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Full text of "Juristisch-psychiatrische Grenzfragen Band 5.1907"

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Juristisch- RR EREBE 
Grenzfragen..- = 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 


Geh. Justizrat Prof. Dr. jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr.med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B. 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, p 
Lublinitz i. Schles. 


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Halle a. S. 
Carl Marhold Verlagsbuchhandlung. 
1907. 





Kornfeld, Geh. Med.-Rat Dr. Hermann, Kgl. Gerichtsarzt in 
Gleiwitz. Psychiatrische Gutachten und richterliche Be- 
urteilung. B. G. B. § 104, § 6. St. G. B. § 5l. 


Bresler, Oberarzt Dr. Joh., in Lublinitz. Greisenalter und 
Criminalität. 





| Hoppe, Dr. Hugo, Nervenarzt in Königsberg i. Pr. Der Alkohol 
| im gegenwärtigen und zukünftigen Strafrecht. 


| Vereinigung für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie im 
| Grossherzogtum Hessen. Bericht über die vierte Haupt- 
versammlung am 17. Juli 1906 zu Butzbach. Herausge- 


geben im Auftrage des Vorstandes von Privatdozent Dr. 
A. Dannemann. 

Erörterung über die Einrichtung von Gefängnislehrkursen. Von Prof. 
Dr. Mittermaier in Gießen und Strafanstaltsdirektor G. Clement 
in Butzbach. — Die Tätigkeit des medizinischen, im besonderen des 
psychiatrischen Sachverständigen vor Gericht. Von Prof. Dr. Mitter- 


maier, Oberstaatsanwalt Theobald, Landgerichtsdirektor Bücking 
und Prof. Dr. Sommer in Gießen. 


Gross, Dr. jur. Alfred, Prag. Kriminalpsychologische Tat- 
bestandsforschung. | 


Bresler, -Oberarzt Dr. Joh., Lublinitz. Die pathologische An- 
schuldigung. — Beitrag zur Reform des § 164 des Straf- 
gesetzbuchs und des $ 56 der Strafprozeßordnung. 





raca Gutachten 
| und 
richterliche Beurteilung, 
B. @ B. § 104, $6. St @ B. § 5i 


Von N 


Geheimen Medizinal-Rat Dr. Hermann Kornfeld, 
Kg]. Gerichtsarzt in Gleiwitz O.-Schl. 


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Alle Rechte vorbehalten. 





Halle a. S. 
Verlag von Carl Marhold. 
1907. 


J BER psychiatrische 
""renzfragen, 


Zwanglose Abhandlungen 


Herausgegeben von 


Prof. Dr. jur. A. Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B. 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lublinitz i. Schles. 


V. Band, Heft 1. 





Psychiatrische Gutachten und richterliche 2 
o Beurteilung. | 
B. G. B. $ 104, § 6; St. G. B. $ 51. 
- Von 
Dr. Hermann Kornfeld, Gleiwitz O.-S. 


Gelegentlich der Besprechung der Ansichten der beiden an- 
geführten Autoren soll obiges Thema abgehandelt werden: 
J. Grasset: Demi-fous et Demi-Responsibles. Rev. d. d. m. 
15. II. 1906. 
Mercier: Criminal Responsibility 1905. 


Motto: 
Sed trahit invitam 
Nova vis; aliudque eupido 
Mens aliud suadet. 
Video meliora proboque 
Deteriora sequor. 
I. 

Die Halbnarren — Lombroso’s mattoidei — existieren - 
nach Grasset nicht bloss in der Belletristik (bei Turgenjew, Tsche- 
chow, Gorki; bei Cervantes, Bourget etc.). Entgegen den beiden 
herrschenden Ansichten, nach deren einer es nur Verantwort- 
liche und Nichtverantwortliche, nach deren anderer es über- 
haupt nur Grade der Verantwortlichkeit gibt, will G. wissen- 
schaftlich nachweisen, dass die Demi-fous eine wohlcharakteri- 
sierte Gruppe bilden. Abgesehen von den partiellen Delirien 
gewisser Geisteskranker in den Anstalten und häufig bei’ perio- 
discher Störung in den freien Zwischenräumen (Epileptische) 
gibt es Demi-fous, welche niemals, auch nicht vorübergehend, 
wirklich irre und unzurechnungsfähig : sind: Die Dysharmoni- 
schen und die Originale und Exzentrischen (Régis), die 

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Psychasthenischen, die Impulsiven (Exhibitionisten, zum Teil 
Vagabonden, Klepto-, Pyro- etc. -manen). So z. B. Guy de 
Maupassant, Villemain, Schuhmann, Rousseau, anag, Nitzsche, 
a anbar E. Poë, Voltaire. 
Das“ "Gehlrl; Speziell die graue Rinde, besitze, wenigstens 
i a ‚boher.W abrscheinlichkeit, für den höheren und niederen 
.. 5 Beychismhs: versehielöne Zentren, so daß eine Erkrankung der 
ersten die Intelligenz nicht vollständig aufzuheben braucht. 
Und infolge der verschiedenen Entwickelung dieser Zentren. 
könne jemand intelligent und unvernünftig sein; ja ein Genie, 
ohne gesunden Menschenverstand: Mentale und Psychische — 
der altbiblische Unterschied zwischen Seele und Geist klingt 
beiläufig hier durch. *) ; Ä 

Gegen Höricourt, Bernheim, Le Dantei u. A. 
weist G. überzeugend nach, daß Vorhandenzäin von Mittel- 
stufen ganz und garnichts beweist für die Evolutionstheorie;- 
namentlich nichts dafür, daß (nach Spencer) „eine Lebens- 
weise, bei der die Moralität nicht mitspielt, sich gradatim un- 
merklich in eine moralische oder unmoralische transformiert“. 
Die Existenz der drei verschiedenen Klassen: Vernünftige, Demi- 
fous. und fous, wird nicht dadurch erschüttert, daß es Fälle 
gibt, bei denen die Unterbringung in eine der Klassen unent- 
schieden bleiben muß. 

Einem geistesgesunden Menschen könne man keine motiv- 
losen Handlungen suggerieren. „Verantwortlich ist jeder, der 

. < . imstande ist, den vergleichsweisen Wert seiner ver- 
schiedenen Antriebe und Beweggründe zu beurteilen.“ 

Der Sachverständige habe nun bei diesen Demi-fous zu 
entscheiden, „ob der Zustand ihres Nervensystems ihnen er- 
laubt, zu wissen,. was sie gemacht haben, die Tragweite ihrer 
Handlung zu erkennen, sie verantwortlich macht oder nicht. 
Und die Gesellschaft habe die Pflicht: >» 

1. sie ärztlich zu behandeln, 

2. bei ihrer Verheiratung den ärztlichen Rat befolgen zu 

lassen, a 5 | 


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*) Vergl. des Verfassers: Verbrechen und Irresein im Lichte der alt- 
biblischen Auffassung. Marhold, 1905. 


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3. die Rechtsbrecher unter ihnen in Spezial-Asyle zu 

schicken.“ 

„Die überzeugtesten Spiritualisten meinen doch, daß Gei- 
stesstörung eine körperliche, keine Seelenkrankheit ist (S. 893).* 
Es sei also nach G. davon auszugehen, daß Geistesstörung eine 
Erkrankung des Körpers ist und lediglich der ärztlichen Be- 
"handlung unterliegt. 


Das ist nun allerdings grundverschieden von der Ansicht 
des Verfassers, daß, wo ein nachweisbaresKörperleidenSymp- 
tome von Geistesstörung bedingt, von einer eigentlichen 
Seelenstörung nicht gesprochen werden darf. Es ist gleich- 
giltig, ob jemand deliriert, weil er Typhus, Lungenentzündung 
etc. hat, ob infolge Alkohol oder anderer Gifte, von Auto- 
intoxikation, oder von Hirn-Syphilis, -Geschwülsten, -Erwei- 
chung etc.; ob diese körperliche, spez. Gehirnkrankheit akut 
oder chronisch ist. Ein Beweis für die so verbreitete Ansicht, 
daß Gehirn- und Geistesstörung zusammenfällt, ist — das wird 
ja anerkannt — nicht geliefert; und namentlich nicht durch 
die Sektion. Aber auch ihre einfache Möglichkeit, geschweige 
Wahrscheinlichkeit, ist nicht plausibel gemacht. Die Erfah- 
rungen über die Wahnbildung, induziertes Irresein, psychische 
Epidemien, vor dem Tode eintretende Klarheit sprechen u. A. 
deutlich genug dagegen. 


Noch weniger sollte die Tatsache, daß Geistesstörung, die 
-ohne nachweisbare Körperstörung aufgetreten ist und weiterhin 
von körperlichen Störungen gefolgt war, zu der petitio prin- 
zipii führen, daß doch eine Gehirnstörung ursprünglich be- 
standen haben müsse, die nur mit unseren jetzigen Mitteln 
nicht zu diagnostizieren gewesen wäre. 


Wie Verfasser anderweit*) auszuführen Gelegenheit hatte- 
Das Gehirn erkrankt durch ungeeignete Zufuhr von Blut. Da nun 
alles, was zur Erhaltung des Individuums dient, sowohl zu der 
körperlichen, wie der geistigen, nur durch das Blut zugeführt 
‚wird, so können geistige Einwirkungen selbstverständlich auch 


| *) Anmerk. zu Blandford: Scelenstörungen 1878. Krit. d. geistigen. 
Gesundh. in Friedr. Blätt. f. ger. Med. 1878. Hdb. d. ger. Med. 1884 
Entmündigung 1891 ete | 


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nur mittels des Blutes eine funktionelle oder organische Stö- 
rung im Gehirn bewirken. | 

Daß nun .die richterliche Auffassung der Geistesstörung 
als krankhafte Störung des Geistes lediglich für die Beurtei- 
lung der psychiatrischen Gutachten in foro zu Grunde gelegt 
wird, beweist schlagend die folgende, vielleicht wichtigste 
R.-G.-Entscheidung in dieser Beziehung. Sie soll daher aus- 
führlich wiedergegeben werden. 


B. G. B. § 104. Nach dem Standpunkt des B. G. B. ist die Frage 
der Geschäftsunfähigkeit aus den Erscheinungen der angeblichen 
Erkrankung im Verkehrsleben, also aus der eigenen Darstellung 
des Beklagten, seinen Erklärungen, dem an den Tag gelegten 
Verständnis des rechtlichen Vorgangs und seiner Folgen, sowie 
aus den Wahrnehmungen anderer über das Verhalten des Be- 
klagten zu lösen. Der ärztliche Befund und die ärztliche Wissen- 
schaft kann auch hier für das Verständnis mancher Erscheinungen 
wertvolle Aufschlüsse bieten. Von einer Gebundenheit des Richters 
an den ärztlichen Ausspruch kann aber hier nicht die Rede sein, 
zumal da es sich um eine wesentlich tatsächliche Frage handelt. 

Bei der Frage der Geschäftsfähigkeit eines Menschen kommt 
das Denkvermögen, als Erkenntnis- und Schlußvermögen, sowie 
das Vermögen, Vorstellungen und daraus entspringende Begehren 
in Handlungen umzusetzen, dann das Willensvermögen, letzteres 
in positiver und negativer Richtung, der Widerstandsfähigkeit 
gegen einen anderen Willen in Betracht. Von dem normalen Zu- 
stande des Geschäftsfähigen abweichende Dauerzustände — Geistes- 
krankheiten — können auf angeborener Verkümmerung der Organe, 
die als Sitz der geistigen Funktionen erachtet werden, auf mangel- 
hafter Entwicklung dieser Organe und auf pathologischen Ver- 
‚änderungen, somit auf physiologischem Gebiete liegen. Die Wir- 
kung kann eine geringere und eine stärkere, sogar eine so 
weitgehende sein, dass nach gewöhnlicher Lebensauffassung ein 
‘vernünftiges Handeln nicht mehr erkennbar wird. Die Willens- 
schwäche, insbesondere in ihrer passiven Seite, dem Mangel an 
‚Widerstandskraft, kann einem solchen geistigen Defekte ent- 
springen; sie kann aber auch bei voller geistiger Ungetrübtheit 
ihren Grund lediglich in psychischen Eigenschaften, wie Gutmütig- 
keit, Mangel an Mut oder an Beständigkeit und Festigkeit des 
Willens, haben. Die Geschäftsunfähigkeit oder nur Geschäftsbe- 
schränktheit begründende Anomalie des. geistigen Zustandes eines 
Menschen kann somit nach dem Grunde der Entstehung, wie nach 
der Art der Erscheinung verschieden sein. Das B. G. B. gibt 
‘aber keinen Anhaltspunkt für die Unterscheidung zwischen Geistes- 
krankheit und Geistesschwäche nach der Art und dem Grunde 


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der Anomalie. Die Unterscheidung der Geisteskrankheit und der 
Geistesschwäche mit ihren verschiedenen rechtlichen Folgen der 
_Geschäftsunfähigkeit und Geschäftsbeschränktheit sollte auch nicht 
auf den Grund und die Art der Anomalie des geistigen Zu- 
standes begründet werden. Man hielt die Auffassung des Lebens 
für genügend, um auf diesen Unterschied zwei verschiedene Ent- 
mündigungsfälle zu gründen. Hiernach kann nur der Grad der 
Anomalie für die Untersuchung entscheidend sein. Steht der 
Kranke in seinem Denken, Wollen und Handeln infolge einer 
geistigen Anomalie, gleichviel auf welchem Grunde sie beruht, 
nach allgemeiner Lebensauftassung auf einer so niedrigen geistigen 
Stufe, daß sein Handeln so wenig. Beachtung verdient als das 
eines Kindes unter sieben Jahren, so liegt Geisteskrankheit im 
Sinne des Gesetzes vor, während der geringere Grad der Anomalie 
mit der Rechtsfolge der Geschäftsbeschränktheit als Geistes- 
schwäche erscheint (Planck, B. G. B. II. Aufl. Bd. I, S. 58; 
Hölder, Kommentar z. B. G. B. I. Bd. Allgemeiner Teil S. 81; 

R. G. Z. Bd 50, S. 203). Das Gericht muß wohl von den phy- 
siologischen und psychiatrischen Erörterungen in den Gutachten 
der Sachverständigen Kenntnis nehmen, aber es hat keine Ver- 
anlassung, sich auf diese Gebiete zu begeben. Die Beweiswürdi- 
gung hat nach den eingangs angeführten Grundsätzen zu erfolgen. 
Das Urteil der Aerzte, die bei derselben Grundlage im Entmün- 
digungsverfahren Geistesschwäche im Sinne des $ 114 B. G. B., 

im gegenwärtigen Prozesse aber Geisteskrankheit im Sinne des 
$ 104 Z. 2 B. G. B. annahmen, für die Bildung des eigenen Ur- 
teils für nicht maßgebend zu erachten, stand dem Berufungsrichter 
gemäß § 286 Z. P. O. frei. (R. G. VI, 14. XI. 1904.) Entsch. 
d. R. G. pag. 43, Nr. 138. 


II. 


Sir Fritz James Stephen sagt in seinem berühmten 
kriminalistischen Werke: „Um gehörig zu verstehen, was untet 
Zwang und nichtgesunder geistiger Beschaffenheit (insanity) 
gemeint ist, bedarf es einer bestimmten Auffassung von Frei- 
heit und Gesundheit, d. h. von normaler, durch Krankheit 
nicht affizierter Willenstätigkeit.“ Er bedauert, daß Gefühl 
und Willen bei der Entscheidung der Zurechnungsfähigkeit 
nicht berücksichtigt sind. 

Nach dem englischen Gesetz (Lewis, Smith und 
Hawke: The insane and the law 1895) muß „in allen Fällen, 
wo insanity. behauptet wird, klar bewiesen werden, daß der 





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‚Angeklagte zur Zeit der Tat unter einem solchen Verstandes- 
defekt infolge von Geistesstörung litt, daß er die Natur und 
Beschaffenheit seiner Handlung nicht erkannte; oder, daß er, 
-wenn er sie erkannte, nicht erkannte, daß sein Handeln Un- 
recht war“. Viele Richter nehmen an: Verantwortlichkeit 
‚hinge davon ab, ob er anders konnte? (if he could help it?) 
‚Andere Richter fragten: War die Person imstande, die Natur 
‚der Handlung zu verstehen und ein richtiges, vernünftiges Ur- 
teil über ihre Folgen. für ihn und andere zu fällen; und war 
'sie soweit frei, als die Handlung in Betracht kam? 

Blandford, eine anerkannte Autorität auf dem Gebiete 
der Psychiatrie, definiert obiges Erkennen unter Umständen 
als „das eines infolge von Krankheit unter dem geistigen 
Niveau stehenden Menschen, dessen Verantwortlichkeit daher 
entsprechend vermindert ist“. 

Mercier (Criminal Responsibility 1905) möchte die Prü- 
fung der Geisteskrankheit von Rechtsbrechern auf folgende 
‚Grundsätze gestützt wissen (S. 203): 

ee Die Mehrzahl Geisteskranker ist gesund bezüg- 
lich eines erheblichen Teils ihrer Handlungen; und: wenn sie 
in diesem Teil Verbrechen begehen, mit Recht strafbar. Die 
Jury hat zu entscheiden, ob die Geistesstörung die Handlung 
‚beeinflußt hat oder nicht. Jedoch sind sie milder zu bestrafen. 
Voraussetzung für den vollständigen oder teilweisen StraferlaB 
(auf Grund der Unfähigkeit, die Natur und Beschaffenheit der 
Tat zu erkennen, sowie der Unfähigkeit zu erkennen, daß sie 
Unrecht war) ist: Die Erkenntnis muß auch eine Würdigung 
der Umstände, unter denen die Tat erfolgte, in sich schließen, 
und berücksichtigt werden, daß jemand erkennen kann, die 
Tat sei Unrecht, aber nicht, wie unrecht sie sei.“ Er hält 
— und so auch das Komitee, welches der Med. Psych. Assoc. 
1896 berichtete — eine Änderung der Gesetzesvorschriften 
bez. der krim. Zurechnungsfähigkeit nicht für erforderlich; insb. 
nicht einen Zusatz betreffend des Verlustes der Kontrolle über 
den Willen (gegen Stephen). - Denn „in der Praxis begegnen 
wir nicht Geisteskranken, bei denen Defekt oder Störung des 
Willens ge:ondert von solchen des Verstandes isoliert vor- 
handen sind. Ausgenommen seien allerdings gewisse Zwangs- 


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handlungen (Besessensein und in gewissen Fällen moral in- 


sanity)“. 

Im deutschen Straf- sowohl wie im B. G. B. wird bei. 
den Handlungen das Hauptgewicht auf den Willen gelegt. In 
Betracht kommt vor allem 

St. G. B. $ 51. 

„Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der 
Täter zur Zeit der Begehung der Tat sich in einem Zustande von 
Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit be- 
fand durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen 
war.“ 

Bei Personen zwischen 12 — 18 Jahren kommt außerdem die 
‚geistige Fähigkeit in Betracht, die Strafbarkeit der Handlung zu 
erkennen, Nachgebildet ist dem § 51 im B. G. B.: 8 104 Abs. 2 
(Geschäftsunfähigkeit), sowie $ 827 a OEE für 
Schaden). 

Hiernach wird im allgemeinen angenommen, daß jede Hand- 
lung, so weitsienicht automatisch, oder durch körperliche Erkrank- 
ungen (Krämpfe, Veitstanz u. Ä.) bedingt ist, bei strafmündigen 
Personen mit freiem Willen erfolgt; daß aber eine Geistesstö- 
rung an und für sich nicht notwendig die Beraubung des freien 


Willens bedingt. | 

Vgl. R. G. VI. 14. XI. 1904 zu S. 104. Entsch. d. R. G. 
S. 43, Nr. 138. 

EE Bei der Frage der Geistesstörung eines Menschen 
kommt das Denkvermögen, als Erkenntnis und Schlußvermögen, 
sowie das Vermögen, Vorstellungen und dort entspringende Be- 
gehren in Handlungen umzusetzen; dann das Willensvermögen, 
letzteres in positiver und negativer Richtung, der Widerstands- 
fähigkeit gegen einen anderen Willen in Betracht... .. 

Die Willensschwäche, insbes. nach ihrer passiven Seite, der 
Mangel an Widerstandskraft, kann einem geistigen Gefühl ent- 
springen, sie kann aber auch bei voller geistiger Ungetrübtheit 
lediglich in psychologischen BRUNNEN. Bar ihren Grund 
haben. 

Das Gericht muß wohl von den physiologischen und. psycho- 
logischen etc, Erörterungen in dem Gutachten des Sachverständigen 
Kenntnis nehmen, aber es hat keine Veranlassung, sich auf diesem 
Gebiete zu begegnen. .... 

Ferner: 

Entsch. des R. G. in Strafsachen. Bd. I, S. 149. Urteil 
vom 17. I. 1880. St. P. O. 8 203. | | 





= FO: a 


„Das Ldg. spricht aus, daß Angekl. an der fixen Idee leide, 
von Unbekannten beschimpft und verfolgt zu werden und sich 
dadurch in Beziehung auf eine bestimmte Richtung seiner Geistes- 
tätigkeit in einer krankhaften Störung derselben befinde; es spricht 
auch aus, daß die Aufhebung des geisteskranken Zustandes bei 
ihm nicht zu erhoffen sei; es gesteht ihm aber sonst ein richtiges 
logisches Denken, Reden und Handeln zu. Daraus erhellt, daß 
es nur eine partielle..... krankhafte Geistesstörung des An- 
geklagten unterstellt hat, die sich lediglich in einer bestimmten 
Richtung offenbare, während im übrigen der Gebrauch seiner Ver- 
standeskräfte und die Freiheit seines Handelns nicht beschränkt 
sei. Da es nun auch wirklich die Verhandlung mit dem Angekl. 
bewirkt, seine Erklärung entgegengenommen, sein Verzicht auf 
Zeugen berücksichtigt und die Feststellung der Tat auf sein Ge- 
ständnis gestützt hat, so muss angenommen werden, dass es zur 
Zeit der Verhandlung den geistigen Zustand des Angeklagten als 
vorhanden angenommen hat, welcher die Verhandlung mit ihm er- 
möglichte.“ 


Oberlandesgericht Lübeck, 22. V. 1892. Jur. W. 1887, 
Bl. 118, Nr. 11 (Schaffer-Ahrens): 


„Forensisch kommt es nicht auf die psychische Diagnose, ob 
jemand geisteskrank ist, an, sondern, ob der Zustand die Zurech- 
nungsfähigkeit aufhebt: Also kann jemand trotz Verfolgungswahn 
handlungsfähig sein.“ 


Entsch. Oberlandesg. Stuttgart, 25. X. 1889. 


„Nicht jede Art und jeder Grad von Geistesstörung hebt die 
Willens- und Handlungsfähigkeit auf; es ist vielmehr in jedem 
Falle zu untersuchen, ob nach Lage der Sache ein Zusammenhang 
der geistigen Störung und der in Frage stehenden Rechtshand- 
lung gegeben ist. Die Rechtshandlungen eines Melancholikers 
z. B., der in technisch medizinischem Sinne für geisteskrank er- 
klärt wird, werden meistens vollkommen gleichgiltig sein. Das 
frühere Obertribunal hat mit Recht sich dahin ausgesprochen, daß, 
wer bloß an fixen Ideen leide, sich durchaus nicht in einem die 
Zurechnungsfühigkeit unbedingt ausschließenden Zustande befinde.“ 


Man muss also annehmen, da zu einer letztwilligen Ver- 
fügung, zu einer Zeugenaussage, zu einer Verteidigung nach 
den entsprechenden Richtungen hin ein freier Wille gehört, 
daß ein solcher ungeachtet des Bestehens einer geistigen Stö- 
rung nach Ansicht des Gerichts bei jemanden doch vorhanden 
sein kann. Dafür sprechen auch folgende gerichtliche Urteile: 


Entsch. d. R. G. U. v. 8. I. 1897. 29. Bd. S. 324. 


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| Verhandlungstähigkeit. 

„vorderrichter: „wenn auch der Angekl. in manchen Bezieh- 
ungen verworrene Anschauungen verrate“, so... 

wüßte er doch sehr gut, weshalb er vor Gericht stehe; daß 
er die Fragen über geine persöplichen Verhältnisse richtig beant- 
wortet und sich für die Beschuldigungen in der Hauptsache durch- 
' aus angemessen verteidigt habe, daß endlich . . . sein Gedächtnis 
kein schlechteres als bei geistig beschränkten Personen überhaupt sei.“ 


Rg.: Die Beziehungen auf das U. vom 17. I. 1880, Bd. 1, 
S. 149 sind verfehlt, weil dieses den ganz anders liegenden Fall 
im Auge gehabt habe, daß der sonst noch vollkommen denkfähige 
Angekl. an partieller Geistesstörung leide. „Richtig ist es, 
daß dem angegebenen Urteil ... welches sich mit der Frage be- 
‚schäftigte, ob eine Hauptverhandlung mit dem Angekl., der an Geistes- 
störung leide, möglich sei, der Fall:zu Grunde lag, daß nach der 
Unterstellung des Vorderrichters nur eine partielle, auf einzelne fixe 
Ideen oder falsche Vorstellungen beschränkte Störung der Geistes- 
tätigkeit des Angekl. vorlag, die sich lediglich in einer bestimmten 
Richtung offenbarte, während im übrigen der Gebrauch seiner Ver- 
standeskräfte und .die Freiheit seines Handelns nicht beschränkt 
war, während nach der Begründung des angefochtenen Urteils von 
einer solchen Form der Geistesstörung nicht die Rede ist, viel- 
mehr — an sich unbeschränkt — die gegenwärtige Geistesstörung 
des Angekl. festgestellt wird. Dennoch aber erscheint der in jenem 
Urteile des R. G. am Schlusse der betreffenden Ausführung sich 
vorfindende Satz: 


„Die Beurteilung der Frage, : ob der Angekl. sich in einem 
solchen Zustande geistiger Freiheit befinde, daß mit ihm in 
giltiger Weise strafgerichtlich verhandelt werden kann, steht 
lediglich dem erkennenden Richter zu“, richtig. .... 


Unzulässig muß es erachtet werden, die Möglichkeit der Ver- 
handlungsfähigkeit geisteskranker Angekl. lediglich auf die Form 
der in sog. fixen Ideen sich ausprägenden Geistesstörung zu be- 
schränken; denn die Formen der Geistesstörung sind so mannig- 
fache und ihre Übergänge so feine und oft schwer erkennbare, 
daß die Beschränkung jener Möglichkeit auf eine bestimmte Form 
der Geistesstörung etwas Willkürliches an sich tragen würde. Es 
muß vielmehr immer Gegenstand der konkreten Feststellung bleiben, 
ob die Geisteskrankheit eines Angekl. eine derartige ist, daß er... 
verhindert sein würde... in der Verhandlung seine Interessen 
vernünftig zu vertreten, seine Rechte zu wahren und seine Ver- 
teidigung in verständiger und verständlicher Weise vorzuführen.“ 

Ferner St.G.B. § 160. R.G.III B. Golt. 1905. Urt. v. 6. 2. 
1905. | | 

„Der Tatbestand wird dadurch, daß der Verleitete den falschen 
Eid in einem Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit 





— 12 — 


geleistet hat, nicht unbedingt, sondern nur dann ausgeschlossen, 
wenn zufolge dieser Störung den Schwörenden die Vorstellung für 
das Wissen und die Bedeutung des Eides gefehlt hat. Nach dem 
Gutachten des Sachverständigen war nicht ausgeschlossen, daß F. 
‘bei den im Eid: gemachten Aussagen in einem Zustande krank- 
'hafter Störung des Geistes gehandelt habe und sich deshalb nicht 
habe feststellen ‚lassen, ob F. schuldhafterweise, sei es 
'wissentlich oder fahrlässig, falsch geschworen habe. ... 

 Ersichtlich .... hat damit nur zum Ausdruck gebracht 
werden sollen, daß der Zeuge infolge krankhafter Störung seines 
Geistes bei Abgabe seines Zeugnisses keine genügende Vorstellung 
darüber gehabt habe, ob die von ihm bekundeten Wahrnehmungen 
‚der Wahrheit entsprochen. hätten oder nicht.“ 

Für das Wesen der Pflegschaft kann z.B. ein Geisteskranker 
sehr wohl Verständnis haben: 
| R. G. 26. IX. 1904. 

- „Ein Geisteskranker, der unter Pflegschaft steht, kann mit 
Erfolg Aufhebung derselben beantragen, wenn der Antrag mit 
voller Erkenntnis der Sachlage gestellt ist.“ 

$ 193 in Verb. mit $ 41 und 42. .Golt. Arch. 51. . Jahrg, 
4.—5. Heft,- 1905. 
Ä Wille. 

Auch bei Geistesstörung kann, ungeachtet Freisprechung nach 
$ 51, auf Einziehung der Schrift erkannt werden. . Der Wille 
kann auch bei Geistesstörung tatsächlich auf Wahrnehmung be- 
rechtigter Interessen gerichtet sein. Es ist überdies tatsächlich 
festgestellt, daß der Angekl. in der freien Betätigung seines 
Willens nicht behindert war, soweit es darauf ankam, seine Inter- 
essen und Rechte, die er für verletzt hielt, zu verteidigen. Ein 
solcher Wille ist für die Anwendung $$ 185, 186, nicht aber für 
§ 164 von rechtlicher Bedeutung. 


Das St. G. B. $ 1—3 spricht von Handlungen. Hand- 
lungsfähigkeit (Planck, B. G. B. I, S. 149) umfaßt so- 
wohl die Fähigkeit zu rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen 
(Geschäftsfähigkeit), wie die Verantwortlichkeit für unerlaubte 
Handlungen und für Verletzung obligatorischer Verpflichtungen. 


Willenserklärungen (Staudinger, Komm. zum b. 
G. B. I, S. 292) sind solche Handlungen, d. h. irgendwie 
wahrnehmbare Betätigungen des menschlichen Willens, welche 
nach der Lebenserfahrung einen Schluß darauf zulassen, daß 
durch sie der Handelnde eine Gestaltung, oder Veränderung 
-privater Rechtsverhältnisse vornehmen will. Zu B. G. B. § 104, 
II, wird dort (S. 309) bemerkt: Die freie Willensbestimmung 


kann hier nur im Sinne der normalen Willensbestimmung 
aufgefaßt. werden, welche erfolgt auf Grund richtiger Auffassung 
der Erscheinungen der Außenwelt in vernünftiger Überlegung.. 


Bekanntlich sind die Ansichten der Psychiater darüber 
geteilt, ob der Sachverständige lediglich sich über die Art des 
Geisteszustandes aussprechen oder auch die Folgerung ziehen. 
soll bez. der Beraubung des freien Willens, der Zurechnungs- 
fähigkeit. Weshalb er in einem Gutachten, in dem es sich 
doch ‚lediglich um geistige Vorgänge handelt, diese FO PRIRE 
nicht ziehen. soll, ist nicht abzusehen. 

Planck (Komm. I. B. G. B. $ 104, Anm. 2 spricht sich 
in bejahendem Sinne :aus: 

„Entw. 1, 8 64 sprach von den des Vernunftgebrauchs be- 
raubten Personen. .. e. In der 2. Komm. hat. man mit Rück-: 
sicht auf die geltend gemachten Bedenken beschlossen, sich an, 
$ 51 St. Œ. B. anzuschließen. Auch durch diese Fassung werden. 
nicht alle Zweifel beseitigt; aber sie gewährt den Vorteil, daß 
auf der reichen strafrechtlichen Literatur über diesen Gegenstand 
fortgebaut: werden kann. Unter einem Zustande krankhafter 
Störung der Geistestätigkeit sind ebenso wie unter Geistesstörung 
des $6 Abs. 1 auch die Zustände angeborener anormaler Störung 
der Geistestätigkeit mit zu verstehen. Ob der freie Wille durch 
einen solchen Zustand ausgeschlossen wird, ist eine medizinische 
oder durch ‚Untersuchung des einzelnen Falles zu entscheidende 
Frage.“ ; 

Gerade weil die Rechtssprechung die Ansicht vieler Psy- 
chiater nicht teilt, daß der Geist ein unteilbares Ganze ist, 
der nicht partiell erkranken und sonst gesund sein kann, muß 
der Sachverständige, soweit möglich, ausführen, inwieweit die 
Störung die einzelnen Geistesvermögen, Denken, Fühlen und 
Wollen, beeinträchtigt hat. Daß aber die partielle Geistes- 
störung von Juristen anerkannt wird, ergibt sich aus zahl- 
reichen Entscheidungen (cf. oben). So erst neuerdings aus der 
Entsch. R. G. IV vom 8. V. 1905. J. W. p. 395: 

„Die Anwendung des $ 1569 sei mithin auch nicht bei nur 
partiellem ` Wahnsinn und nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil:, 
dem geisteskranken Gatten... . noch die Fähigkeit verblieben 
ist, die meisten bürgerlichen und die Vermögensangelegenheiten. 
zu besorgen. A | 

Es entsteht zunächst die Frage, ob es besondere Willens- 





=> Ji = 


erkrankungen gibt. Binswanger (Binswanger und Sie mer- 
ling, Lehrbuch der Psychiatrie 1904, S. 46) verneint diese Frage 
schlankweg. „Willensstörungen im Sinne der alten Psychiatrie, 
welche auf der Annahme einer eigenen Willenssphäre aufge- 
baut war, gibt es nicht. Störungen der sog. Willenshand- 
lungen werden verursacht durch ..... krankhafte Vorgänge 
auf dem Gebiete der Empfindungen, der Vorstellungsbildung, 
der Ideen-Assoziation und der Gefühlserregungen.*“ [Psycho- 
logen, wie James (Textb. of Psych. 1892), sind darin aller- 
dings anderer Meinung.)*) In demselben Lehrbuche (S. 90) 
spricht Westphal von Melancholikern mit krankhafter Willen- 
losigkeit. Höffding (Psychol. 1893, übers. v. Bendixen, 
8.461) spricht sich dahin aus: „Während des Zwischenraumes 
zwischen dem Auftauchen des Willens und der Handlung sollen 
die Motive miteinander ringen, damit das innerste Wesen der 
Seele für die Handlung bestimmend werde. Dieses Spiel der 
Möglichkeit kann indeß eine anziehende oder ängstigende Ge- 
walt auf das Gemüt ausüben, sodaß es sich darin verliert, 
nicht zu Entschluß und Handlung zu kommen. Hier liegt der 
Weg zum Wahnsinn.“ 

Wenn man aber auch z. B. Zwangsideen, Willenslosigkeit 
nicht auf primäre Willenserkrankung zurückführt, sondern sie 
nur als Folge bezw. Begleiterscheinungen von Erkrankungen 
der Intelligenz und des Gefühls auffaßt, jedenfalls wird bei 
Begutachtung wegen Geistesstörung nachzuweisen sein, ob und 
inwieweit die Bedingungen des Willens krankhaft verändert . 
waren; denn wie das vorgesetzte Motto zeigt, ist Abweichung 
vom rechtlichen Handeln bei geistesgesunden Menschen zu- 
gleich mit Erkenntnis des Unrechtes der Handlung Bea 
charakteristisch für Rechtsbrecher. . 

Wenn im englischen Recht nicht vorgeschrieben ist, 
daß die Abwesenheit des freien Willens zur Zeit der Tat 


*) „Der fundamentale Akt des Willens besteht in einer Spannung 
der Aufmerksamkeit. Ist das Denken bez. eines Entschlusses zum Ab- 
schluß gekommen , so tritt alsbald das mysteriöse Band zwischen dem Ge- 
danken und den Bewegungs-Zentren in Aktion; und in einer Weise, welche 
wir nicht einmal vermuten können, leisten die körperlichen Organe | dann 
Gehörsam; als wenn sich dies von selbst verstände.* 








==. 15 = 


straflos macht, so erscheint es doch selbstverständlich, daß 
tatsächlich die Begutachtung auf dasselbe Ziel hinauskommen 
muß, wie bei uns. 

„Ich denke“, sagt Mercier (S. 149), „es ist klar, daß Ver- 
antwortlichkeit auf das Wollen beschränkt ist, und daß keine 
Handlung von-rechtswegen strafbar sein kann, welche nicht ge- 
wollt ist. ... Je gründlicher der freie Wille die Handlung durch- 
dringt und bei derselben mitspielt, desto vollständiger ist die Ver- 
antwortlichkeit des Handelnden.“ 


Bei uns setzt das Gesetz voraus, daß bei Strafmündigen 
durchschnittlich eine genügende Geistesfähigkeit vorhanden ist, 
um zu erkennen, was recht und unrecht, strafbar und straflos 
ist; daß ihre Handlungen in rechtlicher Beziehung auf ver- 
ständliche Beweggründe zurückzuführen sind, daß diese Hand- 
lungen, wozu natürlich auch Reden und andererseits bewußte 
Unterlassung von Handeln und Reden gehört, auf dasjenige 
schließen lassen, was der Handelnde auf Grund seines Ver- 
standes und seiner Gefühle gewollt hat. 

Die Wahl, ob man eine Handlung begehen. oder unter- 
lassen soll, führt zu einer Entscheidung; und mit dieser ist 
das Motiv zum Handeln gegeben. Unzurechnungsfähige Geistes- 
kranke handeln aus unvernünftigen, unverständlichen, perversen 
Motiven oder ohne solche. Es ist nachzuweisen, ob der An- 
geklagte unfähig war, mit der vom Gesetz voraysgesetzten ge- 
sunden Überlegung zu wählen. Das englische Gesetz ver- 
langt den Nachweis, daß er Recht und Unrecht nicht zu unter- 
scheiden vermochte; das deutsche, daß er seines freien 
Willens beraubt war. Ersteres folgerte aus jenen intellekten . 
Gesichtspunkten, ob der freie Wille bei der Tat vorhanden 
war; letzteres hat den Charakter der Tat, als einer Willens- 
äußerung, im Auge und spricht direkt aus, worauf die psychia- 
trische Beurteilung der Tat hinauskommen soll. Ein Paazpiener 
Unterschied ist demnach nicht vorhanden. 

Der Sachverständige wird sich also über rein geistige Zu- 
stände auszusprechen haben. Für seinen Standpunkt wird es. 
aber von grundlegender Wichtigkeit sein, daß er Psychologie . 
und körperliche Krankheit auseinanderhält. Krankheiten -des 
Körpers können den Menschen unfähig machen, sich seiner 
Organe gehörig zu bedienen, z. B. genügende Gesichtseindrücke 


> 6. 


aufzunebmen, wenn die Medien der Augen trübe oder gar un- 
durchsichtig sind. Die Fähigkeit zum Sehen kann dabei. 
erhalten sein, was sich klar herausstellen kann, wenn die Ver- 
dunkelung behoben worden ist. Die Augäpfel können intakt, 
aber das Sehzentrum kann verändert und hierdurch das Sehen 


behindert oder aufgehoben sein. Kann die Erkrankung: be- 
hoben werden, z. B. durch Operation einer Gehirngeschwulst, 


durch antiluötische Behandlung, so wird sich dann zeigen, 


daß die Fähigkeit zum Sehen nicht geschädigt zu sein 
braucht. Das Gleiche gilt, wenn die Assoziations-Bahnen im 
Gehirn geschädigt sind; ebenso, wenn die Fähigkeit der Ge-' 
webe, frühere Sinneseindrücke von Neuem hervorrufen zu. 


lassen — früher als eine Art Phosphoreszieren betrachtet —, 


also das Gedächtnis gelitten hat. Aber .die menschliche Seele 
wird ebenso wie in dem Beispiel des Sehens, nicht krankhaft 
affiziert, wenn 'nur irgendwelche körperliche Krankheiten sie 
veikinderi; auf die Außenwelt in gesunder Weise einzuwirken. 
Umgekehrt verhält es sich bei den Krankheiten der Seele. 
Der Körper des Menschen ist materiell nur gradweise von 
dem der Tiere verschieden. Die Verschiedenheit des Menschen 
vom Tiere beruht nicht auf einem Mehr und Weniger, insbes. 
nicht auf einer feineren Organisation des Gehirns, sondern, 
darauf, daß bei dem Menschen etwas hinzugekommen ist, was 
im Tierreich nicht anzutreffen ist, und was eine bis ins Uaend- 


liche fortgesetzte Evolution des Tieres ihm nicht geben konnte: . 


Auf dem Vorhandensein der menschlichen Seele. Wenn man, 


wie dies doch von so vielen Psychiatern geschieht, den Um- 


stand unberücksichtigt läßt, daß die pathologische Anatomie 


mit ihren Versuchen, die Psychose im eigentlichen Sinne auf 
materielle Vorgänge zurückzuführen, vollständig Fiasko ge- 
macht hat; daß von den im Gehirn bei Geisteskranken nicht 


selten vorgefundenen Veränderungen diejenigen nicht in Be- 
tracht kommen, die als Folge der geistigen Störung aufzu- 
fassen sind, so ist es erstaunlich, daß Gehirn- und Geistes- 
krankheiten_nach immer für identisch gehalten werden. Daß 


eine krankhafte Veränderung des Gehirns beim Träumen ` 


existiert, wird doch von niemandem angenommen; und doch 
ist der Zustand so vieler Geisteskranker weiter nichts als ein 





ze a 


fortgesetzter Traum, aus dem manche nach kürzerer oder 
längerer Zeit allmählich oder plötzlich erwachen, wie z. B. 
Fälle von kurz vor dem’ Tode erlangter Klarheit chronischer 
Geisteskranker beweisen. 

Bekanntlich hat Cervantes im Don Quixote ein able 
Erwachen in durchaus naturgetreuer Weise dargestellt. Das 
ist jedenfalls ein auffälliger Widerspruch in so vielen Lehr- 
büchern, daß Rückfälligkeit, wenn sie bis zu einem gewissen 
Grade angestiegen ist, nun auf einmal Geistes- resp. Gehirn- 
krankheiten sein sollen; ebenso der Irrtum, wenn er so einge- 
wurzelt ist, daß man ihn als fixe Idee, als partiellen Wahn 
anspricht; ebenso die Leidenschaft, wenn sie eine solche Höhe 
hat, daß sie den Befallenen unfähig macht, zur Zeit der Tat 
die Strafbarkeit seiner Handlung einzusehen (Ira furor brevis 
est). | 
= Das kann doch nicht zweifelhaft sein, daß eine exzessive 
Höhe eines leidenschaftlichen Ausbruches, z. B. die plötzliche 
augenscheinliche Erkenntnis von der Untreue eines angebeteten 
Weibes, jemanden ebenso vorübergehend sinnlos machen kann, 
wie sinnlose Trunkenheit. Hat man es im letzteren Falle in- 
deß mit einer körperlichen Affektion zu tun, also damit, daß 
die im Alkohol vergifteten Organe dem Geiste nicht mehr ge- 
horchen können, so stellt das obige Beispiel die exzessive 
Eifersucht, wiederum einen rein geistigen Prozess dar. In 
beiden Fällen wird der Täter trotz der vorübergehenden Sinn- 
losigkeit — bei der Trunkenheit wenigstens ın England; selbst- 
verständlich, wenn sie nicht unverschuldet ist — als zur Zeit 
der Tat zurechnungsfähig erachtet werden müssen und zwar 
auf Grund der Erwägung, daß jemand im ruhigen, bezw. nüch- 
ternen Zustande sich von den Gesetzen der Moral völlig 
durchdringen lassen, so gefestigt sein muss, dass er auch in 
den Momenten der Leidenschaft, der Trunkenheit keinen Rechts- 
bruch begeht. 

Aus dem Vorgehenden ergibt sich, daß für diejenigen 
Störungen der Handlungen eines Menschen, die einer Störung 
des Geistes als Folge einer körperlichen Krankheit zuzuschreiben 
sind, der Arzt als der berufene Sachverständige zu gelten hat. 
Wo solche indeß nicht nachzuweisen sınd, wo die Erkrankung 

2 


= I: 


sich als eine rein geistige darstellt, kann es zweifelhaft sein, 
ob der Kriminalist oder Psychologe, der erfahrene Gefängnis- 
beamte, nicht besser imstande sind, den Zustand zu beurteilen, 
als ein Arzt. Für eine große Anzahl der Fälle wird allerdings 
der Psychiater der erfahrenste, in der geeignetsten Weise vor- 
zugehen fähige Sachverständige sein; und besonders dann, 
wenn er zugleich Erfahrungen über die Geistesverfassung der 
Rechtsbrecher hat, und die Psychologie, nicht die Pathologie, 
zur Grundlage macht für das, was er beurteilen soll: rein 
geistige Zustände, abnorme Seelenvorgänge. 


Zwei Klippen sind es vornehmlich, an denen der Sach- 
verständige Gefahr läuft, in seinem Gutachten anzustoßen. 
Die eine betrifft den Umstand, ob er sich über die Tragweite 
des Ausspruches „in der Regel“, „höchst selten“, „ausnahms- 
weise“ klar ist. Der Verteidiger kann ev. dann mit Recht ein- 
werfen: „Warum soll hier nicht eine Ausnahme, wenn auch 
eine noch so seltene, vorliegen können?“ Die zweite ist, daß 
er nicht im allgemeinen beantworten soll, ob der Täter gesund 
oder krank ist; sondern: Ist er in bestimmten Beziehungen für 
gesund zu erachten? für zurechnungsfähig? für straffähig? 
zeugnis-, vernehmungs-, letzwillig zu verfügen fähig? Wie 
oben erwähnt, kann bei einem Wahn, ja mehreren Wahnvor- 
stellungen, nur eine partielle Geistesstörung vorliegen. Wer 
kann überhaupt bestimmt wissen, ob jemand tief im Innern 
eine Wahnidee hegt? Wie schwer ist es, wie .oft vom 
Zufall abhängig, daß die Anstaltsärzte feststellen, daß ein zur 
Beobachtung Eingelieferter partiell verrückt ist? 


Und wo ist die Grenze zwischen eingewurzeltem Irrtum 
und Wahnidee, zwischen unverbesserlicher Kriminalität und 
moral insanity, zwischen Dummheit und Schwachsinn? In 
ersterer Beziehung, in Bezug auf Irrtum und Geistesstörung ist 
folgende Stelle in Kuno Fischer (Schopenhauers Leben, 
Werk und Lehre, 1898, S. 523) von Interesse: 


„Schopenhauer hat in seiner Lehre... .. den TENT 
des absoluten Egoismus ins Auge gefaßt. Wenn dieser Egoismus 
EE sich ..... praktisch gebärdet; wenn er (S. 271), 


der theoretische Egoismus, ernstlich wähnt, dass alle Objekte 


ausser dem eigenen Leben Phantome sind, so gehört er ins Irren- 
haus,“ 

Der Sachverständige hat in der Tat nur zu begutachten, 
ob der Rechtsbrecher imstande war, bez. der bestimmten Tat 
einzusehen, daß er sich straffähig gemacht hatte. Glaubt er 
von höheren Motiven aus die bestehenden Gesetze nicht be- 
achten zu dürfen, so ist wiederum die Frage, ob er ein 
Märtyrer oder ein Geisteskranker ist? ein echtes Genie oder 
ein Verrückter? Unter Geistesstörung zur Zeit der Tat ist 
die Leidenschaft in den höchsten Graden gewiß auch als vor- 
übergehende Störung des Geistes, als krankhafte, zu bezeichnen. 
Daß sie nicht exkulpiert*), liegt in vielen Fällen daran, daß 
auch in den modernen Staaten jenes erhabene Gebot des 
Dekalogs: „Du sollt dich nicht gelüsten lassen .. . .“, in den 
Strafgesetzen zu Grunde gelegt wird. Eine große Reihe von 
Leidenschaftsverbrechen würde unterblieben sein, wenn kein 
strafbares Begehren der Leidenschaft vorangegangen und dem- 
nach den Paroxysmus nicht hätte zur Entwickelung gelangen 
lassen; und so zeigt sich auch hier wieder, daß alle Fäden 
der Ethik, der Beziehungen des Menschen zu Gott und zu 
seinen Mitmenschen auf die ewigen Gesetze des Decalogs zu- 
rückzuführen sind. 

Drei in jüngster Zeit erfolgte Freisprechungen mögen hier 
Platz finden: 

I. Vor den Geschworenen von Rom stand vor einigen Tagen 
ein hübscher, junger Mann, ein Musikkorporal, Roberto Tommasini. 
Er war angeklagt, mit seiner Schwester ein sträfliches Liebesver- 
hältnis gepflogen und sie erschossen zu haben; die Schwester er- 
wiederte seine Neigung. Um ihrer Leidenschaft zu entfliehen, 
verlobte sich das junge Mädchen mit einem anderen Mann, wäh- 
rend er sich durch eine Geliebte zu trösten suchte. Vergebens 
war jedoch ihr Bemühen. - Da ihre Leidenschaft größer war als 
die kalte Überlegung, beschlossen sie, gemeinsam zu sterben. Ein 
sicherer Schuß machte dem Leben der Schwester ein Ende; der 
zweite Schuß drang in die Brust des Bruders, ohne ihn zu töten. 
Ein bei dem Verwundeten gefundener Zettel enthielt die Ver- 
sicherung, daß sie gern sterben. Tommasini leugnete übrigens 
intimere Beziehungen zu seiner Schwester als eine tiefe keusche 
Neigung. Bloß die Verleumdungen des Bräutigams seiner Schwester 


*) In Frankreich allerdings nicht selten. 
2% 


und anderer schlechter Menschen hätten sie in den Tod getrieben. 
Die Sachverständigen gaben ihr Urteil dahin ab, Tommasini wäre 
derartig von kranker Leidenschaft und Erregung besessen ge- 
wesen, daß seine strafgerichtliche Verantwortlichkeit in bedeutendem 
‚Maße vermindert erscheine. Dieser Ansicht schlossen sich die Ge- 
schworenen an, die auf Grund vollkommener Unzurechnungsfähig- 
keit im Moment der Tat den unglücklichen Bruder freisprachen. 
Tommasini wurde bloß wegen unbefugten Tragens einer Waffe zu 
'100 Tagen Arrest verurteilt, wobei ihm die Untersuchungshaft 
eingerechnet wurde, sodaß er sofort freigelassen wurde. Weinend 
fiel er seiner älteren Schwester in die Arme — und weinend ver- 
ließen beide die Stätte des Gerichts, (Bresl. Ztg.) 


II. Die Rache des betrogenen Ehemannes. Vor dem Kriegsge- 
richt zu Bukarest spielte sich der Schlußakt eines Dramas ab, das 
vor wenigen Wochen in Pitesi allgemeines Aufsehen erregt hatte. 
Dort lebte der Oberleutnant D. in anscheinend glücklicher Ehe 
mit der ihm erst seit wenigen Monden angetrauten jungen und. 
sehr hübschen Tochter eines Popen. Eines Tages bekam der 
Oberleutnant Kasernendienst, der ihn 24 Stunden von seiner Be- 
hausung fernhielt. Des Abends sandte er seinen Burschen mit 
einem Auftrage an seine Frau, die ihm sagen ließ, daß sie den 
Besuch des Doktors empfangen habe. Daril wurde durch diese 
‚Mitteilung beunruhigt. Einmal fürchtete er, daß seine Frau er- 
krankt sei, und dann hielt er es auch für möglich, daß unter dem 
. Doktor der Tierarzt gemeint sein könne, von dem er wußte, daß 
er seine Frau mit Liebesanträgen verfolgte. Er entschloß sich, 
heimlich Umschau in seinem Hause zu halten, und eilte aut Neben- 
wegen nach seiner Wohnung. Dort fand er die Türen verschlossen, 
und auf sein lautes Pochen und Rufen antwortete niemand. Da- 
‚gegen bemerkte er, daß im Salon das Licht ausgelöscht wurde, 
worauf er mit einem wuchtigen Fußtritt die Tür eintrat und in 
den Salon drang. Dort huschte seine Frau an ihm vorüber ins 
Freie, während ein Geräusch hinter dem Sofa verriet, dass sich 
dort jemand versteckte. Außer sich vor Wut eilte jetzt D. in 
das daneben befindliche Schlafgemach, ergriff seinen dort liegenden 
Revolver und feuerte in das Versteck. Es zeigte sich bald, daß 
er mit den Schüssen einen jungen Studenten, den früheren Ge- 
liebten seiner Frau, erschossen hatte, der an dem Tage zufällig 
auf Besuch nach Pitesti gekommen war, bei welcher Gelegenheit 
es ihm rasch gelungen war, das Herz der jungen Frau von neuem 
zu gewinnen. Das Kriegsgericht sprach unter dem Beifall des 
Publikums den Oberleutnant frei, da es annahm, daß dieser in 
einem Moment der Sinnesverwirrung gehandelt habe, ver- 
urteilte ihn aber wegen Verlassens seines Postens zu zwei Monaten 
Arrest. 


23,9 == 


' IH. Eine Familientragödie in Berlin: Die 38 Jahre alte Uhr- 
macherfrau Elisabeth H., geb. W. war angeklagt,. am 30. 
‚November v.. J. ihre 6 jährige Tochter Ekaterina vorsätz- 
lich, aber ohne Überlegung getötet und ihren 7 Jahre alten Sohn 
Meleti zu töten versucht zu haben. Die Angeklagte gibt in 
ruhiger, bestimmter Sprache folgendes Bild ihrer unglücklichen 
‚Ehe: Unsere im Jahre 1898 geschlossene Ehe war in den ersten 
drei Jahren‘ sehr glücklich. Dies hörte auf, als Frl, D, mit 
meinem Manne in, Beziehungen trat. Seitdem wurde mein Mann 
schlechter und brutaler gegen mich, 'entzweite sich in dem Ge- 
'schäfte, wo er arbeitete, mit aller Welt, gab schließlich seine 
schöne Stellung auf und blieb eine Zeit lang stellungslos,: etablierte 
sich dann als Uhrmacher, vernachlässigte aber sein Geschäft und 
‚wurde gegen mich gemeingefährlich roh. Da ich mir keinen an- 
deren Rat mehr wußte, suchte ich die Person, mit der er mich 
hinterging, in ihrer Wohnung auf. Auf meine -Bitten, doch yon 
meinem Mann abzulassen, .antwortete sie: „Es tut mir ja sehr 
leid, daß ich mich’ mit Ihrem Mann eingelassen habe; aber ich 
bin doch auch ein Mensch!“ Seit dieser Zeit wurde mein Leben 
unerträglich. Mein Mann spie mir ins Gesicht, beschimpfte mich 
in der gemeinsten Weise und schlug mich, daß ich oft aus Mund 
und Nase blutete.e. Auch mit Füßen hat er mich getreten, daß 
ich ohnmächtig wurde. Nach solchen Auftritten warf er mich 
aus der Wohnung, so daß ich häufig auf der Bodentreppe näch- 
tigen oder auf der Straße herumlaufen mußte. Schließlich tauchte 
in mir der Gedanke zu sterben auf. Meine Kinder, die ich über 
alles liebte, wollte ich doch nicht zurücklassen, auch gegen sie 
war mein Mann roh und herzlos. Am Schreckenstage vormittags 
zwischen 10 und 11 Uhr, kaufte ich in einer Drogerie für eine 
Mark Lysol, verteilte es in drei Gläser und sagte zu den Kindern: 
„Es ist Wein, wenn wir den trinken, dann werden wir den Himmel 
und die Engel sehen und vom Vater wegkommen!* Die Kinder 
glaubten mir unbedingt und konnten die Zeit nicht erwarten, bis 
sie trinken konnten. Endlich reichte ich ihnen den Trank und 
leerte mein Glas auch. Wir verloren alle drei das Bewußtsein. 
Erst im Krankenhause kam ich wieder zu mir, als man mir den 
Magen ausgepumpt hatte. Mein armes Mädchen habe ich infolge 
der Vergiftung durch den Tod verloren, der Knabe ist gerettet 
worden. Ich bitte die Herren, zu meiner Entschuldigung folgendes 
zu berücksichtigen: mein schweres Augenleiden, denn ich bin 
außerordentlich kurzsichtig, das auf meine Kinder vererbte Augen- 
leiden, meine trostlose Gegenwart, den Ausblick auf eine trostlose 
Zukunft und vor allen Dingen die ungerechte und brutale Be- 
handlung meines Ehemannes. Ich habe die Tat aus Verzweiflung 
und Mutterliebe verübt, denn meine Kinder waren mein ein und 
mein alles. Ich wollte sie vor einem so grausamen Schicksal be- 


wahren, wie es mir beschieden war. Weiter habe ich nichts zu 
sagen. — Es gelangte dann noch ein Brief zur Verlesung, den 
die Angeklagte kurz vor der Tat an ihren Mann geschrieben hat. 
Darin heißt es: „Hier hast Du meine Antwort auf Deinen gestrigen 
Schlag: den ich heute unternehme, wird .Dich :wohl besser treffen. 
Du selbst sollst jetzt leiden für alle. die bitteren Tränen, die ich 
um Dich geweint habe, für alle die Tausend Ungerechtigkeiten, 
die ich erlitten habe, und für die Mißhandlungen, die Du mir zu- 
gefügt hast. O, wie wird Dein Herz beben, wenn Du mit einem 
Male drei Leichen im Hause hast, Du Feigling! Deine Kinder, 
die Du niemals geliebt hast, und denen Du kein freundliches Wort 
gesagt hast, sind tot, ihr Blut komme auf Dich, da Du und die 
D. die Schuld trägst. Alles dies um ein loses, für Jeden 
erreichbares Frauenzimmer. Wir feiern jetzt bessere Weihnachten 
wie Du und Deine Geliebte. Elender Heuchler, ich hasse Dich 
bis in den Tod!“ — Die Beweisaufnahme bestätigte vollinhaltlich 
diese Leidensgeschichte; der Ehemann der Angeklagten und seine 
Geliebte D. machten von ihrem Zeugnisverweigerungsrechte 
Gebrauch. Trotzdem die Sachverständigen die Zurechnungsfähig- 
keit der Angeklagten bejaht hatten, verneinten die Geschworenen, 
indem sie offenbar den Ausführungen des Verteidigers folgten, 
daß die Tat in einem durch Verzweiflung herbeigeführten Moment 
der Bewußtseinstrübung begangen worden, sämtliche Schuldfragen, 
worauf das Gericht die so schwer geprüfte Gattin und Mutter 
freisprach. 





(reisenalter und Griminalität. 


— 2 


Dr. Johannes Bresler, 
Oberarzt an der Prov.-Heil- und Pflegeanstalt zu Lublinitz (Schlesien). 


Alle Rechte vorbehalten. 





Halle a. 8. 
Verlag von Carl Marhold 
1907. 


Juristisch-psychiatrische 


Grenziragen. 


Zwanglose Abhandlungen 


Herausgegeben von 


Prof. Dr. jur. A. Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B. 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lublinitz i. Schles. 


V. Band, Heft 2/3. 


In der Einleitung zur ersten Auflage seiner Psychopathia 
sexualis klagt der Altmeister der gerichtlichen Seelenkunde, 
v. Krafft-Ebing, dass es das traurige Vorrecht der Medicin 
und speciell der Psychiatrie sei, beständig die Kehrseite des 
Lebens, menschliche Schwäche und Armseligkeit, schauen zu 
müssen, aber er hofft, der Arzt möge darin seinen Trost finden, 
dass er auf krankhafte Bedingungen vielfach zurückzuführen 
vermag, was den ethischen und ästhetischen Sinn be- 
leıdigt, und dass er damit die Ehrenrettung der Menschheit 
vor dem Forum der Moral, des Einzelnen vor den Richtern und 
den Mitmenschen übernimmt. 

Diese „Ehrenrettung“ erscheint mir eine besonders dank- 
bare Aufgabe beim Greisenalter. Denn das Gefühl der 
Achtung vor einem greisen Haupte, von den meisten Sitten- 
gesetzen gefordert und selbst ohne Mitwirkung der Erziehung 
in Jedem von uns gesprossen, wird verletzt und wandelt sich 
leicht in Abscheu beim Anblick eines Greises, der am Lebens- 
abend sich auf die Bahn des Verbrechens verirrt und nach einem 
mühevollen und segensreichen Erdenwallen die letzten Tage im 
Zuchthaus fristet. Doppelt schwer wird ihm die Schuld be- 
messen. Denn er musste doch eine grosse Erfahrung, einen 
festen Charakter besitzen und Weisheit gilt ja als Vorzug des 
Alters und er hat das Ideal, das wir Alle erstreben, ein hohes 
ehrenvolles Alter, entehrt. Retten wir die Ehre eines solchen 
Greises, so schützen wir dieses Menschheitsideal. Wer wollte 
nach Gerechtigkeit rufen, in wem rührt sich nicht das Gefühl 
einer gewissen Erleichterung und Befriedigung, wenn er den 
Richter mildernde Umstände einem Greise auf der Anklagebank 
zubilligen oder seine Schuldlosigkeit aussprechen hört? Aber 
in das Mitleid mit dem Freigesprochenen mischt sich die Freude, 
die Menschheit als solche vor einer Schande bewahrt zu sehen. 

1* 


E 2 


Wenn im Nachstehenden versucht wird, aus den vielen, 
unbenutzt herumliegenden Bausteinen eine Grundlage für die 
Beurtheilung seniler Verbrecher zu fügen, so glaube ıch also 
nicht befürchten zu müssen, dass darin ein neuer Angriff auf 
Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit gesehen und dass der 
bekannte Vorwurf wiederholt wird, den die Psychopathologie 
öfter hört, wenn sie sich mit Objekten des Strafrechts be- 
schäftigt. 


Die „öffentliche Meinung‘ schwankt in dem Urtheil über 
Nutzen, Umfang und Tragweite psychiatrischer Thätigkeit vor 
Gericht hin und her. Heute klagt‘ sie, dass davon des Guten 
zu viel geschieht („Die Abwälzung strafbarer Personen auf die 
Irrenhäuser hat während des letzten Jahrzehnts einen auffallend 
grossen Umfang angenommen. Im Volksbewusstsein erregt die 
Art, wie sich vor den forensischen Schranken Justiz und medi- 
cinische Wissenschaft gegenüberstehen, längst Befremden. Auch 
an gesetzgeberischer Stelle beginnt’ man diesen Vorgängen er- 
höhte Aufmerksamkeit zuzuwenden‘“‘ — im Berliner Tageblatt vom 
16. Juli 1906); ein anderes Mal glaubt sie sich aufregen zu 
sollen, dass die Worte des Psychiaters unbeachtet im Gerichts- 
saal verhallten. Wenn nun bekannt würde, dass z. B. in Preussen 
jährlich reichlich über 300000 strafrechtliche Verurtheilungen, 
und jährlich etwa 300 Freisprechungen wegen Unzurechnungs- 
fähigkeit in Folge krankhafter Störung der Geistesthätigkeit 
auf Grund der Beobachtung in der Irrenanstalt ($ 81 St. P. O.) 
(nach der amtlichen Statistik in den Jahren 1904 und 1905 
zusammen 585) stattfinden, dass ferner die Gesammtzahl der in 
diesen beiden Jahren gemäss $ 81 St. P. O. den Irrenanstalten zur 
Beobachtung Ueberwiesenen 915, hiervon die Zahl der auf Grund 
des Ergebnisses dieser Beobachtung Freigesprochenen mithin 
noch nicht ?/, beträgt, so würde man wahrscheinlich diese Zahl 
sehr niedrig finden. — 


Ich will zunächst statistisch nachweisen, dass schon ausser- 
halb des Bereichs desPathologischen eineZunahme 
der Verbrechen, und zwar bestimmter Arten, im 
Greisenalter stattfindet. Alsdann soll das zusammen- 
gestellt werden, was über die leichteren, daher 


ir IB, ge 


schwer erkennbaren psychischen Abweichungen und 
Krankheiten der Greise bekannt ist. 

Eine monographische Bearbeitung dieses Themas existirte 
bis jetzt nicht. Die Criminalstatistik für das Deutsche Reich, 
welche sich sehr eingehend mit den jugendlichen Delinquenten 
befasst, widmet den greisen Verbrechern kein besonderes 


Studium. 





I. 


Ueber die Criminalistik des Greisenalters gewinnt man 
aus der „Criminalstatistik für das Deutsche Reich“ interessante 
Daten. Schon 1899*) habe ich in der Statistik für 1897 ge- 
funden, dass bei einer Art von Verbrechen, nämlich „Unzucht 
mit Gewalt an Bewusstlosen, Kindern, Nothzucht, Verleitung 
zum Beischlaf durch Täuschung,“ die Verurtheilungen im 
Greisenalter nicht in dem Maasse abnahmen, wie bei den ande- 
ren Deliktskategorien. Ich hatte nur diejenigen Delikte zum 
Vergleich herangezogen, wo im Ganzen mehr als 5 Greise ver- 
urtheilt worden waren, weil bei niedrigeren Zablen der Zufall 
eine zu grosse Rolle spielen könnte. Da ergab sich, dass die 
Zahl der Verurtheilten im Alter von 60 bis 70 Jahren zu der- 
jenigen der Verurtheilten im Alter von 70 und mehr Jahren 
bei den genannten sexuellen Delikten sich wie 2:1 verhält, 
bei den übrigen schwankte dieses Verhältniss von 4:1 bis 8:1. 
Bei „fahrlässiger Inbrandsetzung“ fand ich, dass sogar mehr 
Personen im Alter von 70 Jahren und darüber, nämlich 7, ver- 
urtheilt worden waren als in dem vorangehenden Altersdecennium, 
nämlich 6, und dass von jenen 7 Greisen 6 ohne Vorstrafen 
waren. Die von mir damals angestellte Berechnung der Pro- 
zentzahl der Nichtvorbestraften unter den Verurtheilten ergab 
ein Ansteigen dieser Zahl schon vom fünften Decennium an. 
Die nachfolgende Tabelle zeigt dies ausführlicher. 








*) Greisenalter und Verbrechen. Psych. Wochenschrift I. Jahrgang, 
1899.1, 8. 142. 





ee 


18 bis 21 bis 25 bis 
unter 21 | unter 25 | unter 30 
Jahre Jahre Jahre 


15 bis 
unter 18 
ahre 


unter 15 
Jahren 

















Verurtheilte über- 









































haupt 11678 | 25649 | 69982 | 56902 | 61923 
Verurtheilte ohne : 
Vorstrafen ° 10356 19716 51300 32600 31 207 
PEREAS, be en fee De mem aE 
| 88 % 76% 73% 57 % 50% 
30 bis 40 bis 50 bis 60 bis | 70 Jahre 
unter 40 | unter 50 | unter 60 | unter 70 und 
Jahre Jahre Jahre Jahre | darüber 
Verurtheilte über- 
haupt 84950 | 46020 | 21951 7198 1451 
Verurtbeilte ohne 
Vorstrafen 39062 22752 11718 4383 981 
| 46% 49% 53% 60% 67% 














Die nachstehenden beiden Tabellen ergeben auch für die 
folgenden Jahre ein ähnliches Resultat. Die Statistik für 1898 
: und 1900 war mir leider nicht zugänglich. 

Verhältniss der Gesammtzahl der Verurtheilten zur Zahl der 
verurtheilten Greise (beide Geschlechter). 




















1899 1901 1902 1903 
Gesammtzahl 478139 | 497 310 | 512329 | 505 353 
ohne Vorstrafen 282924 | 287963 | 293450 | 285549 
Greise 1952 | 1981 1984 | 1988 


ohne Vorstrafen | 1369 1375 1313 1325 





(I 


Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze überhaupt. 
(Criminalstatistik für das deutsche Reich.) 





EEE 15 bis 18 bis 21 bis 25 bis 30 bis 40 bis 50 bis 60 bis |70 Jahre 
Jahren unter 18 | unter 21 | unter 25 | unter 30 | unter 40 | unter 50 | unter 60 | unter 70 und 
h Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre darüber 
überhaupt 12902 | 26930 | 70382 | 62593 | 65887 | 86147 47502 | 21715 | 7418 1466 
Verurtheilte ohne | 
Vorstrafen 11345 20786 51183 35543 32493 38 656 22333 11226 | 4269 985 


Verurtheilte 1901 
überhaupt 13417 | 28152 | 68963 | 64620 | 71196 | 90756 | 49885 | 23157 | 7759 1513 


Verurtheilte ohne 
Vorstrafen 11902 21806 49294 | 35713 34 440 39911 22 370 11477 4353 


Verurtheilte | 1902 im 
überhaupt 14202 | 28506 | 69070 | 64588 | 75307 | 93507 | 52323 | 24149 | 7967 1499 


Verurtheilte ohne 
Vorstrafen 270 22276 49 386 35231 | 35536 40459 23 23035 | 11844 | 4398 11 844 4398 


Verurtheilte | | 1908 
| 
| 














_ 

















überhaupt 14264 | 27883 | 66079 | 62672 | 74985 | 93547 | 52016 | 23550 | 7844 | 15833 


Verurtheilte ohne | 
Vorstrafen 12802 21831 46890 33917 | 34774 39612 | 22231 11311 4263 








Was die relative Häufigkeit der Nichtvorbestraften im 


O — 


Greisenalter anlangt, so könnte sie auf den ersten Blick damit 
genügend erklärt scheinen, dass mit zunehmendem Alter die 
Feststellung der Vorstrafen schwieriger, die Verheimlichung 


leichter wird. Nun trifft dies aber gerade bei den Beamten 
nicht zu, deren Vorleben den Behörden doch hinreichend bekannt 


zu sein pflegt. Denn die Statistik giebt hierfür folgende Zahlen: 
Verbrechen und VergehenimAmte (männlich und weib- 


Gesammtzahl der Ver- 


urtheilten 
ohne Vorstrafen 


Zahl der Verurtheilten im 
Alter von 70 Jahren und 


darüber 
ohne Vorstrafen 


lich zusammen): 


1316 
1059 


8 
8 


1342 
1098 


7 
4 





1341 
1054 


er 


í 
7 


| 


| 1899 | 1901 | 1902 


| 





1908 


1250 


1005 


8 
7 


Verbrechen und Vergehen im Amte nach den ein- 
zelnen Lebensaltern (männlich und weiblich zusammen). 





Unter 15 Jahre alt 


15 
18 
21 
25 
30 
4) 
50 
60 


ohne Vorstrafen 


bıs unter 18 Jahre 


ohne Vorstraten 


bis unter 21 Jahre 


ohne Vorstrafen 


bis unter 25 Jahre 


ohne Vorstrafen 


bis unter 30 Jahre 


ohne Vorstrafen 


bis unter 40 Jahre 


ohne Vorstraten 


bis unter 50 Jahre 


ohne Vorstrafen 


bis unter 60 Jahre 


ohne Vorstrafen 
bis unter 70 Jahre 


ohne Vorstrafen 


70 Jahre und darüber 


ohne Vorstrafen 


alt 
alt 
alt 
alt 
alt 
alt 
alt 


alt 


rldaae alt  -_ I ı rt I 2 
| 


1.1899 | 1901 | 1902 WEHREN EB RE ER 1901 
s i 
18 22 
17 21 
102 99 
94 90 
161 152 
142 140 
224 240 
182 193 
377 406 
293 320 
243 233 
182 184 
142 126 
109 96 
41 56 
32 44 
8 7 
8 4 


1902 


z 
58 


166 
143 
260 
202 
413 
323 
217 
159 
134 
104 
57 
43 


7 
7 


_1903 | 
| 
| 
| 


1903 


2 
2 


13 
81 
78 
141 
127 
266 
225 
340 
264 
221 
165 
125 
87 
52 
37 
8 


- 


‘ 


— 10 => 


Man kann also in Anbetracht dieses Verhältnisses der Vor- 
strafen nicht behaupten, dass die verbrecherischen Neig- 
ungen im Alter zunehmen oder dass die verbrecherischen 
Greise Gewohnheitsverbrecher von langer Lebensdauer sind. 


Verhältniss der Gesammtzahl der Verurtheilten zu 
derjenigen der Greise bei einzelnen Verbrechens- 
arten. 

Unzucht mit Gewalt, an Bewusstlosen u. s. w., an Kindern, 
Nothzucht; Verleitung zum Beischlaf durch Täuschung. (Nur 
männliche.) 





——, — 


| 1899 | 1901 | 1902 | 1903 


Gesammtzahl 4557 5107 5067 5375 
ohne Vorstrafen 2677 2959 2817 3023 
Greise 79 93 90 76 
ohne Vorstrafen 58 64 60 51 


Die verhältnissmässig geringe Abnahme dieses Deliktes im 
Greisenalter zeigen folgende Ziffern: 








Verurtheilte 
im Alter von 50 | im Alter von 60 | im Alter von 70 
bis unter 60 bis unter 70 Jahren und darüber 
Jahren Jahren | 
1899 365 185 19 
ohne Vor- 
strafen 164 104 58 
1901 439 o To ær 93 
ohne Vor- 
strafen 208 143 64 
1902 | 1902 | 430 |€ 228 90 
ohne Vor- 
strafen 199 sin OOO a 117 60 
1903 462 297 | 76 
ohne Vor- 
strafen 211 159 | 51 





EEE i vo 


Zur Würdigung dieser Zahlen seien beispielsweise die ent- 
sprechenden Ziffern bei einfachem Diebstahl mitgetheilt (nur 








männlich). 
Verurtheilte 
im Alter von 50 | im Alter von 60 | , 
bis unter 60 bis unter 70 Fe Alter von 70 
Jahren ` Jahren | ahren und darüber 
1899 Æ 2207 Ei 815 TES 
ohne Vor- 
strafen 1040 455 107 
1901 2504 916 em 173 
ohne Vor- 
strafen 475 BE Zn En 105 
= 1902 | 2454 921 199 
ohne Vor- 
strafen s a a E 448 124 
EEE | 21u | s39 © æ 
ohne Vor- 
strafen 1021 115 





Desgleichen bei Beleidigung (nur männlich). 





1899 4531 1625 352 
ohne Vor- 

strafen 2956 1158 265 

1901 u 4510 1599 325 
ohne Vor- 

strafen 2788 1098 258 

1902 < 4798 1730 332 
ohne Vor- 

strafen 3016 1215 241 

1903 4737 1648 358 
ohne Vor- 

strafen 1141 280 





Das Missverhältniss wird klar, wenn man gegenüberstellt, 
dass im Greisenalter für „Unzucht etc.“ die natürliche Ursache 
als vermindert gelten müsste, dagegen bei Diebstahl die ver- 


— 12 — 


ringerte Erwerbsfähigkeit, bei Beleidigung das gesteigerte Selbst- 
bewusstsein des Alters, das Gefühl den Anderen an Erfahrung 
überlegen zu sein und auf einen gewissen Respekt Anspruch 
zu haben, die Entstehung des Delikts begünstigen kann. 


Fahrlässige Inbrandsetzung. 








Gesammtzahl 695 656 461 636 


ohne Vorstrafen 560 519 350 497 
Greise 6 $ 7 10 
obne Vorstrafen 5 6 5 8 


weibliche 


Gesammtzahl 


‘männliche 
131 188 136 188 
| 


ohne Vorstrafen 121 176 120 171 
Greisinnen 3 10 3 6 
ohne Vorstrafen 2 9 3 4 


Im Jahre 1901 wurden 9 Frauen im Alter von 50 bis unter 
60 Jahren, 6 Frauen im Alter von 60 bis unter 70 Jahren, dagegen 
10 Frauen im Alter von 70 Jahren und darüber wegen fahr- 
lässiger Inbrandsetzung verurtheilt; im Jahre 1903 betrug dieZahl 
der im Alter von 60 bis unter 70 Jahren verurtheilten Frauen 
7, die Zahl der im Alter von 70 und mehr Jahren Verurtheilten 6. 


Bei denjenigen Delikten, welche im Greisenalter mit den 
höchsten. absoluten Ziffern vertreten sind, — gefährliche Körper- 
verletzung, einfacher Diebstahl, Beleidigung — ist das Ver- 
hältniss der Greisenziffer zur Gesammtziffer dennoch ein kleines. 


(Nur Männer). 





‘0 Jahre und darüber | Gesamnitzalıl 





Gefährliche Körperverletzung. 


1899 183 | 87 719 
1901 209 | 90 881 


1902 198 90 200 
1903 200 88 926 


= I. 





70 Jahre und darüber Gesammtzahl 
Beleidigung 
1899 352 40811 
1901 325 41 275 
1902 332 42 884 
1908 | 358 42 525 
Einfacher Diebstahl 
1899 162 (815) 50 135 
1901 173 (916) 54791 
1902 199 (921) 55 785 
1903 203 (879) 53827 


Auffallend ist hier die Zunahme der verurtheilten Greise 
nach dem Jahre 1903 hin. Die in Klammern daneben gesetzten 
Ziffern der Verurtheilten im Alter von 60 bıs unter 70 Jahren 
lehren ebenso wie die der Gesammtzahl der Verurtheilten, 
dass diese Zunahme nur das Greisenalter betrifft. 


Bemerkenswerth ist, dass 1903 bei der Rubrik: Ungesetz- 
liche Trauung durch den Geistlichen und vorschrifts- 
widrige Eheschliessung die Zahl der Verurtheilten im 
7. Jahrzehnt noch einmal wieder zunimmt, in dem sonst ein 
zum Theil steiler Abfall der Verurtheiltenzahl stattfindet; das 
Gleiche trifft man bei: Andere Verbrechen und Vergehen 
in Bezug auf ein Concursverfahren, während bei: Verbrechen 
und Vergehen in Beziehung auf den Personenstand das 6. und 
T. Jahrzehnt dieselben Ziffern aufweisen. 1901 stehen diese 
Jahrzehnte bei der Rubrik Ungesetzliche Trauung etc. 
gleich. Bei ihr ist in allen Jahrgängen das Verhältniss der 
verurtheilten Greise zur Gesammtzahl der Verurtheilten das 
grösste, das überhaupt in dieser Hinsicht die Statistik bietet, 
nämlich 








| 1899 | 1901 | 1902 | 1903 


Zahl der verurtheilten Greise 3 4 7 3 
ohne Vorstrafen 3 4 6 3 
Gesammtzahl 82 84 139 84 











== HdR 


Zuwiderhandlungen in Bezug auf Concessionspflicht 

usw., gegen behördliche Anordnungen betreffs der 

Sicherheitsvorrichtungen bei gewerblichen An- 
lagen. 


1899 


m. | w. 


1901 1902 | 1903 


m. | w. m. | w. m. | w. 








Gesammtzahl 781212685/7912|281919115[3228'978213417 








ohne Vorstrafen 4950 | 1947 | 5072 | 1998 | 5848 | 2291 | 6282 | 2397 
Unter 15 Jahre alt 9 |110; 6) 6 |10] 9 |11 | 14 
ohne Vorstrafen 8 10 5 6 8 9 9 13 
15bisunter18Jahrealt | 38 | 50 | 25 | 39 | 37 | 45 | 36 | 28 
ohne Vorstrafen . 31 | 43 | 24 | 39 | 36 | 39 | 30 28 
18 bisunter21 Jahrealt | 76 | 66 | 57 | 51 | 76 | 74 | 67 | 70 
ohne Vorstrafen 5S | 58 | 47 | 47 | 63 | 68 | 56 56 
21 bis unter25Jahrealt | 323 | 150 | 356 | 159 | 372 | 203 | 379 | 177 
ohne Vorstrafen 254 | 123 | 278 | 138 | 292 | 163 | 310 | 133 
25 bis unter 30 Jahre alt |1172] 304 |1128! 370 11325| 425 |1433! 454 
uhne Vorstrafen 833 | 238 | 857 | 293 | 939 | 321 | 1005 | 333 
30 bis unter 40 Jahrealt [2947| 876 2955| 895 |3350|1014|3532)1084 
ohne Vorstrafen 1835 | 620 | 1836 | 621 |2119| 710 | 2254 | 779 
40bıs unter 50 Jahre alt |1984! 694 |1918| 734 |2341| 831 |2550| 852 
ohne Vorstrafen 1167 | 495 | 1111| 480 | 1379| 562 | 1532| 559 
50 bis unter 60Jahrealt | 914 | 372 | 933 | 374 |1174| 434 11302| 484 
ohne Vorstrafen 551 | 249 | 563 | 250 | 742 | 285 | 798 | 310 
60bisunter 70 Jahre alt | 287 | 119 | 332 | 143 | 374 | 153 | 386 | 201 
ohne Vorstrafen 172 | 78 | 225 | 89 | 231 | 103 | 2% | 140 
70 und mehr Jahre alt | 55 | 40 | 67 | 44 ; 52 | 39 | 69 | 50 
ohne Vorstrafen 35 | 29 | 43 | 32 | 35 | 30 | 46 | 43 


Man ersieht aus dieser Tabelle unschwer die relativ hohe 
Zahl verurtheilter Greisinnen im Alter von 70 und mehr Jahren. 


Die Thatsache der relativen Häufigkeit nicht vorbestrafter 
Delinquenten im Greisenalter bleibt also in ihrer Eigenthüm- 
lichkeit und in ihrer Bedeutung für die Criminalistik des 
letzteren bestehen, desgleichen die relative Häufigkeit gewisser 
Verbrechensarten im Greisenalter. Wie sollte man das Letztere 
anders erklären wollen als mit dem specifischen Einfluss des 
Alters selbst? Diese naheliegende Annahme findet ihre Stütze, 


=. To ze 


wenn es einer solchen bedürfte, in dem Umstande, dass manche 
Strafgesetze Altersschwäche als schuldbefreien des Moment 
namentlich anführen und gesondert neben Geisteskrankheit. 


Im oldenburgischen Strafgesetzbuche von 1814 sind „ent- 
schuldigt gegen alle Strafe“ ..... „4. Personen, welche durch 
hohen Alters, Schwäche ihren Verstandesgebrauch verloren 
haben“ ...... Wörtlich ebenso drückt sich das bayerische 
(1813) und das hannoverische Strafgesetzbuch (1840) aus, nur 
heisst es im letzteren „gänzlich verloren“ .... und „durch 
hohe Altersschwäche“. Auch ist hier bezüglich der straf- 
mildernden. Umstände des Alters eine bestimmte Jahresgrenze 
gesetzt: III. Milderung der gesetzlichen Strafe. Art. 102: 
„Hohes Alter wirkt nur nach zurückgelegtem sechzigstenJahre 
insofern eine Milderung, dass der zur Kettenstrafe oder zum 
Zuchthause Verurtheilte unbedingt mit den schweren Arbeiten 
verschont wird, wie er denn auch derselben zu entheben ist, 
sobald er während der Strafzeit das sechzigste Jahr über- 
schreitet.“ 


Als strafbefreiendes Moment ist die Altersschwäche 
ausdrücklich auch im finnländischen (1889) und im schwedischen 
(1864) Strafgesetzbuch angeführt. Im ersteren lautet der be- 
treffende Paragraph: „Eine strafbare Handlung ist nicht vor- 
handen, wenn sie von einem Geisteskranken begangen ist oder 
von einem, der zufolge Altersschwäche oder anderer ähnlicher 
Ursache den Gebrauch des Verstandes verloren hat“. Im 
schwedischen: „Die Handlungen Wahnsinniger und Solcher, 
welche des Gebrauchs des Verstandes infolge Krankheit oder 
Altersschwäche beraubt sind.“ In letzterem wird auch unter 
den Strafmilderungsgründen besonders genannt: „Wer 
bei Begehung eines Verbrechens infolge körperlicher oder Geistes- 
krankheit oder durch Altersschwäche oder andere unverschuldete 
Verwirrung des völligen Gebrauches der Vernunft beraubt war, 
wird milder bestraft, wenn er nicht als straflos anzusehen ist.‘ 


Die Zurechnungsfähigkeit ist nach dem Alter hin an 
keine Jahresgrenze gebunden etwa wie es eine solche in anderen 
rechtlichen Beziehungen gab und giebt. Im alten Rom waren 
Personen, welche das 70. Jahr überschritten hatten, 


sr O 


von der Ausübung öffentlicher Aemter und der Pflicht 
Zeugenschaft zu leisten, befreit.*) Bei uns darf das 
Schöffen- und Geschworenenamt mit dem 65. Lebensjahre ab- 
gelehnt werden; bei unbesoldeten Stellen in der Gemeindever- 
waltung tritt das Recht der Ablehnung und Niederlegung mit - 
dem 60. Jahr ein und Personen über 60 Jahre brauchen keine 
Vormundschaft zu übernehmen. B. G. B. 1786. 


In manchen Ländern bestehen für gewisse Aemter, speciell 
militärische Stellen, obere Altersgrenzen, bei denen das Amt 
niedergelegt werden muss. (Anders die Gerusia und dgl.) 


Solche Einrichtungen sind natürlich nicht maassgebend für die 
Frage der Zurechnungsfähigkeit bei Greisen; denn ist es schon 
strittig, an welches Jahr allgemein und begriffsweiseder Beginn des 
Greisenalters zu legen sei,soherrscht bei den einzelnen Individuen 
noch viel grössere Verschiedenheit hinsichtlich des Eintritts der 
degenerativen Alterserscheinungen;; es giebt bekanntlich rüstige 
Greise von 80 bis 90 Jahren und dekrepide Greise mit 60 Jahren. 
Ich bin deshalb auch weit davon entfernt, hier etwa psychia- 
trische Vorschläge zur Strafrechtsreform anzubringen. Diese 
könnten nur von der Annahme ausgehen, dass viele verurtheilte, 
namentlich nichtvorbestrafte Greise zur Zeit der That schen 
geistesschwach oder wenigstens im Beginn des Alterblödsinns 
waren. Aber zu einer solchen Behauptung könnte nur der 
positive Ausfall einer epikritischen Verfolgung der einzelnen 
Fälle selbst das Recht geben. Die Nothwendigkeit genauer 
Prüfung des Geisteszustandes bei erstmalig zur Verurtheilung ge- 
langenden Greisen ergiebt sich jedenfalls aus obigen statistischen 
Daten sehr deutlich und dürfte mit der Anerkennung des speci- 
fischen Einflusses des Greisenalters auf die relative Häufigkeit 
gewisser Verbrechen eo ipso zugestanden sein. — 


Die alte römische Bestimmung bezüglich der Zeugenschaft 
der Greise erscheint wohl der Wiedergeburt in zeitgemässer 
Form werth, wenn Gross**) sagt: 


*) A. Thibaut, Ueber die Senectus. Archiv für civilistische Praxis. 
VIII, S. 74. 1825. 

**) H. Gross, Die Erforschung des Sachverhaltes strafbarer Handlungen. 
II. Auflage. München. 1902. Seite 12, Kapitel: „Von den Zeugen“. 


eu 17 ze 


„Im Greisenalter kommen beide Geschlechter wieder zu- 
sammen, wie sie in der Kindheit waren. Sie beobachten und 
besprechen die Dinge meistens nach dem Loose, welches ihnen 
im Leben zu theil geworden ist, häufig aber weiter hinaus- 
gehend, als es den Thatsachen entspricht: verbittert oder ver- 
söhnend. Nicht zu vergessen ist bei diesen Leuten, dass sie 
fremden Einflüssen fast ebenso zugänglich sind wie die Kinder“. 


Ueber die Psychologie des Greisenalters ist nicht viel 
Wissenschaftliches geschrieben. Cicero’s Dialog „de senectute“ 
und Jakob Grimm’s Rede „über das Alter“ (1860) sind mehr 
Lobpreisungen des Lebensabends als psychologische Unter- 
suchungen der Greisenseele.e Auch die medicinischen Psycho- 
logien, z. B. diejenige Lotze’s lassen hier im Stich. W. Wundt 
berührt in der neuesten Auflage seiner „physiologischen Psycho- 
logie“ das Greisenalter nicht, ebensowenig Ziehen in seinem 
gleichnamigen Werke, Spamer und Andere. 

Ueber die körperlichen, normalen und pathologischen 
Erscheinungen des Greisenalters existiren mehrere Werke. 
Eine Berücksichtigung der Altersveränderungen einzelner Organe, 
des Bluts, der Athmung, Haut, Muskeln, Knochen, Drüsen, 
Sinneswerkzeuge etc. kann aber hier natürlich nicht statthaben. 
Wer sich darüber genauer zu informiren wünscht, dem em- 
pfehle ich das Buch von F. Friedmann, die Altersveränder- 
ungen und ihre Behandlung‘, Berlin und Wien, 1902; über die 
Psychologie und die Geisteskrankheiten des höheren Alters ist hier 
aber sehr wenig, Forensisches nur andeutungsweise zu finden. 

Eine recht annehmbare Auffassung und Darstellung der 
psychischen Altersveränderungen finde ich bei J. E. Erdm an n*). 
Er schreibt: „Im vierten Lebensalter liessen sich wieder zwei 
neunjährige Perioden unterscheiden, deren erste vom vier- 
undfünfzigsten bis dreiundsechszigsten Jahre die des alten 
Mannes, die folgende die des Greisenalters genannt werden 
könnte, welcher letzte Name bekanntlich zur Bezeichnung beider 
zusammen dient. (Beim Weibe reicht das vierte Lebens- 
alter vom fünfundvierzigsten bis sechzigsten Jahre). Schon in 


*) J. E. Erdmann, Psychologische Briefe. II. Auflage. Leipzig 
1856. S. 70. 


> 19 = 


leiblicher Hinsicht wird dies Lebensalter falsch beurtheilt, wenn 
man in demselben nur Abnahme der Lebensthätigkeit sieht, an- 
statt dass man vielmehr die veränderte Richtung desselben 
hervorheben müsste. (Auch das Mannesalter könnte sonst, wenn 
man sich auf den Standpunkt des Jünglings stellt, als Decadenz 
bezeichnet werden.) In einer abstrakten, aber wichtigen Formel 
ist diese Eigenthümlichkeit des vierten Lebensalters als ein 
Zurücktreten desperipherischen Lebens gegen das 
centrale bezeichnet. Daher verschwinden die schützenden 
Bedeckungen gegen die Aussenwelt, die Organe, mit welchen 
sie percipirt wird, werden schwächer, die Zähne, die Waffen 
gegen die Aussenwelt, brauchen sich ab oder fallen aus, die- 
jenigen Muskeln, welche zum Angriff dienen, die Streck- 
muskeln, werden schwächer, die körperliche Masse nimmt ab, 
der Mensch wird magerer und durch mindergerade Haltung 
kleiner, der Schlaf wird wieder länger, alles Veränderungen, . 
welche der Entwicklung vom Kindesalter zur Jugend hin dia- 
metral entgegengesetzt sind. Das innere Leben des Geistes 
entspricht ganz dem, was jene Veränderungen andeuteten. Ein 
Band nach dem anderen, welches ihn an die Aussenwelt fesselte, 
zerreisst, die Freunde sterben, der Altersgenossen werden immer 
weniger, die Kinder haben ihren eigenen Hausstand und lassen 
sich nur selten sehen; einsam mit der vieljährigen Gefährtin, 
wenn sie ihm blieb, sitzt er daheim. Was er von der Welt 
erfährt, afficırt ihn nicht sehr, sein langes Leben hat ihm be- 
reits sehr Aehnliches gezeigt und ihn überrascht Nichts. Er 
theilt nicht die Befürchtungen und nicht die Hoffnungen der 
jüngeren Generation, denn er hat es erfahren, dass jene zu 
schwarz malen und diese betrügen. Er, der ein strenger Vater 
war, nimmt den Enkel in Schutz gegen den eigenen Sohn, 
weil er es erfahren hat, dass Unarten noch nicht den künftigen 
Verbrecher ankündigen; er schüttelt schlau den Kopf, wenn 
von irgend einer politischen Begebenheit seine Umgebung eine 
Umgestaltung der ganzen Welt hofft, er hat es gesehen, dass 
die Menschen zu allen Zeiten dieselben bleiben. Dies pflegen 
nun die Andern Stumpfheit des Geistes zu nennen. Das ist 
sie gar nicht; das eigentliche Resultat des Erlebten, das, wozu 
jede Empfindung und jedes Erlebniss dienen sollte, die allge- 


Dk 
nd 


— 2) — 


meinen Gesetze, die hält er fest und spricht sie, moralisirend 
und in goldnen Sprüchen redend, gern aus. Er schwelgt in 
den Schätzen des eignen Innern, die er sammelte. Darum kann 
man sagen, dass sich in diesem Alter gewissermaassen das me- 
lancholische Temperament wiederhole. Weil die Thätigkeit des 
Gesetzgebers und des Philosophen diese Analogie darbieten, 
dass jener die allgemeinen Resultate zieht aus dem, was all- 
mählich sittliche Gewohnheit ward, dieser sich über das besinnt, 
was seine Zeit als anerkannte Norm des Seins und Handelns 
fühlt, deswegen kann man sich den Minos nur als Greis 
denken, deshalb haben ein Plato, ein Reid, ein Kant ge- 
rade in ihrem Greisenalter die herrlichsten Schätze ihres Innern 
der Welt offenbaren können. Die Leidenschaften schweigen und 
darum ruht die nach Aussen gerichtete Thatkraft, aber die 
Weisheit ist nicht minder ein Beweis vom Leben als jene und 
sie ist es die dem Greise ziemt, dem nichts schlechter steht, 
als Mangel an Würde. Senile Geckenhaftigkeit ist der ent- 
setzlichste Anblick, den es giebt. Je mehr das Allgemeine den 
Sieg gewinnt über die einzelnen Eindrücke, um so weniger 
wird Werth gelegt auf die einzelnen Dinge, desto ruhiger der 
Tod erwartet, der bei den Meisten am Ende des vierten Lebens- 
alters eintritt. Ich sage mit Absicht bei den Meisten, denn 
worauf schon der Umstand, dass das vierte Lebensjahr eine 
gleichsam rückläufige Bewegung zur Kindheit hin zeigt, worauf 
dieser zu weisen scheint: dass nämlich das Ziel dieser Be- 
wegung eine zweite Kindheit sei, dies bestätigt auch die Er- 
fahrung, freilich nur an Wenigen, die wir Glückliche nennen 
und mit Recht, wenn wir dabei nur nicht vergessen, dass der 
Ausspruch: „Glück ist Verdienst“ ebenso richtig ist, wie der 
andere, dessen Umschreibung er enthält: „Jeder ist seines 
Glückes Schmied“. Ich denke, Sie werden mir nicht die Para- 
doxie zumuthen, dass ich den Zustand, wo ein alter Mann 
kindisch wird, als das normale Ziel des Lebens ansehe. Nein, 
ich spreche von den sehr seltenen Fällen, wo ein Mensch das 
fünfte Lebensalter erreicht, das in der That in demselben 
Sinne eine zweite Kindheit genannt werden kann, wie in der 
Heiligen Schrift davon gesprochen wird, dass wir wieder werden 
sollen wie die Kinder, oder von dem von Neuem geboren 


ee Di uas 


werden. Lassen Sie mich dieses Alter das des - Jubelgreises 
nennen, in der That jubelt über ihn die Natur, wie bei seinem 
Anblick unser Herz. Es wiederholt sich, wo ein Mensch dies 
Ziel erreicht, jene heitere Freude an allem Dasein, die das 
Kindesalter charakterisirte, diese Lust an Allem, diese uner- 
schütterliche Zufriedenheit, die für Alles sich interessirt, weil 
Alles, was erfahren wird, Genuss giebt. Dieser Hunger nach 
Wissen, der nie gesättigt wird und doch nie quält, weil die 
wieder erworbenen Kinderaugen stets Neues und Schönes sehen 
und freudig harrend den kommenden Dingen ins Antlitz schauen. 
In diesem Alter schreibt ein Humboldt seinen Kosmos, dichtet 
ein Göthe seinen Divan, ergeht er sich nachher wie ein Kind 
in der Welt der Kinder, in der Welt phantastischer Märchen 
und schliesst es, indem er einen Chor erlösender Geister singt. 
Schon im Alterthum gab es Einen, der auch in dieser Be- 
ziehung der Göthe desselben genannt werden kann. Fast neun- 
zigjährig verfasste Sophokles das Stück, in welchem wir 
uns wundern könnten, so christlich klingende Töne der Versöhn- 
ung zu vernehmen, wenn wir ihren Sänger nicht eingegangen 
wüssten in das Alter des seligen Jubelgreises. An der Schwelle 
dieses Alters stand Kant, als er jenen heiter klaren „Streit 
der Facultäten“ schrieb, und Plato hatte sie vielleicht über- 
schritten, als er sein reifstes Werk vollendete. An dieses 
Alter streifte Haydn heran, als er seine Jahreszeiten kom- 
ponirte, und er war im schönsten Sinne Kind geworden, als er, 
getödtet von der reinsten Lust, Gottes Stimme in seinem Werke 
zu hören, starb. Dies Alter erreichte und durchlebte voll- 
ständig der, dessen Pinsel an unbefangener heiterer Darstellung 
Keiner übertraf, Tizian. Auf diese zwei Mal Geborenen 
blicken Sie, wenn ich als das Ziel des Menschen die zweite 
Kindheit bezeichne, und vergessen Sie die entsetzlichen Kari- 
katuren, die unsere verkümmerte Zeit in den, vor Ablauf sogar 
des vierten Lebensalters kindisch Gewordenen so häufig uns 
darbietet. Wie die Pflanze erst dann ihre Evolution vollendet 
hat, wenn ihr Leben sich wieder in den Involutionszustand 
-des Samenkornes zurückgezogen hat, so soll der. Mensch nor- 


7 maler Weise zur zweiten Kindheit gelangen, zu welcher das 


Greisenalter der Weg ist, ....... “ — Man habe das Greisen- 


— 292 — 


alter einerseits wie Marasmus und Blödsinn geschildert, anderer- 
seits als das eigentliche Ideal des Menschenalters dargestellt; 
beides sei falsch. „Jedes Lebensalter ist das schönste, wo es 
seiner Idee entspricht, jedes schrecklich, wo es seinen Beruf 
verfehlte, das ungeborsame Kind, der träge Jüngling, der un- 
zuverlässige Mann, der greise Geck, der mürrische Jubelgreis 


Unsere Kenntnisse von den durch das Greisenalter be- 
dingten geistigen Veränderungen stammen also bislang aus der 
Erfahrung und Beobachtung des täglichen Lebens, aus der em- 
pirischen Psychologie. „Der Mensch mit alterndem Gehirn wird 
bedachtsamer in Ansichten und Urtheilen; sein geistiges Assi- 
milationsvermögen ist nicht mehr so gross, die Phantasie hat nicht 
mehr die Wärme und Frische der jungen Jahre, das Denken 
erfolgt langsamer, dasGedächtnissnimmt ab, derIdeenkreis wird ein 
eingeschränkter, der Wille ist nicht mehr so fest, vielmehr 
leichter bestimmbar.“ (v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psy- 
chiatrie, VII. Auflage, 1903, Seite 619.) So etwa äussern sich 
die meisten ärztlichen Schriftsteller. 


