Anzeigens unter dem Einfluß einer Geistesstörung zu
stande gekommen sein. Für den die Anzeige Entgegennehmen-
den kann es in der Regel gleich sein, wer sie erstattet und für
die Strafverfolgung ist es ohne Belang. Wie verhält es sich
aber in den Fällen, wo ein Geistesgestörter eine richtige An-
zeige erstattet, die vorzubringen ihn in gesunden Tagen be-
stimmte Rücksichten, der Verwandtschaft, der Pietät, der eignen
Existenz, das Berufsgeheimnis und andere Momente verhindert
hätten, welche die Rechtspflege z. B. für die Zeugnisverweigerung
voll gelten läßt? Selbst bei den Antragsdelikten scheint hier
‚eine Lücke der Gesetzgebung vorzuliegen, da nach $ 65 Straf-
prozeßordnung nur der geschäftsunfähige Antragsteller eines
Vertreters zu dem Antrag auf Strafverfolgung bedarf, daher nicht
der wegen Geistesschwäche Entmündigte, also beschränkt Ge-
schäftsfähige, oder der unter vorläufige Vormundschaft Gestellte.
Ein solcher Fall gelangte hier zu unserer Kenntnis. Die
Kranke war eine überaus nervenschwache, hypochondrische,
dabei ethisch depravierte Person, die von den Eltern für ver-
stockt und faul gehalten und dementsprechend behandelt wurde.
ze, 0 25
Es entstand Streit und Prügelei. Die Kranke verklagte die
Eltern wegen Mißhandlung. Es kam zwar ein Vergleich zu-
stande, die Eltern wurden aber zur Tragung der Kosten ver-
urteilt. Die Anschuldigung entsprach den Tatsachen. Die
Kranke wurde später, als sich der Zustand verschlimmerte, ın
die Anstalt gebracht. Obgleich sie wußte, daß sie mit ihrer.
Anklage im Recht war, so hat sie, als das Leiden gebessert
war und sie vor der Entlassung stand, dennoch ihr damaliges
Vorgehen aufrichtig bereut und hätte es lieber gesehen, wenn
die Anklage unterblieben wäre.
Meine Herren! Ich bin am Schluß meiner Ausführungen
angelangt. Manches hätte ich noch eingehender behandeln
können, manches mußte ich überhaupt unberührt liegen lassen,
wepn ich nicht Ihre kostbare Zeit allzusehr in Anspruch nehmen
wollte. Darum habe ich es auch vermieden, Ihnen lange
Krankengeschichten von einschlägigen Fällen aus eigener Be-
obachtung vorzutragen. Besonders über den moralischen
Schwachsinn hätte ich mich gern noch weiter verbreitet, der
oft zu pathologischer Anschuldigung führt. Statt dessen em-
pfehle ich das als Sonderheft der „Juristisch - psychiatrischen
Grenzfragen“, Bd. IV, Heft 4/6 kürzlich erschienene Buch von
Schaefer über den moralischen Schwachsinn. Auch
die Bewußtseinsveränderungen bei Epileptikern, sei es bei
und nach dem ausgesprochenen Krampfanfall, sei es bei den
sogenannten psychischen Äquivalenten, bei den einfachen Trü-
bungen des Bewußtseins, den Dämmerzuständen, oder bei
halluzinatorischen Zuständen, oder- bei einfachen zornmütigen,
tobsüchtigen Erregungszuständen lassen häufig bei den Kranken
eino falsche Deutung wirklicher Vorgänge oder Erinnerungs-
fehler oder das Herübernehmen von halluzinatorischen Erleb-
nissen in den (relativ) normalen Zustand zuwege kommen, ab-
gesehen von der großen Lügenhaftigkeit mancher Epileptiker,
und so erwachsen auch auf diesem Boden nicht selten patho-
logische Anschuldigungen. Ich erinnere nur an die gewöhn-
liche Erscheinung, daß manche Epileptiker nach dem Krampf-
anfall behaupten, während des letzteren gemißhandelt worden
zu sein, und als Beweis die blauen Flecke oder die Verletzungen
— 40 —
vorzeigen, die sie sich beim Hinschlagen oder Herumschlagen
im Anfall zugezogen haben. Ich habe selbst bei solchen Epi-
leptikern öfter den Anfall ablaufen und die Kontusionen durch
den Anfall entstehen sehen, und darauf die Beschwerde über
Mißhandlung entgegen nehmen können*).
Ich hoffe aber, daß schon das im Vorstehenden Gebotene
hinreichen wird, die zwei Forderungen zu rechtfertigen oder
wenigstens zu erläutern, die ich nun aufstellen möchte.
1. Es muß angestrebt werden, daß falsche, pathologisch be-
dingte Anschuldigungen möglichst bald als solche erkannt
und die Verhaftung Unschuldiger vermieden wird.
