Skip to main content

Full text of "Juristisch-psychiatrische Grenzfragen Band 7.1911"

See other formats







Juristisch-psychiatrische 
Grenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 


Geh. Justizrat Prof. Dr.jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B. 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lüben i. Schles. 


Band VIl. 


Halle a. 5. 


Carl Marhold Verlagsbuchhandlung. 
1911. 


Inhalt. 


Wilhelm, Dr. Eugen, Amtsgerichtsrat a. D. in Straßburg i. Els. 
Die rechtliche Stellung der (körperlichen) Zwitter de 
lege lata und de lege ferenda. 


Roth, Sanitätsrat Dr., Stadtphysikus und Gerichtsarzt in Braun- 
schweig, und Gerlach, Medizinalrat Dr., Direktor der 
Herzoglichen Heil- und Pflegeanstalt in Königslutter. 
Der Banklehrling Karl Brunke aus Braunschweig. 


her ‘Professer: Dr. G. in Halle a. S. Über krankhafte 
-moralische Abartung im Kindesalter und über den 
»:Heilwert: der" Affekte. 


ne für gerichtliche Psychologie und Psychiatrie im 
Großherzogtum Hessen. Sechstes Heft. Herausgegeben 
ım Auftrage des Vorstandes von Prof. Dr. A. Dannemann. — 
Hoch, ‚Justizrat Dr. in Mainz, und von Frangué, Prof. 
Dr. Otto in Gießen. Die Abtreibung der Leibesfrucht 
vom Standpunkte der lex ferenda. 

Salgó, Dr. J., Dozent an der Universität in Budapest. Willens- 
entschließung und Rechtspraxis. — Obersteiner, Heinrich, 
Hofrat; Dr., k” k. Universitätsprofessor. Der Geistes- 
kranke und das Gesetz in Österreich. Vergangenheit, 
Gegenwart, Zukunft. 


Wilhelm, Dr. Eugen, Amtsgerichtsrat a. D. zu Straßburg i. Els. 
Beseitigung der Zeugungsfähigkeit und Körperverletzung 
de lege lata und de lege ferenda. — Die künstliche 
Zeugung beim !Menschen und ihre Beziehungen zum 
Recht. 


Haymann, Dr. Hermann, Konstanz. $elbstanzeigen Geistes- 
kranker. 


Die rechtliche Stellung der 
(körperlichen) Zwitter 


de lege lata und de lege ferenda. 


Von 


Dr. Eugen Wilhelm, 
Amtsgerichtsrat a. D. in Straßburg i. Els. 





Halle a. 8. 
Carl Marhold Verlagsbuchhandlung. 
1909. 


Juristisch - Psychiatrische 


Grenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 


Geh. Justizrat Prof. Dr.jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr.med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B. 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lublinitz i. Schles. 


VII; Band, Heft L 


Inhaltsverzeichnis 


Einleitung, § 1. 


Kapitel I: Zwittertum und Zurechnungsfähigkeit, g 2 
Kapitel II: Zwittertum und Motive zum Bürgerlichen Besetzbieh des 


Deutschen Reiches, § 3 . 


Kapitel III: Standesregister und Zwiktertam, 8 4 


A. Eintragung des Geschlechts . 


B. Berichtigung des Geschlechts 
Kapitel IV: Zwittertum und Zivilrecht . 


§ 5, Zwittertum und Ehe . 
A. „Nichtehe“ 
B. Folgen der „Nichtehe“ 


C. Zwittertum und Anfechtungskläge ; 


§ 6, Zwittertum und Ehemündigkeit . 


§ 7, Zwittertum und Verlöbnis 


§ 8, Zwittertum und Vaterschaftsklage . 


§ 9, Zwittertum und $ 825 BGB. 


Kapitel V: Zwittertum und Strafrecht, g 10 j 
A. Strafbare Handlungen, die nur an oder unter Mitwirkung 
einer Frauensperson begangen werden können 

B. Strafbare Handlungen, die nur von W unnern begangen werden 
. 53 
‚54 
. 58 


können 


C. Männer in Weiberkleidung, Weiber in Minnerkleidung 
Kapitel VI: Zwittertum, Beruf und öffentliche Rechte, $ 11 a 
Kapitel VII: Die rechtliche Behandlung der Zwitter de e ferenda, $ 12 
Kapitel VIII: Frühere und ausländische Gesetze . 


5 
9 


‚11 


2 
21 
. 26 
. 29 
. 30 
. 30 
. 39 
.43 
. 45 
. 46 
. 47 
. 48 
. 49 


. 49 


59 


. 69 





Einleitung.  °"":*-.! U ma 


$ 1. 


Der Hermaphroditismus oder das Zwittertum beim Menschen 
ist eine Erscheinung, die von jeher bekannt war und besonders 
schon im Altertum die Aufmerksamkeit auf sich zog; die wissen- 
schaftliche Erforschung dieses Gebietes und die Aufklärung über 
die einzelnen Gestaltungen und das Wesen dieser Erscheinung 
im einzelnen erfolgten jedoch erst im 19. Jahrhundert, nament- 
lich dank der neuen technischen Hilfsmittel. 


Den Stand der Wissenschaft auf dem Gebiet des Zwitter- | 


tums lernt man am besten kennen aus dem im Jahre 1908 
erschienenen Buch von Hofrat Dr. von Neugebau er*) über 
den Hermaphroditismus beim Menschen. In diesem Werk, das 
ein wahres Lehr- und Nachschlagebuch bildet, unentbehrlich 
für jeden, der sich mit einer Frage des Zwittertums beschäf- 
tigt, erörtert Neugebauer das Wesen und die Arten des 
Zwittertums, bringt die gesamte bekannte Kasuistik und faßt 
in einem dritten Teil die Ergebnisse der Kasuistik nach ver- 
schiedenen Gesichtspunkten und in einer synoptischen Über- 
sicht zusammen.**) 





*) Fr.L.v. Neugebauer, Hermaphroditismus beim Menschen. Leipzig, 
Verlag von Dr. Werner Klinkhardt. 

**) Diese synoptische Zusammenstellung ist nicht weniger als nach 
hundert Gesichtspunkten hin erfolgt, ein Beweis von den zahlreichen 
Fragen, welche das Zwittertum aufrollt. Unter anderen dürften folgende 
Gesichtspunkte, abgesehen von den verschiedenen Einteilungen der Schein- 
zwitter je nach der Art der Mißgestaltung ihrer Geschlechtsorgane nach 
rein medizinischen Merkmalen, besonders hervorzuheben sein: Häufigkeit des 
Vorkommens des Pseudohermaphroditismus; Koinzidenz mit anderen Miß- 
bildungen; Geschlecht zu Lebzeiten fraglich ; zu Lebzeiten irrtümlich be- 
stimmtes Geschlecht; Änderung der Matrik; Weigerung der Entscheidung 





Ze Hr 


Namentlich aus diesem dritten Teil ersieht man, in wie 
vielen Beziehungen der Hermaphroditismus sowohl für das 
Individuum als für die Allgemeinheit, sowohl in psychologischer 
als in sozialer Hinsicht von der allergrößten Wichtigkeit ist 


rund die, ‚uannigfachsten — noch kaum erörterten oder ge- 


G3 . © 


BR 
.e ee 


"lösten ` — Probleme aufwirft. 
„Unter. dieken. ‚Fragen, die sich aufdrängen, sind llsicht 
a. die wichtigsten die juristischen, die Fragen nach dem Ver- 


hältnis des Zwitters zu dem Recht und dem Gesetz. 


Die Erörterung dieser Fragen nötigt zunächst zu einer 
kurzen Darstellung des Wesens und der Arten des Zwitter- 
tums. 

Nach der medizinischen Auffassung wird das Geschlecht 
des Menschen der Natur seiner Geschlechtsdrüsen entsprechend 
bestimmt. Bestehen Hoden, so spricht man von einem Mann, 
bestehen Eierstöcke (Ovarien), von einer Frau. Zwitter in dem 
Sinne, daß nun bei ein und demselben Wesen zu gleicher Zeit 
Hoden und Ovarien voll entwickelt und derart vorhanden 


“wären, daß ein und dasselbe Individuum schwängern, anderer- 
seits geschwängert werden und gebären könnte, gibt es nicht. - 


Bis in die allerneueste Zeit nahm man überhaupt an, daß 
Hoden und Ovarien bei ein und demselben Individuum nicht 
vorkämen, und daß es überhaupt Zwitter in diesem Sinne 
nicht gäbe. 

In den letzten Jahren sind nun aber fünf Fälle entdeckt 
worden, in denen zwar keine getrennten, völlig ausgebildeten 


seitens der Ärzte, das Geschlecht zu bestimmen; Verschiedenheit der Ge- 
schlechtsbestimmung seitens verschiedener Ärzte; Zwittertum und Psycho- 
pathie; Verwandtenehen; Selbstmord von Scheinzwittern; Selbstmord- 
gedanken; Selbstmordversuche; Hermaphroditismus und Tuberkulose; Men- 
struation bei Scheinzwittern; pseudomenstruelle Blutungen; Molimina men- 
strualia bei Scheinzwittern; Geschlechtsbewußtsein und Geschlechtsdrang ; 
Hermaphroditismus und Ehe; der Zwitter im Hospital; Scheinzwitter in 
der Schule; öffentliche Belästigung von Scheinzwittern; Hermaphroditismus 
und Justizbehörde, Regierung, Polizei; gerichtlich- medizinische Unter- 
suchung von Zwittern; Scheinzwitter als Priester, Mönch, Nonne; Schein- 
zwitter-Soldat; Scheinzwitter und Prostitution; Vollziehung chirurgischer 
Eingriffe an Scheinzwittern; sekundäre Geschlechtscharaktere ; Verschieden- 
heit der Anlage beider Körperhälften; venerische Erkrankungen; Schau- 
stellung von Zwittern für Geld usw. 








u e a 


Hoden und Ovarien vorhanden waren, aber immerhin bei ein 
und demselben Individuum eine Geschlechtsdrüse gefunden 
wurde, welche neben Hodengewebe auch Ovarialgewebe ent- 
hielt, also die Attribute beider Geschlechter aufwies, eine sog. 
Zwitterdrüse. 

Die bisherige Ansicht, es gäbe keine eigentlichen Zwitter, 
ist somit durch diese fünf Fälle in gewissem Sinne widerlegt. 

Abgesehen von diesen „Zwittern“ im engeren Sinne gibt 
es Wesen, bei denen weder Hoden noch Ovarien vorhanden 
sind oder wenigstens ihre Entwicklung so rudimentär geblieben 
ist, daß selbst das Mikroskop ihre Natur nicht entscheiden 
kann. 

Diese Wesen sind von den Sachverständigen, so von 
Virchow und v. Neugebauer, als neutrius generis, als ge- 
schlechtslos bezeichnet worden. Vergl. Neugebauer, S. 62 und 
620: „Es existiert wirklich ein Individuum neutraler Art, neu- 
trius generis. Man kann sich dabei anstellen wie man will, 
so wird man doch nicht mit Sicherheit sagen können: es ist 
eine Frau oder es ist ein Mann.“ (Virchow.) Des weiteren 
gibt es eine Klasse von Individuen, die zwar entwickelte Hoden 
oder Ovarien haben mögen, deren Geschlechtsorgane aber so 
gestaltet sind, daß man die Feststellung, ob Hoden oder Ova- 
rien existieren, bei Lebzeiten nicht oder nur mittels einer — 
sei es das Leben allzusehr gefährdenden,, sei es von dem 
Zwitter nicht gestatteten — Operation ermitteln kann. 

Diese Wesen bezeichnet man am besten als solche zweifel- 
haften oder nicht feststellbaren Geschlechts. 

Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß diese beiden 
Klassen, „geschlechtslose Zwitter“ und solche, deren „Ge- 
schlecht nicht feststellbar ist“, tatsächlich nur eine einzige 
Kategorie bilden. 

Meiner Ansicht nach empfiehlt sich aber die Unterscheidung, 
denn bei den geschlechtslosen Wesen wird eben die Geschlechts- 
losigkeit festgestellt, bei denen zweifelhaften Geschlechts besteht 
dagegen lediglich ein Zustand des Zweifels über die Geschlechts- 
natur; hier kann, sei es einmal intra vitam, sei es post mortem, 
ein bestimmtes Geschlecht vielleicht festgestellt werden. Aller- 
dings werden die Fälle sicher festgestellter Geschlechtslosigkeit 


TENE - m 


selten sein und eben meist in die Kategorie der Zwitter mit 
nicht feststellbarem Geschlecht gerechnet werden müssen, aber 
für die wenigen Fälle, wo die Geschlechtslosigkeit erwiesen 
wird, ist die Unterscheidung wichtig. Es ergibt sich nämlich, 
wie weiter unten gezeigt werden soll, insbesondere eine ver- 
schiedene juristische Behandlung für die beiden Kategorien.*) 

Außer dieser Kategorie setzt sich die große Masse der 
Zwitter aus sog. Scheinzwittern zusammen. Es sind dies Indi- 
viduen, deren Geschlechtsorgane mißbildet sind, die aber ent- 
weder Hoden oder Ovarien besitzen; je nachdem rechnet man 
sie zu dem männlichen oder zu dem weiblichen Geschlecht 
und spricht von männlichen oder weiblichen Scheinzwittern 
oder Pseudohermaphroditen. 

„Der Pseudohermaphroditismus“*, sagt Neugebauer (8.9), 
„charakterisiert sich dadurch, daß die Geschlechtsgänge und die 
äußeren Genitalien sich nicht nach dem den Geschlechtsdrüsen 
zugehörigen Typus entwickeln, sondern nach dem entgegen- 
gesetzten, also heterosexuellen, oder aber es gelangen männ- 
liche und weibliche Geschlechtsgänge gleichzeitig zur Entwick- 
lung, die einen mehr, die anderen weniger vollkommen, die 
äußeren Genitalien dabei dem Typus der Geschlechtsdrüse ent- 


sprechend entwickelt oder nicht entsprechend. Gewöhnlich geht 


Entwicklung per excessum der männlichen Geschlechtsgänge 
mit der Entwicklung der weiblichen per defectum Hand in 
Hand oder umgekehrt, oder aber es kommen nur die den Ge- 
schlechtsdrüsen nicht entsprechenden Geschlechtsgänge zur Ent- 
wicklung.“ 

Zu dem Gebiet des Zwittertums im weiteren Sinne zählt 
Neugebauer auch die zahllosen Fälle, wo die Geschlechts- 
teile normal gebildet sind, aber bedeutende sekundäre und 
tertiäre Geschlechtsmerkmale deutlich dem den Geschlechts- 
drüsen entgegengesetzten Geschlecht angehören, also z. B. 
Männer mit Weiberbrüsten, Frauen mit Bärten, Menschen mit 
konträrem Geschlechtstrieb usw. Zu einer Betrachtung in 


*) Auch Debierre, L’Hermaphrodisme devant le Code civil (Paris, Bal- 
liöres et fils, 1886, 32), spricht ausdrücklich von neutralem Hermaphrodi- 
 tismus, wo gar kein Geschlecht vorhanden ist, im Gegensatz zu demjenigen, 
wo das Geschlecht sich nicht feststellen läßt. 


- 
Aea am a a 


EPE: oe 


juristischer Beziehung bieten diese Fälle (abgesehen von dem 
hier nicht zu erörternden Verhältnis der Homosexuellen zum 
8 175 StGB.) kaum Anlaß*), da hier das Geschlecht (männ- 
liches oder weibliches) nicht zweifelhaft ist. 





Kapitel I: Zwittertum und Zurechnungsfähigkeit. 


8 2. 


Verschiedentlich ist schon die Frage nach dem Geistes- 
zustand und der Zurechnungsfähigkeit der Zwitter in Erwägung 
gezogen worden, besonders von französischen Ärzten. 


So betrachtet Raffegeau**) die Zwitter als auch geistig 
meist abnorme Wesen, als degeneriert: „die Mißbildung stände 
mit erblicher Belastung in Zusammenhang und sei oft imstande, 
bei dem an und für sich prädisponierten Zwitter Melancholie 
und selbst Verfolgungswahn zu erzeugen“. | 

Auch Debierre***) scheint ähnlicher Ansicht zu sein, er 
sagt: „Wenn die Zwitter Degenerierte seien, könnten sie ebenso 
gut Impulsive und Unzurechnungsfähige werden.“ 

Faßt man auch die Mißbildung der Geschlechtsteile als 
Degenerationszeichen auf, so wird doch niemals wegen dieses 
körperlichen Fehlers ohne weiteres auf verminderte oder aus- 
geschlossene Zurechnungsfähigkeit geschlossen werden können, 
und zwar auch nicht unter Berücksichtigung der aus der Mib- 
bildung resultierenden schweren Folgen für das seelische und 
soziale Leben des Zwitters und ihres Einflusses auf den Geistes- 
zustand. 

Die seelischen Konflikte, das Bewußtsein des Anderssein 
wie die anderen Menschen, das Seltsame des eigenen Zustandes, 
die mißliche soziale Lage usw. mögen noch so sehr Seele und 


*) Unten in $ 10C wird allerdings ein Fall von Homosexualität (Vira- 
ginität) erörtert werden, der wegen des Tragens von Männerkleidung in den 
Rahmen dieser Abhandlung fällt. 

**) Raffegeau, Du rôle des anomalies congenitales des organes 

génitaux dans Je développement de la folie chez l’homme. These, Paris 1884. 

##*%) Debierre, L’hermaphrodisme. Paris 1891, p. 134, zitiert bei 
Neugebauer, S. 367. 


s 40: 


Geist des Zwitters bedrücken und erschüttern, deshalb können 
sie doch ohne Vorhandensein einer bestimmten geistigen Er- 
krankung nur in den allerseltensten Fällen zur Annahme der 
Unzurechnungsfähigkeit führen. 

Auch andere, mit normalen Geschlechtsteilen versehene 
Personen, z. B. die Homosexuellen, können durch ihre abnorme 
Greschlechtsnatur in die peinlichsten seelischen Konflikte und 
furchtbarsten Zwangslagen versetzt werden, und doch [nimmt 
man bei ihnen keine Unzurechnungsfähigkeit auf Grund ihrer 
Homosexualität an und zwar nicht einmal für die direkt aus 
derselben fließenden Verstöße gegen den $ 175 StGB. 

Neugebauer berichtet nun allerdings von einem Fall, in 
dem er zwar keine geistige Erkrankung feststellen konnte, 
weder „Degeneration“ noch „Moral insanity“, aber doch Unzu- 
rechnungsfähigkeit im Moment der Tat annehmen zu sollen 
glaubte und dieselbe als entfernte Folge der Mißbildung, 
falschen Geschlechtsbestimmung und „perversen sozialen Lage“ 
des Individuums betrachtete. | 

Es handelte sich um folgendes: Ein als Mädchen erzogener 
männlicher Zwitter hatte sich vergiften wollen, indem er Gift 
in seine Suppe schüttete; dabei ließ er auch Gift in die Suppe 
der Mutter und des Bruders fallen. Letzterer starb. Der 
Zwitter wurde wegen Mordes verfolgt, das Verfahren jedoch 
mangels genügenden Beweises der Tötungsabsicht wieder ein- 
gestellt. 

Zuvor hatte Neugebauer ein Gutachten über den Geistes- 
zustand der Person abgegeben, das darin gipfelte: „Die Person 
habe sich, den grausigen eigenen baldigen Tod vor Augen, 
keine Rechenschaft mehr von ihrem Handeln gegeben. Es müsse 
der Seelenzustand dieser jungen (18 Jahre alten) Person, welcher 
bis zum tentamen suicidii führte und bis zum Moment der Tat 
bis zur Unzurechnungsfähigkeit, als die Folge .der falschen 
sozialen Lage der Person betrachtet werden, letztere aber als 
die Folge der irrtümlichen Geschlechtsbestimmung. Es be- 
stehe ein kausaler Zusammenhang zwischen dem seelischen Zu- 
stand des Angeschuldigten und der anormalen Beschaffenheit 
der Geschlechtsteile bezw. der irrtümlichen Geschlechtsbestim- 
mung.“ 


er 


Wenn auch in diesem Fall eine im Moment der Tat vor- 
handene, die Unzurechnungsfähigkeit bedingende Sinnesverwir- 
rung bestanden haben mag, so ist doch daran festzuhalten, daß 
regelmäßig der Nachweis einer bestimmten geistigen Erkrankung 
beim Zwitter erbracht werden muß, damit seine Zurechnungs- 
fähigkeit ausgeschlossen sei. 

Nun scheint es allerdings, daß oft bei Zwittern mit ihrer 
körperlichen Mißbildung psychische Krankheiten vergesell- 
schaftet sind. So führt Neugebauer 56 Fälle an (vergl. 
S. 690 bis 692), in denen sich die verschiedensten geistigen 
Krankheitszustände bei Zwittern vorfinden, und zwar in den 
leichtesten bis zu den schwersten Formen, so Hysterie, Psycho- 
pathie, geistige Minderwertigkeit, Melancholie, Manie, Paranoia, 
geistige Schwäche, Kretinismus, Idiotie usw. 

Deshalb wird man jedenfalls das Erfordernis aufstellen 
müssen, daß bei Zwittern, die ein Delikt begangen haben, der 
Geisteszustand von amtswegen untersucht werde, und daß im 
Zivilrecht, wenn eine Rechtshandlung des Zwitters angefochten 
wird, der Geisteszustand desselben ins Auge gefaßt und ge- 
prüft werde. 


Kapitel II: Zwittertum und Motive zum Bürgerlichen 
Gesetzbuch des Deutschen Reiches. 


8 3. 


Das Bürgerliche Gesetzbuch enthält keinerlei Bestimmungen 
über die Zwitter. 


Soweit die Scheinzwitter in Betracht kommen, ist theo- 
retisch allerdings ihre rechtliche Beurteilung klar. Da sie tat- 
sächlich Mann oder Frau sind, werden sie entweder als Mann 
oder als Frau auch rechtlich behandelt. Trotzdem ist der Mangel 
besonderer gesetzlicher Bestimmungen gerade auch bei diesen 
Scheinzwittern fühlbar. Denn einmal sind sie zwitterhafte 
Wesen und zwar oft derart, daß die Feststellung der Natur der 
Geschlechtsdrüse große Schwierigkeiten bietet und diese Schwie- 
rigkeiten irrtümliche Geschlechtsbestimmung veranlassen; sodann 


ar I; 


nähert sich oft das Gesamtwesen dieser Zwitter mehr dem ihren 
Geschlechtsdrüsen entgegengesetzten Geschlecht; obgleich medi- 
zinisch Mann oder Weib, je nach dem Vorhandensein von Hoden 
oder Ovarien, ähnelt manchmal der männliche Scheinzwitter 
mehr der Frau, der weibliche mehr dem Mann, jedenfalls 
weisen die Scheinzwitter meist ein Gemisch von männlichen 
and weiblichen Geschlechtsmerkmalen auf und sind eben tat- 
sächlich zwitterhafte Wesen, die oft nicht lediglich nach der 
Natur ihrer Geschlechtsdrüsen als Mann oder Frau beurteilt 
werden sollten. 

Die Kasuistik aus dem Buch von Neugebauer beweist 
deutlich die Zwitterhaftigkeit dieser Scheinzwitter und zeigt, 
wie besondere gesetzliche Regelung nötig wäre. 

Vergl. die Beobachtung von Zangger*): Da ist ein männ- 
licher Scheinzwitter, bei dem alles weiblich ist bis auf die 
Geschlechtsdrüse: weibliche Brüste, äußere Genitalien weiblich, 
das Gesamtbild weiblich, die seelischen Vorgänge weiblich. 

Der als Frau erzogene Zwitter hält sich für ein Mädchen. 
Der Arzt klärt ihn nicht auf, weil die Aufklärung für die 
Person „keine Erlösung, sondern ein furchtbares, psychisches 
Trauma, eine vollständige Verwirrung und Desorientierung in 
der Welt bedeuten würde*.**) 

Nicht minder charakteristisch ist die Beobachtung von 
König***): Bei einem mit einem Mann verlobten angeblichen 
Mädchen wurden bei der Untersuchung Hoden ermittelt: die 
Genitalien scheinen bei oberflächlicher Betrachtung weiblich, 
das Empfinden ist weiblich. 

„Die Natur hat der Person äußerlich soviel Weibliches mit- 
gegeben, daß man wirklich fragen kann, ob bier die Genital- 
organe sensu strietissimo allein die Zugehörigkeit zu dem Ge- 
schlecht bestimmen können.“ 

Sowohl Zangger als auch von Neugebauer, der die 
Beobachtung Königs begutachtete, haben die Aufklärung der 
+ Neugebauer, S. 597, Beobachtung 1230. 

**) Vergl. auch den Aufsatz von Zangger selber: „Über einen Fall 
von Pseudohermaphroditismus masculinus externus in pathologischer, ana- 
tomischer, psychologischer und forensischer Hinsicht“ in der Schweizerischen 


Zeitschrift für Strafrecht, 8. Jahrg, 4. Heft, 1905, S. 303 ft. 
**#) Neugebauer, S. 604 bis 606. 


==, D ee 


Zwitter über ihr wahres Geschlecht für unangebracht erachtet. 
Beide Ärzte geben zu, daß nach der heute geltenden medi- 
zinischen Auffassung die Personen Männer sind, weil das Ge- 
schlecht nach dieser Auffassung durch die Natur der Ge- 
schlechtsdrüse bestimmt werde. Beide heben aber weiter 
hervor, daß diese Charakterisierung bei den beiden Zwit- 
tern der Sachlage nicht gerecht werde. Wenn aber beide 
den bisherigen Personenstand als Mädchen beibehalten 
wissen wollten und die Personen nicht aufklärten, so haben 
sie zwar menschlich richtig gehandelt, die juristische: 
Beurteilung dieser Zwitter als Männer wird dadurch nicht be- 
troffen; würde z. B. in einem Prozeß auf Feststellung des 
Nichtbestehens der Ehe von diesen Ärzten die Feststellung des 
währen Geschlechts der betreffenden Zwitter verlangt worden 
sein, so hätten wohl beide Ärzte diese Wesen für Männer 'er- 
klären müssen. 

Die Forderung von Zangger, die Person weiter als Mäd- 
chen zu betrachten und bei der Entscheidung des Geschlechts 
das, was in der Zukunft eine Rolle spiele, die Beziehungen zu 
den Mitmenschen, mit zu berücksichtigen, kann nur den Sinn 
haben, daß de lege ferenda solche Wesen als Weiber zu gelten 
hätten, de’ lege lata sind sie aber Männer, solange die medi- 
zinische Wissenschaft eben für das männliche Geschlecht das 
Vorhandensein von Hoden als entscheidend betrachtet. 

Ähnliches gilt für die Erwägung Neugebauers: den 
Zwitter nicht aufzuklären über den Geschlechtsirrtum, weil für 
den Zwitter sein eigenes Geschlechtsbewußtsein maßgebend 
und wichtiger sei als der anatomische Charakter seiner Ge- 
schlechtsdrüsen. | 

Neugebauer erkennt ja damit ausdrücklich an, daß an 
und für sich männliches Geschlecht wegen des Vorhandenseins 
von Hoden vorlag; die juristische Zurechnung des Zwitters 
zum weiblichen Geschlecht ist daher wenigstens nach dem BGB. 
nicht möglich. 

Die Motive zum BGB.*) begründen den Niehterlaß be- 
sonderer gesetzlicher Bestimmungen für die Zwitter damit, daß: 


*) Vergl. Mugdan, Die gesamten Materialien zum BGB., Bd. L 
S. 370. 


un. Se 


nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft ange- 
nommen werden dürfe, daß es weder geschlechtslose noch beide 
Geschlechter in sich vereinigende Menschen gäbe, daß jeder sogen. 
Zwitter entweder ein geschlechtlich mißbildeter Mann oder ein 
geschlechtlich mißbildetes Weib sei. Sie glauben also, es gäbe 
nur Scheinzwitter. Sie meinen weiter, es könne wohl manch- 
mal eine Ungewißheit vorhanden sein, die aber durch Fest- 
stellung des einen oder anderen Geschlechts gelöst werden 
könne. Die Motive befinden sich im Irrtum, wie dies das den 
jetzigen Stand der Wissenschaft darstellende Werk von Neu- 
gebauer beweist. | 

Es gibt nicht nur Zwitter im engeren Sinn, sondern auch 
geschlechtslose Wesen und solche, deren Geschlecht nicht fest- 
gestellt werden kann (wenigstens nicht intra vitam). Übrigens 
war auch schon zur Zeit der Abfassung der Motive mindestens 
die Behauptung nicht richtig, daß das Geschlecht stets fest- 
stellbar ist, wie aus dem Werk Neugebauers erhellt. 

Im Widerspruch mit der erwähnten Behauptung erkennen 
auch die Motive einige Zeilen weiter an, daß es Fälle geben 
könne, wo intra vitam das Geschlecht nicht feststellbar sein 
möge. Sie glauben aber, daß der Gesetzgeber mit Recht von 
solchen „entfernten Möglichkeiten“ absehe. Auch dieser Satz 
enthält eine doppelte Unrichtigkeit. 

Einmal handelt es sich nicht um entfernte Möglichkeiten. 


Die Kasuistik aus dem Buch Neugebauers lehrt, daß erst 


infolge der Leichenöffnung in 93 Fällen das richtige Geschlecht 
festgestellt wurde, daß in 23 Fällen trotz der Nekroskopie das 
Geschlecht zweifelhaft blieb, und daß in 137 Fällen das Ge- 
schlecht zu Lebzeiten fraglich war. 

Zweitens würde es aber auch nicht gerechtfertigt sein, 
wegen der Seltenheit einer Erscheinung keine gesetzlichen Be- 
stimmungen für sie zu treffen, namentlich wenn es sich um 
eine für das Individuum so ungeheuer wichtige Sache handelt, 
wie die rechtliche Beurteilung seines Geschlechts. 

In weit weniger wichtigen Angelegenheiten hat das BGB. 
Bestimmungen erlassen, für deren praktische Anwendung ganzen 
Richtergenerationen niemals sich die Gelegenheit bietet, z. B 
für gewisse Paragraphen des Erbrechts. 


taes e om. me e wa 


= J = 


Wie diese Fälle der sogen. „entfernten Möglichkeiten“ 
rechtlich zu behandeln seien, darüber setzen sich die Motive 
leicht hinweg, indem sie einfach sagen, es hätten diejenigen 
Rechtsfolgen einzutreten, welche sich nach den Umständen aus 
dem Zustand der Ungewißheit bezw. Unerweislichkeit ergäben. 
Allerdings, da keine gesetzlichen Bestimmungen für die Wesen 
zweifelhaften Geschlechts existieren, wird auf diese Weise zu 
verfahren sein; die näheren Rechtsfolgen dieser Behandlungs- 
weise werden unten bei den einzelnen Rechtsverhältnissen er- 
örtert werden und zugleich das Unbefriedigende des jetzigen 
Rechtszustandes beweisen. 

Wenn auch für die Scheinzwitter und die Zwitter zweifel- 
haften Geschlechts besondere gesetzliche Bestimmungen wün- 
schenswert gewesen wären, so ist doch immerhin der Weg 
ihrer rechtlichen Behandlung de lege lata ziemlich klar ge- 
zeichnet. 

Anders aber bei den Zwittern im engeren Sinne und den 
geschlechtslosen Wesen. Wie sollen diese rechtlich behandelt 
werden? An und für sich könnte das Gesetz auch Wesen, die 
weder Mann noch Weib sind, als solche im Rechtssinn erklären, 
aber dies hat das BGB. nicht getan, weder ausdrücklich noch 
stillschweigend. Es hat auch gar nicht gesagt, was es unter 
Mann oder Weib versteht, so daß man also an der Hand einer 
solchen Definition prüfen könnte, ob die Zwitter die vom Gesetz 
erforderten Voraussetzungen hätten, um als Mann oder Weib 
zu gelten. 

Die Begriffe „Mann, Weib“ sind gar keine juristischen, 
sondern medizinische, naturwissenschaftliche. *) 

Folglich versteht auch das Gesetz darunter das, was nach 
dem jeweiligen Stand der Naturwissenschaft Mann und Frau 
‚bedeutet. 

*) So auch die Motive zu dem früheren sächsischen Gesetzbuch. Vergl. 
Siebenhaar-Siegman, Kommentar zum BGB. des Königreichs Sachsen. 
Leipzig 1869, zu § 46, Satz 2: „Die Frage, ob es ganz geschlechtslose 
Menschen gibt, ist keine juristische, sondern eine medizinische.“ Weiter ist 
dann gesagt: „Es sei überflüssig, mit der rechtlichen Behandlung dieser 
Wesen sich zu befassen, weil eine solche Frage seit Erschaffung der Welt 


nicht entstanden sei.“ () Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft ist 
sie aber entstanden und verlangt ihre Lösung. 


= e 


Hält nun aber die heutige Naturwissenschaft immer noch 
als Charakteristikum für das Vorhandensein des männlichen 
oder weiblichen Geschlechts das Bestehen von Hoden oder 
Ovarien (und sie tut dies, vergl. v. Neugebauer, S. 62: „Vom 
‘ anatomischen Standpunkt aus muß der anatomische Charakter 
der Geschlechtsdrüsen das Geschlecht entscheiden“), so sind 
auch für die Rechtswissenschaft und das Gesetz, insofern es 
keine anderen Bestimmungen getroffen hat, nur diejenigen 
Wesen Männer oder Frauen, die Hoden oder Ovarien besitzen. 

Hat nun die Naturwissenschaft des weiteren entdeckt, daß 
es Wesen gibt, die eine Zwitterdrüse (ein Gemisch von Hoden 
und Övarien) aufweisen, und charakterisiert sie diese Wesen 
nicht als Mann oder Weib, sondern als eigentliche Zwitter, so 
können diese Wesen nicht ohne weiteres rechtlich als Mann 
oder Frau betrachtet werden. Das gleiche gilt von solchen 
Wesen, die weder Hoden noch Ovarien haben und welche die 
Naturwissenschaft weder zu den Männern noch zu den Frauen 
rechnet; auch diese Wesen können dann nicht mangels gesetz- 
licher Bestimmung einfach zu den Männern oder zu den Frauen 
ım Rechtssinne gezählt werden. 