Experimentell-psychologisch ist dieser Gegenstand 
meines Wissens erst einmal in Angriff genommen worden und 
und zwar von P. Ranschburg und R. Bálint *). Als Ver- 
suchspersonen dienten 12 Männer im Alter von 61—80 Jahren, 
die sich körperlich gesund und rüstig zeigten und in geistiger 
Hinsicht keinerlei bemerkbare Symptome einer Demenz boten, 
zu den Kontrollpersonen 10 männliche Individuen im Alter von 
20—39 Jahren. Mittelst der hier nicht näher aufzuführenden 
psychophysischen Apparate und unter Beachtung der erforder- 
lichen und üblichen Vorsichtsmaassregeln wurden untersucht: 
einfache und zusammengesetzte Reactionsvorgänge auf akustische 
sowie — insofern durchführbar — auf optische Reize, ferner 
verschiedene Arten der Ideenassociation und zwar elementare Ur- 


*) Dr. P. Ranschburg und Dr. R. Bálint, über quantitative und quali- 
tative Veränderungen geistiger Vorgänge im hohen Greisenalter. Experimen- 
telle Untersuchungen aus dem psychophysiologischen Laboratorium an der 
Kgl. Universitätsklinik für Psychiatrie in Budapest. Allgemeine Zeitschrift 
für Psychiatrie, Bd. 57, S. 689. | 


— 283 — 


theilsreactionen, Additionsreactionen und freie Ideenassociationen. 
Die Zahl der Versuche belief. sich auf ca. 5000. Es ergab sich 
Folgendes: Die einfache Reactionszeit für Hörreize — sowohl 
bei muskulärer als auch sensorischer Reactionsform — erscheint 
bei Greisen um 13% länger als bei Personen im beginnenden 
Mannesalter. Die Dauer der einfachen Wahlreactionen der 
Greise ist um 32,3% , d. h um ungefähr eine Drittel ihrer 
Zeitdauer länger als diejenige der jugendlichen Versuchsper- 
sonen. Der Vorgang der Unterscheidung und einfachen Wahl 
ist bei den Greisen um 44% länger als die Dauer dieses Vor- 
ganges bei jugendlichen Personen. Bei den optischen Wort- 
reactionen betrug das Plus an Reactionszeit 18% zu Ungunsten 
der Greise. Es liess sich hier jedoch nicht berechnen, wieviel 
hierbei auf Altersveränderungen des peripheren Sehorgans, wie- 
viel auf die Verminderung der centralen Funktion entfällt. Die 
Additionsreactionen der Greise sind um 13,3 % länger alsdiejenigen 
der Kontrollpersonen:: die durchschnittliche F'ehlerzahl betrug bei 
ersteren 5,7%, bei letzteren 6,8%, ist also bei den Greisen 
niedriger. Die reine Additionszeit — d. h. nach Abzug der 
Werthe für die Wortreactionen — ist jedoch bei beiden Gruppen 
ziemlich dieselbe; die Addition einstelliger Zahlen scheint da- 
her infolge ihrer ausserordentlichen Eingeübtheit auch im späten 
Greisenalter keine merkliche Einbusse an Schnelligkeit zu er- 
leiden. Die Dauer der Urtheilsreactionen (elementare Urtheile, 
mehrdeutig bestimmte Associationen) ist bei den Greisen um 
17,3% länger als bei den Kontrollpersonen. Dabei sind die 
Urtheilsreactionen auch qualitativ minderwerthig, insofern sie 
ein mehr als doppelt so grosses Fehlerprocent als bei den 
Kontrollpersonen aufweisen. Die reine psychologische Zeitdauer 
elementarer Urtheilsfunktionen (d. i. nach Abzug der einsilbigen 
Wortreactionen) ist bei Greisen um 18,6% länger. Die Reac- 
tionsdauer der freien Ideenassociation ist bei den Greisen um 
40,3% länger als diejenige der jugendlichen Versuchsper- 
sonen, die reine Zeitdauer der freien Association (d. i. wiederum 
nach Abzug der Reactionszeit der einsilbigen Wortlesereactionen), 
ist um mehr als die Hälfte länger. Als charakteristisch für 
die Art der Ideenverbindung der Greise liess sich Folgendes fest- 
stellen: „Die Ideenverbindung geschieht weitaus überwiegend 


nach begrifflicher Verwandtschaft (85%), wobei die Verbind- 
ungen nach causaler und zweckbestimmender Beziehung eine 
unvergleichlich größere Rolle spielen, als bei jungen Individuen 
ähnlicher Bildungsstufe (27,0 : 5,6); die Verknüpfung der 
Ideen erfolgt fast durchwegs ihrem Sinne nach (97,4 : 2,0); 
Klang- und Reim-, d. h. rein akustische Aehnlichkeiten leiten 
fast nie (0,2 %) die Verbindung der Begriffe. Die sehr ge- 
ringe Anzahl der Associationen nach zeitlicher und räumlicher 
Koexistenz, sowie das absolute Ueberwiegen der begrifflich ver- 
wandten Verknüpfungen, ferner auch das gänzliche Fehlen 
mittelbarer Associationen weisen einmüthig auf die Thatsache 
hin, dass die verknüpfende Kraft der Vorstellungen sich aus 
dem Kreise des Ausgangsbegriffes (Reizwortes) nicht zu ent- 
fernen vermag, desto weniger weite Sprünge unternimmt, mit 
einem Worte, dass die Elasticität der Vorstellungsthätigkeit im 
Greisenalter auch in qualitativer Hinsicht abnimmt, dass ferner 
der Vorrath an associabilen Vorstellungen ebenfalls eine Ein- 
busse erleidet.“ 

Wenn, wie wir weiter oben erfahren haben, Erdmann — 
mit Recht — betont, dass die Lebensthätigkeit des Greises nicht 
nur durch eine Abnahme, sondern auch durch eine veränderte 
Richtung gekennzeichnet wird, so sehen wir in vorstehenden 
Ergebnissen Ranschburg’s und Bälint’s theilweise eine ex- 
perimentelle Bestätigung jener empirisch gewonnenen Ansicht *). 

Betrachtet man in den Tabellen der genannten Forscher 
jedoch nicht nur die Durchschnittsergebnisse der Gruppen: von 
Jüngeren Personen einerseits und Greisen andererseits, sondern 
durchmustert die Resultate bei den einzelnen Versuchspersonen, 
so zeigt sich, wie Ranschburg und Bälint selbst hervor- 
heben, die weitere Erfahrung des täglichen Lebens wissenschaft- 
lich bestätigt, das sich „auch unter den Greisen Individuen mit 
jugendlich rascher Geistesarbeit finden.“ 

*) Nach einer privaten Mittheilung, die mir Herr Dr.Ran sehbärg ge- 
macht, ist er gelegentlich seiner Versuche über die Auffassungsfähigkeit 
mit seinem Mnemometer zu dem entschiedenen Resultate gelangt, dass mit 
wachsendem Alter von ungefihr 40—50 Jahren an das Bewusstseinsfeld 
enger wird. Auch die Merkfähigkeit nimmt, wie er gelegentlich bei Ver- 
suchen an älteren Patienten mit seiner Wortpaarmethode feststellen konnte, 
leicht constatirbar ab. 


— DB — 


Unter den Psychiatern ist es J. L. A. Koch*), welcher 
besonders davor warnt, psychische Aenderungen des höheren 
Alters, die bei jedem Menschen auftreten, unter allen Umständen 
für etwas krankhaftes anzusehen **); sie sind es, so lange sie 
sich innerhalb physiologischer Grenzen halten, ebensowenig, 
wie die mit dem Einsetzen der übrigen Lebensphasen hervor- 
tretenden neuen oder doch modificirten psychischen Regungen 
und Eigenschaften. Im Alter sich geltend machende Bedächtig- 
keit und Vorsichtigkeit eines von Natur begabten und ener- 
gischen Mannes kann durch eine gereiftere Lebenserfahrung und 
ähnliche Umstände bedingt sein. Ebenso kann es lediglich 
physiologisch sein, wenn ein Greis mit seinen Gedanken mit 
Vorliebe in der Vergangenheit lebt und ihm diese in einem 
verklärten Lichte erscheint u. dergl. Es kommt vielmehr .darauf 
an, unter welchen näheren Umständen sich diese Erscheinungen 
zeigen, mit welchen anderen sie einhergehen. Leider geschieht 
es aber nur allzuhäufig, dass man bei einem älteren Menschen 
noch psychische Unversehrtheit annimmt, wo schon senile 
psychopathische Minderwerthigkeit oder wie man den Zustand 
nun benennen mag, vorliegt. Die senile. psychopathische 
Minderwerthigkeit wird nicht durch die Summe der Jahre be- 
wirkt, sondern durch pathologische Veränderung im Nerven- 
system. Sie braucht nicht bis zur Demenz fortzuschreiten, der 
Zustand kann selbst längere Zeit innerhalb der Grenzen der 
Minderwerthigkeit verharren. Verfrühtes Einsetzen der 
senilen Aenderungen und ein starker Contrast zwischen 
den neuen Eigenschaften und dem, was man früher an dem 
Betreffenden gewohnt war, bieten in der Regel Anhaltspunkte, 
um zwischen Pathologischem und Physiologischem zu unter- 
scheiden. Gleichwohl muss man sich nach Koch immer davor 
hüten, einzelnen Erscheinungen, wie z. B. einer vorüber- 
gehenden Gedächtnissschwäche, eine weitergehende Bedeutung 
beizumessen als ihr zukommt, zumal allerlei füchtige oder auch 


*) J. L. A. Koch, die psychopathischen Minderwerthigkeiten. 1891, 
S. 358. 

**) Die Ansicht Seneca’s (Epist. 103): Senectus enim insanabilis 
morbus est — ist auch in neuerer Zeit immer wieder aufgetreten, aber wohl 
ebenso oft widerlegt worden. 


= 20 


mehr oder weniger anhaltende elementare Anomalien des 
Seniums irre leiten können, und man muss sich immer ver- 
gegenwärtigen, dass man nicht in jedem einzelnen Falle mit 
völliger Sicherheit zu entscheiden vermag, ob ein Zustand noch 
in den Grenzen des Physiologischen liegt oder nicht. Alshauptsäch- 
lichste, bei der senilen psychopathischen Degeneration auftretende 
psychische und somatische Anomalien zählt Koch auf: einige 
Abstumpfung und Verlangsamung der geistigen und seelischen 
Vorgänge, zumal eine stumpfe Bedächtigkeit, Abnahme der 
Thatkraft, oft neben einer kleinlichen Geschäftigkeit, einige Ab- 
stumpfung des Gedächtnisses für neuere Erlebnisse, aber nicht 
für die gelobte alte Zeit, Zerstreutheit, einige Verarmung der 
Phantasie, oft auch des Geniüthslebens (immer wenigstens — mehr 
oder weniger bewusste — selbstsüchtige Regungen, unter Um- 
ständen als eine Zunahme schon vorhanden gewesener Selbst- 
sucht‘; dabei vielleicht noch eine gewisse eitle Selbstgefälligkeit, 
Geschwätzigkeit, Misstrauen, gegen andere gerichtete Verdäch- 
tigungen, Reizbarkeit, Eigensinn, launenhaftes Wesen, die Be- 
fürchtung, dass das Vermögen oder das Einkommen nicht zu- 
reichen möchte, Geizen und dann wieder in-den-Tag-hinein- 
Hausen, oberflächliche Rührseligkeit, hypochondrische Regungen, 
Steigerungen des Geschlechtstriebs. (Immer dabei körperliche 
Anomalien wie Ernährungsstörungen, Schwindelgefühle, Kopf- 
schmerz, Störungen des Schlafs, selbst Anwandlungen von 
Sprachstörungen). Eine Schwächung auf dem Gebiet des all- 
gemeinen Gefühls- (und Willens-) Lebens findet sich nach 
Koch auch schon bei der senilen psychopathischen 
Disposition und Belastung; sie ist bei der senilen psy- 
chopathischen Degeneration immer vorhanden. Hat 
die Abstumpfung auch das intellectuelle und das ethische Leben 
ergriffen, so liegt eine senile psychopathische Degene- 
ation vor. Es muss jedoch nicht jede moralische Schwächung 
darauf beruhen, sondern es bedarf in jedem Falle der näheren 
Prüfung der Sache. — Es trifft nicht ausnahmslos zu, dass die 
Abnahme des Gedächtnisses wesentlich auf die Erlebnisse des 
Kranken aus neuerer und neuester Zeit geht. Manchem senil 
psychopathischen Degenerirten, zumal aber senil Dementen 
fallen doch recht viele Einzelheiten aus seinem früheren Leben 


— 27 — 


aus und darunter bisweilen Dinge, von denen man kaum be- 
greift, wie er sie vergessen konnte. Mancher senil Degenerirte, 
der seine Schwäche fühlt, schämt sich ihrer und sucht sie zu 
verbergen. — Koch hebt auch die Schwankungen und das 
Interkurriren besonderer Ereignisse auf dem psychischen und 
somatischen Gebiete bei der senilen psychopathischen Minder- 
werthigkeit hervor. Bisweilen sind mit einer gewissen Regel- 
mässigkeit die Nächte schlechter als die Tage. An psycho- 
pathischen Zuständen, die interkurrirend bei der senilen psycho- 
pathischen Minderwerthigkeit vorkommen, führt Koch auf: ver- 
einzelte und vorübergehende Sinnestäuschungen oder Wahnvor- 
stellungen, vorübergehende Angstzustände, Dämmerzustände, 
Erregungszustände verschiedener Art, impulsive Ausbrüche, Er- 
scheinungen, die von der Umgebung nicht beachtet und erkannt 
werden und zu gefährlichen Handlungen eines im übrigen bloss 
senil Degenerirten (nicht psychotischen) Menschen Anlass geben 
können. 

Mit Koch haben wir schon das engere Gebiet der psy- 
chischen Abnormitäten des Greises, die Psychopathologie be- 
treten und wir wollen nun im Folgenden die Ergebnisse einer 
Reihe psychiatrischer Beobachtungen Revue passiren lassen. 
Für den Zweck dieser Studie kann es sich dabei aber nur, wie 
schon bemerkt, um die Grenzzustände und die Uebergänge 
handeln. Die sinnenfälligen Krankheitsbilder schwerer Ver- 
worrenheit, hallucinatorischer Erregungen und tiefer Demenz 
sollen unberücksichtigt bleiben, weil sie forensisch ‚keine 
Schwierigkeiten bieten. 

Zum Verständniss und zur Würdigung eines Phänomens, 
das für die Altersveränderungen am Nervensystem, besonders 
für die Entwicklung des Senium praecox, von grösster 
Wichtigkeit ist, nämlich der Arteriosklerose, d. i. Verhärt- 
ung und Verkalkung der Schlagadern, muss hier Einiges vor- 
ausgeschickt werden. Dabei sei gleich bemerkt, dass die Arte- 
riosklerose nicht selbst eine regelmässige, charakteristische Er- 
scheinung des Alters ist, — denn sie ist bei der genauesten 
Durchsuchung des Gefässsystems von Greisen von 80—100 
Jahren am Sectionstische vermisst worden, obwohl der Körper 
sonst alle Zeichen der Senescenz hatte (Harry, Bamberger bei 





— 98: — 


Friedmann, S. 88) —, sondern die physiologische Gefässinvo- 
lution des höheren Alters ist als prädisponirendes Moment für 
die Entwicklung der Arteriosklerose anzusehen (Bäumler, Gener- 
sich, ebenda). 


Durch Rumpf’s*) Untersuchungen erscheint es festge- 
stellt, dass diesen degenerativen Veränderungen der Gefässe A b- 
weichungen in den chemischen Bestandtheilen des 
Blutes und der Gewebe zu Grunde liegen. Er fand im 
Blute Arteriosklerotischer Vermehrung der organischen Substanz, 
des Natriums, Kaliums und löslichen Calciums. Der Calcium- 
gehalt war besonders in der Niere ausserordentlich hoch. In 
weiter vorgeschrittenen Fällen tritt neben der-Vermehrung der 
Erdalkalien eine Herabsetzung des Wassergehaltes des Blutes 
und theilweise auch des Herzens und der Leber zu Tage mit 
entsprechender Vermehrung der Trockensubstanz. Die Ver- 
mehrung des Calciums im Blute betrifft nur zum Theil das 
lösliche, daneben kommt auch eine Erhöhung von schwer lös- 
lichem Calcium vor, das vermuthlich organisch gebunden ist. 
In den Organen besteht nicht nur Vermehrung des unlöslichen 
Calciums, sondern auch vielfach des löslichen. 


Wodurch diese chemische Veränderung im Blute entsteht, 
darüber sind die Meinungen noch getheilt. Jedenfalls ist durch 
obige Ergebnisse ein grosses Gebiet psychisch-nervöser Er- 
krankungen, für das bisher in den Gefässveränderungen nur 
eine anatomische Grundlage secundärer Natur vorhanden war, 
unserem Verständniss erschlossen worden. Die mittelbar durch 
Arteriosklerose bedingten nervösen und psychischen Störungen 
stellen sich somit nach dem gegenwärtigen Stande unseres 
Wissens als Symptome einer Blut- und Stoffwechsel- 
erkrankung (Erschwerung der Ausscheidung der Erdmetalle, 
Zurückhaltung derselben im Körper) dar **). 


°*) Th. Rumpf. Ueber Arteriosklerose. Münch. med. Wochenschrift 
1905, S. 45. 5 | 
-© ¥*) Es wird also nicht befremden dürfen, wenn z. B. ein forensisches 
Gutachten über eine arteriosklerotische Geistesstörung mit den Worten 
schliesst: .N. leidet an. einer. Blutkrankheit, ‚durch. welche die geistigen 
Funktionen in dem Grade dauernd gestört werden etc. 


— 9 — 


Vom Gesichtspunkte der klinischen Erscheinungen und der 
anatomischen Veränderungen an den Gefässen und der Nerven- 
substanz ist die Arteriosklerose in der letzten Zeit besonders 
von Alzheimer*) sehr eingehend durchforscht worden. 


Alzheimer beschreibt die leichteste, d. i. die nervöse 
Form der Arteriosklerose folgendermaassen: Sie ist „im wesent- 
lichen charakterisirt durch rasche psychische, vielfach auch 
körperliche Ermüdbarkeit, Gedächtnissschwäche, Kopfschmerz 
und Schwindelanfälle. 


Schon zu Beginn der vierziger Jahre kann man das fertige 
Krankheitsbild beobachten. Die meisten meiner Kranken waren 
zwischen dem 50. und 65. Jahre. Herzhypertrophie und Nieren- 
schrumpfung stärkeren Grades fehlen häufig. Die Kranken 
werden oft reizbar, zu anhaltender Arbeit, zur Weiterführung 
ihrer Berufsgeschäfte unfähig. Eine geistige Thätigkeit er- 
scheint nur mehr in ganz eingeschliffenen Bahnen möglich, die 
geistige Produktivität ist erlahmt. Die Ermüdbarkeit macht 
sich meist sehr augenfällig bemerkbar, schon wenn man sich 
mit dem Kranken unterhält, die Merkfähigkeit prüft, ihn nur 
kurze Zeit rechnen lässt. Gewöhnlich wird sie auch von dem 
Kranken selbst sehr unangenehm empfunden. 


Dasselbe gilt für die Gedächtnissschwäche. Manchmal klagt 
der Patient sehr darüber, ohne dass es möglich ist, sie mit den 
gewöhnlichen Methoden nachzuweisen. Es ist dann wohl mehr 
eine subjektive Empfindung der Erschwerung des Zurückrufens 
einzelner Vorstellungen als ein Ausfall. Jedenfalls ist die Re- 
actionszeit oft messbar verlängert. Manchmal gelingt es dem 
Kranken, auf Umwegen das zunächst nicht zugängliche Er- 
innerungsbild zu finden. Besonders leidet das Namen- und 
Zahlengedächtniss unserer am wenigsten fest im Gedächtniss ver- 
ankerten Erinnerungsbilder, am stärksten im Bereich der Merk- 
fähigkeit, aber auch bezüglich der alten Erinnerungen. 

Der Kopfschmerz wird gewöhnlich in der Stirne, selten 
am Scheitel oder Hinterkopf als Druck oder Benommenbeits- 
gefühl, oft von quälender Intensität geschildert. Häufig ist er 


*) Alzheimer, die Seelenstörungen auf arteriosklerotischer Grund- - 
lage, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. 59, S. 695. 





zu. 90. eu 


dauernd, in einem Falle verschwand er jedesmal im Laufe des 
Tages. Ein Kranker klagte regelmässig über Zunahme der 
Kopfschmerzen bei der Defäkation. 


Die Schwindelanfälle treten spontan, oder aber bei plötz- 
licher Veränderung der Körperlage, beim Verlassen des Bettes, 
bei körperlichen und geistigen Anstrengungen ein. 

Oft wird über Flimmern vor den Augen, manchmal über 
Ohrensausen geklagt. 

Wie Windscheid bemerkt, wird Alkohol ın der Regel 
schlecht vertragen. 


Bei immer wiederholten Prüfungen der Kranken tritt eine 
auffallende Schwankung in der Intensität der Erscheinungen zu 
Tage. Manchmal fand sich auch eine deutliche Erschwerung 
in der Auffindung etwas ferner liegender Sachbezeichnungen 
und eine auffallende Erschwerung des Wortverständnisses als 
vorübergehendes Symptom. T 

Stets besteht klare Krankheitseinsicht, meist sogar eine 
ausgesprochene Furcht, blödsinnig zu werden. 


Das Leiden bleibt oft Jahre lang stabil, erscheint aber 
auch weitgehender Rückbildung fähig. Es geht selten ın eine 
der schweren progredienten Formen über. Der Tod erfolgt 
schliesslich an Apoplexie, Coronararteriensklerose oder inter- 
kurrenten Erkrankungen. 


Die histologische Untersuchung lehrte, dass schwere Aus- 
fälle im nervösen Gewebe nicht vorhanden und die wesent- 
lichen Erscheinungen der Stauung in der Blutcirculation ın- 
folge der Gefässveränderungen zuzuschreiben sind. 


Bei der zweiten Gruppe, in der Alzheimer die Fälle 
von schwerer progredienter arteriosklerotischer Hirndegeneration 
zusammenfasst, beginnt die Krankheit mitunter ähnlich wie bei 
der nervösen Form mit Kopfschmerz, Schwindelanfällen und 
Gedächtnissschwäche. „Bald aber treten schwere psychische 
Erscheinungen auf, wenn die Krankheit nicht schon mit solchen 
eingesetzt hat. Manchmal macht sich eine unzufriedene, 
weinerliche Stimmung, manchmal Ausbrüche von Gereiztheit, 
unbeugsamem Starrsinn, auch Zustände von rathloser Unruhe 
bemerkbar. Recht häufig kommt es dann zu einer auffälligen 


a, BL 


Schlaffheit, einem ganz stumpfen apathischen Verhalten. Wenn 
man sich eingehender mit dem Kranken beschäftigt, kann man 
ersehen, dass es sich dabei nur zum kleineren Theile um wirk- 
liche Ausfälle handelt. Ursache des apathischen Verhaltens 
ist die ausserordentliche Erschwerung der Auffassung, des Ge- 
dankenablaufes, der Reproduktionsthätigkeit. Der Zustand zeigt 
erhebliche Schwankwngen, plötzlich “überrascht der Kranke 
wieder durch treffende Bemerkungen über seine Person, Ver- 
hältnisse, Lage und Umgebung. Der rasche Wechsel ist höchst 
frappirend. Allmählich aber kommt es zu immer tiefer grei- 
fenden, wirklichen Ausfällen. Die Merkfähigkeit erscheint 
schwer gestört. Von dem Gebiete der alten Erinnerungen 
sind oft noch grosse Inseln erhalten, zu denen man erst durch 
umständliche Fragen gelangt. Dabei macht sich erst eine grosse 
Ermüdbarkeit bemerkbar. Die Interessen des Kranken schlafen 
immer mehr ein, aber manchmal weckt z. B. ein Besuch der 
Angehörigen wieder Vorstellungen und Empfindungskreise, die 
man schon lange erloschen glaubte.“ Die Stimmung des 
Kranken ist meist leer, oft weinerlich, nie exaltirt. Sinnes- 
täuschungen und Wahnideen treten nach Alzheimer nur in den 
vorübergehenden Erregungszuständen,, Grössenideen nie auf. 
Die Kranken werden immer stumpfer und blöder, doch ist der 
geistige Verfall kein gleichmässiger, einzelne Theile der früheren 
Persönlichkeit bleiben auffällig lange erhalten. Das Krankheits- 
bild wird durch Schwindelanfälle oder apoplektische Anfälle 
mit ihren Folgen (Bewegungsstörungen, Sprachstörung, Asym- 
bolie, Benommenheit, Rathlosigkeit, Hallucinationen und Ver- 
wirrtheit mit Erregungszuständen) in der mannigfaltigsten Weise, 
je nach dem anatomischen Sitz der Veränderungen, varlirt. 

Selbst bei dieser Form ist die Krankheitseinsicht auffällig 
lange, manchmal sogar bis in die Demenz hinein erhalten. 

Oft begleitet eine schwere melancholische Verstimmung, 
heftige Angstzustände fast den ganzen Krankheitsverlauf oder 
es geht wenigstens ein längeres rein melancholisches Krank- 
heitsbild voraus. Das Alter schwankt zwischen 52 und 64 
Jahren, die Krankheitsdauer zwischen 1 und 6 Jahren. — Die 
Untersuchung des Gehirns ergab nicht nur starke Veränderungen 
der Gefässe, sondern auch Entartung der Nervenzellen. 


— 382 — 


Es ist hier nicht der Ort, auf diese Variationen der 
schweren arteriosklerotischen Gehirndegeneration und auf die 
Unterscheidung der letzteren von andern ähnlichen Zuständen, 
besonders der eigentlichen Dementia senilis einzugehen. Alz- 
heimer sagt hierüber: „Dazu bleibt es bei der arteriosklero- 
tischen Hirnatrophie, abgesehen von anfallsweise auftretenden 
Erregungszuständen, im wesentlichen bei einfachen Ausfallser- 
scheinungen, während bei der Dementia senilis und paralytica 
viel häufiger Reizerscheinungen, depressive und exaltative Affecte, 
Wahnbildungen, eigentliche psychotische Elemente mit einher- 
gehen. So erscheint der arteriosklerotisch Demente immer mehr 
als Hirnkranker, der Paralytiker und senil Demente als Geistes- 
kranker.“ Das Dämmer- und Traumhafte, das der paralytischen 
und senilen Depression anhaftet, fehlt bei der arteriosklerotischen 
völlig. Bei letzterer bleibt der Kern der Persönlichkeit und ein 
richtiges Urtheil des Kranken über sich selbst viel länger er- 
halten. Die Affecte sind abgesehen von vorübergehenden Er- 
regungszuständen vorzugsweise normaler Natur. Die psychischen 
Ausfälle sind bei der Dementia senilis und paralytica allge- 
meiner. 

Um diese letzten Sätze, auf die es mir besonders ankommt, 
verständlich zu machen, musste ich die Ausführungen Alz- 
heimers eingehender wiedergeben. Die Beschreibung dieses 
Autors fusst nicht auf Erfahrungen an sogenanntem forensischem, 
sondern klinischem Material, an Personen, die nicht criminell 
geworden sind. Ich meine, dass sie deshalb gerade für die 
Beurtheilung gerichtlicher Fälle um so werthvoller ist. Denn 
durch die Beziehungen zur Strafe oder allgemein zum Kampf 
ums Recht werden solche Krankheitsbilder, bei denen die sub- 
jektiven Beschwerden eine grosse Rolle spielen, sehr in ihrer 
Klarheit und Natürlichkeit beeinträchtigt, jedoch nicht immer 
mit Absicht des Kranken. Bekanntlich ist die Arteriosklerose oft 
latent vorhanden und tritt erst aus gewissen Anlässen, z. B. in- 
folge einer Gemüthserschütterung zu Tage. Als solche wirkt 
bei criminell gewordenen Sklerotikern oft schon Ermittlung 
oder Untersuchungshaft. Nervöse und psychische Störungen wie 
die eben geschilderten kommen dann zum Vorschein oder ver- 
schlimmern sich. Der Sklerotiker besinnt sich, dass sie ihm im 


Laufe des Prozesses irgend wie nützen können, er übertreibt 
sie, bewirkt dadurch aber nur, dass man an seiner Ehrlichkeit 
zweifelt, denn man merkt allmählich doch die Uebertreibung 
aus dem Missverhältniss zwischen den subjektiven und objektiven 
Symptomen. Andere besinnen sich, dass sie eigentlich schon zur 
Zeit der Strafthat solche Symptome hatten, schildern sie recht 
drastisch und erwarten damit möglichst mildernde Umstände 
zu erzielen. Denn für geisteskrank halten sie sich selbst nicht 
und wollen sie nicht gehalten werden, nur für „hochgradig 
nervös“. Gelingt ihnen jener Nachweis und stimmt er mit den 
objektiven Befunden überein, so mag bei sonstiger Eignung 
des Falles die Annahme verminderter Schuldfähigkeit, noch 
mehr aber die Voraussage verminderter Straffähigkeit 
zutreffen. — 


Unter dem Begriff der einfachen, präsenilen Demenz 
fasst Binswanlger*) gewisse, Anfangs der 50er Lebensjahre 
sich bemerkbar machende geistige Schwächezustände auf, von 
denen er folgende Schilderung giebt: 


„Es betrifft meistens Fälle, bei welchen die geistige Ent- 
wicklung eine relativ dürftige geblieben ist. Ohne eigentlich 
schwachsinnig im vulgären Sinne genannt werden zu können, 
zeigen derartige Individuen eine gewisse Unfertigkeit der gei- 
stigen Entwickelung, die sich besonders dadurch kennzeichnet, 
dass sie unfähig sind, irgend eine Aufgabe in ihrem Leben bis 
zum Ende durchzuführen; dass sie überall finanziell, z. Th. auch 
moralisch Schiffbruch leiden, und dass sie in dem ewigen Mühen 
und Ringen um ihre Existenz frühzeitig unterliegen. Oft schon 
zu Ende der 40er oder Anfang der 50er Jahre erleidet die an 
sich schon geringwerthige Schärfe des Urtheils eine weitere, 
auch dem Fernerstehenden offenkundige Einbusse. Die Schaffens- 
kraft erlahmt, der früher rastlos thätige Mann wird stumpf, 
willensschwach, gleichgültiger; das Gedächtniss weist ebenfalls 
bedenkliche Lücken auf; die Körperhaltung ist schlaff, die 
Sprache tonlos, zitternd, die Extremitätenbewegungen ebenfalls 
kraftlos mit leichtem statischen und ataktischen Tremor. Irgend 


*) O. Binswanger, Die Abgrenzung der allgemeinen progressiven 
Paralyse. Berliner klinische Wochenschrift, 1894. Nr. 52. S. 1181. 
3 





— 34 _ ù‘ 


ein grober geschäftlicher Fehler, z. B. die Unfähigkeit, die 
Bücher weiterzuführen, oder offenkundige Irrthümer in der 
Kassenführung oder unsinnige, zwecklose Bestellungen führen 
einen Eclat herbei und zwingen diese Menschen, auch dem 
letzten Reste von Scheinthätigkeit zu entsagen. Leichte mecha- 
nische Beschäftigungen oder bei gebildeten Patienten angeb- 
liches Studium von Büchern und Zeitschriften, vor Allem aber 
die Sorge um Speise und Trank füllen ihr Tagewerk aus. Sie 
bedürfen einer steten Beaufsichtigung, weil sie in krankhafter 
Selbstüberschätzung ihrer Fähigkeiten, besonders unter dem 
Einfluss leichter affektiver Erregungen, selbständig zweckwidrige 
Handlungen begehen oder bei ihrer hochgradigen Urtheils- und 
Willensschwäche von anderen Leuten zu schädlichen, ja unge- 
setzlichen Handlungen verleitet werden können.“ *) 


Wir wollen hier die Melancholie im Sinne Kraepelins**) 
nur kurz erwähnen. Er versteht darunter alle krankhaften, 
ängstlichen, mit Versündigungs-, Verfulgungs- und hypochon- 
drischen Ideen verbundenen Verstimmungen der höheren 
Lebensalter, welche nicht Verlaufsabschnitte anderer Formen 
des Irreseins darstellen, also in ursächlichem Zusammenhange 
zu den allgemeinen Altersveränderungen stehen, — eine Krank- 
heit mit allmählich sich vollziehender Entwicklung, welcher 
meist bereits Monate, bisweilen selbst Jahrelang allerlei unbe- 
stimmte Anzeichen: Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Appetit- 
losigkeit, Verstopfung, Mattigkeit, Schwere in den Gliedern, 
Herzklopfen, Ohrensausen, Arbeitsunlust voraufgegangen sind.— 
Diese Zustände sind nach Kraepelin vielleicht als der krank- 
hafte Ausdruck jenes schon dem gesunden Alter eigenthüm- 
lichen Gefühls der wachsenden Unfähigkeit und Unzulänglich- 
keit zu betrachten, im Gegensatz zu dem überquellenden Kraft- 
bewusstsein der Jugendjahre. Auch eine andere, von Krae- 
pelin aufgestellte Form des „Irrsinns des Rückbildungsalters“, 


*) Von der einfachen paralytischen Domenz unterscheiden sich diese 
Zustände durch das Fehlen der für jene typischen körperlichen Symptome, 
und durch den Verlauf. Die präsenil Dementen verharren viele Jahre gleich- 
miässig in diesem Zustande geistiger Abstumpfung und körperlicher Schwäche 
bis schliesslich irgend ein intercurrentes Leiden das Ende herbeiführt. 

**) E. Kraepelin, Psychiatrie. VII. Auflage. II., S. 441. 1904. 


nämlich der präsenile Beeinträchtigungswahn, erinnert 
an das Misstrauen und die Reizbarkeit des Greisenalters. 


Es wird gewöhnlich angenommen, dass bei eigentlicher 
geistiger Erkrankung im Greisenalter ein Uebergang der nor- 
malen Alterserscheinungen in Geisteskrankheit, eine Steigerung 
derselben stattfindet. So sagt v. Krafft-Ebing*): „Unver- 
merkt kann diese senile Charakterveränderung in einen geistigen 
Schwächezustand übergehen, der bis zu tiefer Demenz vor- 
schreitet... .. Egoismus, Geiz, Misstrauen, Lapsus judicii et 
memoriae werden immer deutlicher. Schwindel-, Schlag-, epilep- 
tiforme Anfälle treten nicht selten auf und hinterlassen ausge- 
sprochene intellektuelle Defekte. Häufig zeigt sich schon längere 
Zeit, bevor sie manifest werden, ein auffälliger Nachlass der 
ethischen Gefühle und sittlichen Correktive“. Bei weiterem 
Fortschreiten des Leidens folgen schwere Gedächtnissstörung, 
Unorientirtheit u. s. f. 


Ein anderer Autor, Weygandt**), schreibt: „Gewöhnlich 
sind Züge unverkennbar, welche an die normale Psychologie 
des Seniums erinnern, indem die geistige Regsamkeit nachlässt, 
ein gewisser Öonservativismus und Misoneismus entsteht; der 
Greis ist ein laudator temporis acti, lebt mit seiner Phantasie 
in der „guten alten Zeit“ und wird immer egoistischer, miss- 
trauischer, geiziger, seine Interessen schrumpfen zusammen, 
das Nächstliegende, die Mahlzeit, der Sorgenstuhl, die Pfeife 
erscheinen ihm wichtiger als grosse ideale Aufgaben, das Ur- 
theil wird milder, oder weniger scharf, der Wille erschlafft, 
die Reden werden faselig.“ 


Bei Hoche***) finden wir folgende Bemerkung über das 
Verhältniss der senilen Eigenthümlichkeiten zur senilen Geistes- 
störung: „Zunächst treffen wir senile Züge, die als normale 
Eigenthümlichkeit der geistigen Verfassung der Greise zu 


*) v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. 
Stuttgart 1892. S. 170. 
**) W. Weygandt, Atlas und Grundriss der Psychiatrie. München, 
J. F. Lehmann. 1902, S. 524. 
***) A. Hoche, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. Berlin 1901, 
S. 619. 
3* 





au. RR a 


gelten haben: Die schwindende Elasticität und der 
Eigensinn, die Ermüdbarkeit, das Sinken der Merk- 
fähigkeit, die Abstumpfung der höheren Gefühle und 
damit die egoistische Einengung der Gemüthsregungen, 
die Neigung zu hypochondrischer oder misstrauischer Auf- 
fassung u. s. w. Alle diese Dinge sind nicht als „krankhafte 
Störungen der Geistesthätigkeit“ aufzufassen und zu bewerthen, 
so lange nicht gröbere Störungen aus der Reihe der 
noch zu nennenden hinzutreten; sie geben aber funktionellen 
Psychosen, die sich bei Greisen entwickeln, ihr besondres 
„seniles* Gepräge, wobei ein gröberer intellectueller Defekt 
nicht immer vorhanden zu sein braucht (senile Melancholie, 
senile Manie, senile Verworrenheit, senile Delirien, senile Wahn- 
bildungen u. s. w.).“ 

Auch nach Wollenberg*) stellen die unter dem Bilde 
der Demenz verlaufenden Fälle nur eine Steigerung der noch 
in die physiologische Breite fallenden Altersveränderungen ins 
Pathologische hinein, dar: allgemeine Abnahme der psychischen 
Leistungen, Verschlechterung der Merkfähigkeit und der Auf- 
fassung, Erinnerungstäuschungen und Konfabulationen, Ver- 
engerung des Ideenkreises, stumpfes, nur noch der Befriedigung 
der niederen sinnlichen Triebe dienendes Verhalten, Verlust 
der ethischen und ästhetischen Gefühle (letzteres eines der 
frühen Zeichen der eintretenden Schwäche und sich zunächst 
in einer nur der näheren Umgebung erkennbaren Abstumpfung 
der betreffenden Qualitäten bekundend). 

In diesem letzten Punkte — Verlust der ethischen und 
ästhetischen Gefühle — wird man Wollenberg nicht voll 
beistimmen können, dass die senile Demenz „nur eine Steige- 
rung der noch in die physiologisch e Breite fallenden Alters- 
veränderungen ins Pathologische hinein darstellt.“ Eher lässt 
sich der ethische Verlust aus den folgenden Sätzen Wollen- 
berg’s erklären: „Gleichzeitig verändert sich ihre Persön- 
lichkeit auch sonst in ungünstiger Weise, indem gewisse 
Züge, die früher ihre charakteristische Eigenheit ausgemacht 


*) R. Wollenberg, Senile Geistesstörungen im Lehrbuch def 
Psychiatrie, herausgegeben von O. Binswanger und E. Siemerling. Jena 
1904, S. 321. 


is, 97 


haben, sich ins Karikirte verzerren: der früher vorhandene 
Sinn für Ordnung und Regelmässigkeit wird zu kleinlichster 
Pedanterie, die Festigkeit und Willensstärke zu störrischem 
Eigensinn, die lebhafte Libido sexualis zu schamloser Verliebt- 
heit, die in den häufigen, insbesondere gegen Kinder gerichteten 
unsittlichen Handlungen seniler Individuen ihren charakte- 
ristischen Ausdruck findet.“ Aber das trifft auch nur für wenige 
Fälle zu, denn die Steigerung der Libido sexualis tritt gewiss 
auch bei senil Dementen auf, deren Geschlechtstrieb schon 
ganz erloscheu war. Es muss sich also um komplicirtere ur- 
sächliche Verhältnisse bei der Entstehung der senilen Libido 
sexualis handeln. 


Reicher ist die psychiatrische Litteratur an Einzelstudien, 
welche sich mit den senilen Geisteskrankheiten im engeren 
Sinne befassen. Ich will hier der Kürze halber und weil viele 
dieser Arbeiten mehr der Gruppirung und Klassification sowie 
den rein klinischen Fragen gewidmet sind, ihrer nur einige 
wenige berücksichtigen. 


Wille*), der zwischen einfachen und komplicirten Seelen- 
störungen bei Greisen unterscheidet, weist in ersterer Bezieh- 
ung besonders auf das Vorkommen leichter Depressionszustände,. 
die, ohne mit eigentlichen psychischen Schwächesymptomen ver- 
knüpft zu sein, sich nur als anhaltende Verstimmungen, Un- 
lust zu gewohnter Thätigkeit, Hang zur Einsamkeit, Mangel 
sonstiger Interessen und Sympathien, manchmal auch als hypo- 
chondrische Befürchtungen äussern. Solche Kranke werden 
unter Verkennung ihres Zustandes nie in Anstalten, höchstens 
in Pfründnerhäuser geschickt, wo plötzlich und unerwartet unter- 
nommene Selbstmordversuche die Sache aufklären. Diese 
Zustände können vorübergehen oder zu geistiger Schwäche 
führen. Bei der komplicirten Form, dem eigentlichen Alters- 
blödsinn, geht nach Wille in = Regel ein Vorläufer- 
Stadium von längerer oder kürzerer Dauer voraus: „Unter 
körperlichen Beschwerden wie Schwindel, Kopfweh, Unbehag- 

*) Wille, die Psychosen des Greisenalters, Allgemeine Zeitschri‘t für 
Psychiatrie. Band 30, S. 272. 


aa AI 


lichkeit, Gefühl der Ermüdung und Schwäche verbunden mit 
Schlafsucht, die mit Schlaflosigkeit; Appetitlosigkeit, die mit 
Heisshunger und Durst abwechselt; Frösteln, also Symptomen, 
die nur ein allgemeines Unwohlsein ausdrücken, sich aber nicht 
auf eine bestimmte Organerkrankung beziehen lassen, bildet 
sich ein gewisser Grad geistiger Schwäche heraus, eine Art 
Vergesslichkeit, Unfähigkeit gewohnten Handelns, die momentan 
den Kranken noch bewusst werden. Bei anderen Kranken 
äussert sich die psychische Störung als allmähliche Umwandlung 
ihres Charakters. Sie werden reizbar, misstrauisch,. eigensinnig, 
launenhaft, geizig; andere streit- und zanksüchtig, geschwätzig, 
trunksüchtig, geil und verschwenderisch.“ Vielfach wird dieses 
Stadium von einem schlagartigen Anfall eingeleitet. Dieser 
Zustand ist rückbildungsfähig, geht aber nicht selten in bleibende 
psychische Schwäche oder in acute geistige Störung schwereren 
Grades über. Wichtig ist, dass manchmal die Symptome 
nur Nachts auftreten, während die gleichen Kranken 
unter Tags nur geringe Abweichungen von ihrem 
Verhalten darbieten oder als psychisch nicht gestört er- 
scheinen. So wie es dunkel wird, verlassen sie das 
Bett anscheinend unter dem Einfluss von Herz- 
affectionen oder von Sinnestäuschungen, wandern 
mit sich sprechend unruhig umher und machen da- 
bei die verkehrtesten Handlungen. Aus dem weiteren 
Verlauf hebt Wille hervor Verlust des Schicklichkeitsgefühls; 
es stellen sich in höherem Grade bisher ungewohnte Nei- 
gungen ein z. B. zum Genuss geistiger Getränke, zu geschlecht- 
lichen Akten, zur Aneignung fremden Eigenthums etc., die sie 
rücksichtslos zu befriedigen suchen. Dabei Intelligenzverfall, 
Gedächtnissschwäche für die jüngste Vergangenheit und Gegen- 
wart, geistige und körperliche Hülflosigkeit. „Dieses psychische 
Krankheitsbild hat manche Analogie mit dem Irrsinn der Kinder 
und in umgekehrter Richtung mit der geistigen Entwicklung 
des ersten Kindesalters. In ersterer Beziehung haben wir auch 
hier vorwaltend ein Delirium der Akte, der Handlungen statt 
eines Deliriums der Vorstellungen; in letzterer sehen wir ein 
stufenweises Abnehmen der psychischen Thätigkeiten, bis sie 
zum Schlafzustande des Säuglingsalters gesunken sind.“ 


— 3239 — 


Fürstner*) bemerkt, dass hohes Alter an und für sich 
als nicht maassgebend erachtet werden kann, eine Geistesstörung 
als senile zu bezeichnen. So wie ein 50jähriger Träger einer 
ausgesprochen senilen Geisteskrankheit sein kann, so kann ein 
70 jähriger eine durchaus typische bieten. Es fehlt für das 
Greisenalter eine Abgrenzung, wie sie für das Kindesalter gegen- 
über der körperlichen und geistigen Reife vorhanden ist. Die 
Eigenthümlichkeiten des Greisenalters sind nicht so konstant 
wie die des puerilen. Auch kennen wir das Seelenleben eines 
Knaben aus eigener Erfahrung, das eines Greises ist dem Be- 
obachter auf diesem Wege in der Regel nicht bekannt geworden 
Der intellectuelle Defekt allein eines bejahrten Geisteskranken 
ist nicht immer ausschlaggebend für die Bezeichnung „senil“. 
Erbliche Belastung fand er nur in 20°), und zwar gab sich 
diese auffällig häufig in der Weise kund, dass in der unmittel- 
baren oder höheren Aszendenz oder in den Nebenlinien orga- 
nische Hirnerkrankungen, namentlich Apoplexien, Herdaffec- 
tionen in vorgerückten Jahren zu verzeichnen waren. 
Er zieht daraus den richtigen Schluss, dass der durch Verer- 
bung übertragene Schwächezustand eher dem Circulations- 
apparatals dem Öentralnervensystem angehaftet haben 
dürfte. Ausserdem berichtet er Stammbäume von vier Familien 
zu besitzen. in denen senile Mitglieder mehrerer Generations- 
stufen durch Suicidium zu Grunde gingen, für dessen Erklärung 
mehrfach auch dieselben auxiliären Momente namhaft gemacht 
wurden. Als ursächliche Faktoren führt Fürstner ferner an: 
Aufgabe langgewohnter körperlicher oder geistiger Thätigkeit, 
Entfernung aus vertrauten, liebgewonnenen Verhältnissen **). 
Schon beim körperlich und geistig rüstigen Menschen pflegt 








*) Fürstner, Ueber die Geistesstörungen des Senium. Archiv für 
Psychiatrie, Band XX, S. 458. 1889. 

**) „Warum wehren sich die Alten instinktiv gegen die Pensionirung 
und verfallen und sterben danach meist rasch? Weil das Gefühl der Pflicht 
und die Einbildung nothwendig zu sein, aufhören, dem Körper Spannkratt 
und Widerstandsfähigkeit zuzuführen.“ Erhard, Ketzerische Betrachtungen 
eines Arztes. 

Geist, Klinik der Greisenkrankheiten, Erlangen, 1860, hält es für 
möglich, dass plötzliche Entziehung gewohnter Reize bei Greisen Ursache 
des Selbstmordes werden kann. | 





— 40 — 


allzulange freiwillige oder erzwungene Musse deprimirend zu 
wirken; diese Verstimmung nimmt bei Greisen oft einen patho- 
logischen Charakter an, indem bei ihnen nicht selten vom Mo- 
mente der Ruhe an eine thatsächliche Abnahme der intellec- 
tuellen Potenz eintritt, die dem Träger nicht entgeht und ihrer- 
seits die Depression steigert. 

Der ätiologische Werth trüber Lebensschicksale und -Er- 
fahrungen wird nach Fürstners Ansicht oft überschätzt; die 
Reaction auf solche bleibt bei Senilen eher hinter dem ge- 
wohnten Maass zurück, die Spuren des Unglücks werden auf- 
fallend schnell verwischt. Eine erhebliche Rolle spielen die 
verminderte Funktionsfähigkeit einzelner Sinnesorgane; häufig 
der erst im späteren Lebensalter beginnende Trunk. 

Von den Geistesstörungen des Seniums hebt Fürstner 
als besonders wichtig die einfache mit hypochondrischen Symp- 
tomen komplicirte Melancholie hervor, die seitens der Um- 
gebung oft übersehen, in ihrer Gefährlichkeit unterschätzt wird. 
„Der depressive Affekt erscheint bei senilen Melancholikern 
einmal weniger tief und nachhaltig, wechselnder in der Inten- 
sität als bei Individuen, die zur Zeit körperlicher und zeistiger 
Reife in gleicher Weise erkranken. Sodann ist der Uebergang 
aus noch normaler, depressiver Stimmungslage zu pathologischer 
verschwommener, der Affekt gelangt auch weniger zum Aus- 
druck, er tritt uns mehr unter dem Bilde schmerzlicher Apathie, 
bei zunehmender Gleichgiltigkeit gegen die Vorgänge in der 
Umgebung und misstrauischem Abwehren jedes Liebesdienstes 
entgegen. Stunden, Ja Tage lang erscheint der Kranke dann 
wieder zugänglicher, mittheilsamer, ja vorübergehend heiterer, 
von Neuem die Umgebung zur Sorglosigkeit verleitend . . . .* 
Zu den hypochondrischen Klagen geben mit Vorliebe den ersten 
Anstoss reale somatische Störungen, wie sie das Alter mit sich 
bringt, Trägheit der Verdauung, Beeinträchtigung der Harn- 
sekretion, verminderte Schärfe der Sinnesorgane, auch hier 
pflegt sich der Uebergang von der normalen zur pathologischen 
Perception und Beurtheilung ungemein schleichend auszubilden.“ 
Auch in der Willenssphäre macht sich der Einfluss der senilen 
Eigenart auf die Gestaltung des Krankheitsbildes geltend: völlige 
Energielosigkeit und eine Willensschwäche, die auch bei den 


== Aj Ze 


einfachsten Verrichtungen Beihülfe nöthig macht, einerseits, 
brüske Entschlüsse, raptusartige Gewaltthätigkeiten gegen die 
eigene Person oder die Aussenwelt andererseits stehen unver- 
mittelt nebeneinander. „Unbedeutende Vorkommnisse, ein Streit 
mit der Umgebung, das Versagen eines Wunsches, vermehrtes 
körperliches Unbehagen oder Schmerzen lösen Suicidiumver- 
suche aus, bei deren Ausführung es weder an Energie noch 
an Planmässigkeit mangelt.“ Dabei können Warnungssignale, 
wie sie sonst bei Melancholischen unter solchen Umständen 
als Verstärkung und lebhaftere Aeusserung des Affektes auf- 
treten, gänzlich fehlen. Mancher scheinbar völlig isolirt da- 
stehende und unerklärliche Selbstmord seniler Personen ist 
lediglich die Folge einer larvirt verlaufenden melancholischen 
Verstimmung, wie dies auch von W illeausgesprochen worden ist. 

In der gleichen impulsiven Weise kommen Gewaltakte 
gegen die Umgebung vor. Die Kranken sind nachträglich oft 
nicht einmal im Stande, ein einigermaassen stichhaltiges Motiv 
für ihre Handlungsweise anzugeben. „Die Gefahren, die diese 
scheinbar so leichten psychischen Störungen bergen, machen 
die Behandlung und Verpflegung seniler Melancholiker, sei es 
in oder ausserhalb der Anstalten, zu einer viel schwierigeren 
und verantwortungsvolleren Aufgabe, als von Aerzten und Laien 
heute oft genug angenommen wird.“ Ein ähnliches unmittel- 
bares Umsetzen von Impuls in Handlung findet sich, nach 
Fürstner, höchstens bei jugendlichen oder hereditär ganz 
besonders schwer disponirten Individuen. 

Die Schilderung der agitirten und stupiden Form der 
Melancholie können wir hier übergehen. 

Maniakalische Erregung kommt nicht selten vor; sie ist 
regelmässig mit Intelligenzdefekt verbunden, infolgedessen das 
Quantum der producirten Vorstellungen vermindert, die Ideen- 
flucht weniger copiös erscheint, andererseits bei dem gesteigerten 
Bewegungsdrang leicht unmoralische Impulse auftreten: sexuelle 
Vergehen, Diebstähle, Verschleuderung von Hab und Gut, un- 
sinnige Projekte und Unternehmungen. Auch die senile Manie 
erinnert nach Fürstner in mehr als einem Zuge an die puerile. 

Infolge der Altersveränderungen im Gehörorgan treten 
subjektive und als solche erkannte Geräusche auf, welche nach 


ie, AD er 


Monate, Jahre langem Bestehen sich ganz allmählich in Sinnes- 
täuschungen umwandeln. Bei der Schwerhörigkeit entstehen 
aus dem Verhören und Missverstehen derartiger Kranker zu- 
nächst Irrthümer, die später zu Wahnideen verarbeitet werden. 
Durch das so vielen Senilen eigene Misstrauen entwickeln sich 
typische Beeinträchtigungs- und Verfolgungsideen ohne Syste- 
matisirung der Wahnideen und ohne stärkere Affektbetheiligung. 

Uebergehen wir, der weiteren Schilderung Fürstner's fol- 
gend, diejenigen Formen seniler Geistesstörung, welche, auf 
atheromatösen Prozessen beruhend, mit deutlichen Veränderungen 
im Circulationsapparat des Gehirns (Schwindelanfällen, Läh- 
mungen) und mit hochgradiger hallucinatorischer Verworren- 
heit einhergehen, so bleibt noch die eigentliche „Dementia 
senilis.“ Die allmählich fortschreitende Abnahme der 
Intelligenz ist das vorwiegendste Symptom. Die Daten der 
jüngsten Vergangenheit werden zuerst vergessen, nach und 
nach dehnt sich der Defekt auch auf weiter zurückliegende 
Zeiten und Verhältnisse aus. Die ethischen Vorstellungen er- 
weisen sich als wenig widerstandsfähig, „sodass man bei ge- 
wissen Fällen wohl berechtigt ist, von einer acqui- 
rirten Moral insanity der Greise zu sprechen.“ Zu- 
weilen werden sich die Senilen der Abnahme der Intelligenz 
bewusst und es entwickeln sich neben erhöhter Reizbarkeit 
und Morosität Depressionszustände, die noch nicht als patho- 
logisch zu bezeichnen sind. 

Die zwischen relativer Klarheit und traumhafter Benommen- 
heit wechselnden Bewusstseinszustände hebt auch Wollenberg 
(a. a. 0.) hervor. Kranke, die alle zeitlichen und örtlichen 
Verhältnisse durcheinander bringen, trotz ihrer 70 oder 80 Jahre 
nach ihren Eltern verlangen, sich in ihrer eigenen Häuslichkeit 
nicht zurechtfinden, nachts im Hause herumirren, zwecklos in 
ihren Sachen herumkramen, ohne selbst zu wissen, was sie 
suchen, zeigen bald wiederum ein äusserlich geordnetes Ver- 
halten und verwerten die ihnen noch gebliebenen Erinnerungen 
und Vorstellungsreste in zusammenhängender Weise. 

Zur Illustration der groben Täuschungen, welche bei un- 
zureichender Untersuchung das wechselnde Verhalten des Geistes- 
zustandes bei Altersschwachsinn herbeiführen kann, erzählt 


= AS we 


Wollenberg*) folgenden Fall: Ein ausgesprochen senil de-. 
menter Kranker seiner Beobachtung, der neben schwer ge- 
störter Merkfähigkeit die erwähnten Bewusstseinsschwankungen 
zeigte, kürzlich auch einen hallucinatorischen Angstzustand mit 
Selbstmordversuch durchgemacht hatte, der aber aus der 
weit zurückliegenden Vergangenheit manchmal noch ganz zu- 
sammenhängend und amüsant erzählen konnte, brachte gelegent- 
lich des Entmündigungsverfahrens eine (ärztliche!) Bescheini- 
gung bei, nach der er durch besonders regen Geist, grossartige 
Auffassung, logische Gliederung und Schlussfolgerung, Esprit 
u. s. w. Bewunderung erregen müsse und nur .eine gewisse 
Zerstreutheit und Gedächtnissschwäche für die Gegenwart zeige, 
wie sie auch häufig bei jüngeren Gelehrten vorhanden sei. Im 
Entmündigungstermin nannte er als Jahreszahl 1837 oder 1847, 
beklagte es, dass er (der 80jährige!) keine Eltern mehr habe, 
wusste von der Gegenwart so gut wie nichts, erzählte aber in ge- 
ordneter Weise allerhand Erlebnisse aus seinem früheren Leben. — 

Die senile Gedächtnissschwäche hat schon von jeher ein- 
zelne Forscher beschäftigt. Aristoteles, der Begründer 
der Associationspsychologie, (Ueber das Gedächtniss und die 
Wiedererinnerung, deutsch von J. Ziaija, Jahresbericht des 
kgl. Gymnasiums zu Leobschütz, 1879) verglich das schlechte 
Gedächtniss der Greise mit dem der kleinen Kinder und erklärt 
es bei beiden mit der starken „Bewegung“, — hier der Zu- 
nahme, dort der Abnahme —, in der sie sich befinden. 

Von Ribot (Les maladies da la mémoire, Paris 1881, 
S. 99) wird die eigenthümliche Erscheinung, dass nach der 
Gegenwart hin der Gedächtnissinhalt abnimmt, unter das all- 
gemeine biologische Gesetz gestellt: „dans l’ordre biologique, 
la dissolution se fait dans l’ordre inverse de l’évolution.“ 

Ueber solche allgemeine Betrachtungsweisen ist die Be- 
handlung dieses Phänomens auch bis heute nicht hinausge- 
kommen. Analytische Untersuchungen des aus den jüngeren 
Jahren gebliebenen Gedächtnissschatzes der Greise fehlen noch. 
Hingegen giebt es hiervon in der Litteratur einige sehr instruc- 


*) R. Wollenberg, Kapitel Senile Geistesstörungen, in: Lehrbuch 
der Psychiatrie, herausgegeben von O. Binswanger und E. Siemerling. 
Jena 1904, S. 322. 





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tive Schilderungen. So erzählt Pelman*) folgenden drasti- 
schen Fall: 

von H., 90 Jahre alt, nahm früher eine hohe Stellung an 
einem unserer kleinen Höfe ein, hat viel gesehen und erfahren 
und erzählt zuweilen mit Behagen und wenn auch lückenhafter 
Gedächtnisstreue von seinem Leben am Hofe Ludwigs XVI., der 
französischen Revolution und von seinen Feldzügen unter dem 
Erzherzog Karl. In der Gegenwart dagegen vergisst er das 
eben Gesehene und Gehörte in demselben Augenblick. Tausend- 
mal kann er an einem Tage seinen Diener fragen: wer er wäre, 
was er von ihm wünsche und wo sein Zimmer sei. Seine Ver- 
wandten kennt er ebensowenig, so oft sie ihn auch besuchen, 
unl von seiner Lage und Umgebung hat er keine Idee. Da- 
bei hat er deutlich das Bewusstsein seiner Vergesslichkeit und 
so viel aus seiner früheren Hofcarriere behalten, dass er das 
Unschickliche fühlt, Jemanden um seinen Namen zu fragen, 
der ihm freundlich und als alter Bekannter entgegenkommt. 
Seine absolute Unkenntniss sucht er daher höchst schlau hinter 
übertriebenen Lobeserhebungen zu verbergen, behauptet sehr 
viel Gutes und Rühmenswerthes über den Besucher gehört zu 
haben, sehr erfreut über den Besuch zu sein etc., bis er end- 
lich aus den Fragen, die man an ihn über sein Befinden stellt, 
entnehmen kann, dass er einen Arzt vor sich habe. Dass er 
dann eben erst beim Herzoge oder sonstwo von dem berühmten 
und bekannten Arzte hat reden hören, versteht sich von selbst. 
Ueberaus peinlich ist ihm der gänzliche Mangel an Geld und 
man kann dem alten Manne keine grössere Freude machen, 
als wenn man ihm immer wieder und wieder verspricht, dass 
man ibm Geld verschaffen wolle. Noch während man mit ihm 
spricht oder ihm nur den Rücken gedreht hat, wiederholt sich 
dieselbe Scene und so Tag für Tag unzählige Male, denn in 
den 14 Monaten, wo ich ihn täglich mehrere Male besuchte, 
hat er mich nie gekannt. 


*) C. Pelman, Ueber das Verhalten des Gedächtnisses bei den ver- 
schiedenen Formen des Irrsinns. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, 
Bd. 21, S. 115. 1864. 


Die Criminalität geistig erkrankter Greise hat 
gegenüber derjenigen der übrigen Geisteskranken die beiden 
Besonderheiten, dass sie relativ viele Fahrlässigkeitsvergehen 
und auffallend zahlreiche sexuelle Verbrechen aufweist. In 
Bezug auf die andern Deliktsarten unterscheiden sich die Geistes- 
kranken bei den einzelnen Lebensaltern kaum erheblich, 
Fahrlässiger Meineid kommt allerdings nicht so häufig vor, als 
man bei der senilen Gedächtnissverminderung erwarten könnte. 
Dagegen ist z. B. fahrlässige Inbrandsetzung ein nicht unge- 
wöhnliches Verbrechen geisteskranker Greise; einer besonderen 
Erklärung hierfür bedarf es nicht; auf die nächtliche Unruhe 
mancher geistesgestörter Greise, die bei Tage verhältnissmässig 
geordnet und klar erscheinen, ist schon hingewiesen. 

Fast specifisch zu bezeichnen sind die sexuellen Delikte 
der geisteskranken Greise. Diese Erscheinung müsste noch 
durch umfassende Untersuchung nicht nur des Geisteszustandes, 
sondern auch der Geschlechtsorgane solcher Personen genauer 
studirt werden. Gegenwärtig liegen zwar zahlreiche Einzelbeob- 
achtungen, namentlich aus der forensischen Praxis, in der 
Litteratur vor, aber sie harren noch der systematischen Ver- 
arbeitung. 

Freilich wird es seine Schwierigkeiten haben, das, worauf 
es neben der Feststellung des Geisteszustandes ankommt, näm- 
lich die Spermabildung, zu constatiren, die wohl meistens die 
Funktionsfähigkeit der Geschlechtswerkzeugemit ihren besonders 
häufigen arteriosklerotischen Veränderungen überdauert. Die 
Spermatozoenbildung ist im Greisenalter keineswegs ganz auf- 
gehoben; nur zeigen sich die Samenfäden verändert, nämlich 
die Köpfe deformirt und der Schwanz verkürzt und die Beweg- 
lichkeit hat abgenommen. Der Samen enthält in vermehrter 


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Zahl weisse und rothe Blutkörperchen sowie Blutfarbstoff- 
körnchen, verfettete Hodenzellen und Epithelien, Prostatakörner 
und gelbes Pigment; er ist daher mehr bräunlich gefärbt und 
gelatinös (bei Friedmann, a. a. O. S. 135, 136). Häufig ist 
die senile Involution der männlichen Geschlechtsorgane von 
Samenfluss begleitet. (Ebenda 137.) Nach Demange (ebenda 
citirt, S. 131) besitzen die Samenfäden in höherem Alter, wenn 
der Generationsakt ausführbar ist, in vollem Maasse die Fähig- 
keit der Befruchtung. — 


Für die Sexualität, wenn auch nicht gerade der männlichen 
Personen über 70 Jahre, d. h. der Greise, so doch wenigstens 
der über 60 Jahre alten Männer glaube ich nach langem Suchen 
einen zuverlässigen zahlenmässigen Ausdruck gefunden zu 
haben in dem Ergebniss einer Berechnung, die ich an der Hand 
des Materials der „Preussischen Statistik“ (Heft: Geburten, 
Eheschliessungen und Sterbefälle; Verlag des Königlichen sta- 
tistischen Bureaus in Berlin) angestellt habe in der Annahme, 
dass bei den ehelichen Verbindungen alter Männer mitjungen 
Mädchen die Sexualität der ersteren am prägnantesten zum 
Vorschein kommt und dass wir, ohne anderweitige Vor- 
aussetzungen, eine stete Verminderung der Sexualität nach 
den höheren Altersstufen hin erwarten müssten. 


Nach dieser Berechnung befindet sich eine Ehe mit 
einem Mädchen bis 20 Jahren unter 


1900 |1901 | 1902| 1903 | 1904 | 











| 
85 | 79 | 73 | 79 85 | Ehen von Männern über 
40 bis 50 Jahre alt 
267 | 236 | 285 | 411 | 322 | Ehen von Männern über 
50 bis 60 Jahre alt 
296 | 353 | 289 | 337 | 487 | Ehen von Männern über 


60 Jahre alt. 





Wir sehen also nicht den erwarteten Anstieg der Ziffern 
zwischen dem 6. Decennium und dem späteren Lebensalter, 
wie er zwischen dem 5. und 6. Decennium so stark in die 
Augen springt, ja in 1900 und 1902 sind diese Ziffern fast 
gleich, und in 1903 sind Ehen mit einem Mädchen bis 20 Jahren 


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bei über 60 Jahre alten Männern sogar erheblich häufiger als 
bei Männern im Alter über 50 bis 60 Jahre! — 


Nach von Krafft-Ebing*) sind die Unzuchtsdelikte der 
geisteskranken Greise an Kindern motivirt durch physiologisch 
fortbestehende Libido bei durch senile Demenz geschwächter 
Ethik oder, am häufigsten, durch auf Grund pathologisch - ana- 
tomischer Veränderungen im Gehirn wieder erwachte und 
abnorm starke Libido bei gleichzeitiger Geistesschwäche. Da- 
bei kann die Libidio isolirt bestehen oder Theilerscheinung 
einer manischen Erregung sein. Zufolge der mangelhaften 
Potenz wählen solche Greise besonders gern Kinder zu Opfern 
ihrer Lüste oder beschränken sich auf läppische sexuelle Akte, 
z. B. Exhibition. Die sexuellePerversionundethische 
Depravation kann jahrelang dem Verfall der In- 
telligenz vorausgehen. v.Krafft-Ebinghältbei sexu- 
ellen Delikten von Greisen diePrüfung des Geistes- 
'zustandes immer für geboten. Verdacht auf Geistes- 
schwäche bei einem solchen Delinquenten ist vorhanden, wenn 
er dekrepid ist, sein Geschlechtsleben schon längst erloschen 
war, oder der Trieb, früher nie besonders erheblich, mit grosser 
Stärke, Rücksichtslosigkeit, Schamlosigkeit und in perverser 
Richtung sich bethätigt. Die Intelligenz kann anfangs gerade 
noch dazu hinreichen, um bei dem Verbrechen die Oeffentlich- 
keit zu meiden und die zur Vermeidung der Entdeckung nöthige 
Vorsicht zu üben, nicht aber um dem Triebe selbst zu wider- 
stehen und die sittliche Bedeutung der Handlung voll zu er- 
messen. 


Die perversen geschlechtlichen Handlungen solcher Greise 
sind nach v. Krafft-Ebing **) einfach Aequivalente des un- 
möglichen physiologischen Aktes; als solche führt er aus den 
Annalen der gerichtlichen Medicin an: Exhibition der Genitalien, 
wollüstiges Betasten der Genitalien von Kindern, Verleitung 
dieser zur Manustnpration des Verführers, Onanisirung der Opfer, 
Flagellation derselben. Auch homosexuelle Neigungen, passive 


*) v. Krafft-Ebing, L>hbrbuch der Gerichtlichen Fsychopathologie. 
III. Auflage. 1892. S. 170, 171. 
**) v, Kraftt-Ebing, Psychopathia sexualis. X. Auflage. 1898. S. 37. 


— 48 — 


Päderastie, mutuelle Masturbation und Sodomie ist bei Greisen 
beobachtet. | 

Zustände höchster sexueller Erregbarkeit wie Nymphomanie, 
Furor uterinus, kommen auch bei früher ehrbaren, der Dementia 
senilis verfallenen Matronen vor. 


L. Kirn *) sagt, nachdem er von der Unzucht an Kindern 
durch rohe, geschlechtlich überreizte Männer in jungen und 
mittleren Jahren gesprochen: „Allein es fällt uns alsbald auf, 
wie häufig wir bemoosten Häuptern auf der Anklagebank be- 
gegnen, Greisen mit weissen Haaren, die ihr Gelüste an kleinen 
Mädchen zu befriedigen suchten. Wenn sich nun auch unter 
diesen einzelne bejahrte Individuen finden, welche Jahrzehnte 
lang in ausgedehntester Weise sexuellen Gelüsten gefröhnt haben, 
die theils aus Abstumpfung für die naturgemässe Befriedigung, 
theils aus Unfähigkeit derselben weiter nachzukommen, bei fort- 
dauerndem Reize, sich nunmehr denUnmündigen zuwenden undmit 
diesen ihr wollüstiges Spiel treiben, so sind dieselben doch der 
Mehrzahl nach keine Wollüstlinge, keine „sexuellen Gourmands“, 
vielmehr Leute der armen Bevölkerung, oft einfache Landleute. 
Es sind in der Regel Greise, deren frühere sittliche Vergangen - 
heit nicht angetastet werden kann, die sich bis dahin eines 
guten Leumundes erfreut hatten; ja — dies halte ich besonders 
wichtig zu erwähnen — es sind häufig Männer (meist Ehe- 
männer oder Wittwer), deren natürlicher Geschlechtstrieb — 
was bei Bewohnern kleiner Landorte oft mit voller Evidenz 
nachgewiesen werden kann — seit Jahren, vielleicht schon seit 
Jahrzehnten vollkommen geschwiegen hatte, die jetzt, wie der 
populäre Ausdruck sagt,in „einen neuen Trieb gerathen“ waren.**) 





*) L. Kirn. Ueber die Klinisch-forensische Bedeutung des perversen 
Sexualtriebes. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. XXXIX, S. 217. 
1883. 

**) Hinter diesem volksthümlichen Ausdruck, den Kirn hier anführe 
steckt meines Erachtens mehr als jene sexuelle Beziehung, welcher schon 
manche auffällige Altersmesalliance ihr Dasein verdankte Der „neue Tricb* 
(vielleicht mit Johannistrieb identisch ?) macht sich bei Manchen in der ge- 
samten Lebensbethätigung geltend. Es giebt Leute, die, wenn erst die 60 
oder 70 Jahre glücklich überwunden sind, einstweilen nicht nur nicht mehr weiter 
zu altern, sondern geradezu jünger zu werden und ınit neuer Lebensfrische, 
auch neue Kraft aus dem vollen Maass ihrer Jahre zu schöpfen scheinen, 


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Diese Leute stehen im Alter zwischen 60 und 80 Jahren, alle 
zeigen schon körperlich mehr oder weniger die Zeichen der 
Senescenz: gebleichte oder spärliche Haupthaare, Arcus senilis, 
atrophische, oft zahnlose Kiefer, geschlängelte, rigide Arterien, 
vorgebeugte Haltung, Langsamkeit in allen Bewegungen, psychisch 
bald nur einen gewissen Mangel des Gedächtnisses, namentlich 
für die jüngste Vergangenheit, Erinnerungsdefekte aller Art, 
oft eine gewisse geistige Dede und Armuth, gemüthliche Weich- 
heit mit gleich bereiten Thränen , hypochondrische kleinliche 
Klagen über körperliche Zustände, bald eine gemüthliche Ab- 
stumpfung in Bezug auf Familie und Freundschaft oder eine 
ausgesprochene moralische Schwäche.“ Bei einer kleineren Zahl 
besteht bereits eine ausgebildete Dementia senilis. Kirn 
schildert solche Fälle, wo die unzüchtigen Handlungen in den 
Anfang einer Altersverblödung fielen. Die Verurthei- 
lung erfolgte bei ihnen unter Annahme mildernder Umstände. 
Auch er hält es für nothwendig, dass alle bejahrten Leute, 
die wegen Sittlichkeitsvergehen angeklagt sind, auf ihren 
Geisteszustand untersucht werden, wobei es besonders wichtig 
ist, sich soviel als möglich ein Urtheil über das geistige Vor- 
leben zu bilden und den früheren Zustand mit dem jetzigen 
zu vergleichen, eine Forderung, welcher selbstverständlich das 
Streben fernliege, bei jedem solchen Inkulpaten, der in höheren 
Jahren. steht, ohne Weiteres einen Defekt oder eine Alteration 
im geistigen Gebiet annehmen zu wollen. 


Nach Kirn beobachtet man nicht selten im Einleitungs- 
stadium der senilen Demenz in Folge eines Reizzustandes 
des Gehirns, welcher der sich vollziehenden Atrophie voraus- 
geht, eine mässige Erregung, welche bald zum Trunke, 
bald zu geschlechtlichem Antriebe führt, während in Folge 
des sich gleichzeitig vollziehenden psychischen Schwächezu- 
standes die Widerstandskraft gegen diesen Trieb mehr oder 
weniger gelähmt ist. Er hält die Zurechnungsfähigkeit in 
solchen Fällen nicht für aufgehoben, wohl aber in höherem 
oder geringerem Grade vermindert, während bei ausgebildeter 


ohne dabei von der bekannten Altersglückseligkeit, die schon den Anstrich 
der geistigen Entrücktheit trägt, „verklärt“* zu sein. 
4 


— 50 — 


Dementia senilis man sich für Ausschluss der freien Willens- 
bestimmung zur Zeit der That zu erklären habe. 


Was nun noch den Alkoholismus des Greisenalters, 
d. h. den erst in hohem Alter beginnenden Alkoholmissbrauch, 
anlangt, so hält ihn Forel für eine häufige Ursache der senilen 
Demenz und glaubt eine besondere Krankheitsform, die De- 
mentia senilis alcoholica aufstellen zu müssen. Im Allgemeinen 
besteht jedoch die Ansicht, dass der bei Greisen sehr häufig 
beobachtete Hang zur Trunksucht bereits als ein Symptom der 
sich entwickelnden geistigen Störung aufzufassen ist. Nach 
Dobrick*) liegt die Sache indess meist so, dass der Alkohol- 
genuss in jüngeren Jahren eine grosse Rolle gespielt und die 
spätere Gefässatheromatose bedingt hat. Aehnlich äussert sich 
Meschede**). Ihm ist in seiner 40jährigen Erfahrung noch 
kein Fall bekannt geworden, dass Jemand erst im Greisenalter 
ein Potator geworden sei, ‘abgesehen von denjenigen Fällen, 
wo im Greisenalter als Symptom der Psychose Steigerung 
der Triebe und speziell auch eine Neigung zu Spirituosen her- 
vortritt; die meisten Alkoholiker, die potatores strenui, sterben 
relativ frühzeitig ab und nur ganz ausnahmsweise ***) erreichen 
Alkoholiker ein höheres Alter. Hoppet) wiederum meint, 
dass, wenn auch die Trunkenbolde frühzeitig wegsterben, doch 
zahlreiche Männer sich dem reichlichen Alkoholgenuss hingeben, 
ohne als Trinker bezeichnet zu werden, und dass der Alkohol 
wohl doch bei dem Altersblödsinn eine wichtige ursächliche 
Rolle spielt. 


* 


*) Dobrick, Ueber Alterspsychosen. Allgemeine Zeitschrift für Psy- 
chiatrie, Bd. 56, S. 979, 1899. 
**) Meschede, Discussionsbemerkung. Ebenda, S. 983. 

***) Auf solche Ausnahmen berufen sich — nebenbei bemerkt — be- 
kanntlich die Vertheidiger des Alkohols, um nicht nur seine Unschädlich- 
keit, sondern womöglich seinen Nutzen zu beweisen, verschweigen aber oder 
wissen nicht, dass ausnahmsweise wiederstandsfähige Naturen auch anderen 
Schädlichkeiten zum Trotz ein hohes Alter erreichen können. 

+) Hoppe, Discussionsbemerkung. Ebenda, S. 984. 


Es ist vielleicht nicht überflüssig, an der Hand von Jahres- 
berichten eine Uebersicht zu schaffen über die forensische 
Thätigkeit der Anstalten beizweifelhaften Geistes- 
zuständen von incriminirtenGreisen. Ichhabe zu diesem 
Zwecke etwa 150 Berichte nachgesehen. Die nachstehende 
Tabelle zeigt, was die Autoren bisher schon richtig, aber nur 
schätzungsweise angegeben hatten, das erhebliche Ueberwiegen 
der sexuellen Delikte (fast ein Drittel. Dann folgt Meineid 
(und Anstiftung dazu) (6), dessen Häufigkeit nicht so allgemein 
bei den Greisen angenommen wird als zu erwarten stände. 
Dann Brandstiftung (5). Dann folgt auffallender Weise der 
Mord (bezw. Mordversuch) 3 mal, und zwar ist jedesmal die 
Ehefrau das Opfer des Delikts; einmal Anstiftung zum Mord. 
Bei den beiden Fällen von Diebstahl handelte es sich um Vor- 
bestrafte; ich halte das nicht für Zufall; denn der Diebstahl, 
ein sonst so häufiges Delikt, ist kein vom Greisenalter an sich 
begünstigtes. 

Aus dieser Statistik ersehen wir ferner, was bei der kli- 
nischen Betrachtung bisher weniger zur Geltung kam, dass 
Dementia senilis vorwiegend in den sechziger Jahren eintritt. 
Sie ist also nicht die Folge hohen Alters, keine „Schwäche 
hohen Alters“, sondern der Ausdruck davon, dass ein ge- 
schwächter Organismus den Bedingungen der mit Naturnoth- 
wendigkeit und mit gewissen Ansprüchen hereinbrechenden 
Involution nicht gerecht zu werden vermag, ähnlich dem Ver- 
sagen mancher Individuen beim Einsetzen der Pubertät. 





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Im Vorstehenden glaube ich das was für Richter und 
Gerichtsarzt bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse 
über die Psychologie und Psychopathologie des Greisenalters 
zu wissen wünschenswerth scheint, ziemlich erschöpfend zu- 
sammengestellt zu haben. Diese Dinge sind ja in Wirklichkeit 
weit mannigfaltiger und es bleibt noch Vieles zu erforschen 
und klarzustellen. Vielleicht giebt meine Arbeit den Anstoss 
dazu, dass man sich mit dem Studium des normalen und krank- 
haften Seelenleben des Greises mehr befasst und vor Allem zu- 
nächst mit der Grenzbestimmung, was bei ihm normal, was ab- 
norm zu nennen ist. eine Aufgabe, die hier unvergleichlich 
schwieriger ist als beim Erwachsenen und selbst beim Kinde. 
Wer möchte sich daher vermessen, die Richter der Willkür, 
ihre ärztlichen Berather der Unwissenheit zu zeihen, wenn ab und 
zu bei incriminirten Greisen ein Fehlurtheil zu Stande kommt! 


Das Rechtsbewusstsein wird sich wohl nur selten dagegen 
auflehnen, wenn bei Greisen, die vor das Forum des Straf- 
richters gelangen, von mildernden Umständen oder vielmehr 
mildernden Zuständen und vom $ 51 des R. St. G. freigebiger 
Gebrauch gemacht wird, als bei Personen der anderen Lebens- 
alter. Nur übereifrige Weltverbesserer werden meinen, dass 
auch beim verurtheilten Greise die Strafe um seiner Besserung 
willen erfolgen müsse, oder werden Werth darauf legen, dass 
gerade seine Bestrafung abschreckend wirke, dass gerade an ihm 
Sühne geübt werde. Die Beschränkung auf Maassnahmen, welche 
gegebenenfalls die Gesellschaft vor gemeingefährlichen Hand- 
lungen eines Greises schützen, dürfte meistens hinreichen, um 
das Rechtsgefühl der Mitmenschen zu befriedigen. Für den 
davon betroffenen senilen Delinquenten selbst kann freilich 





eine solche objektive Schutzmaassnahme härter sein als 
eine bestimmt bemessene schwere Strafe. 

In der Regelung des Strafvollzuges bei Greisen, in seiner 
Anpassung an die besonderen Verhältnisse der Greise, in der 
Möglichkeit seiner theilweisen Umgestaltung zu einer Art Für- 
sorge wird darum das Problem am leichtesten zu lösen sein. 
Die gegenwärtigen Strafvollzugsbestimmungen entbehren meines 
Wissens überhaupt jeder Sondervorschrift über Greise. 


Heynemann’sche Buchdruckerei, Gebr. Wolff, Halle a. 3 


Der 


Alkohol im gegenwärtigen 
und zukünftigen Strafrecht. 


en 


Von 


Dr. Hugo Hoppe, 


Nervenarzt in Königsberg i. Pr. 


— 


Alle Rechte vorbehalten. 





Halle a. d. S. 
Verlag von Carl Marhold. 
1907. | 


Juristisch-psychiatrische 
Grenziragen. 


Zwanglose Abhandlungen 


Herausgegeben von 


Prof. Dr. jur. A, Finger, Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. S. = Freiburg i. B, 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lublinitz i. Schles. 


V. Band, Heft 4/5. 


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Der Alkohol im gegenwärtigen und zukünftigen 
Strafrecht. 


Von 
Dr. Hugo Hoppe, Nervenarzt in Königsberg i. Pr. 


Mit Betrübnis und banger Sorge muß es Gesetzgeber und 
Richter, den Moralstatistiker und Sozialhygieniker, sowie jeden 
Menschenfreund und jeden ordnungsliebenden Bürger erfüllen, 
daß die Kriminalität seit einigen Jahrzehnten andauernd zu- 
nimmt. 

In Deutschland kamen auf 100000 Straimündige 
i. J. 1882 996 Verurteilte (mit Ausschluß der Wehrpflichts- 
verletzungen), und diese Zahl ist bis 1901 fast andauernd, mit 
wenigen Schwankungen, auf 1223 oder um 22% gestiegen, 
Auch in den letzten Jahren hat noch eine Steigerung statt- 
gefunden. Im Jahre 1901 betrug die Zahl der Verurteilten 
(mit Einschluß der Wehrpflichtsverletzungen) 497310, 1902 
512329, 1903 505556, 1904 rund 517000. In Österreich 
ist nach Bosco die Zahl der Straftaten, auf 100000 Einwohner 
berechnet, von 1465 in den Jahren 1871—75 auf 2324 ın den 
Jahren 1896—98 gestiegen. In Italien betrug die Zahl 
der gemeinen Verbrechen, ebenso auf 100000 Einwohner, in 
den Jahren 1883—85 390, in den Jahren 1896 — 99 aber 845, 
während in derselben Zeit sich die Übertretungen von 1142 
bis 1812 gesteigert haben. In Belgien sind von 1886 — 90 
von den Polizeigerichten durchschnittlich jährlich 126890 Per- 
sonen abgeurteilt worden, 1896—97 aber 168785; in der gleichen 
Zeit stieg die Zahl der von den Korrektionsgerichten Abge- 
urteilten von 38381 auf 53261. 

Besonders stark zugenommen haben allenthalben die Per- 


sonendelikte, zumal die gefährlichen Körperverletzungen. Nach 
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der Kriminalstatistik für das deutsche Reich 1901 (Stat. d. D. R., 
N. F., Bd. 146, II, S. 17) ist in Deutschland die Zahl der 
Personendelikte und Sachbeschädigungen, auf 100000 Straf- 
mündige berechnet, von 434 im Jahre 1882 auf 656 i. J. 1901 
oder um mehr als die Hälfte gestiegen. Die Körperverletzungen 
sind in derselben Zeit von 175 auf 530 oder um 84%, speziell 
die gefährlichen von 121 auf 250 oder um mehr als das 
Doppelte gestiegen; in den letzten Jahren hat noch eine weitere 
Steigerung stattgefunden. Nimmt man Perioden von je 5 
Jahren, so kamen im Durchschnitt auf 100000 Strafmündige: 


Perioden wegen Körperverletzung 
Verurteilte 
1883—1887 153 
1888—1892 173 
1893— 1897 219 
1898—1902 239. 


Das bedeutet eine Steigerung um 56,2% im letzten Jahr- 
fünft gegenüber dem ersten. Der Diebstahl hat dagegen ab- 
genommen. 

In Österreich stiegen von 1882—1901, auf 100000 
Strafmündige, die leichten Körperverletzungen von 340 auf 498, 
die schweren von 27 auf 33. 


In Frankreich sind nach Bosco, auf 100000 E. be- 
rechnet, die Körperverletzungen von 50,3 im Durchschnitt 
der Jahre 1861 —65 auf 86,7 in den Jahren 1896 —99 oder 
um 77% gestiegen, in Dänemark die Gewalttätigkeiten und 
Roheitsdelikte von 82 in den Jahren 1871—75 auf 128 in 
den Jahren 1879—1901 oder um 56%. 


Wie die Kriminalstatistik weiter zeigt, spielt bei der Steige- 
rung der Kriminalität die Zunahme der Rückfälligen (Vor- 
bestraften) die Hauptrolle. 

In Deutschland ist die Zahl der Rückfälligen, auf 
100000 Strafmündige berechnet, von 259 im Jahre 1882 auf 528 
im Jahre 1901 gestiegen, hat sich also mehr als verdoppelt. 

In Österreich betrug die Prozentzahl der Vorbestraften 
im Durchschnitt der Jahre 1866—70 44,9%, 1896—1900 aber 
52,7% (Österr. Stat., Bd. 71, 1904, H. 3, S. XCIX). 


E ER 


In Italien ist die Zahl der Vorbestraften von 27,42% 
im Jahre 1890 auf 30,26% im Jahre 1898 gestiegen. 

Bei den Delikten, die die größte Steigerung erfahren 
haben, den Roheitsdelikten, macht sich die Zunahme der Rück- 
fälligen am stärksten geltend. Bei Körperverletzungen ist in 
Deutschland die Zahl der Rückfälligen (auf 100 000 Str.) von 36 auf 
134 oder um 272%, bei Widerstand von 14 auf 30 oder um 114%, 
bei Sittlichkeitsverbrechen von 5 auf 14 oder 180%, bei Haus- 
friedensbruch von 8 auf 26 oder um 225%, bei Sachbeschä- 
digung von 8 auf 20 oder um 150% gestiegen. Es entfällt 
der bei weitem größte Teil der Zunahme der Rückfälligen, und 
zwar 71%, auf Roheitsdelikte, auf Körperverletzungen allein 36%. 
Während die Körperverletzungen im Jahre 1894 18,8% 
aller Verurteilungen Rückfälliger bildeten, war ihre Zahl im Jahre 
1901 auf 22,2% gestiegen. Die Körperverletzungen nehmen 
also in steigendem Maße an den Verurteilungen Rückfälliger 
Teil und bilden jetzt beinahe den vierten Teil dieser Verur- 
teilungen. 

Es ist keine Frage, daß an der erschreckenden Zunahme 
der Kriminalität, besonders der Roheitsverbrechen im allge- 
meinen, als speziell der Rückfälligkeit, die wachsende Ausbrei- 
tung des Alkoholismus, die in den letzten Jahrzehnten allen 
Statistiken nach stattgefunden hat, in hohem Maße beteiligt ist. 

Zeigen doch alle Erfahrungen, daß ein sehr großer Teil 
der Straftaten unter dem Einfluß der Trunkenheit (im Rausch) 
oder der Trunksucht verübt werden. 

„Für die Sach- und Fachkundigen aus der Geir 
waltung der meisten deutschen Gefangenen- und Strafanstalten 
gilt es“, wie Baer, der erfahrene Gefängnisarzt von Plötzen- 
see betont, „als ganz zweifellos, daß der Alkoholismus, wie 
kein zweites Moment, eine Hauptquelle und eine Hauptursache 
für die Entstehung der Verbrechen und die Rückfälligkeit der 
Verbrecher abgibt“ (Alkoholismus, 5. 354). 

Geh. Ober-Reg.-Rat Krohne, früher langjähriger Direktor 
des Zellengefängnisses Moabit in Berlin, erklärte auf Grund 
seiner reichen Erfahrungen in einem Vortrage ım Jahre 1883: 
„Von den Verbrechen gegen Leib und Leben sind die ein- 
fachen und schweren Körperverletzungen sämtlich, Todschläge 


zer 0 


und fahrlässige Tötung mit wenigen Ausnahmen auf den 
Branntwein zurückzuführen. Auch beim Mord ist in sehr 
vielen Fällen Branntwein die Ursache des Verbrechens. .... 
Die Verbrechen gegen die Sittlichkeit, mögen sie Notzucht, 
Unzucht mit Erwachsenen und Kindern?’heißen, haben fast aus- 
schließlich ihre Ursache im Branntwein. Das ist meine Erfahrung 
seit 20 Jahren in Oldenburg, Schleswig-Holstein, Hessen und 
Brandenburg. 70% aller Verbrechen und Vergehen stehen 
mehr oder weniger in ursächlichem Zusammenhang mit dem 
Branntwein“ (cit. Baer, Trunksucht, 1890, S. 45). Für Brannt- 
wein muß nur überall Alkohol oder alkoholische Getränke ge- 
setzt werden, denn in den Weinländern wirkt ganz ebenso der 
Wein und in den Biergegenden das Bier. In England äußerte 
sich bei Eröffnung einer Groß-Jury i. J. 1877 Lord Coleridge 
folgendermaßen: „Die Verbrechen aus Gewalttätigkeit ent- 
stehen mit wenigen Ausnahmen im Wirtshaus und sind durch 
Trunkenheit bedingt. Neun Zehntel der Gefängnisse würden 
wir leeren können, wenn wir England nüchtern machen 
könnten“ (zit. Baer, ebenda). Ähnlich spricht sich Hilty, 
Oberauditeur der eidgenössischen Armee, über die militärischen 
Delikte aus: „Gelänge es, den Alkohol aus den Kasernen zu 
schaffen, so könnte man die Militärjustiz aufheben“ (Helenius, 
Alkoholfrage, S. 225). 

In der Tat ergeben die Statistiken, daß die im Gelegen- 
heitsrausch und von Gewohnheitstrinkern begangenen Straf- 
taten einen außerordentlich großen Beitrag zu der gesamten 
Kriminalität liefern. Besonders bekannt geworden ist die um- 
fassende Statistik des obengenannten Gefängnisarztes Baer 
aus der Mitte der 70er Jahre über 32857 Gefangene aus 120 
verschiedenen Strafanstalten Deutschlands (Alkoholismus, S. 
251 ff... Danach waren von 30041 männlichen Verbrechern 
43,9% Trinker, und zwar 23,5% Gelegenheits- und 20,4% Ge- 
wohnheitstrinker ; von 2796 Frauen waren 18,1% Trinker, und 
zwar 7,1% Gelegenheits- und 11% Gewohnheitstrinker. Be- 
sonders stark überwiegen die Gelegenheitstrinker in den Ge- 
fängnissen, in den Zuchthäusern nur wenig, während in den 
Besserungs- und Korrektionsanstalten nur Gewohnheitstrinker 
waren und fast die Hälfte aller Insassen bildeten. Und vor 


u ge 


allem sind es die Personendelikte, speziell Körperverletzungen, 
Widerstand und Sittlichkeitsverbrechen, bei welchen die Trinker, 
zumal die Gelegenheitstrinker, am stärksten beteiligt waren; 
in den Gefängnissen für Männer waren bei Körperverletzungen 
51,4%, bei Widerstand 68,3%, bei Sittlichkeitsverbrechen 
55,7% der Verurteilten Gelegenheitstrinker. Der Gewohn- 
heitstrunk spielte andererseits die bedeutendste Rolle bei Raub- 
und Straßenraub, bei Diebstahl und bei Brandstiftung (rund 
25—30% in den Zuchthäusern für Männer). 

Einen noch stärkeren Anteil des Alkohols an den Straf- 
taten ergeben andere Statistiken. Von 2437 Delikten, die im 
letzten Vierteljahr 1895 in Baden zur Verurteilung gekommen 
waren, waren 34,7%, und zwar Majestätsbeleidigungen 71%, 
Widerstand 64%, Raub 57%, Nötigung und Bedrohung 46%, 
Körperverletzungen 43% , Sittlichkeitsdelikte 383% im Rausch 
verübt worden. Sichart fand in Württemberg unter 3181 
Zuchthäuslern (von 1878—1888) 29,5% Gewohnheitstrinker, 
Marambat unter 2950 Verbrechern aus dem Gefängnis 
St. Pelagie zu Paris 72%, unter 5322 Verbrechern aus dem 
Zieentralgefängnis zu Poissy 66,4% Trinker. Wieselgren er- 
mittelte an schwedischen Strafanstalten, daß von 24398 männ- 
lichen Sträflingen 54,1%, bei Mord, Totschlag und anderen Ge- 
walttaten sogar 78,35%, zur Zeit der Tat betrunken waren. 
Geill konstatierte im Strafgefängnis zu Kopenhagen, daß von 
1845 Sträflingen 46,12% notorische Trinker und außerdem 
12,41% zur Zeit der Tat berauscht waren. Wadlın stellte 
bei einer sehr sorgfältigen Untersuchung im Staate Massa- 
chusets ı. J. 1894/95 fest, daß von,8440 Verbrechen 43,13% im 
trunkenen Zustand und 50,88% infolge von Trunksucht verübt 
waren. Schließlich sei noch eine Statistik von Löffler aus 
Wien angeführt, wonach 1896 und 1897 in Wien von 1159 
wegen Roheits- und Sittlichkeitsdelikten und Delikten gegen 
die staatliche Autorität Verurteilten 58,8%, und zwar bei 
Widerstand 77,7%, bei Sachbeschädigung 63,4%, bei schwerer 
Körperverletzung 54,1%, betrunken waren. 

In welchem Maße der Rausch besonders bei Roheitsdelikten 
beteiligt ist, zeigt sich aus dem starken Ansteigen dieser Straf- 
taten an den 3 Tagen von Sonnabend bis Montag, an welchen 





ut A 


erfahrungsgemäß am meisten getrunken wird, speziell an Sonn- 
und Festtagen. 

In Wien fielen von den oben genannten Straftaten auf 
die 3 Tage 59,6%, also 3/,, auf Sonntag allein 28,03% oder 
über !/,. Körperverletzungen hatten am Sonntag verübt in 
Zürich (1891) nach Lang von 141 Verurteilten 42,6%, in 
Düsseldorf-Derendorf (1894) unter 205 Sträflingen 55%, in 
Worms (1893) nach Aschaffenburg unter 254 Verurteilten 
35,1%, in Heidelberg nach Kürz von 1115 Verurteilten 45%, an 
Festtagen 11,2%. 

Besonders schlagend ist aber in dieser Beziehung das Er- 
gebnis einer über ganz Deutschland ausgedehnten amtlichen 
Erhebung, welche für die Kriminalstatistik zum ersten Male 
für das Jahr 1902 angestellt und in dem eben erschienenen 
Bande der Kriminalstatistik für 1902 (Stat. d. deutsch. R., N. F., 
Bd. 155, II, S. 34) veröffentlicht worden ist. Danach hatten 
von den im Jahre 1902 wegen gefährlicher Körperverletzung Ver- 
urteilten, im ganzen 97 376, die Tat 34652 oder 36% an einem 
Sonn- oder Feiertage, 60543 an einem Werktage begangen, 
während bei 2181 der Tag nicht mehr angegeben werden 
konnte. Auf einen Werktag fielen 198, auf einen Sonn- oder 
Feiertag aber 578 Körperverletzungen, also beinahe 3mal so 
viel. Das Ergebnis würde sich, wie direkt betont wird, noch 
mehr zu gunsten des Werktages verschieben, wenn auch die 
besonderen Feiertage der einzelnen Staaten und Landesteile 
oder gar örtliche Festtage und Veranstaltungen hätten in Be- 
rücksichtigung gezogen werden können. 

Demnach ist es sicher nicht übertrieben, wenn Löffler 
es als zweifellos hinstellt, „daß mehr als die Hälfte aller Roh- 
heitsverbrechen, insbesondere mehr als die Hälfte aller Körper- 
verletzungen, von Trunkenen begangen sind“. In Deutschland, 
wo im Jahre 1904 220164 Personen wegen Verbrechen und Ver- 
gehen gegen die Person verurteilt worden sind, ist also anzu- 
nehmen, daß mindestens von 110000 die Straftat im Rausch 
begangen worden ist. Im ganzen wurden in Deutschland im Jahre 
1904 sind 517 000 Personen wegen Verbrechenund Vergehen gegen 
Reichsgesetze verurteilt. Rechnet man bei sehr geringem An- 
satz, daß auch nur 40 % im Rausche oder infolge von Trunk- 


= e 


sucht gehandelt haben, so resultieren 268000 solcher Ver- 
urteilter. Dabei sind die Delikte gegen die Landesgesetze, 
sowie die von den Militärgerichten abgeurteilten Straftaten 
nicht berücksichtigt. Man wird daher die Zahl der Personen, 
die in Deutschland jährlich wegen einer durch Rausch oder 
Alkoholismus herbeigeführten Straftat verurteilt werden, auf 
mindestens 300000 schätzen können. 

Diese ganz ungeheure Zahl zeigt, welche gewaltige Be- 
deutung der Alkohol für die Kriminalität hat und welche 
Wichtigkeit der strafrechtlichen Beurteilung und Behandlung 
der von Trunkenen und von Trinkern begangenen Straftaten 
zukommt. 

Selbstverständlich entspricht diese Bedeutung keinem Zu- 
fall, sondern sie ist der Ausdruck eines Naturgesetzes. Sie 
ist die natürliche und notwendige Folge der Wirkungen, 
die der Alkohol auf den Menschen, speziell auf seinen 
Geist, ausübt. 

Der Alkohol ist ein Gift, und zwar gehört er zusammen 
mit seinen nächsten Verwandten, dem Äther und dem Chloro- 
form, in die Klasse der narkotischen Gifte, welche die Eigen- 
schaft haben, die Gehirnfunktionen nach einem Anfangsstadium 
anscheinender Erregung zu lähmen, bis schließlich völlige Be- 
wußtlosigkeit eintritt. Natürlich gibt es, wie bei allen Giften, so 
auch beim Alkohol eine untere Grenze (Schwellenwert), unterhalb 
welcher eine schädliche Einwirkung nicht zu beobachten ist. Im üb- 
rigen ist die Stärke der Vergiftungserscheinungen und die Schnellig- 
keit, mit der sie auftreten, nicht nur abhängig von der Größe 
der einverleibten Dosis, sondern auch individuell außerordentlich 
verschieden und bei jedem Individuum auch zu verschiedener 
Zeit sind unter verschiedenen Verhältnissen ungleich. 

Die Erscheinungen derakuten Alkoholvergiftung, des 
Rausches, sind bei seiner Häufigkeit in den Hauptzügen allge- 
mein bekannt. Im Beginn der Alkoholwirkung zeigt sich ge- 
wöhnlich unter Rötung des Gesichts (Lähmung der gefäßver- 
engernden Nerven) und Beschleunigung der Herztätigkeit eine 
zunehmende Lebhaftigkeit, Hebung der Stimmung, . Erhöhung 
des Kraftgefühls und anscheinende Erleichterung und Beschleu- 
nigung des. Vorstellungsablaufs. Mit zunehmender Alkohol- 


= 10. = 


aufnahme wird die Stimmung immer munterer, erregter, der 
Bewegungsdrang stärker, das Benehmen laut und lärmend, das 
Selbstgefühl und die Reizbarkeit steigert sich und äußert 
sich oft in Streitsucht, die Vorstellungen werden immer leb- 
hafter und überstürzen sich, dabei werden sie oberfläch- 
licher und inhaltsärmer, und die Auffassung wird immer 
ungenauer und schlechter, das Bewußtsein trübt sich in steigen- 
dem Maße. Mehr oder weniger parallel damit gehen körperliche 
Lähmungserscheinungen, die sich vorzugsweise in Schwere und 
Unsicherheit der Bewegungen (Ataxie), Zittern der Hände, 
Schwanken beim Gehen, Lallen der Sprache kundgibt. Oft 
= verbindet sich damit Übelkeit und Erbrechen. Die Lähmung 
der körperlichen und geistigen Funktionen steigert sich 
immer mehr, bis schließlich der Trinkende hinfällt und 
in einen schlafähnlichen Betäubungszustand gerät, aus dem 
er nur schwer zu erwecken ist. Bekannt ist der „Katzen- 
jammer“, der sich oft nach dem Erwachen zeigt und 
kürzere oder längere Zeit andauert, bis schließlich der normale 
Zustand sich wieder herstellt. | 

Es ist also ein ganz typisches Krankheitsbild, das sich bei 
jedem Rausche, von einzelnen Nuancen und von den Intensi- 
tätsgraden abgesehen, stets in derselben Weise wiederholt und, 
wie gesagt, allgemein geläufig und bekannt ist. Aber erst 
den Forschungen Kraepelins und seiner Schüler, die in 
den 90er Jahren die Wirkungen kleinerer und größerer Alkohol- 
mengen auf die Geistestätigkeit experimentell mit Hilfe feiner 
Untersuchungsmethoden studiert haben, verdanken wir eine 
genaue Analyse der Erscheinungen. 