Bei solcher Art von Anschuldigung ist die Gefahr einer
irrtümlichen Verurteilung noch besonders groß, da $ 56 der
Strafprozeßordnung die eidliche Vernehmung von Geisteskranken
oder Schwachsinnigen nicht ausschließt, wenn sie nur von dem
Wesen und der Bedeutung des Eides genügende Vorstellung
haben. Man muß sich wundern, wie eine solche Bestimmung
zum Gesetz werden konnte, bei der gerade die Hauptsache
fehlt, nämlich die Bedingung, daß der eidlich zu vernehmende
Geisteskranke oder Geistesschwache das erforderliche Wahr-
nehmungs- und Erinnerungsvermögen besitzt. Denn dieses er-
mangelt solchen Personen oft, während sie von dem Wesen
und der Bedeutung des Eides eine vollkommen richtige Vor-
stellung haben. Man kann nur dringend wünschen, daß bei
der beabsichtigten Strafprozeßreform die österreichischen Be-
stimmungen zum Vorbild dienen, die in $ 151 der Straf-
prozeßordnung besagen, daß diejenigen Personen nicht als
Zeugen abzuhören sind, welche zur Zeit, als sie das Zeugnis
ablegen sollen, wegen Leibes- oder Gemütsbeschaffenheit außer
stande sind, die Wahrheit anzugeben, und in $ 170, daß die-
jenigen, welche an einer erheblichen Schwäche des Wahr-
nehmungs- oder Erinnerungsvermögens leiden, nicht beeidigt
werden dürfen**), auch der $ 140 der früheren österr. Z. P.O.
*) Näheres über diese Verhältnisse bei Epileptikern findet man bei
Gottlob, Über die Zeugnisfähigkeit der Epileptiker. Allgemeine Zeit-
schrift für Psychiatrie. Bd. 53.
. **) Zit. nach v. Krafft-Ebings geriähtlächer -Peyahiopathologie; 3. Auf-
lage, 1892, S. 454, der, wie schon andere, ältere Psychopathologen, darauf
ae AL ca
wonach von Beeidigung ausgeschlossen werden Personen, „welche
wegen ihrer Leibes- oder Gemütsbeschaffenheit die ungezweifelte
Wahrheit nicht können erfahren haben oder solche ungezweifelt
nicht können an den Tag legen“ *).
Die rechtzeitige Erkennung einer pathologisch bedingten
Anschuldigung setzt zunächst bei behördlichen Personen eine
gewisse Bekanntschaft abnormer Geisteszustände voraus. Eine
Prüfung der Person auf ihren Geisteszustand, die im Verdacht
steht auf Grund von Wahnideen falsch anzuschuldigen, ist
nach Lage der jetzigen Gesetzgebung schwer möglich. Wenn
aber in Verdachtsfällen ein recht genaues Protokoll der Anzeige
aufgenommen und dieses einem Sachverständigen zur gutacht-
lichen Äußerung übergeben werden könnte, ließe sich schon
manches unnötige Ermittlungsverfahren erübrigen, manche irr-
tümliche Verhaftung vermeiden.
2. Bedarf der $ 164 R. St. G.. welcher von der falschen
Anschuldigung handelt, einer Änderung. Nach der jetzigen
Fassung dieses Paragraphen muß zur Verfolgung auf Grund
desselben die falsche Anschuldigung einer bestimmten oder
wenigstens erkennbar bezeichneten Person vorliegen. Im
anderen Falle fehlt der Tatbestand einer strafbaren Handlung.
Auch ohne die Beschuldigung einer bestimmten Person ist die
falsche Beschuldigung strafbar nach dem Strafgesetzbuch des
Kantons Tessin und St. Gallen, der Niederlande und Italiens**).
In diesen Ländern wird das Delikt als Mißbrauch der Organe
der Rechtspflege verfolgt und bestraft. Mir steht die Entschei-
dung nicht zu, was das Richtigere ist, die falsche Anschuldigung
als Delikt gegen die Person oder gegen die Rechtspflege, zu
betrachten, auch nicht die Beantwortung der Frage, ob die
eine Auffassung und Anwendung die andere notwendigerweise
ausschließt.
aufmerksam macht, daß ein Geisteskranker kein vollgültiger Zeuge vor Ge-
richt sein kann und daß das römische Recht den Irren sogar im lucidum
intervallum nicht als vollgültigen gerichtlichen Beweiszeugen anerkennt.
+) Cit. nach F. E. v. Liszt, Die falsche Aussage usw. Graz 1877,
S. 125.
**) Siehe: Die falsche Anschuldigung. Von A. Feldner. Inaugural-
Dissertation. Göttingen 1896.
an BE.
Im Hinblick auf die pathologische Anschuldigung aber er-
scheint die Fassung des $ 164 R. St. G. die unzweckmäßigere.
Erstattet ein Geisteskranker Anzeige über angeblich erlittene
Schädigung oder Beleidigung, ohne eine Person in kenntlicher
Weise als Täter zu bezeichnen, und stellt sich die Ergebnis-
losigkeit und zugleich pathologische Bedingtheit der Anzeige
heraus, so liegt jetzt für die Behörde kein Anlaß vor, einzu-
schreiten, weil ja niemand genannt worden war, der $ 164
mithin nicht Anwendung finden kann, zumal die Organe der
öffentlichen Ordnung und Sicherheit die Gemeingefährlichkeit
eines Menschen an den Paragraphen des Strafgesetzes bemessen.
Nach der erwähnten anderen Auffassung von der falschen An-
schuldigung hat sie die Möglichkeit, Ermittelungen über den
Geisteszustand des geisteskranken Anzeigenden einzuleiten und
eventuell seine Internierung und Unschädlichmachung herbei-
zuführen. Und das ist durchaus anzustreben.” Denn wie aus
verschiedenen Beispielen erhellt, ist der anschuldigende Geistes-
kranke, auch wenn er keine bestimmte Person anzeigt, als ge-
meingefährlich zu erachten und er wird es noch mehr von dem
Augenblicke an, wo er sich von den Behörden, bei denen er
‚Recht und Schutz suchte, im Stich gelassen sieht.
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3m-10,'34
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1907 Grenzfragen. 33901 k
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