Ebensowenig als man neue Erfindungen, z. B. die lenk- 
baren Luftschiffe als nicht existierend und als Wasserschiffe 
betrachten darf, ebensowenig darf man Zwitter im engeren 
Sinne und geschlechtslose Wesen ohne weiteres einfach als 
Mann oder Weib auffassen und in jeder Richtung hin rechtlich 
so beurteilen. Jedenfalls dürfte man nicht das Problem auf 
die seltsame Weise lösen, die Unger vorgeschlagen hat. In 
der Anmerkung 4, § 36, S. 279, Bd. I seines „System des 
österreichischen allgemeinen Privatrechts“ (Leipzig, 1868) meint 
er im Ernst: 

„Sollte sich in der Tat der Fall ereignen, daß ein Herma- 
phrodit geschlechtslos oder ein Urteil über das Geschlecht 
eines solchen Menschen bei dessen Lebzeiten unmöglich wäre, 
dann bliebe nichts anderes übrig, als das Los entscheiden 
zu lassen, welchem Geschlechte eine solche Person angehören 
solle..“!! | 

Man hat sich des weiteren auf die jedenfalls einleuchtendere 
Weise helfen wollen, indem man sagt: Es fänden auf diese 








’ 








z= HT er 


Wesen einfach die Bestimmungen, welche Mann oder Frau oder 
beide ausdrücklich voraussetzen, nicht Anwendung, sonst seien 
sie aber allen gesetzlichen Bestimmungen unterworfen. 

Letzteres: daß mindestens abgesehen von den Spezial- 
bestimmungen für das männliche oder (bezw. und) weibliche Ge- 
schlecht die Zwitter im engeren Sinne und die geschlechtslosen 
Wesen wie die übrigen Menschen rechtlich zu behandeln sind, 
erscheint richtig und sollte sich eigentlich von selbst ver- 
stehen. Die gegenteilige Ansicht ist zweifellos falsch, welche 
wie folgt argumentiert: Nicht nur die Spezialbestimmungen für 
Mann oder Frau gelten nur für diese, sondern „alle Rechte 
einer physischen Person sind an ein bestimmtes Geschlecht ge- 
knüpft, nur daß in vielen Fällen für beide Geschlechter das 
gleiche gilt*.*) 

Nein: die Rechte der Personen sind nicht an ein bestimmtes 
Geschlecht geknüpft, sondern an den Menschen ohne Rück- 
sicht auf sein Geschlecht. Wo das Gesetz nicht ein bestimmtes 
Geschlecht im Auge hat, gilt es für alle Menschen, daher auch 
für Zwitter im engeren Sinne und Neutralwesen.**) 

Würde man. übrigens der Ansicht Ungers beistimmen, 
dann müßten doch mindestens alle gesetzlichen Bestimmungen, 
die nicht speziell für Mann oder Frau (bezw. beide) gegeben sind, 
im Wege der Analogie auf alle anderen menschlichen 
Wesen Anwendung finden (wenigstens im Zivilrecht). 

Aber auch bei den Spezialbestimmungen, bei denen das 
Geschlecht eine Rolle spielt, ist es meiner Ansicht nach nicht 
richtig, einfach zu sagen, ihre Anwendung auf Zwitter und ge- 
schlechtslose Wesen sei ausgeschlossen. ***) 


*) So Unger, oben zitiert, $ 36, Anm. 4. 

**) Vergl. z. B. Das neue Schweizerische Zivilgesetzbuch, § 11: Für 
alle Menschen besteht in den Schranken der Rechtsordnung die gleiche 
Fähigkeit, Rechte und Pflichten zu haben. 

***) So mit Recht Endemann, Lehrbuch des BGB., Familienrecht, 
1908: § 161, Anm. 7, gegen die Ansicht von Flanck, Kommentar zum 


. BGB., I, S. 56; auch die Motive zum sächsischen Gesetzbuch, vergl. 


Siebenhaar-Siegmann zu § 46, Satz 2, meinen, wenn es geschlechts- 
jose Menschen gäbe, so würden sie der Rechte nicht teilhaftig sein, welche 
mit einem bestimmten Geschlechte verbunden sind. Ebenso auch Stuben- 
rauch: Das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch für Österreich. Wien, 1854, 
S. 131 zu $ 26, Anm. 7, Abs. 2. 

2 





= J8 = 


Bezüglich dieser Spezialbestimmungen, bei welchen das 
Geschlecht eine Rolle spielt, ist meiner Ansicht nach gleich- 
falls die Analogie ins Auge zu fassen. 

Über die Analogie sagen die Motive zum BGB.*): 
ein Fall nicht entschieden, aber ein rechtsähnlicher Fall ge- 
regelt, so ist die für den letzteren getroffene Entscheidung für 
die Beurteilung des ersteren maßgebend (Gesetzesanalogie). 
Läßt sich mittels der Gesetzesanalogie zu keinem Ergebnis ge- 
langen, so ist die Entscheidung aus dem Geist des gesamten, 
als ein Ganzes aufgefaßten Rechtes abzuleiten (Rechtsanalogie). 


Bilden ım Laufe der Zeit sich neue Verhältnisse, so reicht 


auch in Ansehung solcher Verhältnisse, sofern nicht schon die 


Gesetzesanalogie zutrifft, die Rechtsanalogie aus. 


Die faktische Natur des betreffenden Verhältnisses muß 
ergründet und letzteres derjenigen Norm unterstellt werden, 
welche sich aus den allgemeinen, dem positiven Recht zu- 
grunde liegenden Prinzipien und der in ihrer Eigenart erkannten 
tatsächlichen Gestaltung mit logischer Konsequenz ergibt.“ 


In Anwendung dieser Grundsätze hat man bei jeder ein- 
zelnen gesetzlichen Norm, welche Mann oder Frau voraussetzt, 
zu prüfen, ob sie ihrem Wesen nach eine analoge Ausdehnung 
auf Zwitter im engeren Sinne und geschlechtslose Menschen 
zuläßt und inwieweit. Dabei wird man nicht nur die Natur 
des Rechtsverhältnisses, sondern von Fall zu Fall die Beschaffen- 
heit der Zwitter und homines neutrius generis ins Auge fassen 
und dem Umstand entscheidende Bedeutung beilegen, ob 
das Individuum mebr dem Mann oder mehr dem Weib nahe 
kommt. 

Die Rechtsverhältnisse, bei denen im Zivilrecht das Ge- 
schlecht von Bedeutung ist, sind übrigens nur wenige. 


Bei den vorangegangenen Betrachtungen wurde davon aus- 
gegangen, daß die medizinische und Naturwissenschaft Zwitter 
im engeren Sinne und geschlechtslose Menschen anerkennt. 
Darüber herrscht nun zwar Einigkeit, daß das männliche und 
weibliche Geschlecht regelmäßig nach dem Vorhandensein von 
Hoden oder Ovarien sich bestimmt. 


*, Vergl. Mugdan, oben zitiert, I, S. 365 bis 366. 





= a a a unge A 


— 19 — 


Dagegen gibt es Ärzte, welche trotz Mangels von Hoden 
und Ovarien ein neutrales Geschlecht nicht anerkennen oder 
wenigstens noch vor einigen Jahren nicht anerkannten. 

So hat der berühmte französische Arzt Dr. Brouardel 
ein Individuum ohne Hoden und Ovarien nicht als geschlechts- 
loses Wesen gelten lassen wollen, sondern als Frau bezeichnet, 
und zwar weil ihre äußeren Geschlechtsteile, ihre Brüste, ihr 
Gesamtwesen weiblich seien und es sich daher lediglich um 
eine Frau mit unentwickelten Geschlechtsteilen handle. Ein 
neutrales Geschlecht gäbe es nicht, jeder Mensch sei entweder 
Mann oder Frau.*) 

Zu bemerken ist, daß übrigens derselbe Arzt einige Jahre 
früher das Vorkommen wenigstens eines „inneren Hermaphro- 
ditismus“ anerkannte.”*) 

Würde man nach der Ansicht von Brouardel auch medi- 
zinisch nur männliches und weibliches Geschlecht anerkennen 
und je nach dem Überwiegen männlicher oder weiblicher Ge- 
schlechtsmerkmale die Wesen mit Zwitterdrüse oder ohne Hoden 
und Ovarien zu den Männern oder Weibern zählen, dann ist 
‘das rechtliche Problem allerdings vereinfacht. 

Ich würde (soweit ein Nichtmediziner hierüber ein Urteil 
haben kann) die herrschende Ansicht für richtiger halten, die 
zurzeit Zwitter im engeren Sinne und geschlechtslose Wesen 
im Gegensatz von Mann und Frau annimmt. 

Denn wenn man als Charakteristikum für das männliche 
oder weibliche Geschlecht das Vorhandensein von Hoden oder 
Eierstöcken aufgibt, dann besteht kein Grund, auch bei Schein- 
zwittern die Gesamtmerkmale nicht in Betracht zu ziehen und 
das Geschlecht — je nachdem — nicht mehr allein nach der 
Geschlechtsdrüse zu bestimmen, vielmehr unter Umständen 
auch trotz des Vorliegens von Hoden die Person für ein Weib, 
trotz des Vorliegens von Ovarien das Individuum für einen 
Mann zu erklären. | 


*) Vergl. Brouardel, Malformation des organes génitaux de la 
femme. Ya-t-il lieu de reconnaitre l'existence d'un troisième sexe? In den 
Annales d'hygiène publique, Paris, Mars 1904. 

**) Vergl. Brouardel, Des empêchements au mariage et de l’'herma- 
phrodisme en particulier. In den Gazette des hôpitaux. Paris, 1887, p. 1—3. 
| l 9x 


— 20 — 


Ärzte*) haben zwar schon betont, daß es richtiger wäre, 
gewisse Scheinzwitter dem ihren Geschlechtsdrüsen entgegen- 
gesetzten Geschlecht einzureihen, doch haben sie das Prinzip 
der Geschlechtsbestimmung je nach der Geschlechtsdrüse nicht 
aufgegeben und lediglich aus praktischen, im Interesse des 
Zwitters liegenden Gründen die offizielle Aufdeckung des wahren 
Geschlechts vermeiden wollen. 

Zur Verhütung völliger Verwirrung muß aber bei der 
rechtlichen Beurteilung der Zwitter an dem allgemein gelten- 
den medizinischen Begriff der Geschlechtsbestimmung festge- 
halten werden, solange nicht die Naturwissenschaft selber eine 


andere Norm aufstellt oder das Gesetz die Geschlechtsbestim- 


mung für seine Bedürfnisse regelt und insbesondere für Zwitter 
Anordnungen trifft. | | 

Wenn man nicht das Vorhandensein von Hoden oder Ovarien 
für die Geschlechtsbestimmung ‚entscheiden ließe, müßte man 
ferner, um konsequent zu bleiben, auch die Wesen, bei denen 
die Art der Geschlechtsdrüse oder überhaupt ihr Vorhandensein 


nicht feststellbar ist, nach den übrigen Geschlechtsmerkmalen 


klassifizieren und rechtlich danach beurteilen. 

Dies wollen aber nicht einmal die Motive zum BGB., welche 
bei den Wesen nicht feststellbaren Geschlechts einen Zustand 
der Ungewißheit gelten lassen und die lediglich aus diesem 
Zustand sich ergebenden Konsequenzen gezogen wissen wollen, 
dagegen nicht diese Zwitter dem männlichen oder weiblichen 
Geschlecht zuteilen. 

. Der praktische Unterschied zwischen der Ansicht, welche 
in dem Zwitter im engeren Sinne und dem geschlechtslosen 
Wesen doch nur entweder einen Mann oder ein Weib sieht, 
und der Ansicht, welche sie eben als vom Mann oder Frau sich 
unterscheidende Geschlechtswesen betrachtet, ist — wenigstens 
für das Zivilrecht — nicht groß, wenn man, wie ich es tue, 
in jedem einzelnen Fall die Untersuchung nach analoger An- 
wendung der für Frau oder Mann in Betracht kommenden ge- 
setzlichen Bestimmungen auf die anderen Geschlechtswesen 
zuläßt. Praktisch bedeutend ist jedoch der Unterschied da, wo 
eine Analogie ausgeschlossen ist, namentlich im Strafrecht. 

*) S. oben Zangger und Neugebauer. 


ee DE 


Wie bedenklich die Entscheidung Brouardels ist, der 
' bei einem Wesen ohne Ovarien und Hoden von einer Frau mit 
unentwickelten Geschlechtsteilen spricht, zeigt die noch be- 
denklichere Ansicht anderer Ärzte*), welche geschlechtslose 
. Wesen (hermaphrodites neutres) als männlichen Geschlechts be- 
trachten wollen, weil man bei ihnen „keine weiblichen Ge- 
schlechtsteile beobachte und der Mangel der Charaktere der 
Männlichkeit daher bei ihnen nur von dem Mangel oder der 
Atrophie der Hoden abhänge*. 

Mit Recht bemerkt Debierre: Es sei dies ein negativer 
Schluß, der mindestens einen Irrtum für die Wahrheit hält. 


Kapitel ill: Standesregister und Zwittertum. 


§ 4. 
Welches ist das Verhältnis des Standesregisters 
zum Zwittertum? 


A. Eintragung des Geschlechts. 


Bei der Geburt eines Menschen ist sein Geschlecht im 
Geburtsregister einzutragen. Kann nun bei Wesen, die weder 
Mann noch Weib sind oder nicht als solche festgestellt werden 
können, in dem Geburtsregister das Geschlecht als „zwitter- 
haft, geschlechtslos oder zweifelhaft“ bezeichnet werden? 

Meiner Ansicht nach ist dies zu bejahen. 

Wie oben Kapitel II, $ 3 ausgeführt, hat das Bürgerliche 
Gesetzbuch, wenn es auch nur Mann und Frau kennt und 
erwähnt, dennoch nicht entschieden und nicht entscheiden 
wollen, daß etwaige Zwitter zu dem einen oder anderen Ge- 
schlecht gerechnet werden müssen. Es hat die Zwitter nicht 
erwähnt, weil es glaubte, es gäbe keine eigentlichen Zwitter 
oder geschlechtslose Wesen oder solche, deren Geschlecht sich 
nicht feststellen ließe. Durch diese Auffassung sind aber tat- 
sächlich diese Arten von Zwitter nicht aus der Welt geschafft 
und auch juristisch nicht erledigt. Das Personenstandsgesetz 
sagt nun gleichfalls nichts über die Zwitter und trifit gleich- 


*) Briand et Chaude, zitiert bei Debierre, siehe oben, p. 9. 





u AR E 


falls keine Bestimmungen über das Geschlecht oder dessen Ein- 


tragung. Es wird lediglich bestimmt, daß bei der Eintragung 


eines Kindes auch sein Geschlecht einzutragen ist. Kann das 
Geschlecht nicht festgestellt werden, dann ist es meiner Meinung 
nach auch unrichtig, „männliches“ oder „weibliches“ einzutragen, 


vielmehr ist die der Wirklichkeit und den Feststellungen des 


— in solchen Fällen vom Standesbeamten zu erfordernden — 
ärztlichen Zeugnisses entsprechende Tatsache zu vermerken. 
Wenn also, was wohl selten vorkommt, von vornherein positiv 
der Mangel von Hoden oder Ovarien festgestellt wird, hat die 
Bezeichnung der Geschlechtsnatur als „geschlechtslos“ zu 
lauten; wird, was noch seltener der Fall ist, Zwitterdrüse 
konstatiert, als „zwitterhaft“; ist endlich, und das wird die 
große Mehrheit der Fälle sein, nicht mit Bestimmtheit das Vor- 
handensein oder der Mangel von Hoden oder Ovarien festzu- 
stellen, so wird man „zweifelhaftes“ oder „nicht feststellbares Ge- 
schlecht“ eintragen müssen. Übrigens hätte ich nichts dagegen, 
wenn man in allen drei Kategorien von Fällen das Geschlecht 
einfach als „zwitterhaft“ im (weiteren Sinne) bezeichnen würde. 


Diese Auffassung, daß es zulässig ist, Wesen, die weder 
als Mann noch als Weib festgestellt sind, im Geburtsregister 
als solche zu bezeichnen, teilt auch der angesehenste und bei 
den Standesämtern gebrauchte Kommentar von Erichsen und 
Weiße*) 

Seite 101, Anm. 5, Abs.3 zu § 22 PStG. sagt der Kom- 
mentar: „Ist das Kind geschlechtslos oder sind die Geschlechts- 
teile so mißbildet, daß ein vorherrschendes Geschlecht auch 
durch ärztliche Untersuchung nicht bestimmt werden kann, so 
ist dieser Umstand im Geburtsregister zu vermerken.“ 

Unter den Musterformularen befindet sich dann auch (S. 160) 
ein auf die Geburt eines „Zwitters* bezügliches. 

Nach dem Formular wäre einzutragen, „daß ein Zwitter 
geboren worden sei und daß das Kind einen Vornamen noch 


*) Erichsen und Weiße, Die Führung der Standesregister und 
die Vorschriften des Gesetzes über die Beurkundung des Personenstandes 
und der Eheschließung in der vom 1. Januar 1908 geltenden Fassung. 
Berlin, Großer, 1904. 





— 13 — 


nicht erhalten habe, weil dessen vorherrschendes Geschlecht 
erst durch Sachverständige festzustellen sei“. 


Dieses Formular setzt allerdings voraus, daß das Ge- 
schlecht alsbald feststellbar ist. Wenn dies aber nicht möglich, 
und gerade diese Fälle der Unmöglichkeit der Feststellbarkeit 
habe ich im Auge, dann muß gerade direkt vermerkt werden: 
„dessen Geschlecht auch durch Sachverständige nicht festge- 
stellt werden konnte“, ferner muß dann das Kind auch sofort 
einen Namen erhalten. Die Offenhaltung des Namens ist ja so 
wie so nach dem Personenstandsgesetz nur ausnahmsweise 
gestattet und nur während einer Frist von längstens zwei 
Monaten. *) 

In Berlin und Charlottenburg habe ich auf verschiedenen 
Standesämtern über die bei Eintragung von Zwittern geübte 
Praxis mich persönlich erkundigt. Nur bei einem Standesamt 
war das Vorkommen einer Zwitteranmeldung in Erinnerung. 
Im Jahre 1908 war in Charlottenburg bei dem Standesamt 
Schloßstraße 27 ein Kind, dessen Geschlecht nicht festzustellen 
sei, angemeldet worden. Das Kind wurde entsprechend dem oben 
erwähnten Formular eingetragen. Der Fall verlor jedoch bald 
seine praktische Bedeutung, da das Kind kurz darauf starb 
und durch die Sektion das Geschlecht festgestellt werden 
konnte, worauf ein entsprechender Randvermerk im Register 
erfolgte. 

Auf meine Anfrage erklärten mir einige Standesbeamten, 
daß sie zwar Bedenken gegen die Eintragung von Kindern „als 
Zwitter“ hätten, jedoch auf Grund des Kommentars von Erichsen 
und Weiße und des Musterformulars doch wohl diese Be- 
zeichnung gegebenenfalls gebrauchen würden, wenn der Arzt 
wirklich ihnen nicht ein bestimmtes Geschlecht angeben könne. 

In einem Falle hatte der Standesbeamte im Jahre 1906 
bei Anmeldung eines Wesens zweifelhaften Geschlechts auf 
Grund ärztlichen Zeugnisses des Dr. Hirschfeld erklärt, es 
wäre besser, wenn der Arzt sich für ein bestimmtes Geschlecht 
entscheide und die Eltern ein bestimmtes Geschlecht an- 
meldeten. | 


—_—. 


` *) 8 22, letzter Absatz, PStG. 








u Ben 


Hierauf haben die Eltern die Eintragung des männlichen 
Geschlechts beantragt, die dann auch erfolgte. Es ist dies der 
von Dr. Hirschfeld in seinem Nachwort zu der Autobio- 
graphie eines irrtümlich als Mädchen erzogenen männlichen 
Scheinzwitters: „Aus eines Mannes Mädchenjahren von N. O. 
Body“ (Berlin, Gustav Risckes Buchh. Nachf.) erwähnte Fall. 

Hirschfeld sagt in diesem Nachwort: Am besten tue man 
daran, in Zweifelsfällen das Kind als „männlich“ anzumelden. 
Als Grund hierfür gibt Hirschfeld an S. 216: „Einmal scheint 
es, als ob sich in der Mehrzahl der bisher bekannt gewordenen 
Fällen das bis zur Reifezeit latente Geschlecht nach der männ- 
lichen Richtung differenziert. Dann aber ist es wirtschaftlich 
im Falle einer Fehldiagnose für einen Mann wesentlich leichter, 
sein Leben als Frau fortzusetzen, als für eine weiblich erzogene 
Person, als Mann weiter zu leben.“ 

Ich muß zugeben, daß, solange der jetzige gesetzliche Zu- 
stand existiert und solange keinerlei gesetzliche Bestimmungen 
für die Geschlechtsbestimmung des Zwitters vorhanden sind, es 
überhaupt praktischer und vorteilhafter für den Zwitter ist, daß. 
der Arzt ihn als „männlich“ eintragen läßt, wenn ein be- 
stimmtes Geschlecht nicht festgestellt werden kann. Denn die 
Eintragung als „Zwitter“ hat heute das sehr Mißliche zur Folge, 
daß, wenn auch später ein bestimmtes Geschlecht nicht fest- 
stellbar wird, der Zwitter eben niemals zur Erlangung eines 
bestimmten Geschlechts, insbesondere auch nicht durch Wahl 
(da eine solche nicht statthaft ist), kommen kann. Jedenfalls 
aber halte ich eine Bestimmung des Geschlechts nach dem 
„vorherrschenden“ nicht für angezeigt in dem Sinne, daß der 
Gesamteindruck und die verschiedenen Geschlechtsmerkmale 
abgesehen von den nichtihrer Natur nach feststellbarenGeschlechts- 
drüsen entscheidend wären, so daß auch das weibliche Ge- 
schlecht etwa gewählt würde. Denn die Gründe Hirsch- 
felds für die Wahl lediglich des männlichen Geschlechts 
scheinen mir durchschlagend und zutreffend, wenn das Ge- 
schlecht nicht nach der Natur der Geschlechtsdrüsen bestimmt 
werden kann. Überhaupt darf man die Frage des Geschlechts 
in Zweifelsfällen nicht nach dem Gesichtspunkt des sogen. „vor- 
herrschenden“ entscheiden, wenn man die Eintragung der 





u DE. ze 


„Zwitterhaftigkeit“ für zulässig erachtet. Denn ist die Be- 
stimmung des Charakters der Geschlechtsdrüsen (ob männlich 
oder weiblich) bezw.. überhaupt ihres Vorhandenseins nicht 
möglich, dann liegt eben Zwitterhaftigkeit vor und es handelt 
sich dann gar nicht darum, durch Abwägen des Gesamtwesen 
und sonstiger Geschlechtsmerkmale außer den Geschlechts- 
drüsen das Geschlecht als männlich oder weiblich eintragen zu 
lassen. 

Deshalb begehen auch Erichsen und Weiße in ihrem 
Kommentar einen Widerspruch, indem sie einmal davon aus- 
gehen, das vorherrschende Geschlecht entscheide, und dann 
von der Zulässigkeit der Eintragung der Zwitterhaftigkeit 
sprechen in den Fällen, wo ein vorherrschendes Geschlecht 
nicht vorhanden ist. 

Entweder man hält die Eintragung als „Zwitter“ für zu- 
lässig, dann hat der Arzt in allen Fällen, wo Geschlechtsdrüsen 
fehlen oder nicht mit Bestimmtheit nur als Hoden oder nur als 
Ovarien feststellbar sind, eben diese Tatsache anzumelden, oder 
aber man verlangt vom Arzt, sich für ein Geschlecht zu ent- 
scheiden, dann kommt die Anmeldung der Zwitterhaftigkeit 
niemals in Betracht, vielmehr entscheidet der Arzt ent- 
weder nach dem Gesamtwesen, nach dem „vorherrschenden“ 
Geschlecht, oder aber meldetin solchen Zweifelsfällen dem oben 
mitgeteilten Grunde Hirschfelds folgend stets das Geschlecht 
als „männlich“ an. 

Die Auffassung, daß es unzulässig sei, das Kind als 
„Zwitter“ einzutragen, vertritt Sartorius*): „Das Bürgerliche 
Gesetzbuch kennt Zwitter nicht. In zweifelhaften Fällen ist 
durch medizinische Sachverständige zu entscheiden, welches 
Geschlecht, anzunehmen ist.“ Ähnlich Stölzel**: „Zwitter 
erkennt das Recht nicht an.“ 

Beide ziehen also den von mir oben widerlegten 
Schluß, als ob aus dem Schweigen des Bürgerlichen Gesetz- 
buches über die Zwitter ihre juristische Nichtexistenz und ihre 
notwendige Zuzählung zu einem bestimmten Geschlecht ge- 


*) Sartorius, Ko:nmentar zum Personenstandsgesetz. München, 1902. 
Vergl. Anm. 3 zu § 22, S. 133. 
**) Stölzel, Das Personenstandsgesetz, zu § 22, S. 50, Anm. 4. 


— 26 —ı 


folgert werden müßte. Auch französische Stimmen haben be- 
züglich der Zwitter, für welche der Gesetzeszustand nach Code 
civil ganz derselbe ist wie nach dem deutschen Bürgerl. Gesetz- 
buch, ihre Eintragung als „Zwitter“ in das Standesregister als 
zweifellos unzulässig betrachtet. So hat der Staatsanwalt in 
einem die Anfechtung einer Ehe wegen der „Geschlechtslosig- 
keit“ des einen Eheteiles betreffenden Prozeß ausdrücklich 
ausgeführt, der Standesbeamte dürfe nicht gestatten, daß man 
das Kind als neutrius generis anmelde, der Stand könne nicht 
negativ sein.*) . 

Der französische Justizminister von 1816 sprach sich dahin 
aus, daß die Irrtümer der Natur nicht allzusehr ergründet 
werden sollten, und daß es den Individuen, die es angehe, oder 
deren Eltern zustehe, das Geschlecht zu wählen, das ihnen 
passe. **) 

Brouardel***), dagegen gibt diese Auffassung des Justiz- 
ministers wieder mit dem Bemerken, er halte es für besser, 
„zweifelhaftes Geschlecht“ einzutragen unter dem Vorbehalt, 
später das Geschlecht zu bestimmen. 

Auch in den Fällen, in denen bei dem. neugeborenen Kind, 

das Mißbildungen an den Geschlechtsteilen aufweist, das Ge- 
‚schlecht anscheinend bestimmbar ist, wird der Arzt in dieser 
Bestimmung sehr vorsichtig sein müssen, denn die reiche Ka- 
suistik bei Neugebauer mit ihren 400 bis 500 Fällen, in 
denen Irrtümer in der Bezeichnung des Geschlechts im Geburts- 
register begangen wurden, zeigt, wie oft und leicht erreurs de 
sexe vorkommen. 


B. Berichtigung des Geschlechts. 
_ Die Eintragung des Geschlechts in die Geburtsurkunde ist 


nun zwar für die Zukunft des Kindes von der allergrößten. 


Bedeutung, sie gewährt eine Vermutung für das Bestehen des 
eingetragenen Geschlechts und gibt die damit verbundene 
Rechts- und Lebensstellung. 

*) Vergl. Dalloz, 1904, T. I, S. 397. 

**) Debierre, L’Hermaphrodite devant le Code civil. Paris, Bailliöres 


et fils, 1886, S. 32. 
***) Brouardel, Gazette des hôpitaux, 1887, p. 1—3. 


teig 


sigd” 


a NOT je 


Eine irrtümliche Geschlechtsangabe ist aber weder unwider- 
legbar noch der Berichtigung entzogen. 

Die gesetzliche Vermutung kann entkräftet werden. Denn 
einmal beweisen die ordnungsmäßig geführten Standesregister 
diejenigen Tatsachen, zu deren Beurkundung sie bestimmt und 
welche in ihnen eingetragen sind, nur solange, als nicht der 
Nachweis der Fälschung, der unrichtigen Eintragung oder der 
Unrichtigkeit der Anzeigen und Feststellungen, auf Grund deren 
die Eintragung stattgefunden hat, erbracht ist. *) 

Der Gegenbeweis, daß das eingetragene Geschlecht ein 
unrichtiges ist, kann jederzeit geführt werden, und zwar kann 
dieser Beweis die Berichtigung der Standesurkunde im Wege 

“des Berichtigungsverfahrens zur Folge haben. **) 

Wird nachgewiesen, daß das eingetragene Geschlecht nicht 
der Wirklichkeit entspricht, und nimmt man an, wie ich es tue, 
daß auch alle Fälle des Zwittertums (im weiteren Sinne) als 
solche im Geburtsregister vermerkt werden dürfen, dann wird 
man folgerichtigerweise auch eine Umschreibung eines be- 
stimmten Geschlechts in „zwitterhaft“ für zulässig erachten 
in den Fällen, in denen irrtümlicherweise ein bestimmtes Ge- 
schlecht eingetragen wurde, während tatsächlich ein solches 
bestimmtes Geschlecht sich nicht feststellen läßt. 

Hält man dagegen an der Ansicht fest, daß nur männ- 
liches oder weibliches Geschlecht eingetragen werden darf, dann 
ist auch in den Fällen des Nachweises von Zwitterhaftigkeit 
eine Berichtigung nicht statthaft und die Berichtigung nur mög- 
lich, wenn positiv das Vorhandensein des anderen Geschlechts 
festgestellt ist. 

Der Beweis der Unrichtigkeit des eingetragenen Geschlechts 
und das Berichtigungsverfahren stehen nicht in notwendigem 
Zusammenhang derart, daß dieser Beweis nur im Berichtigungs- 
verfahren erfolgen könnte, obwohl es ja meist im Interesse des 
Zwitters liegt, vor allem die Standesurkunde durch Eintragung 
seines wahren Geschlechts zu berichtigen. Der Beweis der 
irrtümlichen Geschlechtsbestimmung kann auch außerhalb des 

' Berichtigungsverfahrens geführt werden. Wenn in einem Prozeß 


*) § 15, Personenstandsgesetz. 
**) 85 65, 66 des Gesetzes. 








a EN VE 


das Geschlecht in Frage gestellt wird, so darf der Richter 
nicht die Parteien zuerst auf das Berichtigungsverfahren ver- 
weisen. In dem Prozeß selber ist die Frage zum Austrag zu 
bringen. 

Dieser Beweis kann auf Antrag desjenigen, dessen Ge- 
schlecht irrtümlich eingetragen ist, erfolgen, z. B. wenn ein 
männlicher Scheinzwitter, der als Mädchen im Geburtsregister 
eingetragen ist, wegen Schwängerung und Anerkennung der 
Vaterschaft verklagt wird, ferner auf Antrag eines Anderen, 
z. B. des Ehegatten, der wegen des irrtümlich eingetragenen 
Geschlechts seiner Ehehälfte die Ehe als nicht bestehend fest- 
stellen lassen will, des weiteren auf Antrag des Staatsanwalts 
im Strafprozeß, wenn durch Nachweis eines anderen Geschlechts 
der Angeklagte sich gar nicht des in Frage kommenden Delikts 
schuldig machen konnte. 

Außerhalb der Prozesse, da wo die Unrichtigkeit des Ge- 
schlechts Behörden gegenüber geltend gemacht wird, sei es in 
der freiwilligen Gerichtsbarkeit, sei es bei Verwaltungsbehörden, 
wird man die Behörde zwar für befugt erachten, auch unab- 
hängig von einer vorherigen Berichtigung des Standesregisters 
das richtige Geschlecht feststellen zu lassen, jedoch nicht für 
verpflichtet. Diese Behörden sind nicht verpflichtet, diese Frage 
des richtigen Geschlechts selbst zu prüfen; für sie genügt die 
Angabe im Geburtsregister, sie können und werden regelmäßig der 
Person, welche die Unrichtigkeit behauptet und auf Grund des 
nicht eingetragenen Geschlechts ein Recht in Anspruch nehmen 
oder von einer Verpflichtung ledig sein will, aufgeben, zu- 
nächst im Berichtigungsverfahren die Geburtsurkunde richtig 
stellen zu lassen, so z. B. wenn ein als Mann eingetragener 
weiblicher Scheinzwitter Befreiung von der Vormundschaft ver- 
langt, weil sie ein Weib sei, oder wenn ein als Weib einge- 
tragener männlicher Scheinzwitter Zulassung zu einem Berufe 
begehrt, der männliches Geschlecht voraussetzt. 

Dagegen wird unbedingt das Berichtigungsverfahren dann 
vorangehen müssen, wenn der Eintritt in ein Rechtsverhältnis 
von der Vorlage der Geburtsurkunde als solcher abhängig ge- 
macht ist, also namentlich bei der Eheschließung; in dem Auf- 
gebotsverfahren, welches vor der Eheschließung stattzufinden 





— 29 — 


hat, ist auch die Geburtsurkunde dem Standesbeamten vorzu- 
legen; nur dann, wenn aus den Geburtsurkunden die Ver- 
schiedenheit der Geschlechter der Ehegatten hervorgeht, darf 
der Standesbeamte die Ehe beurkunden, er selbst hat nicht das 
Recht, feststellen zu lassen, wenn z. B. beide Geburtsurkunden 
dasgleiche Geschlecht angeben, ob die Behauptung des Ehegatten, 
die Angabe des Geschlechts sei unrichtig, auf Wahrheit beruht, 
mögen auch noch so viele zweifellose ärztliche Atteste vor- 
gelegt werden; denn sonst würde der Standesbeamte eine 
Ehe abschließen, deren Voraussetzungen im Widerspruch mit 
den Angaben in der Geburtsurkunde sich befinden, was er 
nicht darf. 

Deshalb ist bei unrichtiger Angabe des Geschlechts in der 
Geburtsurkunde zuerst deren Berichtigung herbeizuführen. 

Zur Antragstellung auf Berichtigung sind die Beteiligten 
befugt (d. h. der Zwitter oder seine Eltern oder gesetzlichen 
Vertreter, bei Eheschließungen beide Verlobte, bei Todesfällen 
die Erben des Verstorbenen, ferner auch diejenigen, welche 
die Anzeige erstattet haben).*) 

Ferner hat auch der Standesbeamte das Recht auf Antrag- 
stellung. Endlich kann auch die Aufsichtsbehörde des Standes- 
beamten eine Berichtigung von amts wegen herbeiführen.**) 
Durch letztere Bestimmung ist die Staatsbehörde in der Lage, 
' auch in Fällen, in denen der Zwitter trotz Kenntnis der irrtüm- 
lichen Geschlechtseintragung die Berichtigung versäumt, selbst 
einzugreifen und das richtige Geschlecht eintragen zu lassen. 


Kapitel IV; Zwittertum und Zivilrecht. 


In dem BGB. kommt der Zugehörigkeit zu einem be- 
stimmten Geschlecht eine geringere Bedeutung zu im Gegensatz 
zu früheren Gesetzgebungen, in denen eine ganze Anzahl von 
Beschränkungen in den Rechten der Frau enthalten waren. 





*) Vergl. Philler, Das Gesetz über die Beurkundung des Personen- 
standes in der Eheschließung. Berlin, Vahlen, 1900, Anm. 150 und 151 
zu § 66. 