Danach wirkt der Alkohol, und zwar schon in verhältnis- 
mäßig geringen Mengen, die einem viertel bis einem Liter 
Bier entsprechen, nach zwei Richtungen störend auf die 
Gehirntätigkeit ein. Einmal setzt der Alkohol die geistige 
Leistungsfähigkeit herab: beim Rechnen werden z. B. mehr 
Fehler gemacht, das Auswendiglernen wird beeinträch- 
tigt, die Auffassung von Sinnesreizen und die Merkfähig- 
keit wird verschlechtert, die Verarbeitung äußerer Eindrücke, 
das Aneinanderreihen sinngemäßer Vorstellungen wird erschwert. 
Anderseits erhöht der Alkohol die psychomotorische Erregbar- 


er le 


keit, indem die Auslösung von Willensantrieben erleichtert 
und die Reaktion auf Reize beschleunigt wird. Die Wahl 
zwischen zwei Bewegungen geschieht vorschnell, ehe noch die 
Überlegung walten kann, in welcher Richtung die Bewegung 
erfolgen soll, und es wird deshalb häufig die falsche ausge- 
führt. Die Beschleunigung der Bewegung erfolgt also auf 
Kosten der Richtigkeit, es wird ins Blaue hineingehandelt, die 
vorzeitige Reaktion führt zur Fehlreaktion. Was im Versuch 
nur leicht angedeutet ist, zeigt sich im Rausche in brutaler 
Ausbildung. „Der Erschwerung der Auffassung entspricht die 
Unfähigkeit des Betrunkenen, den Vorgängen in seiner Um- 
gebung zu folgen, sich zurecht zu finden, die Schwierigkeit, 
seine Aufmerksamkeit zu erregen, die bis zur völligen Em- 
pfindungslosigkeit sich steigernde Abstumpfung seiner Sinnes- 
organe. In der Verlangsamung seiner assoziativen Vorgänge 
finden wir das Sinken der intellektuellen Leistungen wieder, 
die Unmöglichkeit, verwickeltere Auseinandersetzungen zu geben 
oder zu verstehen, die Urteilslosigkeit gegenüber eigenen oder 
fremden Geistesprodukten , den Mangel an klarer Überlegung 
und an Einsicht in die Tragweite seiner Worte und Hand- 
lungen. ..... Die Erleichterung der motorischen Reaktion ist 
die Quelle des erhöhten Kraftgefühls, aber auch aller jener 
unüberlegter und zweckloser impulsiven und gewalttätigen 
Handlungen, welche dem Alkohol eine solche Berühmtheit. 
nicht nur in der Geschichte der übermütigen und törichten. 
Streiche, sondern auch namentlich in den Annalen der Affekt- 
verbrecher verschafft haben“ (Kraepelin). 

Aber nicht nur durch Steigerung der Erregbarkeit, sondern 
auch durch die Erschwerung der Auffassung und der Ver- 
arbeitung von Eindrücken, durch dieTrübung des Bewußtseins wird 
der Rausch die Ursache von Verbrechen. Die mangelhafte Auf- 
fassung und die Trübung des Urteils führen den Berauschten 
leicht dazu, Worte und Handlungen mißzuverstehen, die Situa- 
tion falsch zu deuten oder zu verkennen, und zwar, da die 
Empfindlichkeit erhöht ist, gewöhnlich im Sinne der Beein- 
trächtigung. So faßt der Trunkene ein harmloses Scherzwort 
als Stichelei oder Kränkung, einen gutmütigen Spott, ein ge- 
legentliches Lächeln als Verhöhnung, Ehrverletzung, Beleidi- 





u, AO): wo 


gung, das versehentliche Unterlassen eines Grußes als Miß- 
achtung, eine unbeabsichtigte Handbewegung als Drohung, ein 
zufälliges Anstoßen als beabsichtigte Rempelei auf. Und da 
die ruhige Überlegung gehemmt oder ausgeschaltet ist, so er- 
folgt bei der gesteigerten Reizbarkeit oft ganz impulsiv die 
maßlose Reaktion. „Würde“, so sagt Aschaffenburg, 
„durch den genossenen Alkohol der normale Ablauf der Reak- 
tion nicht gestört, so könnte die ruhige Überlegung zur Gel- 
tung kommen, die, zweckmäßigste Form der Abwehr des oft 
nur vermeintlichen Angriffs, des sicher oft harmlosen Reizes 
gefunden werden. Aber die psychologische Verarbeitung wird 
durch den vorausgegangenen Trunk verhindert, die Beantwor- 
tung des Reizes erfolgt frühzeitig; ehe die psychische Ver- 
arbeitung vollendet ist, hat die gesteigerte motorische Erreg- 
barkeit bereits zugeschlagen. Das Urteil des Verstandes hinkt der 
raschen Tat nach.“ Bei Angehörigen der „privilegierten“ Stände 
kommt es an Stelle oder als Folge solcher Gewalttätigkeiten leicht 
zu Duellforderungen mit oft blutigem Ausgang des „Ehren- 
handels“. 

Indem ‘der Alkohol das Selbstbewußtsein, das Kraftgefühl 
und den Tatendrang steigert und die Hemmungen lähmt, 
die sonst unser Handeln so wohltätig beeinflussen, wird der 
Trunkene auch spontan herausfordernd und aggressiv. Er wird 
roh, gemein und ‚schamlos, verliert die Herrschaft über seine 
Triebe und alles Maß in seinen Worten und Handlungen, über 
deren Bedeutung und Tragweite ihm der Überblick verloren 
gegangen ist. Infolge der Steigerung auch der sexuellen Er- 
regbarkeit durch den Alkohol kommt es leicht zu unsittlichen 
Attentaten aller Art, von der Beleidigung ehrbarer Frauen 
durch unsittliche Anträge und mehr oder weniger „scherz- 
haften“ unsittlichen Betastungen bis zu dem schwersten Sitt- 
lichkeitsverbrechen. 

Die gesteigerte motorische Erregbarkeit, der Bewegungs- 
drang des Trunkenen äußert sich ferner in allerlei übermütigen 
Streichen, in dummen „Witzen“, die oft sehr schlimm ablaufen, 
in zwecklosen Sachbeschädigungen und Unfug aller Art. Jeder 
Anregung, jeder zufällig auftauchenden oder durch einen äußeren 
Anlaß hervorgerufenen Vorstellungen wird ohne Überlegung 


si DE ge 


 nachgegeben. Kaum gedacht, ist der Gedanke schon zur Tat 
geworden. 

Das Charakteristische bei den Rauschhandlungen ist eben 
die Impulsivität. Die Hemmungen, die Regulatoren für unser 
Handeln, sind im Rausch teilweise oder ganz fortgefallen. 
Einem Schiffe gleich, das, seines Mastes oder seines Steuers be- 
raubt, dahin treibt, ein Spielball von Wind und Wellen, ist 
der Trunkene ein willenloser Spielball der entfesselten Triebe 
und Leidenschaften, die in blindem Walten sein Handeln be- 
stimmen und ihn häufig genug zu strafbaren Handlungen fort- 
reißen. 


Es frägt sich nun, wie solche in der Trunkenheit be- 
gangenen strafbaren Handlungen vor Gericht zu beurteilen sind. 
Es ist dies eine außerordentlich schwierige Frage, die die Ge- 
setzgeber und Rechtslehrer aller Zeiten und aller Länder be- 
schäftigt hat und, wie die Gesetzgebungen zeigen, in der ver- 
schiedensten Weise behandelt worden ist. Im römischen Recht 
wurde, einigen Texten der Digesten nach, die Trunkenheit 
als mildernder Umstand bei Straftaten betrachtet. 

Aristotelesund Quintilian dagegen verlangen bei jedem 
Trunkenheitsdelikt eine schwerere resp. doppelte Strafe, eine 
für die Trunkenheit und eine für das darin ausgeübte Delikt. 
Auch im Corpus juris canonici gilt die Trunkenheit als an 
und für sich strafbar, jedoch wenn sie vollständig ist, als ein 
Umstand, der die Zurechnungsfähigkeit aufhebt (Nesciunt 
quid loquntur, qui vino nimis indulgunt). 

-Justinian erwähnt zweiReskripte des Kaisers Hadrian, 
wonach bei gewissen militärischen Delikten Trunkenheit einen 
mildernden Umstand bilden soll. Marcian spricht von der 
Trunkenheit als Anlaß zu impulsiven Handlungen und hält sie 
für einen allgemeinen Grund zur Strafmilderung. Die Kaiser 
Theodosius, Arkadius und Honorius bestimmten, daß 
bei Majestätsbeleidigungen, die im Rausch ausgestoßen werden, 
dieser als Wahnsinn betrachtet werde, also Straflosigkeit 
sichere (Heinze, S.54. Nach Thomas von Aquino ist 
Trunkenheit eine „Totsünde“, weil der Mensch ohne Not sich 
unfähig mache seine Vernunft zu gebrauchen, verzeihlich nur, 


=. Gr, a 


wenn die Unkenntnis von den Wirkungen des Weins oder zu 
geringe Widerstandsfähigkeit dazu geführt habe; vollständige 
Trunkenheit schließe die Zurechnungsfähigkeit aus, aber die 
freiwillige (selbstverschuldete) Trunkenheit lasse die Verant- 
wortlichkeit unberührt. 

Nach diesen Grundsätzen wurde im allgemeinen im Mittel- 
alter verfahren. 

In vielen Ländern (z. B. Italien, Deutschland, Portugal, 
Holland) galt der Grundsatz: Ebrius punitur non propter delic- 
tum, sed propter ebrietatem (Ventosa, S. 365). Ein außer- 
ordentlich strenges Gesetz im Sinne des Aristoteles erlieb 
Franz I. in Frankreich im Jahre 1536: „Wenn Trinker in der 
Trunkenheit oder Weinstimmung eine strafbare Handlung be- 
gehen, so soll ihnen der Trunkenheit wegen nicht verziehen 
werden, sondern sie sollen mit der für dieses Delikt vorge- 
sehenen Strafe und außerdem für die Trunkenheit bestraft 
werden.“ Obgleich diese Bestimmung in Frankreich bis zum 
Jahre 1785 in Kraft blieb, wurde es doch Gewohnheit, bei 
zufälliger (gelegentlicher) Trunkenheit Strafmilderung zuzu- 
lassen, indem die Strenge des Gesetzes für die gewohnheits- 
mäßige Trunkenheit (Trunksucht) reserviert blieb. 

Nach der Ansicht des bedeutendsten italienischen Rechts- 
lehrers des 16. Jahrhunderts, Julius Clarus, schließt die 
Trunkenheit den dolus, aber nicht die culpa aus und macht 
deshalb eine besondere Strafe nötig. Nur in dem Falle, wo 
der Täter ohne seine Schuld trunken werde, wenn ihm z. B. 
Salz in den Wein geschüttet werde, müsse er völlig straflos 
bleiben (Heinze, S. 56). 

Der berühmte holländische Strafrechtslehrer Antonius 
Matthaeus forderte, daß die Straftaten der Trunkenen 
milder bestraft werden, die der Trunksüchtigen aber mit ge- 
wöhnlichen Strafen belegt werden. Viel strenger war das ältere 
englische und französische Recht. Nach dem alten englischen 
Gesetz wurden die im Zustand der Trunkenheit begangenen 
Straftaten verübt, strenger bestraft als die nüchtern und 
kalten Blutes (Heinze, S. 61). 

Was die zur Zeit geltenden Strafbestimmungen betrifft, so 
wird in England, Irland, Schottland, in den Vereinigten Staaten, 


=x MB. a 


in Schweden und in Rumänien Trunkenheit nicht als Entschul- 
digungsgrund angesehen. In Finland, wo demjenigen, dem bei 
der Begehung eines Verbrechens der volle Gebrauch des Verstandes 
mangelte, eine Strafminderung zuerkannt wird, wird direkt be- 
tont, daß ein Rausch oder eine ähnliche vom Täter selbst ver- 
schuldete Geistesverwirrung nicht allein als Grund zu solcher 
Strafminderung gelte. In Rußland wird Trunkenheit bei Straf- 
taten im allgemeinen nicht berücksichtigt, nur bei Störung 
des Gottesdienstes und Beleidigung von Behörden gilt unver- 
schuldete Trunkenheit als Strafausschließungsgrund. In 
Österreich wird die Handlung oder Unterlassung nicht als 
Verbrechen zugerechnet, wenn die Tat in einer ohne Absicht 
auf das Verbrechen zugezogenen Berauschung oder einer an- 
dern Sinnesverwirrung begangen war, in welcher der Täter 
sich seiner nicht bewußt war; doch wird in diesem Falle die 
Trunkenheit als eine Übertretung bestraft (siehe unten S. 27). 
Nach dem italienischen Strafgesetzbuch kommen die für Aus- 
schluß resp. erhebliche Schmälerung der Zurechnungsfähigkeit 
geltenden Bestimmungen (im ersten Fall Straflosigkeit, im 
zweiten Strafmilderung) auch gegen denjenigen zur Anwen- 
dung, der sich zur Zeit der Begehung der Tat infolge zu- 
fälliger Trunkenheit in dem vorgesehenen Zustand (des 
Ausschlusses resp. der erheblichen Schmälerung der Zurech- 
nungsfähigkeit) befand; handelt es sich aber um selbstver- 
schuldete Trunkenheit, so treten im Fall des Ausschlusses 
der Zurechnungsfähigkeit Strafen ein, die nur milder sind als 
bei Straftaten im nüchternen Zustande, im Fall der erheb- 
lichen Schmälerung der Zurechnungsfähigkeit aber wesentlich 
schwerere Strafen als bei zufälliger Trunkenheit; in beiden 
Fällen werden die Strafen noch erhöht, wenn die Trunkenheit 
eine gewohnheitsmäßige ist. In Portugal wird Trunken- 
heit als mildernder Umstand angesehen, wenn sie entweder 
nicht vollständig und vom Täter nicht vorauszusehen war 
(einerlei ob sie der Fassung des verbrecherischen Entschlusses 
vorherging oder nachfolgte), oder wenn sie nicht vollständig war 
und vom Täter, jedoch ohne verbrecherische Absicht, selbst ver- 
schuldet war und der Fassung des Entschlusses vorherging; 
oder endlich vollständig war und vom Täter, jedoch ohne verbreche- 


rische Absicht und nach Fassung des Entschlusses selbst ver- 
schuldet war. Nach dem spanischen Strafgesetzbuch gilt Trunken- 
heit als mildernder Umstand, wenn diese nicht eine gewohn- 
heitsmäßige war oder zeitlich dem Beschluß zur Begehung 
der Tat folgt. Nach dem norwegischen Strafgesetzentwurf vom 
Jahre 1896 wird eine in selbstverschuldeter Trunkenheit 
ausgeführte Straftat, wenn diese bei fahrlässiger Begehung 
strafbar ist, mit der für fahrlässige Begehung angedrohten 
Strafe belegt. Hier aber sowohl wie in allen den genannten 
Staaten bleibt die Trunkenheit natürlich unberücksichtigt, wenn 
sich der Täter absichtlich in den trunkenen Zustand versetzt 
hat, um den Mut zur Tat zu gewinnen oder sich mildernde 
Umstände zu sichern. In Rußland wird sogar für diesen Fall 
das höchste Maß der für ‘dieses Verbrechen in den (Gesetzen 
vorgesehenen Strafe festgesetzt. Auf die Bestimmungen in dem 
Vorentwurf zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch komme 
ich noch weiter unten zurück. 


In den übrigen Ländern, speziell in Deutschland, Frank- 
reich, Belgien, Holland, Dänemark, Schweden, Ungarn und, 
Bulgarien, ist die Trunkenheit gar nicht berücksichtigt, resp. 
nicht ausdrücklich erwähnt. In den meisten dieser Länder 
wird aber wohl die Trunkenheit nach allgemeinen Grundsätzen 
behandelt, d. h. nach den Bestimmungen, die von der 
Ausschließung (resp. Verminderung) der Zurechnungsfähigkeit 
durch vorübergehende oder dauernde geistige Störungen han- 
deln. So speziell in Deutschland, wo „sinnlose“ Trunkenheit 
nach $ 51 des R. St. G. B. zu den Zuständen von Bewußt- 
losigkeit (oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit) gehört, 
durch welche die freie Willensbestimmung aufgehoben wird. 
Im übrigen sind die Richter in Deutschland geneigt, Trunken- 
heit als Milderungsgrund gelten zu lassen.*) Das deutsche 


 *) Nach Fochier (S. 255) ist dies aber in Holland, Dänemark und 
Schweden nicht der Fall. 

In Frankreich ist es nach Fochier (S. 253) durch Einführung 
der mildernden Umstände ins Strafgesetzbuch dem Richter ermöglicht, auch 
die Trunkenheit als solchen aufzufassen. Die Strafrechtslehrer Rossi und 
Ortolan betrachten die Trunkenheit als Ursachen von Unzurechnungsfähigkeit, 
wenn sie durch keinerlei Verschulden herbeigeführt ist, zum mindesten aber 


Militärstrafgesetzbuch dagegen bestimmt ausdrücklich, daß bei 
strafbaren Handlungen gegen die Pflichten militärischer Unter- 
ordnung sowie bei allen in Ausübung des Dienstes begangenen 
strafbaren Handlungen die selbstverschuldete Trunken- 
heit keinen Strafmilderungsgrund bildet. 

Überschauen wir alle diese Gesetzesbestimmungen über 
die Trunkenheitsdelikte, so finden wir in den modernen Ge- 
setzgebungen keinen wesentlichen Fortschritt in der Auf- 
fassung und Behandlung dieser Delikte gegenüber dem 
Altertum und Mittelalter. Samt und sonders tragen sie den 
Fortschritten der Wissenschaft in der Erkenntnis der Rausch- 
zustände und der Alkoholfrage nieht oder nicht genügend 
Rechnung. Am rationellsten verfahren, wie noch aus den 
späteren Ausführungen hervorgehen wird, diejenigen Gesetz- 
gebungen, in denen der Rausch als besonderer Zustand gar 
nicht erwähnt wird, so daß die Möglichkeit besteht, ihn in 
foro nach den allgemeinen Bestimmungen über die krankhalten 
Geisteszustände zu behandeln. 


Als besonders rückständig erweisen sich die Bestimmungen, 
die „selbstverschuldete“ und „zufällige“, unverschuldete 
Trunkenheit unterscheiden. Als unverschuldet kann doch nur eine 
Trunkenheit gelten, die eine Person sich zugezogen hat, ohne 
Natur und Wirkung der alkoholischen Getränke zu kennen. 
Solche Fälle kommen aber in unserer Zeit, wo die meisten 
die alkoholischen Getränke schon in früher Jugend kennen 
lernen und ihre Wirkung zum mindesten an anderen zu beob- 
achten alle Tage Gelegenheit haben, kaum vor, gehören jeden- 
falls zu den allergrößten Seltenheiten. Daß Jemandem mit 
Gewalt alkoholische Getränke beigebracht werden, kommt 


als einen mildernden Umstand. Diesen Grundsätzen folgen auch die meisten 
französischen und ebenso auch die belgischen Gerichtshöfe. In einem Lehr- 
buch des belgischen Strafrechts vom Jahre 1887 heißt es: Die Trunkenheit 
kann nur, wenn sievollständig und zufällig ist, ein Grund zur Rechtfertigung 
sein; ist sie partiell, so schwächt sie nur die geistigen Fähigkeiten und 
kann nur einen mildernden Umstand bilden. Ist sie aber durch eigene Schuld 
hervorgerufen, so kann sie keinen mildernden Umstand bilden, da der Täter 
für das verantwortlich ist, was er gewollt hat. War sie beabsichtigt, so 
bildet sie einen erschwerenden Umstand. 


2 


— 18 — 


wohl auch kaum vor. Auch die noch in die Kategorie der 
unverschuldeten Trunkenheit zu rechnenden Fälle, wo Jemand 
ein sehr alkoholreiches Getränk trinkt, während er ein alkohol- 
armes zu trinken vermeint, oder wo dem Trinkenden sein 
alkoholarmes Getränk durch Hineingießen von konzentrierten 
alkoholischen Getränken (Spiritus, Kognak u. dgl.) oder anderen 
narkotischen Mitteln hinter seinen Rücken in ein starkes ver- 
wandelt wird, so daß schnell Rauschwirkung eintritt, sind gegen- 
über der Unzahl von Räuschen, die tagtäglich auf gewöhn- 
lichen Wegen entstehen, so selten, daß sie für die Praxis kaum 
in Betracht kommen. In der Praxis handelt es sich fast 
immer nur um „selbstverschuldete“* Trunkenheit im Sinne der 
Gesetzgebungen. 


Allerdings haben verhältnismäßig nur wenige Personen beim 
Trinken die ausgesprochene Absicht, sich einen Rausch anzutrinken, 
obgleich ein solcher Vorsatz oder wenigstens die Gewißheit, daß 
die Sache mit einem tüchtigen Rausch endigen werde, bei gewissen 
Kneipzusammenkünften und festlichen Gelegenheiten unter den 
Teilnehmern gar nichts so seltenes ist. In den meisten Fällen 
aber geht die Sache so vor sich, daß bei dem Trinkenden 
das erste Glas und oft noch dazu die anregende Gesellschaft 
den Durst nach dem zweiten erweckt, das zweite Glas das 
dritte nach sich zieht usw., und sich so unmerklich, ohne daß 
es der Trinker will und ohne daß es ihm zum Bewußtsein 
kommt, ein Rauschzustand entwickelt, der eventuell noch durch 
besondere Verhältnisse, durch eine zeitweilige Indisposition, 
durch den gesellschaftlichen Trinkzwang usw., beschleunigt 
wird. 

Kann man unter solchen Umständen von einer Selbstver- 
schuldung sprechen? Wenn überhaupt von einer Schuld die 
Rede sein kann, so beginnt. sie mit dem ersten Glase resp. 
mit dem ersten Schluck, und dann nimmt an dieser Schuld 
die ganze Welt teil, denn die ganze Welt trinkt alkoholische 
Getränke und erachtet dies nicht nur für etwas Selbstverständ- 
liches, sondern verführt oder zwingt auch den Einzelnen zum 
Trinken, und hält denjenigen, der die „edle Gottesgabe“ ver- 
schmäht, selbst noch heutzutage, wo die Antialkoholbewegung 


u GE 


große Fortschritte gemacht hat, vielfach für einen Sonderling, 
den man belächelt und bemitleidet. 

Unter den obwaltenden Verhältnissen sind die einzelnen 
Menschen, besonders die Männer, in ihrer Entscheidung, ob 
sie alkoholische Getränke zu sich nehmen sollen oder nicht, 
durchaus nicht frei, sondern stehen einer allmächtigen über 
die ganze Erde verbreiteten uralten Sitte und einem ungeheuren 
von der ganzen Gesellschaft ausgeübten Trinkzwange gegen- 
über, dessen Sklaven alle sind, die in der Gesellschaft leben. 

Von Kindesbeinen an wird die Trinksitte geübt, schon in 
frühester Jugend beginnt die Gewöhnung an alkoholische Ge- 
tränke. Ganz alkoholfrei wächst, wie zahlreiche umfassende 
Erhebungen an Schulen übereinstimmend ergeben haben, nur 
ein geringer Bruchteil der Kinder auf, ein beträchtlicher Pro- 
zentsatz bekommt selbst in den jüngsten Stufen regelmäßig 
ein- oder mehrmals täglich alkoholische Getränke. Zu dieser 
Gewöhnung von Kindesbein an kommen mit dem Eintritt in 
die Reihen der Erwachsenen die Trinksitten des öffentlichen 
Lebens und der allgemeine Trinkzwang, um bei den Einzelnen 
je nach Veranlagung und äußeren Einflüssen zu einer langsameren 
oder schnelleren Vergrößerung der gewohnheitsmäßigen Alkohol- 
menge und zu mehr oder weniger zahlreichen Alkoholexzessen zu 
führen. Gibt es doch tausend Gelegenheiten und Veranlassungen, 
um einen kräftigen Trunk zu begründen, tausende Ereignisse, die 
der Sitte gemäß mit Alkohol „begossen“ werden müssen. Bei 
festlichen Veranstaltungen, besonders bei Vereins- und Volks- 
festen, gehören Exzesse zu den selbstverständlichsten Vor- 
kommnissen, bei den gemütlichen Sitzungen der zahlreichen 
Vereine, zumal der Sport-, Gesangs- und Vergnügungsver- 
eine, zur Regel, und in studentischen Verbindungen sogar 
ein- oder mehreremal die Woche zu den unentrinnbaren Ver- 
Pflichtungen jedes Mitglieds, die an der Hand des Trinkkom- 
ments „gesetzmäßig“ vor sich gehen. Alle diese Trinksitten 
werden als etwas ganz Selbstverständliches, beinahe wie eine 
Naturnotwendigkeit geübt, ohne daß sich der Einzelne etwas 
dabei denkt und die meisten Menschen etwas dabei finden.*) 

*, Auch Heinze hält es zwar, wie er in seinem umfassenden Referat 
über die strafrechtliche Beurteilung der Trunkenheit auf dem internationalen 

2x 


= Oy — 
Im Trinken selbst also und auch im Vieltrinken liegt nach 


Gefängniskongreß zu Petersburg (1891) auseinandersetzte, vom moralischen 
und rechtlichen Standpunkte für verwerflich, sich freiwillig und wissentlich 
in einen Zustand zu versetzen, der die Herrschaft des zivilisierten Menschen 
über sich selbst vernichtet, und das Verantwortlichkeitsgefühl leichtsinnig 
aufs Spiel zu setzen, das er in der Gewöhnung an die öffentliche Ordnung 
gewonnen hat. - Auch er meint, daß derjenige, der sich berauscht, eine rechts- 
widrige Handlung begeht, da, wer in der Gesellschaft lebt, jeden Augenblick 
in die Lage komme, gesetzliche Pflichten zu erfüllen, und andrerseits vor- 
aussehen müsse, daß die Folgen des Rausches andere gesetzwidrige Hand- 
lungen sein können. Doch gesteht auch Heinze zu, daß es mildernde 
Umstände und Ausnahmen gebe, wo eine andere Beurteilung eintreten müsse, 
In einzelnen Fällen könne die Wirkung des Alkohols eine außerhalb aller 
Verhältnisse stehende Intensität haben, und auch der erfahrene Trinker könne 
außergewöhnlichen Verhältnissen zum Opfer fallen, sodaß man ihn nicht in 
jedem Falle des Leichtsinns und der Unbesonnenheit anklagen könne. Noch 
wesentlicher und viel weniger beachtet seien die Trinksitten des Landes, 
der Gesellschaftsklasse, der man angehört: „Dort, wo der Wein-, Bier-, Brannt- 
weingenuß allgemein verbreitet ist, ist auch der Trinker, den das übliche 
Quantum berauscht hat, weniger tadelnswert, als Jemand, der sich inmitten 
einer sehr mäßigen Bevölkerung berauscht hat. Die Lebensgewohnheiten 
und die Sitten der speziellen Kreise, in denen der Trinker sich bewegt, 
können gleichfalls einen bemerkenswerten Einfluß ausüben. Bei Gelegenheit 
von Festen, Gastmählern und ähnlichen Zusammenkünften, kann der Um- 
stand, daß man mit den übrigen nicht mithält und ihnen nicht die Spitze 
bietet, als eine offensichtliche und tadeinswerte Beleidigung aufgefaßt wer- 
den. Mit Recht will keiner für einen Schwächling oder Sonderling gelten. 
Dort, wo es üblich ist, auf die Gesundheit zu trinken, muß man nicht allein 
nachkommen, sondern auch die Ehrung erwidern. Bei gewissen Toasten 
ist es bestimmt, oder sogar streng erforderlich, daß man die Gläser völlig 
leert. Es gibt Trinkgesellschaften, in denen der Einzelne sich, ohne sich 
lächerlich zu machen, ohne sich einen schweren Tadel oder selbst Strafen 
zuzuziehen, einem Trinkduell (Bierjunge) oder dem Trinken einer bestimmten 
Quantität, zu der er verurteilt worden ist, nicht entziehen kann. Es muß 
auch daran erinnert werden, daß oft nichtsnutzige oder boshafte Personen 
absichtlich andere, speziell unerfahrene Leute, mittels falscher Vorspiegelungen, 
fortwährenden Anregungen oder verführerischen Freihaltens in einen Rausch 
versetzen, und das dabei die Schuld des Opfers auf Null sinken kann. Auch 
andere Umstände sind zu bedenken. Wer läßt z. B. gern ein volles Glas 
stehen, das bezahlt ist, oder läßt die bestellte Flasche, die bezahlt und 
geöffnet ist, unberührt? Wie oft kann es gerade dieses letzte Glas sein, 
das den Krug überlaufen läßt und die Trunkenheit zu einer vollstän- 
digen macht. Dort, wo die Volkssitten und die öffentliche 
Meinung den mäßigen und unter Umständen auch den be- 


u Oi s 


der allgemeinen Volksanschauung keine Schuld; im Gegenteil 
den leistungsfähigen Trinker, der „viel vertragen“ kann, um- 
schwebt in weiten Kreisen des Volkes ein gewissßr, Nimbus 
des Heldenhaften, des Recken. Wo beginnt nun die Schutd? Die 


Schuld beginnt nach der Volksanschauung, die auch noch viele :°- 7: 


Ausnahmen zuläßt, in dem Augenblicke, wo einer mehr trinkt, ` 
als er vertragen kann“. Jeder kann trinken, soviel er will, 
aber er darf sich nicht betrinken, er muß sein Maß 
kennen und innehalten, wenn er genug hat, er muß wissen, 
wann er aufzuhören hat, und was der Redensarten mehr sind. 

Solche Redensarten und die darin sich offenbarenden An- 
schauungen beruhen zunächst auf einer völligen Unkenntnis 
der Natur und Wirkung der alkoholischen Getränke. Wer so 
spricht, bedenkt nicht, daß der Alkohol gerade die Überlegung 
und die Urteilsfähigkeit beeinträchtigt, kraft derer wir imstande 
wären, unseren eigenen Zustand zu beurteilen, daß er unsere 
Selbstbestimmungsfähigkeit vernichtet und ein planvolles, ziel- 
bewußtes Handeln nach festen Grundsätzen verhindert. In der 
euphorischen, behaglichen Alkoholstimmung, die ja vielfach ab- 
sichtlich dazu benutzt wird, um Sorgen zu zerstrenen und Be- 
denken hinwegzuscheuchen, vergessen wir schnell unsere 
Prinzipien, und die schönsten Vorsätze schwinden dahin. 
Wieviele gehen nicht täglich zum Biere, zu einer Kneiptafel, 
mit der festen Absicht, nach einer bestimmten Anzahl von 
Gläsern oder zu einer bestimmten Zeit nach Haus zu gehen! 
Aber immer und immer wieder stellt sich heraus, daß sie nicht 
imstande sind, ihrem Vorsatz gemäß zu handeln. Sobald sie 
das erste Glas oder die ersten Gläser getrunken haben, sind 
ihre guten Vorsätze dahin, und sie erweisen sich häufig als 
die seßhaftesten Zecher, die nicht eher fortgehen, als bis sie 
volltrunken sind oder als bis sie aus dem Lokal geführt oder 
gewiesen werden. 

Der Einzelne hat es eben, wenn er erst angefangen hat zu 
trinken, gar nicht mehr in der Hand, wenigstens nicht unter 





trächtlichenKonsumvon Wein,Bieruudanderenalkoholischen 
Getränken billigt, da kann auch den Einzelnen, der nicht 
gegen den Strom schwimmt, dafür nur eine geringe vder gar 
keine Schuld treffen.“ (S. 111—113.) 


— 2 — 


allen Umständen, aufzuhören, wann er will, weil mit jedem 
Glase, das er trinkt, seine Überlegung, sein Urteil, seine 
Willenskräft immer mehr gelähmt und seine freie Willensbe- 
stianzuhg “immer mehr ausgeschaltet wird, und weil er ganz 


". X: almählisch- und: unmerklich in den trunkenen Zustand hinein- 


ara? 

Außerdem ist zu bedenken, daß es außerordentliche zahl- 
reiche Neuropathen gibt, nervöse, reizbare, impulsive, willens- 
schwache Naturen, die dem Alkohol gegenüber wenig 
widerstandsfähig sind, und die, sobald sie erst einmal ange- 
fangen haben zu trinken oder „Blut zu lecken“, wie der 
Fachausdruck in Zecherkreisen lautet, nicht mehr aufhören 
können, gerade diese haben bei ihrer Nervenschwäche viel- 
fach ein Verlangen nach Reizmitteln, die ihnen in den alko- 
holischen Getränken überall reichlich zur Verfügung stehen, 
ja allerorten geradezu aufgedrängt werden. Es sind das die 
Elemente, aus denen sich das Heer der Trinker vorzugsweise 
rekrutiert. 

Ja, solche Leute dürfen eben garnichts trinken, das ist 
eine Erkenntnis, die sich heut allgemein, wenigstens in wissen- 
schaftlichen Kreisen, durchgerungen hat. Aber woher weiß 
der Einzelne, ob er zu diesen krankhaft veranlagten Naturen 
gehört, wo hat er den Maßstab zu seiner eigenen Beurtei- 
lung, wer weist ihn darauf hin, daß er abstinent leben muß und 
wer denkt daran, einen Arzt zu befragen, ob er alkoholfähig 
ist oder nicht? Übrigens gibt es noch zahlreiche Ärzte, die 
gerade für diese Frage ein geringes Interesse und Verständnis 
haben und, selbst Freunde des Alkoholgenusses, sehr geneigt 
sind, die Frage lau und allzu nachsichtig zu behandeln. Aber 
selbst, wenn der Einzelne auf diesem oder jenem Wege dazu 
gebracht, den Entschluß gefaßt hat, enthaltsam zu leben, 
wird ihm dieser Entschluß von der Gesellschaft sauer genug 
gemacht. Denn er findet überall Menschen, die mit allen Mitteln, 
mit Zureden, mit Neckereien oder mit Spott und Hohn ver- 
suchen, ihn zum Trinken zu bewegen, ganz abgesehen von 
den zahlreichen anderen Versuchungen und Verführungen, die 
tagtäglich und allerorten an ihn herantreten. 

Außerdem handelt es sich bei der Forderung, daß man 


= 99 


beim Trinken das Maß nicht überschreiten dürfe, daß man 
wissen müsse, wann man genug und aufzuhören habe usw. 
nur um heuchlerische Phrasen, die in Wirklichkeit selten 
Jemand ernst nimmt. Man entschuldigt nicht nur allge- 
mein den Rausch und drückt dabei ein Auge resp. beide 
Augen zu, sondern man findet von Zeit zu Zeit einen solchen 
ganz in der Ordnung und versteigt sich beim Anblick eines 
Berauschten höchstens zu einem verständnisvollen Lächeln. 
Die „feucht - fröhliche Stimmung“, die nichts anderes ist, als 
der Ausdruck der Angetrunkenheit, des mehr oder weniger 
fortgeschrittenen Rausches, findet überall begeisterte Lobredner; 
sie ist von zahlreichen Dichtern besungen worden und erscheint 
den meisten im Schimmer dichterischer Verklärung. Das Sprich- 
wort: „Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein braver 
Mann“, besteht, wie Cramer richtig sagt, noch durchaus zu 
Recht, es entspricht in der Tatder Anschauung des Volkes. Und so 
haben. denn auch die meisten von denen, die das „Maßhalten“ 
predigen, nicht nur selbst wiederholt, zumal bei gewissen fest- 
lichen Gelegenheiten, das Maß überschritten oder „des Guten 
etwas zu viel getan“, wie der euphemistische Ausdruck lautet, 
sondern sie waren und sind nur allzu bereit, besonders als 
Gastgeber, auf andere durch liebenswürdiges Zureden, Zuprosten 
u. dgl. einen gelinden Zwang auszuüben und sie dahin zu 
bringen, das Maß zu überschreiten, denn „so jung kommen 
wir ja nie wieder zusammen“, und „es ist doch nur einmal 
Fasching im Jahre“, und was der aufmunternden Redensarten 
mehr sind. 

Wenn man so der Sache auf den Grund geht und gerecht 
urteilen will, so kann man nur sagen, daß es unter der 
Herrschaft der bestehenden und durch Jahrhunderte alte 
Überlieferungen geheiligten Trinksitten und Vorurteilen unver- 
meidlich ist, daß sich tagtäglich zahllose Personen einen 
Rausch antrinken, ohne daß sie eine größere Schuld trifft, 
als sie der übrigen Gesellschaft zur Last gelegt werden kann. 

Wie kann man bei solchen Vorkommnissen, die sich tag- 
täglich hunderttausendfach wiederholen, und an denen sich die 
ganze Gesellschaft aktiv und aufmunternd beteiligt, von einer 
Selbstverschuldung des Einzelnen reden? 


==. OR. 


Es gilt auch, wie ich schon bemerkte, durchaus für keine 
Schande, sich einen Rausch anzutrinken, im Gegenteil, es ge- 
hört, wie Cramer sich ausdrückt, bei Hoch und Niedrig zur 
Erziehung, bei einer Kneiperei seinen Mann zu stellen. Aber 
man verlangt, daß der Berauschte sich nicht gehen läßt, daß 
er sich in der Gewalt hat, daß er sich nicht auffällig benimmt 
und vor allen Dingen nicht mit dem Strafgesetz in Konflikt 
kommt. „Wir verlangen“, sagt Cramer, „von jedem ge- 
sunden erwachsenen Menschen, daß er, wie man sich auszu- 
drücken pflegt, Direktion hat, die namentlich auf den Hoch- 
schulen (in den Verbindungen) den Studenten anerzogen wird“. 
Dabei handelt es sich nach Cramer lediglich darum, „eine 
Reihe hemmender, kontrastierender Vorstellungen von solcher 
Macht dem betreffenden Individuum einzuprägen, daß trotz 
der Vergiftung des Gehirns mit Alkohol nicht von dem, 
was die gesellschaftlichen Pflichten verlangen, abgewichen 
wird.“ 

Ist das nun möglich? Es ist ja richtig, daß viele im 
Rausche sich zu beherrschen wissen, aber nicht immer und 
nicht unter allen Umständen. Cramer selbst gibt zu, daß 
das erzieherische Bestreben entsprechend der Variabilität bei 
dem einen leichter, bei dem anderen schwerer erreicht werde, 
und daß selbst bei ganz trinkfesten Menschen gelegentlich ein 
Versagen dieser Hemmungen vorkomme. Aber es handelt 
sich nicht nur um ein gelegentliches Versagen der Hemmungen. 
Das beweist schon der Umstand, daß gerade bei den Studenten, 
speziell bei den Verbindungsstudenten, die Rauschdelikte so 
häufig sind. Ich erinnere nur an die Ausschreitungen von 
Korps und Burschenschaften an süddeutschen Universitäten, 
von denen man nicht allzuselten in den Zeitungen liest. Der 
Alkohol übt ja, wie wir gesehen haben, eben gerade eine 
solche Wirkung auf das Gehirn aus, daß er die Hemmungen 
hinwegräumt, die „Direktion“ zerstört und die Selbstbeherr- 
schung vernichtet. Was nützt die beste Erziehung, die Ein- 
prägung der mächtigsten Kontrastvorstellungen im nüchternen 
Zustande für den Rauschzustand, wenn der Alkohol die Eigen- 
schaft hat, gerade diese Vorstellungen hinwegzuräumen. Die 
„Direktion“ im Rausch besteht auch garnicht in dem Vor- 


— 925 — 


herrschen kräftiger Hemmungen, sondern ist im allgemeinen 
weiter nichts, als die Bewahrung des Gleichgewichts, der loko- 
motorischen Fähigkeit und einiger gesellschaftlicher Formen. 
Es ist meist auch nicht der Mangel an „Direktion“ im Sinne 
Cramers, sondern ein reiner Zufall, ein äußerer Anlaß, der 
den Berauschten in Konflikte bringt, ebenso wie es gewöhn- 
lich nur das Fehlen eines äußeren Anlasses ist, was die meisten 
im Rausche vor Konflikten bewahrt. 

Wenn man also zwar den Rausch zuläßt oder gar billigt, 
aber als eine Forderung der guten Erziehung verlangt, daß 
der Mensch ım Rausche sich beherrsche, sich ın der Gewalt 
habe, ordnungsgemäß benehme und Konflikte mit dem Straf- 
gesetz vermeide, so heißt das verlangen, daB die Naturgesetze 
aufgehoben werden, die naturgemäßen Wirkungen des Alkohols 
auf das Gehirn nicht zur Geltung kommen. Berausche Dich, 
wird gesagt, aber zeige keine Zeichen des Rausches, nimm 
Alkohol zu Dir, so viel Du willst, aber die psychische Ver- 
arbeitung äußerer Eindrücke darf nicht beeinträchtigt, das Be- 
wußtsein nicht getrübt, die Erregbarkeit nicht erhöht, die Be- 
wegungen dürfen nicht gesteigert, die Hemmungen nicht aus- 
geschaltet werden. Man könnte ebensogut als eine Forderung 
der guten Erziehung aufstellen, daß die Wangen des Trinkenden 
sich nicht röten dürfen, oder daß seine Herztätigkeit nicht ge- 
steigert werde. 

Die Direktionslosigkeit im Rausch, die eine natürliche 
Folge des Rausches ist und bei den einzelnen je nach ihrer Indi- 
vidualität und den äußeren Umständen stärker oder schwächer, 
deutlicher oder weniger deutlich hervortritt, auf einen Mangel 
an Erziehung zurückzuführen, ist somit ein Unding, ebenso 
wie es ein Unding ist, von einer selbstverschuldeten 
Trunkenheit zu sprechen. 

In den künftigen Strafgesetzgebungen, z. B. bei einer 
Revision des deutschen Militärstrafgesetzbuches, wird demnach 
vor allen Dingen der Begriff der selbstverschuldeten Trunken- 
heit fortfallen müssen. 

Ähnliches gilt von der Auffassung der Trunkenheit alsFahr- 
lässigkeit, wie diese in der norwegischen Strafgesetzgebung 
hervortritt, wonach Trunkenheitsdelikte mit der für das ent- 


— 26 — 


sprechende fahrlässige Delikt vorgesehenen Strafe belegt werden. 
Die Bestrafung tritt ein, „weil ein Jeder, der sich auch nur 
im einzelnen Falle dem Alkoholgenuß hingibt, damit rechnen muß, 
daß er dadurch in den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit 
geraten und darin Handlungen begehen kann, die ihn an sich in 
Konflikt mit dem Strafgesetz bringen könnten“(Klöckn er S.786). 
Besonders energisch gibt Ziehen der Ansicht Ausdruck, daß 
der Rausch, wenn er zu Straftaten geführt habe, als fahrlässige 
Handlung bestraft werden müsse (S. 55). „Das Fortwerfen eines 
brennenden Streichholzes in der Nähe eines Heuschobers wird 
bestraft, wenn ein Brand entsteht; bleibt unbestraft, wenn 
keiner entsteht. Fahrlässigkeit wird im allgemeinen nur be- 
straft, wenn sie zu bestimmten Wirkungen geführt hat. Das- 
selbe gilt vom Rausch. .. . Das Strafmaß ist von der Bedeu- 
tung der Handlung, zu welcher der Rausch geführt hat, ab- 
hängig zu machen. ... Jedenfalls entspricht und frommt es 
auch dem sittlichen Bewußtsein des Volkes weit mehr, wenn 
der Rausch, der zu dem Verbrechen geführt hat, als wenn 
das Verbrechen im Rausch bestraft wird. Das Volk wird 
darauf hingewiesen, wo die wirkliche Verschuldung liegt. 
Heute hält man einen Rausch für weniger fahrlässig, als 
das Wegwerfen eines brennenden Streichholzes in der Nähe 
von brennbaren Gegenständen. Das Bewußtsein der Fahr- 
lässigkeit bei dem Rausch ist durch die heutige Bestrafungs- 
weise geradezu künstlich erstickt worden.“ Also auch Ziehen 
sieht im Rausch ein Verschulden, ein fahrlässiges Verschulden. 
Nun, wenn wirklich im Rausch eine Fahrlässigkeit liegt, so 
beginnt sie, wie ich oben eingehend auseinandergesetzt habe, 
nicht erst in dem Augenblick, wo der Rausch anfängt, denn 
den kann keiner bestimmen, sondern mit dem ersten Glase, 
ja mit dem ersten Schluck, und dann machen sich alle, die 
überhaupt alkoholische Getränke zu sich nehmen, einer Fahr- 
lässigkeit schuldig. Das kann man gelten lassen. Man darf 
das brennende Streichholz nicht mit dem Rausch, sondern 
muß es mit dem Trinken, mit dem ersten Glase vergleichen. 
Nicht das Bewußtsein der Fahrlässigkeit bei dem Rausch, 
sondern beim Trinken, ist künstlich erstickt worden, aber nicht 
so sehr durch das heutige Bestrafungssystem, das ja nur 


ein Ausdruck der allgemeinen Volksanschauung ist, als durch 
die Volksanschauung selbst, durch die Trinksitten und den 
Trinkzwang. Erst wenn sich die Volksanschauung über den 
Alkohol und das Trinken von Grund aus geändert haben wird, 
wenn die allgemeine Volksanschauung im Trinken alkoholischer 
Getränke eine ebensolche Fahrlässigkeit sehen wird, als im 
Genuß von Opium und Morphium oder im leichtsinnigen Han- 
tieren mit Licht, mit explodierenden Stoffen u. dgl., erst dann 
wird es möglich sein, ein Rauschdelikt als Fahrlässigkeitsdelikt 
zu bestrafen.*) 

Ebenso zu beurteilen ist die von vielen (z. B. Weber, 
S. 778) geforderte Bestrafung nicht der Straftat, sondern des 
Rausches an sich, wenn dieser zu einer Straftat geführt hat, wie 
dies z. B. nach dem österreichischen Strafgesetzbuch $ 523 ge- 
schieht. Es heißt dort: „Trunkenheit ist an denjenigen als 
Übertretung zu bestrafen, der in der Berauschung eine Hand- 
lung verübt hat, die ihn außer diesem Zustand als Verbrechen 
zugerechnet würde (s. oben S. 15). Die Strafe ist Arrest von 
1—3 Monaten. War dem Trunkenen aus Erfahrung bewußt, 
daß er in der Berauschung heftigen Gemütsbewegungen aus- 
gesetzt sei, so soll der Arrest verschärft, bei größeren Übel- 
taten bis zu 6 Monaten erkannt werden.“ 

Ähnlich, aber nur mit stärkerer und nach der Art des 
Delikts abgemessener Strafe bedroht ist die Trunkenheit, wenn 
sie zu Straftaten geführt hat, im Entwurf zu einem Gesetz 
gegen die Trunkenheit in Deutschland vom Jahre 1881, das 
allerdings zur Annahme nicht gelangt ist. In diesem heißt es: 

„Wer sich in einem bis zur Ausschließung der freien 
Willensbestimmung gesteigerten Zustande der Trunkenheit ver- 





*) Klöckner führt gegen die Bestrafung der Trunkenheitsdelikte 
als Fahrlässigkeitsdelikte folgendes an: „Dagegen spricht vor allen, daß der 
sich Betrinkende zunächst garnicht damit rechnet, daß er sich betrinken 
könne, sondern daß dieser Zustand sich nach und nach ergibt, ohne daß der 
Trinker sich dessen recht bewußt wird. Wollte man sich mit der bloßen 
Tatsache begnügen, daß Jemand im Zustande einer annehmbar selbst- 
verschuldeten Trunkenheit eine an sich strafbare Handlung begangen hat, 
so würde man allerdings mit dem Grundsatze brechen, daß ohne ein Ver- 
schulden eine Strafe nicht eintreten kann. Damit würde man den ersten 
Grundsatz jeder Strafrechtspflege erschüttern‘' (S. 786). 


— 2% — 


setzt und in demselben eine Handlung begeht, welche in freier 
Willensbestimmung begangen, seine strafrechtliche Verurtei- 
lung zur Folge haben würde, wird nach den nachfolgenden 
Bestimmungen bestraft. Die Strafe ist nach demjenigen Ge- 
setze festzusetzen, welches auf die in freier Willensbestimmung 
begangene Handlung Anwendung finden würde. An Stelle 
einer hiernach angedrohten Todesstrafe oder lebenslänglichen 
Freiheitsstrafe tritt Gefängnisstrafe nicht unter einem Jahre. 
In den übrigen Fällen ist die Strafe*) zwischen einem Viertel- 
teil des Mindestbetrages und der Hälfte des Höchstbetrages 
der angedrohten Strafe zu bestimmen, wobei an Stelle der 
Zuchthausstrafe Gefängnisstrafe von gleicher Dauer tritt. So- 
weit bei Freiheitsstrafen das Viertteil des Mindestbetrages 6 
Monate, und soweit die Hälfte des Höchstbetrages 5 Jahre 
übersteigt, tritt eine Ermäßigung auf die angegebenen Beträge 
ein. Die Vorschrift des vorstehenden Absatzes findet auf fahr- 
lässig begangene Handlungen, sowie auf Übertretungen keine 
Anwendung, desgleichen bleibt sie ohne Anwendung, wenn 
der Täter in der auf Begehung der strafbaren Handlung ge- 
richteten Absicht sich in den bezeichneten Zustand versetzt 
hat.“ Die Reichstags-Kommission zur Beratung des Gesetzes 
gab diesem Paragraphen folgende einfachere Fassung: „Mit 
Gefängnis bis zu 3 Jahren oder mit Geldstrafe bis zu 1000 M. 
wird bestraft, wer in einem durch selbstverschuldete Trunken- 
heit herbeigeführten Zustand der Bewußtlosigkeit, durch 
welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist, 
eine Handlung begeht, durch welche etc.“ (es werden bestimmte 
Folgen strafbarer Handlungen, wie Tod, schwere Körperver- 
letzung, Brand, Sachbeschädigung, Widerstand, Gefahren, auf- 
geführt). 

Einige Strafgesetzgebungen sehen für Rauschdelikte eine 
schwerere Strafe vor, wenn die Trunkenheit eine gewohn- 
heitsmäßige ist, oder. was dasselbe ist, wenn sie bei Ge- 
wohnheitstrinkern, bei Trunksüchtigen vorkommt. Es spricht 


= *) Bei Haft und Gefängnisstrafen kann dann noch auf Schärfung durch 
Schmälerung der Kost, auf Arbeitshaus oder Unterbringung in eine 


Trinkerheil- oder Bewahranstalt erkannt werden (siehe weiter 
unten). 


sich in solchen Bestimmungen die ganz veraltete Anschauung 
aus, daß die Trunksucht ein Laster sei, das Jeder nach seinem 
freien Willen annehmen oder ablegen könne. Heute ist aber 
als wissenschaftliche Tatsache allgemein anerkannt, daß die 
Trunksucht kein Laster, sondern eine Krankheit ist. Sie ist 
eine Krankheit, die sich bei unseren Trinksitten, wonach der 
regelmäßige, tägliche Genuß von alkoholischen Getränken eine 
durchaus selbstverständliche, billigenswerte und zweckmäßige 
Gewohnheit darstellt, bei zahlreichen Individuen langsam 
und schleichend entwickelt, ohne daß es ihnen zum Bewußt- 
sein kommt. Es gilt hier ganz dasselbe, wie vom Rausch, 
der auch allmählich und unmerklich entsteht. Und wie in 
den wenigsten Fällen der Rausch vorsätzlich erworben wird, 
so gilt dies in noch höherem Grade von der Trunksucht. Kein 
Trinker beginnt mit dem festen Vorsatz, Trinker zu werden, 
etwa ähnlich Richard II, der auf die Bühne tritt mit den 
Worten: „Ich bin gewillt ein Bösewicht zu werden“. Alle 
späteren Trinker haben mit geringem und mäßigem Genuß 
angefangen und sind allmählich, langsamer oder schneller, 
wie es eben ihre Natur und die Trinksitten der Kreise, in 
denen sie lebten, mit sich brachten, zu stärkerem und un- 
mäßigem Genuß übergegangen, wobei sich ein immer größeres 
Verlangen nach alkoholischen Getränken entwickelte, bis schließ- 
lich die unwiderstehliche, krankhafte „Sucht“, das gewohn- 
heitsmäßige Sichberauschen, da war. 

Unter der Herrschaft der Trinksitten ist es auch geradezu 
unabwendbar, daß unzählige Personen zu Trinkern werden, 
denen das Trinken ein unwiderstehliches Bedürfnis ist. Die 
Schuld trägt wieder nicht der Einzelne, sondern die ganze 
Gesellschaft, welche die Trinksitten pflegt und mit aller 
Macht aufrecht erhält und so die Trinker geradezu heran- 
züchtet. Es ist eine Ungerechtigkeit und ein Widersinn sonder- 
gleichen, wenn sie dann den Einzelnen dafür, daß er in der 
krankhaften Sucht, in die er durch ihre Schuld geraten ist, 
sich gewohnheitsmäßig berauscht, nicht nur nicht bestraft, 
wenn er im Rausch eine Straftat begeht, sondern noch härter 
bestraft, als den, der durch keinen krankhaften Trieb zum 
Trinken gezwungen wird und sich nur gelegentlich berauscht. 


— 50 — 


Rauschdelikte bei Trunksüchtigen verdienten im Gegenteil 
höchstens eine mildere Strafe, als bei Gelegenheitstrinkern, 
wenn sie überhaupt strafwürdig sind. 


Wir müssen uns jetzt der Frage zuwenden, wie es denn 
überhaupt mit der Strafwürdigkeit resp. der Zurechnungsfähig- 
keit der Rauschdelikte steht. In welcher Weise beeinflußt der 
Rausch die Zurechnungsfähigkeit? Nach dem Österreichischen 
Strafgesetzbuch gilt die Zurechnungsfähigkeit als ausgeschlossen, 
wie wir gesehen haben, für „die volle Berauschung (oder eine 
andere Sinnesverwirrung), in welcher der Täter sich seiner 
nicht bewußt war“, während nach dem italienischen Gesetz- 
buch die Trunkenheit (je nach ihrem Grade), ebenso wie eine 
Geistesstörung oder geistige Abnormität die Zurechnungsfähig- 
keit ausschließen oder beschränken kann. 

Im deutschen Strafgesetzbuch ist, wie gesagt, die Trunken- 
_ heit als Strafausschließungsgrund nicht besonders erwähnt. Es 
ist hier nur der § 51i des R. Str. G. B. vorhanden. der auf 
Trunkenheitszustände Anwendung finden kann. Der Wortlaut 
des Paragraphen ist folgender: „Eine strafbare Handlung ist 
nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der 
Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder 
krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch welchen 
seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“ 

Die richterliche Praxis ist im allgemeinen wenig geneigt, 
den Paragraphen auf Rauschzustände anzuwenden*). Eine 
Ausnahme bilden allerdings die sog. pathologischen, besser 
gesagt, die atypischen oder komplizierten Rauschzu- 
stände, deren Anerkennung als Zustände von krankhafter 
Störung der Geistestätigkeit auch in der Juristenwelt keinen 
Widerstand findet. Es sind das Zustände von seelischer Stö- 

*) Den Entwurf zu einem Gesetz gegen die Trunkenheit vom J. 1881 
begründeteallerdings der Staatssekretär des Reichsjustizamts von Schelling 
im Reichstage damit, daß der $ 51 auf Trunkenheitszustände in einer Aus- 
dehnung angewandt werde, welcher die Rechtssicherheit gefährde. Wenn 
dies wirklich damals der Fall gewesen sein sollte, so gilt dies doch jetzt 
sicher nicht mehr. Die von v. Schelling angeführten Fälle betreffen übrigens 
pathologische Rauschzustände. 


a A u 


rung, die bei neuropathischen, minderwertigen oder prä- 
disponierten Individuen durch Alkoholgenuß ausgelöst werden, 
ganz akut einsetzen und sehr rasch verlaufen. Das Haupt- 
symptom ist die Angst, die ganz gegenstandslos sein kann, 
meist aber mit Beeinträchtigungs- und Verfolgungsideen, auf 
grund von illusionärer Umdeutung der Vorgänge in der Um- 
gebung und von Personenverkennung, sowie mit Orientierungs- 
verlust und starker Bewußtseinstrübung verbunden ist. Die 
Angst wird im weiteren Verlaufe öfter durch eine zornmütige 
Wut ersetzt oder verdeckt und findet gewöhnlich ihre motorische 
Entladung in Gewaltakten aller Art, in sinnlosen Drohungen 
und Schimpfereien, in blinden Umherschlagen, wilden Abwehr- 
bewegungen oder rücksichtslosen, wütenden Angriffen auf die 
Umgebung. Nach minutenlanger bis mehrstündiger Raserei 
endet der Zustand meist mit einem tiefen Schlaf, aus dem die 
Kranken klar, aber ohne Erinnerung für das Vorgefallene 
(Amnesie) erwachen. Eine Disposition zu solchen Zuständen 
bilden geistig abnorme oder deutlich krankhafte Zustände, vor 
allen Epilepsie, dann Hysterie, Schwachsinn, Psychopathie und 
degenerative Veranlagung, ferner Kopfverletzungen und chroni- 
scher Alkoholismus. Auslösende Momente sind Exzesse, be- 
sonders sexuelle, schwächende bezw. schädigende Einwirkungen 
(andere Krankheiten, Strapazen, Entbehrungen), große Hitze 
oder starke Temperaturschwankungen, Vergiftungen anderer Art 
oder auch psychische Erschütterungen, Kummer, starker Ärger, 
Schreck u. dergl. Die atypischen Rauschzustände können während 
des Trinkens auftreten, ohne daß es bis zu deutlicher Trunkenheit 
gekommen ist, oder auch durch irgend eine äußerliche Ver- 
anlassung, wie das Erscheinen eines Schutzmannes oder An- 
drohung mit Verhaftung, sich in die Trunkenheit einschieben 
(„Blaukoller“), oder schließlich im Halbschlaf nach einem 
Rausch durch eine plötzliche Unterbrechung des Schlafes (alko- 
holische Schlaftrunkenheit) entstehen. Ohne Frage findet für 
diese Zustände, die mit dem gewöhnlichen Rausch nur das ge- 
meinsam haben, daß sie auch durch Alkoholgenuß entstanden 
sind, im übrigen aber ein besonderes Krankheitsbild zeigen, 
der zweite Teil des Paragraphen Anwendung, der von der 
krankhaften Störung der Geistestätigkeit spricht. 


— 32 — 


Im übrigen sind die Richter nur bei „sinnloser“ Trunken- 
heit bereit, die Zurechnungsfähigkeit auszuschließen. Dabei 
wird aber der Begriff der sinnlosen Trunkenheit im allgemeinen 
außerordentlich eng begrenzt. Sobald ein Trunkener sich noch 
auf den Füßen zu halten, die Leute und Dinge in seiner Umgebung 
zu erkennen, auf Reden in irgend einer Weise, z. B. mit Schimpf- 
worten oder Drohungen, zu reagieren und ein paar zusammen- 
hängende Worte zu sprechen vermag, ist nach gewöhnlicher 
richterlicher Anschauung, die der landläufigen Ansicht des 
Publikums entspricht, die „sinnlose Trunkenheit“ noch nicht 
erreicht. Eine solche wird meistens eigentlich nur dann an- 
genommen, wenn der Trunkene überwältigt vom Alkohol am 
Boden liegt, oder ganz wirres Zeug spricht oder nur unver- 
ständliche Worte lallt. Die Richter sind also, ebenso wie die 
Laien, vielfach geneigt, die Sinnlosigkeit resp. die „Bewußt- 
losigkeit* in $ 51 mit völliger Besinnungslosigkeit im medizini- 
schen Sinne gleichzustellen, und kommen so bei Trunkenheits- 
zuständen kaum je zu Freisprechungen wegen Unzurechnungs- 
fähigkeit. Das entspricht aber durchaus nicht der Absicht des 
Gesetzgebers und dem Sinne des Gesetzes, wie die Vorge- 
schichte des Gesetzes und die Motive zu diesem beweisen. 

Die jetzige Fassung des $ 51 ist im wesentlichen aus den 
Gutachten hervorgegangen, welche die königlich preußische 
Deputation für das Medizinalwesen sowie die medizinische 
Fakultät zu Leipzig und das königlich sächsische Medizinal- 
kollegium der Kommission zur Redaktion des Gesetzes erstattet 
haben. Das Gutachten der preußischen Deputation, das zu- 
nächst eingeholt wurde, schlug folgende Fassung des Gesetzes 
vor: „Ein Verbrechen oder Vergehen ist nicht vorhanden, 
wenn die freie Willensbestimmung dadurch, daß er (der Täter) 
sich zur Zeit der Tat in einem Zustand von krankhafter 
Störung der Geistestätigkeit befand, oder durch Ge- 
walt, oder durch Drohungen oder durch besondere körper- 
liche Zustände ausgeschlossen war.“ Es wurde bemerkt, 
daß diese „alle diejenigen Seelenzustände umfassen, welche, 
ohne zu den wirklichen Geisteskrankheiten zu gehören, doch 
den Menschen der freien Willensbestimmung berauben.“ Welche 
Seelenzustände im einzelnen gemeint waren, ergibt sich aus 


dem Gutachten des Dresdener Medizinalkollegiums. Es wird 
in diesem, wie die Motive ausführen, „noch besonders da- 
rauf aufmerksam gemacht, daß es sich nicht bloß um die 
Trunkenheit und Schlaftrunkenheit, um das Fieberdelirium 
und die abnormen psychischen Zustände der Gebärenden 
handelt, sondern daß auch noch andere psychische Zustände 
hierher gehören, wie z. B. das Nachtwandeln, der psychische 
Zustand nach einem epileptischen Anfall, der Zustand der 
Verwirrung im höchsten Grade mancher Affekte, wie des 
Schreckens, der Angst und der Furcht, der abnorme Zustand 
der Vergiftung durch manche Narkotika. Das gemeinsame 
psychologische Merkmal aller dieser Zustände sei die transi- 
torische Störung des Selbstbewußtseins, und deshalb 
sei auch nach diesem gemeinsamen Merkmalen die Bezeichnung 
zu wählen.“ Und man wählte in der Erwägung, „daß für die 
außer den krankhaften Störungen der Geistestätigkeit auf die 
Willensfreiheit störend einwirkenden Zustände sich der Ausdruck 
Bewußtlosigkeit als der gemeinverständlichste und richtigste 
ergibt“, die Worte „Zustand der Bewußtlosigkeit“ an Stelle 
des zuerst beabsichtigten „bewußtloser Zustand“. Ob jener Aus- 
druck in der Tat der gemeinverständlichste und richtigste war, er- 
scheint sehr fraglich. Der Ausdruck „Bewußtseinstrübung“ 
oder „Bewußtseinsstörung“ hätte weniger zu Mißverständnissen 
Anlaß gegeben. 

Die Motive zu § 51 unterscheiden so zwei Kategorien 
von Zuständen, die die freie Willensbestimmung aufheben 
können: die krankhafte Störung der Geistestätigkeit und da- 
neben „diejenigen auf die Willensfreiheit störend einwirkenden 
Zustände, die gewöhnlich nicht als Krankheit aufgefaßt zu 
werden pflegen“, und für die der Ausdruck „Bewußtlosigkeit“ 
gewählt‘ wurde. Zu diesen Zuständen, deren gemeinsames 
Merkmal eben, wie die Motive ausführen, die transitorische 
Störung des Selbstbewußtseins ist, gehört nun nach dem 
Gutachten des Dresdener Medizinalkollegiums vor allem die 
Trunkenheit. Es genügt aber nicht jeder Zustand von „Be- 
wußtlosigkeit“, sondern dieser Zustand muß, wie der Relativ- 
satz angibt, so beschaffen sein, daß durch ihn die freie Willens- 
bestimmung ausgeschlossen ist. Auch dieser Relativsatz zeigt, 

3 


u Be 


daß unter „Bewußtlosigkeit“* nicht eine völlige Aufhebung, 
sondern nur eine Störung des Bewußtseins gemeint sein kann, 
denn „fehlt das Bewußtsein ganz, so kann selbstverständlich 
ebensowenig eine Willensfreiheit, als eine Aktionsfähigkeit 
vorhanden sein, ja es fehlt nicht bloß die Freiheit des Willens, 
sondern der Wille überhaupt“ (v. Schwarze, S. 436). Bei 
völligem Mangel des Bewußtseins sind nur instinktartige Tätig- 
keitsakte möglich, und daß diese nicht zuzurechnen seien, 
brauchte das Gesetz nicht erst zu sagen. „Der Trinker, 
welcher auf der Erde liegt, stößt instinktiv um sich, ohne nur 
im geringsten zu wissen, daß er schlägt und wohin er schlägt. 
Hier ist unbestritten volle Bewußtlosigkeit und infolge der- 
selben Unzurechnungsfähigkeit eingetreten. Allein man (sc. der 
Gesetzgeber) geht weiter und nimmt Unzurechnungsfähigkeit 
auch dann an, wenn zwar Bewußtsein noch vorhanden, aber 
dessen innerer Zusammenhang aufgehoben worden ist... ... 
Es genüge diejenige Störung des Bewußtseins, wo das vor- 
handene Bewußtsein die Folgen des Tuns nicht mehr zu er- 
fassen vermag — wo das Bewußtsein... seine Dienste ver- 
sagt, weil ihm die nötige Kontinuität verloren gegangen ist‘“.*) 


+) Zu einem ähnlichen Resultat kommt auch der Staatssekretär des 
Reichsjustizamt v. Schelling in seiner zur Begründung des Gesetzent- 
wurfs betrefis der Bestrafung der Trunkenheit 1881 im Reichstage ge- 
haltenen einleitenden Rede. Er weist zunächst darauf hin, daß das Gutachten 
der preußischen wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen die 
Begrenzung des preußischen Strafgesetzes auf Wahnsinn und Blödsinn als 
Strafausschließungsgründe getadelt und die Forderung gestellt habe, dass 
außer den Geisteskrankheiten auch noch gewisse Grade der Trunkenheit, 
der Schlaftrunkenheit und des Fieberdeliriums als möglicher Grund der Un- 
zurechnungsfähigkeit zu berücksiehtigen seien. „Es entstand nun aber die 
Frage“, so fuhr v. Schelling fort, „bis zu welchem Grade sich die Trunken- 
heit gesteigert haben müsse, um als Strafausschließungsgrund zu gelten. 
Der Ausdruck „Bewußtlosigkeit* scheint auf den höchsten lähmungsartigen 
Grad der Trunkenheit hinzudeuten. Allein, m. H., in diesem Zustand bildet 
der Körper nur eine willenlose Masse, die keinem andern Gesetz als dem 
der Schwere folgt. In diesem Stadium ist die Aktionsfähigkeit aufgehoben: 
der Gesetzgeber würde etwas Unmögliches vorausgesetzt haben, wenn er 
über eine in diesem Zustand begangene Handlung hätte disponieren wollen. 
Daher führt die logische Auslegung zu dem Resultat, daß unter Bewußt- 
losigkeit nicht die völlige Abwesenheit des Bewußtseins, sondern nur die 


un 5: 


Das österreichische Str. G. B., das im Entwurf (vom 7. No- 
vember 1874) beim entsprechenden Gesetzesparagraphen in An- 
lehnung an das deutsche Str. G. B. auch die Bezeichnung „Be- 
wußtlosigkeit‘“ hatte*), hat diese fallen gelassen und dafür 
„volle Berauschung“ gewählt**), „weil die Volltrunkenheit“, wie 
es in den Motiven heißt, „nicht zur völligen Bewußtlosigkeit 
gehen muß, um eine darin begangene Handlung als nicht 
strafbar zu erklären, da der Volltrunkene strafbar bleiben 
muß, wenn er ein gewisses Bewußtsein noch beibehalten, die 
Trunkenheit aber doch einen solchen Grad erreicht hat, daß 
der Täter das Strafbare seiner Handlungen nicht einzusehen 
oder seinen Willen nicht frei zu bestimmen vermag.“ 


Nach alledem unterliegt es keinem Zweifel, daß der Ge- 
setzgeber unter Bewußtlosigkeit nicht völlige Aufhebung, son- 
dern nur Störungen des Bewußtseins verstanden wissen will, 
und zwar alle derartigen Störungen, „die ohne im engeren 
Sinne unter allen Umständen krankhaft zu sein, doch das 
Handeln des Menschen nicht als einen Ausdruck seines unge- 
trübten Willens erscheinen lassen“ (Hoche, Handb. d. ger. 
Psychiatrie, S. 460). Es ist auch zweifellos, daß man bei 
diesem Begriff speziell Trunkenheitszustände, und diese in 
erster Linie, im Auge gehabt hat. 








Störung der Kontinuität desselben verstanden werden muß, und dies 
ist jetzt die herrschende Ansicht unter den Lehrern des deutschen Straf- 
rechts. Damit aber fällt die Grenze der Zurechnungsfähigkeit noch in den 
Zustand der Exaltation, welche den lähmungsartigen Erscheinungen voraus- 
zugehen pflegt, und es ist daher lediglich der Würdigung des Richters der 
Tatfrage und der sein Ermessen leitenden Sachverständigen anheimgegeben, 
ob die Trunkenheit im einzelnen Falle bis zur Ausschließung der freien 
Willensbestimmung sich gesteigert hat (Reichstagsverh. 1881, S. 777 und 778). 

*) § 56. „Eine Handlung ist nicht strafbar, wenn derjenige, welcher 
sie begangen hat, zu dieser Zeit sich in einem Zustand von Bewußtlosigkeit 
oder krankhafter Hemmung oder Störung der Geistestätigkeit befand, welcher 
es ihm unmöglich machte, seinen Willen frei zu bestimmen oder das Straf- 
bare seiner Handlung einzusehen“. 

**) In 8 2 Abs. c heißt es: „Die Handlung der Unterlassung wird 
nicht als Verbrechen angesehen, wenn die Tat in einer ohne Absicht auf 
das Verbrechen zugezogenen vollen Berauschung oder in einer andern Sinnes- 
verwirrung, in welcher der Täter sich seiner Handlung nicht bewußt war, 
begangen wurde.“ 

Ik 


= Ie 


lm Rausche stellt der Handelnde unfraglich nicht mehr 
die ursprüngliche Persönlichkeit dar, sondern diese ist ver- 
ändert, sodaß man viele Menschen im Rausche garnicht wieder- 
erkennt, die psychischen Funktionen stehen in lockerer oder 
gar keiner Verbindung mit dem erworbenen Bewußtseinsinhalt, 
das eigentliche Wollen der Persönlichkeit, das nur bei er- 
haltenem Selbstbewußtsein zum Ausdruck gelangt, wird durch 
die Tat nicht dargestellt. 

Es fragt sich nun, wie der Rausch beschaffen sein muß, 
um eine derartige „Bewußtlosigkeit“, resp. Bewußtseinsstörung 
hervorzurufen, daß dadurch die freie Willensbestimmung aus- 
geschlossen ist. Im allgemeinen scheint der Gesetzgeber dabei 
nur an hohe, resp. die stärksten Grade der Trunkenheit ge- 
dacht zu haben. Auch nach Hofmann (Lehrb. }der ger. 
Mediz., 5. Aufl., 1891, S. 931) scheint es, daß das Gesetz nur 
bei den höheren und späteren Stadien der Trunkenheit, wo 
das Unterscheidungsvermögen hochgradig getrübt ist, Zurech- 
nungsfähigkeit ausschließen will. „Es unterliegt jedoch keinem 
Zweifel, daß schon in den früheren Stadien des Rausch- 
zustandes, und noch bevor das Unterscheidungsvermögen 
in dem vom Gesetze offenbar gemeinten Grade alteriert ist, 
die Fähigkeit des Betreffenden, gewissen Impulsen zu wider- 
stehen, so wesentlich beeinträchtigt sein kann, daß auch schon 
deshalb die Zurechnungsfähigkeit als aufgehoben angesehen 
werden muß. Dies muß umsomehr zugegeben werden, als 
sich aus dem Gebahren Berauschter unschwer erkennen läßt, 
daß überhaupt der Einfluß des Alkohols sich früher in Stö- 
rungen der Selbstbestimmungs-(Selbstbeherrschungs-) fähigkeit 
und in Alterationen des Fühlens bemerkbar macht, als in 
solchen der Intelligenz.“ 

Ähnlich äußert sich Heilbronner: „Soweit sich der 
Begriff der Bewußtseinsstörung überhaupt klinisch fassen läßt, 
wird man nicht umhin können, sie für viele — NB. auch 
leichtere — Fälle von Trunkenheit anzuerkennen“ (S. 22). 

Nach Meyer (Lehrbuch des Strafrechts, 3. Aufl., S. 142, 
cit. Schwarze, S. 439) „hebt schon ein solcher Grad von 
Trunkenheit die Zurechnungsfähigkeit auf, wonach der geistige 
Zustand des Betrunkenen hinter der Minimalgrenze des nor- 


FE: 


malen Bewußtseins zurückbleibt“. Eine Entscheidung des 
Deutschen Reichsgerichts (V, S. 338) betont direkt, daß nicht 
nur die höchsten Grade des Rausches unter das Gesetz fallen: 
„Es genügt die Feststellung einer Trunkenheit, die dem Trinker 
die Erkenntnis von der Bedeutung eines Vorganges unmöglich 
macht, selbst wenn er sonst nicht bis zur Besinnungslosigkeit 
betrunken war“ *). 

Diese Entscheidung legt den Nachdruck auf die Störung 
der Intelligenz, resp. der Erkenntnis, wie überhaupt richter- 
lcherseits die Neigung besteht, bei Fragen nach der Zurech- 
nungsfähigkeit vorzugsweise Intelligenz- oder Erkenntnisstö- 
rungen im Auge zu haben, Gefühls- und Affektsstörungen aber 
zu vernachlässigen. Die Störung der Erkenntnis, des „Bewußt- 
seins* ist aber bei der Trunkenheit nicht das wesentlichste. 


Hofmann betont mit Recht, daß der Einfluß des Alko- 
hols sich früher in Störungen der Selbstbeherrschungs- 
fähigkeit und in Alterationen des Fühlens bemerklich 
macht, als in solchen der Intelligenz. Wir haben aus den 
Resultaten der Kraepelinschen Untersuchungen ersehen, daß 
die Wirkungen des Alkohols, neben der Änderung und Labili- 
tät der Stimmung, im wesentlichen in einer Erleichterung der 
motorischen Willensantriebe, der motorischen Impulse bei 
gleichzeitiger Erschwerung und Abnahme der intellektuellen 
leistungen, speziell der Auffassung und des Urteilsvermögens 
bestehen. Bei den meisten Rauschdelikten scheint die Er- 
lichterung der motorischen Impulse das wesentlichste zu sein. 
Diese Delikte stellen sich im allgemeinen als impulsive, trieb- 
artige Affekthandlungen dar, die durch keine hemmenden Vor- 
stellungen, durch keine Überlegung aufgehalten werden. Wie 
wir ferner gesehen haben, treten die Wirkungen des Alkohols 
auf die seelischen Funktionen schon bei verhältnismäßig ge- 
ringen Mengen ein und steigern sich mit der aufgenommenen 
Menge. Der Übergang vom Beginn der Alkoholwirkung, die 





*) Eine andere Reichsgerichtsentscheidung allerdings erklärt anscheinend 
im Widerspruch damit eine Trunkenheit, die nicht in Bewußtlosigkeit aus- 
geartet ist, als nicht zu denjenigen Zuständen gehörig, welche die Straf- 
barkeit einer begangenen Gesetzesverletzung ausschließe. Es fragt sich nur, 
was das Reichsgericht hier unter „Bewußtlosigkeit* verstanden hat. 





as 798: es 


man als alkoholische Anregung, als „Angeheitertsein“, be- 
zeichnen kann, bis zum „Vollrausch“ oder der „sinnlosen 
Trunkenheit“, von der leichten Beeinträchtigung der seelischen 
Funktionen bis zu ihrer Lähmung und völligen Aufhebung 
erfolgt meist ganz allmählich, ohne daß es die trinkende 
Person merkt. Die Schnelligkeit, mit der sich dieser Über- 
gang vollzieht, und die Stärke des Rausches ist nicht 
nur von dem aufgenommenen Quantum abhängig, sondern 
auch von zahlreichen individuellen Faktoren, wie persönlicher 
Widerstandsfähigkeit, dem Füllungszustand des Magens, dem 
körperlichen Befinden, Frische oder Übermüdung, Gemütsstimm- 
ung u. dergl., oder äußeren Einflüssen, lebhaften psychischen 
Erregungen, Witterung, Temperatur etc. Es braucht ja nur 
auf die starke Wirkung verhältnismäßig geringer Alkoholmengen 
in den Tropen, sowie auf Kinder und Frauen hingewiesen zu 
werden. 

Es ist deshalb, wie v. Schwarze ganz richtig betont 
(S. 441), „nicht zu billigen, wenn, wie es häufig in der 
Praxis geschieht, das Quantum der Spirituosen als ent- 
scheidend angesehen, und namentlich aus der geringen 
Quantität ein Zweifel gegen die Annahme der Trunkenheit ab- 
geleitet wird“. Auch das äußere Gebahren gibt keinen sicheren 
Maßstab für die Schwere der psychischen Schädigung*). Wo 
allerdings starker Bewegungsdrang, schwankender Gang, Un- 
sicherheit der Bewegungen, deutliches Lallen vorhanden ist, 
wird man im allgemeinen einen so erheblichen Grad der „Be- 
wußtlosigkeit“, resp. der psychischen Störung annehmen können, 
daß von einer freien Willensbestimmung kaum mehr die Rede 
sein kann. Nun weist Cramer (S. 49) zwar darauf hin, 
daß nach Genuß bestimmter (schwerer) alkoholischer Getränke 
die Herrschaft über bestimmte Bewegungen, z. B. die Sprache 
oder die unteren Extremitäten, verloren gehe, während im 
übrigen das Bewußtsein fast intakt sei. Man kann aber wohl 
nur sagen, daß das Bewußtsein dabei scheinbar fast intakt 
sei, denn wieweit das Bewußtsein dabei wirklich intakt ist, 


*) Ähnliches gilt ja auch für die Dämmerzustände der Epileptiker und 
anderen „Trancezuständen“, wo vielfach das äußere Gebahren und Auftreten 
die Schwere der Bewußtseinsstörung garnicht ahnen läßt 


— 39 — 


wird in solchen Fällen wohl nie untersucht. Nur soviel scheint 
im allgemeinen sicher, daß gewisse alkoholische Getränke 
(z. B. Absinth) infolge der Beimengungen (ätherische Sub- 
stanzen etc.) eine, besonders starke lähmende, bezw. schädigende 
Wirkung auf die Bewegungszentren ausüben, während unter 
anderen Umständen wieder starke Bewußtseinsstörungen ohne 
erhebliche Bewegungsstörungen und ohne besondere Auffällig- 
keiten im äußeren Verhalten vorhanden sein können. Man 
darf also beim Fehlen solcher Erscheinungen einen Rausch 
nicht für ausgeschlossen halten. 

Ähnliches gilt von einem weiteren sehr wichtigen Zeichen 
für die Tiefe der Bewußtseinsstörung im Rausch, dem Ver- 
halten der Erinnerung nach dem Rausch an die Vorgänge 
während des Rausches. Erfahrungsgemäß ist nach schweren 
Bewußtseinsstörungen die Erinnerung für die Vorgänge und 
Erlebnisse während dieser ausgelöscht oder stark beeinträch- 
tigt, „weil die psychischen Eindrücke in keine feste Verbin- 
dung mit dem Selbstbewußtsein getreten sind, deshalb nicht 
haften und nicht reproduziert werden können“ (Weber, S. 772). 
Die Erfahrung zeigt nun, daß unter Umständen schon bei 
mäßigen Rauschzuständen, die vielleicht nur als Anheiterung 
oder „Spitz“ bezeichnet werden würden, die Erinnerung hinter- 
her eine sehr mangelhafte sein oder ganz fehlen kann. „Wir 
können uns“, sagt Cramer (S. 40) sehr richtig, „im Rausche 
stundenlang unterhalten, ohne am nächsten Tage eine Erinne- 
rung zu haben, was wir gesagt haben, wo wir gewesen und 
mit wem wir zusammengewesen sind. Wir brauchen dabei 
unserer Umgebung nicht einmal aufzufallen“. Daß übrigens 
auch die bei grober Prüfung scheinbar intakte Erinnerung recht 
lückenhaft sein kann, hat Heilbronner einmal experimentell 
festgestellt, indem er in einer höchstens als ganz leicht ange- 
heitert zu bezeichnenden Umgebung eine Viertelstunde lang 
die Gespräche wörtlich mitstenographierte und die Aufzeich- 
nungen am nächsten Tage den Betreffenden vorlas. Es zeigte 
sich, daß keiner von ihnen seine Worte vollinhaltlich an- 
erkennen wollte (S. 21). Solche einwandfreien Beobachtungen, 
die ein jeder alle Tage machen kann, zeigen, daß gewöhnlich 
schon bei ganz leichtem Rausch, bezw. im Beginn der Alkohol- 


zes Ao Du 


vergiftung, die Bewußtseinsstörung einsetzt, der Zusammenhang 
des Bewußtseins verloren geht! „Schon bei dem leichtesten 
Rausch“, betont Ziehen sehr richtig (S. 54), „ist die Erinne- 
rung bereits gewöhnlich nicht normal.“ Wir wissen nicht 
mehr recht, was wir sprechen und was wir tun. Das Persön- 
lichkeitsbewußtsein schwindet. Die Richter sind aber im all- 
gemeinen geneigt, wenn Angeschuldigte, die im Rausch ge- 
handelt haben, erklären, von den Vorgängen nicht das ge- 
ringste zu wissen, dies für eine „faule Ausrede“ zu halten. 
In sehr vıelen Fällen kann aber den Erklärungen der An- 
geschuldigten, wie auch v. Schwarze betont, volle Glaub- 
würdigkeit beigemessen werden. „Das Benehmen nach der 
Ernüchterung ist oft Zeugnis für die Wahrheit. Reue und 
Scham geben sich oft sehr entschieden kund“ (S. 445). Jeden- 
falls ist ein solcher Erinnerungsausfall, wenn er festgestellt 
oder allen Umständen nach wahrscheinlich ist, das sicherste 
Zeichen für eine so erhebliche Störung des Bewußtseins, resp. 
für eine solche „Bewußtlosigkeit“, daß dadurch die freie 
Willensbestimmung ausgeschlossen erscheint. 

Ebenso ist eine dunkle und getrübte (summarische) Er- 
innerung zu werten. v. Krafft-Ebing vertritt allerdings die 
ziemlich allgemein verbreitete Meinung, daß bei teilweiser 
resp. summarischer Erinnerung. „bloßes Angetrunkensein“ vor- 
liege, und die Zurechnungsfähigkeit nicht aufgehoben sei (S. 356 
und 357). Ziehen stellt dem gegenüber mit Recht die Frage, 
weshalb dem Alkoholrausch nicht dasselbe zuzubilligen sei, 
was den hysterischen und epileptischen und anderen Dämmer- 
zuständen zugestanden werde. „Dort beweist die summarische 
Erinnerung Bewußtlosigkeit (natürlich im Sinne des Gesetzes), 
hier nicht. Man könnte doch meinen, was den übrigen Dämmer- 
zuständen recht ist, ist auch den akuten Rauschzuständen 
billig.“ 

Andrerseits spricht aber das Vorhandensein der Erinnerung 
an die Tat nicht gegen einen „sinnlosen“ Rausch, da die Er- 
fahrung zeigt, daß auch nach starker Trunkenheit und erheb- 
licher Bewußtseinsstörung die Erinnerung wenigstens an die 
hauptsächlichsten Vorkommnisse erhalten sein kann. Ähnliches 
gilt ja auch für die Dämmerzustände der Epileptiker. Amnesie 


a A 


spricht für, Fehlen der Amnesie aber nicht gegen die Bewußt- 
seinsstörung. 

Im ganzen muß man sagen, daß nach dem heutigen Stande 
der Wissenschaft die Aufhebung des Persönlichkeitsbewußtseins, 
die Veränderung der Persönlichkeit, bei einem weit geringeren 
Grade des Rausches einsetzt, als man allgemein glaubt. Die 
Grenze ist allerdings schwer zu ziehen. Das gilt aber auch 
für die Beurteilung vieler anderer geistiger Störungen. 

Wegsn der außerordentlichen Schwierigkeit der Beurteilung 
dieser Zustände ergibt sich als selbstverständliche Forderung, 
daß die Richter, die sich gewöhnlich für die Beurteilung 
von Trunkenheitszuständen selbst für kompetent halten*), 
wenigstens bei schwereren Trunkenheitsdelikten stets einen 
sachverständigen Arzt zuziehen. „Eine quantitative Abschätz- 
ung der Störung ist bei der Beurteilung abnormer psychischer 
Zustände überall unumgänglich“, sagt Weber (S. 773) richtig. 

Der Gesetzgeber hat, wie die Motive zum § 51 ergeben, 
bei der Rauschwirkung nur die Bewußtseinsstörung im Auge 
gehabt und seine Absicht dahin kundgegeben, daß Trunken- 
heit als strafausschließend zu gelten habe, wenn sie einen Zu- 
stand der Bewußtseinsstörung hervorgerufen hat, durch welche 
die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Die psychi- 
schen Veränderungen, welche größere Alkoholmengen hervor- 
rufen, beschränken sich aber nicht auf die Störung des Be- 
wußtseins, die nur eine, unter Umständen wenig oder gar- 
nicht hervortretende, Seite der Rauschwirkung darstellt, sondern 
sie sind, wie bereits auseinandergesetzt worden ist, weit um- 
fangreicher und betreffen fast alle Seiten der Psyche, den 
Willen, die Gefühlssphäre und den Intellekt. 

Man hat auch in den letzten Jahrzehnten einsehen gelernt, 
daß der Rausch weiter nichts ist, als eine Geistesstörung, aller- 
dings eine sehr schnell vorübergehende (transitorische) Psy- 
chose mit ganz typischem Verlauf und günstigem Ausgang. 
Schwarzer sagt in seiner Monographie über transitorische 


*) Cramer bemerkt sehr richtig: „Bei der allgemeinen Verbreitung 
des Genusses geistiger Getränke haben die Gesetzgeber (?) sich auf den 
Standpunkt gestellt, daß, soweit der Rausch in Betracht kommt — sit venia 
verbo — jeder Richter ein Sachverständiger ist.“ 


— 42 — 


Geistesstörungen (S. 32): „Die Trunkenheit ist zweifellos ein 
pathologischer, psychopathischer Zustand .. .. sie kann bei- 
nahe alle Formen der wirklichen Geisteskrankheiten bis zur 
mania accutissima darstellen.“ 

In dem Referat, das Weber der forensisch-psychiatrischen 
Vereinigung in Dresden im Juni 1901 über die strafrechtliche 
Beurteilung des Rausches erstattet hat, äußerte er sich folgen- 
dermaßen; „Daß ein abnormer, beziehentlich krankhafter 
psychischer Zustand bei der Trunkenheit vorliegt, kann ja 
nicht bestritten werden ... Man wird um die Tatsache nicht 
herumkommen können, daß die Trunkenheit ein pathologischer 
Zustand ist, und nicht nur die sogenannte Volltrunkenheit, 
sondern die Trunkenheit in allen ihren Abstufungen von 
den geringsten Graden der gesetzten Vergiftung an. . . . Sehen 
wir uns die Erscheinungen des Rausches näher an, so 
haben wir in ihm ein ganz typisches Krankheitsbild vor 
uns, wie bei jeder andern narkotischen Vergiftung, einen 
Symptomenkomplex, der sich bei jeder Alkoholvergiftung regel- 
mäßig in der gleichen gesetzmäßigen Weise abspielt, und bei 
dem, ist einmal die Vergiftung bis zu einem gewissen Grade 
gediehen, die sogenannte freie Willensbestimmung eine sehr 
bescheidene, beziehentlich gar keine Rolle spielt... .. Daß der 
Rausch keine normale, sondern eine krankhafte Störung der 
Geistestätigkeit ist, kann nicht bezweifelt werden“ (S. 768 und 
769). Weber betont daher auch, daß bei der Beurteilung der 
Trunkenheit ohne Zweifel beide der in $ 51 des Strafgesetz- 
buches angeführten Abweichungen von der Norm in Betracht 
kommen, sowohl die krankhafte Störung der Geistestätigkeit, 
als die Bewußtlosigkeit. | 

Auch Ganser betonte in der Diskussion zu diesem Vor- 
trage, daß „jeder Rausch ein krankhafter Geisteszustand ist“ 
(S. 776). Und Wollenberg bemerkt im Handbuch der ge- 
richtlichen Psychiatrie (S. 63): „Der gewöhnliche Alkoholrausch 
bietet in seinen verschiedenen Stadien weitgehende Analogien 
mit bekannten Irrsinnsformen und ist, streng genommen, selbst 
nichts anderes als eine künstlich hervorgerufene Gei- 
stesstörung akutester Art und bester Prognose.“ 

Der medizinischen Klassifizierung und Beurteilung der 


un. dm, = 


Trunkenheit haben sich auch viele juristische Autoritäten an- 
geschlossen. In der bereits oben erwähnten Versammlung der: 
forensisch-psychiatrischen Vereinigung begann Rechtsanwalt 
Dr. Klöckner sein Korreferat über die Frage mit dem Satze: 
„Die Trunkenheit ist ein krankhafter psychischer Zustand, eine 
Vergiftungserscheinung, die die freie Willensbestimmung mehr‘ 
oder weniger beschränkt, in ihren höheren Graden vollständig 
aufhebt. Das ist ein auch für Juristen feststehendes- 
Ergebnis der medizinischen Wissenschaft“ (S. 780). 
Und in der Diskussion gaben die meisten Juristen zu, daß die 
Trunkenheit ein krankhafter Zustand sei. 

Der Strafrechtslehrer v. Bähr schreibt bereits i. J. 1875: 
„Vom medizinisch -psychologischen Standpunkte aus ist die 
Trunkenheitnichts anderes, als eine vorübergehende Geisteskrank- 
heit...“ (Grünhuts Zeitschr., S.58). Fischererklärteauf dem 
internationalen Gefängniskongreß zu Petersburg 1890 (Bd. II, 
S. 162): „Les troubles, qui viennent d’être décrits, présentent 
une analogie indéniable avec d’autres formes de l'aliénation 
mentale, particulièrement avec l’epilepsie, les cas de délir ete.“ 

Sehr entschieden spricht sich v. Schwarze dahin aus,. 
daß es sich beim Rausch um eine krankhafte Geistesstörung 
handelt: „Der durch die Trunkenheit geschaffene Zustand ist, 
wie jede andere krankhafte Störung der Geistestätigkeit zu 
beurteilen. . . Die Selbstbestimmung wird nicht sowohl durch 
die Trunkenheit beschränkt oder aufgehoben, sondern dies ge- 
schieht durch krankhafte Störungen der Gehirnfunktionen, 
wie sie durch die Trunkenheit erzeugt werden, dieser aber 
nicht ausschließlich eigentümlich sind. Es ist daher ziemlich 
einflußlos, ob man die Bewußtseinsstörungen als Fälle der Be- 
wußtlosigkeit im Sinne des Gesetzes oder als krankhafte Stö- 
rungen der Geistestätigkeit ansieht. Wie die Trunkenheit die 
Ursache einer Geistesstörung sein kann*), und sodann nur die 
letztere als das Hindernis freier Selbstbestimmung in Betracht 
kommt, so gilt dies auch von der Sinnesverwirrung, die aus 
hochgradiger Trunkenheit entstehen kann“ (S. 442). 


* v. Schwarze meint damit wohl die durch Trunksucht, durch 
chronischen Alkoholismus ausgelösten alkoholischen Geistesstörungen, wie 
den Säuferwahnsinn und den akuten halluzinatorischen Alkoholwahnsinn. 


= di Ze 


Es kann nach alledem keine Frage sein, daß der Rausch 
ine durch Alkohol hervorgerufene Geistesstörung ist und 
strafrechtlich wie diese, d. h. als ein Zustand krankhafter Stö- 
rung der Geistestätigkeit im Sinne des § 51 zu werten ist. 
Nun ist es ja richtig, daß der Gesetzgeber zur Zeit der Ab- 
fassung des Paragraphen bei den damaligen Anschauungen 
der Wissenschaft dieser Ansicht nicht war, sondern, wie ge- 
sagt, die Trunkenbheitszustände zu den Zuständen der „Bewußt- 
losigkeit* gerechnet hat. Doch ist es bei der absichtlich 
ganz allgemein gewählten Fassung des Gesetzes, wie Höpker 
richtig ausführt, wohl berechtigt, ohne sich mit den ursprüng- 
lichen Absichten des Gesetzgebers in Widerspruch zu setzen, 
heut, bei der fortgeschrittenen Erkenntnis, die Trunkenheit zu 
den Zuständen krankhafter Störung der Geistestätigkeit im 
Sinne des § 51 zu rechnen. „Hätte das Gesetz“, sagt Höpker, 
„alle geistigen Zustände, die es für strafausschließend ansieht, 
namentlich aufgeführt, so würde man kaum berechtigt sein, 
‚einer nicht aufgeführten Geisteskrankheit dieselbe Eigenschaft 
zuzusprechen, selbst wenn nachgewiesen werden sollte, daß 
‚dieselben Eigenschaften, derentwegen der Gesetzgeber die 
übrigen Krankheiten des Geistes als Strafausschließung an- 
erkannt hat, auch bei der nicht aufgeführten vorhanden sind, 
und daß sie nur deshalb nicht angeführt sei, weil sie zur Zeit 
‚der Entstehung des Gesetzes noch nicht in ihren Folgen er- 
kannt war, da dann der Gesetzausleger zum Gesetzgeber würde. 
. . . Unser Fall liegt jedoch anders, und es würde auch nie- 
mand Bedenken tragen, einen Geisteszustand, der erst seit 
kurzem als Krankheit anerkannt ist, unter den Begriff des § 51 
zu subsummieren, da die allgemeine Fassung gerade mit Rück- 
sicht darauf gegeben ist, daß der Richter, sobald er die Über- 
zeugung gewonnen hat, der Täter habe ın einem Zustande 
krankhafter Störung der Geistestätigkeit die Straftat ausgeführt, 
auf die Ursache dieses Zustandes garnicht einzu- 
gehen braucht, um Strafausschließung eintreten zu lassen; 
vorausgesetzt, daß die freie Willensbestimmung des Täters 
‚durch den Zustand ausgeschlossen erscheint. Beı der Trunken- 
heit hat man Bedenken getragen, ebenso zu verfahren, weil 
‚der Gesetzgeber ausdrücklich ausgesprochen hat, daß sie unter 


ze Me e 


die Bewußtlosigkeitszustände zu rechnen sei, und verlangte 
den Nachweis, daß der Alkohol eine Störung des Bewußtseins. 
hervorgerufen habe, durch welche die freie Willensbestimmung 
ausgeschlossen war, um den $ 51 in Anwendung zu bringen. 
Es ist nun nicht einzusehen, worin der Unterschied in beiden 
Fällen liegen soll. Nachdem man neuerdings erkannt hat, daß 
die Trunkenheit wohl imstande ist, Zustände der Geistesstörung 
zu erzeugen, kann man sich doch deshalb nicht abhalten lassen, 
diesen Teil des Paragraphen anzuwenden, weil die Trunken- 
heit schon in anderen Fällen strafausschließend wirken kann. 
Denn der Gesetzgeber kann doch dadurch, daß er die hoch- 
gradige Trunkenheit zu den Bewußtlosigkeitszuständen rechnete, 
nicht haben sagen wollen, daß, falls man entdecken sollte, 
daß durch den Alkoholgenuß auch krankhafte Störungen der 
Geistestätigkeit hervorgerufen werden könnten, der sonst für 
solche Fälle gegebene Teil des $ 51 nicht in Anwendung 
kommen dürfe“ (S. 12 und 13). 


Es würde übrigens das zweckmäßigste sein, wenn bei der 
Revision des Strafgesetzbuches, die Worte „von Bewußtlosig- 
keit“ in dem § 51 ganz gestrichen würde. Denn die Bewußt- 
seinsstörungen, speziell die in den Motiven angeführten (Trunken- 
heit, Schlaftrunkenheit, Fieberdelirium, die abnormen psychi- 
schen Zustände der Gebärenden, das Nachtwandeln, der psy- 
chische Zustand nach einem epileptischen Anfall etc.), sind doch 
unzweifelhaft krankhafte Störungen der Geistestätigkeit, z. T. 
sogar, wie das Fieberdelirium und die postepileptischen Zustände, 
ausgesprochene Geistesstörungen und seinerzeit nur aus 
praktischen Gründen, weil die damalige Anschauung sie nicht 
dazu rechnete, sondern als krankhafte Zustände besonderer Art 
ansah, besonders als strafausschließend angeführt worden. 
Heute, bei dem Fortschritt der Wissenschaft, hat diese Hervor- 
hebung besonderer psychischer Krankheitszustände keinen 
rechten Zweck mehr, zumal ihr Zustandsbild, wie wir dies 
2. B. bei der Trunkenheit gesehen haben, nicht durch die Be- 
wußtseinsstörung erschöpft wird. | 


Es wird aber überhaupt bei Trunkenheitszuständen auch 
der Begriff der Bewußtlosigkeit des $ 51 so wenig wie 





ae AB s 


‘möglich in Anwendung gezogen. Es kommt höchst selten vor, 
-daß bei einem eines Trunkenheitsdelikts Angeklagten ein Zu- 
‚stand der „Bewußtlosigkeit* angenommen wird, und Frei- 
sprechung erfolgt. Daß diese Praxis nicht in der Absicht des 
Gesetzgebers liegt und eine Ungerechtigkeit bedeutet, dürfte 
nach den vorangegangenen Erörterungen klar sein. 