**) 8 66, Abs. 2 des Gesetzes. 








U uch 


Grundsätzlich wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen 
Mann und Frau; deshalb hat auch die Frage nach dem Zwitter- 
tum in rechtlicher Beziehung etwas von ihrer Wichtigkeit ver- 
loren, da fast alle gesetzlichen Bestimmungen ganz von dem 
Geschlecht absehen und auf alle Menschen anwendbar sind. 
Das Geschlecht spielt eine Rolle hauptsächlich bei folgenden 
Rechtsverhältnissen: bei Ehe, Verlöbnis, Ehemündigkeit, Haf- 
tung des unehelichen Vaters aus der Schwängerung, Schadens- 
ersatz wegen unehelichen Beischlafs, Ablehnungsrecht der Vor- 
mundschaft seitens der Frau. 

Die größte Wichtigkeit hat die Geschlechtsfrage im 
Eherecht. 


85. 
Zwittertum und Ehe. 
A. „Nichtehe‘‘. 


Die Ehe setzt Verschiedenheit des Geschlechts der beiden 
Ehegatten voraus. Das Gesetz sagt dies zwar nicht aus- 
drücklich, jedoch ergibt sich diese Bedingung von selbst aus 
dem Wesen der Ehe. Eine Ehe zwischen Personen gleichen 
Geschlechts ist daher gar keine Ehe. 

Das BGB. enthält eine Anzahl von Gründen, aus denen die 
Ehe nichtig ist. Unter diesen Nichtigkeitsgründen ($$ 1325 bis 
1328: Geschäftsunfähigkeit, Geisteskrankheit, gewisse sehr nahe 
Verwandtschafts- oder Verschwägerungsgrade, Ehebruch be- 
gangen in der früheren Ehe mit dem zu heiratenden Ehe- 
gatten, Nichtbeobachtung der gesetzlichen Eheschließungsform 
bei der in das Heiratsregister eingetragenen Ehe) ist die Ge- 
schlechtsgleichheit nicht angeführt. Es ist dies aber auch nicht 
nötig, ja es wäre die Erwähnung unrichtig gewesen. Denn die 
Nichtigkeitsgründe der $$ 1325 bis 1328 setzen voraus, „daß 
es sich wenigstens um ein Verhältnis handelt, welches nach 
dem natürlichen Begriff der Ehe an sich überhaupt eine Ehe 
sein kann“. *) 

Dies trifft aber bei Ehen zwischen Personen gleichen Ge- 
schlechts nicht zu. Hier liegt ein größerer Grad von Nichtig- 


*) Vergl. Mugdan, Motive, oben zitiert, Bd. IV, S. 48. 





ze. 29. me 


keit vor, als bei den nichtigen Ehen der $$ 1325 bis 1328, eine 
auch dem äußeren Bilde nach nicht bestehende Ehe, eine 
„Nichtehe, wie Endemann*) treffend solche Verhältnisse 
im Gegensatz zu der „scheingültigen Ehe“ der §§ 1325 bis 1328 
benennt. 

Eine Ehe mit einem Scheinzwitter wird demnach gar keine 
Ehe sein, wenn der Scheinzwitter demselben Geschlecht wie der 
andere Ehegatte angehört. 

Solche Ehen sind keine überaus große Seltenheiten, bei 
Neugebauer finden sich nicht weniger als 84 „Ehen“ angeführt, 
in denen die Frauen oder spätere Witwen sich als Männer 
erwiesen, und 12, wo der angebliche Ehemann eine Frau war. 
In drei Beobachtungen gebaren irrtümlich als Männer ver- 
heiratete weibliche Scheinzwitter in der Folge sogar Kinder. 
Hat also ein Mann ein Wesen geheiratet, das er und vielleicht 
alle Leute, sogar Ärzte für ein Weib hielten, und ergibt eine 
spätere Untersuchung, daß das Individuum Hoden besitzt, so 
besteht keine Ehe und hat niemals eine bestanden. 


Das gleiche gilt, wenn ein Weib ein für einen Mann ge- 
haltenes Wesen ehelicht, bei dem später Eierstöcke festgestellt 
werden. 

Bei der Ehe mit einem Zwitter im engeren Sinne, also 
mit einem Individuum mit einer Zwitterdrüse, ist die Sache 
weniger einfach. Ä 

Man könnte hier sagen, eine Ehe besteht, weil der Zwitter 
auch das dem Geschlecht des anderen Ehegatten entgegen- 
gesetzte Geschlecht besitzt und damit die nach der natür- 
lichen Auffassung der Ehe erforderliche Grundvoraussetzung 
für die Ehe. Ebensogut ließe sich aber auch einwenden: 


Die Ehe setzt Mann und Frau voraus. Der Zwitter ist 
weder das eine noch das andere, demnach ist die Ehe mit 
einem Zwitter undenkbar. 

Meiner Ansicht nach muß man bei solchen Zwittern im 
engeren Sinne von Fall zu Fall entscheiden. Man hat zu 
prüfen, ob das dem Geschlecht des anderen Ehegatten entgegen- 
gesetzte Geschlecht überwiegt und derart ausgebildet ist, daß 





*) Endemann, Familienrecht, oben zitiert, $ 160, N. 3a. 





ne’ Bi 


die erforderliehe Geschlechtsgegensätzlichkeit besteht. Ein Zwit- 
ter muß, obgleich er im medizinischen Sinne weder ein eigentlicher 
Mann noch eine eigentliche Frau ist, doch als zur Ehe taug- 
lich erachtet werden, sofern „nach dem natürlichen Begriff 
der Ehe das Verhältnis eine Ehe sein kann“. Im Wege 
der Analogie sind solche Ehen eines Zwitters für gültig zu 
erachten. 

Bei der Prüfung der Möglichkeit solcher Ehe wird nicht 
die Zeugungsfähigkeit an und für sich ausschlaggebend sein, 
denn bei vielen Ehen zwischen Mann und Weib fehlt auch 
die Zeugungsfähigkeit (infolge Alters, Entfernung der Hoden 
oder Ovarien durch Operation usw.). 


Entscheidend wird sein, ob das Gesamtwesen, insbesondere 
die äußeren Geschlechtsteile und ihre einen Beischlaf gestattende 
Gestaltung den Zwitter als hauptsächlich dem dem Geschlecht 
des anderen Ehegatten entgegengesetzten Geschlecht zugehörig 
erscheinen lassen. (Eine solche analoge Anwendung nach dem 
angegebenen Gesichtspunkt hat wohl auch Planck zu $ 1323 
BGB., Ende der Anmerkung, im Auge: 


„Bei Zwittern ist es eine Tatfrage, ob von dem Vor- 
herrschen eines Geschlechts gesprochen werden kann. Danach 
entscheidet sich auch, ob eine Ehe möglich ist.“) 


In den bisher zweifellos festgestellten fünf Fällen von Indi- 
viduen mit Zwitterdrüsen*) würde wohl in vier Fällen eine 
Ehe mit einem Manne als möglich zu erachten sein, jedenfalls 
in zwei Fällen, in denen das weibliche Geschlecht derart vor- 
herrschte und ausgebildet war, daß die Zwitter Kinder geboren 
hatten; auch in dem dritten war zweifellos das weibliche Ge- 
schlecht stark überwiegend, und gleichfalls im vierten scheint 
dieses Geschlecht vorgeherrscht zu haben. Im fünften Falle 
dagegen wäre wohl eine Ehe des Individuums, sei es mit einem 
Manne oder mit einer Frau, als nicht bestehend zu betrachten 
gewesen, denn auch die ärztliche Untersuchung vermochte 
nicht zu entscheiden, welches Geschlecht überwog. (Vergl. S. 200, 
Beob. 342: „Der bis auf das Genital entblößte Körper machte mehr 
weiblichen Eindruck, aber bei genauerer Untersuchung zeigen 


*, Vergl. Neugebauer, S. 670, XI. 


e 


— WE — 


sich männliche und weibliche Charaktere gemischt“, Penis vor- 
handen, aber gespalten, Harnröhrenmündung zwischen leeren 
Schamlefzen. Die Geschlechtsdrüse eine Zwitterdrüse, Gemisch 
von Hoden und Ovariengebilden.) 

Hier würde nach der natürlichen Auffassung des Wesens 
der Ehe keine Verbindung vorliegen, die die Bezeichnung Ehe 
verdient, da ein bestimmtes Geschlecht des Zwitters zu wenig 
hervortritt, um das Bild einer Ehe übrig zu lassen. 

Ähnlich dürfte zu entscheiden sein bei den Wesen neutrius 
generis, bei welchen also der Mangel von Hoden und Ovarien 
festgestellt ist. 

Auch hier liegt es nahe zu entscheiden wie folgt: Diese 
Wesen sind weder Mann noch Weib. Die Ehe setzt Mann und 
Weib voraus, folglich ist eine Ehe mit einem Wesen ohne 
Hoden oder Ovarien als nicht bestehend zu betrachten. 

In diesem Sinne haben auch verschiedene französische Ge- 
richte entschieden (andere allerdings auch wieder entgegen- 
gesetzt unter Verkennung der „Geschlechtslosigkeit*): So hat 
das Tribunal d’Alais am 29. April 1869 die Ehe eines Mannes 
mit einer angeblichen Frau, die weder Brüste noch Ovarien 
noch Gebärmutter noch Vagina besaß, niemals ihre Regeln 
oder monatliche Schmerzen gehabt hatte und ein mannesähn- 
liches Becken aufwies, für nichtig erklärt. Der Appellhof von 
Nimes hob das Urteil auf, weil es sich nur um eine Frau mit 
fehlerhafter Beschaffenheit der zur Zeugung nötigen Organe 
handele. (Woher allerdings das Gericht weiß, daß eine Frau 
oder auch nur ein frauenähnliches Wesen vorhanden ist, wird 
nicht gesagt.) Nach Aufhebung dieses Berufungsurteils aus 
formalen, hier nicht interessierenden Gründen seitens des Kas- 
sationshofes von Paris und Zurückverweisung der Sache an 
den Appellhof zu Montpellier bestätigte dieser Gerichtshof am 
8. Mai 1872 das Urteil des Tribunal d’Alais, da nicht ein 
bloer „vice de conformation“, sondern völlige Abwesenheit 
der zur Charakterisierung des weiblichen Geschlechts nötigen 
Organe vorliege und eine Ehe nicht bestehe, wenn die „Frau“ 
keine Frau sei. | 

In einer ganz ähnlichen Sache ordnete das Tribunal de 
Domfort am 23. Dezember 1881 Beweiserhebung durch Sach- 

3 


u, BR 


verständigen-Gutachten darüber an, ob die Behauptung des 
Klägers richtig sei, „seine Frau besitze weder Vagina noch 
Eierstöcke noch Gebärmutter, dagegen ein mannesähnliches 
Becken, auch habe sie niemals die monatlichen Regeln oder 
Schmerzen gehabt“. | 

Das Gericht ging dabei ausdrücklich davon aus, daß, 
= wenn die Behauptungen des Ehemannes zutreffend seien, die 
Ehe nichtig sei. _ 

Der Appellhof von Caën dagegen erklärte das Beweis- 
erkenntnis für unnötig und nicht schlüssig und die Ehe für 
gültig. 

Die Ehe sei in erster Linie eine sittliche und geistige Ver- 
bindung. Der völlige Mangel der für das Geschlecht charak- 
teristischen Organe habe nicht die Ungiltigkeit der Ehe zur 
Folge. Man dürfe nicht die Frau in dem Grad entwürdigen, 
daß man in ihr nur ein sexuelles Werkzeug erblicke und sie 
nur als eine zur Erzeugung von Kindern und zur Befriedigung 
der Leidenschaften des Mannes geschaffene Einrichtung betrachte. 

Diese seltsame Begründung vergißt nur die Hauptsache, 
nämlich woran das Gericht erkennt, daß die angebliche Frau 
tatsächlich eine solche ist. Übrigens scheinen hauptsächlich 
praktische Gründe bei diesem Urteil bestimmend gewesen zu 
‘ sein; denn das Gericht sagt, die Aufhebung der Ehe hätte ganz 
unannehmbare Konsequenzen zur Folge, da die Ehe dann als 
überhaupt niemals bestanden zu gelten hätte. 

Ein dritter ähnlicher Fall beschäftigte in den Jahren 1900 
bezw. 1901 das Gericht von Lille und den Appellhof von Douai. 
Auch hier hatte die angebliche Frau niemals ihre Regeln ge- 
habt, besaß weder Vagina noch Ovarien noch Gebärmutter, 
dagegen entsprach ihr Becken demjenigen einer Frau, ferner 
wies sie weibliche Brüste und eine Klitoris auf. 

Beide Gerichte verneinten die Gültigkeit der Ehe, weil die 
Beklagte nicht als eine Frau zu betrachten sei und die Ehe Ver- 
schiedenheit des Geschlechts voraussetze. 

Der Pariser Kassationshof dagegen erklärte am 6. April 
1903 die Ehe für gültig. Es handele sich um eine Frau, die 
zwar die inneren sexuellen Organe nicht besitze, wohl aber die 
äußeren, sowie alle äußeren Merkmale des Weibes überhaupt, 





ir. o ui 


man dürfe daher nicht sagen, ihr Geschlecht sei nicht erkennt- 
lich oder identisch mit demjenigen eines Mannes. 

Dieser Fall ist der oben erwähnte, von Dr. Brouardel 
begutachtete. Auch der Staatsanwalt war in langen, auf die 
Ansicht von Brouardel gestützten Ausführungen für die Auf- 
rechterhaltung der Ehe eingetreten. 

Einer seiner Hauptgründe war der, daß es überhaupt nur 
ein männliches und weibliches Geschlecht gebe, und daß kein 
Gelehrter auf der Welt ein Zwischengeschlecht anerkenne, das 
weder männlich noch weiblich sei. Hierin war der Staatsanwalt 
zweifellos im Irrtum, denn schon seit Jahren haben die ver- 
schiedensten Gelehrten, und gerade französische, wie z. B. 
Debierre, ferner die von Brouardel*) selbst angeführten 
Paul Dubois und Bielard, einen „sexe neutre“ anerkannt. 

‚Wenn man nun auch mit den letzteren Ärzten, sowie mit 
Virchow, Neugebauer usw., Wesen ohne Hoden und ohne 
Ovarien für geschlechtslose Individuen hält, so ergibt sich nicht 
ohne weiteres daraus der Schluß, daß jede Ehe mit solch einem 
Wesen als nichtbestehend zu betrachten sei. 

Auch bei diesen Ehen würde ich im Wege der Analogie 
die Ehe dann für gültig erachten, wenn das geschlechtslose 
Wesen soviel dem Geschlecht des andern Eheteils entgegen- 
gesetzte Merkmale an sich hat, daß das Bild einer Ehe 
noch besteht, daß nach der natürlichen Auffassung der Natur 
der Ehe eine die Bezeichnung Ehe verdienende Verbindung 
vorliegt. Soweit man dies aus den obigen Urteilen und ihrer 
Begründung ersehen kann, ließ sich anscheinend in dem letzten 
von Brouardel begutachteten Falle noch von einem die Ehe 
gestattenden weibähnlichen Wesen sprechen, in den beiden 
anderen Fällen dagegen ist nicht ersichtlich, woraus die Weib- 
ähnlichkeit gefolgert wurde, da die Individuen sogar Becken 
hatten, die eher dem männlichen Geschlecht entsprachen, und 
auch der weiblichen Brüste ermangelten.**) 


*) Brouardel, Malformation des organes génitaux de la femme. 
Ya-t-il lieu de reconnaitre l’existence d'un troisième sexe? Annales d'hygiène 
publique et de medicine légale. Paris, Mars, 1904, p. 57. 

*+) Über die obigen Urteile vergl. Dalloz, 1872, I, p. 52, 1882, II, 

p. 155, 1904, I, p. 394 ff. | 
Ähnliche Entscheidungen finden sich bei Dalloz, 1872, I, p. 52, 

3% 


=, O 


In dem französischen Recht ist übrigens die Frage des Be- 
stehens der Ehe noch viel wichtiger als in dem deutschen Bürger- 
lichen Gesetzbuch, denn die Ehe kann nur mit der Begründung 
des Mangels der natürlichen Voraussetzungen der Ehe beseitigt 
werden, eine Anfechtung wegen Irrtums bezüglich der Be- 
schaffenheit der Geschlechtsteile ist nicht zulässig, da ein 
solcher Irrtum nicht unter den allein maßgebenden Anfechtungs- 
grund der erreur sur la personne fällt. Der normale Ehegatte 
ist daher sein Leben lang an ein Wesen neutrius generis trotz 
seines Irrtums bei der Eheschließung gebunden. Nach dem 
BGB. dagegen hat die Frage des Bestehens der Ehe mit einem 
geschlechtslosen Wesen insofern weniger Wichtigkeit, weil (wie 
dies des Näheren noch weiter unten erörtert werden soll) eine 
an und für sich bestehende und gültige Ehe wegen Irrtums oder 
Täuschung bezüglich wichtiger Eigenschaften im Wege der An- 
fechtungsklage beseitigt werden kann. 


Von einem anderen Gesichtspunkte hat man schon das 
Bestehen einer Ehe mit einem Individuum neutrius generis be- 
gründen wollen. 


Man hat gesagt: Die Nichtexistenz einer Ehe liegt nicht 
schon dann vor, wenn ein Ehegatte der charakteristischen Ge- 
schlechtsorgane seines anscheinenden Geschlechts entbehrt, 
sondern es muß der Nachweis geliefert werden, daß er die 
Geschlechtsorgane des entgegengesetzten Geschlechts tatsäch- 
lich besitzt. 


So sucht namentlich Jalabert*) die die Gültigkeit einer 
Ehe mit einem geschlechtslosen Wesen anerkennende Ent- 
scheidung des Appellhofes zu Caön zu rechtfertigen. Er meint 
insbesondere: Es müsse direkt die Geschlechtsverschiedenheit 
nachgewiesen werden, da das Recht ein genus neutrum nicht 


zitiert: Tribunal de Trèves vom 27. I. und 11. VII. 1808 in Dalloz 
Jurisprudence generale, Mariage, N. 76; Tribunal de la Seine, 18. IV. 1834; 
Tribunal d’Ambert, 5. VI. und 14. VIII. 1854; in Gazette des tribunaux, 
3. XII. und 26. IV. 1834. 

Entscheidungen deutscher Gerichte konnte ich seltsamerweise nirgends 
entdecken. 

*) Jalabert, Revue critique, nouvelle serie, T. 2, p 129 f., zitiert 
bei Dalloz, 1882, II, S. 155, Anm. 


Ze BT as 


anerkenne. Zugleich muß er aber zugeben, daß tatsächlich der 
Appellhof zur Gültigkeitserklärung einer Ehe mit einem ge- 
schlechtslosen Wesen gelange. 


Diese Auffassung von der Annahme des Bestehens der Ehe 
bis zum Nachweis der Gleichgeschlechtlichkeit der Ehegatten 
ist richtig da, wo überbaupt die Geschlechtsnatur des Ehe- 
gatten (ob er Hoden oder Ovarien oder beide oder keine be- 
sitzt) nicht festgestellt werden kann, also bei den sogleich zu 
erörternden Ehen mit Wesen zweifelhaften Geschlechts, nicht 
aber da, wo direkt der Nachweis des Mangels von Hoden 
oder Ovarien, also die Geschlechtslosigkeit im medizinischen 
Sinne, erwiesen ist 

Sodann aber irrt Jalabert darin, daß er glaubt, das 
sexus neutrum dürfe vom Recht nicht berücksichtigt werden. 
Der Begriff des Geschlechts ist ein medizinischer. Der Um- 
stand allein, daß für geschlechtslose Wesen keine gesetzlichen 
Bestimmungen existieren, kann ihr Vorhandensein nicht aus der 
Welt schaffen und zwingt den Richter, die rechtlichen Kon- 
sequenzen aus dem Vorhandensein dieser Wesen zu ziehen. 


Ehen mit Wesen, deren Geschlechtsnatur nicht festgestellt 
werden kann, bei denen also nicht gesagt werden kann, ob sie 
Hoden oder Ovarien haben oder beide oder keine, sei es, daß 
diese Feststellung bei Lebzeiten an und für sich unmöglich ist, 
sei es nur infolge einer — jedoch nicht gestatteten — Operation 
möglich wäre, sind anders zu behandeln als Ehen mit geschlechts- 
losen Wesen, deren Geschlechtslosigkeit festgestellt ist. Zwar 
darf der Standesbeamte, wenn er die Ungewißheit des Ge- 
schlechts erfährt, die Ehe nicht abschließen. Aber eine solche 
Kenntnis wird er ja nur selten erhalten. Ist die Ehe formell 
abgeschlossen worden, so muß sie als gültig betrachtet werden, 
bis die Gleichgeschlechtlichkeit der Ehegatten (bezw. Zwitter- 
tum im engeren Sinne oder Geschlechtslosigkeit des einen Ehe- 
gatten, die derart sind, daß eine Ehe nicht besteht) nachge- 
wiesen ist. Denn Ehen gelten im Zweifel als gültig, und das 
Nichtbestehen der formell gültigen und ins Heiratsregister ein- 
getragenen Ehe muß genau nachgewiesen werden. 


Kann nun der Nachweis nicht intra vitam des zwitter- 


= 88 


haften Ehegatten erbracht werden, so bleibt eben die Ehe be- 
stehen und äußert alle Wirkungen einer gültigen Ehe. 


Wird auch nach dem Tode des Zwitters seine Geschlechts- 
natur nicht festgestellt, so dauern auch die Wirkungen der 
gültigen Ehe über den Tod hinaus. Es tritt z. B. das Erbrecht 
des anderen Ehegatten ein usw. 


Wird dagegen, wenn auch erst nach dem Tode des Zwit- 
ters festgestellt, daß die Geschlechtsgegensätzlichkeit in dieser 
angeblichen Ehe gefehlt hat, so hat auch niemals eine Ehe be- 
standen und alle Wirkungen einer solchen haben nicht ein- 
treten können. So gibt es denn auch kein Erbrecht unter den 
angeblichen Ehegatten. 

Im Prinzip erkennt Endemann*), diese Folgerungen 
durchaus an, und er läßt auch alle Wirkungen einer intra vitam 
festgestellten Nichtehe wegfallen, dagegen zögert er, die gleichen 
Konsequenzen bei einer Feststellung der Geschlechtsnatur des 
Zwitters erst post mortem zu ziehen. | 


Er meint: nach strengem Recht habe die Ehe nicht be- 
standen, aber es bleibe der Erwägung Raum, daß einer Ver- 
bindung, die in rechter Form eingegangen und gutgläubig 
durch das ganze Leben als Ehe geführt worden sei, eine tat- 
sächliche Kraft innewohne und eine rechtliche Anerkennung 
gebühre, die ihr nachträglich über das Grab des einen „Ehe- 
gatten“ nicht mehr entzogen werden sollte. Diese heilende 
Kraft der Zeit finde in $ 1324, II, BGB. eine gewisse Analogie. Der 
Irrtum über das eigene Geschlecht aber erscheine entschuldbar, 
weil die Geschlechtsbestimmung regelmäßig unmittelbar nach 
der Geburt durch Laien erfolge, und weil dann die Erziehung, 
das Denken und Empfinden des Individuums maßgebend nach 
dem ihm zugewiesenen Geschlecht hinlenke. 


Diese an und für sich durchaus billigenswerten Sätze sind 
jedoch meiner Ansicht nach vom Rechtsstandpunkt aus nicht 
haltbar. Von einer analogen Anwendung des Ehebegriffes auf 
Verbindungen zwischen Wesen gleichen Geschlechts auf Grund 
langen Bestehens solcher Verbindungen kann keine Rede sein. 
Ebensowenig kann der entschuldbare Irrtum der „Ehegatten“ 


*) Endemann, Familienrecht, oben zitiert, $ 161, Anm, 7. 


zur Annahme des Bestehens der Ehe oder des Eintritts der 
Wirkungen einer gültigen Ehe führen. Übrigens würden auch 
die gleichen Billigkeitserwägungen in den Fällen Platz 
greifen, wo noch intra vitam des Zwitters, aber erst nach 
langjährigem Bestand der Verbindung die Gleichheit des Ge- 
schlechts sich herausstellt, aber in diesen Fällen hält selbst 
Endemann das Nichtbestehen der Ehe für unabweislich.*) 


Daß das Nichtbestehen der Ehe in allen solchen Fällen zu 
schweren Mißständen und zur Ungerechtigkeit führen kann, ist 
nicht zu leugnen, namentlich wenn die „Ehegatten“ mit ihrem 
Los zufrieden waren, eine Art Beischlaf möglich war, der 
Zwitter (wie das oft zutrifft) konträren Geschlechtsdrang besaß 
und überhaupt beide Teile guten Glaubens in glücklicher „Ehe“ 
lebten. | 

Die Härte und Ungerechtigkeit, die in der völligen recht- 
lichen Vernichtung solcher Verbindungen liegt, zeigt eben, wie 
reformbedürftig das Gesetz ist und wie besondere gesetzliche 
Bestimmungen für alle Zwitter (auch die Scheinzwitter, ja be- 
sonders für diese) nötig sind. 


B. Folgen der „Ntchtehe“. 


Die obigen Fälle der „Nichtehe* unterscheiden sich sowohl 
hinsichtlich der Form der Geltendmachung des Nichtbestehens 
der Ehe als hinsichtlich ihrer Wirkungen von der aus den be- 
stimmten Nichtigkeitsgründen der $$ 1325 bis 1328 des Bürger- 
lichen Gesetzbuches nichtigen sogen. „scheingültigen Ehe“. 


Die Nichtigkeit dieser letzteren Ehe wird durch eine spe- 
zielle, für diese Nichtigkeitsfälle gegebene Nichtigkeitsklage 
des $ 1324 BGB. geltend gemacht. Diese Nichtigkeitsklage ist 
einmal den allgemeinen Bestimmungen über das Verfahren in 
Ehesachen unterworfen, ferner den besonderen, in den SS 632 
bis 639 ZPO. für diese Nichtigkeitsklagen speziell vorgesehenen 
Bestimmungen, von denen z. B. diejenige besondere Hervor- 
hebung verdient, welche auch dem Staatsanwalt das Recht der 


*) Vergl. Endemann, $ 161, Anm. 7: Würde diese Feststellung 
(des gleichen Geschlechts) noch zu Lebzeiten erfolgen, so würden ohne 
Zweifel alle Rechtsfolgen der angeblichen Ehe zerfallen. 


— 40° — 


Erhebung der Nichtigkeitsklage gewährt, also auch ihm die 
Parteirolle einräumt. 

Diese Nichtigkeitsklage ist für die Fälle der Nichtehe weder 
nötig noch zulässig; nicht nötig, weil die Nichtehe gar nicht 
durch Klage beseitigt zu werden braucht, denn sie hat niemals 
bestanden, während die aus den Gründen der §§ 1325 bis 1328 
BGB. nichtige Ehe bis zur Nichtigkeitserklärung durch das auf 
die Nichtigkeitsklage hin ergehende Urteil als gültig angesehen 
wird und erst durch das Urteil, wenn auch mit rückwirkender 
Kraft, nichtig wird. 


Nicht zulässig, weil die Nichtigkeitsklage nur für die 


speziellen Nichtigkeitsfälle der $$ 1325 bis 1328 gegeben ist. 


Wenn auch zur Beseitigung der „Nichtehe“ eine Klage 
überhaupt nicht nötig ist, so wird doch meist das Bedürfnis 
bestehen, gerichtlich die Nichtexistenz der Ehe festzustellen. 
Hierzu dient die Klage auf Feststellung des Nichtbestehens der 
Ehe. Auf diese Klage finden die allgemeinen Bestimmungen 
über das Verfahren in Ehesachen der 88 606ff. ZPO. An- 
wendung; denn es handelt sich meiner Ansicht nach zweifellos 
um eine „Ehesache“, wenn auch tatsächlich eine Ehe nicht 
besteht.*) 

Dagegen sind die speziellen für die Nichtigkeitsklage ge- 
gebenen Bestimmungen auf diese Klage auf Feststellung des 
Nichtbestehens der Ehe nicht anwendbar, mit Ausnahme der 
ausdrücklich auf solche Klage für anwendbar erklärten $$ 633, 
635 ZPO. 

Der Staatsanwalt ist daher nicht berechtigt, wie bei der 
Nichtigkeitsklage, die Klage zu erheben, trotz des in vielen Fällen 
mindestens gleich großen öffentlichen Interesses, er ist lediglich 
zur Mitwirkung bei dem von den mn oder Dritten an- 
gestrengten Prozeß befugt. 


Das Nichtbestehen der „Nichtehe“ braucht, wie schon er- 
wähnt, nicht durch Klage, sondern kann an und für sich auch 


*) Der gleichen Ansicht Endemann, Familienrecht, 1908, $ 160, 
Anm. 17. 

Zu Unrecht nimmt Dernburg an, daß keine Ehesache im Sinne 
des § 606 ZPO. vorliege. ‘Vergl. Familienrecht, 1903, § 20, III, Anm. 6. 





=. A Se 


in irgendeinem, einen beliebigen Gegenstand betreffenden 
Prozeß einredeweise geltend gemacht und bewiesen werden. 


Wenn jedoch die Einrede des Nichtbestehens der Ehe in 
einem Prozeß der Ehegatten erhoben wird, so kann in 
diesem Prozeß die Frage des Bestehens oder Nichtbestehens 
der Ehe nicht entschieden werden, vielmehr muß der Haupt- 
prozeß ausgesetzt und die Frage des Bestehens der Ehe in 
einem besonderen Prozeß ausgetragen werden. ($ 154 ZPO.) 


Wird dagegen diese Einrede in einem Prozeß zwischen 
Dritten oder einem Ehegatten und einem Dritten vorgebracht, 
so bedarf es keiner Aussetzung und speziellen Klageerhebung 
bezüglich der Frage des Ehebestandes; also wenn z. B. die 
Erben des einen Ehegatten das von dem anderen Ehegatten 
auf Grund des Ehegattenerbrechts Erlangte von den Erben des 
anderen Ehegatten herausfordern wegen Nichtbestehens der 
Ehe, so kann ohne weiteres das Nichtbestehen der Ehe in 
diesem Prozeß vorgebracht und festgestellt werden. Dagegen 
kann allerdings eine Inzidentfeststellungsklage auf Fest- 
stellung des Nichtbestehens einer Ehe in einem anderen Prozeß 
nur erfolgen, wenn die Hauptklage bei dem Landgericht an- 
hängig ist, bei welchem der Ehemann, dessen Ehe als nicht- 
bestehend festgestellt werden soll, seinen allgemeinen Gerichts- 
stand hat. 

Denn für eine Klage auf Nichtbestehen einer Ehe ist das 
Landgericht zuständig, bei welchem der Ehemann seinen allge- 
meinen Gerichtsstand hat. ($ 606 ZPO.) 


Als Ehemann, dessen Domizil den Gerichtsstand bestimmt, 
wird man in der „Nichtehe“ denjenigen Teil ansehen, der im 
Heiratsregister als Ehemann bezeichnet ist, möge er auch tat- 
sächlich z. B. ein weiblicher Scheinzwitter sein. 

Auch die Wirkungen der „Nichtehe“ sind verschieden von 
denjenigen der „Scheinehe“. 

Bei der Scheinehe werden Rechtsgeschäfte gutgläubiger 
Dritter mit einem der Ehegatten oder rechtskräftige Urteile 
zwischen ihnen, die vor der Nichtigkeitserklärung der Ehe er- 
folgten, als gültig betrachtet und bleiben gültig auch nach der 
Nichtigkeitserklärung ($ 1344 BGB.). 





-— i Ra mn 


=: AI. as 


Ferner wird dem guten Glauben des Ehegatten, der beim 
Abschluß der Ehe die Nichtigkeit nicht kannte, Rechnung ge- 
tragen und zwar bezüglich des Unterhaltsanspruchs, des Wider- 
rufs von Schenkungen und der Vermögensauseinandersetzung. 
In letzterer Beziehung wird insbesondere fingiert, daß dasjenige 
Güterrecht bestanden hat, welches tatsächlich bei Gültigkeit der 
Ehe bestanden hätte ($ 1345 BGB.). 


Alle diese Wirkungen treten bei der „Nichtehe“ nicht ein, 
es entstehen gar keine Rechtswirkungen aus einem solchen 
Rechtsverhältnıs. 


Jeder Ehegatte kann zurückverlangen alles, was er ein- 
brachte und was er während der Dauer des Verhältnisses er- 
worben hat; irgendwelche Auseinandersetzung auf Grund ge- 
setzlichen oder vereinbarten Güterrechts gibt es nicht, weil 
Güterrechte eine „Ehe“ voraussetzen, eine solche aber nicht 
bestand. 


Auf das Mißliche einer Feststellung des Nichtbestandes 
der Ehe nach dem Tode eines oder gar beider Ehegatten habe 
ich schon oben hingewiesen. Im einzelnen können hier folgende 
Gestaltungen eintreten, wenn es sich ergibt, daß infolge Gleich- 
geschlechtlichkeit der Ehegatten eine Ehe nicht bestand. Ein 


Erbrecht der angeblichen Ehegatten gibt es nicht, ferner ist- 


ein gemeinschaftliches Testament der Ehegatten ungültig, weil 
ein solches eben nur von wirklichen „Ehegatten“ errichtet 
werden kann ($ 2265 BGB.). 


Stirbt der normale Ehegatte, so erbt der andere auf Grund 
des gesetzlichen Erbrechts, solange nicht das gleiche Geschlecht 
des Zwitters festgestellt ist. Wenn diese Feststellung erst nach 
dem Tode des Zwitters durch Nekroskopie geschehen kann, 
dann vergehen vielleicht lange Jahre bis zu dieser Feststellung. 
Nichtsdestoweniger können dann die Erben des normalen Ehe- 
gatten, wenn sie diese Feststellung bewirkt haben, das Ge- 
erbte von den Erben des Zwitters herausverlangen. Stirbt 
zuerst der Zwitter, dann kann die Feststellung bei Lebzeiten 
des andern Ehegatten erfolgen, und die Erben des Zwitters 
können infolge Feststellung des gleichen Geschlechts das Erb- 
recht des anderen Ehegatten zunichte machen. 


=. I: ze 
C. Zwittertum und A nfechtungsklage. 


Die Ehe mit einem Zwitter kann nun zwar gültig sein, 
insbesondere weil es sich um einen Scheinzwitter handelt, der 
tatsächlich das dem Geschlecht des anderen Ehegatten entgegen- 
gesetzte Geschlecht besitzt. 


Deshalb kann aber diese Ehe meist doch wieder beseitigt 
werden, nämlich durch Anfechtungsklage. 


Die Anfechtung ist zulässig wegen Irrtums über solche 
Eigenschaften oder wegen arglistiger Täuschung über solche 
Umstände, die den gutgläubigen Ehegatten bei Kenntnis der 
Sachlage und verständiger Würdigung des Wesens der Ehe 
von der Eingehung der Ehe abgehalten hätten. (SS 1333, 
1334 BGB.) 


Die normale Ausbildung und Gestaltung der Geschlechts- 
teile ist nun regelmäßig nicht bloß als ein Umstand, sondern 
auch als eine persönliche Eigenschaft zu betrachten, die 
bei Eingehung der Ehe vorausgesetzt wird. Sowohl wegen arg- 
listiger Täuschung als wegen Irrtums ohne solche arglistige 
Täuschung steht daher wohl regelmäßig dem normalen Ehe- 
gatten im Falle der Mißbildung der Geschlechtsteile des andern 
Ehegatten die Anfechtungsklage zu. Bei verständiger Wür- 
digung des Wesens der Ehe ist einem Ehegatten eine Ehe, die 
alle möglichen Unzuträglichkeiten zur Folge haben kann, nicht 
zuzumuten, eine Ehe mit einer Person, beı welcher das wahre 
Geschlecht zweifelhaft ist oder nur nach eingehender medizini- 
scher Untersuchung festgestellt werden kann, mit einer Person, 
mit welcher ein Geschlechtsverkehr vielleicht erschwert oder 
gar unmöglich ist. 


Natürlich kann es auch Fälle geben, namentlich bei Ehen 
mit Scheinzwittern, wo die Mißbildung nur eine geringe ist 
und der Richter auf Grund der ärztlichen Atteste zur Über- 
zeugung gelangt, daß auch bei Kenntnis der Sachlage und 
verständiger Würdigung des Wesens der Ehe der normale Ehe- 
gatte trotzdem die Ehe abgeschlossen hätte, und demnach die 
Anfechtungsklage abweist.e. Diese Fälle werden aber wohl 
selten sein. 


er. AM. Se 


Die Anfechtungsklage ist ausgeschlossen, wenn der normale 
Ehegatte die Mißbildung vor Eheabschluß gekannt hat, dann 
liegt kein Irrtum vor; die Klage ist ferner unzulässig, wenn 
der zur Anfechtung Berechtigte die von dem Gesetz zur Er- 
hebung der Klage vorgesehene sechsmonatige Frist 
seit Kenntnis des Anfechtungsgrundes ohne Klageeinreichung 
verstreichen läßt ($ 1339 BGB.) oder wenn er nach Entdeckung 
des Irrtums die Ehe bestätigt ($ 1337 BGB.). 


Hierbei ist aber zu berücksichtigen, daß der normale Ehe- 
gatte auch eine genügende Kenntnis der Mißbildung gehabt haben 
muß; insbesondere wird man, wenn der Ehemann ein Zwitter 
ist und der Ehefrau die Anfechtungsklage zusteht, in Betracht 
ziehen müssen, ob die Ehefrau gleich vom ersten Geschlechts- 
verkehr an auch die Bedeutung der Mißbildung erkennen 
konnte; bei vielen in Unkenntnis der Geschlechtsverhältnisse 
erzogenen, in dieser Beziehung unerfahrenen Ehefrauen wird 
man eine wirkliche Kenntnis der Mißbildung nur von dem 
Augenblick annehmen, wo sie sich völlige Rechenschaft über 
diese Mißbildung und ihre Bedeutung für den Geschlechtsver- 
kehr und das Eheleben überhaupt gibt. Dieses Bewußtsein 
wird oft lange nach der ersten Wahrnehmung der geschlecht- 
lichen Mängel des anderen Ehegatten eintreten; erst von 
diesem Zeitpunkt des eingetretenen Vollbewußtseins wird dann 
die Frist zur Erhebung der Anfechtungsklage laufen oder erst 
in diesem Augenblick eine Bestätigung rechtswirksam sein. 


Einen Beweis für das später erst eintretende Bewußtsein 
wird man z. B. oft darin erblicken können, daß eine Ehefrau 
lange sich niemandem über die geschlechtliche Eigentümlich- 
keit ihres Gatten anzuvertrauen wagte und erst später durch die 
Eltern oder den Arzt des näheren über Wesen und Bedeutung 
der Mißbildung aufgeklärt wurde. In solchen Fällen würde 
die Kenntnis der Mißbildung als erst im Augenblick dieser 
Aufklärung erfolgt anzunehmen sein.*) 


*) Vergl. auch Planck zu § 1337 BGB., Anm. 1: „Man wird eine 
sichere Kenntnis von dem wahren Sachverhalt verlangen müssen und sich 
nicht mit Vermutungen begnügen dürfen.“ 


— 45 — 
8 6. 


Zwittertum und Ehemündigkett. 


Bei dem Mann tritt die Ehemündigkeit mit dem 21., bei 
‚der Frau mit dem 16. Lebensjahre ein ($ 1303 BGB.), dem- 
gemäß wird auch der männliche Scheinzwitter mit dem 21., 
der weibliche mit dem 16. Lebensjahr eine Ehe eingehen 
können. 

Wie verhält es sich aber mit den übrigen Zwittern ? 

Wenn man mit Planck*) einfach sagen würde, die für 
den Mann oder die Frau gegebenen Spezialbestimmungen finden 
auf Zwitter keine Anwendung, dann würde sich ja die — mit 
Recht von Endemann als unhaltbar bezeichnete und deshalb 
auch den Grundsatz Plancks als unrichtig erweisende — Kon- 
sequenz ergeben, daß eine Ehemündigkeit für Zwitter nicht 
existiere. Es ist auch hier die Analogie entscheidend: und 
zwar sind die Zwitter mit Zwitterdrüse oder diejenigen ohne 
Hoden und Ovarien sowie diejenigen, deren Geschlecht nicht 
festzustellen ist, analog dem Manne erst mit dem 21. Lebens- 
jahre als ehemündig zu erachten. Denn der Gesetzgeber hat 
das Alter der Ehemündigkeit für den Mann höher hinaufgerückt 
als dasjenige für die Frau, weil die körperliche und geistige 
Entwicklung des Mannes eine spätere ist als diejenige der 
Frau. 

Danun bei den Zwittern die Entwicklung (mindestens diejenige 
der gerade für die Ehe wichtigen Entwicklung der Geschlechts- 
teile) überhaupt eine mangelhafte ist und noch langsamer vor 
sich geht als bei dem Mann, so sind mindestens die schwersten 
gesetzlichen Voraussetzungen für die Ehemündigkeit auf sie 
anzuwenden.**) 

Übrigens hat die Frage sehr wenig praktische Bedeutung, 
da meist beim Eheabschluß weder der andere Ehegatte noch 
der Standesbeamte etwas von der Mißbildung der Geschlechts- . 
teile erfahren und die Ehemündigkeit dann einfach sich nach 
dem in dem Geburtsregister angegebenen Geschlecht richtet. 
Wird aber die Mißbildung bekannt, so wird meist der andere 


*) Planck, oben zitiert, I, S. 56. 
**) So auch Endemann, oben zitiert, $ 161, Anm. 7. 


Zr 6, 


Verlobte die Ehe nicht abschließen oder der Standesbeamte 
die Eheschließung ablehnen wegen Zweifelhaftigkeit des Ge- 
schlechts. 


8:7; 
Zwittertum und Verlöbnis. 


Ähnlich wie die Ehe eines Zwitters ist das Verlöbnis eines 
Zwitters hinsichtlich seines Bestehens zu beurteilen. 

Auch das Verlöbnis setzt seiner Natur nach Verschieden- 
heit des Geschlechts voraus; wo diese Grundlage fehlt, gibt es 
kein Verlöbnis im Rechtssinn. - 

Ein Verlöbnis mit einem dem gleichen Geschlecht wie der 
andere Verlobte angehörigen Scheinzwitter ist kein Verlöbnis, 
ebensowenig ein solches mit einem Individuum mit Zwitter- 
drüse oder ohne Hoden und Övarien, falls nicht ein dem Ge- 
schlecht des normalen Verlobten entgegengesetztes geschlecht- 
liches Gesamtwesen bei diesen Zwittern vorhanden ist. 

Auf solche „Nichtverlöbnisse“, die ohne jede rechtliche 
Wirkungen sind, finden die Bestimmungen des BGB. über das 
Verlöbnis keine Anwendung, namentlich nicht diejenige, welche 


den zurücktretenden Teil verpflichtet, dem anderen für die in 


Erwartung der Ehe gemachten Aufwendungen oder einge- 
gangenen Verbindlichkeiten Ersatz zu leisten; auch kann von 
einem Schadensersatz wegen gestatteter Beiwohnung gemäß 
$ 1360 BGB. keine Rede sein, mögen auch beischlafähnliche 
Handlungen stattgefunden haben. 


Diese Schadensersatzpflichten fallen übrigens auch weg, 
wenn das Verlöbnis an sich gültig war (also z. B. bei Ver- 
löbnis mit einem dem entgegengesetzten Geschlecht des anderen 
Verlobten angehörigen Scheinzwitter oder mit einem Zwitter, 
dessen Geschlechtsnatur überhaupt nicht feststellbar), aber der 
normale Teil wegen der Mißbildung der Geschlechtsteile vom 
Verlöbnis zurücktritt. 

Denn wenn auch hier das Verlöbnis gültig ist, so bildet 
zweifellos das Zwittertum einen wichtigen, zum Rücktritt be- 
rechtigenden Grund. 

Derartige Rücktritte erwähnt Neugebauer gleichfalls 





u — 


u dp ge 


eine ganze Anzahl*): In 16 Fällen waren männliche Schein- 
zwitter mit einem Manne verlobt, in einem Fall ein weiblicher 
Scheinzwitter mit einem Mann. Die Verlöbnisse wurden infolge 
rechtzeitiger Entdeckung des Geschlechtsfehlers aufgelöst. 


§ 8. 
Zwittertum und Vaterschaftsklage. 


Die Frage des Zwittertums kann auch bei der Klage auf 
Anerkennung der Vaterschaft eines unehelichen Kindes und auf 
Zahlung von Alimenten von Bedeutung werden. 

Zur Inanspruchnahme als unehelicher Vater genügt der 
Nachweis des Beischlafs innerhalb der gesetzlichen Empfäng- 
niszeit. 

Es muß aber ein wirklicher Beischlaf seitens eines Mannes 
vorliegen (also Vereinigung der Geschlechtsteile von Mann und 
Frau und bei dieser Haftung aus Schwängerung auch noch 
immissio seminis).**) 

Nun kommt es vor, daß Scheinzwitter, die tatsächlich nicht 
Hoden, sondern Ovarien haben, also tatsächlich Frauen sind, 
oder daß geschlechtslose Wesen trotzdem eine Art männlichen 
äußeren Geschlechtsteil besitzen und ihn mit den Geschlechts- 
teilen der Frau vereinigen können, so daß vielleicht beide Teile 
glauben, es sei ein wirklicher Beischlaf vollzogen worden.***) 


Es kann also geschehen, daß in dem Prozeß das Mädchen 
die Beischlafsvollziehung beschwört und der Zwitter selbst sie 
zugibt. Beweist aber der Zwitter, daß er keine Hoden be- 
sitzt, dann ist festgestellt, daß ein wirklicher Beischlaf zwischen 
Personen verschiedenen Geschlechts nicht stattfand; dann hat er 
übrigens auch die Voraussetzungen des § 1717, Abs. 1, Satz 2 
BGB. bewiesen, wonach eine Haftung aus dem Beischlaf nicht 
hergeleitet werden darf, wenn ganz offenbar eine Schwängerung 
aus diesem Beischlaf unmöglich war. 


*) Vergl. Neugebauer, Zusammenstellung, S. 702. 
*) Vergl. Endemann, oben zitiert, Anm. 37 zu § 206a bei N. 4b. 
*#*) Vgl. die 12 Fälle bei Neugebauer, in denen weibliche Schein- 
"zwitter als Männer verheiratet waren und zum Teil auch Beischlafsakte 
ausführten, z. B. Beobachtung 282, S. 175; 306, S185. 


ie ME. 


Ist das Geschlecht des angeblichen, im Geburtsregister als 
Mann eingetragenen Schwängerers nicht feststellbar, kann 
nicht bewiesen werden, ob er Hoden hat oder nicht, dann haftet 
er, wenn eine Vereinigung der Geschlechtsteile zwischen ihm 
und dem Mädchen stattgefunden hat. Von seiner Haftung kann 
er sich befreien durch den Nachweis, daß immissio seminis aus- 
blieb, also daß eine Schwängerung unmöglich war, oder dab 
sein Geschlecht überhaupt kein männliches ist, also daß er keine 
Hoden hat. Kann er nicht den Mangel der immissio seminis nach- 
weisen, so gilt er entsprechend der Geburtsurkunde als Mann 
und haftet aus der Beiwohnung, wenn er nicht den Mangel der 
Hoden nachweist. 

Umgekehrt kann es auch vorkommen, daß nicht bloß 
ein Mann, der kein Mann ist, als Schwängerer, sondern eine 
als Mädchen geltende, im Geburtsregister als solches einge- 
tragene Person, die tatsächlich kein Mädchen, sondern ein 
männlicher Scheinzwitter ist, als Vater des unehelichen Kindes in 
Anspruch genommen wird. Wird hier tatsächlich im Prozeß 
das männliche Geschlecht dieser Person durch Sachverständige 
nachgewiesen, so haftet diese Person auch für die Folgen des 
innerhalb der gesetzlichen Empfängniszeit mit der Kindesmutter 
ausgeführten Beischlafs. Auch derartige Schwängerungen seitens 
angeblicher Mädchen und tatsächlicher männlicher Schein- 
zwitter finden sich bei Neugebauer und zwar nicht weniger 
als 7 Fälle. (Vergl. die Zusammenstellung, S. 704.) 


89. 
Zwiitertum und $ 825 BGB. 


Nach § 825 BGB. ist derjenige, welcher eine Frauens- 
person durch Hinterlist, durch Drohung oder unter Mißbrauch 
eines Abhängigkeitsverhältnisses zur Gestattung der außerehe- 
lichen Beiwohnung bestimmte, zum Ersatz des daraus ent- 
stehenden Schadens verpflichtet. 

Unter Beiwohnung ist auch hier zu verstehen die Ver- 
einigung der Geschlechtsteile von Mann und Frau, und zwar 
genügt diese Vereinigung hier, immissio seminis ist nicht 
erfordert.*) 

*) Vergl. Staudinger, Kommentar zum BGB. zu $ 1300, Anm. 2e. 


= A a 


Wird bewiesen, daß die angebliche Frauensperson ein 
männlicher Scheinzwitter ist, so fällt die Schadensersatzpflicht 
weg, möge auch der Beischläfer eine Art Beiwohnung ausge- 
führt haben und der Zwitter auch eine Art Scheide besitzen, 
in welche das Glied des Beischläfers eingeführt wurde. Denn 
das Gesetz will nur die Frau und ihre Geschlechtsehre schützen, 
nicht aber den Mann. 

Was die Zwitter anbelangt, deren Geschlecht zieh fest- 
stellbar ist, so wird der Beischläfer einer in das Geburtsregister 
als Weib eingetragenen Person schadensersatzpflichtig sein, 
auch wenn er die Zweifelhaftigkeit des Geschlechts der Miß- 
brauchten nachweist; denn um sich von der Haftung zu be- 
: freien, müßte er direkt nachweisen, daß die Eintragung im 
Standesregister der Wirklichkeit widerspricht und die Person 
tatsächlich kein Weib ist. 

Bei einer Beiwohnung mit einem Zwitter im engeren Sinne 
oder einem geschlechtslosen Wesen wird man die Analogie 
dann gelten lassen und den Beischläfer für schadensersatz- 
pflichtig dann erklären, wenn es sich um ein weibähnliches 
Wesen im früher erörterten Sinne handelt. 

Ist nun umgekehrt der Beischläfer kein Mann, sondern ein 
Zwitter mit Zwitterdrüse oder ohne Geschlecht, so wird man 
den § 825 BGB. gleichfalls dann analog anwenden, wenn ein 
mannähnliches Wesen in Betracht kommt. 

Ist der im Geburtsregister als Mann eingetragene Bei- 
schläfer ein Zwitter, dessen Geschlechtsnatur nicht feststellbar, 
so gilt er als Mann, solange diese Vermutung nicht ent- 
kräftet ist, und haftet daher auch solange. 


Kapitel V: Zwittertum und Strafrecht. 
$ 10. 


Eine wichtige Rolle spielt die Frage nach dem Geschlecht 
in gewissen Paragraphen des Strafrechts. 

A. Eine Anzahl strafbarer Handlungen können 
nur an oder unter Mitwirkung einer Frauensperson 
begangen werden: so insbesondere Ehebruch ($ 172 StGB.). 

4 


— 50 — 


Zwar ist nicht ausdrücklich in § 172 gesagt, daß der Ehebruch 
mit einer Frau gemeint ist, aber der rechtliche Begriff des 
Ehebruchs setzt wirklichen Beischlaf zwischen Personen ver- 
schiedenen Geschlechts voraus. Geschlechtliche Handlungen 
zwischen Männern bilden niemals einen Ehebruch.*) 

In Betracht kommen ferner: der Inzest ($ 173), die 
mit Gewalt vorgenommenen unzüchtigen Handlungen ($ 1761), 
der mit Gewalt ausgeführte Beischlaf, die sogen. Notzucht 
($ 177), die Erschleichung des außerehelichen Beischlafs durch 
Vorspiegelung eines Eheabschlusses ($ 179), die Verführung 
eines noch nicht 16jährigen unbescholtenen Mädchens zum Bei- 
schlaf ($ 182), die Entführung (S$ 236, 237). 

Alle diese Paragraphen können nun auf Zwitter im engeren 
Sinne oder geschlechtslose Wesen nicht angewandt werden, 
mögen diese Individuen noch so viele sekundäre und tertiäre 
weibliche Geschlechtsmerkmale aufweisen; denn das Gesetz 
setzt eine „Frauensperson“ voraus bezw. Beischlaf, der seiner- 
seits wieder eine Frauensperson als beteiligt voraussetzt. Im 
Strafrecht ist aber eine analoge Anwendung des Gesetzes 
völlig ausgeschlossen.**) 

Ebensowenig können die erwähnten Paragraphen zu einer 
Bestrafung führen, wenn die betreffenden Handlungen an bezw. 
unter Mitwirkung von einer Person vorgenommen worden sind, 
bei der die Natur der Geschlechtsdrüse nicht festgestellt werden 
konnte oder überhaupt weder das Vorhandensein noch der 
Mangel der Geschlechtsdrüse. 

Denn im Strafrecht ist das Vorliegen jedes Tatbestands- 
merkmals bezw. dessen Elemente von der Anklage nachzu- 
weisen. Bei Personen zweifelhaften Geschlechts kann aber 
der Nachweis, daß es sich um eine Frauensperson bezw. 
um die Ausführung eines Beischlafs handelte, nicht erbracht 
werden. | 

Es ist also die Möglichkeit gegeben, daß ein Mann glaubt, 
die Person, die er notzüchtigte, entführte usw., sei ein Weib, 


= *) Olshausen, 6. Aufi., 1900, zu $ 172, Anm. 166. 

**) Vgl. 8 2 StGB, Binding, Handbuch des Strafrechts, 1885, I, 
S. 218, Meyer-Alfeld, Lehrbuch des Strafrechts, 1907, $ 14, N. 9, 
S. 92. 


Erana 


= 5 


und trotzdem sich nicht strafbar macht, weil die Person ent- 
weder tatsächlich kein Weib ist oder wenigstens das weibliche 
‚Geschlecht bei ihr nicht festgestellt werden kann. 

Der Täter begeht dann nur ein — strafloses — Putativ- 
delikt. Soweit bei den oben erwähnten strafbaren Handlungen 
der Versuch strafbar ist (also bei den Verbrechen, z. B. bei 
der Notzucht), würde die mit dem Zwitter vorgenommene 
Handlung als Versuch am untauglichen Objekt sich charak- 
terisieren. Je nachdem man diese Art Versuch für strafbar 
hält*) oder für straflos**), würde der Täter eine strafbare 
oder straflose Handlung begehen. 

Noch viel weniger als bei den besprochenen Kategorien 
von Zwittern trifft der Tatbestand der genannten Paragraphen 
da zu, wo die Handlungen an einem oder unter Mitwirkung 
eines männlichen Scheinzwitters vorgenommen werden. 

Eine Bestrafung auf Grund dieser Paragraphen ist daher 
unmöglich, dagegen kann unter Umständen eine solche 
wegen des im § 175 bestraften Geschlechtsverkehrs 
erfolgen, wenn nämlich der Täter vor Begehung des 
Geschlechtsaktes gewahr wird, daß die angebliche Frau 
en Mann ist. Eine bestimmte Kenntnis wird der Täter 
allerdings bei Scheinzwittern nur selten erhalten, es müßte 
denn z. B. sein, daß der Zwitter selbst sein wahres Geschlecht 
kennt und dem andern mitteilt. In diesem Fall müßten dem 
Täter mindestens begründete Zweifel an dem angeblichen 
weiblichen Geschlecht des Zwitters auftauchen, nähme er trotz- 
dem eine beischlafähnliche Handlung mit letzterem vor, so 
würde er mit dem dolus eventualis handeln und nach & 175 
strafbar sein. 

Einen solchen dolus eventualis könnte er auch ohne Mit- 
teilung des wahren Geschlechts seitens des Zwitters unter Um- 
ständen haben, z. B. schon infolge des Anblicks der Geschlechts- 

teile oder der genaueren Untersuchung (wenn z. B. der Täter 
ein Arzt wäre). 

Der männliche Scheinzwitter seinerseits kann nach § 175 


*) Wie es das Reichsgericht tut, vergl. RGE., I, S. 451 u, 439. 
**) So nach der herrschenden Meinung, vergl. Olshausen zu $ 43 
StGB., Anm. 20, 
4* 


= bo ze 


strafbar sein, obgleich der andere Teil eine strafbare Handlung 
mit einer Frauensperson vorzunehmen glaubt, wenn nämlich 
der Zwitter sein wahres Geschlecht kennt und mit der Vor- 
nahme der beischlafähnlichen Handlung einverstanden ist, z. B. 
bei einer im Einverständnis des noch nicht 16 Jahre alten Zwitters 
beabsichtigten Verführung zum Beischlaf seitens eines Mannes, 
der den Zwitter für ein Mädchen hält, und der seinerseits weder 
nach § 175 noch nach § 182 strafbar wäre. 

Beispiele für die erörterten Eventualitäten finden sich 
mehrere bei Neugebauer: So päderastierten in Rußland zwei 
Männer gewaltsamerweise einen männlichen Scheinzwitter, der 
allgemein für ein Mädchen gehalten wurde. Erst bei der ge- 
richtlichen Untersuchung entpuppte sich das „Mädchen“ als 
Mann. Nach deutschem Strafgesetzbuch hätten die Täter 
nicht wegen Notzucht oder gewaltsamer Vornahme unzüchtiger 
Handlungen bestraft werden können, weil die Vergewaltigte 
keine Frau war, ebensowenig wäre nach § 175 eine Strafe 
möglich gewesen, weil die Täter das männliche Geschlecht des 
Mißbrauchten nicht kannten.*) 

Ein ähnlicher Fall ereignete sich in Österreich. Ein Mann 
hatte eine angebliche Frau, aber tatsächlichen männlichen 
Scheinzwitter, genotzüchtigt. Er wurde freigesprochen und 
zwar: von der Anklage der Notzucht, weil die Vergewaltigte 
ein Mann, kein Weib sei, von der Anklage.der widernatürlichen 
Unzucht, weil er nicht wissen konnte, daß die angebliche Frau 
ein Mann sei. **) | 

In einem dritten Fall wurde ein Mädchen eines unsittlichen 
Verhältnisses mit seiner Stiefmutter beschuldigt. Bei der ge- 
richtlichen Untersuchung wurde männliches Scheinzwittertum 
des Mädchens angenommen. 

Danach hätte also nach deutschem Recht das „Mädchen“ 
wegen Beischlafs mit der Stiefmutter auf Grund des Inzest- 
paragraphen bestraft werden können. Tatsächlich wäre aber 
eine Verurteilung dennoch ungerechtfertigt gewesen, denn nach dem 
Tode des Zwitters wurde zweifellos bei ihm weibliches Ge- 


*) Vergl. Neugebauer, S. 104, Beob. 80. 
**) Vergl. Neugebauer, S. 323, Beob. 661. 


55 — 


schlecht festgestellt.*) Ein Beischlaf im Rechtssinne zwischen 
Weibern gibt es aber nicht. 

Ein Delikt kann nur von einer Frauensperson begangen 
werden, nämlich die gewerbsmäßige Unzucht. Deshalb können 
Zwitter im engeren Sinne, Individuen neutrius generis, solche 
zweifelhaften Geschlechts und männliche Scheinzwitter auf 
Grund des $ 361° StGB. nicht bestraft werden. 

Derartige Fälle gewerbsmäßiger Unzucht seitens männ- 
licher Scheinzwitter, die als Frauen galten, sind schon öfters 
in der Wirklichkeit vorgekommen. Neugebauer führt etwa 
20 Fälle an, ein Teil dieser Individuen hatte auch einen auf 
das eigene Geschlecht gerichteten Geschlechtstrieb. **) 

Würde man übrigens auch die männliche Prostitution ver- 
folgen (wie es z. B. das dänische Gesetz vom 1. April 1905, 
in $ 4, Abs. 2, tut), so könnten ebensowenig die Zwitter im 
engeren Sinne, die geschlechtslosen Wesen und die Zwitter, 
deren Geschlecht nicht feststellbar ist, bestraft werden. Man müßte 
schon einen allgemein lautenden Paragraphen schaffen, lautend: 
„Wer gewerbsmäßig Unzucht treibt usw.“. 

B. Eine ganze Anzahl von Delikten ‘kann nur 
von Männern begangen werden, nämlich alle oben an- 
geführten, die einen Beischlaf voraussetzen, also Ehebruch, 
Inzest, Notzucht, Erschleichung des außerehelichen Beischlafs, 
Verführung. Dazu kommen noch das Vergehen des § 175 
und die Zuhälterei des § 181a StGB. 

Alle diese Delikte können weibliche Scheinzwitter, Zwitter 
im engeren Sinn, geschlechtslose Wesen nicht begehen, weil 
sie kein Mann sind; die Zwitter mit zweifelhaftem Geschlecht 
können nicht bestraft werden, weil nicht bewiesen ist, daß sie 
das männliche Geschlecht besitzen. So wäre z. B. der bei 
Neugebauer (S. 456) erwähnte, der Notzucht angeklagte 
„Soldat“ nach deutschem Strafgesetzbuch zu Unrecht bestraft 
worden, weil später bei der Sektion der Leiche weibliches Ge- 
schlecht konstatiert wurde. 

‚ Andererseits bleibt auch ein angebliches Weib, das aber 
tatsächlich ein männlicher Scheinzwitter ist, straflos, insofern 


*) Vergi. Neugebauer, S. 228, Beob. 402. 
**) Vergl. Neugebauer, S. 711 bis 712, 


za BE m 


diese Person ihr wahres Geschlecht nicht kennt, also über ein 
Tatbestandsmerkmal im Irrtum sich befindet. 

Hat dagegen diese angebliche „Frau“ gegründete Zweifel 
an ihrem „weiblichen“ Geschlecht, so hat sie womöglich bet 
Begehung der obigen Delikte den dolus eventualis und kann 
daher zur Verantwortung gezogen werden, sowohl in dem von 
Neugebauer (S. 92, Beob. 50) berichteten Fall, wo eine zehn 
Jahre lang verheiratete angebliche Frau, die sich als männ- 
licher Scheinzwitter herausstellte, mit der Schwägerin des 
Mannes Ehebruch beging und wirklichen Beischlaf mit ihr aus- 
führte. In einem anderen Fall (S. 525, Beob. 1025) wurde 
gegen eine als Frau lebende Person, die sich bei gerichtlicher 
Untersuchung als Mann entpuppte, die Anklage wegen Not- 
zucht einer Frau erhoben. 

Schließlich kann das Zwittertum auch bei § 175 noch inso- 
fern eine Rolle spielen, als womöglich zweifelhaft ist, ob die 
Gestaltung des Geschlechtsorgans des männlichen Scheinzwitters 
überhaupt eine beischlafähnliche Handlung ermöglichte. Bei 
manchen Scheinzwittern ist die Mißbildung der Geschlechts- 
organe eine derartige, daß auch aktive beischlafähnliche Hand- 
lungen nicht möglich sind. So wurde eine angebliche Frau 
der Bestialität mit einer Kuh angeklagt, die Untersuchung 
ergab, daß die „Angeschuldigte“ zu dem männlichen Geschlecht 
zu zählen sei, aber ihr Geschlechtsteil war so gestaltet, daß 
der Arzt die Möglichkeit eines Beischlafs mit der Kuh ver- 
neinte. *) 


C. Zu strafrechtlicher Verfolgung. führen oft 
die Fälle, in denen Männer in Weiberkleidung, 
Weiber in Männerkleidung ausgehen. 


Im Strafgesetzbuch existiert kein Paragraph, welcher das 
Anlegen von Kleidern, welche dem wahren Geschlecht nicht 
entsprechen, oder das Ausgehen in solchen Kleidern mit Strafe 
belegt. Soweit mir bekannt, ist auch in keinem Bundesstaat 
— jedenfalls weiß ich dies bestimmt von Preußen und Elsaß- 
Lothringen — etwa ein unter Polizeistrafe gestelltes Verbot 
auf Grund allgemeiner, zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, 





*) Vergl. Neugebauer, S. 269 bis 270, Beob. 512. 


— 55 — 


Ordnung, Sittlichkeit, des Anstandes usw. gegebener Polizei- 
blankettgesetze erlassen worden. Derartige Verbote würden 
hinsichtlich ihrer Zulässigkeit auch schweren Bedenken unter- 
liegen. Demnach kann auch nur auf Grund des § 360! 
StGB. wegen groben Unfugs eingeschritten werden. 

Dieser Paragraph setzt aber eine Belästigung des Publi- 
kums, eine Störung der Öffentlichkeit voraus. Daher kann das 
Anlegen von Kleidern, die dem eigenen Geschlecht wider- 
sprechen, an und für sich, also namentlich in geschlossener 
Gesellschaft, nicht als grober Unfug bestraft werden, ferner 
aber auch nicht einmal das Ausgehen in solchen Kleidern, 
sofern dies dem Publikum gar nicht auffällt und keine Ärgernis- 
erregung, kein unliebsames Aufsehen usw. in der Öffentlichkeit 
entsteht. 

Von diesen Grundsätzen geht auch, wie mir von den 
Herren Kriminalkommissaren der Sittenabteilungen beim Berliner 
Polizeipräsidium mitgeteilt wurde, sowohl die Berliner Polizei 
als die Amtsanwaltschaft bei den Berliner Gerichten aus, nament- 
lich bei der Verfolgung der in falschen Kleidern promenierenden 
homosexuellen Männer oder Frauen aus. 


In dieser Beziehung hatte ich Gelegenheit, durch Herrn 
Dr. Hirschfeld, an den ich mich wegen Materials für diese 
Arbeit gewandt hatte, einen ganz eigenartigen Fall kennen zu 
lernen. Ein homosexuelles Weib, eine echte Virago, in 
Stimme, Gang, Gebärden, Charaktereigenschaften usw. völlig 
Mann, trägt seit längerem Männerkleider und lebt völlig als 
Mann. Die Person macht auch ganz und gar den Eindruck 
eines jungen Mannes. Diese Person möchte: einmal ihren weib- 
lichen Vornamen im (Greburtsregister in einen männlichen um- 
geändert sehen, was natürlich unmöglich ist; denn wegen ihrer 
völlig normalen Geschlechtsteile muß sie als Weib gelten; 
ferner aber, und darauf kommt es ihr ganz besonders, ja fast 
ausschließlich an, möchte sie stets Männerkleider behalten 
dürfen. 

Diesem ihren Willen kann staatlich nicht entgegengetreten 
werden. Die Person erregt in Männerkleidern gar kein Auf. 
sehen, jedermann hält sie für einen Mann, eine Verfolgung 
wegen Störung der Öffentlichkeit, wegen groben Unfugs ist 





= 56, 


daher ausgeschlossen, ein anderes Mittel aber, sie zu zwingen, 
Weiberkleider anzulegen, gibt es nicht. 

Um sich Gewißheit über die Rechtslage zu verschaffen, ging 
die Person in Begleitung von Dr. Hirschfeld auf das Ber- 
liner Polizeipräsidium. Hier wurde der Person, nachdem 
die betreffenden Beamten durch den Anblick und das Gebaren 
der Person selbst sich überzeugt, daß die Person völlig den 
Eindruck eines Mannes hinterlasse, erklärt, daß, solange sie 
durch ihre Kleidung und ihr Benehmen in der Öffentlichkeit 
kein Aufsehen, keinen Auflauf usw. errege, ihr seitens der 
Polizei nichts geschehen könne. | 

Bemerkenswert ist die Tatsache, daß nach Angabe dieser 
Person sie gerade umgekehrt früher bei dem Ausgehen in 
Weiberkleidern auf der Straße stets ein Gegenstand des Spottes 
und des unliebsamen Aufsehens gewesen sei, die Passanten 
hätten gelacht und sich nach ihr umgeschaut, die Kinder seien 
ihr spöttelnd nachgelaufen usw. Gerade dieses Aufsehen hätte 
sie, abgesehen von ihrem inneren Gefühl und Drang nach Männer- 
kleidung, mit veranlaßt, letztere anzulegen. Jedenfalls sei es 
ihr unmöglich und undenkbar, wieder als Frau zu leben. 


Selbstverständlich könnte die Person, wenn sie in Weiber- 
kleidern ausginge, trotz der dadurch hervorgerufenen Be- 
lästigung des Publikums, nicht wegen groben Unfügs bestraft 
werden, denn auf alle Fälle hat jedermann das Recht, sich 
mindestens auch seinem eigenen Geschlecht entsprechend zu 
kleiden, möge nun die Kleidung zu seinem Gesamtwesen passen 
oder nicht. | 

Der Fall der oben erwähnten Person beweist, daß auch 
bei Homosexuellen, nicht bloß bei Zwittern und auch abgesehen 
von $ 175, trotz völlig normaler Geschlechtsteile infolge 
sonstiger, dem wahren Geschlecht entgegengesetzter Geschlechts- 
merkmale in manchen Fällen die Zuzählung zu dem den Ge- 
schlechtsdrüsen entsprechenden Geschlecht Bedenken unter- 
liegen kann, und daß de facto manche Homosexuelle in sozialen 
Beziehungen (bezüglich Beruf, Kleidung usw.) als dem ihren 
Geschlechtsdrüsen entgegengesetzten Geschlecht zugehörig 
gelten und tatsächlich diesem entgegengesetzten Geschlecht 
entsprechend leben. 


am D s 


Eine Bestrafung auf Grund des $ 3601! StGB. wegen Ver- 
übung groben Unfugs durch die Art der Kleider setzt, wie 
schon hervorgehoben, voraus, daß die Kleider dem wahren Ge- 
schlecht nicht entsprechen. 