Ziehen betont sehr richtig: „Wenn genau derselbe Zu- 
stand statt nach Alkoholgenuß bei einem Epileptischen auf- 
tritt, würde man ihn unzweifelhaft zu den Zuständen der Be- 
wußtlosigkeit rechnen und den Täter freisprechen.“ Ähnlich 
‚äußert sich Cramer (S.54): „Würde infolge eines anderen 
-Giftes, als der Alkohol, z. B. durch Kohlenoxydgas, ein Zu- 
stand hervorgerufen, der in seinen Erscheinungen mit denen 
‚eines auch nur mäßigen Rausches sich deckte, so würden Sach- 
verständige und Richter, wenn es in diesem Zustande zu einem 
Konflikt mit dem Strafgesetzbuche gekommen wäre, kein Be- 
‚denken tragen, den 8 51 des Strafgesetzpuches in seine Rechte 
treten zu lassen“ (S. 36). Und Weber bemerkt (S. 771): 
„Wenn wir sehen, daß bei diesem Zustande. auch ohne daß 
‚das Bewußtsein erheblich oder überhaupt beeinträchtigt ist, 
von vornherein und allmählich steigend die intellektuelle 
Leistungsfähigkeit eine erhebliche Herabminderung erfährt, die 
Auffassungsschärfe herabsetzt, das Urteil getrübt ist, intensive 
psychomotorische Reizerscheinungen sich geltend machen, die 
Affekte gesteigert, die sittlichen Gefühle geschädigt sind, so 
würde man die gleichen Erscheinungen bei jeder anderen psy- 
chischen Affektion mit zweifellosem Erfolge gegenüber der Zu- 
‘rechnungsfähigkeit geltend machen.“ Der Alkohol aber bildet 
‚einen Ausnahmefall, hier wird die Konsequenz fast regelmäßig | 
nicht gezogen, obgleich man von der Richtigkeit dieserKonsequenz 
"wissenschaftlich überzeugt ist, und der Geisteszustand während 
des Rausches wird möglichst wenig oder garnicht berücksichtigt. 
Und dies geschieht nicht nur von seiten der Richter, sondern, 
wie schon der oben angeführte Satz Cramers andeutet, auch 
von seiten der sachverständigen Ärzte. Zu diesen gehört 
‘Cramer selbst, der den offensichtlichen Widerspruch 
zwischen der wissenschaftlichen Auffassung und der Praxis 
‚offen zugibt. Wollenberg betont ausdrücklich: „Auch ein 


ze AT Zu 


großer Teil jener vorübergehenden psychischen Störungen, die 
infolge akuter Alkoholintoxikation als „normaler“ Rauschzu- 
stand auftreten, müßte streng genommen die gleiche Beurtei- 
lung erfahren; dies gilt insbesondere von den in Zuständen 
normaler maximaler alkoholischer Berauschung begangenen 
Handlungen, bei denen es oft vom Zufall abhängt, in welcher 
Richtung die Entäußerung erfolgt. ... Wenn diese und ähn- 
liche Fälle nur deshalb, weil der Alkoholberauschte seinen 
Zustand und die daraus entstehenden Folgen selbst verschuldet 
hat*), nicht als Zustände krankhafter Bewußtlosigkeit ange- 
sehen werden, so ist dies eine bewußte Inkonsequenz, 
da ein prinzipieller Unterschied zwischen den Zuständen des 
Alkoholrausches und jenen andersartig bedingten Bewußtseins- 
störungen offenbar nicht existiert (S. 651). 


Woher nun diese bewußte Inkonsequenz, dieser offen- 
kundige Widerspruch zwischen Wissenschaft und Praxis? Erer- 
klärt sich und wird hauptsächlich begründet durch den „Zwang 
der Verhältnisse“ (Heilbronner), durch die außerordentliche 
Massenhaftigkeit der Rauschdelikte, deren man sich nicht er- 
wehren zu können glaubt, wenn man auch nur einen Teil der 
wegen solcher Delikte Angeklagten in Berücksichtigung ihres 
Geisteszustandes freisprechen wollte. „Die Exkulpierung auch 
nur in der Mehrzahl der Trunkenheitsdelikte würde einfach 
die Rechtssicherheit in Frage stellen“ (Heilbronner, S. 23). 
Dazu kommt die Rücksicht auf die Volksauffassung (Cramer, 


*) Dabei bedenkt man aber nicht, daß auch die alkoholischen Psychosen» 
wieder Säuferwahnsinn und halluzinatorische Wahnsinn der Trinker, die doch 
die freie Willenskraft aufheben, durch „selbstverschuldeten* Alkoholmißbrauch 
entstanden, also selbstverschuldet sind und eigentlich, nach der Volksauf- 
fassung eine weit schwerere Verschuldung darstellen,da sie durch fortgesetzte 
Exzesse entstanden sind, während beim Rausch nur ein einmaliger Exzeß 
zu Grunde liegt. In der Tat hat auch ein Pariser Kriegsgericht kürzlich 
einen Soldaten, der in einer ausgesprochenen Alkoholpsychose einen Menschen 
getötet hatte, verurteilt mit der Motivierung, daß er seinen Zustand durch 
die Trunksucht verursacht und folglich die in diesem Zustand verübte 
Handlung selbst verschuldet habe. Nach denselben Grundsätzen wäre auch 
die Alkoholepilepsie selbstverschuldet, und ein Dämmerzustand bei einem 
Epileptiker, der in Folge von Trunksucht epileptisch geworden ist, dürfte 
keinen Strafausschließungsgrund bilden. 





— 48 — 


S. 38) und das besonders von Ziehen hervorgehobene und auch 
von Wollenberg angedeutete moralische Motiv, daß der 
Rausch durch einen „selbstverschuldeten* Alkoholexzeß her- 
vorgerufen sei, während dies sich bei ähnlichen Zuständen 
- anderer Art, bei den epileptischen Dämmerzuständen, um eine 
unverschuldete Krankheit handle (s. Anm. zu S. 47). 


Und diesen Erwägungen tragen auch meist die medizini- 
schen Sachverständigen Rechnung. Aschaffenburg betont 
direkt im Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie (S. 18): „Es 
muß auch eine Abwehrmaßregel der Gesellschaft gegen die 
Ausschreitungen der Angetrunkenen geben, und vorläufig liegt 
diese nur in deren Bestrafung.* Viele ärztliche Autoren wollen 
deshalb ein Gutachten über einen gewöhnlichen Rausch als 
nicht zu den ärztlichen Kompetenzen gehörig ablehnen. So 
meint Wollenberg (a. a. O.): „Indessen wird der Sachver- 
ständige, so lange dieser Standpunkt (sc. der Bestrafung der 
Rauschdelikte als Fahrlässigkeit) nicht anerkannt ist, in foro 
sich gegenwärtig zu halten haben, daß weder die Feststellung des 
gewöhnlichen Rausches an sich, noch die Beurteilung seines 
Grades mit Bezug auf die Zurechnungsfähigkeit zur Kompetenz 
des medizinischen Sachverständigen gehört.“ Cramer und 
Heilbronner fordern ausdrücklich, daß der Arzt es ablehnen 
solle, sich über einen „normalen“ Rausch gutachtlich zu 
äußern. Cramer sagt in einem der Schlußsätze zu seinem 
Aufsatz: „Da der Arzt nur über Krankheit ein Gutachten 
abgibt, nicht aber über einen normalen Rausch und 
dessen Grade, wird er, wenn er überhaupt gefragt wird, 
es ablehnen, sich gutachtlich zu äußern“ (S. 60). Und Heil- 
bronner meint: „Der Arzt wird, wenn er als sachverständiger 
Berater gerufen wird, nicht aus einem Kompromisse zwischen 
wissenschaftlichen Anschauungen und praktischen Erforder- 


* Cramer steht also nicht an, den Tatsachen solche Gewalt anzutun, 
daß er dem Rausch die Bedeutung als Krankheit abspricht, ja ihn sogar 
im Gegensatz zur Krankheit setzt. Er müßte ganz folgerichtig auch der 
Kohlenoxydvergiftung und alle Vergiftungen überhaupt die Bezeichnung 
„Krankheit“ absprechen. Und doch werden alle diese Zustände mit Einschluß 


der akuten „normalen“ Alkoholvergiftung in den Lehrbüchern der Pathologie 
abgehandelt. 


— 49 — 


nissen eine künstliche Definition der sinnlosen Trunkenheit 
schaffen dürfen, und wird die Beantwortung der Frage nach 
dem Vorliegen einer solchen in der gewöhnlichen Fassung ab- 
zulehnen haben. Als Sachverständiger hat sich . . . der Arzt 
über die Trunkenheit nur dann zu äußern, wenn noch be- 
sondere krankhafte Momente vorgelegen haben.“ 

Mir scheint dieser Standpunkt ebenso unhaltbar, wie der 
praktisch - gleichbedeutende, den z. B. Gaupp einnimmt, 
indem er erklärt: .daß der Rausch im wissenschaftlichen Sinne 
zwar immer eine Geistesstörung sei, daß aber im vorliegenden 
Falle keine Geisteskrankheit oder Bewußtlosigkeit im Sinne 
des § 51 des R. Str. G. B. vorliege“, wobei er in den Sinn des 
$51 die Absicht des Gesetzgebers hineindeutet, Trunkenheits- 
zustände vom Geltungsbereiche dieses Paragraphen auszu- 
schließen. Das widerspricht aber, wie ich gezeigt habe, den 
Tatsachen direkt 

Es sind, wie gesagt, rein äußere Gründe, teils Erwägungen 
moralisierender Natur, teils die Rücksicht auf die Volksanschau- 
ung, welche „in der Trunkenheit nicht einen Freibrief für alle 
möglichen Delikte sehen will“, und auf die Massenhaftigkeit 
der Trunkenheitsdelikte, die zu diesem unkonsequenten und 
unnatürlichen Standpunkte führt. 

Zunächst bat der Arzt gar nicht das Recht, wie Cramer, 
Heilbronner und Wollenberg es wünschen, das Gutachten 
über einen „normalen“ Rausch abzulehnen, wenn er dazu auf- 
gefordert wird. Da nach dem ausgesprochenen Willen des 
Gesetzgebers unter den § 51 auch die Trunkenheit fällt, und 
zwar die Trunkenheit ganz allgemein (und nicht nur Trunken- 
heit, bei der noch „besondere krankhafte Momente vorgelegen 
haben“, wovon in den Motiven zum $ 51 nichts steht), so kann 
die Mitwirkung des Arztes bei der Entscheidung der Frage, 
ob bei einem Rausch die Bedingungen des $ 51 erfüllt sind, 
im Einzelfalle gar nicht entbehrt werden, und der Arzt darf 
sich daher dieser Pflicht, die von ihm gefordert wird und nach 
dem Gesetze zu leisten ist, nicht entziehen*), sofern er sich 


*) Von Schelling sagt in seiner oben zitierten Reichstagsrede: „Es ist 
der Würdigung des Richters und der sein Ermessen leitenden Sach- 
verständigen anheimgegeben, ob die Trunkenheit im einzelnen Falle bis 


4 


s= N. -— 


die sachverständige Beurteilung eines Geisteszustandes und 
seiner Wirkungen auf die Zurechnungsfähigkeit überhaupt zu- 
traut. Ich wüßte auch nicht, wer anders die sachgemäße 
Feststellung eines Rausches, seines Grades und seines Ein- 
flusses auf die Handlungsfähigkeit, wenn dies in foro für not- 
wendig erachtet wird, vornehmen soll, als der psychiatrisch 
gebildete Arzt. 


Die meisten Laien halten sich allerdings, wie schon be- 
merkt, wegen der außerordentlichen Häufigkeit des Rausches, 
den viele selbst wiederholt durchgemacht haben, für sach- 
verständig genug, einen Rauschzustand beurteilen zu können. 
Aber die Erfahrung ergibt zur Genüge, daß gerade in dieser 
Beziehung von Laien, die nur nach einigen äußeren Merkmalen 
urteilen, so häufig schwere Irrtümer begangen werden. Wie 
oft kommt es nicht vor, daß Personen, die betrunken sind, von 
ihrer Umgebung für nüchtern gehalten werden, weil sie das Gleich- 
gewicht und die Formen noch einigermaßen bewahren, während 
anderseits häufig genug Personen für trunken gehalten, und 
als Trunkene behandelt werden, die von irgend einer andern 
Krankheit befallen sind! Wer die Beurteilung von Rausch- 
zuständen Laien und den Richtern überläßt, weil diese ge- 
nügend Gelegenheit haben, Rauschzustände zu beobachten, und 
sich für zuständig halten, kann mit demselben Recht auch 
die Beurteilung von Geistesstörungen Irrenwärtern und andern 
Irrenanstaltsbeamten überlassen, weil diese dauernd mit Geistes- 
kranken umgehen und die reichlichste Gelegenheit haben, Gei- 
stesstörungen zu beobachten. Und noch eins. Sowohl die 
Ärzte, die es überhaupt ablehnen, sich über „normale“ Rausch- 
zustände zu äußern, als die, die prinzipiell erklären, daß 
„normale“ Rauschzustände die freie Willensbestimmung im 
Sinne des $ 51 nicht ausschließen, setzen sich, da sie denselben 
Standpunkt auch bei den Zuständen „normaler maximaler 
Berauschung“, also bei der „sinnlosen Trunkenheit“, wie Heil- 


zur Ausschließung der freien Willenskraft sich gesteigert bat.“ Schelling 
hält also die Zuziehung von Sachverständigen bei der Beurteilung von 
Trunkenheitszuständen vor Gericht für selbstverständlich. Und ebenso selbst- 
verständlich ist e3 daher, daß die Sachverständigen nicht bei solchen Zustän- 
den das Gutachten prinzipiell ablehnen. 


>, i 22 


bronner direkt ausspricht, einnehmen, mit dem Volksbewußt- 
sein in Widerspruch, das ihnen zum Teil angeblich für die 
Haltung maßgebend ist, denn das Volksbewußtsein will ohne 
Frage bei sinnloser Trunkenheit die Zurechnungsfähigkeit aus- 
geschlossen wissen, und auch kein Richter steht an in Fällen, 
wo er sinnlose Trunkenheit für konstatiert hält, die Zurech- 
nungsfähigkeit auszuschließen. 


Nun gibt es auch Autoren, die einen vermittelnden 
Standpunkt einnehmen, indem sie zwar Zustände der „Voll- 
trunkenheit“ als Bewußtlosigkeit im Sinne des $ 51 auf- 
fassen, im übrigen aber bei Rauschzuständen die Zurech- 
nungsfähigkeit bejahen. Sie statuieren also, wie Ziehen 
(a. a. O.) sich ausdrückt, für den Alkoholrausch eine spezielle, 
etwas engere Bewußtlosigkeit, als bei ganz ähnlichen Zuständen 
anderer Herkunft. Auch dieser Standpunkt ıst unhaltbar. Mit 
Recht erklärt Ziehen: „Für den nach seiner Wissenschaft 
objektiv urteilenden Arzt scheint mir ein solches Abmodeln 
der Begriffe verfehlt. Ich stehe nicht an, jeden Alkoholrausch, 
wenn die Erinnerung nur summarisch ist, zu den Zuständen der 
Bewußtlosigkeit zurechnen. Das Gesetzbuch mutet unsschon genug 
prokrustesartige Einzwängungen und Anpassungen zu ; soweit darf 
das Sacrificium intellectus nicht gehen, daß wir denselben 
Begriff hier so und dort anders definieren. Wir haben die 
Gesetzgebung nicht aus und mit moralischen Mo- 
tiven nachträglich zu ergänzen.“ 


In der Tat ist es doch, wie ich an anderer Stelle über 
diesen Gegenstand ausgeführt habe*), „in der Wissenschaft 
unmöglich, zweierlei Buch zu führen und Zustände, die durch 
ein allgemein gebrauchtes Gift hervorgerufen werden, anders 
zu beurteilen, als ganz entsprechende Zustände, die durch ein 
seltenes Gift erzeugt werden. Man müßte ja denn auch dazu 
kommen, die Rauschdelikte verschieden zu beurteilen, je nach- 
Tann 

*) 1. Die forensische Beurteilung und Behandlung der von Trunkenen 
und von Trinkern begangenen Delikte. Zentralbl. f. Nervenheilk. und Psy- 
€hiatrie 1906, 2. Alkohol und Kriminalität. Wiesbaden 1906, S. 183. 
Ich kannte übrigens damals die Ziehenschen Ausführungen über den 
Gegenstand noch nicht. 

4* 


dem man sich in einem Lande befindet, wo diese seltene 
Ausnahmen sind, wie wahrscheinlich in den muhamedanischen 
Ländern, oder an der Tagesordnung sind, wie bei uns. Nein, 
der Arzt steht da als Vertreter seiner Wissenschaft und hat 
einzig und allein zu entscheiden nach den Normen, die ihm 
seine Wissenschaft an die Hand gibt, ganz gleichgiltig, welche 
Konsequenzen sich daraus für die Praxis ergeben. Die Wissen- 
schaft darf ihre Resultate nicht nach den bestehenden Verhält- 
nissen ummodeln, sondern die Verhältnisse des praktischen 
Lebens müssen sich nach den Resultaten der Wissenschaft 
umgestalten.*“ Weil vorläufig der Staat den zahllosen Rausch- 
delikten nicht anders entgegenzutreten weiß, als daß er die 
Täter ohne Rücksicht auf ihren Geisteszustand zur Zeit der 
Tat für kürzere oder längere Zeit in Gefängnisse und Straf- 
anstalten sperrt — ohne in Wirklichkeit dadurch irgend eine 
Besserung herbeizuführen, im Gegenteil, die Rauschdelikte 
nehmen, wie gezeigt worden ist, außerordentlich zu —, so soll 
der Arzt als Sachverständiger dieses unzweckmäßige Vorgehen 
mit dem Stempel der Wissenschaft sanktionieren, indem er 
bei Trunkenheitszuständen entweder sich für unzuständig er- 
klärt und den Täter dem Urteil des Richters, d. h. der Ver- 
urteilung überläßt, oder sein Gutachten in einem dem Richter 
gefälligen Sinne abgibt? 

Es kann nicht scharf genug gegen diese Anschauung 
Front gemacht werden. Solche „durch praktische Rück- 
sichten denaturierten Gutachten“ liegen sicher nicht im Inter- 
esse der Rechtsprechung und der Gerechtigkeit, auch ent- 
sprechen sie nicht den Absichten, die die Gesetzgebung mit 
den Bestimmungen über die Hinzuziehung von Sachverständigen 
hat. Die Rechtsprechung hat das lebhafteste Interesse, die 
tatsächlichen Verhältnisse festzustellen, und deshalb zieht der 
Richter, um auf Gebieten, auf denen ihm die Fachkenntnisse 
mangelt, Aufklärung über die tatsächlichen Verhältnisse zu 
erhalten und sein Urteil zu läutern, Sachverständige zu. Der 
Sachverständige hat daher die Pflicht — und dazu ist er auch 
durch seinen Sachverständigeneid gezwungen —, die vom 
Richter an ihn gestellten Fragen, unbeeinflußt durch äußere 
Rücksichten irgend welcher Art, „nach bestem Wissen und 


u GF a 


Gewissen“, zu beantworten und das Gutachten zu erstatten 
einzig und allein nach den Kriterien, die ihm die Wissenschaft 
in ihrer Anwendung auf den einzelnen Fall in die Hand gibt. 
Und so hat auch bei Rauschdelikten der ärztliche Sachverständige 
das Gutachten nur auf Grund der durch seine Fachwissenschaft 
geleiteten Untersuchung über den psychischen Zustand des 
Angeklagten zur Zeit der Tat abzugeben*), gleichgiltig, wodurch 
dieser Zustand herbeigeführt worden ist, und sich dabei nicht 
durch Rücksichten auf die etwaigen praktischen Konsequenzen 
des Gutachtens leiten zu lassen. Er hat sein Gutachten ebenso 
abzugeben, wie bei Geistesstörungen anderer Art, bei denen 
er sich doch auch nicht durch Erwägungen bestimmen läßt, 
was bei einem auf Unzurechnungsfähigkeit lautenden Resultate 
die Behörden hinterher mit dem freigesprochenen Delinquenten 
anfangen, und ob genügende und zweckmäßige Einrichtungen 
zur Unterbringung gemeingefährlicher Geisteskranker vorhanden 
sind oder nicht. 


Man kann im allgemeinen Weber nur beistimmen, wenn 
er sagt: „Der ärztliche Sachverständige wird . . . den Rausch 
immer als krankhaften Zustand ansehen und daraus seine 
Konsequenzen ziehen “müssen“ (S. 773). Was der Richter, 
bezw. die Gesellschaft mit den wegen einer im Rausche be- 
gangenen Straftat Angeklagten anfängt, wenn sie wegen Un- 
zurechnungsfähigkeit zur Zeit der Tat freigesprochen sind, das 
mag Sorge der Gesetzgeber sein, geht aber den Sachverstän- 
digen als solchen garnichts an. Wenn Aschaffenburg 
(Handbuch d. ger. Psychiatrie S. 8) meint, daß es eine Ab- 
wehrmaßregel der Gesellschaft gegen die Ausschreitungen der 
Trunkenen geben müsse und diese vorläufig nur in deren Be- 
strafung liege, so spricht er nicht vom Standpunkte des Sach- 
verständigen, sondern von dem der Gesellschaft, bezw. des 
Strafrichters. 


*) Ich kann Ziehen nur beistimmen, wenn er die Tätigkeit des Sach- 
verständigen vor Gericht dabin präzisiert, daß dieser einfach eine möglichst 
eingehende Schilderung und Zergliederung der durch den Alkohol in dem 
speziellen Falle hervorgerufenen psychischen Symptome zu geben und ihren 
Einfluß auf die Handlung darzulegen, das weitere aber dem Richter zu 
überlassen habe. 


— 54 — 


Aber Aschaffenburg ist auch im Irrtum, wenn er die 
Bestrafung für die einzige vorläufig mögliche Abwehrmaßregel 
gegen die Ausschreitungen der Trunkenen erklärt. Durch die 
Bestrafung wird ja, wie gesagt, nicht das mindeste erreicht. 
Die Trunkenheitsdelikte nehmen, wie zumal die gefährlichen 
Körperverletzungen zeigen, immer mehr zu, und besonders 
stark ist diese Zunahme bei den Rückfällen, die sich seit 1382 
beinahe vervierfacht haben. Läßt sich denn auch irgend je- 
mand, der wegen eines Rauschdelikts bestraft worden ist, durch 
die Strafe von weiterem Trinken abhalten? Zum Abstinenten 
macht die Strafe sicher niemanden, und doch müßte dies die 
Folge sein, wenn die Strafe ihren Zweck erfüllen soll, denn 
wer erst einmal wieder anfängt zu trinken, ist nie davor sicher, 
abermals in einen Rausch zu geraten und im Rausche wieder 
eine Straftat zu begehen. Will die Gesellschaft also eine Ab- 
wehrmaßregel gegen die Ausschreitungen der Trunkenen haben, 
so ist die einzig wirksame die, daß sie Jeden, der im Rausch 
eine Straftat verübt hat, zur Enthaltsamkeit bringt resp. er- 
zieht. Auch unter den augenblicklichen Verhältnissen, wo ge- 
wöhnlich ohne Rücksicht auf den Geisteszustand des Berauschten 
die Bestrafung erfolgt, läßt sich ohne Änderung der Gesetz- 
gebung in dieser Beziehung viel erreichen, wenn nur die 
Richter und die Strafvollstreckungsbeamten von der Notwendig- 
keit der Abstinenz für alle, die im Rausche sich vergangen 
haben, durchdrungen sind, wozu allerdings ein genügendes 
Verständnis der Alkoholfrage bei diesen Instanzen die Voraus- 
setzung ist. 

Vor allen Dingen verspricht das Prinzip der bedingten 
Verurteilung gerade bei Rauschdelikten, wo es, soweit mir 
bekannt, noch garnicht Anwendung gefunden hat, einen großen 
Erfolg (natürlich vorzugsweise bei erstmalig Angeklagten 
und bei Gelegenheitstrinkern), wenn die Vollziehung der Strafe 
mit der Maßgabe ausgesetzt wird, daß der Verurteilte von nun 
an alle alkoholischen Getränke zu meiden, also enthaltsam zu 
leben, unter Umständen auch einer Enthaltsamsvereinigung 
(Guttempler, Blaues Kreuz etc.) sich anzuschließen habe*), 


2 Ein entsprechender eindringlieher Rat und eine Verwarnung wird in 
jedem Falle zweckmäßig sein. 


ed, EB, u 


daß aber, sobald ein Rückfall in die Trinksitten gerichtskundig 
werde, speziell bei Begehung eines weiteren Rauschdelikts, die 
Vollziehung der Strafe erfolgen werde. Wenn dazu die ernsten 
Vorhaltungen des Richters und eine eindringliche kurze Auf- 
klärung über den verbrechenzeugenden Einfluß des Alkohols 
kommen, so wird eine solche Maßregel ihre Wirkung sicher 
nicht verfehlen, zumal wenn es sich, wie bei so vielen Fällen, 
um ganz anständige und achtbare, durchaus nicht kriminell 
veranlagte Personen handelt, die nur durch einen gelegent- 
lichen Rausch zu einer Straftat geführt worden sind, deren 
sie im nüchternen Zustande nie fähig gewesen wären. Hier 
wird ohne Frage die drohende Strafe, das dauernd über 
ihnen hängende Damoklesschwert, den gewünschten Erfolg 
haben*,. Dazu würde noch die indirekte günstige Wirkung 
kommen, die ein solches Verfahren auf die Anschauungen des 
Volkes über das Trinken und die Trinksitten haben müßte 


*) Die bedingte Verurteilung wird, wie ich sehe, auch von Heinze 
(S. 139) empfohlen, aber nur bei dem Delikt der Trunkenheit selbst, die 
Heinze bestraft wissen will (ich komme darauf noch zurück), und „be- 
sonders dann, wenn der Schuldige sich im allgemeinen gut führt und nur in 
einem Augenblick der Versuchung unterlegen ist und, wenn man hoffen 
kann, daß die ihm drohende Strafe für die Zukunft eine genügende Warnung 
sein wird. Diese Wirkung kann noch durch geeignete Ermahnung des 
Richters verstärkt werden“. Von der Notwendigkeit der Abstinenz spricht 
aber Heinze nicht, was seinen einfachen Grund darin hat, daß man da- 
mals (1890) die Abstinenz in Deutschland noch nicht kannte. — Bereits 
Friedrich der Große hat in einem speziellen Falle in einer Kabinettsorder 
an den Etatsminister v. Dankelmann (Arch. Borussiae Bd. 8) ähnliche An- 
schauungen geäußert: „Da ich aus Eurem Berichte vom 24. dieses mit 
mehreren erfahren habe, wie ein jetziger Rektor zu Schniegel in Polen, 
namens Kutzner, vor einigen Jahren in der Trunkenheit sich vergangen, 
daß derselbe sich verschiedene unbesonnene Expressionen über mein Sujet 
entfahren lassen, und was für eine Bestrafung ihm durch den Kriminalsenat 
in Berlin erkannt werden soll, so ist Euch darauf zur Resolution, daß, weil 
dieser Mensch durch die Trunkenheit in die elenden Umstände gesetzt 
worden, daß er seine Vernunft gar nicht mächtig gewesen und deshalb aller- 
hand unbesonnenes Zeug ausgestossen hat, so mehr zu verachten, als zu 
bestrafen ist, Ich demselben die ihm diktierte Strafe gänzlich erlassen will, 
dergestalt, daß er des Falles nicht einmal eine Geldbuße erlegen, sondern 
zum höchsten mit einem Verweis und Verwarnung sich hinfüro vor dem 
Trunk zu hüten, abgefertigt werden soll (zit. nach Juliusburger im Alkohol- 
gegner, Sept. 1906). 


und geeignet wäre, den Alkoholmißbrauch und damit die 
Rauschdelikte einzudämmen. 

Wenn aber von der Möglichkeit der bedingten Verur- 
teilung kein Gebrauch gemacht wird, und die Vollziehung der 
Strafe erfolgt, so muß wenigstens während des Strafvollzugs 
alles geschehen, um die Häftlinge zur Abstinenz zu erziehen. 
Eine solche Erziehung kann, wie jetzt allgemein anerkannt 
ist, in zweckmäßiger Weise nur in einer abstinenten Umgebung 
erfolgen, und daraus ergibt sich die Notwendigkeit, daß die 
Strafanstalten alkoholfrei werden, oder daß wenigstens für die 
kriminellen Trinker besondere Strafanstalten bestimmt werden, 
in denen die Abstinenz durchzuführen ist. Diese muß sich 
natürlich auch auf alle Beamten erstrecken. Aufgabe dieser 
Beamten ist es dann, „mit der Überzeugung und Erfahrung, 
welche die persönliche Enthaltsamkeit verleiht“ (Dalhoff), 
die Gefangenen über Wesen und Wirkungen der alkoholischen 
Getränke aufzuklären und auf sie dahin einzuwirken, daß sie 
den festen Entschluß fassen, abstinent zu leben. Die Ein- 
wirkung hat auch dahin zu gehen, daß die Sträflinge nach 
ihrer Entlassung einer Enthaltsamkeitsvereinigung beitreten, 
der sie bei der Entlassung überwiesen leben, um hier den 
nötigen Anschluß und Halt zu finden; unter Umständen auch, 
daß sie sich, besonders, wenn es sich um Gewohnheitstrinker 
handelt und die Haftzeit eine zu kurze ist, um eine genügende 
erziehliche Behandlung möglich zu machen, nach der Ent- 
lassung noch auf einige Zeit freiwillig in eine Trinkerheil- 
anstalt begeben. 

Alle diese Maßnahmen sind schon bei den heutigen Ver- 
hältnissen und bei der heutigen Gesetzgebung möglich. Die 
Einführung der Abstinenz in die Strafanstalten dürfte aller- 
dings vorläufig noch einigen Schwierigkeiten und von manchen 
Seiten auch einem gewissen Widerstande begegnen. 

Es fragt sich nun, wie die Strafgesetzgebung in Bezug 
auf die Rauschdelikte zweckmäßig dem heutigen Stande der 
Wissenschaft gemäß abzuändern ist. Die Bestrafung der 
Trunkenheitsdelikte ist ja im allgemeinen widersinnig, da, wie 
wir gesehen haben, der Rausch ein krankhafter Geisteszustand 
ist, der die Zurechnungsfähigkeit aufhebt oder mehr oder 


za BI a 


weniger erheblich beschränkt. Daher ist nicht Bestrafung, 
sondern Behandlung am Platze. Die spezielle Erwähnung der 
Trunkenheit als eines Strafausschließungsgrundes oder straf- 
mildernden Umstandes, wie dies im italienischen Strafgesetz- 
buch geschehen ist, halte ich nicht für notwendig. Der $ 51 
des deutschen R. Str. G. B. genügt vollständig, da die Trunken- 
heit eben zu den in diesem Paragraphen gekennzeichneten Zu- 
ständen der Bewußtlosigkeit bezw. der krankhaften Störung 
der Geistestätigkeit gehört. 

De lege ferenda könnte, wie schon erwähnt, vom wissenschaft- 
lichen Standpunkte aus die Erwähnung des Zustandes der Be- 
wußtlosigkeit fortbleiben, da die Bewußtlosigkeit im Sinne des 
851 auch eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit ist. Will 
man aber vom praktischen Standpunkte aus vorläufig noch die 
Erwähnung der „Bewußtlosigkeit“ beibehalten, so wird man, um 
Mißverständnisse zu verhüten, dafür besser „Bewußtseins- 
störung“ oder „Bewußtseinstrübung“ setzen. Vom praktischen 
Standpunkte aus wird es vielleicht auch geraten sein, um 
einen Zweifel über die Absichten des Gesetzgebers nicht auf- 
kommen zu lassen, in einem Zusatzparagraphen zu bemerken: 
„Strafbare Handlungen, die im Rausch begangen sind, sind 
nach Maßgabe des $ 51 zu beurteilen, vorausgesetzt, daß der 
Täter sich den Rausch nicht in der Absicht, die Handlung zu 
begehen, angetrunken hat.“ 

Nun bestehen aber zwischen völligem Ausschluß und un- 
gestörten Vorhandensein der freien Willensbestimmung, zwischen 
Zurechnungsfähigkeit und Uuzurechnungsfähigkeit zahlreiche 
Zwischenstufen und Übergänge, deren Nichtbeachtung in dem 
heutigen Gesetz eine offenbare Lücke und eine Ungerechtig- 
keit bedeutet. Deshalb geht schon seit längerer Zeit das Be- 
streben der Strafrechtsreformer dahin, diese Zwischenstufen 
im Gesetz als Fälle „geminderter Zurechnungsfähigkeit“ zu 
berücksichtigen und für diese Fälle eine mildere bezw. zweck- 
mäßigere Strafe von mehr erziehlicher Natur zu setzen. Wenn, 
wie zu hoffen ist, diese Bestrebungen bei der Reform des 
deutschen Strafgesetzbuches ihre Verwirklichung finden werden, 
wird es auch möglich sein, was unbedingt nötig erscheint, bei 
leichteren Graden des Rausches, in denen die Zurechnungs- 





ae D s 


fähigkeit nicht völlig ausgeschlossen, sondern nur mehr oder 
weniger beeinträchtigt erscheint, eine geminderte Zurechnungs- 
fähigkeit zu statuieren und eine mildere Behandlung eintreten 
zu lassen. | 

Da die nachweisbaren Wirkungen der Alkoholvergiftung 
auf unser Seelenleben und unser Handeln schon nach sehr ge- 
ringen Mengen beginnen, die bisher für harmlos galten, so ist 
klar, daß Niemand, der unter Alkoholwirkung steht, ganz un- 
beeinflußt handelt, und daß die Beeinträchtigung der freien 
Willensbestimmung schon nach verhältnismäßig kleinen Mengen 
anfängt, um bei Steigerung der Menge in allmählicher Minde- 
rung der Zurechnungsfähigkeit ziemlich schnell zum völligen 
Ausschluß zu führen. Gerade der Rausch in seinen verschie- 
denen Abstufungen zeigt außerordentlich klar die Notwendig- 
keit, den Begriff der geminderten Zurechnungsfähigkeit ins 
Strafgesetzbuch einzuführen. In praxi wird es in allen Fällen 
von Rauschdelikten, resp. Delikten, die unter Alkoholwirkung 
verübt sind — mag es sich nun um bloße Minderung oder um 
völligen Ausschluß der freien Willensbestimmung handeln — 
notwendig sein, zu erwägen, ob die Tat als eine Folge der 
Alkoholwirkung zu betrachten ist oder nicht, ob sie also ohne 
den Alkohol auch begangen wäre oder nicht, dabei ist aller- 
dings zuzugeben, daß die Entscheidung in vielen Fällen recht 
schwer sein kann. Wenn aber den Umständen nach anzu- 
nehmen ist, daß derjenige, der eine Straftat unter Alkohol- 
wirkung verübt hat, diese im nüchternen Zustande nicht be- 
gangen hätte, daß also der Alkohol bestimmend auf das 
Handeln des Täters eingewirkt hat, so wird a) bei einem 
leichten Rausch, bei dem nur eine Minderung der Zurech- 
nungsfähigkeit angenommen werden kann, die im Gesetz für 
Zustände geminderter Zurechnungsfähigkeit vorgesehene mildere 
Strafe, b) bei einem erheblicheren Rauschzustande, wo völliger 
Ausschluß der freien Willensbestimmung anzunehmen ist, Frei- 
sprechung erfolgen müssen. In beiden Fällen wird aber außer- 
dem, wenn anders die Eindämmung der Trunkenheitsdelikte als 
eine Aufgabe der Strafgesetzgebung erscheint, darauf hinzu- 
wirken sein, daß der Täter zur Enhaltsamkeit gebracht wird. 
In den Fällen, wo wegen geminderter Zurechnungsfähigkeit 


— 59 — 


Verurteilung erfolgt, wird dies entweder ganz so, wie es oben 
de lege lata als zweckdienlich bezeichnet wurde, durch Aus- 
setzung des Strafvollzugs (bedingte Verurteilung) unter 
der Bedingung der nunmehrigen Enthaltsamkeit von alkoholi- 
schen Getränken zu erreichen sein, und zwar besonders bei 
Gelegenheitstrinkern und bei bisher unbestraften Personen; 
oder aber, wenn es sich um haltlose, vorbestrafte, speziell 
wegen Rauschdelikte vorbestrafte Personen oder um gewohn- 
heitsmäßige Trinker handelt, bei denen man sich von der Wir- 
kung der bedingten Verurteilung keinen besonderen Erfolg 
versprechen kann, durch eine bisher fehlende Bestimmung, 
die es dem Richter ermöglicht, den Übeltäter im Anschluß an 
die Haft*) oder an ihrer Stelle in eine Trinkerheilanstalt 
bringen zu lassen, wo er zur Abstinenz zu erziehen und so- 
lange zu behandeln ist, bis dieser Zweck erreicht erscheint, 
(wozu nach allgemeiner Erfahrung 1—2 Jahre nötig sind). 
Sollte es sich herausstellen, daß das betreffende Individuum 
unheilbar ist, oder sollte sich dies gleich bei der Gerichtsver- 
handlung als das Resultat des sachverständigen Gutachtens. 
ergeben, so muß der Richter befugt sein, die Unterbringung in 
einer Trinkerbewahranstalt unter Umständen auf Lebens- 
zeit**), auszusprechen. Die gleiche Bestimmung wird natürlich 
erst recht Anwendung finden auf Personen, die bei einem 
Trunkenheitsdelikt wegen Ausschluß der freien Willensbestim- 
mung zur Zeit der Tat freigesprochen sind. Hier wird es 
sich aber empfehlen, noch eine Bestimmung anzubringen, die 
eine bedingte Einweisung in die Trinkerheilanstalt, entsprechend 
der bedingten Verurteilung, ermöglicht für solche Personen, 
die Gewähr bieten, daß sie das feierlich an Gerichtsstelle ab- 
gegebene Versprechen, von nun an abstinent zu leben und 
einer Enthaltsamkeitsvereinigung beizutreten, auch halten. 





*) In welcher Weise die Strafanstalten behufs zweckmäßiger Behand- 
lung solcher Individuen zu organisieren sind, ist bereits oben auseinander- 
gesetzt worden. 

*) Natürlich muß hierbei eine nachträgliche Korrektur durch 
richterlichen Beschluß und eine event. Entlassung nach jahrelangen Auf- 
enthalt in der Trinkerbewahranstalt möglich sein, falls sich wider Erwarten. 
doch noch eine Heilung herausstellt. 





— 60 — 


werden. Ein solches Versprechen wird gewiß in einer Anzahl 
von Fällen genügen, das gewünschte Verhalten zu erzielen, 
zumal da, wenn das Versprechen gebrochen wird, die Einwei- 
sung in die Trinkerheilanstalt droht. Die Strafgesetzbestim- 
mung, die in solcher Weise eine zweckmäßige Behandlung der 
wegen Trunkenheitsdelikte Angeklagten ermöglichen würde, 
könnte etwa folgenden Wortlaut haben: 
$ 5lb. „Wer im Rausch eine Straftat begangen hat 
und wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit zu einer 
milderen Strafe verurteilt ist, wird, falls die Verurteilung 
nicht bedingt erfolgt, im Anschluß an die Strafe 
(oder an Stelle derselben) in eine Trinkerhetlanstalt auf 
die Dauer von längstens 2 Jahren oder, wenn es sich 
um einen unheilbaren Trinker handelt, in eine Trinker- 
bewahranstalt auf Lebenszeit (resp. für so lange Zeit, 
als es von dem Leiter der Anstalt erforderlich er- 
achtet wird) eingewiesen. Das gleiche gilt für Per- 
sonen, die im Rausch ein Vergehen oder Verbrechen 
begangen haben und wegen Ausschluß der freien Willens- 
bestimmung zur Zeit der Tat freigesprochen worden sind. 
Doch kann nach richterlichem Ermessen die Einweisung 
in die Trinkerheilanstalt ausgesetzt werden, wenn der 
Täter das feste Versprechen gibt, von nun an abstinent 
zu leben und einer Enthaltsamkeitsvereinigung beizutreten.“ 
Eine Ausnahme von diesen Bestimmungen bilden natürlich die 
bisher noch nicht eingehender besprochenen Trunkenheitsdelikte 
besonderer Art, wo der Täter die Straftat im nüchternen Zu- 
stande geplant und sich absichtlich in den Zustand der Trunken- 
heit versetzt hat, um die Bedenken (Hemmungen) hinwegzu- 
räumen und den nötigen Mut zur Ausführung zu haben, oder 
sich mildernde Umstände zu sichern. Gegenüber der Unzahl 
von Trunkenheitsdelikten, die auf gewöhnlichem Wege zu stande 
kommen, spielt diese Kategorie von Delikten eine verhältnis- 
mäßig geringe Rolle, jedenfalls eine viel geringere, als zahl- 
reiche Richter und das Publikum überhaupt annehmen. Es 
kann keine Frage sein, daß diese Art von Delikten, die zu 
den „actiones liberae in causa* gerechnet werden, keine eigent- 
lichen Rauschdelikte, sondern Delikte gewöhnlicher Art sind, 


— 61 — 


bei denen der Rausch nur als ein Mittel verwendet wird, die 
Tat zu stande zu bringen. Mit dem Sichbetrinken, sich in den 
Zustand der Trunkenheit versetzen, beginnt die strafbare 
Handlung, und es ist gleichgiltig, ob dieses Mittel auch als 
ein unter allen Umständen taugliches erscheint und ob der 
Täter im weiteren Verlaufe im Besitz seiner freien Willens- 
bestimmung blieb oder nicht*). Der Kausalnexus zwischen 
Absicht und Erfolg ist gewahrt und daher ist der $ 51 hier 
unanwendbar und die Tat als solche zu bestrafen **). 


Es bleibt, was die strafrechtliche Bedeutung der akuten 
Alkoholvergiftung betrifft, noch übrig, den Rausch an und für 
sich, ohne daß er zu einer Straftat führt, als Vergehen ins 
Auge zu fassen, als welches er auch in vielen Strafgesetz- 
gebungen behandelt wird. Allerdings sind die Gesetze, die 
den Rausch als eine gemeinfährliche und unsittliche Handlung 
mit Strafe bedrohen, vorzugsweise in der Absicht erlassen 
worden, die Trunksucht zu treffen und zu bekämpfen. 


Gegen die Trunkenheit, bezw. Trunksucht an sich, richteten 
sich von jeher mehr oder weniger strenge Strafbestimmungen. 
Die meisten modernen. Strafgesetzbücher haben solche Be- 


*) Sehr treffend bemerkt Höpker (S.32): „Das Tun des Verbrechers 
in der vollen Trunkenheit ist kein Handeln. Dazu gehört Überlegung, und 
diese besitzt der Verbrecher in solchen Momenten nicht mehr, sondern es 
ist ein einfacher äußerer Umstand, auf dessen Eintritt der Verbrecher ge- 
rechnet hat, dessen Tätigkeit als handelnder Mensch mit Eintritt der vollen 
Trunkenheit völlig abgeschlossen ist. Warum man meint, man könne sein 
Verhalten im bewußtlosen Zustande nicht ebenso gut in seine Berechnung 
aufnehmen, wie ein anderes Ereignis aus der Außenwelt, ist mir unerfind- 
lich. Es sind, sobald Bewußtlosigkeit eingetreten, das Benehmen und Ver- 
halten des Täters ebenso unabhängig von ihm als bewußten Verbrecher, 
wie jeder andere Zufall, auf den er in seiner Berechnung baut.“ 


**) Einzelne Strafgesetzgebungen, wie die russische, sehen die absicht- 
liche Trunkenheit sogar als erschwerendes Moment an. Als solches wird 
sie auch in Frankreich behandelt, denn sie zeigt, wie Fochier sagt, „eine 
besonders raffinierte Überlegung des Verbrechens, sie offenbart den Willen 
des Verbrechers, sich jedes Schwanken im Augenblicke des Handelns zu 
unterbinden, die Schiffe hinter sich zu verbrennen, um sich in die Unmög- 
lichkeit zu versetzen, durch Gewissensbisse oder Schwäche von der Absicht 
abzustehen*. 





— 62 
stimmungen*), welche die Trunkenheit mit Strafe belegen, 


*) Das englische Gesetz lautet: Wer auf einer Straße oder an 
einem anderen Öffentlichen Ort oder in einem konzessionierten Schankraume 
trunken betroffen wird, wird mit Geldstrafen bis zu 10 sh., im Wiederholungsfalle 
innerhalb Jahresfrist bis zu 20 sh., im neuerlichen Wiederholungsfalle inner- 
halb Jahresfrist bis zu 40 sh. bestraft. Wer sich im betrunkenen Zustande 
auf einer Straße oder einem andern öffentlichen Ort entweder eines ruhe- 
störenden oder ungebührlichen Benehmens schuldig macht oder bei der Be- 
aufsichtigung eines Fuhrwerks, eines Pferdes oder von Vieh oder einer 
Dampfmaschine oder im Besitz einer geladenen Feuerwaffe betrunken ist, 
wird bis zu 40 sh. oder mit Gefängnis bis zu einem Monat mit oder ohne 
harte Arbeit verurteilt. Im Nichtvermögensfalle kann auf Gefängnis mit 
harter Arbeit erkannt werden. £ 

Ähnlich bestimmt das französische Gesetz: Wer im Zustande 
offenbarer Trunkenheit auf Straßen, Wegen, Plätzen, in Kaffeehäusern oder 
Schenken angetroffen wird, ist mit Geldstrafe von 1—5 Fr. zu bestrafen. 
Bei Rückfall innerhalb weniger als Jahresfrist nach der zweiten Verur- 
teilung (im gleichen Bezirk) wird das Vergehen mit sechs Tagen bis zu 
einem Monat Gefängnis und Geldstrafe von 16—200 Fr. bestraft, im neuer- 
ichen Rückfalle innerhalb Jahresfrist bis zum Doppelten des höchsten 
Maßes, sowie mit Verlust bestimmter bürgerlicher Rechte. 


Das norwegische Gesetz vom Jahre 1900 bestimmt: Wer sich 
vorsätzlich oder fahrlässig in einen Zustand offenbarer Trunkenheit versetzt, 
in dem er an einem öffentlichen oder für den allgemeinen Verkehr bestimmten 
Orte betroffen wird, wird mit Geldstrafe von 2—800 Kr. bestraft; hat er 
dreimal innerhalb eines Jahres eine solche Strafe verbüßt, so kann auf Ge- 
fängnis erkannt werden. Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig in einen Zu- 
stand von Trunkenheit versetzt, in dem er den allgemeinen Frieden und die 
Ordnung oder den gesetzlichen Verkehr stört, die Umstehenden belästigt 
oder Hausgenossen oder Andere gefährdet, wird mit Geldstrafe oder Ge- 
fängnis bestraft. — Jeder, der infolge von Trunkenheit den allgemeinen 
Frieden und die Ordnung oder den gesetzlichen Verkehr stört, die Um- 
stehenden belästigt oder sich selbst, Hausgenossen oder andere gefährdet, 
kann so lange, bis er nüchtern ist, in Haft gesetzt werden, falls dies zur 
Abwehr notwendig erscheint. 

Das niederländische Gesetz zur Unterdrückung des Mißbrauchs 
geistiger Getränke bestimmt: Mit Gefängnis von 1—6 Tagen oder Geld- 
buße mit 1—25 Gulden wird bestraft, wer Handlungen, bei denen zur Ver- 
hütung von Gefahr für Leben oder Gesundheit dritter Personen besondere 
Vorkehrungen der Umsicht nötig werden, im Zustande der Trunkenbeit 
begeht ; unbeschadet schwererer Strafen, falls dabei eine andere strafbare 
Handlung begangen ist. Mit Geldstrafe von 1—10 Gulden wird bestraft 
wer sich in offenbarem Zustande der Trunkenheit auf öffentlichem Wege 
oder auf einem dem Publikum zugänglichen Platze befindet. Im Wieder- 


= De de 


wenn sie sich öffentlich, d. h. an öffentlichen Orten, zeigt 
(einige verstehen unter öffentlichen Orten auch die Schenken), 


holungsfalle innerhalb eines Jahres wird Geldstrafe resp. Gefängnis von 
1-3 Tagen, bei der zweiten Wiederholung aber von 1 bis zu 14 Tagen 
angedroht. 

Das schwedische Strafgesetzbuch vom 1. Febr. 1864 enthält fol- 
gende Bestimmung: Wer sich an geistigen Getränken derart berauscht hat, 
daß dieser Zustand durch sein Verhalten oder seine geistige Störung merk- 
wr wird, ist mit Geldstrafe bis zu 20 Reichskronen zu bestrafen, falls er 
'in dem Zustande auf einer Straße, einem Wege oder einem andern öffent- 
lichen Orte betroffen wird. 


In Österreich besteht ein Spezialgesetz für die Landesteile Galizien 
und Bukowina vom Jahre 1877, das folgendermaßen lautet: „Wer sich in 
Gast- oder Schankräumlichkeiten, auf der Straße oder an sonstigen Öffentlichen 
Orten im Zustande offenbarer ärgerniserregender Trunkenheit befindet, oder 
wer an solchen einen andern absichtlich in den Zustand der Trunkenbeit 
versetzt, wird mit Arrest bis zu einem Monat oder mit Geldstrafe bis zu 
50 Fl. bestraft.“ „Wer während eines Jahres dreimal wegen Trunkenheit 
bestraft wird, dem kann von der politischen Bezirksbehörde bis zur Dauer 
` eines Jahres der Besuch der Gast- und Schankräumlichkeiten seines Wohn- 
sitzes und der nächsten Umgebung untersagt werden. Die Übertretung 
dieses Verbots wird mit Arrest bis zu einen Monat oder mit Geldstrafe 
bis zu 50 Gulden bestraft.“ 

Das ungarische Strafgesetzbuch vom Jahr 1879 bestimmt ganz 
kurz: Wer an einem öffentlichen Orte in ärgerniserregender Weise be- 
trunken erscheint, ist mit Geld bis zu 25 Gulden zu bestrafen. 

Das deutsche Strafgesetzbuch enthält nur eine kurze Bestimmung, 
die sich allein gegen die Trunksucht richtet, im § 361: „Mit Haft wird be- 
straft, wer sich dem Spiel, Trunk oder Müßiggang dergestalt hingibt, daß 
er in einen Zustand gerät, in welchem zu seinem Unterhalte oder zum 
Unterhalt derjenigen , zu deren Ernährung er verpflichtet ist, durch Ver- 
mittelung fremder Behörden Hilfe in Anspruch genommen werden muß.“ 
Der § 362 bestimmt dann, daß solche Verurteilte zur Arbeit, welche ihren 
Fähigkeiten und Verhältnissen angemessen sind, angehalten und neben der 
Verurteilung zur Haft, auch auf Verweisung an die Landespolizeibehörden 
und Unterbringung in einem Arbeitshause bis zu 2 Jahren erkannt werden 
kann. Das deutsche Militärstrafgesetzbuch bestimmt: „Wer im Dienst 
oder, nachdem er zum Dienst befehligt worden, sich durch Trunkenheit 
zur Ausführung seiner Dienstverrichtung untauglich macht, wird mit mitt- 
leren oder strengen Arrest oder mit Gefängnis oder Festungshaft bestraft.“ 
Zugleich kann auf Dienstentlassung erkannt werden. 

Im Entwurfe eines Gesetzes zur Bestrafung der Trunkenheit vom 
23. März 1881 waren noch weitergehende Bestimmungen vorgesehen, welchen 
die Bestimmungen in den erstgenannten Ländern zum Vorbild gedient 


== g = 


so Galizien, Norwegen, England, Frankreich. In den meisten 
Gesetzgebungen wird aber auch die öffentliche Trunkenheit 
nur dann bestraft, wenn sie zur Verübung von Skandal führt, 
so im deutschen Strafgesetzentwurf von 1881, in Galizien, 
Ungarn, Rußland, Luzern. Das belgische Gesetz fügt als straf- 
würdig noch hinzu ein Verhalten, das die betreffende Person 
und andere in Gefahr bringt, während das norwegische Gesetz 
nur von einem unpassenden Verhalten spricht. Das englische 
Gesetz unterscheidet einfache Trunkenheit, die mit einer ge- 
ringeren Strafe belegt wird, und Trunkenheit mit störendem 
Verhalten, die schwerer bestraft wird. 

In Schweden, Frankreich, Holland, Galizien ist nur die 
einfache offensichtliche Trunkenheit berücksichtigt. Das italie- 
nische Gesetz spricht von offensichtlicher vollständiger Trunken- 
heit. Rußland setzt sinnlose Trunkenheit auf gleiche Stufe 
mit Trunkenheit, die öffentliches Ärgernis erregt. Das hollän- 





hatten. Mit Geldstrafen bis zu 100 M. (in der Fassung der Kommission 
60 M.) oder mit Haft bis zu 2 Wochen wird bestraft, wer in einem nicht 
unverschuldeten Zustande ärgerniserregender Trunkenheit an öffentlichen 
Orten betroffen wird. Ist der Angeschuldigte in den letzten 3 Jahren 
wegen dieser Übertretung mehrmals rechtskräftig verurteilt worden, oder 
ist derselbe dem Trunke gewohnheitsmäßig ergeben, so tritt Haft ein. (In 
der Fassung der Kommission lautet der Nachsatz: ist auf Geldstrafe bis 
zu 150 M. oder auf Haft zu erkennen.) Ist der Beschuldigte dem Trunke 
gewohnheitsmäßig ergeben, so tritt Haft ein. (Die der Militärgerichtsbar- 
keit unterworfenen Militärpersonen sind in diesen Fällen mit Arrest bis 
zur gesetzlich zulässigen Dauer zu bestrafen.) In diesem Falle ist die Haft- 
strafe durch Schmälerung der Kost zu schärfen, dabei kann, ebenso wie bei 
Schärfung der Strafe in Fällen, wo in der Trunkenheit eine Straftat ver- 
übt ist, der Verurteilte zu Arbeiten, welche seinen Fähigkeiten und Ver- 
hältnissen angemessen sind, innerhalb und außerhalb der Anstalt angehalten 
werden. Auch kann erkannt werden, daß die verurteilte Person nach ver- 
büßter Strafe der Landespolizeibehörde zu überweisen sei. An Stelle der 
Unterbringung in ein Arbeitshaus kann in diesen Fällen Unterbringung in 
eine zur Heilung oder Verwahrung von Trunksüchtigen bestimmten Anstalt 
eintreten (in der Fassung der Kommission 'nur bei gewohnheitsmäßigem 
Trunk). Mit Geldstrafe bis zu 100 M. oder mit Haft bis zu 2 Wochen 
wird bestraft, wer bei Verrichtungen, welche zur Verhütung von Gefahr, 
für Leben oder Gesundheit Anderer oder von Feuersgefahr besondere Auf- 
merksamkeit erfordern, sich betrinkt oder betrunken in andern als in Not- 
fällen solche Verrichtungen vornimmt. 





=. 65 s 


dische Gesetz droht eine schwerere Strafe dem Trunkenen an, 
der die Ordnung und den öffentlichen Verkehr stört oder die 
Sicherheit eines anderen bedroht. 


Einige deutsche Gesetzgebungen erlauben die Entfernung, 
resp. die Arretierung, von Trunkenen, die sich störend erweisen, 
bis zu 24 Stunden. 


Die Strafe ist in vielen Fällen einfacher Trunkenheit meist 
eme Geldstrafe, so in Frankreich (1 bis5 Fr.), in Belgien (1 bis 
15 Fr.), in Holland (50 Kr. bis 15 Fl.), in Ungarn (bis 25 FI.), 
in Galizien (bis 50 Fl), in Italien (bis 30 Lire), in England 
(bis 10 sh.), in Schottland (bis 5 sh.), in Schweden (3 Reichs- 
kronen 16 sh.), in Rußland (25 Rubel); oder an ihrer Stelle 
eine Haftstrafe, so in England (bis zu 1 Monat), in 
Schottland (wenn die Geldstrafe nicht sofort gezahlt werden 
kann, bis 24 Stunden), in Schweden (Gefängnis bei Wasser und 
Brot), in Galizien (bis 2 Monate), in Rußland (bis 7 Tage), in 
Luzern (bis 3 Tage), im deutschen Strafgesetzentwurf (bis 14 
Tage). 


In den meisten Ländern wird die Strafe bei Rückfall ver- 
schärft. Gewöhnlich ist ein bestimmter Zeitraum festgesetzt, 
innerhalb welcher ein Rückfall eine Verschärfung der Strafe 
ermöglicht, so in England 1 Jahr (beim ersten Rückfall Strafe 
bis 20 sh, beim zweiten und folgenden Rückfall bis 40 sh.), in 
Holland in den einfachen Fällen beim ersten Rückfall 6 Monate 
(ev. 1—3 Tage Haft), beim zweitem Rückfall i. Jahr (1—14 Tage 
Haft), bei jedem’ folgenden Rückfall 6 Monate (1—21 Tage Haft), 
in den schwereren Fällen 1 Jahr (1—14 Tage Gefängnis, resp. 
50 Kr. bis 21 Fl.), in Belgien 6 Monate (beim ersten Rückfall 
5—25 Fr. Geldstrafe, beim zweiten Gefängnis von 8 Tagen 
bis 3 Wochen) und eine Geldstrafe von 26—78 Fr., entweder 
zusammen oder als Ersatz, in Frankreich 1 Jahr innerhalb des- 
selben Gerichtsbezirks (bis 3 Tage beim ersten Rückfall, 6 Tage 
bis 1 Monat und Geldstrafe von 16—100 Fr. bei wiederholten 
Rückfällen), nach dem deutschen Entwurf 3 Jahre (bis 6 Wochen 
Gef. mit Verschärfung durch Essensbeschränkungen). In Frank- 
reich kann der Rückfällige auch der Ausübung gewisser öffent- 
licher Ehrenrechte auf die Dauer von 2 Jahren verlustig gehen, 

| 5 


me. ee 


in Belgien in bestimmten Fällen für 2—5 Jahre, in Schweden 
beim dritten Rückfalle des aktiven und passiven Wahlrechts. 

Die Strafen für den Rückfall wollen vor allem die Trunk- 
sucht treffen. In einzelnen Ländern ist diese direkt mit Strafe 
bedroht. Italien bestraft den Gewohnheitstrinker, der an einem 
öffentlichen Ort im Zustande öffentlicher vollständiger Trunken- 
heit betroffen wird, mit Arbeitshaus oder Strafarbeit von 6 
bis 24 Stunden. In Appenzell werden die Gewohnheitstrinker 
mit Geldstrafe von 5--10 Fr. und im Rückfall bis 50 Fr. oder 
Haft bis 8 Tagen bestraft. 

In mehreren Ländern ist im Rückfalle die Unterbringung 
des Trinkers in einem Arbeitshaus oder einer Trinkerheil- oder 
-bewahranstalt möglich, so in Holland beim dritten Rückfall 
(Arbeitshaus 3 Mon. bis 1 Jahr), nach dem deutschen Straf- 
gesetzbuch (Arbeitshaus) und nach dem Entwurf eines Trunk- 
suchtsgesetzes von 1881 (Arbeitshaus oder Trinkerheil- oder 
-bewahranstalt).. Eine besondere Maßregel ist das Verbot des 
Besuches von Schenken, wie es in Galizien (beim dritten Rück- 
fall innerhalb eines Jahres bis zur Dauer von 1 Jahre) und 
in zahlreichen Schweizer Kantonen besteht. 

Einzelne Gesetzgebungen bedrohen schwerer die Trunken- 
heit, die sich bei Ausübung einer besonders gefährlichen Be- 
schäftigung, bei amtlichen Verrichtungen oder bei gewissen 
Ansammlungen zeigt, so Holland, Belgien, Stadt Basel und 
der deutsche Gesetzentwurf von 1881. ‘In Belgien kann das 
Waffentragen bis zu einem Jahre verboten werden. 

Mit allen diesen Bestimmungen aber, die sich naturgemäß 
nur gegen die Öffentliche Trunkenheit richten, resp. gegen 
die Trunkenheit auf verantwortlichen und gefährlichen 
Posten, wird sehr wenig erreicht, wie die Erfahrungen in allen 
den Ländern zeigen, wo solche Gesetze in Geltung sind. Die 
Zahl der wegen Trunkenheit Verhafteten und Angeklagten ın 
Großbritannien z. B. nimmt ständig zu. Im Jahre 1860 betrug 
diese Zahl 88000, 1899 aber 214000. Und wo eine solche 
Zunahme nicht konstatiert wird, wie in Frankreich (hier ist 
sogar ein kleiner Rückgang eingetreten), betont der offizielle 
Bericht der Justizverwaltung (1901), man müsse fürchten, 
daß diese Abnahme nur eine scheinbare sei. und nur einem 











ee OT A 


Nachlaß in der Wachsamkeit oder in der Strenge der mit der 
Ausführung der Gesetze betrauten Organe zuzuschreiben sei. 
Eine erziehliche Wirkung, die man von der Bestrafung hofft, 
kann dieser sicher nicht beigemessen werden. „Wer überhaupt 
oder im einzelnen Falle Lust hat, sich zu betrinken, wird sich 
durch eine solche Bestrafung nicht abhalten lassen“, sagt 
Klöckner (S. 785) sehr richtig. „Höchstens dürfte sie ge- 
eignet sein, das heimliche Trinken des Trinkers in der Häus- 
lichkeit zu vermehren.“ 

Ganz abgesehen davon, ist es, wie aus den bisherigen Er- 
örterungen zur Genüge erhellen dürfte, überhaupt ein Unding, 
den natürlichen Folgezustand einer Handlung, nämlich des 
Trinkens alkoholischer Getränke, zu bestrafen, die an und für 
sich nicht nur nicht strafbar ist, sondern auch allgemein ge- 
billigt und verherrlicht wird. Der Rausch schließt eben unter 
den heutigen Verhältnissen keine Selbstverschuldung in sich, 
wie die Strafbestimmungen voraussetzen. 

Dazu kommt noch das soziale Moment, daß von einer Be- 
strafung der Trunkenheit vorzugsweise oder fast ausschließlich 
die Angehörigen der ärmeren Volkskreise betroffen werden 
würden, die nicht, wie die Angehörigen der wohlhabenden 
Kreise, in der Lage sind, sich im trunkenen Zustande dem An- 
blick der Öffentlichkeit durch Benutzung einer Droschke zu 
entziehen, sondern zu Fuß nach Hause gehen müssen. Es 
würde daher, wie Klöckner mit Recht betont, eine Bestrafung 
der Trunkenheit dem Bewußtsein der unbemittelten Kreise 
als Klassenjustiz erscheinen. Es gilt hier dasselbe, was 
Klöckner gegen die Bestrafung der Trunkenheit als Fahr- 
lässigkeit sagt (s. oben S. 27). 

Eher zu rechtfertigen sind strafgesetzliche Bestimmungen, 
die sich gegen die Beförderung der Völlerei durch die 
Gastwirte richten (Galizien, Italien, Norwegen, deutscher Gesetz- 
entwurf von 1881). Aber ganz abgesehen davon, daß es schwer 
zu bestimmen ist, wo die Förderung der Völlerei anfängt, sind 
auch von solchen Gesetzen, denen sich der Einzelne ziemlich 
leicht entziehen kann, besondere Erfolge bei der Bekämpfung 
der Trunksucht, worauf ja alle diese Gesetze abzielen, nicht 
zu erwarten. 


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ze 08. a 


Eine wirksame Bekämpfung der Trunksucht oder des 
chronischen Alkoholismus durch das Strafgesetz, sowie 
seine strafrechtliche Würdigung hat wieder ein genaues wissen- 
schaftliches Verständnis dieser Erscheinung zur Voraussetzung. 

Die Untersuchungen Kraepelins und seiner Schüler 
haben ergeben, daß die Wirkung einer größeren Alkoholgabe 
(die etwa 11/2—?2 1 Bier entspricht) auf die psychische Funk- 
tion nicht rasch verfliegt, sondern gewisse Nachwirkungen 
hinterläßt, die nach 24 Stunden noch nicht ganz verschwunden 
sind. Wird diese Gabe nach je 24 Stunden wiederholt, so 
tritt allmählich eine Häufung der Wirkungen ein, die schon 
nach 12tägiger Dauer der Alkoholverabreichung in der zu- 
nehmenden Herabsetzung der psychischen Leistungen sehr 
deutlich nachweisbar ist. Hiernach stellt Kraepelin eine 
streng wissenschaftliche Definition des chronischen Alkoholis- 
mus auf, die allerdings weit über diejenige des täglichen 
Lebens hinausgeht: „Trinker ist jeder, bei dem eine Dauer- 
wirkung des Alkohols nachzuweisen ist, bei dem also die 
Nachwirkung einer Alkoholgabe noch nicht verschwunden ist, 
wenn die nächste einsetzt.“ Der regelmäßige Genuß mittlerer 
Alkoholmengen ist so, wie Kraepelin betont, nichts weniger 
als eine für die geistige Gesundheit gleichgiltige Sache, son- 
dern es beginnt überall da, wo eine neue Alkoholgabe einsetzt, 
bevor die ziemlich lange dauernde Nachwirkung der früheren 
geschwunden ist, mit überraschender Schnelligkeit die Ent- 
wickelung aller derjenigen Störungen, die wir unter dem Namen 
des chronischen Alkoholismus zusammenfassen. 

Wenn ich von den begleitenden Organerkrankungen ab- 
sehe, die sich bei den einzelnen Trinkern je nach ihrer Indi- 
vidualität langsamer oder schneller, schwächer oder stärker 
entwickeln, und wenn ich hier nur die ebenfalls mit größerer oder 
geringerer Schnelligkeit und Intensität auftretenden geistigen 
Veränderungen ins Auge fasse, als deren Grundiage sich bei 
Sektionen mehr oder weniger deutliche pathologische Verände- 
rungen im Gehirn, in seinen Häuten und Gefäßen finden, so 
sind es drei Züge, die das Krankheitsbild des chronischen 
Alkoholismus in mehr oder weniger ausgeprägter Weise be- 
herrschen: 1. Abnahme der geistigen Leistungen, 2. Abstumpf- 


=. 360%. 


ung und Entartung der sittlichen Gefühle und 3. krankhafte 
Reizbarkeit. 

Wie oben erwähnt, läßt sich schon im Experiment bei 
regelmäßigem Genuß mäßiger Alkoholmengen sehr bald eine 
deutliche Herabsetzung der geistigen Leistungen feststellen. 
Um wieviel stärker muß sich die Abnahme der geistigen Fähig- 
keiten bei jahrelangem Alkoholmißbrauch geltend machen! 
Sie zeigt sich in einer Abnahme der Auffassungskraft, der Ur- 
teilsfählgkeit, der Kombinationsgabe und des Gedächtnisses, 
sowie in einer wachsenden geistigen Schwerfälligkeit, Trägheit, 
Interesselosigkeit und Einsichtslosigkeit, Erscheinungen, die 
mit der Zeit bis zum deutlichen alkoholischen Schwachsinn 
(alkoholischer Demenz) sich steigern und mit krankhaftem 
Mißtrauen und mit Wahnideen verbinden können. 

Hand in Hand mit den intellektuellen Schädigungen geht 
eine Abschwächung des Willens, der sittlichen Gefühle, Vor- 
stellungen und Grundsätze. Vor allem leidet die Energie, die 
Fähigkeit, nach festen Grundsätzen zu handeln. Der Trinker 
wird so immer mehr und mehr ein Spielball äußerer Verlock- 
ungen, namentlich der immer unbezwingbarer werdenden Nei- 
gung zum Alkohol. Die besten Vorsätze werden bei der 
ersten Gelegenheit über den Haufen geworfen, die heiligsten 
Versprechungen und Schwüre im nächsten Augenblick ge- 
brochen. Das Pflicht-, Ehr- und Schamgefühl stumpft sich 
immer mehr ab, die Wahrheitsliebe, die Ehrlichkeit schwindet, 
an ihre Stelle tritt Heuchelei, Lug und Trug. Die altruistischen 
Gefühle verlieren sich und machen einem krassen Egoismus 
Platz. Der Trinker kennt bald weiter nichts als die Befrie- 
digung seiner Launen, Neigungen und Lüste, denen er alles 
opfert. Während er nach außen den liebenswürdigen Bieder- 
mann spielt, tyrannisiert er seine Familie in ärgster Weise. 
Und kommt es durch Verminderung seiner körperlichen und 
geistigen Leistungsfähigkeit, durch Vernachlässigung seiner 
Arbeit, seines Geschäftes oder seiner Amtspflichten zu dem 
fast unvermeidlichen wirtschaftlichen Niedergang oder zum Zu- 
sammenbruch, so scheut er; da die sittlichen Vorstellungen 
ihre Macht über ihn verloren, häufig auch die einen sittlichen 
Halt gewährenden Familienbande sich gelockert haben, schließ- 


— 70 — 


lich vor Verbrechen nicht zurück, um sich die Mittel zu seinem 
Weiterleben zu beschaffen und seinen Lüsten zu fröhnen. So 
resultieren Vermögens- und Sittlichkeitsdelikte aller Art. 

Außerdem bildet noch die gesteigerte Reizbarkeit und Er- 
regbarkeit, das dritte Hauptsymptom im Bilde des chronischen 
Alkoholismus, das meist schon sehr früh auftritt, eine ergiebige 
Quelle für Straftaten. Bekannt ist ja die Streitsucht, der Jäh- 
zorn, die Zornesmütigkeit, die Rohheit des Trinkers, die ihn 
so leicht in Konflikte bringt, bei geringen Anlässen zu Wutaus- 
brüchen führt und sich in wüstem Skandalieren, in rohen Be- 
schimpfungen und Bedrohungen, in zwecklosen Zerstörungen 
in rücksichtslosen Mißhandlungen, besonders der Angehörigen 
entladet, und häufig genug infolge des krankhaften Mißtrauens 
oder von Sinnestäuschungen, von Wahnvorstellungen, besonders 
von Eifersuchtswahn, zu den brutalsten Gewaltakten führt. Bei 
genügend langer Dauer und Intensität des chronischen 
Alkoholmißbrauchs nehmen die Erscheinungen an Schwere zu 
bis zur völligen geistigen und körperlichen Zerrüttung und bis 
zum höchsten Grade moralischer Verkommenheit, wie man sie 
sonst kaum kennt. 

So stellt sich der chronische Alkoholismus, ganz abgesehen 
von den auf seinem Boden entspringenden akuten alkoholischen 
Geistesstörungen, dar als ein typisches, wohlumschriebenes 
Krankheitsbild, das im allgemeinen sich stets in der gleichen 
Weise entwickelt, wenn auch diese Entwicklung bei den ver- 
schiedenen Individuen je nach ihrer körperlichen und geistigen 
Widerstandsfähigkeit langsamer oder schneller verläuft, und 
die einzelnen Symptome mehr oder weniger schnell und mehr 
oder weniger deutlich in die Erscheinung treten. 

Es fragt sich nun, wie dieser „Habitualzustand des chroni- 
schen Trinkers“, wie Heilbronner ihn nennt, forensisch zu 
beurteilen und zu behandeln ist. Es kann nach der voran- 
gegangenen Schilderung kein Zweifel sein, und es herrscht auch 
darüber keine Meinungsverschiedenheit, daß dieser Habitual- 
zustand des chronischen Trinkers eine krankhafte Störung der 
Geistestätigkeit darstellt, der auch, wie schon erwähnt, meist 
ganz deutliche und zum Teil auch charakteristische Hirnver- 
änderungen zu grunde liegen. Auch eine Entscheidung des 


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Reichsgerichts besagt, „daß die einfache Degeneration des 
Trinkers so weit gehen kann, daß sie die Anwendung des § 51 
rechtfertigen würde.“ Wie Heilbronner betont, würde 
der Arzt aus rein psychiatrischen Erwägungen sogar recht 
häufig in die Lage kommen, seine Anwendung zu befür- 
worten. „Mancher schwere chronische Trinker ohne psycho- 
tische Symptome steht in ethischer und intellektueller Bezieh- 
ung nicht höher als ein beginnender Paralytiker, dem der Schutz 
des $51 eben wegen seiner Paralyse unbedenklich zuzubilligen 
sein wird, sobald die Diagnose einwandfrei gestellt ist“ (S. 133). 
Trotzdem zieht Heilbronner nicht die Schlußfolgerung , daß 
der Alkoholiker in gleicher Weise zu beurteilen sei, sondern 
er statuiert für diesen ebenso einen Ausnahmezustand, wie für 
den Berauschten. „Wenn das gleiche“, sagt Heilbronner 
a. a. O. „fast ausnahmslos nicht geschieht, so sind für diese 
andere Auffassung zweifellos dieselben Erwägungen maßgebend, 
welche die exzeptionelle Beurteilung der akuten Alkoholintoxi- 
kation veranlassen. Die Verschiedenheit derärztlichen 
“und der richterlichen Betrachtungsweise muß also 
bezüglich der Beurteilung des einfachen Habitualzustandes des 
Trinkers zu einer analogen Schlußfolgerung führen, wie sie 
oben bezüglich der Beurteilung des einfachen Rausches gezogen 
‚wurde, daß nämlich der Arzt sich des Gutachtens über 
die forense Beurteilung des chronischen Alkoholis- 
mus zu enthalten hat, wenn er nicht krankhafte Momente 
im engern Sinne und über den allgemein bekannten Habitual- 
zustand hinaus hat nachweisen können.“ Heilbronner will 
es ausschließlich dem Richter überlassen wissen, „ob der die 
für die Annahme der Schuld unentbehrliche Überzeugung, daß 
eine forensisch zu berücksichtigende krankhafte Störung der Gei- 
stestätigkeit nicht vorgelegen habe, gewinnen und den An- 
geklagten verurteilen könne, oder ob er ihn, wenn auch nur 
wegen fortbestehender Zweifel über Vorliegen oder Nichtvor- 
liegen dieses Schuldausschließungspunktes freisprechen muß.“ 

Ich kann hier auch nur dasselbe sagen, wie oben bezüg- 
lich der Rauschzustände, daß dieser Standpunkt, der wieder 
nur der Massenhaftigkeit der Trinker und der Trinkerdelikte 
und der daraus folgenden geringen Geneigtheit der Richter, 





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den Geisteszustand der Trinker zu berücksichtigen, seine Ent- 
stehung verdankt, unhaltbar erscheint, aus ähnlichen Gründen, 
wie ich sie oben auseinander gesetzt habe. 

Wenn in der richterlichen und ärztlichen Beurteilung des 
chronischen Alkoholismus eine Verschiedenheit besteht, so hat 
eben, da es sich um die Feststellung eines Geisteszustandes, 
also um einen in ärztliches Gebiet fallenden Gegenstand han- 
delt, die richterliche Betrachtungsweise sich der ärztlichen an- 
zupassen, und nicht umgekehrt die wissenschaftliche und daher 
einzig sachgemäße Betrachtungsweise des Arztes vor der laien- 
haften Betrachtungsweise des Richters die Segel zu streichen. 

Wenn Heilbronner sagt, daß der Arzt bei Trinkern aus 
rein psychiatrischen Erwägungen sogar recht häufig in ‘die 
Lage kommen könnte, die Anwendung des $ 51 zu befür- 
worten, so wüßte ich nicht, welche andere Erwägungen für 
einen zur Beurteilung eines Geisteszustandes zugezogenen Arzt 
maßgebend sein sollen, als rein psychiatrische. Er soll sagen, 
was seine Wissenschaft darüber lehrt, und sich nicht nach 
den Anschauungen der Juristen richten. 

Nur dadurch, daß der Arzt öffentlich und auch vor Gericht 
den wissenschaftlichen Standpunkt vertritt. wozu er, da er ja 
sein Gutachten nach bestem „Wissen und Gewissen“ abzu- 
geben hat, auch verpflichtet ist, kann allmählich eine den 
wissenschaftlichen Tatsachen entsprechende Umänderung der 
richterlichen Betrachtungsweise eintreten und dann auf grund 
dieser sachgemäßen Betrachtungsweise auch eine sachge- 
mäße und zweckentsprechende Behandlung der Trinker er- 
folgen. Denn es wird niemand behaupten wollen, daß die 
Einsperrung der kriminellen Trinker in eine Strafanstalt auf 
kürzere oder längere Zeit, je nach der Schwere der Straftat, 
die sie begangen haben, eine zweckmäßige Behandlung der 
alkoholischen Degeneration, des „Habitualzustandes“ sei, aus 
der ihr kriminelles Verhalten hervorgeht. Nach Verbüßung 
ihrer Strafhaft werden die Trinker völlig ungebessert auf die 
Menschheit wieder losgelassen.. Der erste Schritt aus der 
Strafanstalt führt gewöhnlich in die Kneipe, wo die in der 
Strafanstalt etwa gefaßten guten Vorsätze unter der narkoti- 
echen Einwirkung des Giftes sofort vergessen sind, und das 


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Trinkerleben beginnt von neuem, und bringt sie schnell wieder zu 
Straftaten. So kehren die Trinker von Zeit zu Zeit immer 
wieder in die Strafanstalt zurück, oft 20- und 30mal, wenn 
ihr Leben lange genug dauert. 

Etwas unzweckmäßigeres und widersinnigeres, als diese 
Bestrafung der kriminellen Trinker, kann man sich nicht denken. 
Der Trinker ist ein Kranker und daher einer speziellen Be- 
handlung, aber nicht einem schematischen Strafsystem zu unter- 
ziehen. | 

Sehr richtig sagt Schäfer: „Ein Trinker, dessen Trunk- 
sucht hinlänglich bezeugt ist, ist kein Objekt richterlicher 
Tätigkeit, sondern er gehört derjenigen Behörde, welche mit 
der Wahrung der öffentlichen Wohlfahrt betraut ist.“ 

Alles, was ich oben über die Behandlung der wegen Trunken- 
heitsdelikten Angeklagten gesagt habe, gilt erst recht für die 
chronischen Alkoholisten. So lange also noch eine Bestrafung 
von kriminellen Trinkern erfolgt, muß sie wenigstens in ab- 
stinenten Strafanstalten erfolgen, die nach dem Muster der 
Trinkerheilanstalten umzugestalten sind. Im übrigen wird bei 
ausgesprochenen Graden von chronischem Alkoholismus der 
Ausschluß der freien Willensbestimmung nach $ 51 angenommen 
werden müssen, während geringere Grade in dem oben 
als notwendig bezeichneten Zusatzparagraphen werden Berück- 
sichtigung finden können, in dem für die Fälle verminderter 
Zurechnungsfähigkeit eine mildere, bezw. anders geartete Strafe 
festgesetzt werden soll. Es wird dann aber in beiden Fällen; 
ebenso wie bei den wegen Trunkenheitsdelikten Angeklagten, 
eine Erziehung zur Abstinenz in Trinkerheil-, resp. Trinker- 
bewahrunstalten einzutreten haben (bei geringeren Graden von 
Trunksucht oder beginnender Trunksucht wird unter Umständen 
auch die bedingte Verurteilung zur Erzielung der abstinenten 
Lebensweise genügen), und es müssen deshalb ganz ent- 
sprechende gesetzliche Bestimmungen getroffen werden. 

Der § 51b. wird daher zweckmäßig etwa folgende erweiterte 
Fassung erhalten: | 

$51b. „Wer im Rausch oder infolge von Trunksucht 
eine Straftat begangen hat und wegen verminderter Zu- 
rechnungsfähigkeit zur Zeit der Tat zu einer milderen 


= GE n 


Strafe verurteilt worden ist, wird, falls die Ver- 
urteilung nicht bedingt erfolgt, im Anschluß an die 
Strafe (oder an Stelle derselben) in eine Trinkerheil- 
anstalt auf die Dauer von längstens 2 Jahren oder, 
wenn es sich um einen unheilbaren Trinker handelt, in eine 

Trinkerbewahranstalt auf Lebenszeit eingewiesen. Das 

gleiche gilt für Personen, die im Rausch oder infolge von 

Trunksucht eine Straftat begangen haben, aber wegen 

Ausschluß der freien Willensbestimmung zur Zeit der 

Tat freigesprochen werden mußten. Doch kann bei 

Rauschdelikten die Einweisung in die Trinkerheilanstalt 

ausgesetzt werden, wenn der Täter das feste Versprechen 

gibt, von nun an abstinent zu leben und einer Enthalt- 
samkeitsvereinigung beizutreten.“ 

Die Anhörung von ärztlichen Sachverständigen ist natür- 
lich bei der Handhabung dieses Gesetzes nicht zu entbehren. 

Es kann keine Frage sein, daß die Aufnahme solcher Be- 
stimmungen in das Strafgesetz, zu deren Ausführung allerdings 
die Errichtung der nötigen Zahl von öffentlichen Trinkerheil- 
und Trinkerbewahranstalten erforderlich ist, außerordentlich 
segensreich sein und die Zahl der von Trunkenen und von 
Trinkern begangenen Delikte ganz bedeutend verringern 
würde. Die rückfälligen Trinker würden ganz oder fast ganz 
von der Anklagebank schwinden. Damit würde zugleich eine 
sehr wirksame Bekämpfung der Trinksitten und der Trunksucht 
verbunden sein. 

Eine weitere Bekämpfung der Trunksucht durch das Ge- 
setz ist aber noch durch ähnliche Bestimmungen gegenüber 
den nicht kriminellen Trinkern möglich, Bestimmungen, die 
die Trinker der Behandlung zuführen sollen, bevor sie noch 
kriminell geworden sind, also ihren Verfall in Kriminalität 
verhüten sollen. Eine Reihe von Staaten haben bereits solche 
Bestimmungen sowohl gegenüber kriminellen, als gegenüber 
nichtkriminellen Trinkern. 

So lautet das englische Trunksuchtsgesetz vom 12. August 
1858: „Eine Person, die eines strafbaren Verbrechens  über- 
führt ist, auf welches Gefängnis oder Strafarbeit steht, kann, 
wenn der Gerichtshof überzeugt ist, daß Trunkenheit die 


a TR. ve 


direkte oder mitwirkende Ursache der Straftat gewesen ist 
und der Angeklagte ein gewohnheitsmäßiger Trinker ist, durch 
Richterspruch an Stelle der Strafe oder im Zusatz zu derselben 
auf längstens 3 Jahre in eine staatliche oder andere konzessio- 
nierte Trinkerheilanstalt, deren Leiter ihn aufzunehmen bereit 
ist, geschickt werden. Außerdem können Gewohnheitstrinker, 
die sich der öffentlichen Trunkenheit mit einem bestimmten 
Vergehen schuldig machen und innerhalb der letzten 12 
Monate vor diesem Vergehen wegen des gleichen Vergehens 
bestraft sind, auf längstens 3 Jahre in ein staatliches oder 
konzessioniertes Trinkerasyl geschickt werden.“ 

In Amerika kann auf Antrag der Vertrauensmänner, die 
die Asyle beaufsichtigen , jede Person, die wegen Trunkfällig- 
keit oder wegen eines durch Trunk verursachten Vergehens 
zur Haft in Korrektionshäusern oder in Gefängnissen verurteilt 
worden ist, durch Verfügung des Magistrats, resp. des Richters, 
in ein Trinkerasyl bis zum Ablaufe der gerichtlichen Strafzeit 
versetzt werden. Ä 

Das norwegische Gesetz vom Jahre 1900 hat folgende 
Bestimmungen: „Muß ein wegen Trunkenheit zu Gefängnis- 
strafe Verurteilter als der Trunksucht verfallen erachtet werden, 
so kann die Anklagebehörde im Urteil zu seiner Unterbring- 
ung im Zwangsarbeitshause oder in einer durch den König 
anerkannten Trinkeranstalt für so lange ermächtigt werden, 
als die Leitung des Arbeitshauses oder der Trinkeranstalt zu 
seiner Heilung nötig erachtet, doch nicht über 18 Monate, so- 
fern er nicht früher in derselben Weise versorgt war. Erfolgt 
eine solche Unterbringung, so kann der Vollzug der verhängten 
Gefängnisstrafe ganz oder teilweise entfallen, es kann dabei 
Erstattung der Auslagen verlangt werden. Personen, die der 
Trunksucht verfallen sind und freiwillig eine durch den König 
anerkannte Trinkeranstalt aufsuchen, sollen, sofern dies die 
Billigung erhält und seitens der Anstaltsverwaltung für deren 
Heilung geboten erachtet wird, in der Anstalt für den von 
ihnen selbst beim Eintritt bestimmten Zeitraum, doch nicht 
über 2 Jahre, festgehalten werden dürfen. Haben sie beim 
Eintritt einen solchen nicht bestimmt, so dürfen sie trotz des 
Verlangens, die Anstalt zu verlassen, so lange als für ihre 


ii. IE 


Heilung nötig erachtet wird, doch nicht über 1 Jahr, festge- 
halten werden.“ 

Nach dem Thurgauschen Trinkergesetzentwurf vom Jahre 
1900 kann auf Antrag des Gerichts die Zwangsversorgung von 
“Trinkern eingeleitet werden, und zwar der heilbaren in einer 
Trinkerheilanstalt, der unheilbaren in einem Asyl für unheilbare 
Trinker. Nach dem Schweizer Trinkergesetzentwurf können 
Gewohnheitstrinker, wenn sie eine Straftat begangen haben, 
neben der Gefängnisstrafe zur Unterbringung in ein Trinker- 
asyl verurteilt werden, wenn auf höchstens einjährige Strafe 
erkannt wird. Außerdem können die wegen Ärgernis erregender 
Trunkenheit, rückfälliger I,andstreicherei, Vernachlässigung der 
Familie etc. verurteilten Trinker neben der Strafe einem Trinker- 
asyl überwiesen werden. 

Auch der deutsche Strafgesetzentwurf gegen die Trunken- 
heit vom Jahre 1881 enthält Bestimmungen über Unterbring- 
ungen von kriminellen und nicht kriminellen Trinkern in Trinker- 
heil- oder Trinkerbewahranstalten (s.ob. S.64 Anm.). Ohne Frage 
tuen solche Bestimmungen außerordentlich not. Dem modernen 
Standpunkte dürfte etwa folgender Wortlaut entsprechen: 

„Wer infolge von Trunksucht seine Pflichten gegen seine 
Familie gröblich verletzt, diese der Gefahr des Notstands aus- 
setzt, seine Angehörigen öfter mißhandelt oder ihre Sicherheit 
bedroht, wer ferner wegen öffentlicher Trunkenheit wiederholt 
sistiert oder wegen Trunksucht entmündigt ist, kann auf An- 
trag seiner Angehörigen, seiner Freunde, der Ortspolizeibehörde 
oder des Staatsanwalts durch richterlichen Beschluß nach An- 
hörung eines Sachverständigen in einer Trinkerheil- oder Trinker- 
bewahranstalt untergebracht werden“. 

Von gesetzlichen Bestimmungen bezüglich der Herstellung 
und des Vertriebs alkoholischer Getränke könnte als wirksam 
nur ein völliges Verbot, eine Prohibition, in Betracht kommen, 
wie sie in einer Reihe von amerikanischen Staaten besteht 
und, wie die Erfahrungen zeigen, die Kriminalität sehr günstig 
beeinflußt. Doch ist der Boden dafür auf dem Kontinent, 
mit Ausnahme vielleicht einiger nordischer Staaten, noch lange 
nicht vorbereitet. Es muß ein vollständiger Umschwung der 
Volksanschauung in Bezug auf die alkoholischen Getränke ein- 


u U: zz 


treten, ehe an solche radıkalen Gesetze gedacht werden kann. 
Die Prohibition wird aber einst fraglos einen hervorragenden 
Platz einnehmen als eines der wichtigsten Gesetze über den 
Alkohol in einem Strafgesetz der — Zukunft. 


Literatur. 


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Wollenberg in Hoches-Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. 

Th. Ziehen: Neuere Arbeiten über pathologische Unzurechnungsfähigkeit. 
Monatsschr. f. Psychiatrie 1897, Bd. IL., S. 52—57. 


Vereinigung für gerichtliche 
Psychologie und Psychiatrie 
im Grossherzogtum Hessen. 


Bericht über die 
vierte Hauptversammlung am 17. Juli 1906 zu Butzbach. 


Herausgegeben im Auftrage des Vorstandes 
von Privatdozent Dr. A. Dannemann. 


Enthält: 
Erörterung über die Einrichtung von Gefüngnislehrkursen. 
Von Prof. Dr. Mittermaier in Gießen 
und Strafanstaltsdirektor G. Clement in Butzbach. 
Die Tätigkeit des medizinischen, im besonderen des 
psychiatrischen Sachverständigen vor Gericht. 


Von Prof. Dr. Mittermaier, Oberstaatsanwalt Theobald, Landgerichts- 
direktor Bücking und Prof. Dr. Sommer in Giessen. 


Alle Rechte vorbehalten. 





Halle a. S. 
Verlag von Carl Marhold. 
1907. 


Juristisch-psychiatrische 
Grenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen 


Herausgegeben von 


Prof. Dr. jur. A, Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoche, 
- Halle a.S. Freiburg i. B, 


= Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
| Lublinitz i. Schles. 


V. Band, Heft 6. 


Vereinigung für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie 
im Großherzogtum Hessen. 


IV. E E zu Butzbach, den 17. Juli 1906. 


Vorsitzender: 
Herr Generalstaatsanwalt Dr. Preetorius- Darmstadt. 


I. Begrüssung. 


II. Erörterung über die Einrichtung von 
Gefängnislehrkursen. 


1. Professor Dr. Mittermaier-Gießen. 


M. H.! Wenn man heute die Frage nach der Einrichtung 
von Gefängnislehrkursen behandelt, so darf und muß man sich 
kurz fassen; denn diese Angelegenheit ist vielfach erörtert, 
über ihre Bedeutung hat wohl jeder sich eine Meinung gebildet; 
und auch die praktische Durchführbarkeit ist schon zur Genüge 
erprobt. So darf man eigentlich nur noch die Frage aufwerfen, 
wie man die Kurse wohl einrichten könnte. Einiges wenige 
aber mag dieser Erörterung doch vorausgeschickt werden. 


Die Aufgabe eines Gefängniskurses für den Juristen 
kann nicht die sein, ihn zu einem Anstaltsdirektor zu machen. 
Will man Gefängnisbeamte ausbilden, dann muß man bessere, 
tiefere Vorbildung bieten, als das in einem Kurs möglich ist; 
der praktische Jurist soll hier nur die Verhältnisse der Ver- 
brecher und die des Strafvollzugs kennen lernen, da er von 
beiden in seiner Praxis wissen muß. Dazu muß der Kurs 
auch eingerichtet sein. 

Es bedarf keiner Ausführung darüber, daß jeder Jurist in 
der Praxis die sozialen und individuellen Faktoren des Ver- 
brechens beachten’ muß. Sonst würde er doch niemals ein ge- 
rechtes und zweckvolles Urteil geben können. Es gibt nun 
Viele, die meinen, man könne diese Verhältnisse ganz gut 

1% 


und zur Genüge im täglichen Leben kennen lernen; es sei ja 
doch unmöglich, sie wissenschaftlich exakt zu erforschen, oder 
gar mit einer solchen wissenschaftlichen Erkenntnis dem Ver- 
brechen im Verständnis näher zu kommen, als mit dem ein- 
fachen gesunden Menschenverstand und praktischem Takt. Denn 
die Menschenseele sei eben unergründbar. Die Richtigkeit 
dieser Anschauung bestreite ich aber entschieden! Gewiß ist 
auch heute noch die geniale Erschließung der Menschenseele 
durch einen Dichter von keiner wissenschaftlichen Forschung 
übertroffen. Aber dennoch hat diese neben jener Platz, denn 
sie ist jedem zugänglich, Künstler aber wird nur selten jemand. 
Und daß wissenschaftliche Feststellung der Faktoren, die auf 
unser Denken und Handeln einwirken, möglich ist, das haben 
doch wohl die Einzelpsychologie und die Massenpsychologie 
der Statistik schon zur Genüge bewiesen. Begreift man nicht 
die Taten der Menschen ganz anders, wenn man aus der 
Statistik erkennt, welch unfehlbare Wirkung die Preisschwan- 
kungen, die Verschiedenheiten der Arbeitsmöglichkeit, der 
Unterschied von Stadt und Land, das Alter haben? Lemt 
man nicht die Tätigkeit der Seele viel genauer kennen, wenn 
uns das psychologische Experiment ihre Reaktion klar macht? 
Sind nicht schon die Untersuchungen über die Alkoholwirkung 
imstande, uns das Verhalten eines Menschen zum genauesten 
Verständnis zu bringen? Und gar die Untersuchungen unserer 
Psychiater tun das noch viel mehr. Wenn wir also gewiß nie 
einen Menschen in seinem Fühlen und Denken vollständig 
sezieren, nie eine Tat nach Prozenten von "psychologischen 
Faktoren analysieren können, so können wir doch auf Grund 
genauer Studien das Wesen der Seele immer besser verfolgen 
und begreifen. Die Wissenschaft der Psychologie ist zwar 
noch in ihren Anfängen, aber sie hat uns schon über vieles 
aufgeklärt, und ich zweifle keinen Moment an ihrer Fortent- 
wicklung. | 

Soll sich der Jurist diese Kenntnisse aneignen, so kann 
er das sehr gut auf der Universität tun, falls ihm hier Ge- 
legenheit dazu geboten wird; er kann es durch eigenes Studium 
der vorhandenen reichen Literatur tun. Aber es wird ihm 
vieles erst klar werden, wenn er im Leben die Beispiele zu 


u 


den theoretischen Darlegungen kennen lernt. Diese kann und 
wird er sicher in der Praxis finden. Aber dem jungen Juristen 
fehlt diese noch; erst allmählich verfolgt er genügend Verbrecher- 
typen, um sich ein Bild derselben machen zu können. Kann 
da nicht der genaue Einblick in das Leben einer Strafanstalt 
aushelfen? Ist nicht der Strafvollzug förmlich ein Spiegel der 
Verbrechensfaktoren ? “Ich meine, nichts kann uns so die Bei- 
spiele für das Leben einer Verbrecherseele bieten, als das Ge- 
fängnis! 

Der Strafvollzug muß viel intensiver als der Strafprozeß 
die Psychologie, die Psychiatrie, die Gesundheit und Krank- 
heit des Menschen, die Bedeutung von Erziehung und Unter- 
richt, der Seelsorge, des Alkoholismus, der Arbeitsverhältnisse, 
der Landstreicherei, die Wohnungsfrage beachten. Im Gefängnis 
ist viel bessere Gelegenheit dazu, als anderswo, und da man 
jeden einzelnen Faktor hier zu bekämpfen sucht, muß man ihn 
aufs genaueste erforscht haben. Das ist bekanntlich schon 
geschehen. Gerade die Gefängnismänner haben uns zuerst auf 
die Kriminologie hingewiesen, und mit Recht hat man das be- 
kannte Handbuch des Gefängniswesens von Holtzendorff 
und Jagemann den Anfang eines Systems der Verbrechens- 
lehre genannt. Darum: der Strafvollzug bietet die beste Ge- 
legenheit, die Verhältnisse des Verbrechens kennen zu lernen. 

Der Jurist muß aber auch den Strafvollzug um seiner 
selbst willen kennen lernen! Einmal gehört dieser, so gut wie 
der Prozeß, zu den Mitteln der Verbrechensbekämpfung, und 
wer bei dieser mitarbeiten will, kann das doch nur dann mit 
Aussicht auf Erfolg tun, wenn er die Bedeutung der einzelnen 
Bekämpfungsfaktoren kennt, Wir sind doch nicht Juristen 
nur um der Eleganz der Formen willen, sondern um dem 
Leben zu dienen. Und der ist kein guter Sozialarzt, sondern 
zur ein Mathematiker, der nicht das Weeen der Größen kennt, 
mit denen er rechnet. 

Ja ich sage, daß der Jurist sogar die Wirkung der Ein- 
sperrung bei seinen Entscheidungen mit berücksichtigen muß. 
Er muß sich überlegen, welche Wirkung der Vollzug der Unter- 
suchungshaft hat; wenn ihm die Wahl der Strafarten oder der 
Strafgrößen offen steht, muß er die Bedeutung der einzelnen 


E ven 


mit in Anschlag bringen! Das mag manchem ketzerisch klingen. 
Aber einmal geschieht es tatsächlich schon täglich und überall, 
und sodann steht nirgendwo, daß diese Rücksichtnahme unge- 
setzlich sei, oder dem Geist unseres Strafgesetzes nicht ent- 
spreche. Ist doch die Einrichtung der mildernden Umstände 
förmlich auf diese Rücksichtnahme zugeschnitten! Ä 

Diesen Zwecken denke ich mir also einen Gefängniskurs 
dienstbar! — Sie können nur erreicht werden bei praktischer 
Anschauung. Das theoretische Studium der Statistik, Psycho- 
logie, Anthropologie, Soziologie, der Gefängnisgeschichte muß 
daneben hergehen, aber genügt eben nicht, sowenig. wie dem 
Arzt ein Studium aus Büchern allein genügt. Bei einer Kunst 
muß man sehen, beobachten, proben. Das theoretische Studium 
ist auch eine vorzügliche, ja unerläßliche Vorbereitung für die 
praktische Anschauung; ohne jenes versteht man die Praxis 
nur halb, und die Vorbereitung ermöglicht es, ein Verständnis 
in kürzerer Zeit zu gewinnen.: Während nun ein golches 
Studium sehr gut auf der Universität betrieben werden kann, 
ist der junge Student noch nicht für die praktische Anschau- 
ung reif. Um Menschen zu verstehen, muß man selbst einiges 
vom Leben kennen gelernt, muß schon etwas in der Praxis 
drin gestanden, mit andern zusammen. praktisch gearbeitet 
haben. Darum wäre es verkehrt, wollte. man das Studium 
des Strafvollzugs. einfach in die Universitätszeit verlegen. Hier 
kann nur die theoretische Grundlage gegeben werden. Ja, 
ich glaube, daß diese am besten während des Hochschul- 
studiums gegeben wird. Denn hier sind die Lehrmittel dazu 
am leichtesten zu beschaffen, und kann, was gerade das 
wünschenswerte ist, möglichst allen Juristen ‚diese Kenntnis 
verschafft werden. Umgekehrt wäre sogar die Zeit für einen 
theoretischen Kurs kaum während der Praxis zu erhalten. 