Wie verhält es sich aber, wenn das Geschlecht z. B. bei 
einem Scheinzwitter im Geburtsregister irrtümlich eingetragen 
ist, in Kenntnis des wahren Sachverhalts die diesem irrtümlich 
angegebenen Geschlecht entsprechenden Kleider angelegt werden 
und dadurch öffentliches Aufsehen entsteht. Hier wird man 
trotzdem nicht wegen groben Unfugs einschreiten können. 
Denn durch die Eintragung des falschen Geschlechts hat der 
Zwitter offiziell das Recht erlangt, nach außen hin, also nament- 
lich in der Art der Kleidung, als diesem eingetragenen Ge- 
schlecht zugehörig zu gelten. Man wird ihm daher auch das 
Recht zuerkennen müssen, entweder die Kleider seines wahren 
Geschlechts oder die seines eingetragenen Geschlechts anzu- 
legen, in keinem dieser beiden Fälle wird man ihn wegen 
groben Unfugs bestrafen können. Wird durch das Tragen der 
dem falschen, aber eingetragenen Geschlecht entsprechenden 
Kleider öffentliches Ärgernis erregt, so hat es ja die Polizei in 
der Hand, durch Anzeige der Sachlage an die zuständige Be- 
hörde diese zu veranlassen, von amts wegen das Berichtigungs- 
verfahren des Standesregisters einzuleiten. 

Ist dann das Geschlecht berichtigt, dann kann natürlich 
Strafe wegen Weitertragens falscher Kleider und Erregung 
öffentlichen Aufsehens durch dieselben eintreten. 

Die Zwitter im engeren Sinne, die geschlechtslosen Wesen 
und die Individuen nicht feststellbaren Geschlechts wird man 
für verpflichtet erachten müssen, die dem eingetragenen Ge- 
schlecht entsprechende Kleidung anzulegen, und bestrafen, wenn 
sie in der Kleidung des nicht eingetragenen Geschlechts eine 
Störung der Öffentlichkeit hervorrufen. Jedoch wird man 
gerade ihrer eigenartigen Geschlechtsnatur bis zu einem ge- 
wissen Grade Rechnung tragen müssen und es nicht als einen 
groben Unfug betrachten, wenn sie eine etwas exzentrische, 
„zwitterhafte* Kleidung anlegen. 

Sind sie als „Zwitter“ eingetragen, so wird man ihnen 
die Wahl der Kleidung überlassen müssen. Höchstens ließe 


= pg = 


sich der Umstand als grober Unfug auffassen, daß der Zwitter 
abwechselnd Männer- und Weiberkleidung anlegt und dadurch 
öffentliches Aufsehen erregt. 


Kapitel VI: Zwittertum, Beruf und öffentliche 
Rechte. 
$ 11. 


Das Geschlecht spielt eine wichtige Rolle bei einer Anzahl 
von Berufen, indem nur das männliche Geschlecht zu gewissen 
Berufen zugelassen ist. So können nur Männer Offizier, 
Pfarrer, Rechtsanwalt, Richter usw. werden. 

Ferner stehen eine Anzahl öffentlicher Rechte nur den 
Männern zu, so die aktive und passive Wahlfähigkeit zu den 
meisten öffentlichen Körperschaften. 

Daher sind alle Wesen, die nicht Männer sind, von diesen 
Berufen und Rechten ausgeschlossen, insbesondere die weib- 
lichen Scheinzwitter. Hat ein angeblicher Mann einen dieser 
Berufe ergriffen und stellt sich später heraus, daß sein Ge- 
schlecht irrtümlich bestimmt wurde, so muß diese Person ihren 
Beruf aufgeben, ob sie nun ihre Matrik ändert oder nicht. 


Bei einem Beruf — dem militärischen — sollte man meinen, 
seien kaum jemals andere Wesen als wirkliche Männer Soldaten 
gewesen, und doch berichtet Neugebauer von neun 
Fällen, in denen weibliche Scheinzwitter als Soldat gedient 
haben, und von zwei Fällen, in denen Individuen fraglichen 
Geschlechts Militär waren. *) 


Einen interessanten Fall, in dem die Wahlfähigkeit eines | 


Menschen wegen seines Geschlechts angefochten wurde, spielte 
sich in Amerika ab. Infolge Protestes gegen das Wahlergebnis, 
weil ein Wähler eine Frau sei, wurde diese Person untersucht. 
Nach der ersten ärztlichen Untersuchung wurde die Person für 
einen Mann erklärt. Neuer Protest und neue Untersuchung 
durch zwei Ärzte, welche das Urteil des ersten Arztes be- 
stätigen. Später, als man erfuhr, die Person sei die Maitresse 


*) Vergl. S. 710, LXXXV. 


ss BO —_ 


eines anderen Mannes, dritte Untersuchung. Nunmehr findet 
der Arzt einen Uterus und glaubt auch Ovarien annehmen zu 
können. *) 

Demnach wäre also tatsächlich die Person ein Weib und 
nicht wahlberechtigt gewesen. 


Kapitel VII: Die rechtliche Behandlung der Zwitter 
de lege ferenda. 
8 12. 


Bisher habe ich nur den rechtlichen Zustand der Zwitter 
nach geltendem Recht erörtert. Daß dieser Zustand eine An- 
zahl rechtlicher Schwierigkeiten, schwere Mißstände und Un- 
zuträglichkeiten für die Zwitter und auch für dritte Beteiligte 
verursacht und überhaupt ein im höchsten Maße unbefriedigender 
ist, geht wohl schon aus den vorangegangenen Ausführungen 
zur Genüge hervor. Besondere gesetzliche Bestimmungen 
empfehlen sich nicht nur für die Zwitter im eigentlichen Sinne, 
die geschlechtslosen Wesen und die Wesen nicht feststellbaren 
Geschlechts, sondern auch für die Scheinzwitter. Denn viele 
der letzteren haben mehr Ähnlichkeit mit dem ihren Ge- 
schlechtsdrüsen entgegengesetzten Geschlecht, besitzen oft auch 
das Geschlechtsbewußtsein des anderen Geschlechts und fühlen 
sich in diesem entgegengesetzten Geschlecht wohl, so daß eine 
einfache Zuzählung dieser Zwitter je nach ihren Ge- 
schlechtsdrüsen zu den Männern oder Weibern in vielen 
Fällen der Sachlage nicht gerecht wird.**) 

Die Hauptfehler des heutigen Rechtszustandes bestehen 
einmal in dem unklaren rechtlichen Zustand bei der Eintragung 
der Zwitter im Geburtsregister und sodann in dem Mangel 
jeglicher Gesetzesvorschriften für die Zwitter und die Unmög- 
lichkeit, für sie nach gewissen bestimmten Grundsätzen oder 


*) Vergl. Neugebauer, S. 475, N. 1300. 

**) Vergl. die 24 Fälle, wo trotz festgestellten Geschlechtsirrtums die 
Zwitter die Änderung der Matrik verweigern, ferner die Fälle, in denen 
die Ärzte, um den Seelenfrieden der Zwitter zu schonen, sie gar nicht über 
ihr wahres Geschlecht aufklären: Neugebauer, S. 674 u. 673. 


— 60 — 


nach freier Wahl früher oder später das Recht auf ein be» 
stimmtes Geschlecht zu erhalten. Heute ist die Sachlage für die 
Zwitter recht mißlich. 

Hält man ihre Eintragung im Geburtsregister als „Zwitter“ 
für zulässig, dann laufen sie Gefahr, niemals ein bestimmtes 
Geschlecht zu bekommen, nämlich dann, wenn auch später ein 
solches sich nicht feststellen läßt. Verlangt man dagegen die 
Eintragung eines bestimmten Geschlechts von vornherein, dann 
sind sie der Gefahr ausgesetzt, daß bei ihrer Geburt ein falsches 
Geschlecht eingetragen wird und sie später die größten Schwierig- 
keiten haben, ihr wahres Geschlecht feststellen und eintragen 
zu lassen, oder wenigstens durch diese Änderung sozial und 
ökonomisch sehr geschädigt werden. Solche falschen Ge- 
schlechtseintragungen kommen ja bei Personen mit mißge- 
stalteten Geschlechtsteilen sehr leicht vor. 


Gerade bei der ersten Eintragung des Menschen in das Standes- 
register ist bei den meisten Neugeborenen, welche Mißbildungen 
an den Geschlechtsteilen aufweisen, das Geschlecht 
(das Vorhandensein von Hoden oder Ovarien) schwer fest- 
stellbar. Ein sicheres Urteil werden Laien und auch Hebammen 
kaum haben können, ja selbst der.Arzt und sogar der Spezial- 
arzt werden in dem ersten Lebensstadium des Zwitters sehr 
oft keine bestimmte Entscheidung zu treffen vermögen.*) 


*) Vergl. Debierre: L’hermaphrodite devant le Code civil — 
extrait des archives d’anthropologie criminelle —. Paris, Baillieres et fils, 
1886, p. 30, 31. „Le plus souvent & la naissance la determination du sexe 
d'un individu qui se présente avec une malformation des organes génitaux 
est impossible. Plus tard lą détermination est encore difficile et parfois 
l'autopsie seule permet de trancher la question. Mais ce qu’il y a à retenir 
c'est que c'est vers la puberté que lexamen court le plus de chance 
d'aboutir et de fournir une détermination certaine.“ 

e p. 34: „Des organes génitaux externes mâles imparfaitement déve- 
oppés peuvent en imposer et faire croire au sexe féminin, des organes 
génitaux externes mâles imparfaitement développés peuvent en imposer et 
faire croire au sexe féminin; des organes génitaux externes soudés comme 
chez l'homme, sourtout lorsque le clitoris est volumineux — et au début 
de la vie cet organe l’est toujours beaucoup relativement — peuvent par- 
faitement nous faire prendre une fille pour un garçon.“ 

Vergl. auch die von Neugebauer angeführten 400 bis 500 irrtüm- 
lichen Geschlechtsbestimmungen, S. 672, ferner die Fälle, in denen die 


— 6i — 


In allen Fällen von Geburten von Kindern mit Miß- 
bildungen der Geschlechtsteile sollte deshalb zunächst dem An- 
meldenden zur Pflicht gemacht sein, das Geschlecht als 
„zweifelhaft“ oder noch besser als „zwitterhaft* anzugeben. 
Bevor diese Eintragung erfolgte, hätte zur Vermeidung 
von Mißbräuchen und unzutreffender Bezeichnung der 
Kreisarzt das Kind zu untersuchen und dem Standesbe- 
amten mitzuteilen, ob die Eintragung ea sich recht- 
fertigt oder nicht. 

Zu einer solchen Anmeldung beim Standesamte sollte auch 
jeder Arzt und jede Hebamme verpflichtet werden, welche bei 
dem Neugeborenen oder später während der Minderjährigkeit 
die Mißbildung wahrgenommen hätten, damit nicht die Eltern 
oder sonstigen die Geburt anmeldenden Personen dem Standes- 
beamten die Mißbildung verschweigen könnten. 

Diese Bezeichnung „zwitterhaftes Geschlecht“ sollte ins- 
besondere auch dann erfolgen, wenn bei einem 
Scheinzwitter sofort nach der Geburt angeblich 
oder auch tatsächlich das Vorhandensein von Hoden 
oder Ovarien festgestellt wird. 

Denn ganz abgesehen von den häufigen Irrtümern und Schwie- 
rigkeiten bei der Geschlechtsbestimmung zur Zeit der Geburt 
soll ja auch bei Scheinzwittern die Zugehörigkeit zu einem 
bestimmten Geschlecht gerade deshalb nicht sofort bei der 
Geburt erfolgen, weil das Geschlecht der Scheinzwitter nicht 
nach der Art der Geschlechtsdrüse allein sich bestimmen und 
die Entscheidung erst später stattfinden soll. 

Nach erlangter Großjährigkeit sollte dem Zwitter — und 
zwar allen Arten von Zwittern, auch und gerade auch den 
Scheinzwittern — die Wahl gelassen werden, sich für das 
männliche oder weibliche Geschlecht zu entscheiden. 

Bis zur Großjährigkeit wäre dem gesetzlichen Vertreter 
des Kindes anheimzugeben, das Kind als Knabe oder Mädchen 
zu erziehen und einen entsprechenden Vornamen im Geburts- 
register eintragen zu lassen; durch die Angabe des Geschlechts. 


Ärzte den Entscheid des Geschlechts — weil allzu zweifelhaft bezw. un 
möglich — verweigerten, S. 673. 


im Geburtsregister als „zwitterhaft“ wäre aber doch offiziell 
festgelegt, daß bis zur Großjährigkeit das Geschlecht noch 
nicht bestimmt sei. 

Nach erlangter Großjährigkeit müßte der Zwitter nicht nur 
das Recht, sondern auch die Pflicht haben, ein bestimmtes 
Geschlecht zu wählen. 

Mit Rücksicht darauf, daß oft erst in späteren Jahren die 
Geschlechtsdrüse sichtbar und ihre Natur feststellbar wird, 
sowie im Hinblick auf die Wichtigkeit der Wahl, sollte auf 
Antrag des Zwitters die Frist zu seiner Entscheidung bıs zum 
25. Lebensjahr erstreckt werden dürfen. 

Bei der Wahl müßte der Zwitter zugleich ein ärztliches 
‚Zeugnis vorlegen und zwar von einem Spezialisten, wonach 
die von dem Zwitter getroffene Wahl nicht seinem Gesamt- 
wesen widerspricht und nicht unberechtigt erscheint. 

Der Arzt hätte bei der Ausstellung seines Zeugnisses nicht 
bloß die Geschlechtsteile des Zwitters, sondern alle sonstigen 
Geschlechtsmerkmale, sekundäre und tertiäre, Richtung des Ge- 
schlechtstriebes, Neigungen, Gewohnheiten des Zwitters, auch 
„alles das, was in der Zukunft für den Zwitter eine Rolle 
spiele, die Beziehungen zu den Mitmenschen“ usw. (Zangger, 
oben zitiert) in Betracht zu ziehen. Nur dann hätte der Arzt 
der Wahl des Zwitters zu widersprechen, wenn der Zwitter 
das ganz offenbar für ıhn nicht geeignete und seinem Wesen 
fremde Geschlecht wählen würde, also z. B. wenn nicht erheb- 
liche Mißbildungen der Geschlechtsteile vorlägen, bestimmte 
Geschlechtsdrüsen beständen und auch der Geschlechtstrieb, 
die übrigen sekundären Geschlechtsmerkmale usw. den Ge- 
schlechtsdrüsen adäquat wären und der Zwitter z. B. nur aus 
rein äußeren Gründen das entgegengesetzte Geschlecht wählen 
würde. 

Kurz, das ärztliche Attest müßte nur dazu dienen, Miß- 
bräuchen und einer offenbar unberechtisten Wahl vorzu- 
beugen, wie sie namentlich bei Scheinzwittern vorkommen 
könnten. 

Durch diese Wahl wird allerdings bewirkt, einmal, daß 
Zwitter im engeren Sinne ein bestimmtes Geschlecht erhalten, 
während sie tatsächlich im heutigen medizinischen Sinne zwei 


= 59, s 


besitzen, ferner solche, die keines haben, eines bekommen, 
endlich daß Scheinzwitter unter Umständen ein Geschlecht 
wählen, welches ihren Geschlechtsdrüsen nicht entspricht, also 
welches nach der heute herrschenden medizinischen Auffassung 
ein falsches ist. 

Für die praktischen Zwecke des Lebens, für die Interessen 
der Allgemeinheit und des Individuums dürfte diese Festlegung 
durch die Wahl des Zwitters unter Vorlegung eines MiB- 
bräuche und offenbar unberechtigte Wahlen verhütenden ärzt- 
lichen Zeugnisses viel besser und zweckmäßiger sein und viel 
geeigneter, klare und geordnete Geschlechtsverhältnisse bei den 
Zwittern zu schaffen, als der heutige unpraktische, unklare 
widerspruchsvolle und ungerechte Zustand. 

Ein drastisches praktisches Beispiel für die eigentümlich 
Lage, in welche solche Zwitter heute geraten können, bilde 
folgeude Person, welche Dr. Hirschfeld gleichfalls die Liebens- 
würdigkeit hatte, mir vorzustellen. 

Es handelt sich um den in Hirschfelds „Geschlechts- 
übergänge“ *) (S. 19 bis 25) beschriebenen männlichen Schein- 
zwitter.**) Diese Person, welche als Weib eingetragen ist, als 
solche seit ihrer Jugend einhergeht und Weiberkleider trägt, 
lebt seit einiger Zeit mit einer homosexuellen Frau zusammen 
in gegenseitigem Liebesbund. Die homosexuelle Frau sieht in 
dem Zwitter die Frau, liebt in ihm ihr eigenes Geschlecht, da 
sie für Männer keine Liebesgefühle zu empfinden vermag. Der 
Zwitter liebt die Frau, wie eben ein Mann eine Frau liebt. 
Äußerlich — offiziell könnte man sagen — liegt ein homo- 
sexuelles, „widernatürliches* Verhältnis vor; nach den Ge- 
schlechtsdrüsen des Zwitters beurteilt dagegen nur eine wilde 
Ehe zwischen Mann und Weib. Der Zwitter könnte die Frau 
nach dem Gesetz heiraten, trotzdem er tatsächlich, abgesehen 
von der Geschlechtsdrüse, ungefähr ebenso viele weibliche als 
männliche Geschlechtsmerkmale aufweist. Diese Ehe wäre 
auch niemals wegen der Mißbildung der Geschlechtsteile des 
Mannes, dessen Geschlechtsteile teils mann-, teils weibähnlich 


*) Leipzig, Malende. 
**) Vergl. Abbildungen 4 bis 7 und farbige Tafel III bei Hirsch- 
feld. 


= AB; ce 


gebildet sind, anfechtbar, denn die Frau kennt genau den Zu- 
stand der Beschaffenheit der Sexualorgane des Zwitters. 

Zur Heirat müßte zuerst, schon wegen des Aufgebots, die 
Geburtsurkunde berichtigt werden; der Zwitter erklärte aber, 
er könne unmöglich diese Berichtigung beantragen, um nicht 
überall bei seinen Bekannten und namentlich in seiner Heimat 
das größte Aufsehen zu erregen und den größten Schwierig- 
keiten zu begegnen, wenn er plötzlich als Mann aufträte. 

Würde z. B. in diesem Fall von vornherein das Geschlecht 
als zwitterhaft eingetragen worden sein und hätte dann der 
Zwitter schon längstens sein ihm passendes Geschlecht wählen 
können, so würde ihm nicht nur schon früher ein peinliches 
und mißliches Leben erspart worden sein, sondern er könnte 
auch jetzt ruhig die geliebte Frau ohne Schwierigkeiten 
heiraten. 

Auf Grund der Wahl des Zwitters wäre das Geburts- 
register zu berichtigen. Der Zwitter würde dann in jeder Be- 
ziehung dem von ihm gewählten Geschlecht entsprechend be- 
handelt werden und hätte die diesem Geschlecht zukommenden 
Rechte und Pflichten. Demnach könnte es vorkommen, daß 
ein Scheinzwitter mit einer Person seines eigenen Geschlechts 
im Sinne der heutigen medizinischen Auffassung eine Ehe ab- 
schließen könnte. Dies wäre aber kein Unglück; denn 
tatsächlich gibt es Scheinzwitter, die bis auf die Geschlechts- 
drüse dem dieser Drüse entgegengesetzten Geschlecht in den 
übrigen körperlichen und geistigen Merkmalen oder wenigstens 
der Mehrzahl nach ähnlich sind;*) es ist auch zu bedenken, 
daß umgekehrt heute Ehen zwischen Zwitter und Normalen 
vorkommen, die wegen der bis auf die Geschlechtsdrüse dem 
Geschlecht des normalen Ehegatten ganz ähnlichen Gesamt- 
wesen eher das Bild eines homosexuellen — und trotzdem 
staatlich anerkannten — Verhältnisses zwischen Personen des 
gleichen Geschlechts bieten, als dasjenige einer wahren Ehe 
zwischen Personen verschiedenen Geschlechts. 

. Sodann aber würde mein Vorschlag de lege ferenda den 
großen Vorteil bieten, daß durch die ausdrückliche Verpflich- 


*) Vergl. z. B. die früheren zitierten Fälle von Zangger und 
König. 


= be 


tung, einen Zwitter und zwar auch jeden Scheinzwitter 
mit der Bezeichnung „zwitterhaft“ im Geburtsregister einzu- 
tragen, der normale Ehegatte vor Eheabschluß auf den 
Fehler des anderen Teiles aufmerksam gemacht würde und 
sich vor Täuschung und Irrtum sichern könnte: würde er aber 
den Geburtsakt nicht gelesen und auch sonst die Zwitterhaftig- 
keit nicht erfahren haben, so stände ihm immer noch die An- 
fechtungsklage wegen nicht gekannten Fehlers des anderen Ehe- 
gatten zu auf Grund der $$ 1333, 1334 BGB. 


Die heutige — oft beide Ehegatten schwer treffende — 
Härte und Unbilligkeit, wonach, wenn sich gleiches Geschlecht 
des Zwitters mit dem anderen Ehegatten herausstellt, die Ehe 
überhaupt niemals bestanden hat, würde wegfallen. 


Schließlich wäre auch zur Vermeidung rechtlicher Zweifel 
die Ehemündigkeit des Zwitters auf den Zeitpunkt der Wahl 
des Geschlechts, also niemals früher als auf das 21. Lebensjahr 
festzusetzen, so daß stets Ehemündigkeit und Geschlechts- 
wahl zusammenfielen. 


Die weiteren Einzelheiten über Beschwerderechte, welche 
gegen die Entscheidungen der Ärzte bezw. Ausstellung der 
oben erwähnten Zeugnisse zu gewähren wären, und die zur 
Zuständigkeit der Entscheidung befugten Behörden ergeben 
sich aus dem unten vorgeschlagenen Gesetzentwurf. 


Schon verschiedene Ärzte*) haben die Einführung eines 
dritten „zweifelhaften oder neutralen“ Geschlechts in der Ge- 
burtsurkunde befürwortet, so namentlich Debierre**), welcher 
ausdrücklich eine Änderung des Art. 57 Code civil (betreffend 
Eintragung der Geburten) und einen Zusatzartikel formu- 
liert hat. 

Debierre schlägt vor, daß jedes neugeborene Kind ärzt- 
lich untersucht werde und im Falle der Zweifelhaftigkeit seines 
Geschlechts als „zweifelhaften Geschlechts* im Standesregister 
eingetragen werde. 

Mir scheint es, daß eine ärztliche Untersuchung aller neu- 
geborenen Kinder zu weit geht und daß es genügt, jeden An- 


—. 





*) Vergl. Neugebauer, S. 620, Ende. 
**) Vergl. Debierre, oben zitiert, pag. 9, 


a BE se 


meldenden sowie Arzt und Hebamme, die das Kind sehen, zu 
verpflichten, Kinder mit Mißbildungen der Geschlechtsteile als 
zweifelhaften Geschlechts anzumelden, namentlich da doch 
meist oder sehr oft mindestens eine Hebamme das neugeborene 
Kind zu Gesicht bekommt und Mißbildungen der Geschlechts- 
teile immer auffallen. 

Debierre will dann zur Zeit der Pubertät (in der Zeit 
zwischen dem 15. und 18. Lebensjahre des Kindes) eine gericht- 
lich-ärztliche Kommission entscheiden lassen, ob das Kind als 
männliches, weibliches oder zweifelhaftes Geschlecht in dem 
Standesregister aufgeführt wird. 

Einmal finde ich die Zeit der Entscheidung zu früh, 
sodann würde ich es nicht für zweckmäßig halten, ein drittes 
Geschlecht einzuführen; viel richtiger scheint es mir, nur zwei 
Geschlechter beizubehalten und dem Zwitter selbst die Ent- 
scheidung zu lassen, welchem er angehören will, unter der 
Voraussetzung der Schaffung gewisser Garantien, wie ich sie 
oben näher empfohlen (namentlich Vorlage eines ärztlichen 
Attestes, daß die Wahl nicht unsachgemäß ist). 

Im einzelnen würde ich etwa folgende Gesetzesparagraphen 
vorschlagen: | | 

$ 1. Diejenigen Kinder, welche mit erheblichen Miß- 
bildungen der Geschlechtsteile geboren werden, sind bei dem 
Standesamt als „zwitterhaft* anzumelden. Der Vorname soll 
möglichst ein für beide Geschlechter passender sein, kann aber 
auch ein männlicher oder weiblicher sein. 

§ 2. Zur Anmeldung derartiger Kinder sind insbesondere 
der Arzt oder die Hebamme verpflichtet, welche der Geburt 
beigewohnt oder nachträglich das Kind untersucht haben. 

$ 3. Die gleiche Verpflichtung trifft die Hebamme oder 
den Arzt, welche solche angeborene Mißbildung der Ge- ` 
schlechtsteile bei einem noch nicht 21 Jahre alten Menschen 
feststellen. 

§ 4. Dem Kreisarzt sind die Anmeldungen unter $$ 1, 
2 und 3 mitzuteilen. Er hat das Kind zu untersuchen und 
falls er die Mißbildung nicht für erheblich genug erachtet, die 
Entscheidung des Ministeriums herbeizuführen. Anderenfalls 
zeigt er dem Standesbeamten an, daß keine Bedenken gegen 


die Eintragung bestehen, worauf das Geschlecht im Geburts- 
register als zwitterhaft zu bezeichnen ist. Die Entscheidung 
des Ministeriums erfolgt nur nach Anhörung eines Spezial- 
arztes. 


85. Ist der gesetzliche Vertreter des Zwitters mit der 
Anmeldung als „zwitterhaft“ seitens des Arztes oder der 
Hebamme nicht einverstanden, so steht ihm gegen diese An- 
meldung das Beschwerderecht an das Ministerium zu, welches 
nach Erhebung eines Gutachtens seitens eines Spezialarztes, 
nach Anhörung des anmeldenden Arztes oder der Hebamme 
sowie des Kreisarztes entscheidet. Die Beschwerde ist bei dem 
Standesbeamten einzulegen, der erst nach der Entscheidung des 
Ministeriums die Eintragung vorzunehmen hat. 


86. Nach erfolgter Großjährigkeit des Zwitters hat dieser 
oder im Falle seiner Geschäftsunfähigkeit sein gesetzlicher Ver- 
treter innerhalb zwei Jahren sich zu entscheiden, ob er als 
männlichen oder weiblichen Geschlechts, im Geburtsregister 
eingetragen werden soll, und einen entsprechenden Antrag auf 
Berichtigung bei dem Standesbeamten zu stellen. Die Frist 
zur Entscheidung und Anmeldung kann auf Antrag des zur 
Anmeldung Verpflichteten durch die vorgesetzte Behörde des 
Standesbeamten bis zum 25. Lebensjahr verlängert werden. 


$ 7. Der Anmeldung der getroffenen Wahl ist ein Zeugnis 
eines Spezialarztes beizufügen, daß die getroffene Wahl nicht 
ungerechtfertigt erscheint. Der Arzt soll das Zeugnis nur aus- 
nahmsweise und nur dann verweigern, wenn die getroffene 
Wahl eine offenbar unsachgemäße ist. Der Umstand, daß der 


‚ Zwitter die dem gewählten Geschlecht nicht entsprechenden 


Geschlechtsdrüsen besitzt, bildet allein keinen Grund zur Ver- 
weigerung des Zeugnisses. 

‘8 8. Macht der zur Anmeldung Verpfliehtete glaubhaft, 
daß er nicht in der Lage ist, das in $ 7 erwähnte Zeugnis vorzu- 
legen, so steht dem Ministerium die Prüfung zu, ob die ge- 
troffene Wahl nicht ungerechtfertigt erscheint. Die Entschei- 
dung erfolgt nur auf Grund des Gutachtens eines Spezialarztes 
und des Kreisarztes. 

$ 9. Ähnlich wie nach $ 8 wird verfahren, wenn der 


H%* 


aa. GE Se 


Verpflichtete überhaupt es versäumt, in der gesetzlichen Frist 
die Wahl zu treffen und die Anmeldung zu machen. 


Der Entscheidung des Ministeriums muß jedoch eine zwei- 
malige Aufforderung des Standesbeamten an den Verpflichteten 
unter ausdrücklicher Androhung der Entscheidung seitens des 
Ministeriums vorangehen. 


$ 10. In den Fällen der Entscheidung seitens des Ministe- 
riums kann der Zwitter zur körperlichen Untersuchung seitens 
der vom Ministerium dazu bestimmten Ärzte gezwungen 
werden. 


$ 11. Die Berichtigung der Bezeichnung „zwitterhaft“ im 
Geburtsregister in „männlich“ oder „weiblich“ erfolgt auf 
Grund der Anmeldung des Verpflichteten, falls er zugleich das 
in $ 7 genannte ärztliche Zeugnis vorlegt, oder auf Grund der 
Entscheidung des Ministeriums. Zugleich ist nötigenfalls der 
Vorname zu berichtigen. 


§ 12. Eine spätere Änderung des Geschlechts ist nur auf 
Antrag des Betroffenen oder seines gesetzlichen Vertreters zu- 
lässig und nur dann, wenn durch übereinstimmendes Gutachten 
dreier Ärzte, darunter des Kreizarztes und mindestens eines 
Spezialarztes, bezeugt wird, daß die früher getroffene Wahl 
ungerechtfertigt erscheint und die Annahme des anderen Ge- 
schlechts sachgemäß ist. 


Das Gutachten hat genau die für die Änderung sprechenden 
Gründe anzugeben. 


Über den Antrag entscheidet das Ministerium. Falls der 
Antrag für begründet erklärt wird, erfolgt die Berichtigung 
des Standesregisters auf Grund der Entscheidung des Ministe- 
riums. i 


$ 13. Bis zum 21. Lebensjahr des Zwitters bestimmt 


sein gesetzlicher Vertreter, ob er als Knabe oder Mädchen 
erzogen werden soll. 


§ 14. Mit der Eintragung des bestimmten Geschlechts 
(männlich oder weiblich) hat die eingetragene Person alle die 


dem eingetragenen Geschlecht entsprechenden Rechte und 
Pflichten. | 


$ 15. Die Ehemündigkeit des Zwitters tritt mit dem Zeit- 
punkt ein, in dem ein bestimmtes Geschlecht in das Geburts- 
register eingetragen worden ist. 


Kapitel VIII: Frühere und ausländische Gesetze. 


Das römische Recht bestimmte, daß Zwitter dem bei ihnen 
vorherrschenden Geschlecht zuzuzählen seien. 

L.10 D. I, 5: Ulpianus libro primo ad Sabinum quaeritur: 
hermaphroditum cui comparamus? et magis puto eius sexus 
aestimandum, qui in eo praevalet. 

Die Praktiker des 17. und 18. Jahrhunderts stellten als 
gemeinrechtlichen Grundsatz auf, daß Zwitter Recht und 
Pflicht hätten, sich für das Geschlecht zu entscheiden, dem 
sie angehören wollten.*) 

Das frühere Gesetzbuch des Königreichs Sachsen nahm 
die Bestimmung des römischen Rechts auf.**) 

‘ Das bayerische Landrecht bestimmte in Teil I, 3, 2, N. 2, 
daß Zwitter dem Geschlecht zugezählt werden, „welches nach 
Rat und Meinung der Verständigen vordringt, falls sich aber 
die Gleichheit hierin bezeigt, sollen sie selbst eines erwählen 
und von dem Erwählten sub poena falsi nicht abweichen“. 

Das preußische Landrecht enthielt hinsichtlich der Zwitter 
folgende Bestimmungen: Tit. I, T. 1: 

8 19. Wenn Zwitter geboren werden, so bestimmen die 
Eltern, zu welchem Geschlecht sie erzogen werden sollen. 

$ 20. Jedoch steht einem solchen Menschen nach zurück- 
gelegtem 18. Jahre die Wahl frei, zu welchem Geschlecht er 
sich halten will. 

$ 21. Nach dieser Wahl werden seine Rechte künftig be- 
stimmt. | 


*) Vergl. Weiske, Rechtslexikon. Leipzig, Otto Wiegand, 1843, 
Ba, IV, S. 679. (Weiske stellt allerdings in Frage, ob eine entschiedene 
derartige Praxis vorhanden gewesen sei und meint, sie würde schwerlich 
noch zur Anwendung kommen.) 

*) Vergl. Siebenhaar-Siegmann, Kommentar zu diesem 
Gesetz, S. 86. | 


— 70 — 


§ 22. Sind aber die Rechte eines Dritten von dem Ge- 
schlecht eines vermeintlichen Zwitters abhängig, so kann 
ersterer auf eine Untersuchung durch Sachverständige antragen. 


$ 23. Der Befund der Sachverständigen entscheidet auch 


gegen die Wahl des Zwitters und seiner Eltern. 

Eine Bestimmung, wie sie $ 22 vorsieht, dürfte heute nach 
deutschem Recht, wo Rechte Dritter je nach dem Geschlecht 
nur sehr selten berührt werden, überflüssig sein, namentlich 
. wenn man nach meinem obigen Vorschlag bei der Wahl des 
Geschlechts seitens des Zwitters die Vorlage eines ärztlichen 
Zeugnisses erfordert, daß die Wahl nicht offenbar unsach- 
gemäß ist. 

Das österreichische, italienische, französische und russische 
Recht enthält keine Bestimmungen für die Zwitter, ebensowenig 
das neueste Zivilgesetzbuch Europas, das schweizerische vom 
10. Dezember 1907. . 





IN 


la 
N 


Nie 


Carl Marhold Verlagsbuchhandlung in Halle a. S. 


Bratz, Ass.-Arzt Dr., Die Behandlung der Trunksüchtigen unter dem 
Bürgerlichen Gesetzbuch. M. 2,40. 


Braunschweig, M., Das dritte Geschlecht (Gleichgeschlechtliche Liebe). 
Poma zum homosexuellen Problem. Zweite vermehrte Auflage. 
. l —. 


Bresler, Oberarzt Dr. Joh., Die Rechtspraxis der Ehescheidung bei 
Geisteskrankheit und Trunksucht seit Inkrafttreten des Bürgerlichen 
Gesetzbuches. M. 1,50. | 


— Die Simulation von Geistesstörung und Epilepsie. M. 6,—. 
Ekstein, Dr. E., Die puerperale Infektion in forensischer Beziehung. M. 0,60. 


Frese, Dr., Oberjustizrat in Meißen. Die Prinzessin Luise von Sachsen- 
Coburg und Gotha, geb. Prinzessin von Belgien. Eine forensisch- 
psychiatrische Studie. M. 2,—. | 


MOL LOBEN, Prof. Dr. K., Die strafrechtliche Begutachtung der Trinker. 


I e " 


Hoche, Geh, Hofrat Prof. Dr., Notwendige Reformen der Unfallversicherungs- 
gesetze. M. 0,75. 


König, Dr., Über Abtreibung der Leibesfrucht vom gerichtsärztlichen 
Standpunkt. M. 1,20. 


Laquer, Sanitätsrat Dr. L., Der Warenhausdiebstabl. M. 1,—. 


Lombroso, Prof. Cesare, Turin. Neue Verbrecherstudien. Autoris. Ueber- 
setzung aus dem Italien. von. Dr. Ernst Jentsch. Mit 35 Abbildungen 
im Text und auf 2 Tafeln. M. 4,50, in Leinwand M. 5,50. 


Moeli, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. C., Die in Preußen giltigen Bestimmungen 
über die Entlassung aus den Anstalten für Geisteskranke. M. 1,20. 


a Med.-Rat Dr. P., Die Unterbringung geisteskranker Verbrecher. 


’ 


Nalgö, Privatdozent Dr. J., Die forensische Bedeutung der sexuellen Per- 
versität. M. 1,20. 


Schultze, Prof. Dr. E., Entlassungszwang und Ablehnung der Wiederauf- 
hebung der Entmündigung. M. 0,80 


— Die für die gerichtliche Psychiatrie wichtigsten Bestimmungen des 
en Gesetzbuches und der Novelle zur Zivilprozeßordnung. 
. 1,80 


— Wichtige Entscheidungen auf dem Gebiete der gerichtlichen Psychiatrie. 
Aus der juristischen Fachliteratur der Jahre 1901—1907 zusammen- 
gestellt. 7 Hefte. à M. 1,—. 


Siefert, Dr. E., Über Geistesstörungen der Strafthaft mit Ausschluß der 
Tl roopu der Untersuchungshaft und der Haftpsychosen der Weiber. 


I 
Wulffen, Staatsanwalt Dr. Erich, Dresden. Kriminalpsychologie und 
Psychopathologie in Schillers Räubern. 80 Seiten. M. 1,20. 


Wyler, Dr. jur. M., Beiträge zu einem Grundriß des vergleichenden 
Irrenrechts. M. 2,—. 


— Über die Garantien der Freiheitsrechte bei den in Anstalten befindlichen 
oder unterzubringenden Geisteskranken. M. 1,30 


Carl Marhold Verlagsbuchhandlung in Halle a. S. 





Von dem 
Anfang Januar 1907 verstorbenen angesehenen Forscher und Arzte 


Dr. Paul Julius Möbius, Leipzig 


erschienen in meinem Verlage die folgenden, tür jeden Gebildeten 
interessanten und verständlichen Schriften: 


Ueber den Kopfschmerz. 


Preis M. 1,— 


„Eine geistreiche medizinische Causerie des bekannten Nervenarztes, die 
nicht nur für Aerzte, sondern auch für das gebildete Laienpublikum ge- 
schrieben ist.“ Wiener Mediz. Wochenschrift. 


Geschlecht und Unbescheidenheit. 


Beurteilung des Buches von O. Weininger „ Ueber Geschlecht und Charakter“. 
3. Auflage. — Preis M. 1,— 


„Die Schrift ist so reich an Gedanken, daß sie Be für den wertvoll ist, 
der sich um Weininger nicht bekümmert.“ Magdeb. Ztg. 








Ueber den physiologischen 
Schwachsinn des Weibes. 


Neunte vermehrte und veränderte Auflage. 
Preis M. 1,60. 


Es erübrigt sich, Preßstimmen, die zu Hunderten vorliegen, über dieses 
bekannteste und meistbekämpfte Buch des Gelehrten anzuführen, welches zu 
europäischer Berühmtheit gelangt ist. Mehr und mehr haben auch die 
Gegner anerkennen müssen, daß die Schrift soviel ernste Mahnungen und Tat- 
sachen bringt, daß sie als eine der wichtigsten über das Grundproblcm der 
Frauenfrage gelten muß! Ein glänzend geschriebenes, fesselndes Buch! 


Ueber Robert Schumanns Krankheit. 


Preis M. 1,50. 


„Unter den zahlreichen Beiträgen gelegentlich der Schumannfeier wohl 
der interessanteste. Jedermann wird die Schrift mit Interesse lesen; der geringe 
Preis steht in gar keinem Verhältnis zu ihrem Werte.“ 

Rhein. Musik- und Theater-Zeitung. 
„Die Broschüre wird allen Verehrern Schumanns die Gestalt des merk- 
würdigen Mannes nur noch sympathischer machen.“ Musikblätter, Wien. 


Ueber Scheiiels Krankheit. 


Mit einem Anhang: 
Kritische Bemerkungen über Pathographie. 
Preis M. 1,— 


Hieynemann'schs Buchdruckerei, Gebr. Wolt, Halle a. 3 





Der Banklehrling Karl Brunke 
aus Braunschweig. 


Sanıtätsrat Dr. Roth, 
Stadtphysikus und Gerichtsarzt in Braunschweig, 


und 


Medizinalrat Dr. Gerlach, 
Direktor der Herzoglichen Heil- und Pflegeanstalt in Königslutter. 





Halle a. S. 
Carl Marhold Verlagsbuchhandlung 
1909. 


Juristisch - Psychiatrische 


Grenzfragen. | 
Zwanglose Abhandlungen. 
Herausgegeben von 
Geh. Justizrat Prof. Dr.jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr.med. A. Hoche, r 


Halle a. S. Freiburg i. B, , | ‘i 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lublinitz i. Schles. 


VII. Band, Heft 2. 








Der Banklehrling Karl Brunke aus Braunschweig. 


Von 


Sanitätsrat Dr. Roth, 
Stadtpbysikus und Gerichtsarzt in Braunschweig, 


und 


Medizinalrat Dr. Gerlach, 
Direktor der Herzoglichen Heil- und Pflege-Anstalt in Königslutter. 


Am 21. März 1906 wurde vor der I. Strafkammer des 
Landgerichts in Braunschweig gegen den Banklehrling Karl 
Brunke wegen Tötung zweier Mädchen (und wegen Unter- 
schlagung) verhandelt. Von juristischer sowohl wie von ärzt- 
licher Seite war schon damals eine den Akten entsprechende 
Schilderung der Tat und des Täters zu veröffentlichen beab- 
sichtigt. - Ausgeführt indessen konnte diese Absicht erst jetzt 
werden, weil die Strafakten monatelang nicht zu erhalten 
waren.*) | | | 
Brunke ist am 24. Juli 1887 als vierter und jüngster 
Sohn des Schlossermeisters Brunke geboren. Der Vater starb 
1895 an Herzschlag. Er soll, wie von verschiedenen Seiten 
angegeben wird, viel getrunken haben. Von anderen wird dies 
bestritten. Der Hausarzt Dr. B. glaubt, daß er ein eigentlicher 
Trinker nicht gewesen ist. Die Mutter ist nach der Angabe 
des Dr. B. früher gesund, aber vergnügungssüchtig gewesen. 
Nach dem plötzlichen Tode des Mannes, durch den die Familie, 
die gut zu leben gewohnt war, in finanzielle Bedrängnis kam, sei 
sie nervös, sehr aufgeregt geworden und habe öfters hysterische 


*) Die juristische Abhandlung ist kürzlich im Pitaval der Gegenwart 
erschienen: „Der Banklehrling Karl Brunke aus Braunschweig.* Erster 
Staatsanwalt, Oberlandesgerichtsrat Peßler, Braunschweig. 


1# 


u A a 


Anfälle mit Schreikrämpfen gehabt. Sie ist kurz nach Brunkes 
Verhaftung wegen Kuppelei inhaftiert worden, zeigte im Ge- 
fängnis groe Aufgeregtheit, dagegen war sie intellektuell 
durchaus normal. Sie entzog sich einer Bestrafung durch 
Flucht ins Ausland. 

Nach Angaben der Mutter, die auch von Dr. B. bestätigt 
werden, sind die drei Geschwister Brunkes ebenfalls nervös. 

Brunke selbst hat als Kind an Englischer Krankheit ge- 
litten, ferner soll er, abgesehen von gewöhnlichen Kinder- 
krankheiten, eine Zeitlang magenleidend gewesen sein. In. der 
letzten Zeit wird er von allen Bekannten als aufgeregt und 
überspannt geschildert. 

Er hat erst die mittlere Bürgerschule und dann die Ober- 
realschule besucht. Nach den Ausführungen des Direktors, der 
im Namen des Lehrerkollegiums berichtet, hat er „in der 
Sexta ziemlich mangelhaft angesetzt, ist in Quinta sitzenge- 
blieben, hat aber dann seinen Schulkursus regelmäßig durch- 
gemacht und hat jedenfalls in den letzten beiden Jahren viel 
Fleiß und Energie entwickelt, um alle Lücken auszufüllen. 
Dies ist ihm auch gelungen, abgesehen von den Fremd- 
sprachen, für die er weder besondere Begabung noch be- 
sonderes Interesse hatte. Sonst ist er durchaus als gut begabt 
zu bezeichnen.“ Ostern 1904 wurde er mit dem Zeugnis für 
den einjährig-freiwilligen Dienst entlassen. Er hat bei seinem 
Abgange im Betragen, Fleiß und Aufmerksamkeit „Gut“ er- 
halten, ferner in den Leistungen: „Sehr gut“ im Zeichnen und 
Turnen, „Gut“ in Religion, im Deutschen, in der Mathematik, 
Chemie und Naturbeschreibung, sonst „Genügend“ bis auf die 
Fremdsprachen, in welchen seine Leistungen bis zuletzt 
zwischen „Genügend“ und „Mangelhaft“ schwankten. Brunke 
hat niemals eine erhebliche Schulstrafe erhalten. 

Nach Ansicht der Lehrer hat er im allgemeinen einen 
normalen Eindruck gemacht, war gütlichem Zuspruch zugäng- 
lich, zeigte dagegen bei schärferer Behandlung starken Un- 
willen, wußte diesen aber meist äußerlich zu beherrschen. 
Sein letzter Klassenlehrer, der ihn am besten kannte, erklärte 
in einem Sonderbericht, daß ihm mehrere Jahre nichts an ihm 
aufgefallen sei. In Untersekunda zeigte er dann ein eigen- 


Us 


1.) 
tan: 


1 
ı 
Ni 
y 








Re: en 


artiges aufgeregtes Wesen. „Man merkte, daß er sich sehr 
anstrengte, um sein Ziel zu erlangen. Seine Leistungen in 
Geschichte und Deutsch wurden sichtlich besser, er gab gute 
Antworten, die von Nachdenken zeugten. Von einer Ein- 
wirkung unverdauter philosophischer Lektüre war weder in 
seinen Aufsätzen noch in seinen Antworten etwas zu merken.“ 
Im übrigen spricht sich dieser Lehrer analog dem gemein- 
samen Urteil des Lehrerkollegiums aus. 

Seine früheren Mitschüler hatten nach der Angabe des 
Direktors den Eindruck, daß man sich in acht nehmen mußte, 
ihn zu reizen, weil etwas Gewalttätiges in ihm steckte. 

Als er bei der Marine, bei der er zuerst die Laufbahn eines 
Schiffsingenieurs zu ergreifen beabsichtigte, nicht angenommen 
wurde, ergriff er das Bankfach. Sein Lehrberr erklärt: „Ich 
war sehr zufrieden mit ihm bis auf Kleinigkeiten, so daß ich 
ihm in der letzten Zeit sogar einen Teil der Kasse anvertraut 
habe. Er war besonders ein schneller Arbeiter, allerdings nicht 
ganz zuverlässig, insofern sich manchmal Flüchtigkeiten ein- 
schlichen.* Er habe ein offenes, freundliches, freies Wesen gehabt, 
sei sehr strebsam gewesen und habe sich durch Selbststudium 
und bessere Literatur weiter zu bilden gesucht. Etwas über- 
spannt sei er wohl gewesen, das schließe er aus dem at 
daß er Schopenhauer gelesen habe. 

Letzteres wird sowohl von seinen Bekannten wie von ihm 
selbst bestätigt. Schon auf der Schule hat er sich viel mit 
philosophischen Schriften beschäftigt, so mit Schopenhauer, 
Kant (von diesem fanden sich unter seinen Büchern zehn 
Schriften vor), C. T. A. Hoffmann; und er ist bereits als 
Sekundaner dazu übergegangen, sich literarisch zu betätigen. 
Dies hat er bis zuletzt mit großem Eifer fortgesetzt. Er hielt 
sich für berufen, als Vorkämpfer für die freie Liebe aufzu- 
treten, die Verachtung des Lebens zu predigen und den Selbst- 
mord zu verteidigen. Er verfertigte lyrische Gedichte, die er aller- 
dings alle verbrannt hat, ferner mehrere Dramen. Er hat eine 
hohe Meinung von diesen seinen Leistungen. Wie Richard 
Wagner bahnbrechend vorgegangen, hoffte er durch seine 
Dramen das sogen. deutsche Versmaß wieder an der Bühne 
zu Ehren zu bringen. Von seinen Dramen hat er das eine 


a ee 


„Elternlos“ an das Königl. Schauspielhaus und das Lessing- 
theater in Berlin sowie an das hiesige Hoftheater einge- a 
schickt. Auch hat er sich an einem von der Gartenlaube aus- u 
geschriebenen Preisgedicht „Moltkegedicht“ beteiligt. Seine 
Dramen — in dem „Elternlos“ behandelt er das tragische Ge- 
schick eines in Blutschande gezeugten Mannes — sind schwulstig, : 
unklar. Auch die Gedichte sind sowohl in Bezug auf Form wie en 
Inhalt sehr mäßig. ie 
Mein Traum. An 

Ich lag im Zwiespalt der Gefühle | 

Und strebte vergebens nach einem Entschlusse. i 

Da kam des Abends schläfrige Kühle wy 

Und reichte den Geist dem Traume zum Kusse. un 
„Gefunden!“ so riefen die beiden YVertrauten, gl 


„Gefunden!“ erklang es in lieblichen Lauten. ty 

Plötzlich stand ich vor einem Berge, dk 
Der steil in neblichte Höhen führte, be 
Mich umgaben streitende Zwerge, T3 
Deren Wut mein Gleichmut schürte. Kir 
Ahnend starrte mein Blick nach oben, | it 
Er haßte der Menschen .neidisches Toben. ii 


Der Nebel wich, enthüllte ein Weib, il 
Das sehnend die Arme nach mir streckte. | M 
„Mein sollst du sein“, du göttliches Weib, Hl 
Das von mir die schmutzigen Triebe schreckte! in 
Ich stürmte hinauf, verfolgt von der Meute k 
Der sinnlich erregten menschlichen Leute. 

Schon lief ich allein den mühsamen Weg, t 
Da tat sich ein Abgrund vor mir auf. li 


Nicht zaudern, es gilt — es schwankte der Steg, y 
Da hemmte der Zweifel den siegenden Lauf. ti 
Er stieß mich zurück — ich stürzte hinab, { 
Der Zweifel an mir wurde mein Grab!*) i 


Das Leben hatte für ibn keinen Wert, und besonders in | 
den letzten Jahren spielt er viel mit Selbstmordgedanken, 
*) Dieser Wortlaut entspricht genau dem Original. In die juristische 


Veröffentlichung (Peßler, 1. c.) haben sich einige sinnentstellende Druck- 
fehler eingeschlichen. 


ee 


allerdings immer nur für den Fall, daß sich seine Hoffnungen 
nicht erfüllen sollten. So schrieb er im August 1905 an seinen 
Bruder: „Ich habe die Aussicht einige Hundert Mark zu be- 
kommen und berühmt zu werden oder mich zu erschießen.* 
„Du weißt, der Selbstmord ist mir dasselbe, wie für andere 
eine Heirat.“ Bereits im Mai 1905 hatte er auch an den 
Bruder geschrieben: „Ich bin nur gespannt, wann ich mir 
eine Kugel durch den Kopf schieße. Diese tröstende Aussicht 
ist mein Glück.“ 2 

Eine große Rolle spielt bei ihm das sexuelle Leben. Be- 
reits mit etwa zehn Jahren wurde er von einem älteren Be- 
kannten zur Onanie verführt, die er nach seiner eigenen An- 
gabe sehr stark betrieb. Mit 16 Jahren suchte er schon 
geschlechtlichen Verkehr mit Frauenspersonen, jedoch will er 
niemals eine ordentliche Erektion gehabt haben, sondern er 
habe nur mit Zuhilfenahme von mechanischen Apparaten den 
Beischlaf ausüben können. Dies wird aber von der Zeugin D. 
entschieden bestritten. Diese will im Sommer 1905 acht- bis 
zehnmal mit ihm koitiert haben, von einer Impotenz habe sie 
aber nie etwas gemerkt, er habe auch keine mechanischen 
Apparate gebraucht, nur habe er sich jedesmal einen Kondom 
übergezogen. Die Zeuginnen E. und B. (Winter 1904, Februar 
1905 und Folgezeit) geben nur an, daß sein Glied steif gewesen 
sei, die erstere gibt auch an, er sei in ihre Scheide einge- 
drungen, die letztere hat ihn nicht hierzu kommen lassen. 
Auch diese beiden erwähnen nichts von Apparaten. 

Zweifellos ist es aber, daß er sich wegen seiner „Impo- 
tenz“ sehr viel Gedanken gemacht hat; er bezeichnet diese als 
das fürchterlichste Leiden, das er sich denken könne. Er las 
nach seiner Angabe viele Schriften über sexuelle Verhältnisse, 
begab sich auch in ärztliche Behandlung, und als diese nicht 
den gewünschten Erfolg hatte, ließ er sich die mechanischen 
Apparate von Gassen in Köln kommen. Sie kosteten 150 M. 

Diese große Ausgabe führte ihn dazu, sich an der ihm 
anvertrauten Kasse seines Chefs zu vergreifen. Er hat dann 
immer wieder Eingriffe in dieselbe getan, hauptsächlich für 
sich selbst, aber auch um seines Bruders Schulden (ca. 80 M.) 
zu bezahlen und seine Mutter und Schwester mit geringfügigen 


ur s 


Beträgen zu unterstützen. Die Veruntreuungen beliefen sich 
schließlich auf etwas über 1000 M. Er hoffte, durch seine 


schriftstellerischen Arbeiten in den Besitz von Geldmitteln zu 


kommen und damit jene zu decken. 


Er hat sehr viel geraucht, Spirituosen hat er eine Zeitlang 
vollständig gemieden, in den letzten Monaten hat er die Ab- 
stinenz wieder aufgegeben. 


Inzwischen hatte er, etwa Anfang September, zwei junge 
Mädchen, die 19jährige Martha und die 18jährige Alma Haars, 
kennen gelernt. In der Zeitung fand er nämlich eine Notiz, 
daß ein junges Mädchen Klavierunterricht wünsche. Da er 
vermutete, daß es sich damit nur um Anknüpfung eines 
„Techtelmechtels* handele, erbot er sich, die Stunden umsonst 
zu erteilen, obgleich er zum Klavierlehrer natürlich eigentlich 
gar nicht befähigt war. Er wurde aufgefordert, sich bei der 
Familie Haars vorzustellen und wurde richtig als Klavier- 
lehrer angenommen. Die Stunden erteilte er abends in der 
Wohnung seiner Mutter, nach dem Unterricht begleitete er die 
Mädchen nach Hause. Hieraus entwickelte sich bald ein 
freundschaftliches Verhältnis zwischen ihnen, vorzugsweise mit 
der älteren Martha. „Unsere Gedankenwelt war eine mehr 
verwandte und wir ergänzten uns gegenseitig in unseren An- 
schauungen.“ Martha ist ebenso wie er von romantischen 
Ideen erfüllt, dichtet, will nur eine bedeutende Frau werden, 
sonst lieber sterben. Die Geringschätzung des Lebens ist bei 
ihr fast noch stärker ausgesprochen als bei Brunke. Dieser 
hatte den etwaigen Selbstmord nur für den Fall ins Auge ge- 


faßt, daß seine Dichtungen ihm nichts einbrächten und so die 


Entdeckung seiner Unterschlagung unausbleiblich wurde, wäh- 
rend sie anscheinend ohne besonderen Grund schon früher 
einmal, wie sie Brunke erzählt hat, versucht hatte, mittels 
Morphium sich das Leben zu nehmen. 


Das Verhältnis Brunkes zu Alma war nicht so eng, sie 
wurde von ihm nur als Schwester Marthas, wie er sich aus- 
drückte, „als eine Art Anhängsel“ respektiert. Dagegen hing 
diese mit schwärmerischer Liebe an der Schwester. Ihr Vater 
gibt an: „Beide haben von Anfang an eine unglaubliche Liebe 


is HG, a 


zueinander gehabt; was die eine tat, daran beteiligte sich die 
andere, sie waren fast unzertrennlich.“ 


Bei ihren Beziehungen zu Brunke kommt das geschlechtliche 
Moment gar nicht in Frage. Letzterer bestreitet auf das 
energischste, jemals anders als in der anständigsten Weise mit 
ihnen verkehrt zu haben. Bei der Sektion fand sich dement- 
sprechend auch bei Martha ein unverletzter Hymen vor. Der 
bei Alma vorgefundene Einriß wird durch den ärztlicherseits 
wegen einer Uterusverlagerung eingelegten Ring erklärt. 


Es hat sich nicht einmal um eine eigentliche Liebelei ge- 
handelt. Brunke betrachtete das Verhältnis als rein freund- 
schaftlich. Ein Gedicht, das ihm Martha zusandte mit der 
Überschrift „Gefunden!“, beantwortete er mit einem Gedicht: 
„Mein Traum“ (s. Seite 6), mit dem er sagen will, daß er sie 
nicht lieben könne; auch hier ist der Schluß wohl auf seine 
Impotenz gemünzt. 


Als Brunke gelegentlich erwähnte, daß er entschlossen sei, 
sich das Leben zu nehmen, wenn seine Hoffnungen fehl- 
schlügen, wurde dieser Gedanke von Martha Haars lebhaft 
aufgenommen, und er mußte ihr versprechen, sie mit aus dem 
Leben zu nehmen, wenn er stürbe. „Der Tod wäre ja doch 
das Schönste.“ Es wurde dabei verabredet, daß er mit einem 


mehrläufigen Revolver zweimal direkt aufs Herz schießen 
‚sollte. 


Nun war Martha mit einem Russen, Malkilm, der hier 
auf der Hochschule studierte, verlobt, dieser schrieb ihr plötz- 
lieh Mitte Oktober aus Rußland, sein Vater habe ihm ein 
„schreckliches Geheimnis“ enthüllt, welches ihm unmöglich 
mache, jemals zu heiraten. Als dieser Brief eintraf, befand 
sich Martha auswärts zu Besuch. Alma schrieb ihr: „Komm 
sobald als möglich, weiter will ich Dir nichts schreiben.“ 
Martha äußerte sofort den Verdacht, Malkilm habe ihr ab- 
geschrieben. Sie war etwas aufgeregt und schrieb um deut- 
lichere Mitteilung. Am folgenden Tage, den 14. Oktober, kam 
denn auch die Bestätigung ihres Verdachts. Martha war etwas 
niedergeschlagen und gedrückt, wollte es aber äußerlich nicht 
zeigen. Am 15. Oktober sagte sie in scherzhaftem Tone, wenn 


— 10 — 


der Russe sich totgeschossen habe, wolle sie ihn mit ihrem 
Taschentuch (das schwarz umrändert war) betrauern. Mittags 
bekam sie wieder einen Brief von Alma, daß sie sofort kommen 
möchte. Brunke sei schon am Sonnabend dagewesen. Darauf- 
hin wurde Martha sehr aufgeregt und fuhr, ohne sich halten 
zu lassen, nachmittags plötzlich nach Hause. Hier drang sie 
in Brunke, schon an diesem Tage (15. Oktober) sein Versprechen 
einzulösen und mit ihr zu sterben. Er ging aber nicht darauf 
ein, da er trotz mehrerer Ablehnungen immer noch auf einen 
Erfolg seiner literarischen Arbeiten hoffte, und schlug vor, bis 
zum 25. Oktober zu warten, da bis dahin die Entscheidung 
wohl getroffen sein würde. Wenn bis zum 17. Oktober (an 
dem Alma Stunde hatte) schon ungünstige Nachrichten einge- 
troffen seien, sollte schon an diesem Tage die Tat ausgeführt 
werden. Bei dieser Gelegenheit erklärte ihm auch Alma zum 
ersten Male, daß sie ihre Schwester auch im Tode nicht ver- 
lassen wolle, und er mußte auch ihr versprechen, sie gleich- 
zeitig mit zu töten. An dem Abend gingen sie dann noch zu- 
sammen in die Spezialitäten. Am nächsten Tage erfuhr er 
sowohl die Ablehnung seines Dramas wie die seines Preis- 
gedichtes, und damit brachen alle seine Hoffnungen, seine Ver- 
untreuungen decken zu können, zusammen; er entschloß sich 
nun, wie bestimmt, am Dienstag, den 17. Oktober, den Plan 
auszuführen. Er traf alle Vorbereitungen, verbrannte in seiner 
Wohnung Brieischaften, Gedichte usw. Mittags beredete er 
seine Mutter, mit seiner Schwester abends ins Spezialitäten- 
theater zu gehen. An seinen Bruder in der Schweiz schrieb 
er: „Lieber Fritz! Sandte Dir gestern Deine Briefschaften. In- 
liegend der Pfandschein, hatte kein Geld, ihn einzulösen. Heute, 
Dienstag abend, erschieße ich mich mit zwei kleinen Mädchen. 
Lebe wohl. Dein Bruder Karl.“ Einem Freund in Stettin 
sandte er mehrere Bücher. Er erklärte später bei seiner Ver- 
nehmung gleich nach der Tat, „es sei ihm aus Angst vor der 
Tat den ganzen Tag über ganz übel gewesen, als ob er seinen 
Magen entleeren sollte.“ „Weil er ein gewisses Zittern, eine 
Angst nıcht überwinden konnte“, kaufte er sich eine Flasche 
Rotwein, die er im Geschäft nachmittags austrank. Er räumte 
sein Pult auf, schloß seine Bücher ab und nahm Notizbuch 


a Fr 


und Kladde mit sich, da in diesen seine Veruntreuungen nach- 
weisbar waren. (Er hat sie dann zu Hause verbrannt.) Schließ- 
lich nahm er noch 150 Mark aus der Kasse. Dann trank er 
noch mit seinen beiden Kollegen zwei Glas Wein im Automaten- 
restaurant und verabschiedete sich, da er nicht wiederkommen 
würde. Auf der Post schickte er durch Anweisung das Geld 
für Klaviermiete ab. Unterwegs traf er eine „Schülerliebe*. 
Auch von ihr verabschiedete er sich, indem er ihr in einem 
Juwelierladen einen Ring zum Andenken kaufte. Dem einen 
Kollegen, der ihn noch begleitete, schenkte er Zigarettentabak 
und zu Hause einige Bücher, sowie die Gassenschen Apparate, 
Der Mutter gab er das Theaterbillet und Geld. Dann ging 
‘er noch einmal fort und kaufte eine Browning-Pistole für 
40 Mark. Als er wieder nach Hause kam, war inzwischen 
ein Freund gekommen, der ihn abholen wollte. Ihm schenkte 
er seine Pfeife und entließ ihn. Nun kam Alma Haars. Er 
zeigte ihr den Pistolenkasten und ging dann mit ihr hinunter 
auf die Straße, wo Martha wartete. Als er ihr mitteilte, daß 
er entschlossen sei, war diese sofort bereit; nur wollten sie 
erst noch zu Hause das Korsett ausziehen, damit nicht etwa 
die Kugeln an den Stangen abgleiten könnten. Sie fuhren in 
einer Droschke hin; dabei waren sie sehr vergnügt und fröh- 
lich (wie auch der betreffende Kutscher bestätigt hat). Brunke 
wartete unten, Martha schrieb in ihrer Stube auf das Kuvert 
des Briefes von dem Russen einige Abschiedsworte an die 
Eltern. Mit dünnen, weißen Blusen angetan, kamen sie lachend 
und scherzend zurück und fuhren wieder nach der Brunke- 
schen Wohnung. Brunke holte noch aus einem benachbarten 
Restaurant zwei Flaschen Pommery, wobei er dort ein Glas 
Bier trank. Von dem Sekt tranken sie in der Brunkeschen 
Wohnung die eine Flasche aus, das erste Glas „auf das, was 
wir lieben“. Brunke selbst trank nach seiner Angabe wenig, 
da ihm Martha abriet, weil sonst seine Hand unsicher werden 
könnte. Sie gingen dann in eine nach hinten gelegene Kammer, 
die Schwestern schlossen die Türe ab. Von der zweiten 
Flasche tranken sie hier nur noch eine Kleinigkeit. Martha 
wollte zuerst an die Reihe kommen, aber Alma fürchtete, daß. 
Brunke vielleicht nach Marthas Tode der Mut ausgehen 


würde,*) und auf ihr Bitten wurde ihr der Vortritt gelassen. 
Sie setzte sich auf einen der beiden nebeneinander gestellten 
Sessel, Brunke stellte sich einen Schritt vor sie hin, zielte auf 
die Stelle, die sie vorher gezeigt hatte, und drückte mit abge- 
wandtem Gesichte los. Alma war sofort tot. Martha horchte 
an ihrer Brust, ob das Herz noch schlüge, Brunke mußte den 
Puls fühlen. Dann richteten sie gemeinsam die etwas zusam- 
mengesunkene Leiche etwas höher, wobei sie sahen, daß (ie 
Kugel wieder hinten herausgekommen war. Nun mußte Brunke 
noch einen zweiten Schuß abgeben, dann küßte Martha die 
Schwester, „Schwester leb wohl“, und setzte sich selbst in 
dem anderen Sessel zurecht. Brunke wollte erst noch einmal 
trinken, aber Martha bat, nur einen Schluck zu nehmen, zeigte 
ihm die Stelle, wohin er zielen sollte, ließ sich noch einmal 
sein Wort geben, daß er zweimal schießen wolle, und sah mit 
offenen Augen dem Schuß entgegen. Brunke gab die beiden 
Schüsse ab, auch Martha war sofort tot. 

Aber nun war bei Brunke, wie er bei seiner ersten Ver- 
nehmung angab, der Mut wie fortgeblasen. Bei späteren Ver- 
nehmungen hat er angegeben, er habe von draußen vorüber- 
gehenden Männern das Wort „Mutter“ gehört, und bei dem 
Gedanken an seine Mutter sei ihm der Mut ausgegangen, sich 
das Leben zu nehmen. Er steckte die geladene Pistole zu 
sich und lief fort, erst nach Osten zu, um nach der Buchhorst 
zu kommen, kehrte dann aber wieder um und lief nach Westen 
ın den Bürgerpark. Hier kam er an überschwemmtes Terrain. 
Zum Selbstmord hatte er keinen Mut mehr und so ging 
er nach der Polizei und stellte sich. 

Er wurde noch in derselben Nacht vom Ersten Staats- 
anwalt in Gegenwart des Gerichtsarztes vernommen. Dabei 
benahm er sich recht auffallend, nicht etwa wie einer, der 
eine so grausige Tat vollbracht hat, sondern überlegen, bla- 
siert, als ob die ganze Sache ganz selbstverständlich sei. Die 


*) Wie richtig diese ibre Ansicht war, geht aus einer späteren Ver- 
nehmung des Brunke hervor (5. Dezember), wo er sagt: „Wenn ich 
schließlich den Entschluß (mich zu erschießen) nicht ausgeführt habe, so 
hat dies andererseits daran gelegen, daß Martha Haars nicht mehr da 
war; denn in deren Gegenwart würde ich nie feige geworden sein.“ 


= a = 


Hände in den Hosentaschen saß er da, mit übereinander- 
geschlagenen Beinen, den Oberkörper öfters nach hinten über- 
legend und nach der Decke blickend. Zuerst überstürzte er 
sich etwas im Reden, wurde aber allmählich ruhiger. Seine 
Redeweise war etwas theatralisch. Von Reue war keine Spur 
zu merken. Es machte zuerst den Eindruck, als ob dies Ver- 
halten wohl die Wirkung des genossenen Alkohols sei; dem 
war aber nicht so, da er auch in der ganzen folgenden Zeit 
dasselbe Verhalten zeigte. 


Während der Untersuchungshaft zeigte er niemals eine 
Spur von Reue über die Tötung der beiden Mädchen. Er 
blieb dabei, daß dies nur ein „Freundschaftsdienst“ gewesen 
sei, den er mit seinem Ehrenwort versprochen habe und des- 
halb auch hätte leisten müssen. Er habe es um so unbedenk- 
licher getan, da er ja die feste Absicht gehabt hätte, auch 
sich selbst das Leben zu nehmen. Deshalb sei es ihm im 
Grunde auch einerlei gewesen, ob er eine oder beide erschoß. 
Bei der Tat selbst sei er vollständig ruhig gewesen. Er habe 
die Mädchen niemals dazu beredet, ihnen allerdings auch nicht 
abgeredet. Er sprach wiederholt seine Verwunderung aus, 
daß seine Handlungsweise als so etwas Unerhörtes hingestellt 
werde. Teli habe doch auch Geßler erschossen und werde: 
als Held gepriesen. 


Er selbst habe schon immer die Absicht art sich zu 
erschießen, sobald seine Unterschlagungen entdeckt worden 
wären, aus diesem Grunde habe er immer in seinem Pult ein 
Pistol liegen gehabt. Überhaupt kommt er immer wieder 
darauf, daß das Hauptmotiv zum Selbstmord für ihn die Un- 
möglichkeit war, seine Unterschlagungen länger zu verheim- 
lichen. Das ist auch der Punkt, wo sich bei ihm noch das 
Gewissen etwas regt; so äußert er sich: „Das Einzige, worüber 
ich mich ärgere, sind die Veruntreuungen. Das war eine Ge- 
meinheit, daß ich meines Prinzipals Vertrauen so betrogen 
habe.“ 


‚An der Idee, daß er das Zeug zu einem bahnbrecherden 
Schriftsteller in sich habe, daß seine Dramen und Ge- 
dichte bedeutende Leistungen seien, hält er weiter fest. Auch 


Zu SR a 


tut er sich nach wie vor auf seine philosophischen Kenntnisse, 
seine, Weltanschauung viel zu gute. | 

Erwähnenswert erscheint ein Brief, den er (am 16. Nov.) 
aus dem Gefängnisse heraus an seine Mutter schrieb: 

„Liebe Mutter! 