Man darf aber wieder nicht vergessen, , daß schon jetzt, 
die Fülle des von unseren Studenten zu bewältigenden ‚Stoffes 
sehr groß ist, und daß.das theoretische Studium nicht genügt, 
um ‚ein volles Verständnis für die Praxis zu ‚erhalten, denn 
dazu gehört noch die Kenntnis von den Grundsätzen, die sich 
der Praktiker. selbst gebildet hat, die also der Praktiker des 
Strafvollzugs dem Juristen vermitteln muß. 


u as 


Aus all diesem geht für mich klar hervor, daß man Kenntnis 
und Verständnis des Strafvollzugs nur erreichen kann durch 
ein doppeltes: ein vorbereitendes theoretisches Studium und 
einen praktischen Kurs. Das erste legen wir am besten auf 
die Universität, den zweiten können wir nur für die j jungen 
Praktiker einrichten, 

Ganz in dieser Art ist die Einrichtung noch nirgendwo 
verwirklicht, denn es fehlt ihr überall noch der erste Teil des 
theoretischen Studiums. Anfänge zu diesem bieten unsere 
Universitäten wohl schon; aber eine strenge Durchführung 
und eine systematische Verbindung des Studiums mit den 
Kursen existiert noch nicht. Gerade in 'dieser Verbindung 
aber möchte ich den Kursen erst ihren vollen Wert zuerkennen. 
Jedoch müssen wir stets nach dem Spruch, daß man das Gute 
nicht vernachlässigen soll, wenn man das Bessere nicht erhalten 
kann, das tun, was eben erreichbar ist. Und wenn wir die 
theoretische Vorbereitung nicht sofort einrichten können, so 
wollen wir doch den praktischen Kurs nicht auch aufgeben. 

Solche Kurse bestehen bekanntlich schon an -manchen 
Plätzen; und über alle erfahren wir bisher nur günstiges! In 
Baden werden Gefängniskurse seit 1886, zuerst als vier- 
wöchentliche, dann als zweiwöchentliche gehalten, in Preußen 
seit 1895 (aber mit einer fast zehnjährigen Pause!), in Bayern 
seit 1900, in Hamburg erstmals 1904. Ebenso sind sie in 
Elsaß-Lothringen bekannt. In Sachsen und Württem- 
berg hat man nur die auch in Hessen seit 1903 vorgesehene 
Einrichtung einer längerdauernden Beschäftigung jünger Prak- 
tiker im Gefängnisdienst. Eine Reihe von Berichten sind über 
diese Kurse erstattet, der beste wohl von dem, der sie zuerst 
einführte, Excellenz von Jagemann, in Aschaffenburgs 
Monatsschrift für Kriminalpsychologie, I, 374, im Jahre 1905, 
wozu neuerdings noch die Berichte in den Blättern für- Ge- 
fängniskunde, 38, 505 und 39, 209,367, kommen. | 

Als praktische Form hat sich dabei die Einrichtung eines 
zweiwöchigen Kurses an einer Zentralanstalt herausgestellt, 
wobei die Beamten dieser Anstalt, eventuell neben ihnen Theo- 
retiker, durch Vorträge über alle Zweige des Anstaltslebens 
unterrichten, Diskussionen stattfinden und der Anstaltsbetrieb 


=, 9. 


nach allen Richtungen gezeigt und erklärt wird. Eine nicht 
zu große Zahl jüngerer praktischer Juristen, Assessoren oder 
Amtsrichter, auch einmal von Theologen, wird auf freie Mel- 
dung zugezogen. Die Anregung, die die Teilnehmer erhalten, 
die praktische Unterweisung, ist überall sehr fruchtbringend, 
wie ich aus eigener Erfahrung als Teilnehmer des badischen 
Kursus von 1894 weiß. Der Praktiker lernt dem Beschuldigten 
ganz anders gegenübertreten, als Vorsteher eines Amtsgefäng- . 
nisses dieses viel besser zu leiten und in der Schutzfürsorge 
viel mehr zu wirken. 


Etwas derartiges läßt sich in Hessen nach meinem Dafür- 
halten ohne Schwierigkeit einführen, wir sind sogar in beson- 
ders günstiger Lage. Denn die zwei hessischen Zentralanstalten, 
Butzbach und Marienschloß, liegen so nahe beieinander, daß 
sie beide dem Kursus dienen können. Außerdem ist es von 
Butzbach aus leicht möglich, eine Reihe interessanter, lehr- 
reicher Anstalten zu besuchen: Wehlheiden, Wabern, Ziegen- 
hain, Diez, Preungesheim, Arbeiterkolonien, Arbeitshäuser, Er- 
ziehungsanstaltenı. Gerade solche Besuche sind von großer 
Wichtigkeit. Weiter können auch die Lehrkräfte der Landes- 
universität herangezogen werden. Und endlich möchte ich 
darauf hinweisen, daß es sich wohl ermöglichen lassen sollte, 
den hessischen Juristen eine theoretische Vorbildung zu geben, 
so daß der Kursus selbst noch mehr nützen kann. Entweder 
würde diese Vorbereitung auf der Universität zu geben sein; 
oder aber ich denke mir, daß jeweils im Winter die sich als 
Teilnehmer meldenden Referendare, Assessoren und Amtsrichter 
schon in den drei Provinzen eine Art Vorkurs durchmachen, 
der von den Oberstaatsanwälten geleitet wird. Es wäre sogar 
wünschenswert, wenn die Teilnahme an solchen vorbereitenden 
Kursen als Bedingung für die Aufnahme zum Hauptkurs auf- 
gestellt würde. Dieser könnte dann vielleicht auf zehn Tage 
abgekürzt werden. 


Ich fasse meine Darlegungen zusammen in einige Thesen: 


1. Die Einführung von Gefängniskursen in Hessen ist 
dringend erwünscht. 


2. Sie ist ohne zu große Schwierigkeiten durchführbar. 


u. HG 


3. Wünschenswert und möglich ist die Einrichtung von 

a) einer theoretischen Vorbildung auf der Universität, 

b) eines jährlichen 10—14 tägigen Kurses für höchstens 

20 Teilnehmer, die möglichst das zweite juristische 
Examen bestanden haben. 


2. Strafanstaltsdirektor G, Clement- Butzbach. 


Der Strafvollzug, in der selbstverständlichen Beschränkung 
auf die Freiheitsstrafe, leidet unter zwei Übeln: unter einem 
gewissen Vorurteil und unter dem Mangel an Interesse von 
seiten mancher Juristen. Nicht wenigen im Amte befindlichen 
Richtern und Staatsanwälten ist er ein unbekanntes Gebiet. 
Die gesetzlichen Bestimmungen des materiellen Strafrechts 
und der Strafprozeßordnung über den Strafvollzug sind so 
dürftig, daß sie kaum Anlaß bieten, sich theoretisch eingehender 
mit demselben zu beschäftigen. 


Wenn nun auch einige Strafrechtslehrer trotz der Fülle 
des Materials und der knapp bemessenen Zeit bei ihren Vor- 
lesungen über Strafrecht dem Strafvollzuge- einige Stunden 
widmen und ihren Hörern Gelegenheit verschaffen, an einem 
Nachmittag im Semester ein größeres Gefängnis zu besichtigen, 
so reichen die dadurch gegebenen Anregungen doch nicht aus, 
um ein nachhaltiges Interesse für den Strafvollzug zu wecken. 
Sobald der junge Jurist in die Praxis übertritt, fehlt ihm jede 
Anregung, dem Gefängniswesen seine Aufmerksamkeit zuzu- 
wenden und sich mit dem Gefängnisdienste bekannt zu machen. 
Meine Herren! Ich darf Ihnen vielleicht aus meiner zwölf- 
jährigen Praxis folgendes verraten, wobei ich niemand ver- 
letzen, niemand persönlich zu nahe treten will. Die Fälle, 
die ich anführe, bitte ich anzusehen als Symptome für die all- 
gemeine Interesselosigkeit, die der Stand, dem ich nach meiner 
Ausbildung anzugehören die Ehre habe, dem Strafvollzuge 
entgegenbringt. Während meiner Tätigkeit an der hiesigen 


— 10 — 


Strafanstalt sind schon mehrere Akzessisten, oder nach der 
neueren Bezeichnung Referendare, am hiesigen Amtsgericht 
tätig gewesen. Die Herren kommen als Protokollführer öfter 
in die Strafanstalt, machen mir bei dem ersten Termin auf 
dem Bureau einen Besuch und bitten mich, ihnen nach Beendi- 
gung des Termines zu gestatten, einen Blick in die Anstalt zu 
werfen. Nach einer knappen Viertelstunde ist die Neugierde 
befriedigt, und der junge Herr verschwindet auf Nimmerwieder- 
sehen, ohne von der Anstalt, ihren Insassen und Einrichtungen 
weitere Notiz zu nehmen. Von den während des gleichen 
Zeitraums in Friedberg tätigen Amtsanwälten haben nur zwei 
die Anstalt eingehender besichtigt. Diese Interesselosigkeit 
hängt zusammen mit dem von mir erwähnten Vorurteile Man 
betrachtet den Strafvollzug vielfach als eine ganz inferiore 
Angelegenheit,. die Beschäftigung mit demselben als etwas 
durchaus Unwissenschaftliches, und man behauptet allen Ernstes, 
daß eine Gefängniswissenschaft überhaupt nicht existiere. Und 
doch ist über die Fragen des Strafvollzuges und des Gefängnis- 
wesens eine umfangreiche Literatur erwachsen, an der die be- 
deutendsten geistigen Kapazitäten auf dem Gebiete der Wissen- 
schaft und der Staatsverwaltung beteiligt sind. Ich brauche 
nur die Namen Mittermaier, v. Holtzendorff, v. Schwarze, 
v. Jagemann, v. Liszt, Bär und Krohne zu nennen, für 
Deutschland an die Jahrbücher für Gefängniskunde und Besse- 
rungsanstalten von Julius, Nöllner und Varrentrapp, an die 
. Blätter für Gefängniskunde, das Organ des Vereins der deut- 
schen Strafanstaltsbeamten, an die Jahresberichte der Rheinisch- 
Westfälischen Gefängnisgesellschaft zu erinnern, für England 
die Jahresberichte der Howard-Association, für Nord-Amerika 
die der New-Yorker Gefängnisgesellschaft, für Frankreich die 
Bulletins de la société générale des prisons zu erwähnen, nicht 
zu gedenken der zahlreichen Monographien und der glänzenden 
Bearbeitungen, die die Verhandlungen der internationalen Ge- 
fängniskongresse erfahren haben, um darzutun, daß es eine 
Wissenschaft vom Strafvollzuge gibt, der alle modernen Kultur- 
völker einen Teil ihrer geistigen Arbeiten gewidmet haben. 
„Sie ist“, wie Krohne sagt, „eine. Wissenschaft von hervor- 
ragend sozialer Bedeutung, die ihre Wurzeln bis in die inner- 


= AT 


sten Tiefen aller Fakultäten erstreckt, von ihrer ethischen 
Seite in die Theologie, von ihrer rechtlichen in die Jurispru- 
denz, von ihrer physiologischen in die Medizin, von ihrer 
psychologischen und sozialpolitischen in die Philosophie ein- 
dringt, die für die praktische Lösung ihrer Fragen die höch- 
sten Anforderungen an unsere Baukunst und Technik stellt.“ 


Unser Hauptstrafmittel ist die Freiheitsstrafe, die der 
Richter, wenn sie Erfolg haben, wenn sie den Rückfall ver- 
hüten soll, zweckmäßig bemessen muß. Dies kann er nur, 
wenn er ihr Wesen, wenn er ihren Inhalt kennt, wenn er 
weiß, wie dieselbe vollzogen wird, welche Wirkung dieselbe 
auf das einzelne Individuum ausüben wird, wenn er sich klar 
darüber ist, was es heißt, jemandem auf kürzere oder längere 
Zeit die Freiheit zu entziehen. Jede Unkenntnis des Richters 
hierüber muß den Erfolg der Strafe beeinträchtigen. 


Noch ungünstiger wirkt die Unkenntnis, wenn Richter 
oder Staatsanwälte vor die Aufgabe gestellt werden, die Frei- 
heitsstrafe selbst vollstrecken zu lassen. Wie soll ein Amts- 
richter als Gefängnisvorstand ersprießlich wirken, wenn ihm 
die Kenntnis des Gefängniswesens abgeht. Man wird mir ent- 
gegenhalten, daß der Amtsrichter sehr wohl imstande sei, an 
der Hand des Reglements sein Gefängnis zu leiten. Ganz wohl! 
Aber das Reglement ist lückenhaft und versagt regelmäßig _ 
wo man es am nötigsten braucht. Es gibt ihm keine Aus- 
kunft, wie er den Arbeitsbetrieb einzurichten habe, und doch 
ist die Durchführung eines geordneten Ärbeitsbetriebes gerade 
in den kleineren Gefängnissen ebenso schwierig als wichtig, 
einerseits, weil nicht immer Arbeitsgelegenheit und Arbeits- 
kräfte vorhanden sind, andererseits, um arbeitsscheuen Vaga: 
bunden das Gefängnis nicht zu einem beliebten Vor, 
halt zu mächen. | 

Das Reglement unterstützt den Richter nicht bei der Aus- 
wahl des Aufsichtspersonals und. noch weniger bei der prak- 
tischen Ausbildung desselben. 

Um den geschilderten Mängeln abzuhelfen, hat man in 
einigen deutschen Staaten Lehrgänge für Gefängniswesen ein- 
gerichtet, über die ich mich hier nicht weiter zu verbreiten 


= 79 — 


habe, weil Herr Professor Mittermaier in dankenswerter 
Weise ausführlich hierüber gesprochen hat. 

‘ Die Einrichtung derartiger Kurse soll sich allerwärts be- 
währt haben, und die günstigen Erfolge ermutigen unsere Ver- 
einigung, auf dem einmal betretenen Weg fortzuschreiten, in- 
dem, durch theoretischen Unterricht auf der Universität und 
durch besonders eingerichtete Lehrkurse an den beiden Zentral- 
strafanstalten in Hessen jedem Juristen vor der Anstellung 
Gelegenheit gegeben werden soll, sich mit dem Strafvollzuge 
vertraut zu machen und theoretische und praktische Kennt- 
nisse über das Gefängniswesen sich zu erwerben. 

Wenn Herr Professor Mittermaier fürchtet, daß die 
Studenten das Kolleg über Gefängniswissenschaft nicht regel 
mäßig besuchen würden, so möchte ich als Praktiker dem 
Theoretiker raten, die Gefängniskunde als Prüfungsgegenstand 
in die Fakultätsprüfung aufzunehmen. Aus meiner Studenten- 
zeit erinnere ich mich, daß die Kollegien über Nationalökonomie 
und Staatswissenschaft von Juristen schlecht besucht wurden, 
so lange diese Materie in dem zweiten, dem Staatsexamen ge- 
prüft wurde. Der Kollegienbesuch wurde ein außerordentlich 
reger von dem Zeitpunkte an, in dem diese Gegenstände in 
die Fakultätsprüfung verlegt wurden. 

Daß es für jeden Justizbeamten, der strafrechtlich. tätig 
ist, sei es als Richter oder Staatsanwalt, oder als Vorsteher 
eines Gefängnisses, hohen Gewinn bringt, wenn er durch Ein- 
blick in den Strafvollzug den Inhalt, die Bedeutung und die 
Wirkung der Strafe kennen lernt und dabei Seelenstudien 
macht an den von der Außenwelt losgelösten Gefangenen, be- 
darf nach dem Gesagten wohl keiner näheren Ausführung. 
Allerdings wird der praktische Unterricht, der auf einer gründ- 
lichen theoretischen Vorbildung aufbauen kann, wesentlich 
konzentrierter sein können, als derjenige der Assessoren, die 
einem zweimonatigen Aüsbildungskursus an einer hessischen 
Zentralstrafanstalt sich unterziehen. Es dürfte sich vielmehr 
empfehlen, den badischen oder hamburgischen Lehrplan hier 
zu Grunde zu legen. 

Alljährlich hätte hiernach ein Kursus von zwölftägiger 
Dauer stattzufinden. Wenn vor- und nachmittags gearbeitet 


z JI 


wird, halte ich diese Zeit für ausreichend. Wünschenswert 
wäre es, wenn jedem Teilnehmer einige Zeit vor Beginn des 
Kursus je ein Exemplar der Dienst- und Hausordnung und 
der Dienstanweisung für die Beamten zugestellt würde. 


Die Teilnahme ist eine freiwillige, sie erstreckt sich aber 
auf die volle Dauer des Lehrgangs. Zur Teilnahme zugelassen 
‘ werden Gerichts-Assessoren, Staatsanwälte, Richter und Rechts- 
anwälte (was wohl ausführbar wäre, wenn der Kursus in die 
Gerichtsferien gelegt würde) und event. auch Referendare. 
Von einem späteren Zeitpunkte an wäre die Zulassung ab- 
hängig zu machen von dem Nachweis der theoretischen Aus- 
bildung auf der Universität. Bei der außerordentlichen Wich- 
tigkeit und dem Vorteile für die Strafrechtspflege wäre die 
Großherzogliche Regierung zu bitten, die Kosten des Aufent- 
halts in Butzbach oder Marienschloß ganz oder teilweise zu er- 
setzen. 


Den Teilnehmern ist Gelegenheit zu geben, die Straf- 
anstalt, den Gefängnisdienst in allen Teilen und in allen 
Zweigen kennen zu lernen. Von der Registratur, dem Kassen- 
wesen und der sonstigen Buchführung nur das Wichtigste. 
Eingehender sind zu behandeln: Unterricht und Lektüre, Seel- 
sorge, der Dienst des Arztes, am eingehendsten der Polizei- 
dienst, die Beköstigung, der Arbeitsbetrieb, die Ausübung der 
Disziplinarstrafgewalt und das für die Rückfallsprophylaxe so 
außerordentlich wichtige Fürsorgewesen, und zwar durch ein- 
leitende, kurze theoretische Vorträge und praktische Unter- 
-= weisung. Zu diesem Zwecke wären die in jedem Dienstzweige 
eingeführten Formulare, Listen und Register vorzulegen, zu 
erläutern und zu besprechen, ebenso Personalakten von Ge- 
fangenen (erstmals bestraften und rückfälligen).. Die Teil- 
nehmer müßten praktisch kennen lernen den Dienst des Auf- 
sehers, des Oberaufsehers, des Kammeraufsehers, der Werk- 
meister, des Ökonomen, des Rechnungsbeamten. Sie müßten 
dem Früh- und Abendrapport der Aufseher beiwohnen, ebenso 
dem Schul- und Religionsunterricht, dem Chorgesang, den Be- 
amtenkonferenzen; sie müßten die Beamten in die Zellen zu 
den Einzelbesprechungen mit den Gefangenen begleiten. 


=. Ti 


Diese praktischen Unterweisungen würden am zweck- 
mäßigsten auf die Vormittage verlegt, soweit dies nach dem 
Dienstplan der Anstalt möglich ist. 

Das dort Gesehene und Gehörte wäre am Nachmittag zu 
besprechen. Die Besprechungen könnten durch kurze Vorträge 
des Direktors oder der Ressortbeamten eingeleitet werden. 
An diese würden sich dann Fragen und Meinungsäußerungen 
aus der Reihe der Teilnehmer anschließen, so daß eine rege 
und für alle Teile gewinnbringende Erörterung sich von selbst 
ergeben würde. 

Meine Herren! Derartige Lehrkurse sind anstrengend. 
Ich hatte dank des wohlwollenden Entgegenkommens des 
Herrn Generalstaatsanwalts und des Großh. Ministeriums Ge- 
legenheit, mit meinem Kollegen, Herrn Direktor Bornemann 
in Marienschloß, einem von dem Königl. Preußischen Ministe- 
rium des Innern, unter dem Vorsitze des Geheimen Ober-Regie- 
rungsrats Dr. Krohne, allerdings nur für praktisch geschulte 
Gefängnisbeamte eingerichteten Kursus in Düsseldorf beizu- 
wohnen. Die regelmäßige Arbeitszeit dauerte von 81/,—1 Uhr 
und nach einstündiger Frühstückspause von 2—5 Uhr; manch- 
mal fanden auch noch von 6—7 Uhr Vorträge und Besprech- 
ungen statt. 

Aber sie sind gewinnbringend, und dankbar denke ich an 
die anregenden Stunden zurück. 

Den wichtigsten Erfolg eines Lehrkursus für den Richter 
erblicke ich nicht nur darin, daß er die Gefängnistechnik 
kennen lernt, sondern vor allem auch darin, daß er Gelegen- 
heit hat, in der Psyche des Gefangenen zu lesen, daß die Be- 
schäftigung mit der Kriminalpsychologie, welche der Kursus 
mit sich bringt, den Teilnehmer lehren, als Strafrichter nicht 
nur das Verbrechen als objektiv in die Welt tretende Erschei- 
nung, sondern auch den Verbrecher bei Festsetzung von Strafe 
und Strafmaß ins Auge zu fassen. 

MeineHerren! Ein konkretes Beispiel. Vor wenigen Tagen 
wurde ein junger, kaum 23jähriger Mensch wegen Widerstands 
gegen die Staatsgewalt ın die Zellenstrafanstalt eingeliefert, 
in der er jetzt zum fünften Male Aufnahme gefunden, und da- 
mit, wenn ich nicht irre, den Rekord erreicht hat. Er war 


— 15 — 


schon hier wegen Körperverletzung, Diebstahls, Betrugs im 
ursächlichen Zusammenhang mit Urkundenfälschung und wegen 
Gefangenenbefreiung. Seine längste Strafe war ein Jahr. Wenn 
der Strafrichter gesehen hätte, mit welch gleichgültiger Miene 
er zum fünften Male die Schwelle des Gefängnisses über- 
schritten hat, wie dreist und ungeniert er sich als alter Be- 
kannter vorgestellt hat, bei dem nur zu verwundern war, daß 
er nicht, auf die alte Bekanntschaft pochend, Anspruch auf 
besonders gute Behandlung erhoben hat, ich bin sicher, der 
Richter hätte, statt auf zwei Monate, auf eine wesentlich 
höhere Strafe erkannt und das Kalkul des im Zuhörerraum 
der Strafgerichte und von „duften Brüdern“ im Untersuchungs- 
gefängnisse ausgebildeten Kriminalstudenten zuschanden ge- 
macht. Ich bin nicht Optimist genug, um anzunehmen, daß 
der Mann nach Verbüßung der höheren Strafe die Anstalt ge- 
bessert verlassen hätte, aber er hätte sich vielleicht doch in 
acht genommen und das Böse gelassen, weniger aus Liebe 
zım Guten als aus Furcht vor der Strafe. Für den Mann 
hört die Strafe auf, ein Übel zu sein. 


Diskussion: 


Vorsitzender: Meine Herren! Daß ich als oberster Auf- 
sichtsbeamter über die Gefängnisse in Hessen gerade der Ein- 
richtung der Gefängniskurse ein sehr warmes Interesse ent- 
gegenbringe, brauche ich wohl nicht besonders zu versichern. 
Ich habe auch seiner Zeit Unterrichtskurse, zunächst nur in der 
Zellenstrafanstalt, eingerichtet; zunächst nur an dieser, weil 
ich warten wollte, bis die Erweiterung des Landeszuchthauses 
Marienschloß durch Errichtung des Zellenbaues vollzogen ist, 
der im Frühjahr 1907 eröffnet wird. Ich habe also zunächst 
an jener Strafanstalt allein zweimonatige Kurse für Assessoren 
ins Leben gerufen. Wir haben uns damals des langen und 
breiten über die Angelegenheit sowohl mündlich wie schrift- 
lich unterhalten; Herr Direktor Clem ent ist ein beredter 
Zeuge dafür, daß wir alle verschiedenen Punkte, die dabei in 
Betracht kamen, auf das allersorgfältigste überlegt haben. Wir 


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kamen zır den zweimonatigen Kursen aus den verschiedensten 
Gründen. Erstens haben wir uns gesagt, daß mit dem bloßen 
Besichtigen einer Strafanstalt eine wirklich objektive und in- 
time Kenntnis aller derjenigen Dinge nicht gewonnen ist, die 
nun einmal die Gefängniswissenschaft fordert, und die nament- 
lich eine psychologische Vertiefung in die einzelnen Gefangenen 
voraussetzen; und andererseits hatte ich den Hintergedanken, 
— es war nur ein Hintergedanke, nicht der eigentliche be- 
stimmende Gedanke; insofern möchte ich das, was Herr Prof. 
Dr. Mittermaier gesagt hat, berichtigen —, wir hatten den 
Hintergedanken, daß durch solche zweimonatige sehr gründ- 
liche Kurse, die in alle Zweige des Gefängniswesens eingingen, 
auch möglicherweise ein Stock von jungen Beamten heran- 
wachse, die im Falle der Notwendigkeit einer Stellvertretung 
für einen Direktor einspringen könnten. Ich möchte da etwas 
ganz Inferiores erwähnen, was die Herren, die der Strafanstalt 
ferner stehen, nicht kennen. Wenn zur Zeit ein Direktor be- 
urlaubt wird auf einige Wochen, so wird er mangels anderer 
geeigneter Persönlichkeiten ersetzt durch den ersten Ober- 
beamten, in der Regel durch den Ökonomen, den Rechner 
oder einen derartigen Beamten, die Subalterne sind. Das 
kann zu Schwierigkeiten führen. Es gibt unter den akademisch 
gebildeten Beamten immer den oder jenen empfindlichen 
Herrn, dem es nicht angenehm ist, wenn ein nicht akademisch 
Gebildeter die Direktion führt. Das hat schon dahin geführt, 
daß z. B. in der Beamtenkonferenz, in der der Direktor natur- 
gemäß der Vorgesetzte ist, in den Fällen der Vertretung durch 
subalterne Beamte dieser nicht den Vorsitz führen soll, sondern 
der älteste akademisch gebildete Beamte, sei es der Geistliche, sei 
es der Arzt. Um solchen Konflikten und Schwierigkeiten zu 
begegnen, um solche Möglichkeiten überhaupt auszuschließen, 
schien es uns, und zwar nicht bloß dem Herrn Minister und 
mir, sondern auch Herrn Direktor Clement, das Geeignetste 
daß man für Leute sorgt, die akademisch gebildet und ver- 
möge einer entsprechenden spezialistischen Ausbildung in der 
Lage sind, im Falle solcher Beurlaubungen den Direktor zu 
vertreten, mit der vollen Sachkunde, die eine solche Vertre- 
tung erfordert. Aber ich möchte nochmals betonen, das war 


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nur ein Nebengedanke; der eigentliche treibende Gedanke war 
der, den Assessoren die Möglichkeit zu geben, sich in der Ge- 
fängniskunde so auszubilden, daß alle diejenigen Errungen- 
schaften erreicht werden, die vorhin sowohl Herr Prof. Mitter- 
maier wie Herr Direktor Clement in beredten Worten ge- 
schildert haben. Nun muß ich sagen, wenn man an die Kurse 
herantritt, die jetzt von den beiden Herren vorgeschlagen 
werden, so erwächst die Frage: werden nicht die zweimonatigen 
Kurse, die schon bestehen, einfach aufgehoben werden müssen ? 
Werden sie dann nicht überflüssig sein? Ich möchte dabei 
betonen, was bereits von Herrn Direktor Clement angedeutet 
wurde, daß ein auffälliger Mangel an Interesse für diesen Stoff 
bei unseren jungen Juristen besteht. Es ist seinerzeit von 
mir bei dem Ministerium der Antrag gestellt worden, diese 
zweimonatigen Kurse einzuführen. Ich habe damals schon, in 
dem Gefühle, daß damit eigentlich nur ein Schlag ins Wasser 
getan sei, im Ministerium hervorgehoben, wenn nicht den 
Assessoren die Möglichkeit eines gewissen Unterhalts gewährt 
werde, würden sich wohl schwerlich Assessoren finden, die 
sich für zwei Monate nach Butzbach setzten, lediglich um Ge- 
fängniskunde zu studieren. Die Erfahrungen, die wir gemacht 
haben, haben diese meine Befürchtungen vollständig bestätigt. 
Erst nachdem ins Budget auf mein Ansuchen eine Summe auf- 
genommen wurde, die dazu dienen soll, wenigstens die äußer- 
lichen Kosten des Aufenthalts zu decken, erst dann sind Mel- 
dungen gekommen. Es hat aber bis jetzt nur ein einziger von 
dem Vorteile, der geboten ist, Gebrauch gemacht. Ich muß 
sagen, es ist höchst bedauerlich, daß das bis jetzt noch nicht 
öfter geschehen ist; es ist mir auch unbegreiflich. Es ist klar, 
daß von den Assessoren, die jedes Jahr die erste Prüfung be- 
stehen, eine ganze Reihe unmöglich sofort auf Verwendung 
rechnen können. Sind sie aber wirklich verwendet, sind sie 
als Richter, Amtsanwälte, stellvertretende Staatsanwälte, Hilfs- 
gerichtsschreiber usw. mit einem Amte betraut, so kann man. 
es den Herren nicht übel nehmen, wenn sie sich sagen: warum’ 
soll ich jetzt diese Verwendung in die Schanze schlagen, und 
mich zwei Monate nach der Strafanstalt setzen, nur um Ge- 
fängniskunde zu studieren? Wenn ich die zwei Monate hinter 
2 


— 18 — 


mir habe, finde ich vielleicht keine Verwendung mehr, also 
behalte ich lieber, was ich habe. Aber diejenigen, die nicht 
verwendet sind, die als Volontäre, sei es bei einer Staats- 
anwaltschaft, einem Amtsgericht oder Landgericht, arbeiten, 
die könnten sich doch melden, könnten den Versuch machen 
und eine Eingabe an uns richten, um auf die Weise heraus- 
zubekommen, ob man sie zu derartigen Kursen in Zellenstraf- 
anstalten zuläßt. 

Ich glaubte, diese Bemerkungen machen zu sollen, um 
von vornherein davor zu warnen, daß man etwa mit allzu- 
großen Hoffnungen an die Einrichtung solcher Kurse heran- 
trete. Es ist kein Zweifel, es besteht ein Mangel an 
Interesse, und nur diejenigen, die einmal den Strafvollzug 
mit eigenen Augen haben ansehen und studieren können, sind 
eigentlich in der Lage gewesen, von dem Vorurteil und der 
Gleichgültigkeit, die bezüglich dieser Materie noch die Juristen 
beherrschen, freizuwerden. 

Ich komme auf den Punkt zurück, den ich vorhin er- 
wähnte. Es ist recht schwer zu entscheiden, ob neben den 
Kursen, die jetzt durch uns ins Leben gerufen werden sollen, 
noch diese zweimonatigen Kurse ihren Platz behalten können, 
oder ob nicht das eine durch das andere ersetzt werden soll; 
namentlich wenn die Hoffnung in Erfüllung geht, die Herr 
Professor Mittermaier in so beredter Weise aussprach, und 
die ich warm unterstützen möchte, daß die Studenten 
schon während ihrer Studienzeit in einer inten- 
siveren Weise als bisher auf die Gefängniswissen- 
schaft hingewiesen und in der Gefängniswissen- 
schaft unterrichtet werden; denn dann werden eine 
Reihe von Vorkenntnissen bereits vorhanden sein, auf denen 
demnächst derjenige, der den Kursus abhält, fußen kann, wäh- 
rend heute diejenigen Assessoren, die einen solchen Kursus 
mitmachen, vollständig voraussetzungslos ihre Tätigkeit be- 
ginnen und ihren Instruktoren mehr Arbeit machen, als es 
der Fall sein wird, wenn diese mit solchen zu tun haben, die 
bereits eine Idee von der Sache sich bildeten und schon theo- 
retisch in den Stoff eingeführt worden sind. 

Das sind die Fragen, die wir uns überlegen müssen, die 


= GI 


vielleicht Sie weniger interessieren, die aber mich demnächst 
interessieren werden, wenn ich über die Sache an das Ministe- 
rium berichte. Im übrigen bin ich durchaus damit einver- 
standen, daß solche Kurse eingerichtet werden; nur ist mir 
fraglich, ob gerade der nächste Winter schon dazu geeignet 
sein wird. Ich möchte die Herren, die das nicht wissen, darauf 
aufmerksam machen, daß wir in Hessen einer großen durch- 
greifenden Umgestaltung des Strafvollzugs entgegensehen. Es 
ist zur Zeit ein Zellenbau bei dem Landeszuchthaus Marienschloß 
im Bau begriffen, der Bau ist längst unter Dach, und es darf 
mit Sicherheit erwartet werden, daß er im Frühjahr 1907 er- 
öffnet wird. Ist der Zellenbau fertig, so werden sämtliche 
Zuchthausgefangene, die zur Zeit in der Zellenstrafanstalt zu 
Butzbach verwahrt sind, nach Marienschloß überführt, so daß 
dann das Landeszuchthaus Marienschloß alle männlichen Zucht- 
hausgefangenen aus dem ganzen (Großherzogtum in seinen 
Mauern bergen wird, und umgekehrt, die Zellenstrafanstalt 
Butzbach nur Gefängnisgefangene beherbergt. Es war das, 
wie ich weiter bemerken will, entschieden ein Mangel unseres 
Strafvollzugs, daß quasi unter einem Dach Zuchthausgefangene 
und Gefängnisgefangene verwahrt wurden. Es war dann außer- 
ordentlich schwer, die Differenzierung herauszubekommen, die 
der Gesetzgeber bei der Schaffung der beiden Strafarten ge- 
wünscht und vorausgesetzt hat. 

Es wird aber weiter das Mainzer Gefängnis umgebaut in 
eine Weiberstrafanstalt, und das Darmstädter Gefängnis ganz 
aufgehoben; wir werden also in Butzbach und Marienschloß 
Zentralstellen des Strafvollzugs bekommen, die unendlich viel 
mehr 'bieten, als viele vorzüglich geleitete Strafanstalten in 
Preußen und anderen großen Bundesstaaten Deutschlands. Die 
beiden Strafanstalten werden dann namentlich in der Lage 
sein, sowohl Einzelhaft wie Gemeinschaftshaft zu vollziehen, 
werden in der Lage sein, bei Prüfung des Materials, das ihnen 
zugewiesen wird, auf das allersorgfältigste zu individualisieren, 
und werden so namentlich einer Gefahr wirksam begegnen 
können, die sich in der Zellenstrafanstalt wiederholt bemerkbar 
gemacht hat, der Gefahr der Psychosen, die herbei- 
geführt wird durch die Einwirkung der Einzelhaft. 

9% 


2 NÖ o 


Ich sagte schon: es fragt sich, ob der nächste Winter 
der geeignete Zeitpunkt sein wird, um solche Gefängniskurse, 
wie sie von beiden Herren gewünscht werden, einzuführen. 
Ich möchte fast glauben, daß es richtiger wäre, wenn wir 
warten, bis die Neuordnung der Verhältnisse eingetreten ist, 
und bis auch die beiden Direktoren sich an diese Neuordnung 
gewöhnt und entsprechende Erfahrungen gesammelt haben. 
Dann kann aber ohne weiteres mit solchen Kursen begonnen 
werden, und bis dahin wird auch hoffentlich schon bei der 
Hochschule eine Anregung Erfolg gehabt haben, die dahin geht, 
die Gefängniswissenschaft in irgend einer Form in 
den Studienplan mit einzufügen. Ob es soweit kommen 
wird, daß die Gefängniswissenschaft als ein Examensgegenstand 
bezeichnet wird, das möchte ich noch bezweifeln. Die Herren 
Studenten müssen bereits so außerordentlich Vieles zum Examen 
sich einprägen, daß jede Erweiterung des Gebietes jedenfalls 
mit einer gewissen Skepsis wird betrachtet werden müssen. 
Es kommt auch dabei in Betracht, daß ja auch der studierende 
Jurist nicht immer die Zukunft des Beamten im Auge hat, 
insbesondere nicht des richterlichen oder des Anstaltsbeamten, 
sondern ein großer Prozentsatz von Studierenden wird dem- 
nächst in die Praxis übertreten, als Rechtsanwälte, Bank- oder 
Eisenbahnbeamte, Regierungsbeamte usw. Für die Rechtsan- 
wälte hat es gewiß ein großes Interesse, den Strafvollzug 
kennen zu lernen, aber für Verwaltungsbeamte, für Herren, 
die später im Bankwesen arbeiten, wird die Prüfung in der 
Gefängniswissenschaft nutzlos sein; sie wird nichts schaden, 
aber durch die Zeit, die darauf verwendet werden muß, ihr 
Studium doch entsprechend belasten. 


Nun, das sind Fragen, über die sich die Fakultät schlüssig 
machen muß und die zunächst sie interessieren. Im großen 
ganzen begrüße ıch die Einrichtung solcher Gefängniskurse 
mit Freude, und die Erfolge, die in anderen Bundesstaaten da- 
mit erzielt worden sind, lassen hoffen, daß auch bei uns, wenn 
die Kurse entsprechend eingerichtet werden, und wenn uns von 
der Regierung mit dem nötigen Nachdruck dabei zur Seite 
getreten wird, sie auch eine ähnliche Belebung erfahren werden, 


=a O 


wie das ın anderen Bundesstaaten tatsächlich bereits der 
Fall ist. 


Das sind die Bemerkungen, die ich zunächst einmal machen 
wollte. Ich eröffne nun die Diskussion. 


' Direktor Clement: Zu der Frage, ob die zweimonatigen 
Kurse beizubehalten wären neben dem allgemeinen Kursus, 
der von der Vereinigung angestrebt wird, möchte ich folgendes 
bemerken. 


Ich glaube, daß die Frage zu bejahen ist; ich halte es für 
notwendig, daß die zweimonatigen Kurse beibehalten werden. 
Aber ich glaube, die dazu berufenen Organe werden vorsichtig 
sein müssen bei der Auswahl der Leute, die an den zwei- 
monatigen Kursen gegen Entgelt teilnehmen sollen. Man wird 
von vornherein prüfen müssen: hat es Zweck, die Leute in 
dieser intensiven Weise ausbilden zu lassen? Sind die Leute 
ihrer Persönlichkeit nach veranlagt, demnächst einen Straf- 
anstaltsdirektor zu vertreten oder zu ersetzen, haben sie 
hinreichenden Blick für das praktische Leben, um das später 
tun zu können? Wenn man so vorgeht, so wird die Zahl 
derjenigen Herren, die einen zweimonatigen Kursus absol- 
vieren, nicht allzugroß sein; die Kosten werden nicht zu groß 
sen, und der Gewinn wird der gleiche . bleiben, während 
andererseits gerade die allgemeinen Kurse, die die Vereinigung 
im Auge hat, der Rechtsprechung zu gute kommen sollen, und 
den Vorstehern der kleinen Gefängnisse, namentlich den Amts- 
richtern und Oberamtsrichtern, die den Strafvollzug in den 
Haftlokalen zu leiten haben. 


Vorsitzender: Ich glaube wohl, daß man sich damit 
einverstanden erklären kann. Ich möchte nur nochmals be- 
tonen, daß bis jetzt nur überhaupt ein einziger Herr da war, 
der von diesen Kursen Gebrauch gemacht hat. Es ist das sehr 
bedauernswert. Wir haben selbstverständlich schon bei der 
Anmeldung darauf Rücksicht genommen, nur solche Persön- 
lichkeiten zuzulassen, von denen wir nach Maßgabe ihrer 
ganzen Antecedenzien annehmen konnten, daß sie für den 
Strafvollzug die entsprechende Befähigung besitzen. Ich kann 


— 29 —_ 


auch sagen, daß manchmal eifrige junge Assessoren zu mir 
auf das Bureau gekommen sind, und fragten, wie es mit den 
Kursen stehe, ob man zugelassen werden könnte, und daß 
Einzelnen, die übrigens nur oberflächliches Interesse gezeigt 
hatten, von vornherein abgewinkt wurde, weil ich sie für 
durchaus ungeeignet hielt. Also ich gebe zu, der Hinterge- 
danke, von dem ich vorhin sprach, hat allerdings in Bezug 
auf die Auswahl der Persönlichkeiten eine gewisse Rolle ge- 
spielt; aber bis jetzt war von einer Auswahl eigentlich gar 
nicht die Rede, weil nur ein einziger mit der ernsten Absicht, 
den Kursus mitzumachen, sich gemeldet hatte. 

Was die innere Einrichtung des Kursus anbelangt, so 
wird das Sache der Praxis sein. Es ist sehr schwer, vorerst 
schon eine Art Programm für einen derartigen Kursus zu ent- 
werfen, das muß der betreffende Strafanstaltsdirektor. der den 
Kursus leitet, zunächst am grünen Tisch mit sich selber aus- 
machen, muß ganz genau überlegen, in welcher Weise er die 
Zeit ausfüllt, muß auch namentlich diejenigen Persönlichkeiten 
zu interessieren suchen, die bei den Vorträgen, die dort ge- 
halten werden müssen, sich beteiligen. Vorträge müssen, ja 
gehalten werden, wenn auch nicht in dem großen Umfange, 
wie in solchen Staaten, wo hauptsächlich Amtsrichter, Staats- 
anwälte usw. teilnehmen, wo eine Universitätsvorbereitung 
noch gar nicht stattgefunden hat. Vorträge müssen gehalten 
werden, nicht nur von dem Direktor, von dem Geistlichen, 
von dem Arzt; das sind alles Dinge der näheren Ausarbeitung, 
die wir in unserem Kreise kaum entscheiden können, bei denen 
natürlich auch die Regierung ein gewichtiges Wort mitzureden 
hat. Denn darüber kann kein Zweifel bestehen, ohne eine 
sehr nachhaltige Unterstützung der Regierung, und zwar finan- 
zielle Unterstützung, können wir den Gedanken überhaupt 
nicht in die Tat umsetzen; das ist undenkbar. Ich nehme an, ein 
Amtsrichter möchte an einem zwölftägigen Kursus teilnehmen; 
er muß vertreten werden. Geschieht das während der Gerichts- 
ferien, so wird die Frage keine Schwierigkeiten machen; ge- 
schieht es aber außerhalb der Gerichtsferien, so kann die 
Frage erwachsen, ob ein Vertreter eingestellt werden mub, 
und ebenso ist es bei Amtsanwälten, Staatsanwälten usw. 


— 923 — 


Auch wird die Zahl derjenigen, die bereit sind, hierher 
zu gehen, ohne daß eine Vergütung geleistet wird, nicht zu 
groß sein. Es kann sein, daß ich in dieser Beziehung schwärzer 
sehe, als sich durch die Tatsachen rechtfertigen wird; aber zu- 
nächst wird man diese Möglichkeit zweifellos mit in Betracht 
ziehen müssen. Wenn auch das Großherzogtum klein ist, so 
gibt es doch bei uns Entfernungen, die mit erheblichen Reise- 
kosten verbunden sind, die nieht jeder gern trägt. Ich nehme 
an, es will ein Amtsrichter in Wöllstein an dem Kursus in 
Butzbach teilnehmen, so hat der eine recht weite Reise zu 
machen. Das sind Dinge der näheren Ausarbeitung, die wir 
noch überlegen müssen. Aber der Grundgedanke, der heute 
zum Ausdruck gebracht worden ist, berührt ungemein sym- 
pathisch, und ich glaube, wir sollten uns festlegen auf die 
Thesen, die von Herrn Professor Mittermaier aufgestellt 
worden sind, vielleicht mit der einzigen Abschwächung, daß 
ein gewisser Spielraum gelassen wird, indem man sagt: zehn 
bis vierzehn Tage. 


Was den Ausschluß der Referendare betrifft, so möchte 
ich mich fast dafür aussprechen. Die drei Jahre der Refe- 
rendarzeit sind so ausgefüllt durch die verschiedenen Akzesse, 
wie man es früher genannt hat, weiter bei den Militärtaug- 
lichen durch militärische Übungen, die fortwährend die Zeit 
verkürzen, daß ich es nicht für zweckmäßig halte, Referendare 
auch zu diesen Kursen heranzuziehen, namentlich wenn man 
bedenkt, daß diese Herren zunächst alles aufwenden müssen, 
um die eigentliche juristisch-technische Praxis zu bewältigen. 
Ich meine, es wäre richtiger, wenn wir als Vorbedingung für 
die Teilnehmer an den Kursen die Absolvierung der Staats- 
prüfung ansetzen, dann natürlich auch weitergehen und nicht 
bloß Assessoren, sondern auch angestellte Richter und Staats- 
anwälte zu den Kursen einladen. 


Oberstaatsanwalt Theobald: Ich möchte mich dem Vor- 
schlag des Herrn Direktor Clement anschließen, daß durch 
die geplante Einrichtung von vierzehntägigen, für weitere 
Kreise des Juristenstandes bestimmten Kursen die bestehende 
Einrichtung, wonach Gerichtsassessoren gegen Gewährung einer 


Vergütung, Kurse von zweimonatiger Dauer in der Anstalt 
durchmachen, nicht beseitigt wird. Die Beibehaltung eines 
solchen Kursus ist schon um deswillen notwendig, weil die 
kurze Zeit von zwölf bis vierzehn Tagen zur Vorbereitung für 
das Amt eines Gefängnisbeamten zweifellos viel zu kurz ist. 
Wer selbst mit dem Gefängniswesen zu tun hat, der weiß, auf 
wie zahlreiche Dinge es da ankommt, die man nicht im Hand- 
umdrehen lernen kann, daß vielmehr eine Tätigkeit von Monaten, 
ich möchte fast sagen von Jahren notwendig ist, um alles, 
worauf es ankommt, richtig erfassen zu lernen. Jedem Ge- 
fängnisbeamten kommt es fast täglich vor, daß er Dinge sieht, 
die nicht in Ordnung sind, die er früher nicht beachtete, auf 
die er aus Anlaß eines Einzelfalles aufmerksam wird, und die 
nun den Gegenstand seines Nachdenkens bilden. Ich glaube 
also, daß schon aus diesem Grunde die sehr wohltätige be- 
stehende Einrichtung nicht aufgehoben werden sollte. 

Das Wort hatte ich eigentlich ergriffen, um zum Ausdruck 
zu bringen, daß meiner Ansicht nach das harte Urteil, das 
von zwei Vorrednern über die Interesselosigkeit der jüngeren 
Juristen in Bezug auf Gefängniswesen ausgesprochen worden 
ist, doch in diesem Maße wohl nicht begründet ist. Es ist 
von dem Herrn Generalstaatsanwalt in seiner letzten Ausfüh- 
rung die zuerst aufgestellte Behauptung, daß nur ein einziger 
sich bereit erklärt habe, einen Kursus durchzumachen, bereits 
eingeschränkt worden dahin, daß eine Reihe anderer sich ge- 
meldet haben, die aber zurückgewiesen wurden. Ich weiß das 
wenigstens von einem Herrn, den ich selber veranlaßt habe, 
sich zu melden, der das auch getan hat, der die ernstliche 
Absicht hatte, sich auszubilden, den Kursus durchzumachen, 
der aber nicht angenommen wurde. Ich glaube, gerade der 
Umstand, daß nicht alle zugelassen werden, veranlaßt einen 
- oder den anderen, davon abzusehen, weil er sich einer Zurück- 
weisung nicht aussetzen will. Ich erkenne vollständig als 
berechtigt an, daß eine Auswahl getroffen wird, aber der Um- 
stand trägt doch dazu bei, daß die Zalıl der sich Meldenden 
geringer sein wird. Es kommt vielleicht auch dazu, daß die 
Einrichtung noch nicht genügend bekannt ist, und deshalb sich 
manche nicht melden, die, wenn sie aufmerksam gemacht 


ie: O5 s 


würden, das tun würden. Ich möchte deshalb den Herren 
Kollegen empfehlen, daß sie Assessoren, die frei sind, keine 
Verwendung fanden, auf diese Einrichtung hinweisen, nament- 
lich solche, von denen man annimmt, daß sie sich eignen, um 
unter Umständen als Vertreter eines Gefängnisbeamten zu 
fungieren. 

Auch was Herr Direktor Clement in Bezug auf die Inter- 
esselosigkeit der Studierenden gesagt hat, möchte ich nicht 
vollständig unterschreiben. Es wäre doch möglich, daß dieses 
eigentümliche Verhalten nicht ausschließlich auf Interesselosig- 
keit zurückzuführen wäre, sondern auch auf eine gewisse Be- 
scheidenheit und Rücksichtnahme auf die Beamten des Gefäng- 
nisses; daß so ein junger Mann denkt: wenn ich da stunden- 
lang in der Anstalt herumgehe, so behellige und belästige ich 
die Beamten, das ist mir peinlich. Ich kann versichern, daß 
ich oft in ähnlicher Lage gewesen bin. Ich habe oft Gelegen- 
heit, dienstlich in eine Klinik für psychische und nervöse Krank- 
heiten zu kommen; die Herren sind sehr liebenswürdig, er- 
klären sich bereit, mich herumzuführen, ich habe von jeher 
für die Einrichtungen und die Personen, die dort untergebracht 
sind, großes Interesse, und nehme diese bereitwillige Aufforde- 
rung, die einzelnen Kranken zu besuchen, mit großer Freude 
dankbar an. Aber es kommt mir doch oft der Gedanke: darfst 
du die Güte der Herren noch länger in Anspruch nehmen? 
sie haben ihre Arbeiten zu tun, und da denke ich, ich darf 
meine Anwesenheit nicht allzulange ausdehnen, und entferne 
mich manchmal, wenn ich auch Interesse daran hätte, einen 
oder den anderen, der dort untergebracht ist und verpflegt 
wird, genauer anzusehen, oder eine oder die andere Einrich- 
tung mir zeigen zu lassen. In viel höherem Maße mag das 
bei jüngeren Herren der Full sein. Ich habe die feste Über- 
zeugung, wenn bekannt gemacht würde: an dem ersten eines 
jeden Monats, vormittags neun bis zwölf Uhr, kann die Anstalt 
von jungen oder älteren Juristen, und überhaupt von Inter- 
essenten, die sich als solche legitimieren, besichtigt werden, 
so würden Besucher aus dem ganzen Lande in großer Zahl 
kommen und von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. Mir 
ist es’schon oft begegnet, daß ich gefragt worden bin: be- 


— 4% — 


suchen Sie die Anstalt? Kann ich mich vielleicht anschließen, 
oder wie kann man das machen? Man nimmt also an, die 
Anstalt wird nur ausnahmsweise zur Besichtigung geöffnet, 
und die Gelegenheit findet sich nicht, so unterbleibt es. Ich 
glaube, daß wir doch nicht zu hart über die Interesselosig- 
keit urteilen dürfen, und daß, wenn entsprechende Anregung 
undBekanntmachung erfolgen, man auch davon Gebrauch machen 
wird. 


Geheimrat Neidhart: Ich möchte darauf hinweisen, daß 
nicht nur Juristen, sondern auch Männer anderer Berufskreise 
ein Interesse an der Kenntnisnahme dieser Anstalten haben 
können; es gilt das insbesondere von den Ärzten. Wir haben 
zwar im Großherzogtum nur einen Arzt, der im Hauptberuf 
Gefängnisarzt ist, wir haben aber eine Reihe von Ärzten, sämt- 
liche Kreisärzte, die auch als Gefängnisärzte fungieren; auch 
Ärzte, die an psychiatrischen Anstalten tätig sind, würden wohl 
gern von den Einrichtungen im Gefängniswesen Kenntnis 
nehmen. Ich möchte also bitten, wenn die neue Einrichtung 
getroffen wird, daß es freigelassen werde, unter Umständen 
auch Ärzte daran teilnehmen zu lassen. 


Wenn gesagt wurde, daß die Kenntnis des Gefängniswesens 
keinen Gegenstand der Prüfung bilde, so möchte ich hinzu- 
fügen, daß es im Ärztestaatsexamen allerdings einen Prüfungs- 
gegenstand bildet. Für das schriftliche Examen ist eine Reihe 
Fragen vorhanden, die sich auf das Gefängniswesen beziehen. 
Eine gewisse Kenntnis der Gefängniseinrichtungen wird bei 
den beamteten Ärzten vorausgesetzt. 


Vorsitzender: Ich glaube, wenn wir nunmehr zu einer 
Beschlußfassung übergehen wollen über die Thesen, die Herr 
Professor Mittermaier aufgestellt hat, so müssen wir zu- 
nächst uns schlüssig machen über die Vorfragen, ob unter den 
Interessenten, die an den Kursen eventuell teilnehmen sollen, 
die Referendare eingeschlossen werden oder nicht, und weiter 
die Erweiterung, die Herr Geheimrat Neidhart eben vorge- 
schlagen hat, daß nämlich auch Ärzte teilnehmen sollen. Nur 
. möchte ich Herrn Geheimrat Neidhart bitten, das Wort 
„Ärzte“ näher zu präzisieren. Meinen Sie alle diejenigen 


ER, 


Ärzte, die das Staatsexamen gemacht haben, oder nur ange- 
stellte Kreisärzte ? 


Geheimrat Neidhart: Alle Aspiranten für eine Tätigkeit 
im Staatsdienst. 


Vorsitzender: Also mit anderen Worten, solche, die 
das Staatsexamen gemacht haben, oder beamtete Ärzte. (Zu- 
stimmung.) 

Was die Bezahlung betrifft, so habe ich mir eigentlich ge- 
dacht, daß ein Ersatz der Reisekosten sicher gewährt werden 
könnte. Die Reisekosten sind allerdings in vielen Fällen, wenn 
es sich z. B. um eine Reise von Gießen nach Butzbach handelt, 
so minimal, daß mancher deshalb kaum einen Federstrich wird 
tun wollen. 

Es wird sich fragen, welche weitere Vergütung geleistet 
werden soll. Soll sie geleistet werden in Form eines normalen 
Tagegeldes? Das wird wohl schwerlich von der Regierung 
akzeptiert werden. Oder soll man eine bestimmte Summe fest- 
setzen. i 

Wenn man Ärzte zulassen will, so wird es wohl richtig 
sein, die Beteiligung auf beamtete Ärzte zu beschränken, nicht 
auch auf solche zu erstrecken, die das Physikatexamen ge- 
macht haben, aber noch nicht beamtete Ärzte sind. 


Geheimrat Neidhart: Wenn man beamtete Ärzte zu- 
zieht, so werden diese nach Analogie der Medizinalbeamten- 
kurse täglich 10 M. erhalten. 

Es sind das ja Interessen der verschiedenen Ministerien. 
Ein Ausweg wäre wohl der: man läßt zu sämtliche Ärzte, die 
entweder beamtete Ärzte sind, oder die Qualifikation für eine 
beamtete Arztstelle erworben haben. Diejenigen, die beamtete 
Ärzte sind, werden Vergütung erhalten; diejenigen, die nicht 
beamtete Ärzte sind, müssen freiwillig kommen. 


Vorsitzender: Ich glaube, daß dem Vorschlage des 
Herrn Geheimrat Neidhart zugestimmt werden kann. Es 
wird sich also nur noch fragen, ob man Referendare zuläßt 
oder nicht. 


— 28 — 


Herr Balser: Ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, daß 
in Mainz seither schon geschehen ist, was geschehen konnte, 
indem die Herren Referendare, soweit sie bei der Staats- 
anwaltschaft beschäftigt waren, in dem Gefängnisdienst einen 
achttägigen Kursus durchmachen mußten. Herr Oberstaats- 
anwalt Schmidt, jetzt Reichsgerichtsrat in Leipzig, hat großen 
Wert darauf gelegt, die Herren mit Arbeiten beauftragt, und 
es sind recht gute Arbeiten von ihnen geliefert worden. Viel- 
leicht könnte man den Ausweg finden, daß man nicht grund- 
sätzlich die Tätigkeit der Referendare ausschließt, aber immer- 
hin sie als Ausnahme betrachtet. Ich glaube auch aus den 
Thesen des Herrn Professor Mittermaier das herausgehört 
zu haben. 


Professor Mittermaier: Ich dachte das so, daß etwa in 
den drei Städten Mainz, Gießen und Darmstadt in diesem 
Winter vierzehntägig am Samstagabend Vortragskurse gehalten 
werden, von dem Herrn Öberstaatsanwalt und von anderen 
Juristen, die mit der Sache beschäftigt sind; ich kann das in 
Gießen das eine oder andere Mal auch tun, oder Herr Land- 
richter Privatdozent Dr. Friedrich wird sich der Sache unter- 
ziehen; dann auch von Ärzten, die an den Strafanstalten in 
Mainz, Gießen und Darmstadt tätig sind; daß in den einzelnen 
Provinzen die Herren, die sich für die Sache interessieren, alle 
vierzehn Tage einmal zusammenkommen, und auf diese Weise 
eine Vorbereitung erzielt wird, so lange wir auf der Universität 
noch nicht in der Lage sind, das zu tun. Wenn wir auch 
selbst an der Universität es tun, so können die Herren, die 
jetzt an der Universität hören, doch erst in fünf oder sechs 
Jahren in die Kurse kommen; die Herren, die jetzt schon mit- 
machen wollen, können davon noch keine Vorteile ziehen. 
Deswegen dachte ich, daß man zuerst einen Versuch in. dieser 
Weise einrichtete. Ich glaube, das sollte nicht zu schwierig 
sein; es wäre eine schöne Aufgabe für unsere Vereinigung, 
die damit auf eine neue Bahn gelenkt würde. 


Vorsitzender: Ich glaube doch, daß es praktisch 
nicht einfach ist. Wenn wir eine theoretische Vorbildung auf 
der Universität als wünschenswert bezeichnen, so müßten wir 


a 19 — 


eigentlich zu dem Schluß kommen, daß diese theoretische Vorbil- 
dung die Voraussetzung des demnächst sich anschließenden Kursus 
sein müßte; und ich glaube nicht, daß es leicht sein wird, eine 
solche theoretische Vorbildung in den drei Provinzialstädten 
derart einzurichten. Wenn Sie an Richter, Staatsanwälte usw. 
denken, so sind die nicht immer so leicht zu haben. Der 
Staatsanwalt sitzt ja am Platze, aber denken Sie an die Aınts- 
richter. Ich meine, man sollte den Wunsch aussprechen, daß 
eine theoretische Vorbildung in der Gefängniskunde demnächst 
auch auf der Universität eingeführt wird, sollte aber davon 
unabhängig die Kurse ins Auge fassen, die wir vorhin be- 
sprochen haben. 

Nach einigen auf die Redaktion der Thesen sich be- 
ziehenden Bemerkungen formeller. Natur wird folgende Reso- 
lution genehmigt: 


1. Die Einführung von Gefängnislehrkursen in Hessen ist 
dringend erwünscht, um die Juristen und zum Staatsdienst 
bestimmten Ärzte mit der Bedeutung der Strafe, dem Ver- 
brecher und dem Wesen des Verbrechens vertraut zu machen. 

2. Solche Kurse lassen sich ohne zu große Schwierig- 
keiten einführen, ihre Einrichtung bedarf aber der Unterstütz- 
ung und Mitwirkung des Großh. Ministeriums der Justiz. 


3. Erstrebenswert sind: 
a) Eine theoretische Vorbildung in der Gefängniskunde. 


b) Alljährliche 10—14 Tage währende praktische Kurse 
an den großen Strafanstalten Butzbach und Marien- 
schloß für höchstens 20 Teilnehmer aus den Kreisen 
der Richter, Assessoren, Staatsanwälte, Gerichts- 
assessoren, Rechtsanwälte, Referendare, beamteten 
Ärzte oder solchen, die das Staatsexamen abgelegt 
haben. | 

Die Versammlung beschließt, der Vorstand wolle Schritte 
tun, um die theoretische Vorbildung schon im Winter 1906/7, 
den ersten Gefängnislehrkursus im Laufe des Jahres 1907 ein- 
zurichten. ' 


III. Die Tätigkeit des 
medizinischen, im Besonderen des psychiatrischen 
Sachverständigen vor Gericht. 


1. Professor Dr. Mittermaier: 


M. H.! Wir haben Ihnen die Frage vorgelegt, und sie ist uns 
von anderer Seite nahe gelegt worden: „Wie soll der Sach- 
verständige, insbesondere der medizinische und ganz besonders 
der psychiatrische Sachverständige dem Richter gegenüber- 
stehen, nicht nur auf dem Gebiete der Strafjustiz, sondern 
auch im Zivil- und im Entmündigungsverfahren?“ 


Wenn wir uns diese Frage stellen, so scheint sie recht 
wenig zu enthalten, was für uns praktisch von akutem Inter- 
esse wäre! Aber einiges Nachdenken zeigt uns, daßj die 
Frage eine Reihe von überaus interessanten Punkten enthält. Ich 
will nur einen einzigen herausgreifen, um Ihnen zu zeigen, 
nach welcher Seite man diese Frage bei uns auch noch an- 
fassen könnte. Ich sage mir, daß in ihr eigentlich die ganze 
Frage nach der richterlichen Aufgabe, nach dem Zweck und 
nach der besten Einrichtung der richterlichen Tätigkeit ent- 
halten ist. Die Aufgabe des Richters besteht in der Fest- 
stellung eines Tatbestandes und der Anwendung eines Ge- 
setzes auf denselben. In der Kenntnis des Gesetzes ist nun 
heute der Richter auf sich selbst angewiesen. Und auch die 
Verhältnisse des Tatbestandes, dessen technische Beziehungen. 
oder die physiologischen, psychologischen, psychiatrischen Ver- 
hältnisse einer Person — des Angeklagten oder zu Ent- 
mündigenden — muß der Richter selbst verstehen. Wer 


=’ 5 ll 


einen Vorgang, ein Verhältnis des Lebens rechtlich beurteilen 
will, der muß seine Bedeutung verstehen. Daher kann nie- 
mals der Sachverständige derart an die Stelle des Richters 
treten, daß jener bindend über die technischen Verhältnisse 
eines Vorgangs, die psychiatrische Seite des Falles urteilte und 
der Richter ohne Rücksicht auf sein eigenes Verständnis diesem 
Urteil sich unterwerfen müßte. Gewiß wäre eine solche Tei- 
lung der Aufgaben manchem erwünscht, aber das Ergebnis 
wäre vermutlich ein klägliches: während sich doch heute jeder 
Richter bemüht, die zu beurteilenden Verhältnisse selbst zu be- 
greifen, würde er bei jener Einrichtung reiner Formalist, eine 
reine Rechenmaschine werden. 

Zum Zweck seiner Beurteilung muß aber auch der 
Richter den Zweck, die Bedeutung des Gesetzes kennen: er 
muß ganz allgemein die Verhältnisse verstehen, auf die das 
Gesetz Anwendung finden soll, um einen sicheren Standpunkt 
in der rechtlichen Bewertung eines Falles zu haben. So muß 
er die ökonomische Bedeutung des Eigentums und Besitzes, 
den Wert der Sachen kennen, um den Diebstahl richtig 
würdigen zu können; der Wucher ist nur unter Kenntnis der 
Lebensverhältnisse der Opfer, der Bankerott nur unter genauem 
Verständnis der Handelsverhältnisse richtig zu begreifen. Eben- 
so kann man den Zweck der Strafen nur begreifen, wenn man 
die Psychologie der Täter, die Bedeutung innerer und äußerer 
Faktoren für das Zustandekommen von Handlungen versteht. 
Dasselbe gilt für die Bedeutung der Entmündigung Trunk- 
süchtiger oder die Zwangserziehung. Es ist von der größten 
Wichtigkeit, daß die Lehre des Rechts sich mit der Dar- 
stellung der wirtschaftlichen, technischen, psychologischen Be- 
deutung der Lebensverhältnisse befasse. 

Kein Richter sollte an die Beurteilung eines Falles heran- 
gehen, den er nicht wenigstens im allgemeinen lin seiner sozia- 
len Bedeutung; würdigen kann. Jeder sollte ebenso, wie der 
Gesetzgeber, von der Bedeutung der Trunksucht, der Bedeutung 
der Geisteskrankheit oder der einer Verwahrlosung der Jugend 
unterrichtet sein, bevor er sich auf den Richterstuhl setzt. 
Insofern muß er also von vornherein sachverständigen Unter- 
richt genossen haben, und ein Ideal wäre es, wenn er auf allen 


— 3829 — 


Gebieten menschlichen Wissens sachverständig unterrichtet wäre. 
Daß wir das aber nicht sein können, daß zu dem der Richter ein 
Menschenalter studieren müßte und doch nicht voll gerüstet 
wäre, daß selbst Tage von 48 Stunden nicht ausreichten, das 
wissen wir alle! 

So tritt jeder Richter nur mit einer bescheidenen Allge- 
meinkenntnis über die zu beurteilenden Vorgänge in den Ge- 
richtssaal. Um aber jeden Fall so genau zu verstehen, als die 
Gesetzesanwendung das erheischt, muß er sich weiter unter- 
richten. Dazu hilft ihm der Sachverständige, den ich nach 
dieser Erwägung am ehesten einen Lehrer des Richters in 
technischen Fragen nennen möchte. 

Wenn nun der Richter sich belehren läßt, wird er unter 
Umständen seine Auffassung von der Bedeutung des Gesetzes 
ändern müssen. Kommt er nun selbst völlig unvorbereitet, 
ohne jede Grundlage für die Belehrung des Sachverständigen 
zur Verhandlung, so wird er vielleicht der Belehrung gar 
nicht gewachsen sein und keinen Nutzen aus ihr ziehen können, 
oder er wird durch die ihn überraschende neue Kenntnis in 
seiner Auffassung über die Bedeutung des Gesetzes erschüttert 
werden und nun nicht mehr mit Sicherheit einen Spruch 
fällen, den er voll verantworten kann. Hat umgekehrt der 
Richter sich eine starre Auffassung gebildet, dann wird ihm 
kein Sachverständiger helfen können. 

Ich möchte danach dem Sachverständigen wohl die 
Stellung des Richtergehilfen zuweisen, die ihm vielfach 
gegeben wird, aber doch dabei bemerken, daß wir gerade mit 
dieser Auffassung vorsichtig sein müssen. Denn sie führt 
zu der Meinung, daß der Sachverständige mithilft zu richten, 
d. h. verantwortlich den Tatbestand zu beurteilen. Das aber 
tut er eben nicht! Er ist nicht mit dem Schöffen, Ge- 
schworenen oder Handelsrichter auf eine Stufe zu stellen. 
Er soll nur dem Richter die Möglichkeit bieten, daß er den 
Sachverhalt richtig verstehen lerne. Zu dem Zweck legt er 
dem Richter einen Erfahrungssatz aus einem besonderen Ge- 
biet dar, wie das Fr. Stein in seinem vortrefflichen Buch 
über „Das private Wissen des Richters‘ (Leipzig 1893) so gut 
ausführt. 


— 33 — 


Aus dieser Auffassung ergeben sich eine Reihe von Folge- 
rungen für die praktische Seite der Frage: 


Einmal soll der Richter den Sachverständigen als einen 
Lehrer ansehen, dem er vertraut; er soll suchen, selbst sich 
unterrichten, sich Verständnis verschaffen zu lassen. Er muß 
deshalb sich von dem Sachverständigen nicht nur einen Lehr- 
satz sagen lassen, dem er glaubt, sondern zum Verständnis ge- 
hört Überzeugung über die Grundlage des Wissens. Der 
Sachverständige würde seiner Aufgabe nicht gerecht, wenn er. 
nicht diese Elemente seiner Erfahrungssätze mitteilen wollte. 
Danach kann auch der Satz unseres Prozeßrechts, daß der 
Richter die Tätigkeit des Sachverständigen „leiten“ sollte, nur 
heißen, daß er ihm mitteile, worüber er der Belehrung bedürfe. 
Aber auch für ganz falsch halte ich die beliebte Praxis, vom 
Sachverständigen eine bestimmte Meinung über den juristisch 
wichtigen Vorgang selbst, z. B. ob der Angeklagte „zurechnungs- 
fähig“ sei, zu verlangen. Das ist eine rein richterliche Auf- 
gabe. 


Es ist ferner für mich unzweifelhaft, daß nie ein Richter 
gezwungen werden kann, Sachverständige zuzuziehen, außer 
durch die Vorschrift des $ 244 Strafprozeßordnung oder durch 
Vorschriften des Entmündigungsverfahrens ($ 654 Z.P.O.) und 
ähnliches. Wenn Löwe-Hellweg im Kommentar zur Straf-. 
prozeßordnung $ 73 Note 2 meinen, daß schon wegen der 
Möglichkeit der Nachprüfung des Urteils Sachverständige wohl 
zugezogen werden müßten, so ist das irrig und nach der. 
ganzen Stellung des Gutachtens in unserem Prozeßrecht unbe- 
greiflich. Denn da das Gutachten vom Richter frei verwertet 
wird, ist es ja niemals der Gegenstand oder der Grund einer 
Beschwerde. Die Löwesche Auffassung habe ich auch nirgend-. 
wo sonst gefunden. Der Richter wird ja nur vom Gutachter 
darüber belehrt, wie er einen schwachen Teil des Tatbestandes 
betrachten solle, und es ist ganz gleichgültig, woher er diese 
Fähigkeit nimmt; der Richter kann ja auch niemals zur Er- 
langung. der rechten Fähigkeiten genötigt werden. — Es wärd‘ 
auch praktisch verkehrt, den Richter zu dieser Zuziehung zu 
nötigen; er würde dann sich viel weniger bemühen, selbst đië 

3 


— 34 — 


entsprechenden Kenntnisse sich anzueignen. Und umgekehrt hat 
nur die freigesuchte Belehrung vollen Wert. 

Nicht so’ ganz einfach ist die Beantwortung der Frage, ob 
und wie der Richter die Qualität der Sachverständigen prüfen 
solle. Von Bedeutung kann das ja nur gegenüber den von den 
Parteien beigebrachten Sachverständigen sein. In dem bekannten 
Plötzensee-Prozeß in Berlin 1905 erkundigte sich der Gerichts- 
hof in öffentlicher Sitzung bei seinem Amtsarzt über die Be- 
fähigung eines von der Verteidigung geladenen Sachverständigen. 
Nun wird man es dem Richter nicht wohl absolut versagen 
können, daß er solche Erkundigungen einziehe, denn er muß 
wissen, von wem er seine Belehrung empfängt. Aber ganz 
abgesehen von der praktischen Bedeutungslosigkeit einer solchen 
Erkundigung — der Richter ist ja nie gezwungen, einem Sach- 
verständigen zu glauben — und von der Taktfrage, kann man 
doch auch die Erkundigung über die Befähigung des einen 
Sachverständigen bei einem andern als dem Wesen und der 
Wirkungsart des Gutachtens widersprechend bezeichnen. 
Denn da dieses nie den Richter bindet, so kann und soll es 
nur durch seine sachliche, innere Bedeutung und Überzeu- 
gungskraft wirken. Jene Erkundigung aber hindert das direkt 
und stellt darüber die persönliche und amtliche Autorität, die 
der freien verstandesmäßigen Belehrung widerspricht. Nur 
ein sachlicher Meinungsstreit mehrerer Sachkundiger kann für 
berechtigt erklärt werden. 

Sehr einleuchtend ist nach meiner Auffassung vom Sach- 
verständigen der Rat, den Hans Groß in seinem berühmten 
Handbuch für Untersuchungsrichter gibt, den Gutachter so 
früh als möglich zuzuziehen, unter Umständen selbst bevor 
man wisse, ob und wozu man ihn brauche Denn es ist klar, 
daß von vornherein Fehler vermieden werden, wenn der 
Richter mit möglichster Sachkunde dem Tatbestand gegenüber- 
tritt. 

Umgekehrt dürfen wir auch für den Sachverständigen ver- 
langen, daß er eine gewisse Gesetzeskenntnis habe, denn wenn 
er dem Richter Unterweisung dahin geben soll, wie dieser 
rechtlich bedeutungsvolle Vorgänge ansieht und würdigt, so 
muß er doch wissen, welche Bedeutung seine Wissenschaft für 


=. 6: su 


das Recht hat, z. B. muß er über den Sinn der Bestimmungen 
über Zurechnungsfähigkeit oder über Entmündigung völlig im 
Klaren sein. Wieviele Gutachter sind aber derart unter- 
richtet? 


Endlich ergibt sich aus meiner Grundauffassung auch klar, 
daß der Sachverständige niemals Zeuge ist, nie mit diesem auf 
einer Stufe steht; denn wenn auch der Zeuge ganz gewiß 
„Schlüsse zieht“, so teilt doch nur der Sachverständige die 
Obersätze der Schlüsse mit. Ja der Sachverständige braucht 
gar keine Schlüsse selbst zu ziehen, er braucht auch nicht 
einmal das Objekt zu kennen, für dessen Beurteilung seine 
Tätigkeit, seine Belehrung gewünscht wird. Deswegen ist es 
auch falsch, daß der Zeugeneid genügen soll, um ein Gut- 
achten zu decken. Deswegen sind auch die heute teilweis 
vertretene Meinung und der Vorschlag der Reichs-Justiz- 
kommission zur Reform des Strafprozesses zu $ 79 falsch, daß 
der Sachverständige auch erst nach seinem Gutachten beeidigt 
werden kann; beim Zeugen kann man den Nacheid begreifen; 
beim Gutachter ist er verkehrt, da der Richter doch ganz un- 
möglich etwa mit der Erklärung, er traue diesem Gutachten 
nicht, er verstehe es nicht, er könne es nicht verwerten,': es 
sei belanglos, den Sachverständigen unbeeidigt lassen kann! 


‚So wollte ich nun, m. H., zeigen, wie ich aus einer theore- 
tischen Betrachtung über das Wesen des Sachverständigen zur 
Betrachtung einer Reihe praktischer Fragen komme, über die 
man sehr wohl sich noch klar machen, noch reden kann, über 
die gerade zwischen Juristen und Gutachtern oft Meinungs- 
verschiedenheiten bestehen, deren Besprechung daher sehr wohl. 
zu einer leichteren Lösung ihrer gemeinschaftlichen. Aufgabe- 
führen kann. 


2. Oberstaatsanwalt Theobald-Giessen. 


M. H.! Bei der vorgerückten Zeit will ich sofort in medias res 
gehen. Siehaben schon aus dem Wortlaut der Tagesordnung ge- 
sehen, daß es hier nicht unsere Aufgabe sein soll, die Lehre von 
dem Sachverständigenbeweis systematisch und erschöpfend vor- 
zuführen; dazu ist die Zeit nicht ausreichend; das würde auch 

3% 


z B6- 


kaum den Zwecken dienen, für die unsere Vereinigung bestimmt 
ist. Wir wollen vielmehr einzelne praktisch wichtige Fragen, 
Fragen, die den Juristen wie den Mediziner interessieren, hier 
herausgreifen und zum (Gegenstand der Diskussion machen, 
und unsere Ausführungen sollen die Einleitung dazu sein. Ich 
kann auf diese Fragen sofort eingehen, umsomehr als Herr 
Professor Mittermaier von dem Standpunkt der Theorie aus: 
die maßgebenden Gesichtspunkte, die in der Frage des Sach- 
verständigenbeweises zu berücksichtigen sind, vorgetragen hat. 

Nach der von uns vorgenommenen Verteilung des Stoffes, 
will ich zunächst über die Fragen sprechen, in welchen Fällen 
Sachverständige vor Gericht zuzuziehen sind, und wem die 
Auswahl der Sachverständigen zusteht. 

Was die erste Frage betrifft, so enthält das Gesetz da- 
rüber, in welchen Fällen Sachverständige zuzuziehen 
sind, keine grundsätzliche Bestimmung. Nur in einigen Fällen 
ist in der Zivilprozeßordnung wie in der StrafprozeBordnung 
die Zuziehung von Sachverständigen ausdrücklich vorge- 
schrieben. In der Zivilprozeßordnung geschieht es in dem Ab- 
schnitte von dem Verfahren in Entmündigungssachen, § 654/55. 
Da heißt es, daß der zu Entmündigende persönlich unter Zu- 
ziehung eines oder mehrerer Sachverständigen zu vernehmen 
ist und daß die Entmündigung nicht ausgesprochen werden 
darf, bevor das Gericht einen oder mehrere Sachverständige: 
über den Geisteszustand des zu Entmündigenden gehört hat 
Dieselbe Bestimmung gilt auch für das, die Anfechtung eines 
Entmündigungsbeschlusses betreffende Verfahren vor dem 
Prozeßgericht (Landgericht). Ausnahmsweise kann jedoch in 
diesem Falle die Vernehmung eines Sachverständigen unter- 
bleiben, wenn das vor dem Amtsgericht abgegebene Gutächten 
für genügend erachtet wird. ($ 671 Abs. 2, C.P.O.) 


Die Strafprozeßordnung bestimmt in den $$ 87/93, daß in 
gewissen Fällen Sachverständige zugezogen werden müssen. 
Es sind dies die Fälle der richterlichen Leichenschau, der 
Leichenöffnung, des Giftmordes, der Münzverbrechen, und Fälle, 
in denen es sich um die Ermittlung der Echtheit oder Unechtheit 
eines Schriftstückes durch Schriftenvergleichung handelt. Münz- 
verbrechen und Schriftenvergleichung können wir übergehen, da 


— 397 — 


dabei die Tätigkeit ärztlicher Sachverständiger, die uns in 
erster Linie interessiert, nicht in Betracht kommt. 

Hinsichtlich der Leichenschau und der Leichenöffnung be- 
stimmt das Gesetz: die Leichenschau wird unter Zuziehung 
eines Arztes vorgenommen; die Zuziehung kann indes unter- 
bleiben, wenn sie nach dem Ermessen des Richters entbehrlich 
ist. Die Leichenöffnung soll im Beisein des Richters von zwei 
Ärzten, unter welchen sich ein Gerichtsarzt befinden muß, vor- 
genommen werden. Demjenigen Arzt, welcher den Ver- 
storbenen in der dem Tode unmittelbar vorausgegangenen 
Krankheit behandelt bat, ist die Leichenöffnung nicht zu über- 
tragen. Derselbe kann jedoch aufgefordert werden, der Leichen- 
öffnung anzuwohnen, um aus der Krankheitsgeschichte Auf- 
schlüsse zu geben. 

Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so ist nach § 91 
St.P.O. die Untersuchung der in der Leiche oder sonst ge- 
fundenen, verdächtigen Stoffe durch einen Chemiker oder durch 
eine für solche Untersuchungen bestehende Fachbehörde vor- 
zunehmen. | 

Diese Bestimmungen geben in einem Punkte Anlaß zu 
näheren Erörterungen: Bei der Leichenschau kann, wie be- 
merkt, die Zuziehung des Arztes unterbleiben, wenn sie nach 
dem Ermessen des Richters entbehrlich ist. Das ist der 
Grundsatz der freien Beweiswürdigung, von dem im allge- 
meinen die Strafprozeßordnung beherrscht wird. Von dieser 
Bestimmung, daß die Zuziehung unterbleiben kann, wird in 
sehr vielen Fällen von den Gerichten Gebrauch gemacht, 
namentlich in Fällen des sogenannten tragischen Ablebens. 
Hiervon handelt § 157 der Strafprozeßordnung, welcher lautet: 

„Sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß jemand eines 
nicht natürlichen Todes gestorben ist, oder wird der Leichnam 
eines Unbekannten gefunden, so sind die Polizei- und Gemeindebe- 
hörden zur sofortigen Anzeige an die Staatsanwaltschaft oder 
an den Amtsrichter verpflichtet. Die Beerdigung darf nur auf 
Grund einer schriftlichen Genehmigung der Staatsanwaltschaft 
oder des Amtsrichters erfolgen.“ 

In der Praxis wird in solchen Fällen in der Regel wie 
folgt verfahren: Auf Anzeige der Ortspolizeibehörde schreitet 


— 388 — 


das Amtsgericht so bald wie möglich ein, begibt sich an Ort 
und Stelle und nimmt die Leichenschau vor. Dabei geschieht 
es nun häufig, daß das Gericht von der Bestimmung des Ab- 
satz 2 des § 87 Gebrauch macht und einen Arzt nicht zuzieht. 
Ich halte diese Praxis für verfehlt, und weil die Sache von 
groBer Wichtigkeit ist, bringe ich sie hier zur Sprache. 
Ich halte diese Praxis um deswillen für verfeblt, weil der 
Richter, wenn er auch über eine gewisse Uebung und Er- 
fahrung verfügt, in der Regel nicht in der Lage ist, alle die 
Gesichtspunkte zu berücksichtigen, auf die es hierbei ankommt, 
z. B. bei der Feststellung, ob jemand sich selbst das Leben 
genommen, oder infolge gewaltsamer Einwirkung eines An- 
deren gestorben ist. Es wird in solchen Fällen oft gesagt: „die 
Sache ist so einfach, und ich besitze so viel Erfahrung, daß 
ich das selbst beurteilen kann“. Es läßt sich nun zwar nicht 
verkennen, daß Fälle vorkommen, in denen die Zuziehung eines 
Sachverständigen keinen Zweck hat; wenn z. B. der Tod ein- 
getreten ist in Gegenwart einer Reihe ganz zuverlässiger, glaub- 
würdiger Zeugen. Es hat sich z. B. einer ertränkt in Gegen- 
wart von einem halben Dutzend Personen, die über den Fall 
Auskunft geben und sagen: Der Mann ist ins Wasser ge- 
sprungen, untergegangen und alsbald tot herausgezogen worden. 
Oder wenn jemand von einer Scheunentenne herunterfällt 
und einen Schädelbruch erleidet, in dessen Folge alsbald der 
Tod eintritt. Wenn das von einer Reihe von Zeugen bekundet 
wird, kann man von der Zuziehung eines Arztes absehen. Die 
große Mehrzahl der Fälle ist aber anders gelagert. 
Da wird die Leiche Stunden, Tage oder Wochen nach einge- 
tretenem Tode aufgefunden, und nun ist die Frage zu beant- 
worten: Hat der Verstorbene sich selbst das Leben genommen, 
oder liegt gewaltsamer Tod vor? Ich glaube, daß in diesen 
Fällen fast ausnahmslos die Zuziehung eines sachverständigen 
Arztes notwendig ist. Namentlich ist sie notwendig in den be- 
sonders schwierigen Fällen, in denen der Tod durch Erhängen 
eingetreten ist. Viele von uns wissen aus eigener Erfahrung, 
wie schwierig es ist, in solchen Fällen festzustellen, ob Selbst- 
mord vorliegt, oder das Verbrechen eines Dritten und es 
sollte deshalb auch der erfahrene Richter sich nicht selbst die 


Fähigkeit zutrauen, die Frage von sich aus zu ‘entscheiden, 
sondern er sollte einen Sachverständigen zuziehen. Es ist 
schon vorgekommen, daß solche Leichen beerdigt worden sind, 
und nach einiger Zeit hat sich ein Verdacht gegen bestimmte 
Personen ergeben, die Leiche ist exhumiert worden, und die 
eingehende Untersuchung hat tatsächlich das Vorhandensein eines 
Verbrechens nachgewiesen. 

Abgesehen von solchen Fällen kommt es häufig vor, daß 
nachträglich Gerüchte aufkommen in der Richtung, daß die 
Sache nicht in Ordnung sei, daß eine bestimmte Person ver- 
dächtigt wird, gewaltsam eingewirkt und dadurch den Tod 
herbeigeführt zu haben. Wenn auch gar nichts an der Sache 
ist, und kein begründeter Verdacht vorliegt, führt ein der- 
artiges Gerücht doch häufig zu den größten Unannehmlich- 
keiten für die beteiligten Personen und zu den größten Weite- 
rungen und Auseinandersetzungen. Oft mußte die Ausgrabung 
und ärztliche Untersuchung der Leiche vorgenommen werden, 
um.die vollständige Grundlosigkeit des Gerüchts darzutun und 
es zum Schweigen zu bringen. Hat eine ärztliche Unter- 
suchung stattgefunden, ist der objektive Befund aufgenommen, 
so ist allen solchen Gerüchten von vornherein der Boden ent- 
zogen. 

Die Gründe, die in den Fällen des tragischen Ablebens 
gegen die Zuziehung des Arztes geltend gemacht werden, 
haben meiner Ansicht nach keine Berechtigung. Es könnte 
sich höchstens um die dadurch erwachsenden höheren Kosten 
handeln. Diese sollten aber doch, selbst wenn sie höher 
wären, wie sie bei uns sind, nicht in Betracht kommen bei 
derartigen wichtigen Dingen. Selbst wenn sich die dadurch 
veranlaßte Ausgabe [nachträglich als unnötig herausstellt, 
oder.man von vornherein schon annehmen konnte, daß es nicht 
nötig sei, den Arzt zuzuziehen, so ist durch die Zuziehung doch 
dem indirekt öffentlichen Interesse gedient. Wie nämlich jeder 
erfahrene Praktiker bestätigen wird, ist es vom größten Wert für 
den Gerichtsarzt, daß er über ein großes Material verfügt, daß er 
reiche Erfahrungen auf diesem Gebiete gesammelt hat. Dies 
ist aber in den meisten Bezirken nur möglich, wenn er bei 
jeder sich bietenden Gelegenheit zugezogen wird. 





— 40 — 


Abgesehen von den erwähnten, in der Zivilprozeßordnung 

und der Strafprozeßordnung vorgesehenen Fällen entscheidet 
darüber, ob ein Sachverständiger zuzuziehen ist, das freie 
Ermessen des (Gerichts. Es ist das eine Folgerung des 
Grundsatzes der freien Beweiswürdigung, die, wie gesagt, in 
unserm Zivil- wie in unserm Strafprozeß herrscht und zum 
Ausdruck kommt in $ 260 St.P.O. und in dem damit im 
wesentlichen übereinstimmenden $ 286 C.P.O. Das Gericht 
entscheidet nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhand- 
lung geschöpften Überzeugung. In den Motiven zur Strafprozeß- 
ordnung heißt es: „Es hat das Gesetz darüber, in welchen 
Fällen Sachverständige zuzuziehen sind, so wenig Bestimmung 
getroffen, wie darüber, in welchen Fällen ein Zeugen- 
beweis zu erheben sei. Auch in technischen Fragen entschei- 
det.die Überzeugung des Richters, und es folgt daraus, daß 
er von Einholung von Gutachten absehen kann; ferner daß er 
an das abgegebene Gutachten nicht gebunden ist, und daß er 
bei dem Widerspruch mehrerer Gutachten ohne weiteres einem 
oder dem anderen den Vorzug geben darf, wenn er eines 
Obergutachtens oder einer weiteren Aufklärung nicht zu be- 
dürfen glaubt.“ Auch die Rechtsprechung des Reichsgerichts 
stimmt mit dieser Auffassung überein; ich glaube nur eine 
kurze Stelle aus einer einzigen Entscheidung vorlesen zu 
sollen, die dies dartut. Da heißt es: 
„Angesichts der $$ 73 fig. St.P.O., ihres Wortlautes, wie 
ihrer Motive, kann darüber kaum ein Zweifel obwalten, daß 
‚das Gesetz — von einigen hier nicht in Betracht kommenden 
Ausnahmefällen abgesehen — es frei in das gewissenhafte Er- 
messen des Tatrichters hat stellen wollen, inwieweit er bei der 
Entscheidung besondere Fachkenntnisse, wissenschaftliche Er- 
fahrungen, künstlerische oder gewerbliche Übung voraus- 
setzender Fragen den Sachverstand von Experten heranzuziehen 
für notwendig hält oder solcher Hilfe entbehren zu können 
glaubt. Der in der Literatur gelegentlich gemachte Versuch, für 
sogenannte technische Fragen anderen Grundsätzen Geltung 
zu verschaffen, erscheint verfehlt.“ (R. G. E. XXV. S. 327.) 

Mit Recht ist indes in der Literatur darauf hingewiesen 
worden, daß das Absehen von der Einholung eines Sachver- 


ständigengutachtens bei technischen Fragen doch nur zu den 
seltenen Ausnahmefällen gehören darf und gehören wird, und 
daß der gewissenhafte Richter in derartigen Fragen sich des 
Sachverständigen bedient. Nur wenn der Richter im allge- 
meinen befähigt erscheint, die betreftende Frage ohne jeden 
Beirat zu lösen, wird er von Zuziehung eines Sachverständigen 
absehen können, nicht aber wenn die im einzelnen Falle mit- 
wirkenden Richter im Besitz der erforderlichen Sachkenntnis 
zu sein glauben. 


Mit dem Satz, daß das freie Ermessen des Richters darüber 
entscheidet, ob ein Sachverständiger zu vernehmen sei, ist nur 
zum Ausdruck gebracht, daß das Gericht selbst frei darin ist, 
ob es von Amts wegen einen Sachverständigen zuziehen will 
oder nicht; nicht aber ist damit zum Ausdruck gebracht, daß 
es grundsätzlich die Zuziehung eines Sachverständigen ablehnen 
darf, auch wenn die Erhebung eines Gutachtens durch die 
Prozeßbeteiligten, durch die Staatsanwaltschaft oder durch den 
Angeklagten verlangt wird und der Sachverständige in den 
Formen, die die Prozeßordnung vorschreibt, zu diesem Zwecke 
vor Gericht geladen wird. 


Maßgebend hierfür ist im Strafprozeß § 244 St.P.O. Da 
heißt es: 

„Die Beweisaufnahme ist auf die sämtlichen vorgeladenen 
Zeugen sowie auf die anderen herbeigeschafften Beweismittel 
zu erstrecken.“ 


In der Praxis gestaltet sich die Sache folgendermaßen. 
Wenn die Staatsanwaltschaft der Ansicht ist, daß zur Be- 
gründung der Anklage auf das Gutachten eines Sachverständigen 
Bezug zu nehmen sei, so wird sie bereits im vorbereitenden 
Verfahren das Gutachten von dem Sachverständigen erheben 
oder wird, wenn eine Voruntersuchung geführt wird, bei dem 
Untersuchungsrichter die Erhebung des Gutachtens in Anregung 
bringen und bei Einreichung der Anklageschrift auf die Be- 
gutachtung des Sachverständigen sich beziehen, und diesen zur 
Hauptverhandlung laden. Das Gericht muß dann den so ge- 
ladenen Sachverständigen auf Grund des $ 244 der Strafprozeß- 
ordnung auch in der Hauptverhandlung vernehmen, einerlei, 





E O n 


ob es seine Zuziehung für notwendig oder zweckmäßig hält 
oder nicht. 

In gleicher oder ähnlicher Weise verhält es sich, wenn 
nicht die Staatsanwaltschaft, sondern der Angeklagte sich auf 
das Gutachten eines Sachverständigen beruft. Er wird seinen 
Antrag vielleicht schon im Vorverfahren bei der Staatsanwaltschaft 
stellen; wenn diese nicht darauf eingeht, demnächst bei dem 
Vorsitzenden des Gerichts, vor dem die Sache zur Verhandlung 
kommt. Wenn dann auch der Vorsitzende der Ansicht ist 
den Sachverständigen nicht nötig zu haben, und die Ladung 
ablehnt, so kann der Angeklagte nach $ 219 der Strafprozeb- 
ordnung den Sachverständigen unmittelbar laden lassen 
d. h. ihm selbst eine Ladung zustellen, die ihn verpflichtet, 
vor Gericht zu erscheinen. Es kann also in dieser Weise 
sowohl von dem Staatsanwalt wie namentlich von dem An- 
geklagten bewirkt werden, daß ein Sachverständiger gegen 
die Ansicht und gegen den Willen des Gerichts vernommen 
werde. | | 

Im Zusammenhang damit steht die Frage: Wem steht 
die Auswahl der Sachverständigen zu? Darüber sagt 
die Strafprozeßordnung in $ 73: Die Auswahl der zuzuziehen- 
den Sachverständigen und die Bestimmung ihrer Anzahl erfolgt 
durch den Richter. Die gleiche Bestimmung enthält für den 
Zivilprozeß § 104 C.P.O. Daß |dieser Satz so, wie er da 
steht und wie ich ihn verlesen habe, nicht richtig sein kann, 
werden Sie schon aus dem Ergebnis unserer Betrachtungen in 
Bezug auf die Frage, wann Sachverständige zu vernehmen 
seien, schließen können. Wenn die Staatsanwaltschaft und 
wenn der Angeklagte auch gegen die Ansicht des Gerichts 
einen Sachverständigen vorladen und das Gericht zwingen 
kann, diesen Sachverständigen zu vernehmen, so steht die 
Auswahl über den zuzuziehenden Sachverständigen nicht unter 
allen Umständen dem Gerichte zu, sondern. in diesem letzteren 
Falle eben der Staatsanwaltschaft oder dem Angeklagten. Also 
der Satz ist so, wie er dasteht, zweifellos nicht richtig. Die 
Motive der Strafprozeßordnung begründen ihn damit, daß sie 
sagen: der Sachverständige ist ein Gehilfe des Richters, des- 
halb wird er von dem Richter ausgewählt — nebenbei be- 


— 3 — 


merkt — die einzige Stelle in den Motiven, in der man auf 
die alte Theorie von der Gehilfenschaft des Sachverständigen 
sich bezieht. John (Strafprozeßordnung Bd. I, S. 657) be- 
zeichnet die Vorschrift als eine unschädliche Reproduktion 
einer falschen Doktrin und stellt ihr den nach dem Ausge- 
führten als richtig anzuerkennenden Satz entgegen: „Der 
Sachverständige wird von demjenigen ausgewählt, 
derihn brauchen will.“ 


Eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß der von Amts- 
wegen zugezogene Sachverständige von dem Richter ausgewählt 
werde, ist in § 73 Absatz 2 St.P.O. und übereinstimmend 
damit in $ 404 Abs. 2 C.P.O. enthalten. Da heißt es: 


„Sind gewisse Arten von Gutachtern und Sachver- 
ständigen öffentlich bestellt, so sollen andere Personen nur dann 
gewählt werden, wenn besondere Umstände es erfordern,“ eine 
nicht zwingende, sondern nur instruktionelle Vorschrift, die 
aber fast ausnahmslos befolgt wird. 


Für uns ist von Interesse, festzustellen, welche Ärzte als 
Sachverständige für gerichtliche Angelegenheiten bestellt sind. 
Nach einem Amtsblatt des Großh. Ministeriums des Innern und 
der Justiz, Abteilung für Öffentliche Gesundheitspflege vom 
T. November 1879 sind als Sachverständige für gerichtsärzt- 
liche Gutachten in Strafsachen einschließlich der Gutachten 
über den Geisteszustand eines Angeschuldigten, sofern diese 
nicht auf Grund der Beobachtung einer Irrenanstalt durch die 
Ärzte derselben abgegeben werden sollen, öffentlich bestellt 
und den Requisitionen der Gerichte und der Staatsanwälte 
Folge zu leisten verpflichtet: die Kreisärzte und Kreisassistenz- 
ärzte der Kreisgesundheitsämter, und diejenigen praktischen 
Ärzte, welche als sogenannte zweite Gerichtsärzte zur Ver- 
tretung und Assistenz der beamteten Ärzte besonders bestellt 
und verpflichtet sind. Die in demselben Amtsblatt enthaltene 
Regelung der Zuständigkeit der Medizinalbeamten darf ich hier 
übergehen, erwähnen möchte ich aber noch die allgemeines 
Interesse bietende Bestimmung, daß zur Abgabe von 
gerichtsärztlichen Obergutachten als sachverständige Fach- 
behörde im Sinne $ 83 Abs. 3 der Strafprozeßordnung die 


= di s 


Abteilung Großh. Ministeriums des Innern für öffentliche Gesund- 
heitspflėge bestellt ist. | | 
“Eine weitere Ausnahme von dem Grundsatz, daß die Aus- 
wahl der von Amts wegen zuzuziehenden Sachverständigen 
durch das Gericht erfolgt, findet sich in $ 404, Absatz 3 der 
Zivilprozeßordnung. Darnach hat das Gericht, wenn sich die 
Parteien über bestimmte Personen als Sachverständige einigen, 
dieser Einigung Folge zu geben; das Gericht kann jedoch die 
Wahl der Parteien auf eine bestimmte Anzahl beschränken. 
In gewisser Hinsicht kann als eine Ausnahme von dem 
angeführten Grundsatz auch die Verfügung Großh. Minis- 
terıums der Justiz vom 3. Mai 1900, das Verfahren in 
Entmündigungssachen betreffend (Amtsblatt Nr. 12), igelten 
insofern darin empfohlen wird, als Sachverständige in erster 
Linie solche Personen zuzuziehen, welche auf dem Gebiete der 
Irrenheilkunde besondere Erfahrungen besitzen und, wenn solche 
Personen nicht zu erreichen sind, regelmäßig den zuständigen 
Kreisarzt oder dessen Vertreter als Sachverständigen zu wählen. 
Was die Zahl der Sachverständigen betrifft, so soll nach 
der angeführten Bestimmung der Strafprozeßordnung, in gleicher 
Weise wie bei ihrer Auswahl, maßgebend sein die Verfügung 
des Richters. Allein wenn es nicht richtig ist, daß die Aus- 
wahl der Sachverständigen in allen Fällen durch das Gericht 
erfolgt, wenn der Richter gezwungen werden kann, Sachver- 
ständige, die von dem Staatsanwalt oder von dem Angeklagten 
geladen sind, zu vernehmen, so bestimmt das Gericht auch 
nicht unumschränkt über die Zahl der Sachverständigen. 
Wortlaut und Sinn des $ 244 St.P.O. stehen dem entgegen. 
Darnach ist die Beweisaufnahme auf die sämtlichen vor- 
geladenen Zeugen und Sachverständigen zu erstrecken. 
Es läßt sich nicht verkennen, daß mit dem damit dem Ange- 
klagten gewährten Recht Mißbrauch getrieben werden kann. 
Indes ist die Bestimmung nicht so zu verstehen, daß der 
Angeklagte beliebige Personen und in beliebiger Zahl als Sach- 
verständige laden könne, vielleicht nur zu dem Zweck, um 
dadurch die Sache hinauszuziehen und eine Verurteilung zu 
erschweren oder unmöglich zu machen. In solchen Fällen 
könnte auf Grund der Feststellung, daß eine Verschleppung 


EN ee 


bezweckt ist und nicht die Absicht besteht, ein Recht des An- 
geklagten zu wahren, die Vernehmung solcher Sachverständigen 
zurückgewiesen werden, was auch von dem Reichsgericht als 
zulässig erklärt worden ist. Es kann auch der Richter die 
Sachverständigenqualität einer als Sachverständiger geladenen 
Person prüfen und kann diese wegen Mangel der erforderlichen 
Qualität zurückweisen. Herr Professor Mittermaier hat schon 
erwähnt, daß kürzlich ein Fall vorgekommen ist (in dem Plötzen- 
see-Prozeß) in dem ein anerkannter gerichtlicher Sachverständiger 
über die Qualität eines von dem Angeklagten benannten Sach- 
verständigen vernommen wurde. Man könnte daran denken, 
daß ein solches Prüfungsrecht ausgeschlossen sei mit Rücksicht 
auf den mehrfach erwähnten Paragraph 244 St.P.O. Nun, 
dem Wortlaut nach allerdings; aber es unterliegt nicht dem 
mindesten Zweifel, daß das Gericht nur verpflichtet ist, die- 
jenigen als Sachverständige geladenen Personen zu vernehmen, 
die wirklich sachverständig sind. Nicht darauf kann es an- 
kommen, daß einer als Sachverständiger von dem Ange- 
klagten bezeichnet wird oder sich selbst so nennt, sondern 
ob er es wirklich ist, und die Entscheidung, ob diese 
Voraussetzung vorliegt, ob die dem Gericht vorgeführten 
Personen wirklich sachverständig sind, kann selbstverständlich 
nur dem Richter zustehen. Welche Mittel nunmehr das Gericht 
anwendet, um diese Frage zu entscheiden, muß ihm selbst 
überlassen bleiben, und ich möchte der Ansicht des Herrn 
Professor Mittermaier nicht beipflichten, daß es unzulässig sei, 
darüber einen anerkannten, dem Gericht bekannten, bewährten 
Sachverständigen zu hören. Es könnte doch schließlich vor- 
kommen, daß ein wildfremder Mensch als Sachverständiger, 
vorgeführt wird, von dem das Gericht nicht weiß, wer er ist, 
ob er die Vorkenntnisse besitzt, die notwendig sind, um als 
Sachverständiger zu fungieren, ob er die Fachkenntnisse be- 
sitzt, die vielfach erst durch eine besondere, wissenschaftliche 
Tätigkeit. erworben werden und die ihn befähigen, ein Gut- 
achten abzugeben. . Die Möglichkeit, diese Fragen zu prüfen, 
muß gegeben sein. Die Prüfung wird unter Umständen in der. 
Weise eintreten können, daß das Gericht sich befragt über den 
Studiengang der betreffenden Persönlichkeit, über sein Vorleben 


z de = 


und sich darüber vergewissert, ob die erforderlichen Kenntnisse 
vorhanden sind. Wenn das Gericht nicht in der Lage ist, dies 
von sich aus festzustellen, so glaube ich nicht, daß es gehindert 
ist, einen anerkannten Sachverständigen zuzuziehen und diesen 
mit der erforderlichen Prüfung und Untersuchung zu betrauen. 