Meine Untersuchungshaft scheint sich noch einige oder 
viele Wochen auszudehnen. Das ist mir gar nicht so unange- 
nehm, weil ich das Leben eines Rentiers dabei führen kann. 
Wenngleich ich genügend zu lesen habe, steigt doch der 
Wunsch nach meiner Lieblingsbeschäftigung in mir auf. Wenn 
auch mein Klavier und meine Guitarre vergeblich darauf 
warten, daß ihnen die geliebten Weisen entlockt werden, so 
bleibt mir doch ein Genuß übrig, nämlich Geschichte und 
Theorie der Musik. (Es folgt jetzt die Bitte um Übersendung 
einiger Gegenstände und es heißt dann weiter:) Mein körper- 
liches Befinden ist ausgezeichnet, die Nahrung sehr schmack- 
haft und gut, sowie leicht verdaulich. Ich bin keineswegs ein 
an Leib und Seele gebrochener Mensch, sondern habe die 
Stimmung eines Soldaten, welcher in der Ferne seiner Lieben 
gedenkt. Liebe Mutter, mache Dir meinethalben keine Sorgen, 
ich bin nicht ein verlorener Sohn, keine Verbrechernatur, 
sondern vom Knaben plötzlich zum Manne geworden, durch 
meine törıchte Tat. Ich bin eine Eiche, die sich freut, dem 
Sturm zu trotzen. Mut, liebe Mutter, die Jahre schwinden, 
und einst stehe ich als freier Mensch vor dir als dein Sohn. 
Frage K., ob er mein Freund bleiben will oder ob er die 
Freundschaft eines Sträflings verabscheut. Was macht C., 
grüße auch ihn, ich stelle ihm dieselbe Frage wie an K. Doch 
nun Schluß. Ich bin kein Freund von vielem Schreiben, 
namentlich wenn mein Papier zu Ende geht. Grüße alle Be- 
kannten, sowie besonders meine Freunde K. und C. Sei auch 
Du sowie Schwester Berta herzlich gegrüßt von Eurem höhere 
Staatsweisheit studierenden Karl Brunke.“ *) 

Zu dem Schluß ıst zu bemerken, daß der Ausdruck 
„höhere Staatsweisheit studieren“ ein in Braunschweig üblicher 
Witz für „im Gefängnis sitzen“ ist. 

*) Der Brief wurde auf Antrag der Sachverständigen in der Haupt- 
verhandlung verlesen. 


m, Ah. 2 


Er hat außerdem noch eine Anzahl anderer Briefe ge- 
schrieben, die aber ohne Auffälligkeiten und durchaus sachlich 
gehalten sind. 


Der Gerichtsarzt konnte nicht zu der Überzeugung kom- 
men, daß sich Brunke bei Begehung der Tat in einem Zu- 
stande befunden hätte, durch welchen seine freie Willens- 
bestimmung ausgeschlossen gewesen wäre. Da aber anderer- 
seits Brunke auch nicht als geistig vollwertig betrachtet 
werden konnte, so erschien eine genaue Beobachtung in einer 
Anstalt geraten, und so wurde Brunke auf Antrag des Gerichts- 
arztes am 6. Dezember zur Beobachtung seines Geisteszustandes 
in die Herzogliche Heil- und Pflegeanstalt zu Königslutter ge- 
bracht. 

Vom 6. Dezember 1905 bis 17. Januar 1906 wurde Brunke 
dort beobachtet. Auf Grund dieser Beobachtungen erstattete 
der Anstaltsdirektor folgendes Gutachten *): 


Im Anfang seines Anstaltsaufenthaltes versuchte Brunke 
noch, als ein geistig allen Überlegener aufzutreten. Bald in- 
dessen verzichtete er auf das Benehmen, das doch bei niemand 
Beachtung fand. Er verhielt sich im sonstigen ruhig und ge- 
ordnet, fügte sich der Hausordnung und gab durch seine ge- 
samte Führung zu keiner ernsten Klage Veranlassung. Frei- 
lich, den Eindruck eines Menschen, auf dem das Bewußtsein 
einer doppelten Blutschuld lastet, machte er niemals. — Auf 
Fragen, gleichgültig welches Thema sie berührten, antwortete 
er stets bereitwillig. Allerdıngs muß zu dieser Angabe be- 
merkt werden, daß absichtlich die angeklagten Handlungen 
des p. Brunke nicht vor dem Ende der dritten Beobachtungs- 
woche berührt wurden. Die Unterredungen bezogen sich bis 
dahin nur auf Fragen, die für den Angeklagten völlig unver- 
fänglich waren. 

Aus diesen Unterredungen ergab sich mit voller Sicher- 
heit, daß Brunke in seiner Intelligenz nicht unternormal ist. 
Über sein Vorleben und seine Angehörigen war er vollständig 
orientiert, erzählte zusammenhängend, fließend und mit richtigen 


*) Die bereits angeführte, den Strafprozeßakten entnommene Anamnese 
ist fortgelassen. 


s He 


Zeitangaben seinen bisherigen Lebenslauf. Ebenso erschienen 
seine allgemeinen Kenntnisse seiner Vorbildung entsprechend. 
Nicht orientiert war er auffallenderweise über die zwischen 
Ostern und Pfingsten liegende Wochenzahl sowie über die Be- 
deutung des Pfingstfestes. Bei diesen Erörterungen trat übrigens. 
mehrfach das Bestreben Brunkes hervor, mit seinen damals 
noch nicht kritisierten philosophischen Kenntnissen zu glänzen. 
Daß diese philosophischen Ergüsse sachlich wertlos waren, sei 
nur nebenher erwähnt, da schwerlich jemand auf ein Minder- 
maß von Intelligenz aus der Tatsache schließen wird, daß ein 
18jähriger Mensch Kant und Schopenhauer nicht ver- 
standen hat. Nicht selten verleitete außerdem das Bestreben, 
philosophisch einwandsfreie Antworten zu geben, den p. Brunke 
zu einer schwülstigen Ausdrucksweise. So lautete z. B. seine 
Definition von Eis: „Ein in feste Form versetztes Wasser.“ 
Übrigens hörte diese Ausdrucksweise auf, als Brunke einge- 
sehen hatte, daß er mit seiner Philosophie hier doch keinen 
Eindruck mache. — Das ÖOrientierungsvermögen des Ange- 
klagten war einwandsfrei; ebenso ergaben die verschiedenen 
Prüfungen seiner Merkfähigkeit völlig genügende Resultate 
(Gegenstände, Zahlen, zusammenhanglose Wörter). Allerdings 
schienen die einzelnen Eindrücke nicht sehr fest zu haften. 
Die Fähigkeit, geistigen Besitz in verschiedene Form zu 
kleiden, war zweifellos befriedigend. Seine Urteile und Schlüsse 
endlich bei der Unterhaltung über Gegenstände, deren Be- 
herrschung nach seiner Vorbildung und seinem Lebensalter 
von ihm gefordert werden durfte, erschienen — wenigstens 
auf den ersten Blick — bedenklich nur bei der Erörterung des 
abstrakten Begriffes „Unrecht“ und bei der Besprechung 
seiner (d. h. des p. Brunke) literarischen Bedeutung. Bei der 
Erörterung von „Unrecht“ erging sich Brunke jedesmal in 
unklaren und abgeschmackten Redewendungen, und es mißlang 
trotz aller Versuche, den Genannten zu einer kurzen und prä- 
zısen Fassung des Begriffes zu bringen. Indessen sein unver- 
kennbar beharrliches Ausweichen bei diesen Versuchen und 
seine sonst ausreichenden intellektuellen Leistungen bewiesen 
oder machten zum mindesten sehr wahrscheinlich die Absicht 
des Angeklagten, jenes Wort ja nicht in einer Weise zu er- 


BEE, 


läutern, die ihm bei einer späteren Erörterung des von ihm 
begangenen Unrechts zum Verhängnis werden könnte. Die 
ungenügende Definition kann ich mithin nicht als Beweis un- 
zureichenden geistigen Könnens ansehen — weit eher als das 
Gegenteil. Über seine literarische Bedeutung trug Brunke wie 
früher so auch hier mit anscheinend unerschütterlicher Über- 
zeugung vor, daB er den Beruf und die Fähigkeiten in sich 
fühle, „ein ganzes Jahrhundert mit seinen Ideen zu befruchten“. 
So lautete seine, auch schriftlich von ihm fixierte Redewendung. 
Aus den bei den Akten befindlichen literarischen Ergüssen des 
Angeklagten kann meines Erachtens ein Unbefangener durchaus 
nicht zu dieser Wertschätzung des p. Brunke gelangen.*) Ich 
glaube, daB es entschieden zulässig ist, auszusprechen: Mit 
jenem Urteil über sich, sein Können und seine künftige Be- 
deutung befindet sich Brunke in einer Selbsttäuschung. Nicht 
zulässig dagegen würde es sein, wollte man aus dieser zuge- 
gebenen Tatsache folgern, daß das Urteilsrermögen des Ange- 
klagten demnach defekt, mit anderen Worten die höheren in- 
tellektuellen Leistungen des p. Brunke unzureichend seien. 
Denn diese Verwertung der zugegebenen Tatsache wäre nur 
angängig, wenn auch sonst sein Urteilsvermögen zu Bedenken 
veranlaßt hätte. Aber wie bereits oben erörtert, sind der- 
artige Bedenken abzulehnen. Indessen, es bleibt noch die 
weitere Möglichkeit zu erwägen, ob nicht die Selbstüberschät- 
zung des p. Brunke als Wahnidee anzusehen ist. Ich werde 
auf diese Frage, die nur unter Berücksichtigung der ganzen 
geistigen Persönlichkeit beantwortet werden kann, an späterer 
Stelle zurückkommen. 

Mit dem befriedigenden Ergebnis der Intelligenzprüfung 
standen nicht im Einklang die Gefühlsäußerungen des p. Brunke. 
Wie schon kurz erwähnt, machte er durchaus nicht den Ein- 
druck eines Menschen, auf dem eine Blutschuld lastete. Und 
wenn man auch dieser Beobachtung zufolge den von Brunke 
vertretenen ethischen Ansichten keine ausschlaggebende Be- 
deutung beilegen will, so mußte es doch bei der Intelligenz 


i 


*) Das abgelehnte Moltke-Preisgedicht befindet sich leider nicht mehr 
bei den Akten. Es wird, wie die meisten literarischen Erzeugnisse des 
Angeklagten, nach seinem Tode den Angehörigen zurückgegeben sein. 

2 


==, IR. 


des Angeklagten Befremden erregen, daß ihn seine gesamte 
Lage auch nicht im mindesten zu beunruhigen schien. Er war 
über die gegen ihn erhobene Anklage, wie zu erwarten, voll- 
kommen orientiert, vollkommen im Klaren über Zweck und 
Bedeutung seines Anstaltsaufenthaltes. Von der Alternative, 
vor der er mit seiner Zukunft stand, hatte er schon in den 
ersten Tagen seines Hierseins eine erschöpfende Kenntnis. 
Trotzdem lebte er völlig gleichmütig in den Tag hinein, sprach 
mit der Umgebung ohne irgendwelche Reue von seiner ge- 
samten Vergangenheit, ohne irgendwelche Sorgen und Be- 
fürchtungen von der Zukunft. Er erzählte der Umgebung 
offen und unbefangen von den Einzelheiten der Bluttat und 
äußerte im Anschluß hieran, das Zimmer, in dem er die beiden 
Mädchen erschossen, werde er sich später zum Schlafzimmer 
einrichten. Um die Leiden und um die Hilfsbedürftigkeit 
seiner Umgebung bekümmerte er sich nicht und hat niemals 
ein irgendwie lebhaftes Mitgefühl für die mit ihm zusammen- 
lebenden Kranken bekundet. — Auch bei den Unterredungen 
mit mir traten während der ersten Wochen keine wesentlich 
abweichenden Erscheinungen hervor. Selbst bei den Er- 
örterungen über seine Unterschlagungen, die er in der Theorie 
schriftlich wie mündlich verdammte, wurde er. niemals nieder- 
gedrückt oder gar zerknirscht. Die angeblich große. Anhäng- 
lichkeit und Liebe zur Mutter beteuerte er zwar auch hier bei 
jeder Nachfrage. Aber ich muß hierzu bemerken, daß sich 
Brunke während der ganzen hiesigen Beobachtungszeit nie- 
mals erkennbar interessiert oder besorgt wegen des Ergehens 
seiner Mutter ausgesprochen hat. Es erfolgte eine derartige 
Gefühlsäußerung nicht einmal, wenn ich das Gespräch auf die 
Mutter brachte. Trotz dieser Feststellungen liegt es mir fern, 
die Beteuerungen des Angeklagten völlig zurückzuweisen und 
ihm jegliche Liebe zu seiner Mutter abzusprechen. Aber wie 
sich diese Liebe bei Brunke äußert, geht meines Erachtens hin- 
reichend aus dem den Akten entnommenen Brief vom 16. Nor. 
1905 (s. Seite 14) hervor: In dem einen Augenblick beweist 
er vielleicht seiner Mutter die zarteste Rücksichtnahme, und 
im nächsten Augenblick empfindet er gar nicht, wie schwer 
er durch seine Äußerungen ein (normal empfindendes) Mutter- 





=, 9 


herz verletzt. — Wie wenig lebhaft endlich Brunke mit Ge- 
fühlsäußerungen reagierte selbst unter Umständen, unter denen 
von einem normal empfindenden Menschen eine lebhafte Re- 
aktion zu erwarten war, dafür sei noch die folgende Beobach- 
tung angeführt: Bei unseren Unterredungen vertrat Brunke 
eines Abends, jedem Menschen stehe es frei, nicht nur theore- 
tisch, sondern auch in der Tat seinen persönlichen Anschau- 
ungen über Recht und Unrecht zu folgen. Was die Allge- 
meinheit als Ethik und als Rechtsgrundsatz aufgestellt, sei 
nicht bindend für das Individuum, das abweichende Anschau- 
ungen hege. Er sei auch überzeugt, „alle Vorurteilslosen 


würden seine Tat (d. h. die Tötung) billigen. Die Menschheit 


stecke eben heute nicht mehr in Großväteransichten.“ Nach- 
dem ich Brunke mit seiner philosophischen Beweisführung ab- 
gewiesen hatte, eröffnete ich ihm ohne Umschreibung: Wenn 
ein 18jähriger Mensch mit den allgemein gültigen Vorschriften 
der Ethik und des Rechtes aufzuräumen sich berufen fühle, so 
sei das eine Überhebung. Im übrigen habe die Allgemeinheit 
zweifellos die Befugnis, ein Individuum, das seine Opposition 
gegen die allseits anerkannten Vorschriften der Ethik und der 
Gesetze durch bedenkliche Taten bekunde, unschädlich zu 
machen, sei es durch das Gefängnis, sei es durch die Irren- 
anstalt. Brunke verzichtete auf weiteren Widerspruch, erschien 
aber durch den Verlauf der Unterredung und durch den Schluß- 
satz nicht im mindesten verstimmt, unterhielt sich weiter mit 
mir und protestierte nicht einmal gegen mein Abschiedswort, 
er möge an der Hand des Gehörten nochmals seine vorge- 
brachten Anschauungen prüfen. In den Krankensaal zurück- 
gekehrt, stellte er sich allerdings vorläufig in die Ecke, vergoß 
einige Tränen und äußerte, er wolle sich während der Nacht 
erhängen. Bald indessen hatte er sich getröstet, war wieder 
wie sonst, schlief die ganze Nacht hindurch ruhig und ohne 
Unterbrechung und ist aus eigenem Antriebe nicht wieder auf 
die vorerwähnte Erörterung zurückgekommen. 

Nach diesen Beobachtungen blieb nur noch zu ermitteln, 
ob dem p. Brunke für die begangene Tötung tatsächlich, wie 
er nach den Akten stets behauptet hatte, jeder normale Ge- 
fühlston fehlte, und ferner, ob die Vorstellung der Tat viel- 

2+ 


— 20 — 


leicht gar von krankhaft verkehrten, perversen, Empfindungen 
betont sei. Seine früheren und seine anfänglichen hiesigen 
Versicherungen schienen diesen letzten Gedanken nahezulegen. 

Aus dem Akteninhalt wurde bereits hervorgehoben, daß 
sich Brunke aller Einzelheiten der Bluttat erinnerte. Das 
gleiche gilt auch für die hiesige Beobachtungszeit. Mündlich 
und schriftlich hat sich der Angeklagte auch zu mir in der- 
selben Weise ausgesprochen wie in Braunschweig. Ferner 
muß auch ich bestätigen, daß Brunke bei den ersten münd- 
lichen Unterhaltungen über die angeklagte Handlung sowie in 
einer längeren schriftlichen Auslassung über sein Vorleben die 
. Tötung der beiden Mädchen in einer derart objektiven Weise 
behandelte, die mich schließlich zu der Frage veranlaßte: 
Schaudern Sie denn gar nicht bei der Erinnerung an den von 
Ihnen geschilderten Moment, als „Martha ihrer toten Schwester 
auf die erkalteten Lippen einen Kuß drückte?“ Schaudern 
Sie gar nicht bei der Erinnerung an den Anblick des Zim- 
mers, in dem die beiden von Ihnen getöteten Mädchen auf- 
recht .auf den Stühlen saßen? Die Entgegnung des Ange- 
klagten, der bei diesen und ähnlichen Fragen völlig unbewegt 
blieb, lautete im Anfang stets: „Nein, absolut nicht! Man ver- 
gıßt immer, daß es sich um einen Freundschaftsdienst handelte, 
daß unsere Freundschaft durch meine Tat erst. die rechte Weihe 
erhielt“ und dergl. mehr. In diese „philosophische“ Betrach- 
tungsweise des Angeklagten brachte ‘den ersten Mißton eine 
Unterredung am 29. Dezember. Brunke mußte- zugeben, daß 
er den von ihm vertretenen Anschauungen untreu geworden 
wäre, als er entgegen der Abmachung nur die Mädchen 
tötete, nicht aber auch sich selbst. Er wußte nichts einzu- 
wenden, als ich ihm daraufhin sagte, unter solchen Um- 
ständen könne er für seine unserem Gesetz und unserer Ethik 
widersprechenden Gedanken und Handlungen keine Anerken- 
nung beanspruchen. Nicht ohne erkennbare Erregung äußerte 
er schließlich: „Als ıch die Folgen der Schüsse sah, fehlte mir 
der Mut, mich selbst zu erschießen. Außerdem hatte das 
Leben noch Wert für mich. Natürlich, im ersten Augenblick 
bin ich feige gewesen; das ist nicht zu leugnen und das will 
ich auch nicht leugnen. Und als ich erst einmal gezögert 


=, Di: we 


hatte, kam der Gedanke an meine Mutter hinzu. Ich hatte 
das Gefühl und den Vorsatz, leben um meiner Mutter willen.“ 
(Auf Einwand:) „In jener Minute überlegte ich nicht lange 
meine Lage und meine Zukunft.“ Weshalb hat denn der Gedanke 
an die Mutter Sie nicht beherrscht bei der tagelang fortge- 
setzten Erwägung der Bluttat? „Ich konnte nicht anders; ich 
mußte es. Schon meine Abschiedsworte, die etwas elegisch 
schlossen, verlachten die Mädchen. Deshalb habe ich sie auch 
verbrannt. Ich konnte mich nicht der Möglichkeit aussetzen, 
von ihnen verlacht und verspottet zu werden, nachdem ich 
Martha all mein Denken und Fühlen offenbart hatte, münd- 
lich und schriftlich. Wenn die Mädchen im entscheidenden 
Moment plötzlich angefangen hätten zu weinen: ich wäre sofort 
zur Polizei gelaufen und hätte mich wegen der Unterschlagung 
selbst zur Anzeige gebracht. Ich hatte gar keinen Mut, aber 
die Mädchen hatten ihn bis zum Schluß. Die beiden blieben fest 
bis zuletzt, und. da sah ich keinen Ausweg.“ Warum haben 
Sie in jenen Tagen nicht einmal erwogen, daß Ihnen zum 
Selbstmord der Mut fehlen könne und was dann? „In jenen 
Tagen habe ich gar nicht gedacht oder an meine Unter- 
schlagungen und die Entdeckung. Zu weiteren Erwägungen 
bin ich nicht gekommen. Das schlechte Gewissen und das 
Drängen der Martha Haars bewirkten, daß ich vollständig 
fertig war.“ — Im Anschluß an seine — wie Brunke wußte, 
schriftlich fixierten — Äußerungen, die er übrigens fortan nicht 
mehr zu bestreiten oder auch nur abzuschwächen versucht 
hat, gab Brunke in der Folge an, daß er in seinem Denken 
und Handeln damals vor allem beherrscht worden sei durch 
die Unterschlagungen. Er äußerte schließlich und hat bis zu 
seiner Entlassung anerkannt: Wenn ich noch am Mittag des 
17. Oktober 1000 Mark erhalten hätte, hätte ich „auf die 
Mädchen gepfiffen und es nie getan“. Betont muß übrigens 
werden, daß Brunke trotz der mitgeteilten Eingeständnisse 
meine Versuche, Klarheit über seine der Tat voraufgegangenen 
und diese begleitenden geistigen Vorgänge zu gewinnen, immer 
wieder zu erschweren und zu vereiteln wußte bald durch Ablehnung 
der Antwort, bald durch Abspringen auf seine „philosophischen“ 
Anschauungen. Es gelang mir daher erst in den letzten Tagen 


— 9 — 


der hiesigen Beobachtung, auf meinen Vorhalt: „schon nach 
seinen Zugeständnissen könne Angeklagter nicht daran fest- 
halten, daß die Bluttat ein Ausfluß seiner philosophischen An- 
schauungen sei; aus seinen eigenen Worten gehe hervor, daß 
er sie innerlich mißbillige“, von Brunke eine klare Antwort 
zu erhalten. Sie lautete: „Ich darf nicht bereuen, darf der- 
artigen Regungen keine Macht über mich zugestehen, sonst bin 
ich verloren. Das ist ja gerade mein Schicksal während meines 
ganzen Lebens gewesen, daß keine Empfindung bei mir längere 


- Zeit anhielt. Z. B. wenn wir in der Familie alle froh zusam- 


men saßen: bei mir war der Frohsinn rasch verschwunden. In 
mir war es bald öde und leer. Ich paßte nicht in die frohe 
Gesellschaft und mußte mich in die Einsamkeit zurückziehen. 
Aufrecht erhalten konnte ich mich nur, indem ich alle Empfin- 
dungen unterdrückte und mich dauernd bemühte, hart zu sein. 
Nur dadurch bekam ich einigen Halt. Und das muß ich auch 
jetzt tun. Ich passe nicht in die Welt hinein.. Das habe ich 
eingesehen. Und deshalb ist mir auch die hiesige Beobachtung 
recht gewesen. Werde ich für krank erklärt, dann muß ich 
abwarten, was aus mir wird. Werde ich .aber für gesund 
erklärt, dann bleibt mir nur der Selbstmord. Auf der Welt 
ist kein Platz für mich.“ — Während dieser Mitteilungen be- 
fand sich Brunke zweifellos in der entsprechenden Gemütslage. 
Auf die „Befriedigung“ des Philosophen über den vollbrachten 
„Freundschaftsdienst* wies er nicht einmal andeutungsweise 
hin. Aber selbst bei dieser Gelegenheit zeigte er auch nicht 
annähernd den. Grad von Gemütsbewegung, den man von 
einem 18jährigen Menschen unter derartigen Umständen er- 
warten darf und muß.*) 

Pervers ist das Gefühlsleben des Angeklagten nicht, aber 
es ist oberflächlich und kraftlos, vielleicht stellenweise lücken- 
haft. — 

Die körperliche Untersuchung ergab: Der Schädel ist stark 
verschoben. Das rechte Seitenwandbein springt stärker hervor 


*) Die in diesem letzten Abschnitt angeführten Äußerungen des An- 
geklagten wurden in der Hauptverhandlung sämtlich wörtlich zitiert. 
Brunke hat sie auch dort mit keiner Silbe abzuschwächen oder einzu- 
schränken versucht. 


Zu Di a 


als das linke. Die Stirn ist auffallend schmal (Stirnbeine seit- 
lich zusammengedrückt, Andeutung von Turmschädel). Im 
Profil zeigt sich deutlich die „fliehende Stirn“. Das linke Auge 
steht höher als das rechte; die Reaktion beider Pupillen ist 
normal. Der rechte Mundwinkel steht höher als der linke. 
Der Gaumen ist in seiner Gesamtheit hoch gewölbt, links stärker 
als rechts. Sprache unbehindert. Kein Zittern der hervorge- 
streckten Zunge oder der gespreizten Finger, kein Schwanken 
bei geschlossenen Augen und Füßen. Hautreflexe normal. Der 
Kniesehnenreflex ist lebhaft, rechts etwas stärker als links; 
rechts Fußklonus angedeutet, links fehlend. Motilität und 
Sensibilität nirgends gestört. An Brust- und Bauchorganen 
normaler Befund. — Die Gesichtsfeldprüfung ließ jede Einengung 
vermissen. — Abgesehen von der Schädelbildung keine Degene- 
rationszeichen. — 

Nach den vorstehenden Beobachtungen und Feststellungen 
ist Brunke ein Degenerierter. 

Aus dem körperlichen Befunde ist zu folgern, daß es sich 
um eine angeborene oder in früher Kindheit entstandene Degene- 
ration handelt. 

Der nachgewiesene Grad der Degeneration ist nun zwar als 
der sichere Beweis eines anormalen Geisteszustandes anzusehen, 
nicht aber als der Beweis einer die freie Willensbestimmung 
= dauernd ausschließenden Geistesstörung. Ohne weiteres kommt 
der § 51 RStrGB. für Brunke nicht in Betracht. Wohl aber 
bleibt noch zu ermitteln, ob sich bei dem Angeklagten auf dieser 
degenerativen Grundlage eine Geistesstörung entwickelte, oder 
— im Verneinungsfalle — ob durch irgendwelchen vorüber- 
gehenden Anlaß gerade zur Zeit der angeklagten Tat auf den 
entarteten Geisteszustand des p. Brunke derart eingewirkt wurde, 
daß zum mindesten die Möglichkeit eines krankhaft bedingten 
Ausschlusses der freien Willensbestimmung anzunehmen ist. 

Der Gedanke an eine degenerative Psychose wird ohne 
weiteres wachgerufen durch die Ansichten des Angeklagten 
über seine literarische Bedeutung und Zukunft. Es ist keines- 
wegs von vornherein klar, ob es sich bei diesen sachlich un- 
haltbaren Behauptungen um Wahnideen, d. h. um Symptome 
einer Paranoia handelt oder nur um einen Irrtum, eine Selbst- 


täuschung. Die hiesige Beobachtung hat das letzte ergeben. 
Denn wenn die Selbstüberschätzung des p. Brunke eine Wahn- 
idee wäre, so müßte zum mindesten im Bereich der literarischen 
Produkte und Mißerfolge bei dem Angeklagten eine entsprechende 
Änderung des. Vorstellens vorhanden sein. Dies kann für 
jetzt bestimmt abgelehnt werden. Der Angeklagte äußert über 
seine Person und seine persönlichen Beziehungen zur Außenwelt 
keine Spur wahnhaft gefälschter Anschauungen. Sein bisheriges 
literarisches Mißgeschick deutet und verwertet er niemals im 
Sinne einer Beeinträchtigung oder dergl. Er machte mir im 
Gegenteil bei den hiesigen Unterredungen die folgenden Mit- 
teilungen: In Untersekunda habe er zahlreiche Tagebücher und 
ferner ein dickes Hauptbuch geführt und — seiner damaligen 
Anschauung nach — diese Bücher mit seinen „unsterblichen 
Gedanken“ angefüllt. „In diese Bücher ist der reinste Kohl 
hineingekommen. In einer vernünftigen Stunde habe ich sie 
verbrannt.“ Ferner, die überall erfolgte Ablehnung seines 
Dramas „Elternlos“ müsse er als berechtigt anerkennen. Denn 
das Stück behandle die Blutschande, und ein derartiges Thema 
eigne sich allerdings nicht für die Bühne. Auch die ergebnis- 
lose Einreichung der Preisgedichte bestimmte ihn zu keiner 
bedenklichen Deutung. Allerdings war er nicht zu bewegen, 
aus seinen früheren verbrannten Geistesprodukten und aus den 
abgelehnten Preisgedichten die Befürchtung einer überhaupt 
unzureichenden literarischen Leistungsfähigkeit abzuleiten. Um 
- seinen Glauben an das in ihm ruhende Genie zu erschüttern, da- 
zu genügten diese Mißerfolge noch nicht. Aber die Mißerfolge 
hatten ihn in keiner Weise verstimmt und verbittert; er tröstete 
sich damit, daß auch Kleist und Beyerlein lange Zeit hätten 
auf Anerkennung warten müssen. — Als zweite Krankheitsform 
kam, nachdem die Paranoia ausgeschieden, die Dementia 
praecox in Betracht. Allerdings konnte es sich nur um die leise 
und schleichend verlaufende Art handeln. Denn eine ausge- 
sprochene Erkrankung an Jugendirresein wäre auch von der 
Laienumgebung sicher bemerkt worden. Indessen auch gegen 
diese Vermutung sprechen alle Feststellungen und Beobach- 
tungen. Während der hiesigen sechs Wochen fehlten jegliche 
Erscheinungen der erwähnten Krankheitsgruppe. Ferner ist be- 


-—_ [0.0 


— 25 — 


reits an früherer Stelle hervorgehoben, daß nach den Zeugen- 
aussagen des Bankiers S. bei dem Angeklagten, während er in 
dem Bankgeschäft tätig gewesen ist, augenscheinlich keine er- 
heblichen Schwankungen oder eine Abnahme seiner Leistungen 
bemerkt worden sind. Und in dem von den Schullehrern des 
p. Brunke abgefaßten Gesamtzeugnis endlich heißt es ausdrück- 
lich, daß erin den letzten beiden Jahren „viel Fleiß und Energie 
entwickelte, um alle Lücken auszufüllen. Das ist ihm auch. 
gelungen“ usw. — Zwar nicht als Krankheitsform, wohl aber 
als eine gerade bei Degenerierten nicht seltene Grundlage 
krankhaft bedingter Handlungen müssen hier noch die Zwangs- 
gedanken gestreift werden. Vielleicht ist, da Brunke sicher zu 
den Degenerierten gehört, dieangeklagte Tat als eine Zwangs- 
handlung anzusehen. Der Zwangsgedanke taucht unvermittelt 
auf, ohne inneren Zusammenhang und im Widerspruch mit dem 
sonstigen Vorstellungsinhalt des Patienten. Er wird von dem 
Träger stets als ein fremder Bestandteil des geistigen Lebens 
empfunden. Die stets vorhandenen Gegenvorstellungen über- 
windet er durch die mehr und mehr steigende Angst, die erst 
mit Vollendung der entsprechenden Tat, der Zwangshändlung 
schwindet. Brunke hat sich hinreichend oft und hinreichend 
ausführlich über die Vorstellungen und Empfindungen ausge- 
sprochen, welche die Tat einleiteten und schließlich herbeiführten. 
Die Tötung der beiden Schwestern ist sicher keine Zwangs-. 
handlung gewesen. 

Nach Ablehnung aller dieser Möglichkeiten bleibt somit 
zu untersuchen, ob ein vorübergehender Anlaß gerade zur Zeit 
der Tat die freie Willensbestimmung des p. Brunke ausschloß. 
Als derartige Anlässe kommen in Betracht der Einfluß eines 
starken Affektes oder die akute Alkoholintoxikation. 

Die Tötung der Mädchen als eine in hochgradigem Affekt 
begangene Handlung aufzufassen, ist nicht vereinbar mit der 
Darstellung des Angeklagten, auch nicht vereinbar mit der 
Tatsache, daß Brunke eine lückenlose und selbst für alle Einzel- 
heiten getreue Erinnerung an jenen Vorgang hat. Nicht mit 
gleicher Bestimmtheit läßt sich jeder verhängnisvolle Einfluß 
des Alkohols zurückweisen. Fest steht wohl, daß Brunke am 
17. Oktober eine für seine Verhältnisse große Menge alkoholischer 


= O0 s 


Getränke zu siċh genommen hat. Fest steht aber auch nach 
seinen eigenen Schilderungen, daß er sich zur Zeit der Tat 
nicht in einem pathologischen Rauschzustand befunden haben 
kann. Von einer Mitwirkung des Alkohols beim Entschluß kann 
nur insofern die Rede sein, als durch den Alkohol vielleicht 
die der Tat entgegenstehenden Vorstellungen abgeschwächt oder 
kraftlos geworden sind.*) Da Brunke erwiesenermaßen eine 
psychopathische Persönlichkeit ist, wird man dieser Vermutung 
nicht jede Berechtigung absprechen dürfen. Indessen aus den 
sämtlichen Schilderungen des Angeklagten läßt sich meines 
Erachtens die Annahme, daß der Alkohol bei dem p. Brunke 
einen krankhaften Geisteszustand herbeigeführt hat, durch 
welchen zur Zeit der Tat die freie Willensbestimmung ausge- 
schlossen wurde, nicht wahrscheinlich machen. 


Die von dem Angeklagten begangene Tat ist weder durch 
einen alle Erwägungen ausschaltenden Affekt noch durch Alkohol- 
intoxikation zustande gekommen. Sie ist vielmehr von dem 
Angeklagten überlegt, tagelang überlegt worden. Freilich eine 
überlegte Handlung im üblichen Sinne des Wortes ist es nicht 
gewesen. Denn was Brunke erwogen hat, war nicht, wie 
er die der Tat entgegenstehenden Hindernisse beseitigen , sondern 
wie er der Tat entgehen könne. Trotz des anfänglichen Wider- 
strebens hat er sich zur Tat entschlossen. War dieser Ent- 
schluß und seine Befolgung freier Wille des Angeklagten, oder 
wirkten auf den zweifellos psychopathischen Brunke Einflüsse 
ein, durch die beim Entschluß die Selbstbestimmung des Ge- 
nannten ausgeschaltet wurde? 

Schon im Vorverfahren wurde zu ermitteln versucht (s. ob.), 
ob Brunke zu der Tat durch irgendwelche Lektüre angeregt 
worden sei. Die Kenntnis eines ihm vorgelegten Zeitungs- 
berichtes, der gerade in jener Zeit erschienen war und einen 
wenigstens entfernt ähnlichen Vorgang behandelte, verneinte 
Angeklagter. Dagegen gewann es nach seinen Worten anfangs 
den Anschein, daß von Kleist möglicherweise sein Vorbild ge- 
wesen sei. Indessen während seiner hiesigen sechswöchigen Be- 


*) Nach seiner eigenen Darstellung hat Brunke sich erst Mut trinken 
müssen. 


ei, BOT gun 


obachtung hat Brunke weder mündlich noch schriftlich jemals 
ausgesprochen oder auch nur angedeutet, daß bei seinen Er- 
wägungen vor der Tat das Schicksal des Dichters von Kleist 
eine Rolle gespielt oder gar ıhn zur Tat begeistert hätte. Das 
tragische Ende jenes Dichters hat den Angeklagten nicht zur 
Nachahmung angeregt.*) Ein ganz anderer Gedankengang liegt 
seiner Erwähnung von Kleist’s zu Grunde: Brunke protestiert 
dagegen, daß man ihn und seine Handlungen verdammt, während 
das Grab von Kleist’s, der doch das gleiche getan, aus öffent- 
lichen Mitteln wiederhergestellt und erhalten werden solle. 
Dagegen waren bei dem Entschluß zweifellos wirksam der 
Einfluß der Martha Haars und die durch die Unterschlagungen 
herbeigeführte hoffnungslose Lage des Angeklagten. 