In der Praxis sind diese Fälle äußerst selten. Mir ist aus 
unserem Großherzogtum nicht ein einziger solcher Fall bekannt 
geworden. Wohl sind Fälle vorgekommen, in denen die Sach- 
verständigen-Qualität bezweifelt worden ist, aber schließlich ist 
es, ohne daß Weiterungen entstanden wären, zur Vernehmung 
der betreffenden als Sachverständige benannten Personen ge- 
kommen. Die Gerichte tun m. E. auch gut daran, wenn sie 
bei der Zulassung von Sachverständigen nicht allzustreng ver- 
fahren, weil die Prüfung, ob Jemand wirklich sachverständig 
ist, in der Regel zu großen Weitläufigkeiten führt, unter Um- 
ständen eine Aussetzung der Verhandlungen notwendig macht 
und große Kosten verursacht. Im Laufe der Vernehmung der 
betreffenden Person wird sich ja in’ der Regel bald heraus- 
stellen, wes Geistes Kind sie ist. Der einigermaßen erfahrene 
Richter wird bald merken, ob die Person Sachverständnis be- 
sitzt. Das Gericht ist auch in der Lage, einen anderen Sach- 
‚verständigen über das Gutachten des unbekannten Sachver- 
ständigen zu vernehmen, und vor allen Dingen ist es nicht ge- 
zwungen, das Gutachten des angeblich Sachverständigen, dessen 
Sachkenntnis es bezweifelt, seiner Entscheidung zu Grunde zu 
legen. Solche Gutachten werden keinesfalls die Beweiskraft 
anderer entgegenstehender Gutachten anerkannter Sachver- 
ständiger wesentlich abschwächen können. 

Nach diesen Grundsätzen würde es sich auch entscheiden, 
ob ein praktischer Arzt, der als psychiatrischer Sachverständiger 
geladen wird, als solcher zuzulassen sei. Es ist im einzelnen 
Falle zu prüfen, ob er die erforderliche Fachkenntnis besitzt, 
und wenn man auf die angegebene Weise dies feststellt, so 
wird er als Sachverständiger nicht zurückgewiesen werden 
können. Allgemeine Regeln lassen sich darüber nicht aufstellen, 
man kann weder sagen: ein praktischer Arzt kann nicht als 
psychiatrischer Sachverständiger fungieren, noch kann man den 
gegenteiligen Satz aufstellen. Das Gesetz gibt keinen Anhalt, 


ze AT 


welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, um die Qualität 
als Sachverständiger anzunehmen. Nach allgemeinen Grund- 
sätzen müssen nur gewisse Fachkenntnisse vorhanden sein, die- 
durch eine spezialwissenschaftliche Tätigkeit oder eine künst- 
lerische oder gewerbliche Übung erlangt sind und die den 
Betreffenden befähigen, ein Gutachten abzugeben. Ob diese 
Voraussetzungen gegeben sind, unterliegt im einzelnen Falle 
der Entscheidung des Gerichts. | 

Eine weitere hier zu erörternde Frage ist die, in welchen 
Fällen eine Verpflichtung besteht, als Sachverstän- 
diger tätig zu werden. Darüber bestimmt $ 75 der Straf- 
prozeßordnung in Übereinstimmung mit § 407 der Zivilprozeß- 
ordnung folgendes: 

„Der zum Sachverständigen Ernannte hat der Ernennung 
Folge zu leisten, wenn er zur Erstattung von Gutachten der 
erforderlichen Art öffentlich bestellt ist* — das würde für die 
Gerichtsärzte zutreffen —, „oder wenn er die Wissenschaft, 
die Kunst oder das Gewerbe, deren Kenntnis Voraussetzung 
der Begutachtung ist, öffentlich zum Erwerb ausübt“ — das 
trifft die praktischen Ärzte —, „oder wenn er zur Ausübung der- 
selben öffentlich bestellt oder ermächtigt ist“ — das wird z. B. 
auf die Professoren an der Universität zutreffen. 

Von diesem Grundsatz gibt es verschiedene Ausnahmen 
Die Gründe nämlich, die den Zeugen berechtigen, das Zeugnis 
zu verweigern, berechtigen auch den Sachverständigen, die 
Abgabe des Gutachtens zu verweigern. Hier kommen haupt- 
sächlich in Betracht: verwandtschaftliche und schwägerschaft- 
liche Beziehungen zu dem Angeklagten oder den Parteien und 
die Fälle, in denen jemand Kraft eines Amtes oder Berufs 
verpflichtet ist, das, was ihm bei Ausübung desselben anver- 
traut ist, zu bewahren, was namentlich für Ärzte von großer 
Bedeutung ist. Endlich müssen öffentliche Beamte über Um- 
stände Schweigen beobachten, auf welche sich ihre Pflicht. zur 
Amtsverschwiegenheit bezieht, sofern sie nicht von ihrer vor- 
gesetzten Behörde von der Pflicht zur Verschwiegenheit ent- 
bunden sind. 

Nach § 76 St.P.O. und $ 408 Z.P.O. kann auch aus 
anderen Gründen ein Sachverständiger von der Verpflich- 


— 48 — 


tung zur Erstattung des Gutachtens entbunden werden. Welches 
diese Gründe sind, ist im Gesetz nicht gesagt; die Bestimmung 
beruht aber unbestritten auf der Erwägung, daß es in vielen 
Fällen eine Härte wäre, einen Sachverständigen zu zwingen, 
ein Gutachten abzugeben, eine Härte um deswillen, weil er 
z.B. mit Arbeiten überhäuft ist und vielleicht seine Gesund- 
heit schädigen, oder weil es ihm erhebliche pekuniäre Nach- 
teile bereiten würde, wenn er sich längere Zeit, vielleicht 
Tage oder Wochen, mit der Vorbereitung und Erstattung eines 
Gutachtens befassen und darüber seine Berufsgeschäfte ver- 
nachlässigen müßte. In solchen Fällen ist das Gericht berech- 
tigt, den Sachverständigen von der Erstattung des Gutachtens 
zu entbinden. 

Dies gilt auch für die Fälle, in denen der Saive 
von dem Angeklagten auf Grund des § 219 St.P.O. unmittel- 
bar geladen worden ist. Denn das dem Angeklagten durch 
diese Bestimmung gewährte Recht kann nicht soweit gehen, 
daß dadurch Interessen des Sachverständigen, die von dem 
Gesetz im Fall seiner amtlichen Zuziehung als Be an- 
erkannt sind, beeinträchtigt werden. 

Eine weitere Ausnahme von der Verpflichtung zur Sach- 
verständigentätigkeit ist in $ 76, Absatz 2 St.P.O. und $ 408, 
Absatz 2 Z.P.O. enthalten: 

„Die Vernehmung eines öffentlichen Beamten als Sach- 
verständigen findet nicht statt, wenn die vorgesetzte Behörde 
des Beamten erklärt, daß die Vernehmung den dienstlichen 
Interessen Nachteile bereiten würde.“ 

Hier ist es nicht die Wahrung des Amtsgeheimnisses, 
worauf sich diese Bestimmung gründet, sondern hauptsächlich 
die Erwägung, daß ein Beamter, der vielleicht wegen seiner 
besonderen Kenntnisse, Fähigkeiten und praktischen Erfahrung 
mit Vorliebe als Sachverständiger benannt wird, seinem Dienst 
allzusehr entzogen werden könnte, wenn er fortgesetzt mit 
Erstattung von Gutachten belastet würde. Im solchen Fällen 
kann die vorgesetzte Behörde im dienstlichen Interesse be- 
stimmen, daß der Beamte nicht als Sachverständiger zu ver- 
nehmen ist. Der Fall unterscheidet sich von dem vorgenannten 
dadurch, daß im ersteren das freie Ermessen des Gerichts, im 


— 49 — 


letzteren die vorgesetzte Behörde entscheidet, und daß in dem 
ersteren wesentlich persönliche, im letzteren dienstliche Inter- 
essen für die Entscheidung maßgebend sind. 

Zusätzlich zu dem Vorgetragenen sei noch erwähnt, daß 
‚dem mehrerwähnten Recht des Angeklagten, einen Sachver- 
ständigen unmittelbar zu laden, die Pflicht des Sachverständigen 
‚entspricht, auf diese Ladung vor Gericht zu erscheinen. Vor- 
aussetzung ist aber in diesem Falle, daß ihm die gesetzliche 
Entschädigung für Reisekosten und Versäumnis bar dargeboten, 
oder der Nachweis geführt wird, can diese bei dem Gerichts- 
schreiber hinterlegt ist. 

Zum Schluß noch ein kurzes Wort zu der Frage: Welcher 
Platz ist dem Sachverständigen anzuweisen, der zu einer ge- 
richtlichen Verhandlung geladen ist? Hierzu ist folgendes zu 
bemerken: Eine Reihe von Bestimmungen unserer Prozeßord- 
nungen, die für Zeugen gelten, sind auch für Sachverständige 
für anwendbar erklärt worden. Bei der grundsätzlichen Ver- 
schiedenheit der Tätigkeit von Zeugen und Sachverständigen 
kann indes keine Rede davon sein, daß eine gleiche Behand- 
lung beider in Bezug auf die Platzfrage einzutreten habe. Die 
Zeugen werden einzeln und in Abwesenheit von einander ver- 
nommen, sie verlassen zunächst den Gerichtssaal, werden dann 
hereingerufen, werden vernommen, treten ab und ihre Tätig- 
keit ist erledigt. Anders bei dem Sachverständigen. Er hat 
während der ganzen Verhandlung im Gerichtszimmer anwesend 
zu sein, hat dem Gang der Verhandlungen zu folgen, muß in 
der Lage sein, zur Unterstützung seines Gedächtnisses sich 
Aufzeichnungen zu machen. Das alles ist notwendig, damit 
er nachher ein zuverlässiges Gutachten erstatten kann. Es 
gilt dies auch für den Fall, daß er schon vorher die Akten 
eingesehen und sein Gutachten schriftlich erstattet hat. Es 
kommt fast in jeder Verhandlung vor, daß sich das eine oder 
andere ändert, daß die Zeugen, wenn sie vereidigt sind, andere 
Aussagen machen, als im Vorverfahren, daß neue Zeugen neue 
Gesichtspunkte hereinbringen. Dies alles muß der Sachver- 
ständige berücksichtigen, er muß sein Gutachten unter Um- 
ständen ergänzen, abändern oder sonst anders behandeln, als 


es schriftlich niedergelegt ist. Alle diese Dinge sind auch 
4 


=. B 


bei der Platzfrage zu berücksichtigen. Der Platz ist so zu 
wählen, daß der Sachverständige den Anforderungen, die an 
ihn gestellt werden, auch genügen kann. Er muß deshalb 
nicht hinter, sondern vor den Schranken Platz nehmen und 
einen bequemen Sitz an einem Tische haben, damit er in der 
Lage ist, alles zu hören und Aufzeichnungen zu machen. 
Wenn man dem Grundsatz folgt, daß der Sachverständige der 
Gehilfe des Richters ist, so könnte man denken, daß sein Platz 
am Tische des Richters wäre. Aber dann wäre der Richter 
in einer schiefen Lage, wenn es sich um einen Sachverstän- 
digen handelt, den er für überflüssig hält, der ihm aufgedrängt 
wird, dessen Sachkenntnis er bezweifelt. Auch praktische Be- 
denken werden dem entgegenstehen, denn der Platz wird in 
der Regel nicht ausreichen. Es wäre eine dankbare Aufgabe 
für die Architekten, bei dem Bau neuer Gerichtssäle auf das 
Bedürfnis für einen angemessenen und geeigneten Platz für 
die Sachverständigen Rücksicht zu nehmen. Für jetzt wäre 
es zu empfehlen, daß der Sachverständige nicht hinter den 
Schranken, da wo die Zeugen sitzen, Platz nimmt, son- 
dern vor den Schranken, zwischen den Schranken und 
dem Gerichtstisch, etwa an derselben Stelle, wo der Verteidiger 
sitzt, aber doch nicht an dem gleichen Tische mit diesem. 
Letzteres um deswillen nicht, damit nicht unter Umständen 
eine falsche Beurteilung der Stellung und der Tätigkeit des 
Sachverständigen bei dem Publikum und vielleicht auch bei 
den Richtern (Geschworenen) eintritt, die im einzelnen Falle 
die Meinung von der Bedeutung und dem Wert des Gutachtens 
ungünstig beeinflussen könnte. 


3. Prof. Dr. Sommer: 


M. H.! Die Punkte, über die ich sprechen will, sind: 

1. die Vorbereitung des Gutachtens, 

2. die Fassung desselben, 

3. die Bewertung des Gutachtens, 

4. eine Reihe von Außerlichkeiten. 

Was die Vorbereitung des Gutachtens betrifft, so 
sind zwei Haupterfordernisse zu nennen: 1. die persönliche 
Untersuchung, 2. die Kenntnisnahme der Akten. 


z pi 


Es herrschen Unklarheiten über das Verhältnis dieser 
beiden Voraussetzungen. Man glaubt manchmal, daß eins von 
beiden ausreiche, das ist jedoch unrichtig. Nur aus der Ver- 
bindung dieser beiden vorbereitenden Methoden kann ein ein- 
wandfreies Gutachten hervorgehen. Man muß darüber klar 
sein, daß man sich bei persönlicher Untersuchung, zumal wenn 
es nur eine einmalige ist, ohne Kenntnis der Vorakten täusche 
kann. Eine ganze Menge von Krankheitsfällen zeichnet sich 
dadurch aus, daß jemand momentan gesund erscheint, wäh- 
rend hinterher zahlreiche Krankheitssymptome herauskommen. 
Manche der ärztlichen Gutachten, mit denen Sie als Juristen 
in der Praxis Schwierigkeiten haben, weil ein Gutachten dem 
anderen widerspricht, erklären sich daraus, daß einzelne Gut- 
achter nur ein Momentbild vor sich hatten. Die eigentliche 
Beobachtung ist richtig gewesen, aber der Schluß ist falsch, 
weil ein einmaliges Sehen und Untersuchen oft nicht genügt 
um ein ausreichendes Urteil zu bilden. Infolgedessen empfiehlt 
es sich in der Regel, mehrfach zu untersuchen und die ge- 
samte Aktenlage sorgfältig mit dem Bilde zu vergleichen, das 
man selbst gesehen hat. Es stellt sich häufig heraus, daß ent- 
weder in den Akten zu wenig steht, oder mehr als man 
momentan wahrnehmen konnte. In beiden Fällen ist die 
Kenntnis des Tatbestandes, der in den Akten festgelegt ist, 
notwendig, damit man entweder das momentane Urteil danach 
modifizieren, oder aus der persönlichen Untersuchung die 
Lücken des in den Akten enthaltenen Materials ergänzen 
kaon 

Ist diese Voraussetzung richtig, so hat meiner Auffassung 
nach die Gerichtsbehörde die Verpflichtung, möglichst die Er- 
füllung dieser beiden Bedingungen herbeizuführen, also zu be- 
wirken, daß der Arzt imstande ist, persönlich zu untersuchen 
und die Akten genau zu lesen. 

Wenn eine Überweisung erfolgt nach $ 81 der Strafpro- 
zeßordnung, sind diese Bedingungen selbstverständlich erfüllt. 
Man hat dann den Betrefienden sechs Wochen in der Anstalt, 
und es ist die persönliche Untersuchung in reichlichem Maße 
gewährleistet. Zweitens hat man die Möglichkeit, die Akten 
zu lesen, und wenn man weitere Erhebungen oder :Verneh- 

4* 


— 52 — 


mungen veranlaßt, so können diese noch brauchbares Material 
bringen. | 

Ganz anders ist die Sache, wenn man plötzlich vor- 
geladen wird. Das ist nach meiner Erfahrung häufig der 
Fall bei Schwurgerichtsverhandlungen. Wie es zusammen- 
hängt, daß dies grade bei Schwurgerichtsverhandlungen ein- 
tritt, wage ich nicht bestimmt zu entscheiden. Tatsache ist, 
daß es öfter vorkommt. Es ist wohl so zu erklären, daß im 
letzten Moment alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um 
noch ein ärztliches Gutachten zu erlangen. Daß ein solches 
‚Verfahren rechtlich zulässig ist, ist selbstverständlich; ob es 
aber praktisch richtig ist, den Arzt in eine solche Verlegen- 
heit zu bringen, das ist fraglich. Nach meinen Erfahrungen 
hat es öfter die schlimmsten Wirkungen. Was ist die Folge? 
Der Sachverständige bestimmt meist das Gericht, zu gestatten, . 
daß er in der Pause den Betreffenden untersuchen kann. Nun 
ist es aber eine außerordentliche psychische Anstrengung, den 
ganzen Vormittag zuzuhören und dann in der Mittagspause 
‚eine Untersuchung vorzunehmen, nachher nochmals zuzuhören 
und hinterher eine vielleicht entscheidende Rede über die 
Sachlage zu halten. Dann kommt noch dazu, daß man häufig 
nicht in der Lage ist, mit einer einmaligen Untersuchung rasch 
zu stande zu kommen. Es wäre vielleicht anders, wenn man 
die Untersuchung einige Tage vorher vollziehen könnte. Ander- 
seits kommen Fälle vor, in denen man bei einer solchen ein- 
maligen Untersuchung auf Punkte trifft, die psychiatrisch 
wichtig sind, während in den Akten nichts davon steht. Es 
ist mir vorgekommen, daß ich bei einer solchen Untersuchung 
während der Verhandlungen auf Momente stieß, die geeignet 
waren, psychiatrische Bedenken zu veranlassen. Es ist aber 
eine außerordentlich peinliche Situation, von solchen psychia- 
trischen Erwägungen, die oft auf Aussagen der Untersuchten 
beruhen, Gebrauch zu machen, weil die allgemeine Meinung 
.gegen den Wert solcher Aussagen von Angeschuldigten geht. 
Es ist klar, daß darum Richter oder Staatsanwalt leicht sagen: 
da kommt ein Sachverständiger herein und untersucht den 
Angeklagten, um Sachen zu finden, die den Akten wider- 
sprechen. Bei dieser Sachlage ist wenig Aussicht, daß die 


un. p 


Bedenken des Arztes berücksichtigt werden. Ich habe es er- 
lebt, daß Angaben eines Angeschuldigten, die ich bei einer 
solchen Gelegenheit über Dämmerzustände bei seinem Vater 
erhielt, und die den Auskünften bei den Akten widersprachen, 
nicht geglaubt wurden, während die nachträglich von mir an- 
gestellten Ermittelungen ihre Richtigkeit erwiesen. 

Ich meine, es sollte in jeder Weise, sowohl von der Staats- 
anwaltschaft wie von der Rechtsanwaltschaft, immer darauf 
hingewirkt werden, daß wir Mediziner in die Lage kommen, 
rechtzeitig und eingehend unsere Untersuchungen mit 
Kenntnis der Akten vorzunehmen; es liegt das in ihrem 
eigenen Interesse, sie werden dann viel weniger wider- 
sprechende, oder sonst Schwierigkeiten verursachende Gut- 
achten bekommen. 

Die schlimmsten Fälle sind nach meiner Erfahrung die- 
jenigen, wenn eine Vorladung ganz unerwartet an den Arzt 
kommt, er soll in den nächsten Tagen irgend wohin fahren, . 
eine angeklagte Person habe ihn durch ihren Rechtsanwalt 
vorgeladen. Mir ist es vorgekommen, daß ich am Abend die 
Mitteilung bekam, ich müsse am nächsten Tage in einem ziem- 
lich entfernten Orte in Oberhessen sein und einem Termin als 
Sachverständiger beiwohnen. Es ist natürlich nicht möglich, 
unter solchen Umständen ein befriedigendes Gutachten abzu- 
geben, es würde eine Stümperei sein, die man dabei lieferte. 
Außerdem ist es für einen vielbeschäftigten Arzt, besonders 
Anstaltsdirektor, oft sachlich unmöglich, so rasch abzukommen. 
Gesetzlich ist gegen solche Anforderungen nichts zu machen; 
die Bestimmung ist da. Wir können nun hier in unserer Ver- 
einigung nicht reden über die lex ferenda, sondern müssen uns 
an die lex lata halten, und sehen, wie sich im Rahmen der 
bestehenden Gesetze solche Mißstände vermeiden la@sen. Da- 
her sollten wir gewissermaßen unter uns ausmachen, daß der 
Gutachter möglichst rechtzeitig herangezogen 
wird, so daß er ein Urteil möglichst gründlich vorbereiten 
kann. 

Nun kommt die Frage: Wann soll man den Sachver- 
ständigen zuziehen? Nach meiner Erfahrung ist es das rich- 
tigste, daß die Staatsanwaltschaft oder der Untersuchungsrichter 


ganz im Anfange ein Sachverständigenurteil einholt. Die 
Situation kann sich so entwickeln, daß auch in den Fällen, 
in denen wir als Ärzte nicht bestimmt sagen können, eine 
Person gehört unter den $51, doch in vielen Punkten die 
Feststellung des Psychiaters von großem Wert für die juristi- 
sche Auffassung der strafrechtlichen Handlung wird. Ich habe 
Fälle erlebt; in denen die Staatsanwaltschaft in richtiger Weise 
bestimmte psychologische oder psychiatrische Feststellungen 
des Gutachtens in der späteren Fassung der Anklage 
berücksichtigt hat: das ist ein Beweis, daß dieses Zusammen- 
wirken, psychiatrische und juristische Überlegung, gerade im 
Anfang des Verfahrens von den günstigen Folgen sein kann. 
Wenn der Staatsanwalt sein Urteil schon in der Anklageschrift 
formuliert hat und hinterher kommt das psychiatrische Moment 
erst in die Sache hinein und bringt eine Abweichung von 
seiner Auffassung, so ist es naturgemäß, daß jener nicht ohne 
. weiteres von seinem Standpunkte abgehen mag. 

Ich meine, wir sollten uns dahin aussprechen, daß es 
richtig ist, möglichst. zeitig ein Gutachten einzuholen und dann 
auch gleich im Anfange möglichst sorgfältig die Frage zu 
prüfen, wer bei der vorhandenen Sachlage zu gm Gutachten 
zugezogen werden soll. 

Es wird sich aus dem nunmehr obligatorisch gewordenen 
Unterricht der Mediziner in Psychiatrie ganz naturgemäß er- 
geben, daß besonders in Fällen, in denen ein praktischer Arzt 
als Hausarzt die Entwicklung irgend eines Individuums, z. B. 
eines Kindes, in der Familie kennt, der Richter sich sagen 
wird: der betreffende Arzt hatte Gelegenheit, als Hausarzt eine 
Reihe von Beobachtungen zu machen, wir wollen ihn daher 
als Sachverständigen hören. Ich sehe nicht ein, warum man 
nicht au®h einmal einen Nichtpsychiater als psychiatrischen 
Sachverständigen zuziehen soll. Auf der anderen Seite halte 
ich es für unrichtig, daß der erste beste praktische Arzt von 
dem Angeschuldigten als Sachverständiger benannt und zuge- 
zogen werde. 

Ganz ähnlich ist das Verhältnis zwischen den Anstalts- 
ärzten und den Kreisärzten. Die Kreisärzte sind in mancher 
Beziehung entschieden im Vorteil; sie hatten an Ort und 


==, 355 we 


Stelle Gelegenheit, schon vor einer strafrechtlichen Verwick- 
lung mit manchen Leuten über einen bestimmten Menschen 
zu sprechen, sie kennen vielleicht den Betreffenden seit langer 
Zeit selbst, wissen kleine Züge, die von ihm kolportiert werden. 
Es ist also für den kreisärztlichen Kollegen viel leichter, nach 
dieser anamnestischen Richtung schon eine bestimmte Summe 
von Erfahrungen mitzubringen, als dem Anstaltsarzt, der das 
Material erst zusammensuchen muß. 

Es läßt sich für den Juristen in dieser Beziehung nur die 
eine Regel geben, daß er diejenigen zuziehen soll, die nach 
seiner Meinung am besten in der Lage sind, die Vorgeschichte 
zu beurteilen und methodisch den Betreffenden zu untersuchen; 
mehr kann man nicht sagen. Dogmatisieren läßt sich die 
Sache nicht. Selbstverständlich wird ein Anstaltsarzt, der 
Gelegenheit hatte, den Angeschuldigten längere Zeit in der 
Anstalt zu beobachten, in dieser Beziehung in viel besserer 
Lage sein. 

Ich behandle weiter die Fassung des Gutachtens. 
Sie hängt mit dem ersten Punkt näher zusammen. Wir 
müssen uns dabei einigen über das Verhältnis der von 
juristischer Seite gestellten Fragen zu der psychiatrischen 
Untersuchung im allgemeinen. Die juristische Fragestellung 
ist völlig determiniert durch die Fassung des Gesetzes. Selbst- 
verständlich muß der Jurist immer das fragen, was angesichts 
der Sachlage nach der Fassung des Gesetzes notwendig ist. 
Ich brauche aber nur hinzuweisen auf die Tatsache der Rechts- 
entwickelung in Bezug auf die Begriffe der Zurechnungsfähig- 
keit, die im Laufe der letzten hundert Jahre gewechselt haben. 
Schon daraus ersehen Sie, daß die juristische richtige Frage- 
stellung immer nur eine Folge der zur betreffenden Zeit ge- 
gebenen Fassung des Gesetzes ist, während der Psychiater 
selbstverständlich wesentlich ausgehen muß von der Gesamt- 
untersuchung der Persönlichkeit. Wenn er untersucht, darf 
er nicht bloß die Frage prüfen, die Richter oder Staats- 
anwalt gestellt haben, sondern er muß versuchen, mit allen 
‘erreichbaren Methoden in die gesamten psychischen, bezw. 
psychopathischen Züge des Betreffenden Einblick zu gewinnen. 
Es handelt sich um die Aufgabe, die Beziehungen zwischen 





— 56 — 


dem gesamten psychologischen Material, das er sich metho- 
disch verschafft, und den speziellen Rechtsfragen, die an ihn 
gestellt werden, klarzustellen. Praktisch ist es das Beste, daß 
man sich gewöhnt, nach einer Darstellung des gesamten psy- 
chiatrischen Befundes, die von dem Juristen gestellten Fragen, 
soweit sie medizinischer Natur sind, im Sinne der Gesetz- 
gebung ganz exakt zu beantworten, damit der Jurist auf die 
Fragen, die ihn bei der Rechtslage interessieren, ganz be- 
stimmte, klare Antworten hat. Andererseits halte ich es aber 
für richtig, daß man den gesamten Bestand von Ermittelungen 
und Untersuchungen, die man angestellt hat, in der Schluß- 
formulierung des Gutachtens nicht ignoriert zu Gunsten der 
speziellen Fragen. Wir werden in vielen Fällen in der Lage 
sein, auf Grund der genauen Untersuchung noch irgend welche 
wichtige Punkte hervorzuheben. Ich habe es in den letzten 
zehn Jahren immer so durchgeführt und meine Assistenten 
darauf hingewiesen, daß ich auf Grund der Gesamtuntersuch- 
ung den ganzen psychiatrischen Tatbestand formuliere und 
dabei auf die speziellen juristischen Fragen nach Möglichkeit 
eingehe. Die praktischen Juristen, mit denen ich darüber ge- 
sprochen habe, bestätigten mir in der Regel, daß sie mit 
diesem Verfahren einverstanden sind. Wenn es sich z. B. 
um Personen handelt, die nicht unter § 51 des St.G.B. fallen, 
bei denen man sich aber sagt, daß der Zustand, den dieser 
Paragraph voraussetzt, eintreten kann, so halte ich es für 
richtig, daß man, sozusagen, eine Signalfahne aufsteckt, indem 
man sagt: „der Fall liegt so, daß er nach der bisherigen Ge- 
setzgebung nicht unter den § 51 fällt, aber man hat auf be- 
stimmte psychiatrische Punkte in Zukunft zu achten“. So ist 
mir z.B. ein Männ zur Begutachtung gekommen, der von 
einem anderen Arzt für melancholisch erklärt war. Ich unter- 
suchte die Sache und fand, daß der Mann deprimiert war, 
daß sich aber die Depression nicht bis zu der Zeit seines Ver- 
gehens zurückdatieren ließ, so daß man ihn nicht unter den 
Schutz des $ 51 stellen konnte. Der Mann würde dann wohl 
nach wieder eingetretener Verhandlungsfähigkeit verurteilt 
worden sein. Ich habe damals geschrieben, daß nach meiner 
Meinung der Mann z. Z. der Handlung nicht geisteskrank war. 


= BT a 


Ich riet aber dabei, wenn die Sache zur Verhandlung käme, 
unter allen Umständen von einer Freiheitsstrafe abzusehen, 
weil ich überzeugt sei, daß er in diesem Falle Selbstmord be- 
gehen würde. Ich habe später erfahren, daß er zu einer Geld- 
strafe verurteilt worden ist. Da der Fall mich interessierte, 
habe ich bei dem Bürgermeister des Ortes angefragt, wie es 
gegangen sei. Derselbe schrieb mir: Von dem Moment an, 
als der Mann zu einer Geldstrafe verurteilt worden war, sei 
es immer besser mit ihm gegangen und jetzt sei er ganz 
munter und gesund. Wenn ich mir in diesem Fall vielleicht 
eine Gebietsüberschreitung erlaubt habe, so meine ich doch, 
damit richtig gehandelt zu haben. j 


Was von den gutachtlichen Bemerkungen über die Art 
der Strafe und den eventuellen Strafvollzug gilt, stimmt auch 
für andere Sachen, so z. B. in Vormundschaftsangelegenheiten. 
Es gibt Fälle, in denen man von vornherein sagen muß: es 
ist psychiatrisch“ völlig unrichtig, eine bestimmte Person zum 
Vormund zu machen, weil man mit an Gewißheit grenzender 
Wahrscheinlichkeit sie als ungeeignet zur Vertretung des 
Kranken bezeichnen kann. Man möge in diesen Dingen ein 
gewisses Entgegenkommen in Bezug auf unsere Vorschläge 
walten lassen. 


Ich verlange also, daß der Mediziner dem Juristen seine 
Fragen nach Möglichkeit bestimmt beantwortet, soweit sie 
zu seiner Aufgabe gehören. Andererseits ist es zweckmäßig, 
wenn man in dieser Weise auch einmal über das Bereich der 
gestellten Frage hinausgeht, und auf Grund der gesamten 
Untersuchung sagt, wie nach der oder jener Seite die Sache 
liegt. 

Was den dritten Punkt der Bewertung des Gut- 
achtens betrifft, so stene ich auf dem Standpunkt, der 
Wert des Gutachtens sollin dem Gutachten selbst 
liegen. Seine ganze Art und Weise soll so sein, daß ein 
unbefangener Jurist, der mit einigen psychologischen und 
psychiatrischen Begriffen an die Sache herangeht, es als über- 
zeugend anerkennen kann. Ich meine, wie ich es auch litera- 
risch schon ausgesprochen habe, daß die Juristen ganz 


au BO 


frei entscheiden sollen. Aber andererseits hat der Jurist 
auch die moralische Verpflichtung, auf das Gutachten und 
seine Gründe sorgfältig. einzugehen. Er darf nicht ad libitum, 
weil ihm das Gutachten momentan nicht paßt, es ablehnen, 
sondern soll es nach seinen inneren Verhältnissen anerkennen 
oder zurückweisen. 


Ich muß sagen, daß in den letzten Jahren in Hessen nur 
außerordentlich wenige Fälle vorkamen, in denen Streitigkeiten 
entstanden sind. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist 
‘das nicht eingetreten, und ich halte das entschieden für einen 
gesunden Zustand. Ich meine, man soll das Gutachten 
‚von vornherein methodisch fundamentieren und soll 
die Ergebnisse der Untersuchung so formulieren, daß der Jurist 
auf dem Gebiet, auf dem sich seine Fragen bewegen, einen 
klaren Einblick erhält. Nieh# in einer dogmatischen Autorität 
der ärztlichen Gutachten, sondern in ihrer methodischen 
Beweisführung sehe ich die beste Gewähr für eine prak- 
tische Verständigung zwischen. psychiatrischer und juristischer 
Auffassung. | 


Nun fragt es sich, wie weit der Jurist auf psychiatrischem 
Gebiet orientiert sein soll. Die Frage des psychiatrischen 
Unterrichts hat uns schon das vorige Mal beschäftigt. Wir 
haben einen Antrag an das Ministerium formuliert, und das 
Ministerium hat ihn an die juristische Fakultät zur Bericht- 
erstattung gegeben. Wir halten: die Sache für praktisch 
notwendig, aber da kommen dann die formalen Bedenken; 
man scheut sich, irgend etwas obligatorisch zu machen, was 
es bis jetzt nicht gewesen ist. Ich glaube aber, man wird 
doch innerhalb weniger Jahrzehnte dahin kommen und sich 
sagen müssen, daß der Jurist bestimmte Materien gehört haben 
muß. Ich bin dabei nicht der Meinung, daß der Jurist in 
Psychiatrie geprüft werden soll. Wir haben in dem medizini- 
schen Studium ähnliche Fälle, daß in einer Materie nicht ge- 
prüft wird, daß sie aber doch gehört werden muß. Ich glaube, 
daß wir mit unserem Antrag immer wieder kommen müssen, 
bis er schließlich durchgeht, und wir dürfen uns durch den 
momentanen Abfall, den wir erlebt haben, nicht irre machen 


— 59 — 


lassen. Es wird noch dazu kommen, daß gewisse 
psychiatrische Kenntnisse von den Juristen als 
obligatorisch verlangt werden. Unterdessen hat das 
Großh. Ministerium in dem Erlaß über die Vorbildung der 
Juristen sehr deutlich auf die Notwendigkeit der psy- 
chiatrischen Kenntnisse für die Juristen hingewiesen. Wir 
müssen für diesen Hinweis von unserem Standpunkt sehr dank- 
bar sein. 


Man könnte sagen: In Gießen ist eine obligatorische Einfüh- 
“rung nicht notwendig, weil die Juristen das Fach ohnehin hören- 
Die Sache hat sich so entwickelt, daß tatsächlich eine große Menge 
Juristen Psychiatrie hören. Ich habe mir die größte Mühe ges 
geben, hieraus eine Tradition zu bilden. Aber ob ich im Stande sein 
würde, bei der Belastung, unter der ich fortwährend leide, dies 
Kolleg für Juristen auf die Dauer zu halten, wenn Herr Privat- 
dozent Dannemann, dem ich dasselbe übergeben habe, fehlte, 
erscheint mir zweifelhaft. Es wäre wünschenswert, daß unter 
diesen Umständen eine Sicherheit gegeben würde, daß die 
forensische Psychiatrie Gegenstand des Unterrichts bleibt, und 
zwar nicht bloß in der Weise, daß jedesmal von dem Professor 
der Psychiatrie verlangt wird, daß er diesen Teil des Faches 
mit vertritt; denn das erfordert außerordentlich zeitraubende 
Vorbereitung. Man wird bestrebt sein müssen, den jetzt be- 
stehenden Zustand zu konsolidieren, wie es von mir schon be- 
antragt worden ist. 


Davon abgesehen, wird gerade die Berührung zwischen 
Juristen und Medizinern in unserer Gesellschaft viel dazu bei- 
tragen, um gegenseitige Kenntnisse zu verbreiten. Die Ärzte 
werden die juristische Fragestellung immermehr verstehen lernen, 
und die Juristen werden sich immermehr auf psychiatrischem 
Gebiete einarbeiten. 


Auch kann man an einen Unterricht der schon in der 
Praxis befindlichen Juristen und Ärzte denken. Ich habe 
schon die nötigen Vorbereitungen getroffen. Sie werden sich 
erinnern, daß ich bei der vorigen Versammlung in Hofheim 
im November 1905 von dem Kurs der medizinischen Psycho- 


=, b 


logie in Gießen gesprochen habe. Ich habe damals schon 
gesagt, daß auch das juristische Gebiet dabei gestreift werden 
solle. Unterdessen ist der Plan mit großem Erfolg ausgeführt 
worden. Wir haben beispielsweise auch die Gesetzgebung über 
die Fürsorgeerziehung dabei berücksichtigt. 


Im Anschluß an diesen Versuch, der sehr gut abgelaufen 
ist, hat sich der Plan entwickelt, eine analoge Veranstal- 
tung für das Gebiet der forensischen Psychologie 
und Psychiatrie im allgemeinen zu treffen, schon im 
nächsten Frühjahr. Herr Kollege Mittermaier und ich 
haben mit den Vorbereitungen schon begonnen. Wir werden 
den Plan wahrscheinlich wieder in Form eines eine Woche 
dauernden Kursus ausführen. Ich möchte schon jetzt die Ver- 
treter der Behörde bitten, daB sie uns unterstützen. Das ganze 
Programm wird den Mitgliedern der Vereinigung bekannt ge- 
macht werden. Der Zweck der Veranstaltung ist der, daß die 
beiden Auffassungen forensischer Fragen, einerseits die juristi- 
sche, andererseits die medizinisch-psychiatrische, sich gegen- 
seitig näher treten. 


Dann käme ich zu dem vierten Punkt, den sogenannten 
Äußerlichkeiten. 


Es handelt sich in erster Linie um die äußere Stellung 
des Sachverständigen. Herr Oberstaatsanwalt Theobald 
hat das größtenteils schon dargestellt. Ich erwähne nur fol- 
gendes: Man muß den psychiatrisch-medizinischen Sachver- 
ständigen in die Lage setzen, daß er die Zeugenaussagsn richtig 
nachschreiben, und sein Gutachten dadurch richtig vorbereiten 
kann. Es empfiehlt sich, für diesen Zweck einen besonderen 
Tisch mit Schreibmaterial etc. zur Verfügung zu stellen. 


Dann kommt in Betracht das Vorbringen von Gut- 
achten in Gegenwart des Angeklagten, sowie die Mit- 
teilung von Gutachten im Entmündigungsverfahren an die zu 
Entmündigenden; das sind Punkte, die sich nicht so rasch er- 
ledigen lassen; ich möchte sie nur berühren, um sie vielleicht 
einer späteren Besprechung zu überlassen. Es ist im höchsten 
Grade peinlich, wenn man in Gegenwart dessen, um den es 


25 Bi a 


sich handelt, alle möglichen Dinge über ihn vorbringen soll. 
Ähnliches gilt von der Behandlung von Simulationsfragen. 
Die Strafprozeßordnung verlangt, daß alles in Gegenwart der 
Beteiligten geschieht, aber für den Arzt ist es sehr peinlich. 
Wir können ja die Reichsgesetze nicht ändern, aber es war 
notwendig, die Sache einmal in diesem Kreise vorzubringen. 
Vielleicht findet sich doch ein Weg, um diese Unannehnlich- 
keiten zu vermeiden. 

Weiter wäre unter den Äußerlichkeiten zu erwähnen die 
Frage der Gebühren, die ebenfalls schon dargestellt worden 
ist, so daß ich nur kurz sagen möchte: Die psychiatrische 
Untersuchung erfordert, wenn sie gründlich sein will, ein 
großes Maß von Arbeit, und dies sollte bei der Honorierung 
berücksichtigt werden. 


4. Herr Landgerichtsdirektor Bücking: 


M.H.! Ich habe nur ein kurzes Referat über den Unterschied 
zwischen Sachverständigen und sachverständigen Zeugen. Mit 
den sachverständigen Zeugen befaßt sich ein einziger Paragraph 
der Strafprozeßordnung, $ 85, der konform ist dem $ 414 der Zivil- 
prozeßordnung. Er besagt: „Insoweit zum Beweis vergangener 
Tatsachen oder Zustände, zu deren Wahrnehmung eine be- 
sondere Sachkunde erforderlich war, sachkundige Personen zu 
vernehmen sind, kommen die Vorschriften über den Zeugen- 
beweis zur Anwendung.“ Damit ist der Charakter des sach- 
verständigen Zeugen klargestellt: er ist Zeuge, reines Beweis- 
mittel. Herr Prof. Mittermaier hat im Eingang seines Vor- 
trags die Streitfrage aufgeworfen, ob der Sachverständige als 
Beweismittel oder als Richtergehilfe anzusehen sei. Diese 
Frage kann bei dem sachverständigen Zeugen nicht in Betracht 
kommen. Wir Praktiker messen übrigens dieser rein theore- 
tischen Unterscheidung eine besondere Bedeutung nicht bei. 
Wir sind ja formell an die Aussage des Sachverständigen 
unter keinen Umständen gebunden. Sehen wir ihn als Beweis- 
mittel an, so unterliegt seine Aussage der freien richterlichen 
Beweiswürdigung, betrachten wir ihn dagegen als Richter- 
gehilfen, so kann sein Gutachten doch immer nur als Vor- 
schlag für unser Urteil angesehen werden, den wir nicht an- 


— 62 — 


zunehmen brauchen. Die Hauptsache bleibt immer, daß der 
Sachverständige sich Autorität verschafft dem Gericht gegen- 
über durch den materiellen Inhalt seiner Ausführungen, daß 
er -durch diesen das Gericht von der Richtigkeit seines Gut- 
'achtens überzeugt. Ich freue mich, daß’dies auch von der Sach- 
verständigen-Seite durch Herrn Professor Sommer anerkannt 
worden ist. Die Prozeßordnungen tragen ja den beiden Ge- 
sichtspunkten Rechnung. In dem Abschnitt über die Sachver- 
ständigen ist einerseits Bezug genommen auf die Vorschriften 
über die Ablehnung von Richtern, was darauf schließen läßt, 
daß das ‚Gesetz in dem Sachverständigen einen Richtergehilfen 
sieht, andererseits ist gesagt, daß die Bestimmungen über die 
Zeugnisverweigerung Anwendung finden. Es gibt eine Reihe 
von Fällen, in denen man nicht zweifelhaft sein kann, daß der 
Sachverständige Richtergehilfe ist. Das trifft z. B. zu in dem 
Falle des § 654 Z. P. O., in welchem der Sachverständige den 
Richter zunächst nur bei der Vernehmung des zu Entmündı- 
genden durch geeignete Fragestellung unterstützt, ein Gut- 
achten aber noch gar nicht anschließt, auch überhaupt nicht 
anzuschließen braucht. Im Gegensatz dazu kommt einem Kauf- 
‘mann, der als Sachverständiger über das Vorhandensein von 
Handelsgebräuchen vernommen wird, die er bei Ausübung 
seines Berufs wahrgenommen hat, wohl die Eigenschaft eines 
reinen 'Beweismittels zu. 

= Wie bereits hervorgehoben, hat die beregte Streitfrage 
aber überhaupt auszuscheiden bei dem sachverständigen Zeugen, 
dem lediglich der Charakter eines Beweismittels beigelegt wird. 
Der sachverständige Zeuge gibt Auskunft über Tatsachen, 
deren Wahrnehmung eine besondere Sachkunde erfordert; er 
ist also Zeuge, und unterscheidet sich von den gewöhn- 
lichen Zeugen dadurch, daß er ‘Wahrnehmungen widergibt, 
die ein Mensch mittels seiner allgemeinen Bildung und der 
ihm zu Gebote stehenden allgemeinen Erfahrungssätze allein 
nicht machen konnte, sondern zu .denen eine besondere Sach- 
kenntnis gehörte. Er hat insbesondere aber mit dem gewöhn- 
lichen Zeugen das gemeinsam, daß er sich über, der Ver- 
gangenheit angehörige, vorprozessuale Tatsachen äußert, und 
lediglich die Unterlagen liefert für ein Urteil, das von einem 


— 63 — 


anderen abgegeben ist. Er hat daher nicht, wenn er auch in- 
folge seiner Sachkunde dazu befähigt ist, aus dem, was er 
wahrgenommen hat, bezüglich der streitigen Frage gutacht- 
liche Schlüsse zu ziehen. Hierdurch unterscheidet er sich -von 
dem Sachverständigen, dessen Aufgabe gerade hierin :be- 
steht. Seine Sachkunde kann der Sachverständige allerdings 
in doppelter Weise dem Gericht zur Verfügung stellen. Er 
kann rein wissenschaftliche Ausführungen machen und dem 
Gericht deren Anwendung auf den konkreten Fall überlassen, 
er kann aber auch — und das wird in den meisten Fällen 
von seiten des Gerichts verlangt werden — seine Sachkunde 
in Verbindung bringen mit dem Tatsachenmaterial und eine 
förmliche gutachtliche Äußerung über letzteres abgeben. Wenn 
ich auf dem medizinischen Gebiet Beispiele anführen soll, so 
ist sachverständiger Zeuge der Arzt, der einen Kranken be- 
handelt hat und im Laufe des Prozesses lediglich Angaben 
über die Krankheitserscheinungen macht, die er mittels 
der ihm zu Gebote stehenden Sachkunde wahrgenommen, oder 
der Psychiater, der in seiner Anstalt zunächst ohne Rücksicht 
auf ein demnächst zu erstattendes Gutachten einen Patienten 
beobachtet, untersucht und sachgemäß befragt hat, und nun- 
mehr vor Gericht seine Wahrnehmungen bekundet, ohne sich 
über Vorliegen, Art und Bedeutung einer Erkrankung, ihre Ur- 
sachen und Folgen zu äußern. Oft wird es übrigens angezeigt 
sein, sich bei den sachverständigen Zeugen nicht nur mit der 
Wiedergabe ihrer Wahrnehmungen zu begnügen, sondern ihnen 
auch die technische Schlußfolgerung daraus zu übertragen, zu 
der sie mit Rücksicht auf die Unmittelbarkeit ihrer Beobaclı- 
tungen besonders qualifiziert erscheinen; damit aber vereinigen 
sie in ihrer Person eine doppelte Rolle: sie sind Zeugen und 
Sachverständige. Das ist insbesondere von großer Wichtig- 
keit für die Frage der Beeidigung und der Gebühren. Der 
sachverständige Zeuge leistet, wie der gewöhnliche Zeuge, nur 
den Zeugeneid, während bei Hinzufügung eines Gutachtens 
noch der Sachverständigeneid erforderlich wird. Oft ist es 
zweifelhaft, auf welchem Gebiete sich eine Frage bewegt. Die 
Praxis neigt deshalb zur Abnahme des Doppeleides, zumal 
nach der Rechtssprechung der Zeugeneid den Sachverständigen- 


— 64 — 


eid nicht deckt. Umgekehrt braucht der Experte Depositionen 
über Wahrnehmungen, die er nach seiner Bestellung, wenn 
auch vor seiner Beeidigung, zum Zwecke der Erstattung seines 
Gutachtens gemacht hat, neben dem Sachverständigeneid nicht 
mit besonderem Zeugeneid zu bekräftigen. Das eidliche Ver- 
sprechen, das Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen 
zu erstatten, ist auch, auf die Angaben des Experten über den 
bei der Untersuchung ermittelten Befund zu beziehen (cf. Ent- 
scheidung des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. Il, S. 157). 


Es soll dies sogar für Angaben gelten, welche ein Ange- 
klagter dem Gerichtsarzt über die Begehung der Tat gemacht 
hat (cf. Entscheidung des Reichsgerichts v. 18. 9. 05 u. Hess, 
Rechtsspr. VI, S. 173). Doch dürfte in solch zweifelhaftem 
Fall immerhin die Abnahme des Doppeleides zu empfehlen 
sein. | 

Von Wichtigkeit ist die Frage, ob Sachverständiger oder 
sachverständiger Zeuge, auch für die Bemessung der Gebühren, 
die, für Sachverständige höher sind, als für Zeugen. Ich 
habe es in der Praxis wiederholt erlebt, daß Ärzte, welche 
lediglich als Zeugen beeidigt worden waren, die Beantwortung 
von Fragen ablehnten, die ihrer Ansicht nach auf dem Gebiete 
der Sachverständigen- Bekundung lagen, so lange sie nicht als 
Sachverständige beeidigt worden seien, wohl mit Rücksicht da- 
rauf, daß sie fürchteten, andernfalls nur die Gebühren als 
Zeugen zu bekommen. In dieser Beziehung kommt es jedoch 
nach der Rechtsprechung auf die Form der Beeidigung nicht 
an, sondern es ist der materielle Inhalt der Aussage maß- 
gebend. In einem Spezialfall hatte ein Psychiater, nachdem er 
lange als sachverständiger Zeuge vernommen worden war, zum 
Schluß auf eine Frage des Gerichts bekundet, er habe den 
Eindruck gehabt, daß der Patient nervenkrank sei. Es wurde 
ihm mit Rücksicht auf die Art seiner Beeidigung nur die 
Zeugengebühr angewiesen, auf seine Beschwerde hin aber die 
Expertengebühr zuerkannt, weil seine Schlußdeposition materiell 
ein sachverständiges Gutachten enthalte. 


Der Unterschied zwischen Sachverständigem und sachver- 
ständigem Zeugen ist endlich noch von Wichtigkeit für die 


Frage der Verpflichtung zu gerichtlicher Aussage. In dieser 
Beziehung steht der Sachverständige gleichfalls besser, .als der 
sachverständige Zeuge, denn er hat neben den Gründen, welche 
einen Zeugen berechtigen, das Zeugnis zu verweigern, zu seinem 
Schutze noch den $ 75 St.P.O., $ 407 C.P.O. Er braucht 
das Gutachten nur dann zu erstatten, wenn die Kunst, die 
Wissenschaft oder das Gewerbe, deren Kenntnis Voraussetzung 
der Begutachtung ist, zum Erwerb öffentlich ausübt, während 
auf die sachverständigen Zeugen dieser Paragraph keine An- 
wendung findet. Hat sich beispielsweise ein Arzt von seiner 
Praxis zurückgezogen, in einem Spezialfall aber doch noch 
einmal Hülfe geleistet, so wird er als sachverständiger Zeuge 
demnächst über seine Wahrnehmungen deponieren müssen, 
während er die Erstattung eines Gutachtens auf Grund von 
§ 407 C.P.O., § 75 St.P.O. ablehnen kann. 


Vom Gerichte kann der sachverständige Zeuge nicht zu- 
tückgewiesen werden, während dasselbe in der Auswahl der 
Sachverständigen grundsätzlich nicht beschränkt ist. Der Herr 
Oberstaatsanwalt hat schon ausgeführt, iawieweit dieser letztere 
Grundsatz durch andere Bestimmungen durchbrochen ist. Für 
den sachverständigen Zeugen besteht er überhaupt nicht. Der 
sachverständige Zeuge kann nicht zurückgewiesen werden, denn 
er ist Zeuge; nur muß dem Gericht auch hier die Befugnis zu- 
gesprochen werden, die der Herr Öberstaatsanwalt auch für 
die Feststellung der Qualifikation eines Experten in Anspruch 
genommen hat, in geeigneter Weise eventuell unter Zuziehung 
anderer Sachverständiger zu prüfen, ob die Wahrnehmungen 
des angeblich sachverständigen Zeugen Anspruch auf Bedeu- 
tung machen können, ob insbesondere der wahrnehmenden 
Persönlichkeit die nötige Sachkunde innegewohnt hat. 


Nur kurz berühren will ich noch zum Schlusse die Frage 
des Berufsgeheimnisses. Bei dem medizinischen Sachverständigen 
wird sie selten eine Rolle spielen, denn wer sich von ihm 
zwecks Erstattung eines Gutachtens untersuchen läßt, willigt 
damit auch in die Wiedergabe des Befundes ein; dagegen kann 
ein Arzt über die frühere Behandlung eines Kranken, über 
welche er als sachverständiger Zeuge vernommen werden soll; 


9 


ui; GO. 


oft Aussage nicht machen, ohne vorher der Verpflichtung zur 
Verschwiegenheit entbunden worden zu sein. Solche frühere 
Tätigkeit kann ihn allerdings auch an der Erstattung eines 
sachverständigen Gutachtens behindern. 

Das sind im wesentlichen die Unterschiede zwischen dem 
Sachverständigen und dem sachverständigen Zeugen, wenn auch 
eine erschöpfende Behandlung mit Rücksicht auf die vorge- 
rückte Zeit ausgeschlossen war. 


Asynemann’sche Buchdr., Gebr. Wolff, Halle (8. ) 





Kriminalpsychologische 


Tatbestandsforschung. 


Von 


Dr. jur. Alfred Gross 


in Prag. 


Mit 7 Tabellen. 


Alle Rechte vorbehalten. 





Halle a. N. 
Verlag von Carl Marhold 


1907. 


Juristisch-psychiatrische 
Grenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 


Prof. Dr. jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B. 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lublinitz i. Schles. 


V. Band, Heft 7. 


Diese Blätter sind 


Herrn Hofrat Prof. Dr. Horaz Krasnopolski 


in treuer Dankbarkeit 


zugeeignet. 


I. Einleitung. 

Die auf der Verwertung eines einfachen Assoziations- 
experimentes beruhende psychologische Diagnose des 
Tatbestandes hat sich in kurzer Zeit, in der angewandten 
Psychologie ebenso wie in der Kriminalistik, einen nennens- 
werten Platz erworben. Entgegen den ersten Arbeiten, 
welche zunächst auf eine prinzipielle Erfassung des 
Problems hinausliefen und die präjudizielle Vorfrage zu be- 
antworten berufen waren, inwiefern überhaupt an eine 
Möglichkeit zu denken sei, aus dem in den Reaktionen 
deklarierten Assoziationsverlaufe auf das Vorhandensein 
gewisser Tatbestände direkt zu diagnostizieren, wurde 
in den neueren Untersuchungen auf eine exakte Forschung 
und Verwertung jener Momente hingearbeitet, von welchen 
wir nach jenen Vorarbeiten annahmen, dass ihnen für 
Existenz oder Nichtexistenz der uns interessierenden 
Komplexe symptomatische Bedeutung zukomme. 

Wie früher wurde auch hier in erster Linie auf die 
Bewertung der Reaktionsworte, sowohl nach ihrer rein 
inhaltlichen, als auch materiell-qualitativen Beschaffenheit 
hingearbeitet, daneben bildeten die übrigenKomplexmerk- 
male, als Reaktionszeit, Perseverationstendenz der Vor- 
stellungen und Reproduktion den Gegenstand eingehender 
Forschung. 

In diesem Sinne stellte der Verfasser im verflossenen 
Studienjahre an der Wiener Universität im Rahmen 
kriminalpsychologischer Übungen gemeinsam mit Herrn Prof. 
A. Löffler, für dessen die Sache ungemein fördernde Unter- 
stützung auch an diesem Orte inniger Dank zum Ausdrucke 
gebracht sei, diesbezügliche Untersuchungen an, welche, 
wie schon hier bemerkt sei, höchst erfreuliche Resultate 





a, ii s 


lieferten. Neben eingehender Prüfung aller uns bisher be- 
kannten Komplexmerkmale, wurde nicht unterlassen, den 
von den Vp. abgegebenen Selbstbeobachtungsproto- 
kollen, welche einen nicht zu unterschätzenden Kommentar 
für die in den Reaktionen zum Ausdrucke gelangten 
Assoziationen zu bieten imstande sind, gehörige Berück- 
sichtigung zu schenken. | 


Da sich an unseren Übungen auch eine Reihe von 
Praktikern beteiligte, konnte neben der rein theoretischen, 
auch die praktisch forense Richtung der Methode zur Er- 
örterung gelangen und hatten wir gerade unseren Prak- 
tikern manch guten Wink zu verdanken. Der bei den 
Wiener Experimenten eingeschlagene Vorgang entspricht 
im Allgemeinen dem meiner Prager Versuche; wie hier 
wurden auch dort, da nur reine Laboratoriumsversuche in 
Betracht kamen, künstliche Tatbestände als Grundlage ver- 
wendet, wobei wir stets bestrebt waren, bei den „schuldigen“ 
Vp. neben der Kenntnis des Taatbestandes möglichst starken 
Gefühlston künstlich hervorzubringen. 


Dem einzelnen Versuche ging stets eine kurze Ein- 
übung mittels „freier Assoziationen“ voraus, die mit Rück- 
sicht darauf, dass wir es ausnahmslos mit Studenten zu 
tun hatten, keinerlei Schwierigkeit .bot; nach etwa zehn 
Probereaktionen konnte stets auf das Experiment selbst 
eingegangen werden. 

Um allen Seminarbeteiligten die Möglichkeit zu bieten, 
sich ohne jede Beeinflussung von Seite des Beobachters, 
darüber zu äussern, wer nach ihrer Ansicht „unschuldig“ 
und wer der „Schuldige“ sei, wurde der Vorgang beobachtet, 
dass diese „Jury“ ihr Votum zuerst abgab und der Ex- 
perimentator als letzter seine Diagnose stellte. Auf diesem 
Wege wollten wir uns Kenntnis darüber verschaffen, ob 
es denn wirklich zur Beantwortung der Frage nach dem 
Vorliegen des Tatbestandes einer besonderen psychoanaly- 
tischen Begabung bedürfe, oder ob es nicht möglich sei, 
derartig offenkundige, gewissermassen in die Augen 
springende Resultate zu erzielen, dass dieselben jeden 
in die Lage versetzen, daraufhin die Frage, wer von dem 


Za 7 e 


gesuchten Tatbestande Kenntnis habe, direkt zu beantworten, 
ohne dass er erst in der Seele des Inquisiten zu lesen 
genötigt wäre. 

Zur näheren Darstellung gelangt im Folgenden ein 
Lokalversuch, in welchem als Versuchsobjekt Herrn Pro- 
fessor Löfflers Arbeitszimmer diente!). Aufgabe des 
Experimentators war es, zu finden, wer von drei Versuchs- 
personen, von den in diesem Lokale befindlichen Gegen- 
ständen, sei es durch eigene Wahrnehmung, sei es durch 
Mitteilung, Kenntnis besitze. 

Die einzelnen Objekte wurden Vp. nicht besonders 
gezeigt oder gar eingeschärit; überhaupt wurde bei der 
Besichtigung keinerlei Einfluss genommen, nur über 
besonderes Befragen der Vp. bereitwillig Auskunft erteilt. 


ll. Der Tatbestand. 


Das fragliche Lokal wies folgende Einzelheiten auf: 

1. Vom Fenster aus Aussicht auf einen Garten mit 
Baumallee, auf diesen Teilinhalt haben die Reizworte 5-8 
(Tabelle I) Bezug. 

2. Auf einem braun polierten Schreibtische befinden sich 
zwei Briefbeschwerer, von denen der eine ein Stein- 
salzwürfel ist, während der andere ein Stück 
Tramwayschiene darstellt; weiters eine Photo- 
graphie (mit dem Bildnis von Frau Prof. L.) sowie eine 
Briefwage, auf welcher zur Zeit der Besichtigung des 
Zimmers zufällig ein an S. Magnifiz. den gegenwärtigen 
Rektor der Universität Czernowitz, Herrn Prof. Eugen 
Ehrlich adressierter Brief lag; diesem Teilkomplexe 
entsprechen die Reizworte 18—27. 

3. An Bildern zeigt das Zimmer u. a. zwei Böcklin 
(„Sommertage* und „badende Knaben“ darstellend), 
sowie zwei Dürerbilder, von denen das eine Dürers 


Selbstporträt ist, während das andere den Bürger- 


meister Holzschuher von Nürnberg wiedergibt; auf 
diese Bilder haben die Assoziationen 19—388 Bezug. 


1) Von zwei anderen Versuchen berichtet Löffler selbst in 
Aschaffenburg’s Monatsschrift 1906 S. 449 ff. 


ar 8 — 


4. Ein rot gestrichener Rauchtisch mit Zigarrenbehälter 
und einem als Selbstanzünder fungierenden Spiritus- 
brenner erscheinen in den Reizworten 45—49 verwertet. 

5. Um mit dem visuellen Eindrucke auch einen Vorgang 
zu verbinden und auf diese Weise bei der Vp. einen 
stärkeren Gefühlston hervorzubringen, sollte ihr auf- 
getragen werden, im Zimmer nach einer bestimmten 
Brieftasche zu suchen; dieselbe befand sich in einem 
Bücherschrank und um zu ihr zu gelangen, musste Vp. 
einen Werkzeugkasten entfernen. Diese Brieftasche 
sollte der „schuldigen“ Vp. beim Experiment als „Legi- 
timation“ für ihre „Schuld“ dienen. Um die Vp. in 
Verlegenheit zu bringen, sollte sie während des Suchens 
von Frau Prof. Löffler plötzlich überrascht werden; 
leider gelang dies nicht vollends, da Frau L. zu spät 
erschien und bei ihrem Eintritte die Brieftasche bereits 
gefunden war; auf den dargestellten Teilinhalt haben 
die Reizworte 58—64 Bezug. 

6. Als weiterer Teilkomplex erscheint R. 67—71; hierbei 
handelt es sich um einen im Zimmer aufgestellten 
Ofenschirm, der gelbe Tulpenblumen zeigt, sowie um 
einen Papierkorb mit gleichem Muster. 

7. Auf einem kleinen Tische liegt die Theresiana; aufge- 
schlagen sind „zufällig“ Abbildungen von Folterwerk- 
zeugen und Tortur; dieser Komplex erscheint in 
R. 73—78 wiedergegeben. 

8. Als letzter Teilinhalt fungiert R. 81 ff., welcher sich auf 
eineim Zimmer befindliche kleinefranzösische Bronze, 
die „Arbeit“ darstellend, bezieht. 


Als Vp. dienten Herr Hugo Jeremias Sp., 20 Jahre 
alt, Herr Robert St., 22 Jahre alt und Herr Viktor O., 
23 ‚Jahre alt, sämtlich Hörer der Rechte, als Teilnehmer an 
unseren kriminalpsychologischen Übungen genaue Kenner 
der Assoziationsmethode. 


Herr Prof. Löffler fungierte bei diesem Experimente 
als Zeitnehmer, der Schreiber dieses als Beobachter. Die 
Reaktionszeit wurde, wie in Prag mittels der Fünftel- 
sekundenuhr gemessen und jeder Vp. eingeschärft, mög- 


lichst rasch und sinnvoll zu reagieren und im Falle der 
„Schuld“ nach Möglichkeit „Unkenntnis“ zu simulieren. 

Nach Abgabe aller Reaktionen wurde das von Jung 
begründete sogenannte Reproduktionsverfahren an- 
gewendet, welchesbekanntlich darin besteht, dass Vp. befragt 
wird, womit sie auf jedes einzelne Reizwort reagiert hat2). 

Leider wurden falsche Reproduktionen, d. h. solche, 
bei denen Vp. ein von der früher abgegebenen Reaktion 
verschiedenes Wort brachte, nur zum Teildem Wort- 
laute nach protokolliert, während in den übrigen Fällen die 
Tatsache, dass die Reproduktion anders ausfiel, als die 
frühere Reaktion, vermittels des Vermerkes „unrichtig“ 
registriert wurde. Dieser Ausdruck bedeutet daher auch, 
insofern erin der beigegebenen Tabelle erscheint, die mangel- 
hafte Reproduktion, während „Fehler“ den gänzlichen 
Ausfall der Reproduktion besagt, sei es, dass hier Vp. 
faktisch nichts einfiel, oder dass sie aus Vorsicht, um sich 
nicht zu verraten, die Reproduktion verweigerte. 

Die beigegebene Tabelle I enthält eine ausführliche 
Darstellung des Versuches. 


Il. Versuchsergebnisse. 


1. H. stud. jur. Sp. 

Während die ersten vier Assoziationen irrelevant sind 
und nichts Auffälliges zeigen, wird durch den Zuruf grün 
(Ass. 5) der erste Teilinhalt angeregt und durch die zwei 
unmittelbar folgenden Reizworte (Fenster- Allee) wieder- 
holt angeschnitten; wiewohl auch hier die Assoziationen 
als ganz harmlos erscheinen, ist es verdächtig, dass bei 
Assoziation 6 (Fenster-Türe) die richtige Reproduktion aus- 
bleibt und dass dasselbe auch bei den folgenden Reaktionen 
der Fall ist. | 


2) Dieses Reproduktionsverfahren ist nicht zu verwechseln mit der 
von Wertheimer eingeführten Reproduktionsmethode (vergl. dessen 
Abh. „Tatbestandsdiagnostische Reproduktionsversuche‘“ in Hans Gross 
Archiv für Kriminalanthrop. 1906), für welche ich, um allen Ver- 
wechslungen vorzubeugen, die Bezeichnung „Erzählungsmethode“ in 
Vorschlag bringe. 


=. TO e 


Mit dem zugerufenen Reizworte Steinsalz ist der zweite 
Teilinhalt ziemlich stark angeschnitten. Vp. gelingt es, 
eine inhaltlich unauffällige Reaktion bei kurzer Reaktions- 
zeit aufzubringen, dagegen misslingt ihr auch hier wieder 
die Reproduktion, indem sie zwar gleich zwei Worte bringt, 
von denen aber weder das eine, noch das andere die richtige 
Reaktion ist; teilweise unrichtig reproduziert ist auch die 
Assoz. „Schiene-Bahn‘“ (14). 


Als direkt komplexverräterisch muss die Reaktion 
„Beschwerer‘“ auf das Reizwort ‚Brief‘ bezeichnet werden; 
mögen zwar Reaktionen in Form von Wortzusammen- 
setzungen nichts Aussergewöhnliches, ja für gewisse 
Personengruppen gradezu typisch sein, so muss doch die 
hier gewählte Assoziation als höchst verdächtig be- 
zeichnet werden und dürfte seine Beziehung zum Tatbestande 
kaum in Frage stehen; kein Wunder, wenn unter diesen 
Umständen auch die richtige Reproduktion ausbleibt. 
Auf die gleiche Ursache ist aller Wahrscheinlichkeit 
nach auch die unrichtige Reproduktion bei der bald darauf 
folgenden Ass. „beschweren-weinen“ zurückzuführen. Die 
einmal aufgetauchte und nunmehr perseverierende Vor- 
stellung „Briefbeschwerer“ kann Vp. nicht mehr los werden; 
unter dem Einflusse dieser Komplexkonstellation reagiert 
sie auf „Briefwage“ genau so wie bei Ass. 15 — mit 
„Beschwerer“ — eine Reaktion, die ohne die vorangeführte 
Komplexkonstellation ganz unmöglich wäre — und braucht 
hierzu noch eine Reaktionszeit von 6,2 Sek.! — dass hier 
auch die richtige Reproduktion ausbleibt ist nur natürlich). 

Die nachfolgenden, auf die im Zimmer befindlichen 
Bilder Bezug habenden Reizworte haben, wenn wir von 


3) Interessant war das Mienenspiel, mit welchem Vp. diese Assoz. 
begleitete und in dem sich deutlich affektive Erregung ausprägle. 
Während sich Vp. bei Assoz. (19) „Briefwage-Beschwerer‘ in ihrer 
Verlegenheit, auf den unangenehmen Zuruf rasch eine harmlose 
Reaktion zu finden, die Lippen biss, lachte sie später, als sie die 
richtige Reproduktion nicht fand. (Über die Bedeutung des Lachens 
für die Psychoanalyse s. Jung, Diagn. Assoziationsstudien, VIII. Beitr. 
Assoziation, Traum und hysterisches Symptom, Journal f. Psych. u. 
Neur. Bd. 8, 1906. S. 37.) 


a a ce 


zwei falschen Reproduktionen absehen, ziemlich vollständig 
versagt! 

Verdächtig erscheint erst Assoz. (45) „rauchen-nicht‘“ — 
Vp. ist Nichtraucher, was auch, wie später noch aus- 
zuführen sein wird, für das Experiment selbst von Einfluss 
war; Reaktionszeit beträgt, trotzdem es sich um eine 
recht billige Assoziation handelt 1'6 Sek.! Dem mit der 
angeführten Assoz. angeschnittenen Komplexe ist es wohl 
noch zuzuschreiben, wenn Vp. bei Ass. 47 auf „Anzünder“ 
die exorbitante Reaktion ‚Auslöscher‘‘ — bei einer Reaktions- 
zeit von 1'6 Sek. — bringt. Bemerkt sei noch, dass bei 
Ass, 42 eine ganz auffallende und erheblich lange Ver- 
schlechterung der Reproduktion eintritt; nicht weniger als 
sechs Reaktionen sind teils falsch, teils „nach längerem 
Zögern“ wiedergegeben! 

Bemerkenswert ist bei Assoz. 58 „Werkzeug-Utensilien“‘ 
die abnorme Reaktionszeit von 3,0 Sek., wobei daran ge- 
dacht werden muss, dass hier die Reaktion eigentlich 
nichts anderes, als einen anderen Ausdruck für das Reiz- 
wort bringt; verdächtig erscheint auch die mangelhafte 
Reprod. bei Ass. 61 f. 

Klar und ohne Zweifel tritt uns bei Vp. der 7. Teil- 
komplex — das auf einem Tische liegende theresianische 
Strafgesetzbuch — entgegen. Auf Buch folgt die prompte 
Reaktion Tisch; ‚Kaiser-Josef“ enthält eine mittelbar 
komplexe Reaktion, das Mittelglied ist Maria Theresia 
(s. hierüber unten); falsche Reproduktion. 

Unter dem Einfluss der perseverierenden Vorstellung 
steht Assoz. 78 „Kodex-Karolinus“ bei einer Reaktions- 
zeit von 1,4 Sek., sowie die unrichtige Reproduktion 
„Austriacus“; typischist,dassVp.anden ‚Kodex Theresianus“ 
wie festgebannt, nach einem anderen Gesetzestitel sucht 
und so zu dem verdächtigen „Karolinus‘“ und zu dem noch 
exorbitanteren ‚Austriacus“ die Zuflucht nimmt (das 
Nähere hierüber später). 

Dem Einflusse der Komplexkonstellation ist vermutlich 
auch die von da ab eintretende Verlangsamung der 
Reaktionszeit zuzuschreiben. 


12 


2. H. stud. jur. St. 


Im Gegensatze zur ersten Vp. weist diese eine durch- 
schnittlich Jängere Reaktionszeit auf (siehe Tabelle II). 
Dagegen finden sich hier, wenn wir von der den Komplex 
ansprechenden Assoziation „Buch-Strafgesetz‘‘ (73) absehen, 
nicht eine einzige Reaktion, welche auf Komplex- 
konstellation hindeuten würde! 

Auch die Reproduktion zeigt hier ein wesentlich 
günstigeres Bild, indem bei dieser Vp. die richtige 'Er- 
innerung im Ganzen bloss in sieben Fällen versagte. 
Dass es unter diesen Umständen nicht schwer fiel, bei 
dieser Vp. mit voller Überzeugung auf Unkenntnis des 
Tatbestandes zu schliessen braucht nicht erst bemerkt zu 
werden. | 

Des Interesses halber sei hier noch auf Ass. 25 
„Ehe:44°“ verwiesen; mit der hier gewählten Reaktion 
ist der den „Begriff der Ehe“ normierende § 44 des österr. 
allg. bürgerl. Gesetzbuches gemeint, eine Assoz., welche 
uns mit Rücksicht darauf, dass sich Vp. zur Zeit des 
Experimentes im Prüfungsstadium befand, nicht wunder 
nimmt. Damit ist zugleich wieder ein Beleg für die bereits 
von Jung mehrfach beobachtete Tendenz gegeben, dass 
manche Vp. mit Vorliebe ihre Reaktionen dem Stande, 
welchem sie angehören resp. dem von ihnen gewählten 
Berufe entnehmen‘). 


3. H. stud. jur. O. 


Gab die eben angeführte Vp. herzlich wenig Anlass 
zu besonderen Bemerkungen, so trifft das Gegenteil für 
Vp. O. zu. Während die ersten zwölf Assoziationen — 
wenn wir von drei falschen Reproduktionen absehen — 


4) Vgl. Experimentelle Beobachtungen über das Erinnerungs- 
vermögen, im Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, 1905, 
Nr. 196 S. 659 u. das von mir in Z. f. Strafrechtsw. XXVII S. 181 ff auszugs- 
weise referierte Assoziationsexperiment, in welchem eine Vp. auf den 
Zuruf „Mann“ mit „Loch“ reagierte, eine Assoziation, die auf den ersten 
Blick uns als exorbitant erscheinen muss, tatsächlich aber ihre natürliche 
Erklärung darin findet, dass Vp. Maschineningenieur ist uad das 
„Mannloch“ als technischer Ausdruck in der Maschinenlehre dient. 


— 13 — 


nichts Verdächtiges enthalten, erscheint bereits Ass. 13 
„Steinsalz-Ofen“ komplexverdächtig; um zu der an sich 
sinnlosen Reaktion Ofen zu gelangen, braucht Vp. eine 
Reaktionszeit von 1,4 Sek. und weiss sich dann bei der 
Reproduktion nicht an die abgegebene Reaktion zu erinnern. 
Anscheinend sinnlos ist die darauf folgende Assoz. „Schiene- 
Papier“; in der Tat haben wir es mit einer mittelbar 
komplexen Reaktion zu tun, welchein der Vorstellungskette 
(Tramway)schiene-Briefbeschwerer-Papier ihre einfache 
Erklärung findet. Die hier aufgebrauchte Reaktionszeit 
von 1,6 Sek. übersteigt das normale Mittel um ein 
Bedeutendes (s. Tabelle Il), daneben ist auch unrichtige 
Reproduktion zu verzeichnen! Die auf diese Weise angeregte 
Komplexkonstellation hält dauernd an. 


. Hierauf ist zunächst ganz unzweifelhaft die unrichtige 
Reproduktion bei „Brief-Karte“ zurückzuführen; diesem 
Komplexe ist es aber auch zuzuschreiben, wenn Vp., 
welche an unverfänglichen Stellen sehr rasch reagierte, 
für die Assoziation „beschweren-Tisch‘“ (worunter selbst- 
verständlich Schreibtisch gemeint ist) eine Reaktionszeit 
von 4 Sek. braucht und sich trotz dieser langen Überlegung 
bei der Reproduktion nicht mehr an die abgegebene Reaktion 
zu erinnern weiss. 


Bei Ass. 19 reagierte Vp. auf Briefwage ganz flach 
mit Brief bei einer Rz. von 2 Sek.; die unrichtigen Re- 
produktionen (leicht, schwer) lassen sich einfach erklären, 
wenn man daran denkt, dass bei Vp. die Erinnerung 
durch den Komplex „Briefwage-Briefbeschwerer‘ gestört 
wurde. Zugleich ist hier das Ausbleiben der Erinnerung 
und der Wortlaut der unrichtigen Reprod. ein Beleg dafür, 
dass das Reproduktionsverfahren u. U. einen höchst wert- 
vollen Kommentar für die Erklärung einer Reaktion 
abzugeben imstande ist. 


Der nachfolgende Zuruf „Ehrlich“ wird als Adjektivum 
aufgefasst und erzeugt wie bei den zwei anderen Vp. 
die adversative Reaktion ‚„unehrlich“, bei kurzer Rz. 
Ganz charakteristischer Weise ist aber diese Vp. allein 
nicht imstande, sich bei der Reproduktion, auf die kurz 





sa A a 


vorher abgegebene Reaktion zu erinnern, trotzdem es sich 
hierbei um eine höchst geringwertige Assoziationsart 
(Gegensatzreaktion) handelt, bei welcher sich die Erinnerung 
fast ausnahmslos einstellt. Auf dieses Moment wird 
noch später zurückzukommen sein. 


Komplexverdächtig ist weiter Ass. 47 „Anzünder-Zünd- 
hölzchen“ bei einer zu langen Reaktionsz. von 2 Sek. Re- 
produktion ist vollständig ausgeblieben. „Spiritus-Brenner“ 
(49) ist eine bereits ihrem Wortlaute nach komplexver- 
räterische Assoziation; Reaktionszeit 1,4 Sek., Reproduktion 
erfolgte zwar richtig, aber nach längerem Zögern. 


Zur Reaktion auf den Zuruf „Werkzeug“ (58) braucht 
Vp. 1,6 Sek., um dann auch noch falsch zu reproduzieren. 
Bemerkenswert ist, dass von Ass. 60 an die Reproduktion 
anhaltend schlechter wird: an fünf Stellen erfolgt un- 
richtige Wiedergabe, in vier Fällen bleibt dieselbe ganz aus. 


Direkt auf das Vorliegen des Versuchskomplexes weist 
Ass. 67 „Schirm-Ofen“ hin, welche kurz darauf in um- 
gestellter Form (Ofen-Schirm) wiederkehrt; während dort 
die Erinnerung überhaupt ausgeblieben ist, wird hier falsch 
reproduziert. Unter dem Einfluss der Komplexkonstellation 
steht die unmittelbar folgende höchst flache Assoz. ‚Papier- 
korb-Papier‘ bei einer exzessiv langen Reaktionszeit von 
2 Sek.; der noch perseverierenden Komplexvorstellung ist 
wohl auch die zu lange Reaktionszeit der folgenden Ass. 
zuzuschreiben. Als komplexverdächtig erscheint weiter 
der Umstand, dass bei Ass. 73 falsch reproduziert wird, 
desgleichen die unrichtigen Reproduktionen bei Ass. 82 
und 83. 


IV. Die Diagnose. 


Nach Abwicklung des Versuches wurden vom Ex- 
perimentator die Ergebnisse erläutert, sodann unter Be- 
obachtung des oben dargestellten Vorganges die Diagnose 
dahin gestellt, dass Herr St. (Vp. II) unbedingt un- 
schuldig, Herr O. (Vp. II) zweifellos schuldig und Herr 
Sp. (Vp. D) als im höchsten Grade verdächtig erscheine, 
letzterer müsse entweder gleich Herrn O. das fragliche Lokal 


s IR. m 


aus eigener Wahrnehmung kennen oder von den in 
demselben befindlichen Gegenständen von irgend einer Seite 
genaue Mitteilung erhalten haben. Bezüglich der Herren 
St. und O. war die Diagnose vollständig richtig, bezüglich des 
Herrn Sp. insofern nicht ganz präzis, als ich diese Vp. nur 
als „im höchsten Grade verdächtig“ bezeichnete, während 
sie ebenso wie Herr O. schuldig war, indem beide das 
betreffende Zimmer gesehen hatten. Von Herrn O. war ich 
speziell in der Lage zu konstatieren, dass er nicht nur das 
Versuchslokal kenne, sondern daselbst auch die Adresse des 
für Herrn Prof. Eugen Ehrlich bestimmten Briefes gelesen 
haben müsse, was Vp. auch zugab, indem sie sich, unter 
der allgemeinen Heiterkeit der Seminarbeteiligten ob ihrer 
Indiskretion bei Herrn Prof. Löffler entschuldigte. 

Zu dieser Annahme veranlasste mich die Tatsache, 
dass Herr O. allein, offenbar unter dem Einflusse der durch 
die Assoz. „Briefwage-Brief“ hervorgerufenen Komplex- 
konstellation, ausserstande war die Reaktion „unehrlich“ zu 
reproduzieren. 

Wie bereits bemerkt, wurden auch die übrigen Seminar- 
beteiligten um ihr Urteil befragt, welches von geringen 
Ausnahmen abgesehen, völlig zutreffend ausfiel. Nicht 
ohne Grund verweise ich auf diesen Umstand, da er mir 
ein Beleg dafür zu sein scheint, dass es zur Verwertung 
der Assoziationsmethode im Dienste der Kriminalistik nicht 
einer besonderen psychoanalytischen Begabung bedarf. 


V. Die einzelnen Komplexmerkmale. 


1. Der inhaltliche Charakter der Reaktionen. 


Unter den uns bisher bekannten sogenannten Komplex- 
merkmalen, d. h. unter jenen Momenten, denen unter Um- 
ständen für die Frage nach dem Vorhandensein eines Tat- 
bestandes symptomatische Bedeutung zukommt, ist in erster 
Linie der inhaltliche Charakter der Reaktionsworte zu nennen. 
Die Berücksichtigung dieses Merkmales empfiehlt sich neben 
Anderen schon aus dem Grunde, weil „schuldige“ Vp. 
zuweilen Reaktionen bringen, welche nach ihrem blossen 
Wortlaute bereits Komplexkenntnis verraten, in welchen 


se. Ne. we 


Fällen man sich sagen muss, Vp. hätte derart überhaupt 
nicht reagieren können, wenn ihr der Versuchstatbestand 
unbekannt gewesen wäre. 

Derlei charakteristische Reaktionen finden sich, wenn 
auch in geringer Zahl bei den „schuldigen“ Vp. im oben 
dargestellten Experimente. So reagierte Herr Sp. auf Schiene 
mit Beschwerer, eine Assoziation, die sich ohne Komplex- 
kenntnis überhaupt kaum denken lässt; das Gleiche muss 
bezüglich der Ass. „Briefwage-Beschwerer“ gelten. 


In ihrem Selbstbeobachtungs-Protokolle erklärte hier- 
zu Vp., dass die Vorstellung von dem auf dem Schreib- 
tische befindlichen Briefbeschwerer so stark gewesen sei, 
dass esihr „unmöglich gewesen wäre, sich ihr zu entziehen“. 


Gleich verhängnisvoll wurde dieser Komplex auch für 
die andere „schuldige* Vp., da die Assoziation „Schiene- 
Papier“ als mittelbar komplex auf Kenntnis des Tatbestandes 
hinweist, desgleichen die Ass. „Beschwerer-Tisch“, sowie 
die flache Reaktion „Brief“ auf „Briefwage“. 

Auch der Teilkomplex „Rauchtisch“ istin der erwähnten 
Richtung nicht ohne Folgen geblieben. Herr Sp. reagierte 
auf „Rauchen“ mit „nicht“, was sich daraus erklärt, dass 
ihm bei Besichtigung des Versuchsobjektes Zigaretten an- 
geboten wurden, die er als „Nichtraucher“ ablehnte. Noch 
ansprechender sind die auf diesen Komplex bezüglichen 
Reaktionen des Herrn O., der sich als „Raucher“ mit dem 
Rauchtische eingehender beschäftigte, dann aber auch dem- 
entsprechende Reaktionen abgab; die Assoz. „Anzünder- 
Zündhölzchen“ ist bereits ihrem äusseren Wortlaute ver- 
dächtig, Ass. „Spiritus-Brenner“ weist direkt in unzwei- 
deutiger Weise auf Komplexkenntnis hin. Typisch ist es 
übrigens, dass diese Vp. allein den Zuruf „Kraut“ in dem 
Sinne auffasst, in welchem er beabsichtigt war und ihn 
sinnvoll mit „rauchen“ beantwortet. 

„Ganz umgebracht“ wurde Herr Sp., wie er bemerkte, 
durch die Theresiana; dabei ist es charakteristisch, dass 
sich während des Experimentes hierbei ein neuer mittel- 
barer Komplex einschlich, der eine längere Zeit hindurch 
Vp. beunruhigte. Die bereits nach ihrer äusseren Be- 


arg, = 


schaffenheit mittelbar komplexe Ass. „Kaiser-Josef“ lässt 
merkwürdigerweise unter dem Einflusse des Komplexes 
der „Theresiana“ die Vorstellung „Kodex-Josefinus“ auf- 
treten, von welcher sich Vp. „unmöglich losreissen* kann. 
Dass sie auf den folgenden Zuruf Kodex, der schon durch 
die vorangehende Ass. in Bereitschaft steht, nicht mit 
„Josefinus*“ antworten dürfe, weiss sie. Wie festgebannt 
sucht sie daher nach dem Namen eines anderen Gesetz- 
gebers und greift so in ihrer Bedrängnis zu „Karolinus“ 
resp. „Austriacus* (s. hierüber unten). 


Bemerkenswert ist schliesslich in dieser Richtung noch 
bei Herrn O. die Ass. „Schirm-Ofen“, welche bald darauf 
in umgekehrter Form wiederkehrt. 


So erscheinen in materiell qualitativer Richtung einzelne 
Ass. derart signifikant, dass aus ihnen allein bereits zu- 
versichtliche und begründete Schlüsse auf Kenntnis des 
untersuchten Tatbestandes gezogen werden können. M.E. 
wird auch bei allen künftigen Assoziationsversuchen aus 
dem oben dargestellten Grunde dieses Merkmal in erster 
Linie in Betracht kommen müssen. 


Selbstverständlich werden sich die Ergebnisse je nach 
der Stärke des Gefühlstones, der momentanen Disposition 
des Untersuchten und seiner Individualität überhaupt ver- 
schieden gestalten. Sicherlich wird man auf Personen 
treffen, deren Reaktionen nur ganz vereinzelt materiellen 
Selbstverrat enthalten, zumal daran zu denken ist, dass 
für diese Frage nicht allein die Eigenheit des Untersuchten, 
sein Charakter, seine grössere oder geringere Verstellungs- 
kunst, sein Erinnerungsvermögen und dergl. in Betracht 
kommen, sondern auch die Beschaffenheit des zur Unter- 
suchung stehenden Komplexes eine bedeutende Rolle spielt. 
Ist der Tatbestand banal und handelt es sich überall nur 
um gewöhnliche Dinge des Alltagslebens, so werden auch 
die Reaktionen materiell nichts Auffälliges zeigen, und es 
wird der Experimentator möglicherweise dann genötigt sein, 
von diesem Momente ganz abzusehen und lediglich die 
übrigen Komplexmerk male als Grundlage für seine Diagnose 
zu verwenden. 

2 


a 18 u 


Ganz ungerechtfertigterweise machen in dieser Richtung 
Kramer-Stern?) den „Vertretern der Prager Schule“ den 
Vorwurf, sie hätten „den ganzen Vorgang für zu einfach 
gehalten“, indem sie den „direkten inhaltlichen Selbst- 
verrat für das Normale“ ansahen. Dies haben die Vertreter 
der sog. Prager Schule nie getan. Was Wertheimer 
betrifft, so glaube ich, dass. dieser nicht im Entferntesten 
daran gedacht hat, aus der inhaltlichen Beschaffenheit der: 
Reaktionen allein Schlüsse zu ziehen; ich selbst hatte 
wiederholt Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass sich Fälle 
finden werden, in denen der Tatbestand keine Besonder- 
heiten aufweist und dementsprechende gewöhnliche, ihrem 
Äusseren nach ganz unauffällige Reaktionen zur Folge 
haben wird, in denen daher lediglich die übrigen Kriterien 
zu Rate gezogen werden können). 


Und wennKramer-Stern daraufhin zu dem „Ergebnis“ 
gelangen: „Die Komplexhaltigkeit von Reaktionen kann 
sich in. einer ganzen Reihe sehr verschiedener Kriterien 
bekunden; und bei der Diagnose müssen alle diese Kriterien 
gleichzeitig berücksichtigt werden“, so haben sie damit 
nichts Neues gefunden. 


Bereits in einer meiner ersten Publikationen”) bemerkte 
ich: „nie dürfen die Ergebnisse dieser Assoziationsversuche 
von einem einseitigen Standpunkte beurteilt und gewertet 
werden. Nicht aus einer Reaktion allein, nicht deshalb, 
weil der Untersuchte im einzelnen Falle zur Reaktion eine 
längere Zeit brauchte, nicht dies ‚allein überzeugt mich 
von ihrer Schuld oder Unschuld. Nur das Gesamtergebnis, 
die Reaktionen überhaupt, die Art und Weise, wie sie 
erfolgten, .. .. nur alles zusammen bietet mir ein Bild, 
aus welchem ich im gegebenen Falle auf Kenntnis oder 
Unkenntnis des Tatbestandes urteilen kann .... *. 


5) Selbstverrat durch Assoziation in Beiträge zur Psych. der Aus- 
sage 2. Folge 4. H. S. 30. 

6) Vgl. neuerdings meine Abhandlung „Die Assoziationsmethode 
im Strafprozess“ in Z. f. Strafrechtsw. XXVII. S. 199 ff. 


1) Zur psych. Tatbestandsdiagnostik, Monatsschrift für Kriminalps. 
u. Strafrechtsref., 1905, S. 183. 


= y 


Damit ist zugleich auch die von Kramer-Stern8) auf- 
gestellte Behauptung, dass wir unsere Forderungen haupt- 
sächlich auf solche Assoziationen aufbauen, die schon 
ihrem Äusseren nach komplexverräterisch sind, widerlegt. 

Zutreffend hingegen ist ihre Bemerkung, dass derartige 
materiellen Verrat übende, d. h. dem gesuchten Tatbestande 
unzweifelhaft entnommene Reaktionen, dort, wo sie vor- 
liegen, das schwerste Indiz für die Kenntnis des Tatbestandes 
abzugeben imstande sind. Aus diesem Grunde dürfte es 
angezeigt sein, auch künftighin in erster Linie die Reaktionen 
ihrem Wortlaute nach zu untersuchen und hierbei auch 
qualitative Abnormitäten, wie Wiederholungen, Sinnlosig- 
keit, Krüppelreaktionen u. dgl. nicht aus dem Auge zu lassen. 

Notwendig erscheint es mir aber, hierbei auf die nicht 
geringe Gefahr hinzuweisen, welche u. U. mit einer Prüfung 
jeder einzelnen Reaktion, nach der materiell-qualitativen 
Seite hin, verbunden sein kann. Dergleichen Bedenken 
möchte ich insbesondere gegen das von Jung ein- 
geschlagene Verfahren geltend machen, welcher es unter- 
nimmt, den jeder einzelnen Assoz. möglicherweise zugrunde- 
liegenden Zusammenhang zu deuten und zu erklären. 
Begreiflich ist ein solcher Vorgang, wenn man über tüchtige 
psychoanalytische Qualitäten verfügt, und wenn man, wie 
dies bei der psychiatrischen Verwertung der Assoz. fast 
durchwegs der Fall ist, im Untersuchten nicht einen Gegner, 
sondern einen Freund findet, der im eigenen Interesse jede 
mögliche Unterstützung gewährt (s. hierüber noch unten). 

Ist dies alles jedoch nicht der Fall, dann kann jenes 
Deuten der einzelnen ÄAssoz., welches ja wesentlich von 
subjektiven, vielfach durch vorgefasste Meinung getrübte 
Vermutungen beeinflusst wird und nicht zum geringen Teile 
vom psychologischen Takte des Einzelnen abhängig ist, 
leicht auf Irrwege leiten. Nicht darf also, rebus sic stantibus, 
der Beobachter seine Aufgabe darin erblicken, die einzelnen 
Assoz. zu entziffern und herauszufinden, auf welchen Um- 
stand vermutlich eine bestimmte Reaktion zurückzuführen 
sei u. dgl.; wäre dies seine Aufgabe, dann wäre er ihr 





8) a. a. O. 


ef e 


sicherlich nicht gewachsen. Denn stets könnte sich sein 
Urteil vorzüglich bloss auf Mutmassungen stützen, die 
niemals Grundlage einer exaktenDiagnose bilden dürfen. 


M. E. hat die qualitative Verwertung des Wortlautes 
der Reaktionen lediglich in der Richtung zu erfolgen, dass 
dort, wo sich in eklatanter Weise ein Zusammenhang 
zwischen einigen Reizw. und dem gesuchten Komplexe 
ergibt, diesbezügliche Schlüsse gezogen werden; dort aber, 
wo sich eine solche Verwandtschaft nicht in einer für 
Jedermann erkennbaren Weise zeigt, muss auf die Verwertung 
dieses Kriteriums Verzicht getan werden, und können 
dann lediglich die übrigen Komplexmerkmale in Betracht 
kommen?). 


Als solches erscheint zunächst 
2. Die Perseverationstendenz der Vorstellungen. 


Wir verstehen darunter bekanntlich das Bestreben einer 
im Bewusstsein aufgetretenen Vorstellung, auch späterhin 
„frei in das Bewusstsein zu steigen“;10) begünstigt wird 
diese Tendenz, wenn einer Vorstellung besonders grosses 
Interesse entgegengebracht wird oder wenn die Vorstellung 
von vornherein mit lebhaftem Gefühlstone ausgestattet ist. 


Zutreffend wurde allgemein die hohe Bedeutung dieser 
Erscheinung, welche neben der Assozialions- oder Re- 
produktionsstärke auf den ganzen Vorstellungsverlauf den 
grössten Einfluss ausübt, erkannt. So weist bereits 
Fechner!!!) bei Besprechung der Wiederholungsemp- 
findungen auf die Fälle hin, in welchen wir dann, wenn 


9) Übereinstimmend bemerken auch Kramer-Stern (a. a. 0. S. 
31), dass man sich auf die inhaltliche Wertung der Reaktion 
allein nicht verlassen dürfe, dass es insbesondere auch nicht angehe, 
in negativer Richtung „das Fehlen eines solchen inhaltlichen Verrates 
als Beweis für die Harmlosigkeit oder Unschuld der Versuchsperson“ 
zu deuten. 

10) G. E. Müller und A. Pilzecker, Experimentelle Beiträge zur 
Lehre vom Gedächtnis. Zeitschr. für Physiol. u. Psych. der Sinnes- 
org. 1900, Ergänzungsb.l S. 58. 

1) G. T. Fechner, Elemente der Psychaphysik, Leipzig 1860. 
2. T. S. 499 ff. 


2] 


wir unsere Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Phänomen 
durch längere Zeit konzentriert haben, in einem späteren 
unbeschäftigten oder ermüdeten Zustande, das von uns 
früher intensiv beobachtete Bild in voller Klarheit im 
dunklen Gesichtsfelde erkennen. Die gleiche Erscheinung 
ist auch für akustische Erlebnisse, sowie für die Reproduktion 
von Bewegungen zu konstatieren !?). 


Diese Art der Wiederholungsempfindungen führen 
Müller-Pilzecker darauf zurück, dass durch die zu 
wiederholtenmalen mit besonderer Intensität aufgetretenen 
Empfindungen in gewissen Partien des Nervensystems 
das Streben hervorgerufen wird, „diese Nervenerregungen 
in der früheren Beschaffenheit und Reihenfolge“ wieder 
zu reproduzieren. 


Mit diesem dem Sinnengedächtnisse angehörenden 
Phänomene verbindet Fechner das ganze Gebiet der un- 
willkürlichen Halluzinationen, angefangen von den zumeist 
auf Kongestivzustände zurückzuführenden einfachen Hallu- 
zinationsphasen, in denen wir Gegenstände zu erblicken 
vermeinen, die nicht vorhanden, oder Geräusche zu ver- 
nehmen glauben, die faktisch nicht zu hören sind, bis zu 
den Phantasiebildern, welche den Fiebernden quälen und 
den unseligen Phantasmen, die den Wahnsinnigen nicht 
zur Ruhe kommen lassen ?). 

Auch diese Halluzinationen sind vielfach auf die gleiche 
Ursache wie die sog. Wiederholungsempfindungen zurück- 
zuführen, indem eine unter besonderen Umständen wirklich 
gemachte Wahrnehmung unauslöschlich haften bleibt und 
unter dem Einflusse der Perseveration immer wieder Vor- 
stellungen ins Bewusstsein emporschickt#). 


12) Ein interessantes Selbsterlebnis referiert Fechner a. a. O 
S. 501 f. 

13) Verwiesen sei hier bloss auf die gradezu historisch gewordenen 
und in der Litteratur an zahlreichen Stellen berichteten Halluzinations- 
erscheinungen des Buchhändlers Nicolai; vgl. insbesondere I. Müller: 
Über die phantastischen Gesichtserscheinungen, 1826, S. 20 ff. 

14) Von einem hierher gehörigen interessanten Fall spricht 
Fechner (a. a. O. S. 512 f.), in welchem ein Mädchen einmal einen 
exorbitant ausgestatteten Menschen, der eine rote Mütze trug und an 


22 


Abgesehen von diesen, zumeist bereits dem Gebiete 
der Pathologie angehörenden Fällen, spieltdie Perseverations- 
tendenz der Vorstellungen auch im Seelenleben des Ge- 
sunden eine ausserordentliche Rolle. 


In dieser Tendenz hat zunächst die in der experi- 
mentellen Psychologie als motorische Einstellung'’) be- 
zeichnete Erscheinung ihren Grund, auf die gleiche Tendenz 
ist es aber auch beispielsweise zurückzuführen, wenn uns 
plötzlich eine früher einmal gehörte Melodie einfällt, welche 
uns nun den ganzen Tag über verfolgt und die wir nicht 
los werden können, trotzdem sie vielleicht absolut nicht 
zu den uns gerade beschäftigenden Dingen passt. Das 
gleiche Perseverationsstreben bringt aber auch jene zahl- 
reichen kleinen Störungen und Irrtümer mit sich, wie sie 
das Alltagsleben in hundertfältiger Gestalt aufweist, von 
deren Vorhandensein der Irrende oft erst durch Dritte 
Kenntnis erlangt, so wenn wir uns versprechen, verlesen, 
verschreiben u. dgl. m. Auch diese Erscheinungen können 
vielfach nicht anders erklärt werden, als dass ein kurz 
vorher gesprochenes, gelesenes oder geschriebenes Wort 
noch späterhin „nachklingt“* und so seinen störenden Ein- 
fluss auf das Folgende ausübt !®). 


Schliesslich kann die Bedeutung der Perseverations- 
tendenz der Vorstellungen darin bestehen, dass eine einmal 
aufgetauchte Vorstellung das Bestreben hat, sei es über- 
haupt längere Zeit zu verweilen oder bald nach ihrem 
Verschwinden wieder aufzutauchen, auch für unsere 
diagnostischen Untersuchungen gar nicht in Abrede gestellt 
werden. Überzeugung hiervon erlangte ich teils durch 
Selbstbeobachtung, teils durch die Erklärungen meiner 


einem Knochen nagte, erblickte und darob so sehr erschrak, dass ihm 
noch ungezähltemale das Bild dieses Mannes als Phantasma erschien 
und dass es erst langer Zeit bedurfte, bis diese Erscheinung allmählich 
verblasste. | 

15) Über den Begriff der motorischen Einstellung vgl. Laura 
Steffens in Zeitschr. f. Psych. 1900, 23. Bd. 

16) Vgl. Mehringer u. Mayer, Versprechen und Verlesen, Stutt- 
gart 1895 insbes. S. 53 ff. und die fesselnde Darstellung in Freud's 
„Zur Psychopathologie des Alltagslebens“. 


Pen 293 -—- 


Versuchspersonen. Es ereignen sich Fälle, in welchen eine 
durch ein Reizwort erzeugte Vorstellung ihre Wirksamkeit 
während des ganzen Versuches äussert und sich gleich 
einem roten Faden durch die ganze Reaktionsreihe zieht. 

Auf diesen Umstand ist das vielfach beobachtete Auf- 
treten habitueller Deckreaktionen, wie ich sie be- 
zeichnen möchte, zurückzuführen, welches darin besteht, dass 
entweder ein früher zugerufenes Reizwort späterhin zu 
wiederholtenmalen als Reaktion verwendet wird, oder dass 
Vp. überhaupt mit einem und demselben Worte ganz ver- 
schiedene Zurufe beantwortet. 

Bereits Aschaffenburg!”) beobachtete diese Er- 
scheinung und begründete den Umstand, dass ein früheres 
Reaktionswort späterhin. auch dort, wo dasselbe absolut 
nicht am Platze ist, zur Verwendung gelangt, damit, dass 
die jener Assoziation entsprechende Vorstellung bei der 
betreffenden Vp. allzulange im Bewusstsein gehaftet 
habe. Dem gegenüber betonen Müller-Pilzecker'®), m. E. 
mit Recht, dass man aus dem häufigeren Auftreten solcher 
Wiederholungen noch keinerlei Schlüsse auf besondere 
Qualitäten der Vp. ziehen dürfe und führen derlei minder- 
wertige Reaktionen in erster Linie auf ein mangelhaftes 
Eingehen auf das Versuchsverfahlren zurück !9). 

Diese Ansicht scheint mir die richtige zu sein; ich 
fand sie u. a. bei ungebildeten Vp. bestätigt, welche 
uneingedenk der ihnen zu Anfang erteilten Belehrung 
immer wieder aus der Rolle fielen und ihre Reaktionen 


17) Exp. Studien in Kraep. psych. Arbeiten Bd. 1, S. 278, 2 B. S. 31. 
18) a. a. O. S. 63. 

-~ , 19) Auf eine nähere Darstellung und Erläuterung der Perseverations- 
tendenz der Vorstellungen, insbesondere auch den weittragenden Ein- 
fluss, den dieselbe auf unseren ganzen Denkprozess ausübt, kann 
in diesem Zusammenhange nicht eingegangen werden; nicht versagt 
sei, auf das innige Verhältnis zu verweisen, welches zwischen diesem 
Phänomen und der Merkfähigkeit besteht, bezüglich dessen Müller- 
Pilzecker (a.a. O.S. 77) zutreffend bemerken, „dass Individuen mit 
starker Terseveration in einem Berufe, welcher einen schnellen und 
häufigen Wechsel der Richtung der Aufmerksamkeit, eine schnelle Er- 
ledigung zahlreicher, ganz verschiedenartiger Geschäfte verlangt, mit 
ihren Fähigkeiten nicht am rechten Platze sind“. 





24 


kritiklos den Gegenständen ihrer unmittelbaren Umgebung 
entnahmen bezw. früher gebrauchte Reaktionen sinnlos 
auch späterhin wiederholten. 


Hingegen können derlei Störungen im normalen 
Assoziationsverlaufe bei Vp., welche das Wesen der Methode 
vollständig erfasst haben, lediglich mitder Perseverations- 
tendenz der Vorstellungen begründet werden, namentlich 
dann, wenn sich solche habituelle Deckreaktionen vor- 
nehmlich nur an jenen Stellen finden, an welchen Komplex- 
konstellationen affektive Erregung erzeugten. In solchen 
Fällen nimmt die mit besonderem affektiven Tone aus- 
gestattete Vorstellung unsere Aufmerksamkeit so sehr 
gefangen, dass wir auf das Wesen des Verfahrens ganz 
vergessen und rein mechanisch, um nur überhaupt etwas 
zu sagen, ein Wort als Reaktion benützen, das uns gerade 
zur Verfügung steht, mag es mit dem Zurufe in noch so 
disparatem Verhältnisse stehen. 


Daraus ergibt sich für unsere tatbestandsdiagnostischen 
Zwecke die Tatsache, dass an und für sich aus einer Reihe 
solch habitueller Wiederholungen noch nicht auf das Vor- 
liegen einer Komplexkonstellation gefolgert werden darf; 
erst dann, wenn wir die Überzeugung gewonnen haben, 
dass die Vp. den wahren Gang des Verfahrens erfasst und 
demgemäss anhaltend sinnvoll reagiert hat, dann aber 
plötzlich an einzelnen Stellen den normalen Assoziations- 
verlauf durchbricht, um sich hier der erwähnten Hilfen zu 
bedienen, dann kann mit ziemlicher Sicherheit der Schluss 
gezogen werden, dass an diesen Stellen die Perseveration 
komplexer Vorstellungen die Ursache der Störunggewesensei. 


Auch im oben angeführten Experiment machte sich die 
Perseverationstendenz vorwiegend in der Richtung geltend, 
dass eine durch ein Reizwort erregte Komplexvorstellung 
mit solcher Stärke auftrat, dass sie mehrere der folgenden 
Assoziationen hindurch das Aufkommen jeder anderen 
Vorstellung unterdrückte und die Vp. während dieser Zeit 
vollends im Banne hielt. So erklärte Herr Sp., es habe 
ihm bei Ass. 73 „Buch-Tisch“ „das offen auf dem Tische 
liegendeTheresianische Strafgesetzbuch mitden Abbildungen 


25 


der Folterwerkzeuge durch längere Zeit so intensiv vor 
Augen geschwebt‘“, dass ihm ein Unterdrücken dieser Vor- 
stellung unmöglich gewesen sei; der Hand in Hand mit 
dieser Perseveration aufgetretenen Auimerksamkeitsstörung 
ist denn auch die auffallende Veriangsamung der Reaktions- 
zeitzuzuschreiben, welche erst allmählich wieder dasNormale 
erreicht. 

Bei Herrn O. war es u. A. wieder vornehmlich die 
Vorstellung „vom Schreibtisch mit dem darauf befindlichen 
Briefbeschwerer‘“, welche seine ganze Aufmerksamkeit so 
sehr in Anspruch nahm, dass es ihm dauernd unmöglich 
wurde, „sich hiervon loszureissen“ und an etwas anderes 
zu denken. Diesem Umstande entspricht auch das exzessive 
Anschwellen der Reaktionszeit, welche erst nach sieben 
Reaktionen zum Sinken kommt; Vp. war es bekannt, 
dass sie sich an dieser Stelle „am meisten verraten haben 
müsse“. 

Es muss bemerkt werden, dass die Untersuchungen 
in der erwähnten Richtung nicht als abgeschlossen an- 
gesehen werden dürfen; gerade nach dieser Seite erscheint 
mir die Methode eines weiteren Ausbaues fähig und bedürftig, 
vornehmlich wird auf detaillierte Protokollierung der 
diesbezüglich gemachten Selbstbeobachtungen hinzuwirken 
sein. Allerdings kann eine solche spezifizierte Protokoll- 
führung, da sie stete Unterbrechung des Reagierens erfordert, 
bloss bei offenen Tatbeständen vorgenommen werden. 


Berechtigter Grund aber ist m. E. für die Vermutung 
gegeben, dass diese Perseverationstendenz der Vorstellungen 
in den Fällen des Lebens, in welchen wir es mit wahren 
„individuellen Assoziationen“ zu tun haben, in noch 
stärkerem Masse in die Erscheinung treten wird, als dies 
bereits bei reinen Laboratoriumsversuchen der Fall war. 


3. Die Reaktionszeit. 

Neben den bisher angeführten Kriterien kommt als 
weiteres Komplexmerkmal die Reaktionszeit (Assozia- 
tionszeit) in Betracht, worunter wir bekanntlich die zwischen 
dem Zurufe des Reizwortes und der Reaktion verfliessende 


26 


Zeit zu verstehen haben. Wie bereits Claparede®%), 
Ziehen?!), Thumb-Marbe22), Jung®3) u. A. dargetan 
haben, handelt es sich hierbei um eine zusammengesetzte 
Zeitgrösse, beeinflusst von einer ganzen Reihe von Kom- 
ponenten, von denen bisher nur einige unserer Kenntnis 
zugänglich wurden; von diesen uns bekannten, die Dauer 
der Assoziationszeit determinierenden Faktoren kommen in 
erster Linie die Perzeption des Reizwortes, das Auftauchen 
der durch den Zuruf angeregten Bedeutungsvorstellung 
(„Identifikation“), die Assoziation im eigentlichen Sinne, 
d.i. das Nachsichziehen der neuen Vorstellung durch die 
induzierende, sowie die sprachliche Emotion der Reaktion 
in Betracht). 


Für diese Reaktionen aber ist wieder mitbestimmend 
die Qualität des Reizwortes, in erster Linie seine 
äussere Beschaffenheit, wie Länge) und grammatische 
Form (Substantivum, Adjektivum, Verbum etc.) und seine 
Wortbedeutung — Abstrakta verlangsamen erfahrungs- 
gemäss im Allgemeinen die Assoziationszeit gegenüber 
Konkreten — weiters die Fassung des Reaktionswortes 
und schliesslich die Art der Assoziation selbst, indem die oft 


%) L'association des idèes, Paris 1903 p. 275. 

21) Die Ideeassoziation des Kindes, 2. Abh. S. 14. 

22) A. Thumb u. K. Marbe, Experimentelle Untersuchungen 
über die psychologischen Grundlagen der sprachlichen Analogiebildung, 
Leipzig 1901, S. 11 fl. 


23) Über das Verhalten der Reaktionszeit beim Assoziations- 
experiment, Leipzig 1905, S. 3. 


%4) Hierbei darf jedoch nicht ausser Acht gelassen werden, dass 
nicht überall das Reizwort eine Bedeutungsvorstellung auslöst 
und diese eine andere Vorstellung assoziiert, welche in der Reaktion 
zu Worte kommt, vielmehr ist der Fall nicht selten, dass eine Vp. 
Reaktion an Reiz reiht, wobei sie sich bei der Assoziation weder der 
Bedeutung des Zurufes, noch der des Reaktionswortes bewusst wird: 
vergl. Thumb-Marbe a. a. O. S. 15 und die schönen Ausführungen bei 
Jung, Über das Verhalten... S. 21. 

2) Zutreffend heisst es bei Thumb-Marbe (a. a. O. S. 47): „Wir 
dürfen nicht tibersehen, dass die zugerufenen Worte eine verschiedene 
Länge haben, und dass offenbar die Länge des Reizwortes bei unserer 
Messung der Assoziationszeit in Betracht kommt“. 


27 


rein mechanisch aufgebrachten flachen äusseren Asso- 
ziationen im Durchschnitte kürzere Reaktionszeiten auf- 
weisen, als die einem eigentlichen Denkprozesse ent- 
sprungenen inneren Assoziationen. Nicht zuletzt macht 
sich auch der Einfluss der Individualität der untersuchten 
Person selbst geltend, insbesondere ihr Alter und Geschlecht, 
ihre Bildungsstufe und assoziative Gewandtheit, ihre Auf- 
merksamkeit und Ausdauer, kurz, es kommt ihre ganze 
jeweilige Bewusstseinslage in Betracht. 


Gerade die letztangeführten Momente, welche selbst bei 
ein und demselben Individuum nie konstant bleiben, 
vielmehr unter dem Einflusse der die Person jeweils be- 
schäftigenden Erlebnisse und Strebungen steter Wandlung 
unterworfen sind, beweisen am besten, dass es absolut nicht 
angehe, die bei einer Vp. für eine bestimmte Reaktionsreihe 
gefundene Reaktionszeit, kritiklos späteren Untersuchungen 
zugrunde legen zu wollen. 

So zeigte u. A. bei meinen Experimenten gelegentlich 
eine Vp. (Dame) für eine freie Assoziationsreihe eine mittlere 
Reaktionszeit von 1,8 Sek., während bei einem wenige Tage 
darauf vorgenommenen Versuche ihre Reaktionszeit trotz 
Benutzung der gleichen Reizreihe ein Mittel von 2,2 Sek. 
aufwies. 

Geht es somit nicht an, die bei einer Vp. einmal. 
gefundene mittlere Assoziationszeit ohne weiteres späteren 
Untersuchungen zugrunde zu legen, so ist es um so un- 
haltbarer, für ganze Gruppen von Personen (Männer — 
Frauen, Gebildete — Ungebildete etc.) mittlere Reaktions- 
zeiten aufzustellen und diese dann bei diagnostischen 
Untersuchungen als Masstab verwenden zu wollen. 


Infolge der Ungleichheit der die Reaktionszeit be- 
stimmenden Faktoren wird es kaum zwei Menschen geben, 
bei welchen diese Faktoren in gleicher Zahl und gleicher 
Stärke vorhanden, die gleiche Reaktionszeit zur Folge hätten. 
Daraus ergibt sich aber auch die nicht genug zu betonende 
Tatsache, dass es schlechthin unmöglich ist, aus 
den für gewisse Personengruppen angeblich gefundenen 
Zeitmitteln Schlüsse auf die Assoziationen eines bestimmten 


28 


Individuums ziehen zu wollen; denn nirgendwo spielt wohl 
die Individualität der Einzelperson eine so bedeutsame Rolle, 
als auf dem Gebiete der das innerste Seelenleben zum 
Ausdrucke bringenden Assoziationstätigkeit.e. Durch die 
jeweilige Bewusstseinslage streng determiniert, ist diefüreine 
bestimmte Vp. unter bestimmten Verhältnissen gefundene 
Durchschnittszeit für andere Fälle schlechthin unanwendbar. 


Aus diesem Grunde sind die mit geradezu staunens- 
werter Mühe und Ausdauer in dieser Richtung geleisteten 
Arbeiten für unsere forensen Untersuchungen absolut 
wertlos2). Der Verschiedenheit des Materials, welches 
den einzelnen Beobachtern zur Untersuchung stand, ent- 
sprechen denn auch die ungemein divergierenden Resultate, 
zu welchen die einzelnen Schriftsteller gelangten und die 
gewiss nicht allein auf eine verschiedene Berechnungs- 
methode zurückzuführen sind. 


So gibt Galton?”) die durchschnittliche Reaktionszeit 
mit 1—8 Sek. an, findet Feré28) bei Männern eine mittlere 
Rz. von 7006, bei Frauen von 8306, während sich bei 
Aschaffenburg2) dieselbe zwischen 1,2—1,4 Sek. und 
bei Jung®0) zwischen 1,3 und 2,2 bewegt, und wieder 
Kramer-Stern3!) die Zahlen 1,6 bezw. 1,8 als mittlere 
Reaktionszeiten angeben. 


M. E. sind alle diese Untersuchungen, welche darauf 
hinausgehen, für ganze Gruppen mittlere Reaktionszeiten 
aufzustellen, für unsere tatbestandsdiagnostischen Unter- 
suchungen bedeutungslos und könnte beispielsweise eine 
Vp., welche dem Stande der „Gebildeten“ angehört, des- 


26) Übrigens scheint mir auch ihre Bedeutung für die Psychologie 
und Psychiatrie höchst problematisch. 
| 27) Psychometric experiments, Brain, 1879/80. 

28) La Pathologie des &montions, Paris, 1892. 

2) Kraepelins Psychol. Arbeiten Bd. 1, S. 27. 

%) Über das Verhalten... . S. 5. 

3) a. a. O. S. 20; wenn hierbei Kramer-Stern behaupten, dass 
ihre Zeitresultate gegenüber den Jung’schen „etwas“ zurückbleiben, 
so ist dies nicht zutreffend, da bei einer Zeitgrösse, welche zwischen 
1 und 2 Sek. schwankt, eine Differenz von 0,2 Sek. als beträchtlich 
bezeichnet werden muss. 


=. 96: 2 


halb, weil ihre mittlere Reaktionszeit das von irgend einem 
Autor gefundene Durchschnittsmass übersteigt, daraufhin 
noch absolut nicht als verdächtig erklärt werden. 


So reagierte bei meinen Untersuchungen, um nur ein 
Beispiel aus vielen hervorzuheben, ein Student der Rechte 
durchschnittlich in 5 Sek., überstieg somit das für „Gebildete“ 
angeblich gefundene Mittel um ein Beträchtliches, während 
andererseits ein gewöhnlicher Soldat zu seinen Reaktionen 
kaum 1 Sek. brauchte, und doch war jener unschuldig, 
dieser schuldig! Man sieht, auf welche Abwege man geraten 
würde, wollte man den für die einzelnen Personengruppen 
gefundenen mittleren Reaktionszeiten, welche bei den ver- 
schiedenen Autoren übrigens nicht unerhebliche Differenzen 
aufweisen, absoluten Wert beimessen 83). 


Müssen, wie allgemein bekannt, statistische Daten, 
überall, wo sie in Frage kommen, mit grösster Vorsicht 
und Skepsis verwendet werden, so trifft dies insbesondere 
hier zu, wo es sich um Vorgänge handelt, welche vom 
innersten Seelenleben des Einzelwesens, zur Zeit und am 
Orte der angestellten Untersuchung, in strengster Ab- 
hängigkeit stehen; einer anderen Bewusstseinslage entspricht 
stets, selbst bei derselben Person eine andere Reaktions- 
zeit33). 

So kommt dem Bestreben, für ganze Personengruppen 
mittlere Assoziationszeiten zu finden, lediglich akademischer 
Wert zu; speziell ist solche Mühe für unsere forensen Arbeiten 
zwecklos. Vielmehr ist für die psychologische Diagnose 
des Tatbestandes unbedingt erforderlich, dass für jeden 
Untersuchten im einzelnen Falle eine normale mittlere 
Reaktionszeit gefunden werde, d. i. jene Zeit, welcher die 
betreffende Person durchschnittlich zur sinnvollen Reaktion 
auf irrelevante Zurufe bedurfte. Hierbei wird man sich zur 


32) Übereinstimmend bemerken Ihumb-Marbe: ‚Die Ergebnisse 
der Untersuchungen über die Assoziationszeiten haben (demnach) nur 
für die Konstellation des Bewusstseins, unter welchen sie angestellt 
wurden, eine Bedeutung . ... “ (a.a. O. S. 13); vgl. auch meine Ab- 
handlung in Z. f. Strafrechtsw. XXVII S. 204 ff. 

33) Vgl. auch Aschaffenburg in Kraep. Psych. Arb. Bd. 1, S. 272. 


— 30 — 


Erreichung exakter Resultate nicht damit begnügen dürfen, 
sämtliche an komplexlosen Stellen vorfindlichen Reaktionszeiten 
kritiklos zu registrieren, vielmehr erscheint es unbedingt 
erforderlich , stets den einem irrelevanten Reizworte voraus- 
gehenden Zuruf zu berücksichtigen und jene anscheinend irre- 
levanten Assoziationszeiten ganz auszuschalten, welche einem 
komplexen Reize unmittelbar folgen; denn es ist eine heute 
fast allgemein erkannte Tatsache, dass diese sog. nachkritischen 
Assoziationen unter dem Einflusse der oben ausgeführten 
Perseverationstendenz, wenn nicht materiell, so doch zeitlich 
fast ausnahmslos „leiden“ 34). | | 

Für die Bestimmung dieser mittleren Reaktionszeit — 
normales Zeitmittel möchte ich sie nennen — kommen ver- 
schiedene Berechnungsmethoden in Betracht; die gangbarsten 
sind die Bestimmung des arithmetischen und des wahrschein- 
lichen Mittels. Die letztere Berechnungsart besteht bekanntlich 
darin, dass die in Frage kommenden Reaktionszeiten ihrer 
Länge nach, ansteigend von der kürzesten zur längsten neben- 
einander gestellt werden und die mittelste Zeitgrösse als wahr- 
scheinliches Mittel angesehen wird. Diese Berechnung empfiehlt 
sich speziell dort. wo eine Reaktionsreihe einige abnorm lange 
Zeiten aufzeigt, welche auf die Bestimmung des arithmetischen 
Mittels einen irreführenden Einfluss auszuüben imstande sind, 
indem sich auf diese Weise eine Reaktionszeit ergibt, welche 
dem wahrscheinlichen Durchschnitt nicht entspricht 3). 

In den beigegebenen Tabellen (I-—V) erscheinen darum 
beide Methoden verwendet, allerdings ist hier der Unterschied 
zwischen den beiden Mitteln kein erheblicher. Dies erklärt 
sich einmal daraus, dass die Vp. eine ziemlich konstante Asso- 
ziationszeit beobachtet haben, zum anderen, dass die Reizreihe 
diesmal bloss 85 Assoziationen enthält. Tabelle II gibt einen 
Vergleich der mittleren Reaktionszeiten in Bezug auf die 
ganzen Reihen; bemerkenswert ist. dass auch hier, wie bei 
früheren Untersuchungen bei den „schuldigen“ Personen das 
wahrscheinliche Mittel gegen das arithmetische um ein Geringes 

34) Treffend Wertheimer, Exper. Untersuchungen zur Tatbestands- 
diagnostik, Inauguraldissertation, Leipzig, 1905, S. 40. 

3) Jung, Uber das Verhalten... S. 6. 


el 


zurückbleibt; positive Schlüsse über Kenntnis des Tatbestandes 
können hieraus selbstverständlich noch nicht gezogen werden. 


In den Tabellen III—V ist das temporelle Verhältnis 
für die irrelevanten, die komplexen und die nachkritischen 
Reaktionen detailliert dargestellt. Schon hier weisen bei den 
„schuldigen“ die den komplexen Assoziationen entsprechenden 
Zeiten eine merkliche Erweiterung gegenüber den Assoziations- 
zeiten der irrelevanten Reaktionen auf, namentlich, wenn das 
arithmetische Mittel in Betracht gezogen wird. Demgegenüber 
zeigt die unbeteiligte Vp. völlige Übereinstimmung zwischen 
der mittleren Reaktionszeit der ganzen Reihe und der bei 
irrelevanten bezw. kritischen und nachkritischen Assoziationen. 
Im übrigen ist aber auch das durch diese tabellarische Zu- 
sammenstellung erhaltene Bild keineswegs überzeugend und 
könnte auf diesem allein sicherlich keine Diagnose aufgebaut 
werden. 

Ganz anders aber wird das Bild, wenn wir bei jeder 
einzelnen Versuchsperson die exzessiv langen Reaktionszeiten 
herausheben und (dieselben selbständiger Betrachtung unter- 
werfen36). Als solche exzessive Zeiten bezeichne ich hier 
diejenigen, welche das wahrscheinliche Zeitmittel der 
.ganzen Reaktionsreihe um die Hälfte übersteigen; nur 
eine Differenz von solchem Ausmasse berechtigt uns 
m. E., daraufhin zu diagnostizieren. 

Da das wahrscheinliche Reihennittel bei Herrn Sp. u. O. 
1 Sek., bei Herrn St. 2 Sek. beträgt, so erscheinen hier als 
abnorm lange Reaktionszeiten diejenigen. welche dort 1,5 Sek.. 
hier 3 Sek. übersteigen. | 

Solche unverhältnismässig lange Zeiten weist Herr Sp. 
zwölf auf (s. Tab. VT), welche sich zwischen 1.6 und 6,2 Sek. 
bewegen. 

Von diesen entfallen auf: 


irrelevante Reaktionen 1 d.i. 83% 
nachkritische ,„ s Drg 16,70 
komplexe N 2 Vo 180 


38) Der in dieser Richtung von Kramer-Stern eingeschlagene 
Vorgang erscheint als sehr nachahmenswert. 


Fassen wir die nachkritischen und die komplexen 
Reaktionen zusammen, wozu wir nach dem oben Ausgeführten 
berechtigt sind, so entfallen auf diese komplexe Gruppe 91,7%, 
der exzessiv langen Reaktionszeiten, während für die komplex- 
freien Stellen bloss 8,3°/, verbleiben. 

Ähnliches zeigt sich bei Herrn O.; hier entfallen von 
fünfzehn zu langen Reaktionszeiten, welche sich hier zwischen 
1,6 Sek. und 4 Sek. bewegen, auf: 


irrelevante Reaktionen : 2 d.i. 13,30%, 
nachkritische . : 4, „26,7% 
komplexe N : 9 5.560,00 


Betrachten wir auch hier die beiden letzterwähnten 
Gruppen unter Einem, so ergeben sich für diese komplexe 
Gruppe 86,7%, aller Fälle, während die unverfänglichen 
Stellen bloss mit einem Prozentsatze von 13,3 an den exzessiven 
Reaktionszeiten partizipieren. 

Stellen wir diesen Ergebnissen die beim Unbeteiligten 
erzielten Resultate gegenüber, so erscheint die Sachlage 
wesentlich anders. Zunächst zeigt diese Vp. überhaupt nur vier 
abnorm lange Reaktionszeiten (3,2--5 Sek.), wovon zwei auf 
komplexe, zwei auf irrelevante Stellen entfallen, mit 
anderen Worten: die zu langen Zeiten sind hier gleich- 
mässig auf die ganze Reihe verteilt, die kritischen Stellen 
weisen nicht das geringste Überwiegen gegenüber den komplex- 
freien auf, während sich ein solches Prävalieren bei den 
Schuldigen in dem ausgesprochensten Masse zeigt (vergl. 
Tab. VD. 

Sicherlich kann der Umstand, dass die zu langen Reaktions- 
zeiten bei den „schuldigen“ Vp. an den komplexen Stellen in 
einem unverhältnismässie grösseren Prozentsatze vertreten 
sind, als an den komplexfreien, kein Spiel des Zufalls sein: 
diese Resultate sind derart signifikant, dass bereits auf ihnen 
allein die Diagnose aufgebaut werden könnte. 

Dieser Vorgang. die auffallend langen Reaktionszeiten im 
einzelnen Falle hervorzuheben und auf ihren Grund zu prüfen. 
erscheint mir denn auch als die einzig richtige Art der 
Benutzung der Reaktionszeit, welche auch künftighin zu ver- 
folgen sein wird. Die blosse tabellarische Zusammenstellung 


I 


It. 
{ 
iF 


JE. 


eines durelischnittlichen Zeitwertes hat für unsere Zwecke 
keine oder doch nur sehr geringe Bedentung und ist ledielich 
geejenet. bei unvorsichtiger Verwendung auf Irrwege zu führen. 
Denn in fühlbarster Weise haftet diesen Durchschnittsmassen 
jener Mangel an, der allen statistischen Berechnungen eigen 
ist: indem die Zusammenstellune der manniefachsten Fälle 
emen vermuteten Durchschnitt liefert, ist es unmöglich. dem 
Einzelfalle gerecht zu werden; indem die kürzesten und längsten 
Reaktionszeiten zusammengelegt werden. wird eine Zeiterösse 
eefunden, welehe weder der einen, noch der anderen Richtung 
in Wahrheit entspricht. 

Auf diesen Umstand ist es denn auch zurückzuführen, wenn 
derlei summarisch gewonnene Zeitwerte zuweilen nur um ein 
Geringes divergieren; und doch ist nichts gefährlicher, als die 
Diagnose auf einen Unterschied von wenigen Zehntelsekunden 
zu Stützen. Denn nie dürfen wir vergessen, dass es sich 
hier ja doch um die internsten Vorgänge handelt, um Seelen- 
funktionen, welche von zahlreichen unsunzugänelichen Faktoren 
abhäneie sind, die leicht eine geringe Verschiebung in der 
Assoziationszeit zur Folge haben können, ohne dass sich selbst 
der Untersuchte dessen bewusst wird. 

Aus diesem Grunde halte ich denn auch die Messung der 
Reaktionszeit mittels der Fünftelsekundenuhr als vollkommen 
hinreichend, welche Messunesart überdies noch den Vorteil 
hat, dass hier Aufmerksamkeitsstüruneen. wie sie mit dem 
Gebrauche komplizierter Apparate(Lippenschlüssel. Chronoskop) 
stets verbunden sind, vermieden werden können. Denn was 
soll uns die Messung nach Hundertstel- oder Tausendstel- 
sckunden nützen, wenn wir dergleichen subtile Zeitunterschierde 


ja doch nicht erklären können 37)? 


Sieht man aber von der Bewertung ganz kleiner Differenzen 
m den mittleren Reaktionszeiten ab, indem man lediglich die 


3”) Dies und nur dies wollte auch die von mir in der Monatsschr. 
für Kriminalpsych. u. Strafrechtsref., 1905, S. 183, gemachte Bemerkung, 
dass „wir im Allgemeinen der Mittel entbehren, um die subtilen 
Unterschiede in den Reaktionszeiten zu messen“ besagen, welche 
dann von Prof. Weygandt (l. c. Oktoberheft) so gänzlich miss- 
verstanden wurde. 


unverhältnismässig langen Reaktionszeiten heraushebt. und findet 
man, dass sich dieselben zum allergrössten Teile auf komplexe 
Reize beziehen. dann ist der Schluss, dass nur das Vorliegen 
einer Komplexkonstellation die Ursache der auffallenden 
Verlangsamung der Assoziationszeit gewesen sein konnte, voll- 
ständig gerechtfertigt. 

Nicht betont braucht zu werden, dass sich die Diagnose 
selbstverständlichniemalsaufdie Berücksichtieung' der Reaktions- 
zeit zu beschränken hat. dass vielmehr auch in Fällen. wie 
dein oben dargestellten, stets auch die übrigen Komplexmerkmale 
in Betracht zu ziehen sind. Hier denke ich neben den er- 
wähntenMomenten der Beschaffenheit der Reaktionen und der 
Perseverationstendenz der Vorstellungen an 


4. Die Reproduktion®®). 

Wir verstehen unter dem sog. Reproduktionsverfahren 
den Vorgang. dass kurz nach Absolvierung der Reaktions- 
reihe die Vp. befragt wird. wie sie auf Jedes einzelne Reizwort 
geantwortet habe. Hier stellt es sich nun heraus, dass die Vp. 
an einzelnen Stellen die frühere Reaktion wieder zu bringen 
imstande ist, während an anderen Stellen das Gedächtnis versagt. 
sei es, dass sich die Vp. an die geleistete Reaktion überhaupt 
nicht zu erinnern weiss und daher die Reproduktion ganz 
ausfällt. oder dass faktisch unrichtig reproduziert wird, indem 
als Reproduktion ein Wort gebracht wird, welches nicht das 
frühere Reaktionswort: ist. 

Man wäre versucht, anzunehmen, dass es blossem Zu- 
falle unterliegt, ob eine Vp. sich an die kurz vorher ab- 
gegebene Reaktion zu erinnern wisse oder nicht. tatsächlich 


38) Über den Begriff der Reproduktion vergl. Freud: Die 
Abwehrneuropsychosen, Neurolog. Centralblatt, 1894, S. 362 ff.; derselbe: 
Zum psych. Mechanismus der Vergesslichkeit in Monatsschr. für 
Psychiatrie und Neurol. Bd. IV, 1898, S. 436 ff., und „Über Deck- 
erinnerungen“ loc. cit. Bd. VI S. 215 ff.; Jung, Exper. Beobachtungen 
über das Erinnerungsvermögen, Centralbl. für Nervenheilkunde und 
Psychiatrie Nr. 196, ex. 1905 S. 653 ff. und neuerdings „Die psycholog. 
Diagnose des Tatbestandes‘‘ in Schweiz. Zeitschrift, XVII, S. 369 ff. 
(abgedruckt in diesen „Grenzfragen“ 1906) und meine Abhandlung 
„Die Assoziationsmethode im Strafprozess“ in Z. f. Strafrechtsw. XXVII 
S. 209 ff, 





ist dem nicht so. Es ist ein Verdienst Jungs, zuerst darauf 
hingewiesen zu haben, dass jene Stellen. an welchen die 
Erinnerung versagt, nicht kasuelle sind, dass vielmehr mit 
einer gewissen (resetzmässiekeit nur bei Assoziationen be- 
stinmter Art die richtige Reproduktion ausbleibt. während sich 
bei nicht derart qualifizierten die richtige Erinnerung einstellt. 
Diese „systematische Bedinetheit* äussert sich in der Richtung. 
dass vorzuesweise an jenen Stellen unrichtige reproduziert 
wird, welche durch einen eefühlsbetonten Komplex konstelliert 
sind, bezw. einer kritischen Assoziation unmittelbar folgen 
(sogenannte nachkritische Reaktionen). dass sich hingegen an 
indifferenten Stellen fast ausnahmslos die richtige Reproduktion 
einstellt. 

Die Annahme Jungs fand ich in meinen Untersuchungen 
bestätigt: kann man auch nicht behaupten, dass kritische 
Reaktionen ausnahmslos unrichtig. irrelevante ausnahmslos 
richtig reproduziert werden, so ist jedenfalls. wie noch unten 
m zeigen sein wird, die Tatsache evident. dass die durch 
einen Komplex konstellierten Assoziationen in einem auffallend 
grösseren Masse an den unriehtigen Reproduktionen partizipieren. 
als irrelevante, 

Diese Tatsache erscheint auffallend und der Erklärung 
helürftig, denn man sollte gerade das Umgekehrte erwarten, 
lass nämlich bei eleicheültigen Assoziationen, bei welchen 
Vp. nicht selten rein mechanisch. obne jegliche Überlewung, 
die Reaktion an den Zuruf reiht, die richtige Erinnerung aus- 
hleiben, dass sie sich hingegen konstant dort finden werde, 
wo die Vp. sich in ihrer Dissimulationstendenz auf die Bedeutune 
les Reizwortes „einstellt“ und ihre Reaktion als Produkt eines 
eigentlichen, bald kürzeren, bald längeren, Denkprozesses 
erscheint. 

Die Erfahrung beweist das Gegenteil: die Hlachsten und 
billigsten Assoziationen, wie Wortzusammensetzuneen, Klang- 
assoziationen, adversative Reaktionen u. dergl. werden mit 
einer geradezu frappierenden Richtigkeit wiedergebracht, 
während gehaltvolle innere Assoziationen, wenn dieselben unter 
dem Eintlusse einer Komplexkonstellation standen. falsch 
reproduziert werden. 

| 3% 


s ee 


Zum Belege hierfür greife ich aus dem dargestellten 
Experimente ein Beispiel aus vielen heraus: Die ganz ober- 
flächlichen Assoziationen „lachen-weinen“ „Meer (als „mehr” 
perzipiert) weniger“ werden von Herrn Sp. richtig reproduziert. 
während bei den komplexen Assoz. „Steinsalz-Pfeffer“ „Brief- 
Beschwerer“ die richtige Erinnerung ausbleibt. 

Welches ist der Grund für diese an sich merkwürdige 
Erscheinung? Die Ursache hiefür will Jung, den Lehren Freuds 
folgend, in dem dem menschlichen Erinnerungsvermögen eigenen 
(srundzuge finden, dass wir für angenehme Erlebnisse ein 
besseres Gedächtnis besitzen, als für deren Gegenteil. Diese 
Abhängigkeit der Erinnerung von dem mit einer Vorstellung 
verbundenen Gefühlstone soll wieder darauf zurückzuführen 
sein, dass wir uns an Angenchmes oft und gern, selbst nach 
Jahren erinnern, ein Gedanke, welchen bekanntlich bereits 
Vergil mit den Worten „forsan et haec olim meminisse 
juvabit“ zu trefflichem Ausdrucke gebracht hat, während ein 
Unlustaffekt die Erinnerung zu hemmen geeignet ist: ebenso 
gern als wir uns dort erinnern wollen, ebenso gerne möchten 
wir hier vergessen 39). 

In gleicher Weise soll auch der Unlustaffekt, mit welchem 
im allgemeinen komplexe Vorstellungen verknüpft sind - - man 
denke insbesondere an die Vorstellungen eines begangenen 
Verbrechens — die falsche Reproduktion zur Folge haben. 
während indifferente Assoziationen, da sie jedes Komplex- 
zusammenhanges entraten, richtig reproduziert werden. 

So wenig ich Freuds Ansicht, dass ein Unlustmotiv die 
Erinnerung zu hemmen geeienet ist und die Tatsache. dass 
wir „das Unangenehme resp. auch das mit dem Unangenehmen 
Assoziierte“ 40) mit Prädilektion vergessen, auf ihre Berechtigung 
anzweitle, so wenig möchte ich die Ansicht vertreten, dass auf 
diesen Umstand die mangelhaften Reproduktionen bei unseren 
diagnostischen Untersuchungen zurückzuführen seien. 


3) Vergl. übrigens über die ganze Frage meine Abhandlung: 
„Über den Einfluss affektiver Werte auf die Richtigkeit der Aussage" 
in Stern's Beiträgen zur Psych. d. Aussage, 2. Folge 3. H. S. 156 fl. 
und die daselbst zitierte Literatur. 

£) Jung, Experim. Beobachtungen ... . S. 664. 


— 37 pem 


Zunächst muss daran gedacht werden, dass bei unseren 
Experimenten zwischen jenem ersten Auftreten einer Assoziation 
und deren Reproduktion gewöhnlich bloss eine ganz kurze 
Zeit verfloss, — in der Regel erfolgte das Reproduktions- 
verfahren wenige Minuten nach Absolvierung der Reaktions- 
reihe -- für dieses minimale Zeitintervall dürfte aber kaum 
das Gesetz von der Erinnerungshemmung unlustbetonter Vor- 
stellungen Geltung beanspruchen können; denn wenn wir von 
einer grundsätzlichen Verschiedenheit des Gedächtnisses 
sprechen, so können hier wohl überhaupt nur solche Erlebnisse 
in Frage kommen, seit deren Auftreten eine geraume Zeit 
verstrichen ist, hingegen kann m. E. in unseren Fällen die 
mangelhafte Reproduktion nicht auf die erwähnte Erscheinung 
zurückgeführt werden; für derlei geringfügige Zeitintervalle 
könnte m. E. lediglich ein ganz ausserordentlich starker Unlust- 
ton eine Erinnerungshemmung verursachen, welche bei unseren 
Untersuchungen stets zu vermissen war. Wie bereits wiederholt 
zu betonen Gelegenheit war, ist es uns, wie ja selbstverständlich, 
nirgendwo gelungen, bei den „schuldigen“ Vp. künstlich einen 
derartig intensiven (refühlston zu schaffen, wie ihn die Natur 
dann mit sich bringt, wenn es sich um ein wahrhaft peinliches 
Selbsterlebnis handelt. Selbst dort. wo eine Vp. die ehrlichste 
Absicht hatte, Unkenntnis zu simulieren und einen besonderen 
Ehrgeiz darein setzte, den Beobachter irrezuführen, selbst dann 
war wohl ein wirklich starker Gefühlston nicht gegeben, jeden- 
falls mangelte ihm die Intensität auf das Erinnerungsvermögen 
hemmend einzuwirken. Wohl liefern unsere Untersuchungen die 
oleichen praktischen Resultate, zu welchen Jung gelangte, dahin 
echend, dass die mangelhafte Reproduktion nicht die gleich- 
»iltigen, sondern vorzugsweise die komplex konstellierten Asso- 
ziationen betrifft; im Gewensatze zu Jung möchte ich jedoch die 
theoretische Begründung dieser Erinnerungsstörung aus den 
oben angeführten Ursachen nicht im „starken Gefühlstone“ 
suchen. 


M. E. ist vielmehr, zumindest insofern unsere Arbeiten 
in Betracht kommen, der theoretische Grund für diese Er- 
scheinung darin zu finden, dass sich bei jenen Assoziationen, 
welchen eine Komplexkonstellation zugrunde liegt, Dissi- 





38 


mulationstendenz der „schuldigen* Vp. einschiebt, welche neben 
einer Verlangsamung der Reaktionszeit bewirkt. dass Vp. nicht 
die durch das Reizwort primär erregte Vorstelluine in der 
Reaktion zum Ausdrucke bringt, dass sie dieselbe vielmehr. 
um sich nicht zu verraten. ablehnt und nach einer anderen 
unauffälligen Reaktion sucht. So verlässt die Vp. gewissermassen 
jene Bahn, die ihr vom Assoziationszesetze streng vorge- 
schrieben ist und schlägt mit ihrer Reaktion einen Seiten- 
weg ein, welchen sie später zu finden ausserstande ist. 

Ich möchte eine solehe Vp. einem Wanderer ver- 
gleichen, welcher in dunkler Nacht durch einen Wald geht 
und aus irgend einem Grunde die sichere. webahnte Strasse 
verlässt. um einen Nebenwee einzuschlaeen. dann aber nicht 
mehr in der Lage ist, die einmal verlassene Bahn wieder- 
zufinden. 

Wenn also beispielsweise Vp. Sp. unter dem  Einflusse 
der dureh die Reizworte „Buch, Strafe, Instrument, qualvoll” 
aneeschnittenen Komplexvorstellung „Folterinstrumente in der 
Theresiana“ auf den Zuruf „Kaiser“ mit „Josef“ (Ass. 77) 
antwortet, zur richtigen Reproduktion in der Folge aber nicht 
imstande ist, so licet der Grund darin, dass .„‚Josef” nicht die 
Benennung der dureh den Zuruf „Kaiser“ primär erregten 
Vorstellung darstellt. diese vielmehr „Kaiserin Maria Theresia” 
lauten müsste; begreiflicherweise unterdrückt Vp. eine derartige 
Reaktion und ereift in ihrer Dissimulationstendenz zu der ihr 
unverdächtie scheinenden — allerdings mittelbar komplexen! - 
Reaktion ‚Josef (wobei natürlich an ‚Josef II gedacht ist). 





Und ganz den gleichen Zusammenhang können wir wn- 
mittelbar darauf registrieren, wenn diese Vp. auf Kodex nicht. 
wie sie dem Zwanee des Assoziationszesetzes foleend hätte 
tun müssen, mit Theresianus. sondern mit Karolinus reagiert. 
bei der Reproduktion aber nur soviel bestimmt weiss. dass sie 
den Zuruf „Kodex“ nicht mit Theresianus beantwortet habe: 
so kommt sie zu der auffälligen Antwort „Austriacus”. einer 
Reproduktion. welehe wir uns ganz gut erklären können. 
wenn wir daran denken. dass sich Vp. hierbei einerseits daran 
erinnert hat, dass die Theresiana. das heisst ein österreichisches 
Strafgesetz, in Frage sei, von der wirklich geleisteten Reaktion 


a e 


aber nur soviel noeh weiss, dass es ein lateinisches Adjek- 
tivum auf usendieend gewesen sei; die „Kontamination“ 
dieser beiden Vorstellungen ergibt in höchst natürlicher Weise 
die auf den ersten Bliek als abnorm erscheinende Reproduktion 
„Austriacus" 41), 

Ähnliche Beispiele liessen sich nach Willkür häufen: allein 
bereits die angeführten scheinen das oben Gesaete hinlänglich 
zu bestätiven. Haben wir in dem erwähnten Umstande eine 
Begründung für die unrichtige Reproduktion komplexverwandter 
Assoziationen gefunden. so liegt darin zugleich auch die Ur- 
sache dafür, dass sich an unverfänglichen Stellen fast aus- 
nahmslos die richtige Erinnerung einstellt. Denn wohnt dem 
Reizworte cin Komplexcharakter nicht inne. dann reagiert 
Vp. tatsächlich mit dem ersten Einfall. welcher dureh den 
Zuruť geweckt wird. und ist, da sich bei der Reproduktion 
ganz der gleiche Assoziationsprozess-abspielt. wie bei der ersten 
Reaktion, selbst nach mehreren Tagen. wie ich mieh zu über- 
zeugen Gelegenheit hatte, in der Lage. richtig zu repro- 
duzieren, richtig selbst dann, wenn die betreffenden Assoziationen 
lach und inhaltsarm waren. 

Allerdings muss hier darauf hingewiesen werden, dass sich 
bei unseren tatbestandsdiaenostischen Untersuchungen nicht 
in allen Fällen, in denen ein komplexes Reizwort zugerufen 
wird, der oberwähnte Vorgang abspielt. dass nämlich Vp.. des 
kritischen Charakters des Zurufes sich bewusst. den ihr vom 
Assoziationseesetze vorgeschriebenen normalen Weg verlässt: 
vielmehr bleibt zuweilen diese „Einstellung“ auf die Bedeutung 
des Reizwortes aus, welcher Umstand zur Folge hat. dass Vp. 
auch hier mit dem ersten, allerdings gewöhnlich direkt ver- 
räterischen, Einfalle reagiert, dessen Bedeutung ihr oft erst 
nach stattgehabter Assoziation zu Bewusstsein kommt. #2) 


4) Man vgl. hierzu übrigens die interessant ähnliche Konstellation 
indem von Freud referierten Selbsterlebnisse , Zum psych. Mechanismus 
der Vergesslichkeit“ in Monatsschrift für Psych. u. Neur. 1899, S. 436 ff. 
insbes. S 440. 

42) In diesem Sinne muss Thumb-\Marbe beigestimmt werden, 
wenn sie bemerken: „Der Fall, dass sich an das gehörte Wort eine 
Bedeutungsvorstellung anreiht, diese eine andere Vorstellung assoziiert 


— 40 — 


Wenn nun beim „Sehuldieen*“ auch in solchen Fällen 
die Erinnerung anscheinend versagt, so ist dies wohl darauf 
zurückzuführen. dass er sich in der Regel an die abgegebene 
Reaktion in Wahrheit erinnert, dass er sich jetzt aber auch des 
verräterischen Charakters derselben bewusst wird und nur, um 
sich nieht abermals zu verraten, vorgibt, sich nicht mehr an 
die abgegebene Reaktion erinnern zu können, in der Hoffnung, 
auf diese Weise besser davonzukommen. Natürlich ist dies 
eine Selbsttäuschung. da das totale Ausfallen der Reproduktion 
mit der falschen Wiedergabe auf eine Stufe zu stellen ist. 
weshalb ich denn auch bei der Wertung der Versuchsergebnisse 
stets die unrichtigen Reproduktionen den völlig mangelnden 
vleich behandle. | 

Mae ich somit in der theoretischen Begründung der er- 
wähnten Erscheinung von Jung abweichen, so besteht voll- 
kommene Übereinstimmung bezüglich der in dieser Richtung 
praktisch erzielten Resultate: wie Jung 43) konnte auch ich 
die Wahrnehmung machen. dass sich unrichtige Reproduktionen 
vorzugsweise an komplexhaltigen Stellen finden, während irrele- 
vante Assoziationen mit einer gewissen Gesetzmässiekeit fast 
ausnahmslos richtig reproduziert werden. 

Betrachten wir nun die in dem oben ausgeführten Ver- 
suche erzielten Resultate. so ist zunächst die Tatsache auffällig. 
dass Herr Sp. und Herr O. (beide „schuldig“) in unvergleichlich 
erösserenm Umtanee falsch reproduzierten, als Herr St. (un- 
schuldig!) 

Während bei der letzterwähnten Vp. bloss an sieben Stellen. 
also in 8,2% aller Assoziationen, die richtiee Reproduktion 
ausblieb, versagte bei Herrn Sp. die Erinnerung in siebenund- 
zwanzig Fällen. also 31.7 °,. und bei Herrn O. sogar in 
neunundzwanzie Fällen, das sind 34.1 0/ọ! Untersuchen wir 
die unrichtiegen Reproduktionen näher, so entfallen bei Herrn 
St. von den sieben mangelhaften Repr. im Ganzen vier Fälle 
auf komplexe Reize, bei Herrn Sp. hingegen sechzehn, bei 





und dann die letztere von .der Versuchsperson benannt wird, ist jeden- 
falls nicht der gewöhnliche.“ (a. a. O. S. 15). 

483) Vgl. hierzu neuerdings den Bericht von Emil Zürcher in 
Aschaffenburg’s Monatsschrift, Juliheft 1906. 


=... k 


Herrn O. sogar neunzehn Fälle! Somit ist die falsche Repr. 
bei den komplexkonstellierten Assoz. beim Schuldigen viermal 
bezw. fast fünfmal so häufig vertreten als beim Unschuldigen! 

Rechnen. wir bei den beiden Schuldigen jene Fälle. in 
denen zwar richtige Reproduktion, jedoch „nach längerem 


Zögern." erfolgte derlei Repr. weist Herr St. überhaupt 
nicht auf — zu den unrichtieen hinzu. wozu wir um so mehr 


berechtiet sind. als sich dieselben tatsächlich bloss an komplexen 
Stellen finden. so beträgt die Zahl der mangelhaften Repro- 
duktionen bei den Schuldigen 31. d. s. 35.2 0%, aller Repr. 
überhaupt. gegen 7.d.s. 8.20/ beim Unschuldigen!(s. Tabelle VII). 
Es entfallen hievon auf komplexe Assoziationen: 

bei Herrn Sp. 20 mangelhafte Repr. d. 1.645 %/oaller minderw.Repr. 
bei Herrn 0.21 a en POTTO o » "3 ; 
während H. St. (unschuldig) im Ganzen vier auf Komplexe 
bezügliche unrichtige Repr. zeigt! Somit sind auch hier, ähnlich 
wie bei den Reaktionszeiten. «die mangelhaften Repr. auf 
kritische und indifferente Stellen in nahezu «leichmässiger 
Weise verteilt. Diese Zahlen sprechen... wie ich glaube, eine 
zu deutliche Sprache, als dass [ie noch eines Kommentars 
hedürften. 


VI. Theoretische Erwägungen. 


Bei abschliessender Betrachtung der Versuchsergebnisse 
kommen Kramer-Stern zu dem Urteile, dass den bei der 
Diagnose des Tatbestandes benützten Hilfsmitteln. wenigstens 
vorläufig noch nicht jene „zwingende Sicherheit“ zukomme. 
welche für eine praktische Anwendung unerlässliches Erfordernis 
sci. 44) Demgegenüber sci allerdings darauf hingewiesen, dass 
die genannten Autoren nicht sämtliche uns bisher bekannten 
Komplexmerkmale benützten, insbesondere die Perseveration 
und das Reproduktionsverfahren ganz unberücksichtigt liessen. 
von denen namentlich das letztere uns ausserordentlich gute 
Dienste geleistet hat; vielleicht wären auch Kramer-Stern 
bei Benützung aller Komplexmerkmale zu einem günstigeren 
Urteile gelangt. 


4) a a. 0. S. 30, 


+2 


Zutreffend aber ist ihr Hinweis darauf, dass sich cme 
Diagnose des Tatbestandes niemals auf blosse Vermutungen 
stützendürfe, dass vielmehr den erzielten Resultaten „zwingende 
Sicherheit“ zukommen müsse. soll an eine praktiseh-forense 
Verwertung gedacht werden. Nur dann, wenn das erzielte 
Gesamtbild — komplexe Reaktionen. Perseverationen, abnorme 
Reaktionszeiten und mangelhafte Reproduktionen —- so untrüglich 
ist. dass die Resultate gewissermassen in die Augen springen 
und für jedermann leicht erkenntlich sind. nur dann darf auf 
Kenntnis des Tatbestandes diagnostiziert werden. Hier möchte 
ich zu dem, namentlich von Jung eineeschlawenen Vorgang. 
von welchem zu sprechen bereits oben (NS. 17) Gelegenheit 
war, Stellung nehmen. wornach jede einzelne Assozjation auf 
ihren inhaltlichen Wert zu deuten gesucht wird. Zunächst muss 
darauf hingewiesen werden. dass derlei Untersuchungen nicht 
geringe psycho-analytische Fähigkeiten erfordern, und dass 
eine derartige Begabung, wie sie der geniale Freud besitzt 
und von welcher Jung. Freuds Lehren folgend, glänzende 
Beweise liefert, nur äusserst selten zu treffen sein wird. 

Aber selbst zugegeben, dass sich diese Psychoanalyse 
„erlernen“ lasse, so spricht gegen einen derartigen Vorgang. 
insoferne unsere forensen Untersuchungen in Frage kommen. 
(lie Tatsache, dass es Freud, ebenso wie Jung, mit Kranken 
zu tun hat, für welche das höchste Interesse besteht, dass 
der sie störende Komplex aufgefunden werde. da mit der Er- 
forschung dieses Komplexes der Krankheitserreger entdeckt 
und so zugleich eine rasche Heilung möglich ist. Daraus 
ergibt sich, dass hier der Untersuchte mit der grössten Bereit- 
williekeit dem Arzte an die Hand geht und ihm jedmögliche 
Aufklärung gibt. Ganz anders bei unseren Inquisiten, welche 
(las höchste Interesse daran haben, dass der sie beherrschende 
Komplex unentdeckt bleibe und darum dem Untersuchenden 
den grössten Widerstand entgegensetzen, der u. U. die ganze 
Psychoanalyse in Frage stellen kann. 

Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass in unseren 
Fällen der Untersuchende dem Arzte gegenüber insoferne im 
Vorteil ist, als jenem der Tatbestand inhaltlich bekannt ist. 
und seine Aufgabe lediglich auf Erforschung des Vorhandenseins 








we e a 


dieses Komplexes beim Untersuchten hinausläuft. Allein auch 
diese Kenntnis würde dem Beobachter, wenn er auf psycho- 
analytische Untersuchung angewiesen wäre, nieht selten im 
Stiche lassen. 

Wie unsere bisherigen Untersuchungen dartun, ist aber der 
Inquirent auf derlei Erwägungen absolut. nicht angewiesen; dass 
psychoanalytische Begabung., wenn sie jemand besitzt, nicht zuni 
Schaden gereicht, braucht nicht erwähnt zu werden. Möglich 
aber ist es, und darauf möchte ich besonderen Ton legen, dass 
ohne jede Psychoanalyse u. U. mit grösster Präzision diag- 
nostiziert werden kann: dieser ist der Unsehuldiee. jener der 
Schuldige. Hiervon überzeugten mich am besten unsere Wiener 
Arbeiten, bei welehen. wie bereits erwähnt. 4) der Vorgang 
eingeschlagen wurde, dass nach Abwieklung des ganzen Ver- 
suches (Assoziation und Reproduktion aller Vp.) zuerst die 
Seminarbeteilieten befragt wurden, wer nach ihrer Ansicht 
der „Schuldige* und wer der „Unschuldige* sei; erst nachdem 
diese „Jury“ ihr Votum abgegeben hatte. stellte der Beobachter 
seine Diagnose. Hierbei konnten wir die Wahrnehmung machen, 
dass mit geringen Ausnahmen vollständig richtig diagnostiziert 
wurde und es nur ganz vereinzelt vorkam, dass ein „Sehnldieer” 
für „unschuldig“ erklärt wurde und nmeekehrt. Und doch 
erlangte der grösste Teil dieser Leute überhaupt erst in unseren 
Übungen Kenntnis von der Methode! Ganz erklärlich; denn 
es liegt, und dies wird fast allgemein übersehen, die Schwierig- 
keit der Aufgabe nicht so schr im „Entlarven“ des Schuldieen 
und bzw. Erkennen des Unschuldigen; schwieriger als dies ist 
lie Anordnung der Reizreihe, welehe derart erfolgen muss, 
dass sie, einerseits für den Unschuldigen ganz unverfänglich, 
andererseits doch Komplexe in solcher Zahl und solcher Stärke 
aufweist, dass sie für den Scehuldigren verhänenisvoll wird; 
lass sich derlei Reizreihen herstellen lassen, glaube ich gezeigt 
zu haben. Ist aber einmal die Anordnung der Reizworte eim- 
wandfrei, dann ergeben sich die Komplexmerkmale und die 
darauf basierende Diagnose von selbst. 

Insoweit sich der gegenwärtige Stand der Dinge über- 
schen lässt, muss zugegeben werden, dass schon heute in 


EUER 


t) vgl. diese Abhandlung S. 4. 


44 


bestimmten Fällen. in welchen der Tatbestand die erforderliche 
kEignung besitzt. auf dem Were der psychologischen Tatbestands- 
diagnostik mit vollster Präzision die Unschuld konstatiert 
werden kann; daneben lässt sich bezüglich jener Personen. 
welchen der gesuchte Tatbestand bekannt ist. mit ziemlicher 
(rewissheit auf die Schuld oder mindestens den dringenden 
Verdacht der Tatbestandskenntnis diaenostizieren. 

Wenn ich diese Behauptung aufstelle. vergesse ich nicht 
der Schwieriekeiten. welche sich unter Umständen einer 
präzisen Diagnose entreeenstellen können. Diese sind aber 
ebensowenig in den „unermesslich verschlungenen Pfaden“ 
unserer Assoziationen. wie Kraus romantisch bemerkte. als 
in der Möglichkeit. dass eine schuldige Vp. absolute Unkenntnis 
sinmuliere. 46) gelewen. sie sind vielmehr dort zu suchen, wo sie 

4#) Einen neuerlichen Beweis für die Richtigkeit der von mir dies- 
bezüglich wiederholt aufgestellten Vermutung, gab mir in dem oben 
dargestellten Versuche Herr O , welcher vor dem Experimente ein Gegner 
der Methode, seine „Überzeugung“ dahin geäussert hatte, dass es bei 
einiger Energie unschwer möglich sei, den Beobachter irrezuführen, 
nach dem Versuche klein beigeben musste, es sei ihm trotz grösster 
Anstrengung ein „Entrinnen* unmöglich gewesen. 

Ob man, um hier auch zu der von Kramer-Stern annäreelen 
Frage Stellung zu nehmen, zwischen den beiden Geschlechtern eine 
verschiedene „Verstellungsfähigkeit‘ in der Richtung anzunehmen hat, 
dass Frauenspersonen ganz allgemein über höhere Simulationsqualitäten 
verfügen als Männer, glaube ich vorläufig noch sehr bezweifeln zu dürfen. 
Wenn die genannten Autoren darauf verweisen, dass sie aus den 
Reaktionen einer ihrer weiblichen Vp. nichts herausbekamen und sich 
für ihre Behauptung auch auf Hans Gross und Wertheimer berufen, 
so möchte ich demgegenüber bemerken, dass meine Experimente, insoferne 
hierbei Damen als Vp. in Betracht kommen, eher für die gegenteilige 
Ansicht zu sprechen scheinen. U. a. reagierte eine weibliche Vp. in 
-einem Falle, in welchem es sich allerdings nicht um einen künstlichen 
Tatbestand, sondern um höchst natürliche Eigenkomplexehandelte, derart, 
dass sie ihre intimsten Geheimnisse verriet, und dies, trotzdem sie 
über eine ausserordentliche Intelligenz verfügte. 

Ausserdem konute ich bei weiblichen Vp. wiederholt die Wahr- 
nehmung machen, dass Reizworte, die das Gebiet des Sexuellen auch 
nur entfernt berührten, zuweilen geradezu erschreckende Reaktionen 
lieferten: Assoziationen wie „süss — küssen“ „Bett — Mann“ u. ähnliche 
gehörten durchaus nicht zu den Seltenheiten. Übrigens glaube ich in 
dieser Richtung auch bei Jung völlige Übereinstimmung zu finden. 





—- 45 — 


bisher so gut wie ganz unberücksichtigt blieben, in der Inter- 
ferenz der Komplexe. 41) Wäre die Seele des „Unschuldigen “ 
eine tabula rasa, frei von allen Komplexen und wiese bloss 
die „schuldige“ Vp. Komplexe auf, dann wäre es cbenso 
leicht als sicher, Schuld und Unschuld zu erkennen. Dem 
aber ist in der Tat nicht so: es gibt keinen Menschen. der 
nicht irgendwelche Komplexe, bald sfärker. bald schwächer 
betont, hier in grösserer, dort in geringerer Zahl. aufwiese, 
Komplexe des Standes, Berufes, des Sexnallebens, überhanpt 
aller im Vordergrunde des Interesses stehenden Erlebnisse und 
Strebungen. 

Solange diese Komplexe mit den dem gesuchten Tatbestanidle 
eirenen Inhalten keine Wesenseleichheit besitzen. vermögen 
sic auf den Gang des Verfahrens keinerlei Einfluss zu üben, 
Schwieriger aber wird die Sachlage, wenn sich zufällig Inter- 
ferenzen zwischen diesen eigenpersönlichen Komplexen und jenen 
des Tatbestandes ergeben; hier könnte es dann vorkommen, dass 
eine faktisch unschuldiee Vp. in einem oder dem anderen Falle 
verdächtig reagiert. Gerade dieser Umstand mahnt dazu, auf 
die Herstellung der Reizreihen die höchste Sorgfalt zu ver- 
wenden. insbesondere wird in dieser Richtung darauf zu schen 
sein, dass die Teilinhalte in der Reihe der Zurufe eine derartige 
Anordnung finden, dass sie nicht offen zu Taxe liegen, und so 
lediglich dem Schuldieen als Komplexe erkennbar sind, für den 
Unsehuldigen aber dunkel und zusammenhanglos bleiben. 
Letzteres kann insbesondere dadurch erreicht werden, dass den 
kritischen Zurufen abschwächende resp. direkt ablenkende Reiz- 
worte unmittelbar vorauszeschickt werden, 48) wodurch bewirkt 
wird, dass den „unschuldigen“ Vp. die kritischen Teilinhalte 
weder vereinzelt. noch m ihrem Zusammenhange zu 
Bewusstsein kommen. Zu einer derartigen Anordnung bedarf 
es keiner besonderen Berahung, längere Übung erscheint als 
hinreichend. 

Auf einen Umstand möchte ich hier noch hinweisen, welcher, 
wie ich sehe, in der Literatur wenig berücksichtigt wurde. 





41) Vgl. hierüber bereits meine Abhandlung in Z. f. Strafrechtsw. 
XXVII. S. 207 f. 


48) Über den Begriff der „direkten Ablenkung“ siehe Wertheimer 
Inauguraldiss. S. 15, 


u 46: 


dies ist die Bestimmung eines Reizwortes als eines 
komplexen von Seite des Versuchsleiters. Es geht nicht 
an, dass der Experimentator von vornherein gewisse Reizworte 
als komplex, andere als irrelevant festsetzt und damach die 
Wertung der Versuchsresultate vornimmt. Denn ob ein Zuruf 
für die Versuchsperson kritisch ist und als solcher auch 
von ihr aufgefasst wird, das hängt nicht von der Verfürme 
des Beobachters. sondern von der Vp. selbst ab. 

So haben sich bei meinen Untersuchungen wiederholt 
Fälle ergeben, in welchen Reizworte, welche von vornherein 
als komplex gedacht waren, ihre Wirkung vollständig verfeblten, 
einfach deshalb, weil sie von der Vp. in einem harmlosen Sinne 
apperzipiert und dementsprechend beantwortet wurden, und es 
kam andererseits vor, dass die Vp. auf Reizworte, die a priori 
als irrelevant gedacht waren, komplex antwortete, deswegen, 
weil diese Zurufe bei ihr komplexe Bedeutungsvorstellungen 
ausgelöst hatten. | 

Daraus ergibt sich aber die wichtige —- m. B. bisher 
nicht gewürdigte —— Tatsache. dass man für die Wertung der 
Versuchsereebnisse nicht gewisse Stellen von vornherein als 
indifferent. andere als kritisch bestimmen und von diesem 
Standpunkte aus die Resultate werten darf. vielmehr muss nach 
dem Versuche am einzelnen Falle geprüft werden, ob faktisch 
ein Zuruf komplex gewirkt hat oder nicht und auf Grund dessen 
erst die Wertung vorgenommen werden. 

Dieses Moment erscheint mir für die ganze Diagnose von 
Wichtiekeit u. zw. einmal in materieller Hinsicht. indem der 
Unstand, dass Vp. auf einzelne, vom Beobachter als komplex 
angesehene Reize aus dem erwähnten Grunde harmlos reagiert, 
auf Unkenntnis des Tatbestandes schliessen lassen kann. dann 
aber auch in temporeller Richtung, da unter den erwähnten 
Umständen bei Bestimmung des normalen Mittels leicht ein 
Fehler nnterläuft. | 

Gewiss wird man auf die Dauer nicht bei theoretischen 
laboratoriumsversuchen stehen bleiben können. bei denen cs 
um die Beschaffung des erforderlichen Gefühlstones stets seine 
liebe Not hat. lurfreulicherweise ist dem Vernehmen nach 
in letzterer Zeit au verschiedenen Orten die Praxis unserer 


ili 


m 


Ir 
j 


E 


Methode näher getreten; ihre Anwendung auf wirkliche Fälle 
des Lebens, selbstverständlich vorläufie noch in einer, dem 
cange des Strafverfahrens unpräjudizierlichen Weise, wird 
een, ob unsere Arbeiten keinen weiteren Wert haben als 
den, die genetische. Psychologie zu bereichern! —- 


VII. Die strafprozessuale Frage. 

Nachdem im Vorherechenden die Assoziationsmethode in 
technischer Richtung Besprechung gefunden hat, sollen die 
toleenden Zeilen der Lösung des strafprozessualen Problems 
dienen. Hier harren zunächst zwei Fragen der Beantwortung: 
in welchen Fällen kann in praxi an eine Anwendung der 
Methode gedacht werden? und in welchen Stadium des Straf- 
Prozesses könnte dieselbe erfolgen? 

Es ist zunächst selbstverständlich. dass die Methode, selbst 
wenn sie sich noch so eut bewähren würde, fortan nicht in 
allen Straffällen Anwendung erfahren kann oder gar unsere 
hisherige Untersuchung zu verdrängen bestimmt ist. 49) Daran 
konnte nicht ernstlich gedacht werden und daran hat niemand. 
ter mit dem Wesen und Inhalt unserer Arbeiten vertraut ist. 
gelacht! Denn es werden sich in der Wirklichkeit Fälle ergeben, 
in welchen eine psychologische Diagnose des Tatbestandes von 
vornherein als aussichtslos erscheinen wird, in anderen wieder 
wird der Erfolg völlig zweifelhaft sein. Wurde beispielsweise 
an einem Reisenden in einer einsamen Waldeegend, fernab von 
jeder menschlichen Behausune ein Raubmord verübt und das 
Opfer aller — dem Inquirenten unbekannten —- Habseligkeiten 
beraubt, so würde hier wohl der Diagmostizierende in Ver- 
lerenheit kommen, wollte er seine Reizreile zusammenstellen. 
für welehe ihm die Komplexe entweder gänzlich abeingen 
oder doch nur so spärlich gegeben wären, dass sie kein gc- 
eienetes Substrat für eine zweckmässige Reizreihe abzueehen 
imstande wären. 

Demgegenüber werden allerdings Straffälle vorkommen. 
welehe eime ganze Menge gefühlsbetonter, lediglich dem 
Schuldigen bekannter Komplexe aufweisen werden; bei diesen 


ae a. 


ne) Sehr mit Unrecht ‚bezeichnet darum Dr. Stekel in einem 
übrigens kaum lesenswerten Artikel in der Wiener „Zeit“ vom 31.Mai 1906 
unsere Methode als „Strafuntersuchung der Zukunft,“ 


kann die Methode bei sorefältigster Zusammenstellung der 
Reizreihe und genauer Prüfung der sich ergebenden Komplex- 
merkmale Befriedigendes leisten. 

Als Fälle. welche für die Anwendung der Assoziations- 
methode die erforderliche Eienung besitzen dürften, erscheinen 
zunächst Straftaten, welche an einem nur wenigen, womöglich 
nur dem Täter zugänglichen Orte begangen wurden, z. B ein 
Einbruchsdiebstahl in einem versperrten Raume oder an einem 
stets verschlossenen Koffer u. del. Die lokale Koexistenz der 
an diesem Orte befindlichen Gegenstände und die raumzeitliche 
Assoziation «derselben mit der Straftat. können hier einer 
exakten Diagnose die nötige Basis bieten. Erleichtert wird 
diese in bedeutendem Masse dann werden. wenn die betreffende 
Örtlichkeit Realien besonderer Art aufweist, z. B. Werkzeuge. 
Maschinen. Waffen. Bilder. Hier wird man zuweilen. voraus- 
gesetzt natürlich. dass der zu untersuchende Vorstelluneskom- 
plex die erforderliche Bereitschaft und Gefühlsbetontheit auf- 
weist, auf Assoziationen stossen. welche oberflächlich betrachtet 
ganz sinnlos wären, die sich aber bei näherer Prüfung als 
das Produkt der räumlichen Koexistenz von Gegenständen 
der verschiedensten Art darstellen. und welehe darwn auch 
vom Unschuldigen gar nicht in einem Gedanken zusammen- 
gefasst sein können; gerade dieser Umstand wird den Experi- 
mentator zuweilen sogar in die Lage versetzen, den Gedanken 
des Schuldieen in lokaler Richtung genau folgen zu können, 
was die präzise Diagnose nur zu erleichtern imstande ist. 50) 

Weist der Tatort keine derartigen Sonderheiten auf, dann 
wird allerdings die inhaltliche Beschaffenheit der Reaktion 
nicht viel besagen und man wird um so genauer die übrigen 
Momente als qualitative Abnormität. zu lange Reaktionszeit 
und mangelhafte Reproduktion berücksichtigen müssen. 

Selbstverständlich muss sich mit dem lokalen Moment 
das höchstpersönliche der Tat paaren und beim Vorhandensein 
der erforderlichen Gefühlsbetontheit den Vorstelluneskomplex 
immer und immer wieder in den „Blickpunkt des Bewusst- 
seins“ setzen. 





E) Vgl. hierzu meine Ausführungen in der Allg, österr. Ger. Ztg. 
Nr. 17 v. J. 1905. 





se 46 ss 


Diesen Fällen werden im forensen Leben jene gegenüber 
stehen, welche jedes räumlichen Charakters entbehren. welche 
also lediglich in materieller, d. h. inhaltlicher Beziehung in 
Betracht kommen. Hieher gehören etwa gefährliche Drohung 
oder Erpressung, begangen durch anonyme Schreiben, De- 
leidigende Spotteedichte, wie sie namentlich in letzterer Zeit 
im Deutschen Reiche vielfach erwähnt wurden u. dere]. Der 
Vorteil. welchen diese Tatbestände in sich bergen, ist der. 
dass ihr Inhalt faktisch im alleemeinen nur von Schuldieen 
(Verfasser, Schreiber) gekannt wird. | 

Sicher wird die Schwere der Tat auch die Stärke des 
(tefühlstones beeinflussen und damit zugleich auch für die 
Versuchsresultate selbst von höchstem Werte sein: in dieser 
Richtung hat Grabowsky5l) wohl das Richtige getroffen, 
wenn er hervorhebt. dass sich die Assoziationsmethode vor- 
züelich für sog. Kapitalsachen (insbesondere Letalitätsver- 
hrechen) eienen werde. ! 

Schwieriger nun als die Beantwortung der ersten Frage 
ist die der zweiten. in welchem Prozessstadium die Methode 
zur Anwendung gelangen soll. Hier ist m. E. zunächst von 
dem von mir wiederholt zum Ausdrucke gebrachten Gedanken 
auszugehen, dass die Diagnose in erster Linie zur Erforschung 
des „Unschuldigen“ und erst in zweiter Linie zur Überführung 
des „Schuldigen® — beide Ausdrücke in unserem Sinne ge- 
braucht — dienen soll. Der Fälle, in welchen die Versuchs- 
ergebnisse von so überzeugender Stärke sein werden. dass 
der Beobachter in der Lage sein wird, sofort mit Bestimmtheit 
jemanden als „Schuldig“ zu erklären, wird es in der Wirklich- 
keit vermutlich nicht sehr viele geben. Denn nur dann. wenn 
das Gesamtbild der Reaktionen inhaltlich verdächtige Asso- 
ziationen, abnorme R.-/. bei kritischen Reizen und mangelhafte 
Reproduktion an diesen Stellen. sowie qualitative Abnormitäten 
aufweisen wird, erst dann wird die Diagnose direkt auf Kenntnis 
des Tatbestandes lauten können. | 

Hier muss jedoch darauf hingewiesen werden. dass mit 
der Diagnose des Tatbestandes nicht die Schuldfraxe im 





51) Dr. Adolf Grabow sky „Psychologische Teroa rondi diA gn datik: 
Beil. zur Allgem. Zeitung vom 15. Dezember 1905. 


4 


Ze ih, 


strafrechtlichen Sinne, d.h. das zurechenbare, bewusste und 
gewollte, rechtswidrige Verhalten eines deliktfähigen Indivi- 
duums erforscht werden soll, das was wir mit unseren Arbeiten 
bisher bezwecken wollen und damit auch erreichen zu können 
glauben, ist vorläufig nichts anderes, als die Beantwortung 
der Frage. ob jemand einen bestimmten Tatbestand kenne 
oder nicht, womit selbstverständlich noch lange nicht die 
Schuldfrage beantwortet ist. Wurde beispielsweise eine Straf- 
tat an einem bestimmten Orte begangen, von welchem der 
„ Verdächtige“ behauptet, denselben niemals betreten zu haben, 
und wird er dann der Unwahrheit dieser Behauptung über- 
führt, so vermag dieser Umstand allerdings ein bedeutendes 
Indiz auch für die Tatfrage abzugeben, allein auf eine Beant- 
wortung der Schuldfrage an und für sich ist eine psycho- 
logische Tatbestandsdiagnose niemals gerichtet. Darum sollen 
denn auch die Ergebnisse eines solchen Assoziationsverfahrens 
in erster Linie dem Ermittlungsverfahren dienen. Wir wissen 
es alle und fast täglich wiederholt sich die traurige Erschei- 
nung, dass Leute ganz unschuldigerweise auf einen mehr oder 
weniger gegründeten Verdacht hin in Untersuchungshaft 
kommen, welche dann nach Wochen oder gar Monaten, nach- 
dem ihre Unschuld erwiesen wurde, wieder entlassen werden 
müssen. Gerade für derartige Fälle soll unsere Verfahrens- 
art vorzüglich dienen, gerade hier dazu helfen, den gegen 
eine Person bestehenden unbegründeten Verdacht zu zerstreuen 
und ihn vor der schwer schädigenden Haft zu bewahren.?2) 


52) In diesem Sinne sollte denn auch die Methode in jenem Falle 
zur Anwendung gelangen, in welchem sich ein Untersuchungsrichter 
an den Verfasser mit dem Ersuchen wandte, die Diagnose an einem 
Inkulpaten zu versuchen, welcher im Verdachte stand, einen Mord 
begangen zu haben. Der Verdächtige war ein in der betreffenden 
Gegend hoch angesehener Landwirt, und eine oventuelle sofortige 
unverschuldete Untersuchungshaft hätte ihn schwer geschädigt Dem 
Opfer war damals eine Reihe von Gegenständen, wie die Uhr, Geld- 
tasche etc. abgenommen worden, doch vermutete man, dass dies der 
begüterte Mörder nur deshalb getan habe, um den Schein des Raub- 
mordes zu erwecken und damit den Verdacht von sich abzulenken. 
Da man mit Rücksicht auf die Stellung des Verdächtigen nicht sofort 
mit Untersuchungshaft vorgehen wollte, sollte vorher noch ein Asso- 
ziationsexperiment vorgenommen werden, nach dessen Ausgang das 


51 


Für solche Fälle zweifelhaften Verdachtes der Täterschaft 
' vermöchte unsere Methode wertvolle Unterstützung zu leisten, 
indem sie grewissermassen ein ultimum remedium für den 
Staatsanwalt dafür wäre, ob gegen einen Verdächtigen mit 
Untersuchungshaft vorzugehen sei oder nicht. Und vermöchte 
man -vermittels der psychologischen Tatbestandsdiagnose dem 
entsetzlichen Übel leichtfertiger. Haftverhängung, welche den 
Betroffenen nicht nur an der Freiheit, sondern auch an 
seinen materiellen Gütern schwer schädigt, ein wenig zu 
‚steuern, so wäre sie schon «darum allein der Aufnahme in 
den Strafprozess wert. 53) 

Noch auf einen Umstand muss hier zurückgekommen 
werden. In den bisher vorgenommenen Versuchen war dem 
Experimentator — von zwei Fällen abgesehen — überall be- 
kannt, dass sich unter den zu Untersuchenden der „Schuldige“ 
befinde, ein Moment, welches die Beantwortung der Frage, 
wer der „Schuldiee“ sei, bedeutend erleichtert. Im Leben 
steht aber die Sache ganz anders. Allerdings können auch 
hier Fälle vorkommen, in welchen man mit Bestimmt- 
heit weiss, dass aus einer Reihe von Leuten jemand der 
Schuldige sein müsse, die Person selbst aber fraglich ist, da 
von den Beschuldigten der eine die Tat auf den anderen 
schiebt. Hier wird allerdings die Sachlage ganz derjenigen 
ähneln, welche unseren Versuchen zugrunde lag. 

E.”9Die Mehrzahl der Fälle aber ist nicht so beschaffen, 
denn es ist möglich, dass von einer: ganzen Reihe von Ver- 
dächtieten nicht ein einziger der Schuldige ist. Aus diesem 
Grunde wäre m. E. in praxi das Hauptgewicht darauf zu 
legen, dass man in erster Linie darauf ausgehe, das Nega- 
tivum, d. h. die Unkenntnis, die „Unschuld“ in unserem Sinne 
zu konstatieren, und das Positivum, Kenntnis des Tatbestandes, 
„Schuld“, erst dann angenommen werde, wenn das ganze 
Versuchsbild — dieses und nur dieses in toto betrachtet kann 
Ausschlag gecbend sein — diese Annahme rechtfertigt. Aus 


weitere Vorgehen eingerichtet werden sollte. Leider kam es in diesem 
Falle nicht zu einer Anwendung der Methode, da dieselbe an der — 
allerdings hier nicht unbedeutenden — Kostenfrage (!) scheiterte. 
63) Vgl. meine Abhandlung „Die Assoziationsmethode im Straf. 
prozess“ in Z. f. Strafrechtsw. XXVI, S. 19 ff. 
4* 


‚diesem Grunde sollen aber auch die Ergebnisse eines tat- 
bestandsdiaenostischen Assoziationsexperimentes vor allem für 
das EKrmittelunesverfahren (Vorerhebungen und Vorunter- 
suchung) von Bedeutung sein. sei es. dass der gegen jemanden 
schwebende Verdacht entkräftet oder unterstützt wird. 

Ist mit Bestimmtheit aus den Experimentalereebnissen 
Unkenntnis des Tatbestandes. somit Unschuld. anzunehmen. 
so kann dies zur sofortigen Aufhebung der Haft. eventuell 
zur Einstellung des Verfahrens führen. Im entgegengesetzten 
Falle sind die Resultate gleich anderen im Strafprozess ver- 
wendeten Indizien anzusehen. 

Der Verwendung des Assoziationsverfahrens im Straf- 
prozesse steht m. E. das Prinzip der Unmittelbarkeit. wonach 
bei der Urteilsfällune nur auf dasjenige Rücksicht genommen 
werden darf. „was in der Hauptverhandlung vorgekommen 
ist“ (S 258 6. St. P. O.) nicht entgegen. Es sollte mit dieser 
Bestimmung lediglich ein für allemal mit dem früheren Vor- 
gange, wonach sich das Urteil auf dasjenige stützte. „was in 
den Akten geschrieben“ stand, gebrochen werden.54) Darum 
wurde die mündliche Hauptverhandlune eingeführt. in welcher 
‚sich gewissermassen in lebendiger Form. vor den Augen des 
erkennenden Gerichtes. die Straftat noch einmal historisch 
abspielen soll, deren Ergebnisse die Grundlage des Urteiles 
zu bilden haben. Dass alle Beweise erst in der Hauptver- 
handlung orieinär aufgenommen werden. steht nirgendwo gc- 
schrieben und darum vermag ich denjenigen nicht beizustimmen, 
welehe der Ansicht zuneiren. cs müsste ein tatbestands- 
(liagnostisches Experiment. wenn es überliaupt Berücksichti- 
gung im Urteile finden solle, noch einmal in der Hauptver- 
handlung wiederholt werden. Eine derartige Wiederholung 
halte ich nicht bloss für ganz unmöglich — man denke nur 
an eine Verhandlung vor dem Geschwornengerichte! - - sondern 
nach unserer Prozessordnung auch für überflüssig. 

Denn welchen Zweck soll es haben, dass ein psveho- 
logisches Experiment, welches gar mancherlei Fähigkeiten 


54) Vgl. Julius Mitterbacher, Die Strafprozessordnung für die 
im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder etc. Wien 1882, 
p.374ff., ferner Zucker, oestr. Gerichtsz. 1874, Nr. 41 und Waser, oestr. 
Gerichtsz. 1879, Nr. 81. 


beim Beobachter voraussetzt, in einer Versammlung von 
Leuten vorgenommen wird. welche von der ganzen Prozedur 
nichts verstehen. am wenigsten wenn es sich um ein Erkenntnis- 
vericht handelt. bei welchem das Laienelement prävaliert. 

Hiezu kommt noch die Masse von Eindrücken. welche 
der Geriehtssaal mit seiner besonderen Einrichtung, seinem 
zahlreichen Publikum ete. bietet und welche von vornherein 
jeden Erfolge paralysieren müssen. Daran also. dass ein 
(liaunostischer Assoziationsversuch in der Hauptverhandlung 
vorgenommen werde. «daran kann nie gedacht werden. Ein 
solcher Vorgang scheint mir aber auch nach unserer St. P. O. 
als ganz überflüssig. da doch ohne weiters ein. sei es von 
einem Sicherheitsoreane oder dem Untersuchungsrichter im 
Laufe des Eirmittelungsverfahrens aufgenommenes diaenostisches 
Tatbestandsprotokoll,. in Form eines Berichtes®) im Sinne 
des § 258 St. P. O. letztes alinca in der Hauptverhandlung 
zur Verlesung gelangen kann. ohne dass damit das Unmittel- 
barkeitsprinzip verletzt würde. 

Wenn von einigen Seiten statt Verlesung des Berichtes 
Einvernahme des betreffenden Experimentators vorgeschlagen 
wurde. und man dabei darauf hinweist. dass auch sonst sich 
Fälle ereienen, in welchen eine Amtsperson über die von ihr 
vcmachten Wahrnehmungen als Zeuge einvernommen wird. 
z. B. ein Beamter der Polizeibehörde über eine Majestäts- 
beleidigung, welche in einer von ihm geleiteten öffentlichen 
Versammlung fiel, so kann dieser Vorschlag meinen Beifall 
nicht finden. Denn hier handelt es sich m. E. um sinnliche 
Wahrnehmungen. welche ein Organ, allerdines anlässlich 
einer amtlichen Funktion, gemacht hat, über welche es aber 
genau so als Zeuge gehört wird, wie wenn cs die Wahr- 
nehmung als Privatperson gemacht hätte. In unserem Falle 
aber handelt es sieh nicht um eine derartie zufällige gemachte 
Wahrnehmung, sondern vielmehr um eine spontan, in be- 
stimmter Absicht. vorgenommene Amtshandlung. Wenn einzelne 
Schriftsteller auch für die Fälle letzterer Art. Zeugeneinvernahme 
vorschlagen. so halte ich dies einerseits als dem Wesen 

55) Vgl. hierüber meine Ausführungen in Z. f. Strafrechtsw. XXVI 
S. 38 ff. 


5+ -- 


der Zeugenaussage widersprechend, andererseits aber auch 
als dem Zwecke des Prozesses für abträglich. Eine Amts- 
person, welche ihre sinnlichen Wahrnehmungen nicht wie 
eine Privatperson dem Zufall verdankt, zu diesem vielmehr 
durch ihre amtliche Tätigkeit gelangt. soll hierüber in 
„Protokollen, Berichten“ oder wie immer man solch schriftliche 
Referate nennen mag. Bericht erstatten, nicht aber hierüber 
als Zeuge einvernommen werden. 56), 

Damit wäre zugleich auch die Frage, welche Personen 
im forensen Leben diagnostische Experimente vorzunchnen 
hätten, beantwortet. Einen Sachverständigen damit zu þe- 
trauen. woran ursprünglich gedacht war, würde nicht nur auf 
technische Schwierigkeiten stossen, sondern wohl auch dem 
Wesen der Sache selbst kaum entsprechen.57) Denn zweierlei 
Aufgaben sind es, deren Erfüllung wir vom Sachverständigen 
verlaneen: Er hat zunächst festzustellen, was im konkreten 
Falle vorhanden sei, also ein reines Wahrnehmungsurteil 
abzugeben. in welcher Funktion er ganz dem sachverständieen 
Zeugen ähnelt, und dann hat er diesen „Befund“ unter den 
zugehörigen Erfahrungssatz, über welchen er vermöge seiner 
besonderen Kenntnisse verfügt. zu subsumieren, um auf diese 
Weise das eigentliche sachverständige „Gutachten“ zu gewinnen. 
Die Tätigkeit des Diagnostizierenden hingegen ist zunächst 
auf die genaue Feststellung des Tatbestandes, soweit ihn 
dieser bekannt ist. sodann auf die gehörige Zusammenstellung 
der Reizreihe, zu welcher, abgesehen von einiger Übung und 
sorgfältiester Umsicht, „besondere“ Fähigkeiten nicht er- 
forderlich sind und schliesslich auf die Untersuchung gerichtet. 
ob die Versuchsresultate derart sprechend sind, dass man aus 
ihnen auf Kenntnis des Tatbestandes schliessen kann. Die letztere 
Tätigkeit scheint allerdings auf den ersten Blick besondere 





56) Dementspricht'denn auch vollständig die,B. desoesterr. Kassations- 
hofes vom 13. Dezember 1875, Z. 11442, in welcher klar zum Ausdrucke 
gelangt ist, dass Mitteilungen der Polizeibehörden über die Ergebnisse 
der im Wege von Voruntersuchungshandlungen (§8 24 u. 141 St. P.O.) 
unternommenen Amtshandlungen in der Hauptverhandlung zu verlesen 
sind. Vgl. auch E. vom 9. November 1878 Z. 8233 und analog die E. 
vom 3. Oktober 1879, Z. 7248. 

57) Vgl. hierüber meine oben erwähnte Abhandlung p. 361. 


s Bh c 


Qualitäten beim Untersucher vorauszusetzen, in Wirklichkeit 
aber ist zu erwarten, dass die Diagnose auch von Ñeuten, 
welcheüberkeine ausserordentliche psycho-analytische Begabung 
verfügen, wird vorgenommen werden können. Dass das Vor- 
handensein der letzteren nicht gerade schädlich sein wird, 
ist selbstverständlich, gereicht es ja auch heute dem Unter- 
suchungsrichter nicht zum Nachteile. wenn er auch ein guter 
Psychologe ist; unbedingte Voraussetzung aber für die Diagnose 
des. Tatbestandes wird diese Begabung nicht sein. 

Die Kreierung besonderer „psychologischer Sachverstän- 
dieer“, welche übrigens heute auf keine geringen Schwierig- 
keiten stossen würde, da gegenwärtig die Zahl der Leute, 
welche die Methode wirklich beherrschen. auch unter den 
Psychologen eine recht spärliche ist, erscheint darum über- 
flüssie. Bei entsprechendem Ausbau und hinlänglicher Vervoll- 
kommnung wird das Verfahren anstandslos von Polizeibeaniten 
und Untersuchungsrichter vorgenommen werden können. 

Abschliessend sei bemerkt: 

Zweck der Methode ist es, vor allem denjenigen, welcher 
uneerechtfertieterweise im Verdachte einer Straftat 
steht. vor der Verurteilung zu retten. zumindest ihn vor 
der schwer schädieenden Haft zu schützen, also in erster 
Linie dem Prinzipe der Freiheit zu dienen, andererseits 
soll sie unsere nicht gerade reichlichen Mittel zur Er- 
forschung der Wahrheit58) vermehren und dazu mithelfen, den 
Schuldigen der verdienten Strafe zuzuführen, somit beiden 
Gedanken, auf welchen der moderne Prozess aufgebaut 
ist, dem der Freiheit. ‚wie dem der Wahrheit zum 
Durchbruche verhelfen. Darum werden wir nicht zögern, 
die Diagnose des Tatbestandes, sobald sie auch bei zahlreichen 
„wirklichen“ Komplexen erprobt, befriedigende Resultate 
geliefert haben wird, ins forensische Leben einzuführen, und 
es wird hiebei vermutlich nicht allzu schwer werden, ihr im 
Strafprozesse eine ähnliche Unterkunft zu verschaffen, wie sie 


58) Gegen den Wert der Zeugenaussagen wird unser Misstrauen 
nach den hierüber gepflogenen Untersuchungen fast; mit jedem Tage 
grösser! 





andere Indizien liefernde Untersuchungsformen wie Daktylos- 
kopie. Schriftvereleichune u. À. besitzen. 

Dass ihrer Einführune im Prozesse fundamentale Prin- 
zipien entgegenstehen. möchte ich verneinen. Sollten sich 
nichtsdestoweniger doch Schwieriekeiten in dieser Richtung 
ergeben, dann wird daran zu denken sein. dass „die Prinzipien 
um der Gesetze willen da sind“.59) nicht umeekehrt! Zu- 
treffend bemerkt darum Ötker,®) der die Erwartung aus- 
spricht, «dass die Methode der Assoziationen dem modernen 
Strafprozesse „neue Horizonte“ eröffnen werde: „Werden zu- 
verlässiee Wege der Wahrheitsermittlung gefunden, so kann 
nicht wegen enteegenstehender Prozessprinzipien auf ihre 
Verwertung verzichtet werden. Denn das „Prinzip“ will 
nur der Wahrheitsfeststellung dienen und wandelt sich mit 
den dazu geeigneten Mitteln.“ 








5) Delbrück, Kritische Betrachtungen zur Reform des Vorver- 
fahrens im Strafprozess. Gerichtssaal, Bd. 64, S. 438. 
60) Gerichtssaal, Bd. 65, S. 208. 





II. 


IV. 


Vl. 
VH. 


Inhaltsverzeichnis. 


Einleitung . ; 

Der Tatbestand . 
Versuchsergebnisse 

Die Diagnose . . . . 


Die einzelnen Komplexmerkmale 
I. Der inhaltliche Charakter der Reaktionen 
2. Die Perseverationstendenz der Vorstellungen 


3. Die Reaktionszeit . 
4. Die Reproduktion . 
Theoretische Erwägungen 


Die strafprozessuale Frag 


e. 





Die 


pathologische Anschuldigung. 


Beitrag zur Reform des § 164 des Strafgesetzbuchs 


und des § 56 der Strafprozessordnung. 


Von 


Dr. med. Johannes Bresler, 


Oberarzt an der Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt zu Lublinitz, O.-Schl. 


Alle Rechte vorbehalten. 





Halle a. S. 
Verlag von Carl Marhold. 
1907. 


 Juristisch - psychiatrische 
Grenziragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 


Prof. Dr. jur. A, Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B, 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lublinitz i. Schles. 


V. Band, Heft 8. 


Die pathologische Anschuldigung.*) 


Beitrag zur Reform des $ 164 des Strafgesetzbuchs 
und des $ 56 der Strafprozeßordnung. 


Einleitung. 


Meine Herren! Als sich mir anläßlich bestimmter Fälle 
der Rechtspflege die verlockende Aufgabe bot, die krankhaft 
bedingte falsche Anschuldigung in ibrem Zustandekommen und 
ihrer Bedeutung, sowie die Wege zur Verhütung der durch sie 
möglichen Gefährdung von Rechtsgütern vom psychiatrischen 
Gesichtspunkt darzutun, waren erst zwei Bedenken wegzu- 
räumen, welche der Ausführung des Plans im Wege standen. Von 
ärztlicher Seite konnte eingewendet werden, daß ein gewisses 
Delikt bei jeder Art geistiger Störung vorkommen kann und 
im Verlauf irgend einer Art geistiger Störung jeder beliebige 
Konflikt mit dem Strafgesetz möglich ist, daß es nicht in der 
Theorie und Praxis der gerichtlichen Psychiatrie begründet 
liege, noch durch sie gerechtfertigt erscheine, etwa eine patho- 
logische Stehlsucht, einen Mordtrieb usw. aufzustellen und so 
die alte Lehre von den Monomanien aufzufrischen. Nun, jener 
Einwand soll in der Tat den folgenden Ausführungen zur Richt- 
schnur dienen: es soll gezeigt werden, bei welchen Formen 
von Geistesstörung und in welchen geistigen Ausnahmezuständen 
eine pathologische Anschuldigung möglich ist und wie sie ent- 
steht. 

Der andere Einwand war von juristischer Seite zu er- 


*) Vortrag, gehalten in der Versammlung oberschlesischer Juristen und 
Ärzte zu Lublinitz am 16. März 1907. 


ee Re 


warten: man könnte entgegenhalten, daß von uns über die 
pathologische Anschuldigung im wesentlichen nur dasselbe mit- 
geteilt werden würde, wie von der pathologisch bedingten oder 
beeinflußten Zeugenaussage, worüber ja in letzter Zeit so viel 
experimentiert und geschrieben worden ist. 


Seit Bessel im Anfang vorigen Jahrhunderts die bekannte 
„persönliche Gleichung“ entdeckt hatte, ist man sich auch in 
psychologischen und juristischen Kreisen allmählich darüber 
klar geworden, ein wie unsicheres Werkzeug unsere Sinnes- 
apparate trotz ihres feinen Baues und unser Wahrnehmungs- 
vermögen trotz des wunderbaren Mechanismus des Gehirns ist, 
und so enthalten wohl alle Kriminalpsychologien Belehrungen 
über die schon normalerweise vorhandene Unzuverlässigkeit und 
Unsicherheit der Aussage. A. O. Klaussmann (Berlin) hat 
bereits im Jahre 1899*) auf die Variabilität und Fehlerhaftig- 
keit der Zeugenaussagen hingewiesen, die Notwendigkeit, Zeugen 
im Gerichtissaal auf ihre Wahrnehmungs- und Aussagefähigkeit 
prüfen zu können, an sehr instruktiven Beispielen dargetan ünd 
Enqueten über die Zeugnisfähigkeit im großen Stil an vielen 
Tausenden von Personen anzustellen empfohlen. Seine Propbhe- 
zeiung: „diese Prüfung würde unzweifelhaft ergeben, daß der 
weitaus größte Teil der Menschen, der mit gesunden Sinnen 
in die Welt gesetzt ist, aus Mangel an Übung dieser Sinne 
nicht imstande ist, korrekt zu sehen und zu hören und infolge- 
dessen äußere Eindrücke in sich aufzunehmen“ — hat sich in- 
zwischen in vollem Umfange bestätigt, nachdem W. Stern 
(Beiträge zur Psychologie der Aussage. Von 1903 ab er- 
scheinend in Leipzig bei J. A. Barth) solche Experimente über 
Zeugenaussagen ausgeführt und diese Untersuchungen später 
im Verein mit Anderen zu einem Spezialgebiet der angewandten 
Psychologie erweitert hat. Ich muß mich damit begnügen, auf 
diese Schriften zu verweisen, sowie auf die in den „Juristisch- 
psychiatrischen Grenzfragen“* bereits veröffentlichten 


*) A. O. Klaussmann, Zeugenprüfung, Archiv für Kriminalanthro- 
pologie, herausgegeben von Prof. Dr. H. Gross, 1899, Band I, S. 39. Vor- 
her hat :schun H. Gross („Handbuch für Untersuchungsrichter“ und „Krimi- 
nalpsychologie“) die Frage der praktischen Experimente erörtert. 


sa f a 


Abhandlungen über dieses Thema von Sommer, Schott und 
Gmelin*). 

Die Geschichte der Lehre von der falschen Anschuldigung 
zeigt aber schon, daß von jeher dieses Delikt in der Rechtspflege 
eine ganz gesonderte Stellung eingenommen hat, und so ist zu 
hoffen, daß gerade von den Juristen die Unterscheidung der 
spontanen, interessierten und gleichzeitig krank- 
haft beeinflußten oder bedingten Aussage gegen 
Jemand, also der pathologischen Anschuldigung, von 
der krankhaften Zeugenaussage, gebilligt, vielleicht sogar ge- 
fordert wird. 

Da die Lehre von der falschen Anschuldigung in ihrer 
Entwicklung Manchem als Einleitung für das Folgende wissens- 
wert erscheinen mag und tatsächlich einige wichtige forensisch- 
psychologische Gesichtspunkte enthält, so sei einiges darüber 
vorausgeschickt. 


In den älteren Zeiten des römischen Rechts wurde der 
Calumnia durch den sogenannten Calumnien-Eid vorgebeugt, 
d. h. der Ankläger mußte vor der Anklage beschwören, „calum- 
niae causa non postulare“ (lex Acilia repetundarum cap. 19, 
Mommsen, Corp. inser. lat. p. 59). Eine Bestrafung der Calum- 
nia wurde erst durch die Lex Remmia, gegen die Mitte des 
zweiten Jahrhunderts v. Chr. eingeführt. Dem Calumniator 
wurde ein K (Kalumnia) auf die Stirn eingebrannt. Zum Bei- 
spiel sagt Cicero in seiner Rede pro Roscio Amer. 20: „Si ego 
hos bene novi, litteram illam, cui vos usque eo inimici estis, 
ut etiam Kalendas omnes oderitis, ita vehementer ad caput 
affligent, ut postea neminem alium nisi fortunas vestras accusare 
possitis“. Kalumnia und Kalendae gehören zu den wenigen 
Worten, die damals und noch später mit K statt mit C ge- 
schrieben wurden. 

An die Stelle der Brandmarkung trat nach einer Übergangs- 
zeit, in welcher die Bestrafung anscheinend verschiedentlich ge- 


*) Sommer, Prof. Dr., Die Forschungen zur Psychologie der Aussage. 
Juristisch-psychiatrische Grenzfragen. Bd. II, Heft 6, 
Schott, Oberarzt, Dr., und 
Gmelin, Dr., Landgerichtsrat, Zur Psychologie der Aussage, eben- 
da Bd. III, Heft 6/7. 


sa Q 


handhabt wurde (Infamie des Prätors, Exil, selbst Todesstrafe) 
und nachdem der Lex Remmia das Senatusconsultum Tur- 
pillianum gefolgt war, die Talion unter Trajan. Dieser straf- 
rechtliche Grundsatz erhielt sich unter mannigfacher Art seiner 
Handhabung bis zur Carolina, obgleich daneben auch andere 
Bestrafungen Platz griffen, die Buß- und Wettpflicht, im angel- 
sächsischen Recht Verlust der Zunge, ablösbar durch Wehr- 
geld. Auch das preußische Landrecht kennt ihn noch, während 
er dem Codex juris bavarici, der Theresiana und den ver- 
schiedenen neueren Strafgesetzbüchern ferngeblieben ist. 

Schon das Senatusconsultum Turpillianum führt Personen 
auf, die von der Calumniastrafe befreit sind. Diese Privile- 
gierung fand statt, wenn zwischen Ankläger und Angeklagten 
ein Pietätsverhältnis bestand (auch für den Ehemann bei der 
Anklage wegen Ehebruchs), ferner in bestimmten Fällen bei 
Frauen, nämlich si suam suorumque injuriam persequuntur 
endlich auch beim Minderjährigen, wenn er wegen Ehebruchs 
klagt („juvenili facilitate ductus vel etiam fervore aetatis accen- 
sus“), in den beiden letztgenannten Fällen jedoch nur, wenn 
es sich um eine Calumnia evidens handelte. 

Wenn im römischen Recht bei der Calumnia’ psychische 
Ausnahmezustände zur bestimmenden Regel gemacht werden, 
ja eigentlich bestimmte äußere Verhältnisse präsumtiv als 
Voraussetzung für psychische Ausnahmezustände angesehen 
werden, so darf man wohl fragen, warum im genannten Recht 
die Möglichkeit einer seitens Geistesgestörter verübten Calum- 
nia nicht einmal erwähnt wird. Es muß wohl als selbstver- 
ständlich gegolten haben, daß einem Geisteskranken, der falsche 
Anschuldigung begeht, keine Schuld zugemessen wird. In 
der deutschen Reichsstrafgesetzgebung ist nicht einmal durch 
das Vorhandensein „mildernder Umstände“ im $ 164, welcher 
von der falschen Anschuldigung handelt, die Möglichkeit ge- 
geben, Ausnahmezuständen wie denen bei der Calumnia Rech- 
nung zu tragen. Der Umstand, daß es im $ 164 nur auf die. 
wissentlich falsche Anschuldigung ankommt, ist wohl der 
Grund des Fehlens „mildernder Umstände“. 


ze Te 


Gehen wir nun zum eigentlichen Thema über. Unter 
pathologischer Anschuldigung fasse ich folgendes zusammen: 

I. Die wissentlich falsche Anschuldigung auf Grund krank- 
hafter Lügenhaftigkeit oder Triebe. Inhalt der An- 
schuldigung Erdichtetes. 

Il. Die falsche Anschuldigung auf &rund krankhaft ge- 
störter Wahrnehmung oder Denktätigkeit. Inhalt der 
Anschuldigung Illusionen, Halluzinationen, Wahnideen. 

_ II. Die inhaltlich richtige, aber krankhaft moti- 
vierte Anschuldigung. 

Die pathologische Anschuldigung der ersten Art erwächst 
hauptsächlich auf dem Boden des hysterischen Charakters. 

Unter hysterischem Charakter verstehen wir folgendes 
Gruppenbild seelischer Eigenschaften: Krankhaft gesteigerte 
Beeinflußbarkeit; diese bezieht sich nicht nur auf von außen 
kommende Einwirkungen, sondern noch mehr auf die Ab- 
hängigkeit von inneren Zuständen und durch letztere 
irgendwie zustande gekommenen oder begünstigten Vorstellungen, 
auf die sogenannte Autosuggestion, die krankhaft gesteigerte 
Selbstbestimmung, vulgär den Eigensinn (auch eine gesteigerte 
Subjektivität kann man es nennen), der die Umwelt nur in der 
Beleuchtung einseitig gerichteter starker Affekte, einseitiger 
Gemütslagen erscheinen und erfaßt werden läßt. Mit einer 
Hartnäckigkeit, der alle Mittel der Logik und eine oft be- 
stechende Phantasie zur Verfügung stehen, die allen Über- 
zeugungsversuchen, selbst dem sinnfälligsten Beweis trotzt, 
werden die kompliziertesten Dinge zusammengereimt, erdichtet, 
ergänzt, gefärbt usw., wenn nur durch ihre Harmonie mit dem 
eigenartigen Innenleben ein seelischer Ausgleich erreicht wird. 
Dadurch kommen die Lügen der Hysterischen zustande Zum 
Eigensinn gesellt sich die Eigenliebe. Sie wacht eifersüchtig 
darüber, daß der eigenen Person keine Zurücksetzung widerfährt. 
Die altruistischen Gefühle, selbst die Kindesliebe, werden erstickt. 
Wenn es die Selbstsucht fordert und der Zweck, sich interessant 
zu machen, sind Hysterische zu den größten Opfern, zum Er- 
tragen der heftigsten Schmerzen fähig. Andererseits aber scheuen 
sie vor dem gemeinsten Verbrechen und der raffiniertesten Lüge 
nicht zurück, wenn nur auf diesem Wege das egoistische Ziel 


in. G al 


erreichbar ist. Infolge des krankhaften Schwankens des 
Affektlebens zwischen Ausbrüchen von Heiterkeit und Ver- 
zweiflung, infolge der Sprunghaftigkeit der Interessen, der 
Sympathien und Antipathien, zusammen mit der hochgradigen 
Eigensucht, der leichten Empfindlichkeit, der Oberflächlichkeit 
des Gefühlslebens vermag sich bei einer Hysterischen im Hand- 
umdrehen und aus geringfügigsten Anlässen die intimste Freund- 
schaft zu Todfeindschaft, Wohltun zu Vernichten umzuwandeln. 
Nicht alle Hysterischen besitzen die hier geschilderten Eigen- 
tümlichkeiten in so hochgradig ausgeprägtem Maße, bei vielen 
sind sie nur angedeutet und wir dürfen bei weitem nicht in 
jedem an Hysterie Leidenden einen rachsüchtigen, zu allem Ge- 
meinen fähigen Menschen sehen. Der hysterische Charakter 
hat zwei Extreme; an dem einen befinden sich diejenigen 
Hysterischen, welche, von der Welt nicht verstanden, einer 
übertriebenen Religiosität sich hingeben, auf der anderen die- 
jenigen, welche durch ihre unangenehmen Eigenschaften und 
Triebe zum Verbrechen neigen. Die Frömmelei einer hys- 
terischen Person darf jedoch nicht bestimmen, sie einer ver- 
brecherischen Handlung für unfähig zu halten. 

Ein nach der beschriebenen Richtung sich bewegender 
Charakter wird aber dann erst hysterisch genannt werden 
dürfen, wenn die bestimmten körperlichen und nervösen Zeichen 
der Hysterie bei einem so geaıteten Individuum angetroffen 
werden; das sind Störungen der Empfindung, Lähmungen, 
Krampfzustände usw. Andernfalls wird es im Zweifel bleiben 
müssen, ob es sich nicht um eine einfache noch im Bereich 
des Durchschnitts befindliche Charakterdepravierung handelt. 

Die falsche Anschuldigung ist nun das Verbrechen, welches 
bei den Hysterischen am häufigsten vorkommt. Sie umspinnen 
nicht nur den Angeschuldigten mit einem;fein ausgedachten 
' Lügengewebe, sondern wissen ihre Angaben durch Selbstver- 
stümmelungen, Selbstbeschädigungen, Selbstbinden mit Stricken, 
Selbstknebelung unwiderleglich zu machen. 

Unter den wegen falscher Anschuldigung Verurteilten über- 
wiegt das weibliche Geschlecht außerordentlich stark. Auf 
100 männliche Verurteilte kamen 1899 35,8 weibliche (aus 
Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, 








=. 


II. Aufl. 1906, S. 136, nach Reichsstatistik, Bd. 132, II, 50—65). 
Vielleicht hängt dies bis zu einem gewissen Grade auch mit 
der Häufigkeit der Hysterie beim weiblichen Geschlecht zu- 
sammen. | 

Einige Beispiele aus der Literatur werden am besten 
veranschaulichen, wie gefährlich und wie zielbewußt das Vor- 
gehen solcher Hysterischer ist. 


Eine Hysterische E. (Journal of Mental Science, 1872, April. 
bei von Krafft-Ebing, Gerichtl. Psychopathologie, S. 247) hatte 
die Frau eines Arztes, zu dem sie Zuneigung erfaßt, zu ver- 
giften gesucht mittels vergifteter Schokolade. Sie war in Ver- 
dacht geraten. Bald darauf erkrankten mehrere Knaben nach 
Genuß von Schokoladenkonfekt an Strychninvergiftung, einer 
starb; die E. selbst denunzierte wiederholt den Konditor, daß 
sie und ihre Bekannten von der bei ihm gekauften Schokolade 
erkrankt seien, und drang auf chemisch-polizeiliche Untersuch- 
ung. Es wurde festgestellt, daß sie sich bedeutende Mengen 
Strychnin unter falschem Namen verschafft, daß sie aus der 
Konditorei, in welcher die für den Knaben tödlich gewordene 
Schokolade gekauft war, sich Schokoladen-Drops hatte holen 
lassen, das Paket geöffnet, aber die Drops zurückgeschickt 
hatte, weil sie zu groß seien. Der Konditor hatte sie zurück- 
genommen und der Knabe beim Einkauf davon erhalten. Die 
E. hatte, wie festgestellt wurde, in anderen Läden das gleiche 
Manöver ausgeführt. Sie wurde in die Anstalt für geistes- 
kranke Verbrecher geschickt. 

Binswanger*) berichtet über folgenden Fall: Ein 13 
Jahre altes, von einem luetischen Vater stammendes Mädchen, 
dessen zwei Geschwister Krämpfe hatten, entwickelte sich in 
der Kindheit normal, nur hatte sie mit zwei Jahren Speichel- 
fluß, der bis zum sechsten Jahre andauerte. Mit neun Jahren 
Diphtherie mit nachfolgender Gaumen- und Beinlähmung. Bis 
zum zwölften Jahre gute Schülerin; von da an unaufmerksam, 
zerstreut, „sie saß oft wie abwesend da, blinzelte mit den 
Augen, mußte oft ermahnt werden, war verstimmt, sehr schlaf- 
süchtig“. Sie verließ im selben Jahre ohne Ursache das Eltern- 


*) Binswanger, Die Hysterie. Wien, 1904. S. 743. 


= ä0: = 


haus, reiste zu einer Tante in einer benachbarten Stadt und 
erzählte dort unter anderem, der Vater habe mit ihr geschlecht- 
lich verkehrt und ein Kind gezeugt, welches drei Tage lebte 
und sehr schwach war. Sie beschrieb den geschlechtlichen 
Verkehr mit allen Details; er habe mit einem Instrument erst 
die Vagina erweitert. Dort im Hause der Tante oft mehrfache 
Ohnmachtsanfälle.e Nach dem Geständnis ihrer angeblichen 
Schwängerung trat ein Krampfantall auf, nachher Erschwerung 
des Urinlassens, Mißmut, Selbstmordgedanken und -versuch. 
Zeitweilig erotisches Verhalten gegen ein Dienstmädchen. Die 
Anklage gegen ihren Vater hatte eine gerichtsärztliche Unter- 
suchung ihrer Genitalien zur Folge, wobei eine Entwicklungs- 
störung der Genitalien (Pseudohermaphrodisia externa) festgestellt 
wurde. — Pat. gestand in der Klinik ein, ihren Vater verleumdet 
und auch im übrigen oft gelogen zu haben. Es seien ihr solche 
böse Gedanken in den Sinn gekommen, die sie dann habe aus- 
sprechen müssen. Die Beobachtung ergab eine typische Hysterie. 
| Eine andere, an schweren hysterischen Anfällen leidende 
Patientin, welche aus vornehmem und gebildetem Hause stammte, 
aber allmählich zur Prostituierten herabgesunken war, berichtete 
eines Tages voll Entrüstung, daß ihre Vorsätze, ein ordentliches 
Leben zu beginnen, vereitelt worden seien durch eine schmäh- 
liche „Vergewaltigung“. Sie habe bei einem hohen Beamten 
Besuch gemacht, um von ihm eine Unterstützung zu erlangen. 
Bei dieser Gelegenheit habe er sie erst durch Drohungen, dann 
durch Mißhandlungen gezwungen, ihm willfährig zu sein. Sie 
schilderte diesen Vorgang in allen seinen Einzelheiten. Sie sei 
mit einem Geldgeschenk abgelohnt worden; der Täter habe 
sie dann bei der Sittenpolizei denunziert und dadurch wieder 
ins Unglück gestürzt. Den angestellten Nachforschungen zu- 
folge war sie in Wirklichkeit um eine Armenunterstützung ein- 
gekommen. Es war ihr schriftlich (das Schreiben war von 
diesem Beamten unterzeichnet) eine Geldunterstützung abge- 
schlagen, dagegen eine Arbeitsstelle angeboten worden. 
Vibert*) berichtet von einem Manne, der ganz erschöpft 





*) Vibert, Beispiele von Lügen oder vermeintlichen Lügen bei Hys- 
terischen. Annales d'hygiène publique. Februar 1894. Allg. Zeitschrift f. 
Psychiatrie, 1895, Literatur 3. 42. 


ee, Ze 


und Blut auswerfend auf der Polizei ankommt und einen 
Kutscher beschuldigt, von ihm niedergestoßen zu sein. Ins 
Spital gebracht, läßt er sich dort wegen Beschwerden im Bauche 
den Leib aufschneiden. Die Leibesöffnung ergab keinen 
Befund, der auf eine Verletzung wies. Auch die Untersuchung 
gegen den Kutscher verlief resultatlos. Es blieb nur die An- 
nahme übrig, daB die ganze Sache auf Einbildung beruhte. 
Nach dem Verfasser handelt es sich um Hysterie. 


Ein in der Literatur oft zitierter Schulfall ist der folgende 
von Rouby beobachtete*): Die Tochter eines Trinkers, bis zur 
Pubertät gesund, von da an seltene Hysterie gravis-Anfälle, 
neben ausgeprägt .hysterischem Charakter häufige Schlafanfälle. 
Sie knüpft ein Liebesverhältnis an, verführt ihren Liebhaber, 
verfällt beim Koitus in einen Schlafanfall, was den Mann so 
erschreckt, daß er sich zurückzieht und eine andere heiratet. 
Wütend darüber, macht sie mit ihrer Mutter ein Komplott, den 
Liebhaber zu vernichten. Sie schneidet Weinreben ab, denun- 
ziert jenen Mann und seinen Bruder als Täter, behauptet Augen- 
zeugin des Krimens gewesen zu sein. Sie beschwört ihre 
Aussage und setzt Verurteilung durch. Die ganze Familie 
jenes Mannes wird durch sie verleumdet und schlecht gemacht. 
Ein Jahr später kommt die Kranke verwundet daher gerannt, 
denunziert den Onkel ihres Geliebten des Mordversuchs an ihr, 
angeblich aus Rache, setzt auch dessen Verurteilung durch. 
Dann spielt sie genau dieselbe Komödie gegen einen anderen 
Onkel, der glücklicherweise ein Alibi erbringen kann. Für 
kurze Zeit wechselt nun ihre Hysterie die Form. Ihre Mutter 
alarmiert das Dorf und führt die Leute zum Bett der Person, 
die mit einem Kranz um ihr Haupt daliegt, den ein Engel des 
Nachts gebracht haben sollte nebst einer Rolle, auf welcher 
stand: Corona martyri. Die Geistlichkeit stellte sich auf ihre 
Seite. Man opferte reichlich dem Mirakel. Mutter und Tochter 
zogen dann im Lande umher, teils als Heilige, teils als Hetären. 
Dann kam die Patientin auf ihren früheren Ideenkreis zurück. 
Sie legte Feuer an ibr Haus, schnitt in einem Stall einer Kuh 


*) E. Raimann, Die hysterischen Geistesstörungen. Leipzig und Wien 
1994. S. 363. 


u HH 


die Euter ab, denunzierte abermals ıhren Liebhaber, diesmal 
ging es ihr schlecht. Sie mußte flüchten, wurde eines Tages 
bei Diebstahl betroffen und verurteilt; schließlich wegen Gift- 
mord lebenslänglich eingekerkert. 


Anonyme Anzeigen mit Beleidigungen sind bekanntlich bei 
den Hysterischen recht beliebt. Etwas seltener aber nicht 
weniger bemerkenswert ist der in der Prov.-Irrenanstalt Hil- 
desheim (Jahresbericht 1899/1900) zur Begutachtung gekommene 
Fall einer Frauensperson, die beschuldigt war, verschiedene 
anonyme Briefe voll Beleidigung Dritter an sich geschrieben und 
dann eine andere bei Gericht als die Verfasserin dieser Briefe 
angezeigt zu haben. Sie leugnete, die Briefe geschrieben zu 
haben.. Hysterische Krampfanfälle waren bei der Angeklagten 
vor und nach der Tat festgestellt, sie war auch zur Zeit der 
Beobachtung noch launisch und kindisch und hatte in der An- 
stalt hysterische Anfälle. Sie wurde wegen Unzurechnungs- 
fähigkeit freigesprochen. 


Unzurechnungsfähigkeit braucht keineswegs in jedem Falle 
falscher Anschuldigung bei hysterischen Personen vorzuliegen, 
selbst wenn die Hysterie durch den Nachweis körperlicher 
Symptome außer Zweifel gestellt ist. Es kommt immer noch 
auf den Grad des hysterischen Charakters an und es muß von 
Fall zu Fall entschieden werden. 


Anders liegt die Sache, wenn bei Hysterischen die falsche 
Anschuldigung auf einem in das wache Bewußtsein sich fort- 
pflanzenden Traumerlebnis beruht, welche das hysterische In- . 
dividuum in einem Dämmerzustand erfahren hat. Der folgende 
von Binswanger*) beobachtete und mitgeteilte Fall wird 
das illustrieren: Eine seiner hysterischen Patientinnen, welche, 
wahrscheinlich unter dem Einfluß von Alkoholicis, gelegentlich 
einer Landpartie in einen mehrere Stunden dauernden Dämmer- 
zustand verfallen war, erhob nachher gegen einen Teilnehmer 
des Ausflugs die Klage, daß er sie im Walde vergewaltigt habe. 
Sie erzählte den Vorgang mit Angabe selbst geringfügiger 
Einzelheiten. Er habe sie auf eine kleine, einsam gelegene 
Waldwiese gelockt und sie unter einem mächtigen Eichbaum 





*) Binswanger, Die Hysterie. S. 730. 


PREE o e 


zu Boden geworfen usw. Bei der gerichtlichen Untersuchung, 
welche der Angeschuldigte beantragt hatte, wurde festgestellt, 
daß er in der fraglichen Zeit den Ort der geselligen Zusammen- 
kunft überhaupt nicht verlassen habe. Die Patientin hatte 
unter anderem angegeben, daß der Angreifer eine helle schwarz- 
gestreifte Hose getragen habe, welche bei dem Kampfe auf 
dem Grasplatze über und über mit Grasflecken beschmutzt 
worden sei. Es ließ sich leicht feststellen, daß diese Angaben 
durchaus unrichtig waren. — 

Hierher gehört auch die Frage, ob eine Frauensperson 
während des Schlafes unbewußt koitiert werden kann. Brou- 
ardel*) hat sich mit dieser Frage eingehend beschäftigt. Er be- 
hauptet die Möglichkeit für den natürlichen Schlaf unter der Be- 
dingung, daß die betreffende Frau wiederholt geboren hat, und 
- bei dem Akt in tiefem Schlaf oder in Schlaftrunkenheit und 
in der Meinung gewesen sei, ihr Mann wohne ihr bei; für den 
künstlichen Schlaf dann, wenn er infolge Berauschung oder 
Narkotica abnorm tief war. Verdacht auf Vortäuschung muß 
‚geschöpft werden, wenn die betreffende Person gleich nach 
dem Trunk bewußtlos wurde und ohne weitere Beschwerden 
bald wieder zu sich kam. Weibliche Personen soll man nur 
in Gegenwart von Zeugen chloroformieren oder hypnotisieren, 
da öfter Ärzte und Zahnärzte von Chloroformierten auf Grund 
sexueller Träume und Erregungen fälschlich eines unsittlichen 
Attentats beschuldigt wurden. Der objektive Tatbestand ist 
dann sehr schwer festzustellen, zumal geschlechtliche Verge- 
waltigungen in bewußtlosen Zuständen durch Magnetiseure, 
Hypnotiseure u. dergl. keine Seltenheiten sind. — 

Wie auf dem Wege eines krankhaften Geschlechts- 
triebs falsche Anschuldigungen zustande kommen können, zeigt 
folgender von Türk el**) mitgeteilte Fall: Ein Detektiv, 38 
Jahre alt, wird wegen eines peinlichen Mißgriffes, begangen 
durch Beschuldigung der Gattin eines hohen Beamten, einen 
Diebstahl versucht zu haben, aus seiner Stellung entlassen. Er 


*) Brouardel, Annales d'hygiène publique. 3. Serie, Bd. 43, Nr. 1, 
1900. Allg. Zeitschr. für Psychiatrie, Bd. 58, 1901, Literaturheft S. 70. 

**) S. Türkel, Sexualpathologische Fälle. Archiv für Kriminalan- 
thropologie, 1903, XI, S. 214. 


Er ll, 


eröffnete dem Arzte, daß er nur beim Anblick großer psychi- 
scher Angstzustände sexuelle Erregung verspüre, daß er daher, 
wenn er nicht genügend wirkliche Diebe ertappe, ganz un- 
schuldige Personen weiblichen Geschlechts wegen angeblich 
versuchten Diebstahles anhalten und verhaften ließ, um sich an 
ihren vor Schreck und Aufregung verzerrten Gesichtern zu 
weiden, wobei Ejakulation eintrete. Dieser Mann endete sein 
Leben bald darauf durch Erhängen. 


Wir haben nun die zweite Art der pathologischen An- 
schuldigung zu betrachten, die durch krankhaft gestörte Wahr- 
nehmung oder Denktätigkeit zustande kommt. 

Bei Wahrnehmungsfehlern kann es sich natürlich um den 
Irrtum eines gesunden Menschen handeln, eine Voreingenommen- 
heit, die etwas anderes sehen läßt als sich wirklich zugetragen. 
Davon soll an dieser Stelle jedoch nicht gehandelt werden*). 

Im Bereich des Krankhaften’ spielen bier zunächst die 
Alkoholisten mit ihren Illusionen und Sinnestäuschungen 
eine große Rolle. 

Beispielsweise unter der kleinen Zahl von zehn Fällen 
chronischer Alkoholpsychose, die Schröder**) beschrieben hat, 
finde ich zwei Männer, die auf die Polizei liefen, um die an- 
geblichen Verfolger anzuzeigen. Der eine rannte auf die 
Polizei, weil sie hinter ihm herriefen: „Den kriegen wir, uns 
kommt er doch nicht hinaus, jetzt muß er herhalten“ — er 
wurde von der Polizei einfach abgewiesen. Der andere lief 
nachts nackt in den Straßen herum und erzählte den Schutzleuten, 
sein Bruder und noch andere Leute seien an sein Bett ge- 
kommen, um ıhn zu erschießen. 

Liman***) berichtete von den Denunziationen eines alko- 
holistischen Halluzinanten, bei dem der Inhalt der Halluzina- 
tionen in den wachen Zustand mit hinübergetragen wurde. 
Ja, er erschien während des halluzinatorischen Zustands vor- 


*) Siehe hierüber Sommer, Prof. Dr., Die Forschungen zur l’sychologie 
der Aussage. Juristisch-psychiatrische Grenzfragen, Bd. 1I, Heft 6. 

**) P. Schröder, Über chronische Alkoholpsychosen. Halle a. S. 1905. 

***) L iman, Archiv f. Psychiatrie, VII, 1877, Seite 658. 


E An s 


übergehend so lucide, daß eine ganze Anzahl selbst gebildeter 
Personen über den Zustand sich täuschen konnte. Er hatte 
in seinem deliranten Zustand angegeben, daß jemand nachts 
seine Frau ermordet habe, und zwar in so glaubhaft scheinen- 
der Weise, daß von den Behörden sofort eingehende Nachforsch- 
ungen über den Mord angestellt wurden. (In der Diskussion über 
diesen Fall bemerkte Mehlhausens. Zt. zutreffend, daß zuweilen in 
der Rekonvaleszenz von Typhus, in einem freien Zustande Wahn- 
vorstellungen geäußert werden, die im Fieberdelir aufgetreten 
waren und die erst allmählich verschwinden.) 

Nach Wollenberg*) können sich falsche Anschuldigungen 
ergeben bei den Abortivformen des Delirium tremens, wo das 
Krankheitsbild sich nicht weiter entwickelt, sondern auf seine 
prodromalen Erscheinungen mit Schlaflosigkeit, Unruhe und be- 
ängstigenden Halluzinationen beschränkt bleibt, während am 
Tage scheinbar völlige Besonnenheit vorhanden ist, 
allerdings ohne Korrektur der nächtlichen Täusch- 
ungen. 

Bonhöffer**) berichtet folgenden Fall: 

Bei einem schon früher an Deiirium und Halluzinose er- 
krankt gewesenen Trinker treten, nach mehrwöchiger Reizbar- 
keit und Empfindsamkeit gegen Lärm, plötzlich Stimmen auf. 
Er geht gegen die Frau mit der Axt los, weil sie ihm Schimpf- 
worte und Beschuldigungen an der Tür zurufe. „Führt 
seine Frau nach der Polizei, weil sie ihn des Raubmordes 
an einer Prostituierten beschuldigt habe, der sich vor Jahren 
zugetragen und nicht aufgedeckt worden war.“ Unterwegs 
fallen ihm die Schutzleute auf, hört hinter sich herrufen: „Fangt 
ihn, den wollen wir totschlagen“, schreit auf der Straße um 
Hilfe. Verbringung in die Anstalt, wo ein akuter Angstzustand, 
Gehbörs- und Gesichtshalluzinationen festgestellt werden. 

Eine reichlich fließende Quelle pathologischer Anschul- 
digungen ist der Eifersuchtswahn der Trinker. Man 
kann sagen, in demselben Grade wie der übermäßige Alkohol- 
genuß den Geschlechtstrieb anregt, so macht sich dieser Wahn 


*) [n Hoches Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. 1901. S. 646. 
**) Bonhöffer, Die akuten Geistesstürungen der Gewohnbheitstrinker 
S. 176. 


ze, Ab. 


der geschlechtlichen Beeinträchtigung bei den Alkoholisten 
geltend. Zwar kommt krankhafte Eifersucht auch bei anderen 
psychisch abnormen Zuständen vor, z. B. bei der Hysterie, 
aber bei den Geistesstörungen der Trinker ist sie besonders 
häufig, ja etwas fast Typisches und daher, zumal in Anbetracht 
der großen Zahl der Trinker, von höchster forensischer Wich- 
tigkeit. Wie ist es damit nun bei den nichtverheirateten Trinkern? 
Nasse*) sichtete 28 Fälle von alkoholischem Verfolgungswahn. 
Darunter waren 17 Verheiratete. Von %etzteren fand sich bei 
15 der Wahn der Untreue der Gattin, bezw. in einem Falle 
des Gatten, nur in zwei Fällen fehlte er. Von den drei Ver- 
witweten beschuldigte einer seine verstorbene Frau der Un- 
treue; er sah sie in seinen Halluzinationen wiederholt in Be- 
gleitung anderer Männer ; die beiden andern Witwer zeigten 
diesen Wahn zwar nicht, dagegen litten sie an abnormen 
Empfindungen geschlechtlichen Inhalts. Bei den acht Ledigen 
endlich litt einer an dem Wahn feindlicher Beeinflussung durch 
eine abtrünnig gewordene Geliebte, alle acht aber boten den 
Wahn der Beeinträchtigung durch die nächsten Angehörigen, 
Vater, Geschwister, Stiefmutter, Schwager. 


Solche Anschuldigungen sind ungemein schwer zu be- 
werten, weil sie ihre Entstehung dem Anscheine nach nicht 
immer bloß in der krankhaften Geistesbeschaffenheit des Trinkers 
haben. Oft, allerdings. durch letzteren verursacht, ist das Ver- 
hältnis. zwischen den Eheleuten ein gleichgültiges, ja selbst 
feindseliges geworden und hat auf der gesunden zum wirklichen 
Ehebruch geführt. In solchen Fällen ist es interessant zu 
sehen, daß der an krankhaftem Eifersuchtswahn leidende Trinker, 
auch wenn er von dem tatsächlichen Ehebruch durch sinn- 
fällige Beweise Kenntnis bekommen hat, dennoch nicht diese 
als die untrüglichen und allein maßgebenden gelten läßt, 
ja sie ganz ignoriert, dagegen an seiner krankhaften Be- 
gründung festhält und, was nicht minder wichtig ist, in krank- 
hafter Weise darauf reagiert. Das Krankhafte des Eifersuchts- 
wahns zu erkennen oder wenigstens zu vermuten, gibt es zwei 


*) Nasse, Über den Verfolgungswahnsinn der geistesgestörten Trinker. 
Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie. 1878, Bd. 34, S. 178. 


a2. 0. 


Anhaltspunkte — abgesehen von der Gesamtuntersuchung des 
Anschuldigenden, die ja nicht immer sofort möglich sein wird, 
1. formal: die Hartnäckigkeit und.der Affekt, womit die an- 
geblichen Wahrnehmungen, sowie die gezogenen Schlüsse — 
meistens sogen. „Kurzschlüsse* — gegen jeden Einwand des 
Richters oder des Arztes verteidigt werden — ein bekanntes 
Phänomen der Psychopathologie; 2. inhaltlich: die Ungleich- 
artigkeit der Beweismittel, auf der einen Seite ganz gleichgültige, 
nebensächliche Dinge und Vorgänge, auf der andern Seite, nament- 
lich beim längeren Bestande des Wahns, Angaben, deren Inhalt, 
Sinnestäuschungen entstammend, in den Bereich des Unmög- 
lichen oder Ungeheuerlichen gehört. 


Trotz der Häufigkeit des Eifersuchtswahns der Trinker 
kommt es doch nicht so oft vor, daß Leute mit daraufbezüg- 
lichen Anschuldigungen die Organe der Rechtspflege in An- 
spruch nehmen. Grund ist, daß nach hier und da verbreiteter 
Volksanschauung der Gatte das Recht hat, gegen den unge- 
treuen Ehegatten mehr oder weniger auf eigene Faust vorzu- 
gehen; ähnliche Grundsätze bestehen ja auch in der Recht- 
sprechung mancher Völker. Infolgedessen registrieren wir in 
forensischer Hinsicht bei dem alkoholistischen Eifersuchtswahn 
häufiger Mord oder gefährliche Körperletzung, begangen an 
dem angeblich untreuen Ehegatten. 

Im Anschluß hieran sei noch erwähnt, daß die kranke 
Eifersucht auch bei Cocainisten sehr häufig beobachtet wird; 
endlich kommt sie auch nicht selten bei Altersblödsinnigen vor 
und führt auch hier öfter zur Tötung als auf den Weg gericht- 
licher Anschuldigung. 


Ein 48jähriger Mattenflechter*), der seit seiner Militär- 
zeit stark, eine zeitlang bis zu vier Liter Schnaps täg- 
lich getrunken haben will, seit Jahren als roher, gewalttätiger 
Mensch geschildert wird, wegen Gotteslästerung, Bedrohung 
und Hausfriedensbruch vorbestraft ıst, seine Ehefrau seit vielen 
Jahren mißhandelt, sie auf offener Straße prügelt, verdächtigt 
sie im Rausche und später auch nüchtern des Ehebruchs mit 


= *) Bonhoeffer, Die akuten Geisteskrankheiten der Gewohnheitstrinker. 
Jena 1901. S. 211. 


o) 


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er |, A 


allen angesehenen Personen seines Dorfes. Er geht zum Geist- 
lichen, um diesen zu veranlassen, daß er seiner Frau Vorhal- 
tungen wegen ihres Lebenswandels machen solle, und erhebt 
dabei „unglaubliche, horrende Anschuldigungen gegen ehren- 
werte Männer“. Einheitliche Zeugenaussagen beleumunden die 
Frau aufs beste; es ergibt sich keine Spur eines Anhaltes für 
jene Verdächtigungen. Einzelne Zeugen sprachen von der 
„Einbildung“* des Mannes bezüglich seiner Verdächtigungen. 
Dieser erstattete nun gegen einen Milchhändler Anzeige wegen 
Vergewaltigung seiner Frau. Die Untersuchung erwies die 
völlige Haltlosigkeit der Anschuldigung. Die Folge war viel- 
mehr eine Anklage wegen falscher Anschuldigung gegen ihn. 
Dreiviertel Jahre später, nachdem er schon wochen- und monate- 
lang zuvor geäußert, er werde seine Frau umbringen, erschlägt 
er diese, nach reichlichem Alkoholgenuß, auf der Landstraße. 
Er wurde zum Tode verurteilt und dann zu lebenslänglicher 
Zuchthausstrafe begnadigt. In der Strafhaft entwickelte sich 
der ursprüngliche Eifersuchtswahn zu einem ausgedehnten und 
komplizierten Beeinträchtigungssystem, mit vereinzelten Gehörs- 
halluzinationen, Erinnerungsfälschungen usw. Nach dreijähriger 
Dauer der Geistesstörung erfolgte seine Überführung in eine 
Irrenanstalt. — 


Daß beim Ausbruch nicht nur eines alkoholischen, sondern 
eines jeden beliebigen Fieberdeliriums genügende Be- 
sonnenheit vorhanden sein kann, um eine krankhafte Wahr- 
nehmung in glaubhaft scheinender Weise der Behörde vorzu- 
tragen, lehrt u. a. folgende Mitteilung von Kirn*): Kl., 48 Jahre 
alter Steinklopfer, dem Branntweingenuß in dem Maße ergeben, 
als es sein harter Beruf erfordert, erscheint am 31. Mai bei der 
Staatsanwaltschaft mit der Anklage: „Man habe ihn vergiften 
wollen, indem man ihm den Schnaps vertauscht habe. Er habe 
durch dessen Genuß Kopfweh, Schwindel, schwere Glieder und 
Erbrechen bekommen.“ Er übergibt der Behörde einen steinernen 
Krug, welcher den vergifteten Schnaps enthalten soll; gleich- 
zeitig deponiert er eine ganze Reihe von Schriftstücken, welche 


— 





*) Kirn, Zur Kasuistik der Psychosen im Gefolge febriler Erkrankungen. 
Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. 59, S. 747. 1883. 


u. 16: 


er ın einer Tasche mit sich führt, aus denen hervorgehen soll, 
„daß man ihn schon des Alters wegen habe umbringen wollen“ 
(Prozeßakten mit Klagen gegen ihn) „Sie hätten ihn alle ‚auf 
der Latte‘ (seien übel gegen ihn gesinnt.) Er gehe deshalb 
nicht mehr nach Hause. Lieber wolle er in das Gefängnis 
geführt werden, um seinen Verfolgern zu entgehen.“ Da die 
ärztliche Untersuchung keine Erscheinungen von Vergiftung 
auffinden konnte, wurde Kl. als geistesgestört dem klinischen 
Hospitale übergeben. Bereits bei der Aufnahme wurde das 
Bestehen von hohem Fieber konstatiert; alsbald entwickelte 
sich ein hochgradiges, über das ganze Gesicht ausgebreitetes 
Erysipel mit psychischen Gehirnerscheinungen. Die höchsten 
Temperaturen betrugen am 3. Juni 40.2, am 4. 39,5, am 5. 
38,9 Grad Celsius. Am 7. Juni trat mit dem Fieber der Wahn 
zurück, am 8. war vollkommene Krankbheitseinsicht vorhanden. 
Pat. konnte bald darauf als vollkommen geistig und körper- 
lich genesen, entlassen werden. 

Auch im Inkubationsstadium des sich bekanntlich sehr 
schleichend entwickelnden Typhus treten zuweilen geistige 
Störungen, Halluzinationen, Wahnideen auf, wobei der Kranke, 
den Eindruck eines besonnenen, vernünftigen Menschen machend, 
trotz schon vorhandenen Fiebers nach der Polizei geht und. 
gegen vermeintliche Verfolger Anzeige erstattet. — 

Das gegebene Feld für das Zustandekommen pathologischer 
Anschuldigungen dieser Art ist der Verfolgungswahn (Para- 
noia). Die eigentümliche, ihm zu Grunde liegende Gehirn- 
krankheit führt zu einer Auffassung der Umwelt in dem Sinne, 
als richte sich etwas Feindliches, Bedrohliches, dabei Geheim- 
nisvolles aus ihr gegen den Kranken. Dieser anfänglich noch 
unbestimmte Eindruck wird nach und nach spezialisiert, indem 
- Denken und Sinnestätigkeit im Banne dieser Auffassung arbeiten 
und in dem Kranken die Wahnidee, von gewissen Mitmenschen 
beeinträchtigt, verfolgt zu werden. auftauchen lassen, während 
gleichzeitig Sinnestäuschungen mit einem den Wahnideen ent- 
sprechenden Inhalt, besonders die Trugwahrnehmungen be- 
schimpfender Worte oder Redewendungen, dem Kranken, der 
durch sein Leiden von vornherein der Kritik über seine Krank- 


heit beraubt ist, das unverbrüchliche Zeugnis seiner Sinne 
)% 


— 20 — 


lıefera und während krankhafte Empfindungen der Muskeln, 
der Haut, wie auch innerer Organe als geheimnisvolle, auf 
physikalischem oder chemischem Wege bewirkte Machinationen 
gedeutet werden. 


Es ist interessant zu sehen, wie sich ein großer Teil der 
Geistesk ranken in gewisser, nicht. nur oberflächlicher, sondern 
bis in die klinische Betrachtung reichender Weise nach dem 
Rechtsbegriff der Schuld und Unschuld teilen läßt. Bei der 
Schwermut führt das Bestreben des Kranken, seinen leidenden 
Gehirnzustand zu deuten, zu einem Schuldbewußtsein und zu 
der Wahnidee, an aller Sünde auf der Welt schuld zu sein, 
bei der Verrücktheit dagegen wird die Ursache der Gehirnver- 
änderung, die Schuld an derselben nach außen verlegt, die 
Leute um ihn herum seien schuld an seinem Zustand *). 


Die äußerliche Ruhe und Besonnenheit, der Schein folge- 
richtigen Denkens und Redens ist bei dem Verfolgungswahn 
häufig ein sehr weitgehender und die Irrtümer, zu denen er 
Anlaß gibt, durchaus erklärliche, verzeihliche. 


Wenn jedoch Kraepelin in der neuesten Auflage seines 
Lehrbuchs der Psychiatrie, 1904, II, S. 595, 596, meint: 
„Hier pflegt sich ganz langsam ein dauerndes, unerschütter- 
liches Wahnsystem bei vollkommener Erhaltung der Klarheit 
wie der Ordnung im Denken, Wollen und Handeln herauszu- 
entwickeln“ und S. 609 von „der ausgezeichneten Erhaltung 
des Verstandes sowie der Ordnung in Gedankengang, Benehmen, 
S. 610 von dem „Fehlen einer selbständigen Willensstörung“ 
spricht, so muß dies die bei Kraepelin wohl nur infolge 
eines lapsus calami unterbliebene Einschränkung erfahren, dab 
die genannten Eigenschaften, wo sie überhaupt ‘vorhanden, nur 
auf die außerhalb des Wahnsystems gelegenen geistigen 


*) Auch die gesunden Menschen gruppieren sich nach diesen beiden 
‚Richtungen. Bei den Einen ist, wenn sie etwas vermissen, der erste Ge 
danke: das hat mir Jemand entwendet, — oder: das hat mir Jemand ver- 
legt, bei den Anderen: das muß ich verloren haben, — oder das muß ich 
mir verlegt haben. Diese Erscheinung empfehle ich den juristischen und 
psychologischen Seminarien zum Gegenstand des psychologischen Massen- 
experiments zu machen. Die Ausführung ist höchst einfach. Man könnte 
diese Erscheinung die persönliche Gleichung zweiten Grades nennen 


Vorgänge zutreffen oder daß es nur die im Vergleich zu 
Schwachsinnszuständen relative Klarheit und Ordnung in 
Denken, Wollen und Handeln ist. Ich halte diese Richtig- 
stellung und Ergänzung für sehr nötig, da sonst der Nicht- 
fachmann, der Kraepelins angeführte Sätze liest, irregelei tet 
werden könnte. 


Viele Paranoiker haben wenigstens noch so viel Besonnen. 
heit, daß sie das Unerlaubte, oft wohl auch Unzwec kmäßige 
der Notwehr einsehen; manche erhoffen vom Gericht zunächst 
nur weitere Aufklärung der unheimlichen Situation. Werden 
sie von der Behörde abgewiesen, so schreiten sie zur Selbst- 
hilfe nicht etwa durch einen heimlichen Angriff auf den an- 
geblichen Verfolger, sondern sie fallen ganz offen, ja osten- 
tativ, womöglich auf offener Straße über ihr Opfer her, um 
‚aller Welt zu zeigen, wie sehr sie sich in ihrem Rechte glauben. 
Es ist auch vorgekommen, daß solche Verrückte, wenn sie von 
den Gerichten abgewiesen wurden, weil sie einen Verfolger 
nicht angeben konnten, irgend eine beliebige Person attak- 
kieren oder sonst ein Verbrechen begehen, nur zu dem Zweck, 
um vor Gericht gestellt zu werden und dabei ihre Beschwerden 
vorbringen zu können. 

Eine 48 Jahre alte, fast taube Frauensperson wähnte, die 
Pfarrer verkündeten von der Kanzel herab, daß sie gestohlen 
habe (sie war einmal wegen Diebstahls zu fünfjähriger Freiheits- 
strafe verurteilt worden), überall gebe man ihr dies durch 
entsprechende Pantomimen zu verstehen, man spreche davon, 
daß sie eine Diebin sei. Namentlich bezichtigte sie den Pfarrer 
von Montmartre der üblen Nachrede. Sie ließ ihm Warnungen 
zukommen und wandte sich an die päpstliche Gesandtschaft 
und die Polizei, um Schutz gegen diese Verfolgungen zu er- 
langen. Da alles erfolglos blieb, schritt sie zur Selbsthilfe und 
feuerte auf den Pfarrer in der Kirche einen Revolver ab, — 
nicht um ihn zu töten, sondern um ihn nur zu verwunden und 
um damit vor das Gericht zu kommen und ihre Beschwerden 
öffentlich zur Sprache bringen zu können *). 

*) Blanche et Motet, Annal. med. psychol. März 1872. v. Krafft- 
Ebing, Gerichtl. Psychopathologie, S. 133. 


— 





— 19 — 


Über einen Mordversuch am Staatsanwalt, verübt von 
einem Paranoiker im Zusammenhang mit der Abweisung einer 
pathologischen Anschuldigung berichtet Tebaldi in der Rivista 
sperimentale di Psichiatria VI, 1880 (nach dem Referat v. Krafft- 
Ebings in der Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie 1881, Lit. 
S. 21): Teso, Hausknecht, 45 Jahr, ein originär höchst schwach- 
sinniger, ungebildeter, leichtgläubiger Mensch von normalem 
. Hirnschädel, aber ungleich entwickelten Gesichtshälften, ver- 
liebte sich 1865 in ein Mädchen, glaubte sich wiedergeliebt, 
ohne je mit diesem ein Wort gesprochen zu haben. Unter 
dem Einfluß einiger Spaßvögel, die den dummen Menschen 
wegen seiner Verliebtheit foppten, bildete sich ein erotischer 
Wahnsinn. T. verfolgte das Mädchen mit Briefen und erkaltete 
nicht in seiner Liebe, selbst als er derbe Abweisung empfing, 
1872 wähnte er seine Geliebte in Vicenza wiederzusehen. Da 
sie nicht Stand hielt, verfolgte er sie durch die Straßen, in- 
sultierte sie. Er wurde verhaftet, verbüßte einen Tag Gefängnis, 
sah nicht ein, daß es nicht die Geliebte war. Immer mehr 
kam er zur Überzeugung, daß eine Bande feindlich gesinnter 
Menschen ihm das Mädchen abspenstig machen wolle. Er 
machte gegen diese „Räuberbande“ Anzeige bei Gericht. Der 
Richter schickte ihn ins Spital: Nach drei Monaten entließ 
man ihn. Der Verfolgungswahn zog immer weitere Kreise. 
Er merkte, daß man feindlich über ihn spreche, ihn verlache. 
Neue Beschwerden beim Ministerium, beim Staatsanwalt, über- 
all vergeblich. Eine ganze Räuberbande ist gegen ihn und 
seine Heirat. Eines Tages ermahnte ihn die Mutter des Mäd- 
chens, er sölle auf ihre Tochter nicht mehr rechnen, sie werde 
sich anderwärts verheiraten. Darüber große Erbitterung. Er 
war sehr verstimmt und gereizt, erkannte, daß durch die Ab- 
weisung der Gerichte sein Lebensglück zerstört, die Hand 
seines „Engels“ verloren sei; da er der Bande nicht habhaft 
werden konnte, wollte er sich an den Behörden, die ihm den 
* Rechtsschutz gegen die Bande versagt hatten, rächen. Deshalb 
machte er den Mordversuch am Staatsanwalt am hellen Tage, 
auf frequenter Straße. Er floh nicht, zeigte keine Reue, glaubte 
sich im Recht so zu handeln, hielt nach wie vor an seinem 
erotischen und Verfolgungswahn fest. 


— 23 — 


Ein besonders lehrreicher Fall ist der folgende *). 

Im Januar 1902. erhielt die Staatsanwaltschaft zu Köslin 
von dem Lokomotivführer Th. in Neustettin eine Anzeige 
darüber, daß mehrere Männer mit seiner Frau und seinen Kin- 
dern in seiner Wohnung und während seiner Abwesenheit seit 
Jahren Unzucht trieben, Orgien feierten und hierzu die Kinder 
aufs raffinierteste präparierten; er gab auch eine Beschreibung 
und Abbildung der zum Erweitern der kindlichen Geschlechts- 
teile benutzten Werkzeuge. Auf diese Anzeige hin wurde eine 
Anzahl Neustettiner Bürger verschiedener Lebensstellung ver- 
haftet, darunter ein Kaufmann, der im Gefängnis starb, ein 
Arzt u. a. 

Die Ermittelungen förderten nichts Objektives zutage. 
Der Mann wurde wegen wissentlich falscher Anschuldigung 
verhaftet. Nun ließ man ihn auf seinen Geisteszustand unter- 
suchen und es wurde von dem Sachverständigen Geh. Rat 
Siemens-Lauenburg nachgewiesen, daß auf dem Boden er- 
erbter Anlage und schwerer nervenschwächender Umstände bei 
dem Kranken ein kombinatorisches Wahngebäude nebst Be- 
ängstigungen und Illusionen (vielleicht auch Halluzinationen) 
vorlag, auf Grund deren die Denunziationen entstanden waren. 

Den unschuldig Verhafteten hat der Justizminister, obwohl 
das Gesetz, betr. Entschädigung für unschuldig erlittene Unter- 
suchungshaft noch nicht in Kraft war und keine rückwirkende 
Kraft hatte, Geldbeträge bis zur Höhe von 600 M. zahlen lassen. 

Zahlreiche Beispiele können dafür vorgebracht werden, 
daß es bei einer pathologischen Anschuldigung nicht genügt, 
die Nichtigkeit der letzteren in bezug auf ein etwaiges Rechts- 
verfahren erwiesen zu haben, sondern, daß derjenige, welcher 
eine solche Anschuldigung erhebt, als ein durchaus gemeinge- 
fährlicher Geisteskranker zu gelten hat und unschädlich gemacht 
werden muß. 
=  Pelman*) hatte einen hierher gehörigen Fall zu begut- 
achten; der Patient W., von Haus aus überspannt und Sohn 


*) Bei streng klinischer Betrachtung gehört der Fall zur Paranoia nur 
im weiteren Sinne dieses Wortes. 

*) Pelman, Einige gerichtlich-medizinische Gutachten über zweifelhafte 
Gemütszustände. Friedreichs Blätter. 1881, Heft 2 u. 3. 





— 24 — 


eines exaltierten Vaters, verlor sein Geschäft und ergab sich 
im Ärger darüber eine zeitlang dem Trunke; darauf Charakter- 
veränderung und Beeinträchtigungsideen. Er glaubte, die Schuld 
an seinen Mißerfolgen bei einem gewissen Sch. zu suchen. 
Dieser Sch., der den W. gar nicht kannte, war nämlich in 
einen Prozeß verwickelt gewesen, bei dem der Vater des W. 
vor einer Reihe von Jahren sein Vermögen eingebüßt hatte. 
Der Vater W. hatte seitdem den Sch. als Urheber seines Un- 
glücks bezeichnet. Der Sohn W. wollte sich nun, von seinen 
Beeinträchtigungsideen geleitet, an Sch. rächen und versuchte 
es zuerst damit, daß er eine Klage gegen ihn erhob. Als er 
damit abgewiesen wurde, kaufte er einen Revolver, übte sich 
im Schießen und schoß den Sch. auf offener Straße an. Durch 
dieses Attentat hoffte er nämlich vor die Geschworenen zu 
kommen und dort seine Anklage gegen Sch. von neuem vor- 
bringen zu können. 

Ein seit Jahren an Paranoia leidender Mann glaubte sich 
verfolgt von einer garnicht existierenden, von ihm als Hexe 
bezeichneten Person und hatte deren Einfluß Tod von Ange- 
hörigen und Umstehen von Haustieren zugeschrieben. Als man 
eine darauf bezügliche Beschwerde von ihm bei Gericht nicht 
sofort entgegennahm und erledigte, stieß er Drohungen aus 
und verwirklichte sie noch am Abend desselben Tages, indem 
er einem Gerichtsbeamten auflauerte und ihn prügelte*). — 

Es kommt auch bei Paranoischen vor, daß sie sich selbst 
anklagen; allerdings ist dies eine recht seltene Erscheinung. 


Kreuser**) hatte einen solchen Fall zu begutachten, der 
deshalb bemerkenswert ist, weil die Nichtberücksichtigung 
der Selbstanklagen zu Anschuldigungen der Polizei und der 
Gerichte führte, natürlich in krankhaft logischer Begründung. 
Es handelt sich um einen 33 jährigen, von Jugend auf geistig 
etwas minderwertigen Menschen, der bis zum Jahre 1893 viel- 
“fach wegen Eigentumsvergehen, beim Militär auch wegen Deser- 


*) Sanna-Salaris, Öffentliche Gewalttätigkeit und Bedrohungen. 
. Paranoia persecutoria.. Annal. di Freniatria. Juni 1893. Referat in All- 
gem. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. 50, Lit. S. 38. 

**) Kreuser, Forensische Würdigung der Selbstanklagen Geistes- 
kranker. Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie. Bd. 56, 1899, S. 503. 


— 25 — 


tierens bestraft und einmal bereits in Beobachtung auf deu Geistes- 
zustand gestanden hat. Es wurde damals Geistesstörung bei 
ihm nicht konstatiert. „Von 1893 bis 1898 ist er von ver- 
schiedenen Gerichten noch sieben Mal wegen Eigentumsver- 
gehen verurteilt worden, die er selbst zur Anzeige ge- 
bracht hatte. Einige weitere Selbstanzeigen wegen ähnlicher 
Vergehen konnten teils wegen Verjährung, teils in Ermangelung 
‚ausreichender Beweise zu einer Verurteilung nicht führen. 
Wegen eines ebenfalls von ihm selbst zur Anzeige gebrachten 
Brandstiftungsversuches (1893) wurde er freigesprochen, da kein 
ausreichender Tatbestand vorlag. Den größten Teil der letzten 
Jahre hat er infolge der genannten Verurteilungen in Strafan- 
stalten zugebracht, in denen über sein Verhalten nicht geklagt 
wurde. Von dort aus hat er sich dann am 18. August 1897 
zweier weiterer Brandstiftungen angeklagt, die er 1892 in 
seiner Vaterstadt und 1895 in T. verübt haben wollte. Beide 
Anzeigen bezogen sich auf schwere Brandfälle, bei denen Brand- 
stiftung fast mit Sicherheit anzunehmen gewesen war, bei denen 
es aber der Untersuchung nicht gelungen war, den Täter zu 
ermitteln. Die Selbstanzeigen Sch’s. enthielten ganz detaillierte 
Angaben über die angebliche Ausführung der Verbrechen, die 
wohl Lokalkenntnis verrieten, aber doch in mehreren wesent- 
lichen Punkten mit den Ergebnissen der erstmaligen, wie der 
wiederaufgenommenen Voruntersuchung nicht in Einklang ge- 
bracht werden konnten. Die Eröffnung eines Hauptverfahrens 
ist darum nicht angezeigt erschienen. Am 19. Mai 1895 ließ 
nun M. die weitere Selbstanklage folgen, daß er am 10. Okt. 
1888 anläßlich seiner dritten unerlaubten Entfernung vom 
Truppenteil in der Nähe seiner Vaterstadt einen ihm persön- 
lich unbekannten, nach Gestalt, Kleidung und Sprechweise aber 
genau beschriebenen Mann in räuberischer Absicht niederge- 
schlagen habe. Um die Spuren der Tat zu verwischen, habe 
‚er den zwar Betäubten, aber noch Atmenden an das nahe 
Flußufer geschleppt und ins Wasser geworfen. So genau seine 
Schilderungen über den Hergang bei der Tat und deren Ört- 
lichkeit lauteten, so wenig hat die angestellte Untersuchung 
irgend einen Anhaltspunkt dafür zu geben vermocht, daß jemals 
ein solcher Mord verübt worden ist. Aber auch angesichts 


a 


— 26 — 


dieses negativen Ergebnisses der gerichtlichen Ermittlungen 
bleibt M. hartnäckig auf seinen Behauptungen, verlangt er 
dringend vor ein Schwurgericht gestellt und zum Tode ver- 
urteilt zu werden. Er ist in hohem Grade erbost darüber, daß 
diesem Verlangen nicht längst schon entsprochen worden ist, 
und er sucht hierfür eine Reihe von Gründen plausibel zu 
machen, die alle in schweren Beschuldigungen und Verdäch- 
tigungen der Polizei und Gerichte seiner Vaterstadt beziehungs- 
. weise einzelner Beamter bei denselben zusammenlaufen.“ Das 
negative Ergebnis der Voruntersuchung, wie das erregte Ge- 
bahren des M., das er auf Gewissensunruhe und nächtliche 
Visionen zurückführte, erweckte Zweifel an seiner geistigen 
Gesundheit. Die Anstaltsbeobachtung bestätigte diese Ver- 
mutung und ergab das Bestehen einer auf alkoholistischer 
Grundlage entstandenen halluzinatorischen Paranoia, die wahr- 
scheinlich schon 1888 begonnen hatte. Er war der festen Über- 
zeugung, daß die Polizei und die Gerichte deshalb die Wahr- 
heit nicht aufkommen lassen wollen, weil diese Verbrechen 
im Zusammenhange stehen mit allerlei schmutzigen Affären, 
in die gewisse Beamte verwickelt seien. — 


Eine Abart der Paranoiker — in gewissem Sinne — sind 
die Quärulanten. | | 

Soweit nur die pathologische Anschuldigung als tertium 
comparationis in Betracht kommt, befindet sich der Jurist 
bei den Quärulanten in etwa derselben Lage, wie der Arzt bei 
der Hysterie. Hier wie da liegt eine gewisse Spezifität in der 
Anschuldigung. Auf den Quärulantenwahn selbst, seine Äuße- 
rungsweise und dergl. hier näher einzugehen, kann ich mir 
‚ersparen, obwohl er gerade bei unserem Thema eine große 
Rolle spielt 

Denn die Juristen kommen mit Quärulanten, solchen, die 
man für gesund erachten muß, und mit abnormen, in der 
Praxis oft genug selber in Berührung. 

Ich darf daher als bekannt voraussetzen, daß die an Quäru- 
lantenwahn leidenden Personen im verzweifelten Kampfe um 
ihr angebliches Recht: sich kennzeichnen: 1. durch die Unfähig- 


wu DR 2 


keit, in die Rechtslage der Gegenpartei und die Auffassung des 
Richters sich hineinzudenken oder darüber eine Belehrung anzu- 
nehmen, durch das hartnäckige Stehenbleiben bei der eigenen 
Ansicht von Recht und Unrecht, 2. durch die von vornherein 
auftretende Deutung des angeblich erlittenen Unrechts ım 
Sinne einer mit besonderem Interesse und System gegen ihre 
Persönlichkeit gerichteten Verfolgung und Beeinträchtigung, 
3. durch die mit maßlosen Entstellungen, Beleidigungen, An- 
schuldigungen (Bestechlichkeit, Meineid etc.), Bedrohungen ein- 
hergehende Reaktion gegenüber der angeblichen Verfolgung, eine 
Reaktion, die den Kranken blind macht gegen die Schädigungen, 
welche er sich selbst durch sein rücksichtsloses Vorgehen zu- 
fügt, und die sich bald charakterisiert durch ihr Fortschreiten zu 
ausgesprochenen Störungen der Wahrnehmung, zu Illusionen, 
Halluzinationen und schließlich zu kompletter Wahnbildung 
und zur Beschränkung all seines Sinnens und Trachtens auf 
den Rechtsstreit, der sich immer nur um dieselbe Sache dreht, 
seiner Äußerungen auf immer stereotyper und zur Gewohnheit 
werdende prozessuale Redensarten und schriftliche Wendungen, 
die ersich angeeignet, und auf Anschuldigungen und Beleidigungen, 
mit denen er seine Gegner unter endlosen Eingaben überhäuft. 
Dabei ist noch beachtenswert, daß der kranke Quärulant keines- 
wegs aufhört zu quärulieren, wenn er etwa in einem Punkte 
im Recht gewesen ist und sein Recht wirklich erlangt hat. 

Ferner muß ich noch die Bemerkung zufügen, daß der 
Quärulant es nicht erst dann wird, wenn er mit der Rechts- 
pflege in Konflikt gerät, daß er also nicht, wie es den An- 
schein haben kann, durch den Rechtsstreit Quärulant wird. 
Das ist selbst dann nicht der Fall, wenn er tatsächlich*) Un- 
recht erlitten hat und im Anschluß daran der Quärulanten- 
wahn zum Vorschein kommt. Vielmehr sind es stark zu Ver- 
folgungswahn disponierte Leute, bei denen die Erschütterung 
ihres Rechtsgefühls und aller derjenigen Bestandteile des Ich- 


*) In einigen und sehr gebräuchlichen psychiatrischen Lehrbüchern 
findet sich noch immer die irrtümliche Darstellung, daß der Quärulanten- 
wahn in der Regel von einer mit vollem Recht erlittenen Niederlage im 
Rechtsstreit ausgeht. Der kranke Quärulant findet aber. auch wenn er sein 
Recht bekommen hat, noch immer einen Anlaß zum prozessieren. 


zs Dg — 


komplexes, welche rechtliche Empfindungen und Vorstellungen, 
das Ich in seinen rechtlichen Beziehungen darstellen, nur als 
auslösendes Moment wirkt, ähnlich wie bei einem nerven- 
schwachen Menschen ein mäßiger Schreck, ein Unfall, eine 
Operation, eine fieberhafte Erkrankung den Bankrott des Ner- 
vensystems herbeiführt. Will man also den kranken Quärulanten 
in seiner Art richtig erkennen, so bedarf es einer recht ein- 
gehenden Analyse und Durchforschung seines Vorlebens, auch 
in physischer Beziehung. Schwierig gestaltet sich, allerdings 
nur im Anfang des Leidens, die Unterscheidung zwischen dem 
Quärulieren eines solchen Geisteskranken und der Streit- und 
Händelsucht eines sonst geistig gesunden, wenn auch nicht 
gerade durchaus normalen Menschen. Der letztere verbeißt 
sich nicht in eine bestimmte Sache, er fängt bald hier, bald dort 
‚Streit an: hat er in der einen keinen Erfolg, so nimmt er eine 
andere auf; er bewahrt gewisse Formen und schädigt sich 
nicht selbst. Er findet auch am Ende einmal seine Befriedigung 
im Streiten. — Endlich ist hierbei noch zu bemerken, daß als 
gelegentliche Erscheinung das Quärulieren auch bei verschiedenen 
anderen Geistesstörungen, bei Schwachsinnigen, bei Neuras- 
thenischen, Hysterischen vorkommen kann. 

Beispiele von Quärulantenwahn hier anzuführen, unterlasse 
ich aus dem schon angegebenen Grunde, weil solche Fälle ın 
der juristischen Praxis wohl oft genug vorkommen und den 
Juristen zur Genüge bekannt sind. 

Auf die Selbstanschuldigungen Geistesgestörter hier einzu- 
gehen, was ja nahe liegt, würde zu weit führen. Nur insoweit 
als in Selbstanzeigen Anschuldigungen anderer ent- 
halten sein können, muß ihrer hier Erwähnung geschehen. 
Und dies kann bei jeder Art von Selbstanzeigen eintreten. 
Ich erinnere z B. an den bekannten Fall des sogen. „Menschen- 
fressers* Bratuscha*), jenes Mannes, der sich in seiner krank- 
haften Geistesverfassung und unter Einfluß des Verhörs durch den 
Gendarmen bezichtigte, seine zwölfjährige Tochter getötet, zer- 


— 





*) Siehe die ausführliche Schilderung und Erörterung dieses berühmten 
Falles in Psychiatrisch- Neurologische Wochenschrift, Jahrg. VIII, Nr. 27 
und ff. 1906 von Prof. Dr. med. H. Zingerle, Ein Beitrag zur forensischen 
Bedeutung von Erinnerungsfälschungen. 


nr 90: sa 


stückelt und teils verbrannt, teils gegessen zu haben und dieser- 
halb zum Tode verurteilt, jedoch zu lebenslänglicher Zuchthaus- 
strafe begnadigt wurde. Dieser Bratuscha beschuldigte 
gleichzeitig seine Frau der Beihilfe. Sie erhielt eine Zucht- 
hausstrafe von drei Jahren. Bekanntlich tauchte die angeblich 
ermordete Tochter, die in Wirklichkeit entlaufen war und unter 
falschem Namen vagabondierte, nach einiger Zeit wieder auf, 
und die Wiederaufnahme des Verfahrens ergab, daß es sich 
bei Bratuscha um eine pathologische Selbstanschuldigung und 
Anschuldigung einer zweiten Person, der Ehefrau, gehandelt 
hatte. DBratuscha litt an einem schweren Depressionszustand, 
der durch den Verlust der Tochter hervorgerufen war; die 
Frau, die er mitanschuldigte, war in ähnlicher Weise erkrankt 
und legte ein entsprechendes Geständnis ab. — BeiSchwermütigen, 
die am häufigsten zu Selbstanzeigen geführt werden, scheint 
die Möglichkeit der pathologischen Anschuldigung am ehesten 
gegeben. In zweiter Reihe kommen die hysterischen Denun- 
zıanten. Manchmal mag Rachsucht dazu führen, sich eines 
fingierten Verbrechens zu bezichtigen und den Gegner als An- 
stifter oder Teilnehmer hinzustellen, ein ander Mal gelangt es 
den Selbstdenunzianten, die sich zu irgend einem Zweck eines 
Verbrechens anklagen, gar nicht zu Bewußtsein, daß unter den 
gegebenen Verhältnissen die fingiert Beteiligten ebenfalls der 
Bestrafung anheim fallen können oder müssen. So bei einer 
Hysterischen, die sich selbst vor Gericht der Kindesabtreibung 
bezichtigte, in der Hoffnung, die schon früher angedrohte, von 
ihr selbst aber sogar herbeigeführte Verbringung in die An- 
stalt und damit das Verlassen des Hauses eines ihr verhaßten 
Pflegers bewirken zu können, und die dabei den Anstifter 
nannte, offenbar nur, um die Sache glaubhafter erscheinen zu 
lassen, — oder bei einem an alkoholischem Verfolgungswahn 
leidenden Manne, dem die Stimmen sagten, daß er mit seiner 
Schwester wiederholt den Beischlaf ausgeübt habe und der 
sich deshalb dem Gericht stellte. In beiden Fällen erfolgte 
Überführung in die Untersuchungshaft, bald darauf aber Ein- 
stellung des Verfahrens wegen erwiesener Geisteskrankheit und 
Grundlosigkeit der Beschuldigungen.*) 


| *) Beide Fälle von Prof. A. E. Meyer mitgeteilt im Archiv für Psy- 
chiatrie, Bd. 40, 1905, S. 875, Artikel: Selbstanzeigen Geisteskranker. 


ae. Bl: 


Um eine Hysterische handelte es sich auch in dem Falle, 
der in der Prov.-Irrenanstalt Ückermünde (Jahresbericht 1890 
bis 1895, S. 24, Begutachter Dr. Schröder) zur Beobachtung 
war: Wirtschafterin M. W. aus Spaldingsfelde, 26 Jahre alt. 
Mutter leidet an „Weinkrämpfen“. War als Kind launenhaft, 
gereizt, zänkisch und faul, lernte mangelhaft. Nach der Ein- 
segnung lüderlicher Lebenswandel und geschlechtliche Aus- 
schweifungen. Bereits Ende 1880 erregte sie großes Aufsehen 
durch die Erzählung von einem bedeutenden Geldfunde, wobei sie 
zwei angesehene Männer der Fundunterschlagung beschuldigte. 
Es stellte sich bald heraus, daß ihre Erzählung erlogen war. 
Anfang des nächsten Jahres trat sie mit einer neuen Anschul- 
digung hervor: sie klagte sich selbst der Fruchtabtreibung an 
und wiederum mehrere bestbeleumdete und ehrenhafte Männer 
der Beihilfe zu diesem Verbrechen und veranlaßte ihre eigene 
Verhaftung. Bei ihren zahlreichen gerichtlichen Vernehmungen 
verwickelte sie sich in ein unglaubliches Lügengewebe, stellte 
sich z. B. als Werkzeug der Sozialdemokratie dar und machte 
geheimnisvolle Andeutungen von einer großen Mission, mit der 
sie beauftragt war. Wegen Verdachts auf Geistesstörung wurde 
sie der Anstalt zur Beobachtung überwiesen; ‘es ergab sich, 
daß sie an hysterischem Irresein litt und ihre Selbstanschuldi- 
gung, sowie diejenige gegen andere, erdichtet und ein Symptom 
dieser Krankheit war. 


an auŇaamaamaaaamaŇŘħŮħĖ a 


In Zuständen von Benommenheit und Betäubung, 
welche durch Kopfverletzungen und Kopferschütter- 
ungen hervorgerufen waren, machen die Verletzten nicht 
selten falsche Angaben über den Täter und den Vorgang und 
es entstehen dadurch verhängnisvolle Verwicklungen. 


Einen sehr instruktiven Fall, wobei auf Grund der Aussage 
der Verletzten ein Unschuldiger in Untersuchungshaft ge- 
nommen wurde, hatte Ziehen*) zu begutachten. In der Nacht 


*) Über die Zuverlässigkeit der Angaben der verletzten Person über 
die Vorgänge bei einer von ihr erlittenen schweren Schädelverletzung (Raub- 
mordversuch in Oldisleben.. Von Prof. Dr. Th. Ziehen. Korrespondenz- 
Blätter des Allgemeinen ärztlichen Vereins von Thüringen. 1900. Nr. 2. 


= 31: = 


vom 17. zum 18. Februar 1899 wurden in Oldisleben der Land- 
wirt Müller und seine beiden Kinder im Bett erschlagen, die 
Ehefrau Müller wurde am Morgen des 18. Februar mit schweren 
Schädelwunden, aber noch lebend, gefunden. Die Kasse war 
ausgeraubt. Zufolge einzelner Äußerungen der Frau Müller 
lenkte sich der Verdacht auf einen benachbarten Freund Müllers, 
den Schmied B. Er wurde verhaftet. Bei der Verletzten war 
nach der Beschreibung des Arztes, der die erste Hilfe geleistet, 
unterhalb einer 11 cm langen Wunde der rechten Stirnhälfte 
der Knochen gänzlich zertrümmert und das Gehirn quoll 
zwischen den zertrümmerten und eingedrückten Knochenstücken 
hervor; aus dem rechten Ohr und aus der Nase floß Blut. 

Die Notizen aus den Akten, welche Ziehen seiner Unter- 
suchung voranschickt, sind ein so lehrreicher Beweis dafür, zu 
welcher heillosen Verirrung und Verwirrung das unvorsichtige 
unkontrollierbare Herumfragen, namentlich durch Unberufene, 
an solchen Verletzten führen kann, daß ich diesen Bericht hier 
wörtlich wiedergebe: 

O. Sch., welcher die Verletzte während des Verbindens hielt, 
frug sie: „Hilde, hast du die Kerls nieht gekannt, die dich ge- 
schlagen haben?“ Darauf soll sie mit geschlossenen Augen ge- 
antwortet haben: „Fraget doch nicht noch, sie sinds gewesen, 
Schmied (oder Schmidt).“ Letzteres Wort sprach sie so aus, daß 
man darunter sowohl den Namen Schmidt, als auch die Berufsbe- 
zeichnung verstehen konnte. Bald darauf „schwand ihr wieder 
das Bewußtsein“. 

Die Schwester Henriette will auf wiederholtes Befragen „ganz 
deutlich“ einmal die Antwort gehört haben: „Zwei große starke 
Männer“. Auf die Frage: „wo waren sie denn?“ erwiderte die 

ep. M. „Alle beide in der Kammer“ und fügte etwa zwei Minuten 
später, ohne unmittelbar gefragt zu sein, hinzu: „Sie hatten die 
Schuhe ausgezogen und kamen in Strümpfen herein“. Ein anderes. 
Mal gab sie auf die Frage der Schwester, wer sie denn geschlagen 
habe, zur Antwort: „Der Meister“. So oft sie gefragt wurde, 
zeigte sie hohe Erregung. Deshalb wurde unterlassen, öfter in 
sie hineinzureden. Als sie jedoch am 19. Februar wieder einmal 
gefragt wurde, äußerte sie: „Es waren Oldisleber* und auf weiteres 
Befragen nach dem Namen: „Ich darf es nicht sagen, wenn alles 
vorbei ist, will ichs sagen“ und gleich darauf: „Wir wollten nicht 
stille halten, und da haben sie uns gepackt“. Auch der Landrat 
R. bestätigt, daß diese Aeußerungen (bis auf die letzte) gefallen 
seien. 


s= I 


Am 20. Februar besichtigten Herr Dr. P. und R. die p. M. 
und gaben ihr Gutachten dahin ab, daß die p. M. an einer Ge- 
hirnentzündung schwer krank sei, sich zur Zeit in einem unzu- 
rechnungsfähigen Zustand befinde und zur Zeit kaum eine Erinne- 
rung an die Vergangenheit haben dürfte. Auch sprachen sie 
Zweifel aus, ob am 19. Februar bei der p. M. wirklich eine Er- 
innerung vorhanden gewesen sei. 

Am gleichen Tag berichtete die Schwester H. folgendes: Fr. 
M. habe seit gestern wiederholt zu ihrer Umgebung geäußert: 
„Wenn ihr mir die Handschienen abmacht, will ich euch Alles 
sagen“. Deshalb habe sie, d.h. Schwester H., als die p. M. 
gestern Abend wieder über ihre Hand geklagt habe, angefangen, 
die Binde abzuwickeln und dabei wiederum gefragt. Fr. M. habe 
darauf laut und vernehmlich gesagt: „Kaufmann, Arbeiter“. Auf 
die weitere Frage, womit er sie geschlagen habe, antwortete sie 
kräftig: „Mit einem Hammer“. Auf die wiederholte Frage, wer 
denn eigentlich sie geschlagen habe, antwortete sie laut und nach 
dem Dafürhalten der Schwester bei vollen Bewußtsein: „Der 
Meister“ und nach wenigen Augenblicken „der Schmied“. Eine 
Zeugin, Fr. H. M., geb. R., sie trägt zufällig denselben Vor- und 
Nachnamen wie die Verletzte, will gehört haben, daß die Frau 
noch hinzufügte: „Der die Pferde beschlägt*. Auf die weitere 
Frage: Welcher Meister denn?, sagte sie: „Börner“. Die Zeugin 
Frau H. M. bestätigte diese Angaben der Schwester und fügte 
hinzu, einmal habe die Kranke auf die Frage, wer sie geschlagen, 
geantwortet: „Der Bruder“ und auf die weitere Frage, wer denn 
der andere gewesen, geäußert: „Schmied Börner“. 

Herr Dr. R. bemerkte zu diesen Zeugenaussagen: Die ver- 
letzte p. M. macht zwar mitunter ganz klar erscheinende Aeube- 
rungen, welche aber bei weiterem Nachfragen den Charakter des 
Unbestimmten annehmen, so daß es unmöglich ist, sich unbedingt 
auf ihre Aussagen zu verlassen. 

Gerichtswegen wurde konstatiert, daß die p. M. am 18. Februar 
und am Vormittag des 19. Februar auf wiederholtes Fragen des 
Richters nicht reagierte, hingegen am Abend des 19. Februar auf 
Befragen, wer sie geschlagen, die vernehmlichen, in kurzen Zwischen- 
räumen abgegebenen Aeußerungen fallen ließ! „Börner — Schmied“ 
(letzteres Wort scharf ausgesprochen). 


Ziehen untersuchte die Kr. siebzehn Tage nach der Ver- 
letzung. Ein durch letztere bedingter Dämmerzustand war auch 
jetzt noch vorhanden und kennzeichnete sich durch eine relative 
Apathie, durch die falsche Beantwortung einzelner einfacher 
Fragen, wobei sehr charakteristisch war, daß andererseits kom- 
pliziertere richtig beantwortet wurden und auch manche Fragen. 


=, 83 22 


welche eben falsch beantwortet worden waren, einige Minuten 
später richtig beantwortet wurden, ferner durch relative Schwer- 
besinnlichkeit. Auch kam noch hin und wieder Bettnässen vor. 
Ziehen legt dar, daß einfache Namenangaben, wofern sie nicht 
mit ganz bestimmten sinnlichen Eindrücken unmittelbar und 
eng verknüpft, sehr unzuverlässig sind und daß die zufälligsten 
Umstände in solchen Fällen das Äußern einzelner Namen be- 
dingen. Die Phantasietätigkeit der Kranken, ihre nachträgliche 
Kombination und die Suggestivfragen der Umgebung führen zu 
mannigfachen Verwechselungen. Auf Grund des Gutachtens 
Ziehens wurde der Beschuldigte B. aus der Haft entlassen. 
Im September 1899 wurde der Knecht der Müllerschen Ehe- 
leute als der Tat verdächtig verhaftet. Der erdrückende Nach- 
weis seiner ungewöhnlichen Geldausgaben hatte auf die richtige 
Spur geführt. Der Mörder wurde hingerichtet. 

Ziehen erteilt für solche Fälle den Rat, die verletzte 
Person in den ersten Tagen nach dem Unfall möglichst wenig 
den Suggestivfragen berufener und unberufener Personen aus- 
zusetzen und jedenfalls nicht nur die spontanen Äußerungen 
und Antworten der verletzten Person, sondern auch die an sie 
gerichteten Fragen zu protokollieren. Die Unzuverlässigkeit 
der Erinnerung der Verletzten erhellt aus diesem Beispiel sehr 
deutlich.“ 

Besonders Personen, die im Alkoholrausch Kopfver- 
letzungen erlitten, machen, wenn sie nüchtern geworden, 
zuweilen falsche Anschuldigungen auf Grund von Verwechs- 
lungen, Erinnerungsfälschungen und dergleichen. Einen hier- 
hergehörigen instruktiven Fall, derin Graz zur Verhandlung kam, 
teilt H. Gross mit (Archiv für Kriminalanthropologie, Bd. I, 
S. 337, 1899): Ein betrunkener Bursche H. war wegen seines 
lästigen Benehmens und Schimpfens von anderen Burschen aus 
dem Gasthaus gejagt, zu Boden geworfen und geschlagen 
worden. Während diese ins Gasthaus zurückkehrten, ging H. 
nach seiner Wohnung zu. Dahin führt, 600 Schritt vom Gast- 
haus entfernt, ein breiter, aber nicht mit Geländer versehener 
Steg über einen Mühlbach. H. war gegen Morgen voll- 
kommen durchnäßt und aus einer schweren Kopfwunde blutend 
heimgekommen. Er beschuldigte drei Burschen, sie hätten ihn 

3 


a 53. 


erst niedergeworfen und verprügelt, und, nachdem er längere 
Zeit bewußtlos gelegen, seien sie nochmals gekommen und 
hätten ihn in den Mühlgraben geworfen. Das Wasser habe 
ibn ernüchtert, so daß es ihm als guten Schwimmer gelang, 
ans andere Ufer zu kommen, worauf er sich heimschleppte. 
Ein B, den H. erkannt haben wollte, wurde wegen schwerer 
Körperverletzung angeklagt. 

Dieser Vorgang — das Hineinwerfen des H. ıns Wasser — 
wurde von den Zeugen eidlich bestritten und H. selbst gab 
nach seiner Wiederherstellung zu, daß er ın den Mühlgraben 
durch eigene Üpvorsichtigkeit infolge seines gestörten Bewußt- 
seins gefallen sein müsse und die Aussage nur auf Einbildung 
beruht habe. — | 

Traumerlebnisse werden nicht selten in den wahren 
Zustand übernommen und als wirkliche Ereignisse gedeutet 
und verwertet. Sind sie unangenehmer Natur, geträumte An- 
griffe auf das Leben oder geschlechtliche Attentate, so können 
sie zur Anschuldigung Anlaß geben. Dies veranschaulicht fol- 
gender von Dr. Altmann ın Wien mitgeteilter Fall (Archiv 
für Kriminalanthropologie 1899, Bd. I, S. 335): Das 16 jäh- 
rige Mädchen M. C. erzählt ihrer, von einem siebenwöchigen 
Landaufenthalt zurückgekehrten Mutter, sie sei von ihrem Stief- 
vater vor etwa drei Wochen gewaltsam geschlechtlich gebraucht 
worden. Die Mutter erstattet Anzeige. Bei der Polizei gab 
die M.C. an, der Stiefvater habe sich ıhr schon vorher einmal 
mit dem Ansinnen, bei ihr zu schlafen, erfolglos genähert. 
Vor drei Wochen aber sei sie, gegen 12 Uhr nachts, plötzlich 
erwacht und habe ihren Vater auf sich liegen gefühlt, er habe 
sie geschlechtlich gebraucht. Sie habe geschrieen und darauf 
habe sich der Vater aus ihrem Bett entfernt und sei in sein 
Bett gegangen. Am nächsten Morgen habe sie die Bettwäsche 
mit Blut befleckt gefunden. Der Stiefvater, den sie zur Rede 
gestellt, habe ihr weißmachen wollen, sie hätte einen unruhigen 
Traum gehabt. Der — unbescholtene und als zärtliches Familien- 
haupt bekannte — Stiefvater H. wird in Untersuchungs- 
haft genommen. Er gab an: „Ich hörte plötzlich meine mit 
mir in demselben Zimmer schlafende Stieftochter aus dem 
Schlafe ächzen, als wenn sie einen schweren Traum hätte. Ich 


— 35 — 


rief zu ihr hinüber: ‚Mizi, was hast du denn?‘ Sie rief aber 
mehrere Male hintereinander das Wort: ‚Vater‘. — Ich stand 
'aus dem Bett auf, wollte Licht machen, da aber kein Streich- 
hölzchen da war, so ging ich ohne Licht zu ihrer Lagerstätte 
und fragte sie neuerlich, was ihr sei. Sie war wach, saß im 
Bette und sagte weinend: ich hätte auf ihr gelegen und als 
ich ihr das Unsinnige dieser Äußerung vorhielt, meinte sie, dann 
müsse ‚die Trud‘ sie gedrückt haben.“ Daß er ihr einige Zeit 
vorher den Antrag gestellt habe, sie solle mit ihm schlafen 
geben, stellte H. entschieden in Abrede. 

= Die M. C. gibt vor dem Untersuchungsrichter folgende 
Schilderung: Gegen Mitternacht habe sie die Empfindung ge- 
habt, als wenn jemand auf ihr läge, es sei das Gefühl des 
Alpdrückens gewesen. Als sie infolgedessen erschreckt erwacht 
sei, sei es ihr vorgekommen, als wenn ihr Vater sich eben aus 
ihrem Bett erhoben hätte, es sei dies so ein „Schein“ gewesen. 
— Im Bette selbst habe sie beim Erwachen den Vater nicht 
gesehen. Sie habe das eben Erlebte mit der seinerzeitigen 
Äußerung des Vaters, sie solle mit ihm schlafen gehen, in Zu- 
sammenhang gebracht; habe zu weinen begonnen und habe nun 
deutlich gesehen, daß ihr Vater sich aus seinem Bett erhoben 
habe, zu ihr gekommen sei und sie gefragt habe, was ihr sei. 
Sie habe erwidert, er sei bei ihr gelegen, er habe aber das 
für einen Traum erklärt. Sie habe damals mit Hemd und 
Unterrock bekleidet geschlafen, weil sie die Menstruation ge- 
habt hätte, daher erklärten sich auch die Blutflecken in der Bett- 
wäsche. In den Genitalien will sie keine Schmerzen gehabt 
haben. Sie habe nicht gleich die Anzeige erstattet, weil sie 
nach Rücksprache mit ihrem Vater nicht ganz sicher, ob nicht 
doch ein Traum vorliege, denn sie habe öfter solche Träume. 
Sie habe wegen eines Zwistes mit ihrer Mutter, in 
welcher der Vater gegen sie Partei nahm, der Mutter 
den Vorfall erzählt. 

Die Gerichtsärzte konstatierten, daß die Geschlechtsteile 
voll entwickelt und nicht defloriert, auch objektive Zeichen 
eines unsittlichen Attentates nicht auffindbar waren, und sprachen 
sich dahin aus, daß das Bestehen der Menstruation das Auf- 
treten sexueller Traumvorstellungen begünstigt habe. 

3%* 


=a a 


H. warde nach zehntägiger Haft aus der Untersuchung 
entlassen. 


Endlich muß noch der falschen Anschuldigung durch 
Kinder Erwähnung geschehen. Hier befinden wir uns allerdings 
auf einem sehr ausgedehnten Grenzgebiet zwischen \ormalem 
und Pathologischem. Das Thema: „Das Kind vor Gericht“ oder 
das „Kind als Zeuge“ ıst nicht erst in neuester Zeit oft und so 
gründlich durchgearbeitet worden. sodaß ich mich hier nur 
an einige Hauptpunkte zu halten brauche. Gegenüber An- 
zeigen und Aussagen von Kindern pflegt man ja ım allgemeinen 
vorsichtig zu sein. Auffallend ist die Meinungsverschieden- 
heit bei den Beobachtern über die Beobachtungsgabe und Repro- 
duktionstreue der Kinder. Das kommt aber daher, daß Manche 
glaubten, einen geistigen Typus des Kindes zu konstruieren, 
der im Gegensatz zu dem Durchschnitt des erwachsenen Men- 
schen steht und sich von diesem hauptsächlich quantitativ 
unterscheidet. Aber es gibt schon bei den Kindern alle geistı- 
gen Typen. wie sie unter den Erwachsenen vorkommen, solche, 
bei denen die Phantasie selbsttätig oder im Dienste von Trieben 
und Leidenschaften meisternd und schöpferisch in die trockene 
Registratur der Sinnesfunktionen eingreift und dort ihr Regiment 
führt, und solche, bei denen die \Wahbrnehmungen unbeeinflußt, 
so wie sie kamen, im Gedächtnis erhalten bleiben. Es gibt unter 
den Kindern gute und schlechte Beobachter. 

Die pathologischen Anschuldigungen nun, welche bei Kin- 
dern vorkommen, sind fast immer erdichtete sexuelle Attentate 
von Mädchen, die hysterisch sind oder bei denen mangelhafte 
Entwicklung der hemmenden Vorstellungen bei gleichzeitiger 
Lebhaftigkeit des Geschlechtstriebes und der hierauf gerichteten 
Gedankentätigkeit vorliegt. also eine Art von moralischem Irre- 
sein. Häufig sind es bloße Verleumdungen, die aus Rache 
oder irgend einem andern Grunde ausgestreut werden, und die 
das Kind beim Verhör aus Furcht vor Bestrafung glaubt erst 
recht aufrecht erhalten zu müssen. Es gibt aber auch Kinder, 
in deren Gehirn die Vorstellungen ebenso als Spielzeug dienen, 
wie Pferd und Puppe, und zu ganzen Szenerien und lebenden 
Bildern zusammengereimt werden, welche wie wirkliche Erleb- 


zu. m 


nisse vor der kindlichen Seele stehen. Ist das Kind sonst gut 
geartet und leicht erziehbar, so kann aus seinem Phantasie- 
reichtum später ein Erzähler- oder Dichtertalent hervorgehen. 

Um die Neigung mancher Kinder zur Erdichtung roman- 
hafter phantastischer Geschichten an einem berühmten Fall zu 
exemplifizieren, pflegtman Goethes Selbstschilderung zu zitieren. 
Er hatte als Knabe auch diese Neigung und sagt darüber im 
zweiten Buch von „Dichtung und Wahrheit“: „Wenn ich nicht 
nach und nach, meinem Naturell gemäß, die Luftgestalten und 
Windbeuteleien zu kunstgemäßen Darstellungen hätte verärbeiten 
lernen, so wären solche aufschneiderische Anfänge gewiß nicht 
ohne schlimme Folgen für mich geblieben. — Betrachtet man 
diesen Trieb recht genau, so möchte man in ihm diejenige 
Anmaßung erkennen, womit der Dichter selbst das Unwahr- 
scheinlichste gebieterisch ausspricht und von einem jeden 
fordert, er solle dasjenige für wirklich erkennen, was ihm, dem 
Erfinder, auf irgend eine Weise als wahr erscheinen konnte.“ 

Noch instruktiver ist die Schilderung einer erdichteten An- 
schuldigung in Gottfried Kellers „Grüner Heinrich“ 
{Band I/II, S. 83, Kapitel VIII, „Kinderverbrechen“ über- 
schrieben). Der Knabe, zur Rede gestellt über häßliche Schimpf- 
worte, die er ausgesprochen, gibt an, diese von Mitschülern 
gelernt zu haben. Er wird vom Lehrer und Geistlichen darüber 
verhört, und erdichtet auf der Stelle eine lange Geschichte, 
wie er von den Kameraden an einen Baum gebunden und ge- 
schlagen worden sei, bis er diese Schimpfworte, die sich auf 
den Lehrer und den Geistlichen bezogen, ausgesprochen. Nie- 
mandem tauchten Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Knaben 
auf und so erfuhren seine Mitschüler eine sehr harte Bestrafung. 
Man vermutet in dieser Erzählung Kellers sein eigenes Er- 
lebnis. 

Sind solche Kinder schlecht geartet, wenig anpassungs--und 
erziehungsfähig, so entwickelt sich jene höchst merkwürdige 
Abart des moralischen Schwachsinns, die nach Delbrücks*) 
Vorgang als „Pseudologia phantastica,‘ nach Ranniger**) 


*) Delbrück, Die pathologische Lüge und die psyichisch abnormen 
Schwindler. 1891. 
**) Ranniger, Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, Bd. II. 


— 38 — 


als „krankhafte Lügenhaftigkeit* bezeichnet wird, meines Er- 
achtens aber ebenso als krankhaft bedingter Selbstbetrug auf- 
zufassen ist, ein psychischer Zustand, bei welchem dem Indivi- 
duum nicht mehr zum Bewußtsein kommt, wenn es lügt, oder 
objektiv gesprochen, bei dem es zwischen Erdachtem und Er- 
lebtem nicht mehr zu unterscheiden vermag. Meist sind dies ganz 
harmlose Naturen, nicht selten aber, wenn schlimme Triebe hin- 
zutreten, oder wenn, wie gewöhnlich, solche Personen im Konflikt 
mit den Forderungen des Lebens unterliegen, werden sie durch 
Lügen gemeingefährlich und wir stoßen auch hier auf das Vor- 
kommen von pathologischen Anschuldigungen. 


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Es bleibt noch die dritte Art pathologischer Anschul- 
digungen zu erörtern. Sie kommt praktisch selten in Betracht 
und ich kann mich daher kurz fassen. 

So wenig die Anzeige eines Geisteskranken selbst bei 
notorisch abnormer Form objektiv Unwahres zu enthalten 
braucht, so kann, bei richtigem Inhalt der Anzeige, der Akt 
des Anzeigens unter dem Einfluß einer Geistesstörung zu 
stande gekommen sein. Für den die Anzeige Entgegennehmen- 
den kann es in der Regel gleich sein, wer sie erstattet und für 
die Strafverfolgung ist es ohne Belang. Wie verhält es sich 
aber in den Fällen, wo ein Geistesgestörter eine richtige An- 
zeige erstattet, die vorzubringen ihn in gesunden Tagen be- 
stimmte Rücksichten, der Verwandtschaft, der Pietät, der eignen 
Existenz, das Berufsgeheimnis und andere Momente verhindert 
hätten, welche die Rechtspflege z. B. für die Zeugnisverweigerung 
voll gelten läßt? Selbst bei den Antragsdelikten scheint hier 
‚eine Lücke der Gesetzgebung vorzuliegen, da nach $ 65 Straf- 
prozeßordnung nur der geschäftsunfähige Antragsteller eines 
Vertreters zu dem Antrag auf Strafverfolgung bedarf, daher nicht 
der wegen Geistesschwäche Entmündigte, also beschränkt Ge- 
schäftsfähige, oder der unter vorläufige Vormundschaft Gestellte. 

Ein solcher Fall gelangte hier zu unserer Kenntnis. Die 
Kranke war eine überaus nervenschwache, hypochondrische, 
dabei ethisch depravierte Person, die von den Eltern für ver- 
stockt und faul gehalten und dementsprechend behandelt wurde. 


ze, 0 25 


Es entstand Streit und Prügelei. Die Kranke verklagte die 
Eltern wegen Mißhandlung. Es kam zwar ein Vergleich zu- 
stande, die Eltern wurden aber zur Tragung der Kosten ver- 
urteilt. Die Anschuldigung entsprach den Tatsachen. Die 
Kranke wurde später, als sich der Zustand verschlimmerte, ın 
die Anstalt gebracht. Obgleich sie wußte, daß sie mit ihrer. 
Anklage im Recht war, so hat sie, als das Leiden gebessert 
war und sie vor der Entlassung stand, dennoch ihr damaliges 
Vorgehen aufrichtig bereut und hätte es lieber gesehen, wenn 
die Anklage unterblieben wäre. 


Meine Herren! Ich bin am Schluß meiner Ausführungen 
angelangt. Manches hätte ich noch eingehender behandeln 
können, manches mußte ich überhaupt unberührt liegen lassen, 
wepn ich nicht Ihre kostbare Zeit allzusehr in Anspruch nehmen 
wollte. Darum habe ich es auch vermieden, Ihnen lange 
Krankengeschichten von einschlägigen Fällen aus eigener Be- 
obachtung vorzutragen. Besonders über den moralischen 
Schwachsinn hätte ich mich gern noch weiter verbreitet, der 
oft zu pathologischer Anschuldigung führt. Statt dessen em- 
pfehle ich das als Sonderheft der „Juristisch - psychiatrischen 
Grenzfragen“, Bd. IV, Heft 4/6 kürzlich erschienene Buch von 
Schaefer über den moralischen Schwachsinn. Auch 
die Bewußtseinsveränderungen bei Epileptikern, sei es bei 
und nach dem ausgesprochenen Krampfanfall, sei es bei den 
sogenannten psychischen Äquivalenten, bei den einfachen Trü- 
bungen des Bewußtseins, den Dämmerzuständen, oder bei 
halluzinatorischen Zuständen, oder- bei einfachen zornmütigen, 
tobsüchtigen Erregungszuständen lassen häufig bei den Kranken 
eino falsche Deutung wirklicher Vorgänge oder Erinnerungs- 
fehler oder das Herübernehmen von halluzinatorischen Erleb- 
nissen in den (relativ) normalen Zustand zuwege kommen, ab- 
gesehen von der großen Lügenhaftigkeit mancher Epileptiker, 
und so erwachsen auch auf diesem Boden nicht selten patho- 
logische Anschuldigungen. Ich erinnere nur an die gewöhn- 
liche Erscheinung, daß manche Epileptiker nach dem Krampf- 
anfall behaupten, während des letzteren gemißhandelt worden 
zu sein, und als Beweis die blauen Flecke oder die Verletzungen 


— 40 — 


vorzeigen, die sie sich beim Hinschlagen oder Herumschlagen 
im Anfall zugezogen haben. Ich habe selbst bei solchen Epi- 
leptikern öfter den Anfall ablaufen und die Kontusionen durch 
den Anfall entstehen sehen, und darauf die Beschwerde über 
Mißhandlung entgegen nehmen können*). 

Ich hoffe aber, daß schon das im Vorstehenden Gebotene 
hinreichen wird, die zwei Forderungen zu rechtfertigen oder 
wenigstens zu erläutern, die ich nun aufstellen möchte. 

1. Es muß angestrebt werden, daß falsche, pathologisch be- 
dingte Anschuldigungen möglichst bald als solche erkannt 
und die Verhaftung Unschuldiger vermieden wird. 


Bei solcher Art von Anschuldigung ist die Gefahr einer 
irrtümlichen Verurteilung noch besonders groß, da $ 56 der 
Strafprozeßordnung die eidliche Vernehmung von Geisteskranken 
oder Schwachsinnigen nicht ausschließt, wenn sie nur von dem 
Wesen und der Bedeutung des Eides genügende Vorstellung 
haben. Man muß sich wundern, wie eine solche Bestimmung 
zum Gesetz werden konnte, bei der gerade die Hauptsache 
fehlt, nämlich die Bedingung, daß der eidlich zu vernehmende 
Geisteskranke oder Geistesschwache das erforderliche Wahr- 
nehmungs- und Erinnerungsvermögen besitzt. Denn dieses er- 
mangelt solchen Personen oft, während sie von dem Wesen 
und der Bedeutung des Eides eine vollkommen richtige Vor- 
stellung haben. Man kann nur dringend wünschen, daß bei 
der beabsichtigten Strafprozeßreform die österreichischen Be- 
stimmungen zum Vorbild dienen, die in $ 151 der Straf- 
prozeßordnung besagen, daß diejenigen Personen nicht als 
Zeugen abzuhören sind, welche zur Zeit, als sie das Zeugnis 
ablegen sollen, wegen Leibes- oder Gemütsbeschaffenheit außer 
stande sind, die Wahrheit anzugeben, und in $ 170, daß die- 
jenigen, welche an einer erheblichen Schwäche des Wahr- 
nehmungs- oder Erinnerungsvermögens leiden, nicht beeidigt 
werden dürfen**), auch der $ 140 der früheren österr. Z. P.O. 


*) Näheres über diese Verhältnisse bei Epileptikern findet man bei 
Gottlob, Über die Zeugnisfähigkeit der Epileptiker. Allgemeine Zeit- 
schrift für Psychiatrie. Bd. 53. 

. **) Zit. nach v. Krafft-Ebings geriähtlächer -Peyahiopathologie; 3. Auf- 
lage, 1892, S. 454, der, wie schon andere, ältere Psychopathologen, darauf 


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wonach von Beeidigung ausgeschlossen werden Personen, „welche 
wegen ihrer Leibes- oder Gemütsbeschaffenheit die ungezweifelte 
Wahrheit nicht können erfahren haben oder solche ungezweifelt 
nicht können an den Tag legen“ *). 

Die rechtzeitige Erkennung einer pathologisch bedingten 
Anschuldigung setzt zunächst bei behördlichen Personen eine 
gewisse Bekanntschaft abnormer Geisteszustände voraus. Eine 
Prüfung der Person auf ihren Geisteszustand, die im Verdacht 
steht auf Grund von Wahnideen falsch anzuschuldigen, ist 
nach Lage der jetzigen Gesetzgebung schwer möglich. Wenn 
aber in Verdachtsfällen ein recht genaues Protokoll der Anzeige 
aufgenommen und dieses einem Sachverständigen zur gutacht- 
lichen Äußerung übergeben werden könnte, ließe sich schon 
manches unnötige Ermittlungsverfahren erübrigen, manche irr- 
tümliche Verhaftung vermeiden. 


2. Bedarf der $ 164 R. St. G.. welcher von der falschen 
Anschuldigung handelt, einer Änderung. Nach der jetzigen 
Fassung dieses Paragraphen muß zur Verfolgung auf Grund 
desselben die falsche Anschuldigung einer bestimmten oder 
wenigstens erkennbar bezeichneten Person vorliegen. Im 
anderen Falle fehlt der Tatbestand einer strafbaren Handlung. 
Auch ohne die Beschuldigung einer bestimmten Person ist die 
falsche Beschuldigung strafbar nach dem Strafgesetzbuch des 
Kantons Tessin und St. Gallen, der Niederlande und Italiens**). 
In diesen Ländern wird das Delikt als Mißbrauch der Organe 
der Rechtspflege verfolgt und bestraft. Mir steht die Entschei- 
dung nicht zu, was das Richtigere ist, die falsche Anschuldigung 
als Delikt gegen die Person oder gegen die Rechtspflege, zu 
betrachten, auch nicht die Beantwortung der Frage, ob die 
eine Auffassung und Anwendung die andere notwendigerweise 
ausschließt. 


aufmerksam macht, daß ein Geisteskranker kein vollgültiger Zeuge vor Ge- 
richt sein kann und daß das römische Recht den Irren sogar im lucidum 
intervallum nicht als vollgültigen gerichtlichen Beweiszeugen anerkennt. 

+) Cit. nach F. E. v. Liszt, Die falsche Aussage usw. Graz 1877, 
S. 125. 

**) Siehe: Die falsche Anschuldigung. Von A. Feldner. Inaugural- 
Dissertation. Göttingen 1896. 





an BE. 


Im Hinblick auf die pathologische Anschuldigung aber er- 
scheint die Fassung des $ 164 R. St. G. die unzweckmäßigere. 
Erstattet ein Geisteskranker Anzeige über angeblich erlittene 
Schädigung oder Beleidigung, ohne eine Person in kenntlicher 
Weise als Täter zu bezeichnen, und stellt sich die Ergebnis- 
losigkeit und zugleich pathologische Bedingtheit der Anzeige 
heraus, so liegt jetzt für die Behörde kein Anlaß vor, einzu- 
schreiten, weil ja niemand genannt worden war, der $ 164 
mithin nicht Anwendung finden kann, zumal die Organe der 
öffentlichen Ordnung und Sicherheit die Gemeingefährlichkeit 
eines Menschen an den Paragraphen des Strafgesetzes bemessen. 
Nach der erwähnten anderen Auffassung von der falschen An- 
schuldigung hat sie die Möglichkeit, Ermittelungen über den 
Geisteszustand des geisteskranken Anzeigenden einzuleiten und 
eventuell seine Internierung und Unschädlichmachung herbei- 
zuführen. Und das ist durchaus anzustreben.” Denn wie aus 
verschiedenen Beispielen erhellt, ist der anschuldigende Geistes- 
kranke, auch wenn er keine bestimmte Person anzeigt, als ge- 
meingefährlich zu erachten und er wird es noch mehr von dem 
Augenblicke an, wo er sich von den Behörden, bei denen er 
‚Recht und Schutz suchte, im Stich gelassen sieht. 








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