Daß der Angeklagte bei der Tat durch Martha Haars be- 
einflußt war, ist als Tatsache anzusehen, wenngleich über diesen 
Punkt nur die Mitteilungen des p. Brunke vorliegen. Keinen 
sicheren Aufschluß dagegen erhält man aus den Akten. über 
die weitere wesentliche Frage: War Martha Haars eine Persön- 
lichkeit, die erwiesenermaßen andere Personen ihrem Willen 
zu unterwerfen wußte? Kein Zeuge bescheinigt ihr eine derartige 
geistige Macht. Es deutet ferner keine Aktenstelle und keine 
Äußerung des Angeklagten darauf hin, daß dieser schon während, 
des wochenlangen Verkehrs unter die geistige Herrschaft der 
Martha Haars geraten sei. Sexuelle Beziehungen zwischen 
beiden sind ausgeschlossen. Auch die Annahme, daß der Ge- 
danke an einen gewaltsamen Tod nur bei der Martha Haars 
entstanden und von ihr auf den Angeklagten übertragen sei, 
ist nicht angängig. Denn nach Ausweis der Akten hatte Brunke 
an seiner Arbeitsstelle eine Schußwaffe und hegte die bestimmte 


*) Eine Bestätigung dieser Ansicht enthält die eigenhändige schrift- 
liche Erwiderung des p. Brunke auf die Anklageschrift. In dieser Erwide- 
rung heißt es (die Unterbrechungspunkte, Unterstreichungen usw. entsprechen 
dem Original) unter 

10: „Er selbst vergleicht sich mit dem Dichter von Kleist.* Auch 
das ist falsch! Bl. 55 der Akte sage ich „der Artikel auf Bl. 56 (betrifft 
angeblich eine ähnliche Tötung in Hannover) ist mir nicht bekannt... .. 
Einige Tage vor der Tat habe ich die Biographie von Kleist gelesen. Ist 
das Lesen der Biographie ein Vergleichen mit der behandelten Persön- 
lichkeit!!? 


Absicht, sich sofort zu erschießen, sobald seine Unterschlagungen 
entdeckt werden würden.*) Außerdem sprechen auch alle 
Zeugenaussagen, besonders auch die Mitteilungen der Frau 
M., bei der Martha Haars die letzte Woche vor ihrem Ende 
verbrachte, gegen die Vermutung, daß diese sich dauernd oder 
wenigstens vielfach mit Todesgedanken beschäftigt hat.**) Zu 
erwähnen ist endlich noch, daß Brunke weder nach den Zeugen- 
aussagen noch nach den hiesigen Beobachtungen als leicht be- 
stimmbar bezeichnet werden kann. 

Martha Haars hat ihren Einfluß auf den Angeklagten erst 
gewonnen, als dieser zufolge Fehlschlagens aller seiner Hoff- 
nungen rettungslos vor der Alternative stand: entweder Strafe 
für die Unterschlagungen oder gewaltsames Ende. Er hat, wie 
festgestellt, die Tat verweigert, bis jede Hoffnung auf Ersatz 
des veruntreuten Geldes verschwunden war. Für die Tat selbst 
besaß er, was bei seiner Intelligenz von vornherein anzunehmen 
und durch seine eigenen Angaben erwiesen ist, volle Einsicht. 
Wie belanglos für den Entschluß seine sogenannte Weltan- 
schauung, der Gedanke an einen „Freundschaftsdienst“ usw. 
gewesen sind, das zeigt schon sein Wort: „Wenn ich noch 
am Mittag des 17. Oktober 1000 Mark erhalten hätte, hätte ich 
auf die Mädchen gepfiffen und es nie getan“. Bestimmt wurde 
er in seiner verzweifelten Lage schließlich durch den für ihn 
. unerträglichen Gedanken, er werde bei einer Weigerung von 
Martha Haars „verlacht und verspottet werden.“ Daß diese Be- 
fürchtung begründet, davon war er — wahrscheinlich mit Recht 
— überzeugt infolge des unerschütterlichen Drängens der Ge- 
nannten. Hinzu kam wohl noch das beschämende Bewußtsein, 


*) Dies beweisen ferner die beiden (erst nach der Anstaltsbeobachtung 
zu den Akten überreichten) Briefe des Angeklagten vom Mai und August 
1905, Briefe, die er nach ihrem Datum vor seiner Bekanntschaft mit den 
Schwestern Haars geschrieben hat. 


**) Daß die Schwestern Haars psychopathische Persönlichkeiten ge- 
wesen sind, ist ganz unerwiesen. Ihre Mutter endete allerdings durch Selbst- 
mord, aber erst im Februar 1906. Nachdem das Ende ihrer beiden einzigen 
Kinder ihr psychisches Gleichgewicht schwer erschüttert hatte, wurde sie 
gerichtsseits verurteilt wegen einer unüberlegten Heblerei. Diese Verurteilung 
wurde in den Zeitungen erörtert, und diese öffentliche Besprechung trieb 
sie dazu, Hand an sich zu legen. 


ie; DI ze 


bei einer Bestrafung werde Martha Haars auch von den Unter- 
schlagungen erfahren: diese hatte er ihr bis dahin verheimlicht. 
Den Rest des inneren Widerstandes beseitigte er schließlich 
durch den „festen Vorsatz“, nach Tötung der Mädchen sich 
selbst zu erschießen. 

Nach diesen Feststellungen muß ich vertreten, daß für 
Brunke ein Ausschluß der freien Willensbestimmung bei Tötung 
der beiden Mädchen nicht angenommen werden. kann. Wohl 
aber ist zu seinen Gunsten geltend zu machen, daß er trotz 
besserer Einsicht den zur Tat drängenden Mötiven auf die Dauer 
keinen hinreichenden Widerstand entgegengesetzt hat infolge 
des schweren Defektes in seinem Gefühlsleben. — 

Das Gutachten wurde dahin zusammengefaßt: 


Brunke ist ein Degenerierter. Die bei ihm nachgewiesene 
geistige Abnormität darf indessen als eine krankhafte Störung 
der Geistestätigkeit, durch welche die freie Willensbestimmung 
dauernd aufgehoben wird, nicht angesehen werden. Daß aber 
die Willensbestimmung für den Angeklagten mit krankhaft be- 
dingten Schwierigkeiten verbunden ist, die der Geistesgesunde 
nicht kennt, muß der Arzt vertreten. 

An die Möglichkeit endlich, daß die freie Willensbestim- 
mung des Angeklagten zur Zeit der Tat durch den erwiesener- 
maßen genossenen Alkohol verhängnisvoll beeinflußt wurde, ist 
zwar zu erinnern. Aber daß der erfolgte Alkoholgenuß in dem 
psychopathischen Geisteszustand des Angeklagten eine vorüber- 
gehende krankhafte Störung bewirkt hat, durch die zur Zeit 
der Tat die freie Willensbestimmung ausgeschlossen wurde, 
diese Annahme hat sich aus dem Inhalt der Strafprozeßakten 
und den hier erfolgten Mitteilungen des p. Brunke nicht wahr- 
scheinlich machen lassen. 


In der Hauptverhandlung trat Brunke anfangs als der 
selbstbewußte Philosoph, der seine Rolle konsequent zu Ende 
spielen will, wieder auf. Allmählich indessen — anscheinend 
unter dem Eindruck der zahlreichen ‘Zeugenaussagen — flaute 
das Selbstbewußtsein ab. Welchen Eindruck er durch sein 
Verhalten und seine Aussagen auf die Richter machte, erhellt 


aus der über ihn verhängten Strafe — 8 Jahre Gefängnis. 
Die Urteilsgründe sind inhaltlich in der juristischen Bearbeitung*) 
veröffentlicht. 

Gegen dieses Urteil legte der Verteidiger wegen der 
Strafzumessung Revision ein, die indessen vom Reichsgericht 
verworfen wurde. In dieser Zwischenzeit beschäftigte sich 
Brunke in der Haft mit Mathematik und Sprachstudien, da er 
die Absicht hatte, nach Verbüßung der Strafe ins Ausland zu 
gehen und ein neues Leben zu beginnen. In seinen Äußerungen 
und seinen Handlungen ist während jener Monate nichts Auf- 
fälliges bemerkt worden. Am 1. August 1906 gegen Mittag 
erhängte er sich in seiner Zelle. Er hat keine Äußerung und 
keine schriftliche Bemerkung über seine Beweggründe zu dieser 
Tat zurückgelassen. | | 

Brunke hat während der Anstaltsbeobachtung wiederholt 
betont, es sei sein fester Vorsatz gewesen, nach Tötung der 
beiden Mädchen sich selbst zu erschießen. Aber die furchtbare 
Wirkung der Schüsse habe ihm den Mut genommen, die Waffe 
schließlich gegen sich selbst zu richten. Hätte er an Stelle der 
Pistole damals Gift vor sich gehabt, so würde er gleichzeitig 
mit den beiden Mädchen aus dem Leben geschieden sein. Nach- 
dem er seinem Leben gewaltsam ein Ende gemacht hat, wird 
man den Ernst jener \Vorte nicht bezweifeln dürfen. 


*) Peßler, l. c. 


Im April 1907. 


Im Verlage von Carl Marhold in Halle a. S. erscheint fortlaufend: 
Sammlung zwangloser Abhandlungen 


aus dem Gebicte der 


Nerven- und Geisteskrankheiten. 


Begründet von . 
Direktor Dr. med. Konrad Alt, Uchtspringe (Altmark). 


In Rücksicht auf den Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin und 
die Bediirfnisse des praktischen Arztes 


herausgegeben von 


Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A, Hoche, Freiburg i. Br. 
Abonnements-Preis für 1 Band == S Hefte $ Mark. 


Band I. 
Heft 1. Hoche, Prof. Dr., in Freiburg i. Br, Die Frühdiagnose der progressiven Para- 
lyse. Zweite Auflage. Einzelpreis M. 1,80. 
„ 2/8. Ziehen, Prof. Dr. Th., in Utrecht. Die Erkennung und Behandlung der Melan- 
cholie in der Praxis. II. Auflage Einzelpreis M. 2,—. 
» 4. Kirchhoff, Professor Dr. Neuere Ansichten über die örtlichen Grundlagen 
geistiger Störungen. Einzelpreis M. 1,—. 


„ 5/6. Bruns, Dr. L., in Hannover, Die Hysterie im Kindesalter. 2. Aun. 
Einzelpreis M. 1,50. 
» 7. Windscheld , Professor Dr. Franz, in Leipzig. Die Diagnose und Therapie des 


Kopfschmerzes. Einzelpreis M. 1,50. 
„~ 8. Hoche, Prof. Dr., in Freiburg i. Br, Ueber die leichteren Formen des periodischen 
Irreseins. Einzelpreis M. 1,40. 

Band II. 


Heft 1. Arndt, Prof. Dr. Rud., in Greifswald. Was sind Geisteskrankheiten ? 
Einzelpreis M. 1,50. 
» 2. Tiling, Direktor Dr. Th., iv Rothenberg. Ueber alkoholische Paraiyse und in- 


fektiöse Neuritis multiplex. Einzeipreis M, 0,80. 
„ 3/4. Hoffmann, Dr. Aug., in Düsseldorf. Ueber die Anwendung der physikalischen 
Heilmethoden bei Nervenkrankheiten in der Praxis. Einzelpreis M. 2,40. 
„ 5/6. Bratz, Dr. in Berlin. Die Behandlung der Trunksüchtigen unter dem bürger- 
lichen Gesetzbuch. Einzelpreis M. 2,40. 


. Alt, Prof. Dr, K., Uchtspringe. Ueber familiäre Irrenpflege. linzelpreis M. 3,—. 
Band III. 

Heft 1. Schultze, Dr. Ernst, Professor in Bonn. Die für die gerichtliche Psychiatrie 
wichtigsten Bestimmungen des bürgerlichen Gesetzbuchs und der Novelle zur 
Civilprozessorinung. Einzelpreis M. 1,80. 

j 2. Arndt, Prof. Dr. Rud., in Greifswald. Wie sind Geisteskrankheiten zu werten? 
Einzelpreis M. 2,—. 
j 8. Möbius, Dr. P. J., in Leipzig. Ueber den physiologischen Schwachsinn des 


Weibes. Neunte Auflage. Linzelpreis M. 1,60. 
»„ 4 Hoche, Prof. Dr. in Freiburg i. Br. Die Aufgaben des Arztes beider Einweisung 
Geisteskranker in die Irrenanstalt. Einzelpreis M, 1,—. 


3 
Qt 


Trömnuer, Dr. E., in Hamburg. Das Jugendirresein (Dementia praecox). 
Einzelpreis M. 1,—. 

„ 6. Hoche, Prof. Dr., in Freiburg i. Br. Welche Gesichtspunkte hat der praktische 

Arzt als psychiatrischer Sachverständiger in strafrechtlichen Fragen besonders 


zu beachten? Einzelpreis M. 1,20. 
»„ 7. Weber, Dr. L. W., Privatdozent in Göttingen. Die Beziehungen zwischen körper- 
lichen Erkrankungen und Geistesstörungen. lonzelpreis M. 1,50, 
» 83 Oppenheim, Prof. Dr. H., in Berlin, Zur Prognose und Therapie der schweren 
Neurosen, Einzelpreis M. 1,50. 


Band IV. 
Heft 1. Laquer, Dr. mod. Leopold, in Frankfurt a M. Ueber schwachsinnige Schul- 
kinder. Einze'preis M. 1,50. 


„ 2. Hoche, Prof. Dr. A., Freiburg i. B. Die Grenzen der geistigen Gesundheit. 
A Kinze!preis M 0.80. 
„ 3. Pfister, Prof. Dr. H., Freiburg i. Br. Die Anwendung von Beruhigungsmitteln 
bei Geisteskranken. Einzeipreis M. 1,20. 
„ 4 Weil, Dr. Max, Stuttgart. Die operative Behandlung der Hirngeschwülste. 
E'nze'preis M. 0,60. 
„ 5. Laquer, Dr. Remus, Wiesbaden. Ueber Höhenkuren für Nervenleidende. 


Einzelpreis M. 0,60. 
„ 67. Weygandt, Privatdozent Dr. W., Würzburg, Der heutige Stand der Lehre vom 
Kretinismus, Einzelpreis M. 2,10. 
„ 8. Liepmann, Privatdozent Dr. H., Pankow b. Berlin. Ueber Ideentlucht. 
Eiuzeipreis M. 2,50. 
Band V. 


Heft 1. Pick, Prof. Dr. A.. Prag. Ueber einige bedeutsame Psycho-Neurosen des Kindes- 


alters. Einzelpreis M. 0,80. 
„ 2/3. Determann, Dr, St. Blasien, Die Diagnose und die Allgemeinbehandlung der 
Frühzustände der Tabes dorsalis. Einzelpreis M. 2,50. 
„ 4/5. Hoennicke, Dr. Ernst. in Greifswald. Ueber das Wesen der Usteomaiacie und 
seine therapeutischen Consequenzen, Einzelpreis M. 2,—. 


»„ 6/8. Heilbronner, Dr. K.. in Utrecht. Die strafrechtliche Begutachtung der Trinker. 
Kinzelpreis M. 3,—. 


Fortsetzung des Verzeichnisses auf der letzten Textscite. 


Im Verlage von Carl Marhold in Halle a. S. erscheint fortlaufend: 


Sammlung zwangloser Abhandlungen 


aus dem Gebiete der 


Nerven- und Geisteskrankheiten. 


Band VI. 


Heft 1. Weygandt, Prof. Dr W.,in Würzburg. Leicht abnorme Kinder. Einzelpreis M, 1,—. 
„ 2/3. Schroeder, Dr. P., in Breslau. Ueber chronische Alkoholpsychosen. 
Einzelpreis M. 1,80. 
„ 4/5. Stransky, Dr. Erwin, in Wien. Ueber Sprachverwirrtheit. Einzelpreis M. 3,80. 
„ 6/7. Weygandt, Professor Dr. phil. et med. W., Würzburg. Ueber Idiotie. 


Einzelpreis M. 3,—. 
„ 8 Bumke, Privatdozent Dr., Freiburg i.B. Was sind Zwangs-Vorgänge? 


Einzelpreis M. 1,20. 
‘Band VII. 


Heft 1. Aschaffenburg, Prof. Dr. @., in Köln. Ueber die Stimmungsschwankungen der 
Epileptiker. Einzelpreis M. 1,60. 
Moeli, Prof. Dr, C., in Berlin. Die in Preußen gültigen Bestimmungen über die 
Fntlassung aus den Anstalten für Geisteskranke. Einzelpreis M. 1,20. 
Nolda, Prof. Dr. med. A., in St Moritz. Ueber Indikationen der Hochgebirgskuren 
für Nervenkranke. Zweite Auflage. Einzelpreis M. 0,50. 
Salgó, Privatdozent Dr. J., in Budapest. Die forensische Bedeutung der sexuellen 
Perversitüt. Einzelpreis M. 1,20. 
Laquer, Dr. med. Leopold, in Frankfurt a. M. Der Warenhaus-Diebstahl. M. 1,—. 
Bonhoeffer, Professor Dr. K., in Breslau. Klinische Beiträge zur Lehre von den 
Degenerationspsychosedn. Einzelpreis M. 1,60. 
Voss, Dr. G. v., in Greifswald. Der Hypnotismus, sein Wesen, seine Handhabung 
und Bedeutung für den praktischen Arzt. Einzelpreis M. 1,20. 
Hoche, Prof. Dr. A, in Freiburg i. B. Notwendige Reformen de Unfallver- 
sicherungsgesetze. Einzelpreis M. 0,75. 


Band VIII. 


Heft 1. Wilmanns, Privatdoz. Dr. K., Heidelberg. Ueber Gefängnispsychosen. 
Einzelpreis M. 1,20. 
2/4. Wieg-Wickenthal, Dr., Ordinarius a. d. n.-öd. Landesanstalt am Steinhof in Wien. 
Zur Klinik der" Dementia praecox. Einzelpreis ‚ 3,—. 
„ 5.  Steyerthal, Dr. A., in Kleinen. Was ist Hysterie? Eine nosologische Betilfatung. 
Einzelpreis M. 1,80. 
„ 6. Heller, Dr phil Theod., Wien. Schwachsinnigenforschung, Fürsorgeerziehurg 
und Heipadagogik Liuze,preis M. 1,—. 


D n Sn e w N 








Carl Marhold Verlagsbuchhandlung in Halle a. S. 


Juristisch- nsychiatrische Qrenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 
Herausgegeben von 


Geh. Justizrat Prof. Dr. jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. Br. 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lublinitz i. Schles. 


Abonnementspreis für 1 Band = 8 Hefte 8 Mark. 


Bisher erschienen: 
1. Band. 


Heft 1. Schultze, Prof. Dr. Ernst, in Greifswald. Die Stellungnahme des Reichsgerichtg 
zur Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche und zur Pfleg- 


schaft, nebst kritischen Bemerkungen. Einzelpreis M. 1,— 
„ 2/3. Görres, Dr. Karl Heinrich, Rechtsanwalt in Karlsruhe i. B. Der Wahrspruch der 
(zeschworenen und seine psychologischen Grundiagen. Einzelpreis M. 2,— 


„ 4. Endemann. Prof. Dr. jur. Friedr., in Ilallea. S. Die Entmündigung wegen Trunk- 
© sucht und das Zwangsheilungsverfahren wegen Trunkfälligkeit. Bisherige Er- 
fahrungzen. Gesetzgeberische Vorschläge. Einzelpreis M. 1,50. 
„5/7. Schaefer, Sanitätsrat Dr. Fr., in Lengerich i. W. Die Aufgaben der Gesetzgebung 
hinsichtlich der Trunksüchtigen nebst einer Zusammenstellung bestehender und 
vorgeschlagener Gesetze des .\uslandes und Inlandes. Einzeipreis M. 3,—. 

„ 8. Hoche, Prof. Dr. A., in Freiburg i. Br. Zur Frage der Zeugnisfähigkeit geistig 
abnormer Personen, Mit einigen Bemerkungen dazu von Prof. Dr. A. Fingerin 

Halle a. S. — Frankenhurger, Justizrat Dr, in München. Aus der Praxis des 
Lebens. Einzeipreis M. 0,0. 





" iteynemann’sche Buchurucierei, Gebr, Wolil, Halle aà 


ya - 





m- — — — 


BO a ere 


Über 


krankhafte moralische Abartung 
im Kindesalter 
und über den Heilwert der Affekte. 


Von 


Prof. Dr. &. Anton 
in Halle a. S. 





Halle a. S. 
Carl Marhold Verlagsbuchhandlung 
1910. 


Juristisch- Psychiatrische 


Grenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


- 
.. 1. 


Herausgegeben von 


“ “Geh. Jüstizrat Prof. Dr. jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr.med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B, 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lüben i. Schles. 


VII. Band, Heft 3. 


tA 


Über krankhafte moralische Abartung im 
Kindesalter und über den Heilwert der Affekte. 


Von 
Prof. Dr. G. Anton in Halle a. S.*) 


Die krankhafte moralische Abartung hat nicht nur für 
den Betroffenen traurige, oft lebenslange Konsequenzen, es 
werden auch ganze Familienkomplexe vielfach in Mitleiden- 
schaft gezogen, und die Eltern werden durch solche Ereignisse 
körperlich und geistig schwerer betroffen als selbst durch 
Sıechtum und Tod des Kindes. | 

Diese krankhafte Abartung wird schon seit nahezu hundert 
Jahren fachärztlich diskutiert. An diesen Erörterungen be- 
teiligten sich in letzter Zeit besonders auch die Vertreter des 
Strafrechtes sowie die Pädagogen. 

Trotzdem ist in den fundamentalen Auffassungen der 
komplizierten Symptomenreihe keine Einigung erzielt. Ja, es 
sind einflußreiche Kreise, welche das Krankhafte an dieser 
Abartung in Abrede stellen oder wenigstens in strafrechtlichen 
Fragen nicht zur Geltung kommen lassen. 

Es wird in diesem Berichte nicht möglich sein, alle nam- 
haften Autoren anzuführen. Es können nur die Hauptrich- 
tungen erörtert werden, welche die ärztlichen Auffassungen 
über diese angeborenen oder erworbenen Defekte zur Geltung 
brachten. 

Es gibt verschiedene Gruppen geistiger Erkrankung oder 
krankhafter Entwickelung, bei denen ganz prävalent die krank- 
hafte Abartung oder der Mangel derjenigen Gefühle und Ge- 
mütsregungen zur Geltung kommt, welche für das menschliche 


*) Mehrfach erweiterter Vortrag am Kongresse der Kinderärzte, 
Leipzig, Oktober 1909. 
1* 


le. e 


Zusammenleben notwendig sind oder durch das Zusammenleben 
erst entstehen. 

Diese Defekte können ohne entsprechende Einbuße der 
Auffassung, Orientierung, des Urteils und Gedächtnisses bestehen. 

“Solche Zustände werden seit Prichard (1835) als moral 
insanity bezeichnet, was übersetzt wurde mit der Bezeichnung 
Gefühlsirresein (E. Müller) oder krankhafte Gefühlsentartung. 
Pondojeff hat in letzter Zeit den Ausdruck vorgeschlagen: 
Debilität mit vorzugsweise ethischem Defekte. 

Die Franzosen benennen diesen Defekt seit Pinel (1809) 
manie sans délire. Marandon de Montyel (1892) vertritt 
die Bezeichnung folie sans délire und. bekennt sich ausdrück- 
lich zur Auffassung, daß diese Erkrankung ausschließlich die 
Affekte und Gefühle betreffen kann (facultés affectives et mo- 
rales) ohne Störungen der Intelligenz. 

In den seitherigen Erörterungen ist zunächst eine große 
Anzahl namhafter Autoren zu nennen, welche erklärten, daß 
die sogenannte moral insanity stets auch mit einem erheblichen 
Grade von intellektueller Schwäche begleitet ist, daher der‘ 
großen Gruppe des Schwachsinnes einzureihen sei. . 

Diese Auffassung brachte die größte Zahl der Autoren 
zum Ausdruck. Ich nenne nur auslesend Krafft-Ebing, 
Blandford, Westphal, Mendel, Meynert, Emminghaus, 
Binswanger, Cramer, E. Müller, Näcke. 

Doch die Mehrzahl dieser Autoren erkennt dabei an, daß 
die intellektuelle Schwäche häufig keineswegs entsprechend 
der Gefühlsentartung entwickelt ist, daß die beiden Störungen 
nicht immer proportional sind; ja, eine Anzahl derselben 
faßt die intellektuelle Störung mehr als Begleitsymptom auf. 

Jedenfalls geben auch diese Autoren zu, daß der Krank- 
heitsprozeß nicht in gleichem Maße einerseits die intellektuellen 
Leistungen, andererseits das Gemüts- und Gefühlsleben beein- 
trächtigen müsse. 

Dem gegenüber kam in früherer aa neuerer Zeit vielfach 
die Auffassung zum Ausdruck, daß nicht nur bei normalen 
Typen, sondern auch auf krankhaftem Gebiete eine morali- 
sche Abartung ohne nachweisliche Schwäche .der 
Intelligenz platzgreifen kann. | 


en, p l 


In einem gewissen Rahmen ist die Gefühlsentartung un- 
abhängig von den Leistungen der Intelligenz; „die moralische 
Perversität ist durch Schwachsinn nicht zu erklären“ (Tiling). 

Jedenfalls lasse sich das Symptom der Gefühlsentartung 
nicht erklären durch Schwäche der Auffassung, des Urteils 
oder des Gedächtnisses. 

Unter diesen Autoren seien hervorgehoben: Pinel, 
Prichard, Marandon de Montyel, Tamburini, Hack- 
Tuke, Koch, Schüle, Bleuler, Tiling, Ganser, 
Wernicke. 

In kurzer Epikrise möchte ich folgendes erörtern: Es 
herrscht Einmütigkeit bei den Psychologen und Psychopatho- 
logen, daß Tiefstand der Moral und Verödung der entsprechen- 
den Gefühle nicht mit entsprechenden Intelligenzstörungen ein- 
hergehen muß. 

=- Es muß weiterhin ausdrücklich gesagt werden, daß gerade 
in neuerer Zeit der Begriff der Intelligenzschwäche beträcht- 
lich eingeengt wurde, jedenfalls aber noch vielfach in Diskussion 
steht (Ziehen). 

Sehr häufig sind die Intelligenzstörungen kaum nachweisbar, 
und es müßte hier die Grenze des Schwachsinns ganz enorm 
erweitert werden, um alle Fälle krankhafter Gefühlsentartung 
in dieser Rubrik unterzubringen. 

Es wurde häufig in der Literatur die Herbartsche These 
aufgestellt von der Einheit der Seele; auch die berechtigte 
moderne psychologische Richtung wurde geltend gemacht: daß 
man die seelischen Leistungen nicht spalten könne in einzelne 
seelische Vermögen, in einzelne Teile. 

Nun aber ist es eben eine hochinteressante allgemeine 
Tatsache der Krankheitslehre, daß in der Tat dieKrank- 
heit elektiv einzelne Teile der seelischen Gesamtfunktionen 
des Gehirns schwerer betreffen kann als andere. 

Wir kennen einen Verlust des optischen Gedächtnisses und 
der optischen Phantasie. Es kann bei einzelnen Kranken das 
innere Wiederaufleben der Klangempfindungen fast isoliert ver- 
loren gehen (bei Worttauben). 

Während bei dem normalen Bewegungsakte die Empfindung 
und der Bewegungsimpuls gleichwertige Komponenten sind, 





ABER 6 — 


kann die Erkrankung mit Auslese von den funktionierenden 
Teilen das sensible oder motorische System lähmen. 

Wir wissen sehr wohl, daß die Reproduktion bei Kranken 
sehr schwer gestört sein kann, während die Schlußbildung 
und Kombination unverhältnismäßig besser von statten geht. 

Wir wissen, daß die Orientierung bei Korsakoffscher Er- 
krankung schwer darniederliegt, während die früheren Er- 
lebnisse und die Resultate früherer Denkarbeit relativ gut er- 
halten sind. | 

Ebenso macht sich die zersetzende, dissoziierende Wirkung 
des Krankheitsprozesses bei vielen Psychosen dadurch geltend, 
daß die bisherigen Beziehungen der Vorstellungskomplexe zu 
den zugeordneten Gefühlswerten schwer gestört werden. 

Wir kennen eine ganze Reihe geistiger Erkrankungen, bei 
denen die Veränderung des Charakters und die Einbuße der 
höheren Gefühlskategorien lange Zeit bestehen, ehe der Ver- 
fall der Auffassung, der Schlußbildung und des Gedächtnisses 
nachweisbar wird. 
| Ja, die Psychologie der Degenerierten zeigt vielfach als 
charakteristisch: Das partielle Versagen einzelner Leistungen 
bei voller Entwicklung anderer Fähigkeiten, als ein unharmo- 
nisches, bizarres Gemisch von Fehlern und Vorzügen, von Be- 
' gabung und auffallenden Defekten. 

Es muß also das Problem als ein psycho- -patholo- 
gisches angegangen werden; auf diesem Gebiete gibt es 
eben neuartige Erfahrungen und neue Gesetzmäßigkeiten; 
die normale Seelenkenntnis reicht diesen Tatsachen gegenüber 
nicht aus. 

Ganz in Kürze möge zuerst jener Krankheiten gedacht 
werden, bei denen es wenigstens phasenweise zum Zustands- 
bilde der moralischen Abartung kommt. 


1. Die leichteren Formen der Mania. 


Hier kann in zureichendem Grade geordnetes Denken und 
Zielstrebigkeit vorhanden sein, gleichzeitig aber ein ruheloses, 
häufig aggressives Verhalten, ein energisches Triebleben, oft 
auch nach der sexuellen Seite hin; das Gebaren ist über- 
hebend und ohne Bedachtnahme auf die Rechte anderer; die 


u Me en 


höher gespannten Stimmungslagen entäußern sich besonders 
leicht motorisch; im sozialen Verhalten sind die Kranken 
rücksichtslos, oft brutal und verschwenderisch; sie zeigen oft 
Witz und Gewandtheit, Schlagfertigkeit, finden die Schwächen 
anderer gut heraus; die naturgemäßen Reaktionen der Um- 
gebung werden als Verfolgung und Böswilligkeit umgedeutet, 
auf welche nunmehr der Kranke mit aller Rührigkeit als krank- 
hafter Verfolger reagiert. So wird die Reihe der Konflikte 
endlos und mit den gewöhnlichen Mitteln der Strafe nicht 
korrigierbar. 

Solche Zustände treten auch häufig abwechselnd mit De- 
pression bei zirkulären Psychosen und Neurosen auf. 

Das geordnete Denken, die Leistungen der Intelligenz 
bleiben dabei relativ und auffällig unversehrt. Zu bemerken 
ist, daß die Hypomanie auch als langdauernder Zu- 
stand oder periodisch auftritt. 


2. Die senile Charakterveränderung. 


Diese markiert sich oft längere Zeit hindurch als ein Zu- 
rücktreten der bisherigen Gefühlswerte, als ein Wiederauf- 
tauchen und eine Prävalenz der Jugenderinnerungen und 
Jugendtriebe. 

Bekanntlich erscheinen dabei frühzeitig abnorm sexuelle 
Gelüste, die sich z. B. auf unreife Mädchen dirigieren oder in 
perverser Form zur Durchführung gelangen. 

Ähnliche Phasen der moralischen Abartung könnte ich 
schildern als erstes Wetterleuchten der Paralyse. 

Weiterhin finden sie sich besonders häufig bei Alkoho- 
lismus und anderen Vergiftungen, bei Schädel- 
erschütterungen, besonders aber nach Epilepsie. | 

Diese erworbenen Formen von moralischer Abartung sind 
aber leichter ärztlich zu beurteilen, weil ein Vergleich 
zwischen einst und jetzt vorliegt, weil der Grad und 
die Intensität der Charakterveränderung einen Schluß 
gestatten auf den Grad der Krankheit selbst. 

Viel schwieriger aber ist die Aufgabe, welche hier beson- 
ders zu erörtern ist, nämlich die Beurteilung der moralischen 
Abartung seit der frühen Jugend. 


EEE - 


Es besteht ja kein Zweifel, daß schlechte Erziehung und. 
verderbende Eindrücke schon frühzeitig unsittliches, verbreche- 
risches, aggressives Gebaren hervorbringen können, und es 
wird nicht immer leicht, die Folgen einer krankhaften Ent- 
wicklung als solche genau zu unterscheiden von der ver- 
derbenden Wirkung der gesamten Jugenderlebnisse. 

Die Frage, ob es Kinder gibt, welche insofern einen 
abnorm krankhaft gearteten Werdegang aufweisen, als vor- 
wiegend die sozialen und ethischen Gefühle und die 
menschliche Einfühlung verkümmert bleiben, läßt 
sich nach den derzeitigen Erfahrungen bejahend be- 
antworten. | | 

Diese Kinder entstammen häufig krankhaft seelisch be- 
hafteten, trunkfälligen oder epileptischen Eltern. Die Erblichkeit 
ist mitunter eine kumulierte, d. h. bei beiden Eltern nachweisbar 

Es muß aber ausdrücklich bemerkt werden, daß auch von 
gesunden, vollwertigen, geistig hochstehenden Eltern solche 
abgeartete Kinder entstammen können. 

Jedenfalls ist es noch ein interessanter Fragepunkt, wie- 
weit die zu lange Inzucht, aber auch die allzu oft repe- 
tierte Rassenkreuzung der elterlichen Familien ursächlich in 
Betracht kommen. | 

Öfter als bei einfachen Psychosen finden sich abnorme 
körperliche Merkmale, die sogenannten Entartungszeichen. Sie 
können auch fehlen. 

Die Entwicklungsphasen, wie die erste und zweite Zahn- 
bildung, die Entwicklung des aufrechten Ganges, die Sprach- 
entwicklung können in richtigen Terminen vor sich gehen. 
| Dagegen werden solche Kinder schon frühzeitig als un- 
bändig geschildert; sie zeigen späterhin Neigung zu Aggression, 
hochgradige Gemütsreizbarkeit, dann unkorrigierbare 

‚Neigung zum Davonlaufen (fugues et vagabondage der 
| Franzosen), zum Stehlen, zum Lügen. 

í Es kann die Sexualität und die Neigung zur Onanie ganz 
überraschend schnell zutage treten. Sexuelle Gelüste und Miß- 
brauch seitens der Kindsfrau scheinen mitunter dabei eine Rolle 
zu spielen. Leichter als andere Kinder sind sie zu Wutaus- 

 brüchen geneigt. 


== GG, zer 


Der Mangel sozialer und ethischer Bildungsfähigkeit tritt 
später deutlich in die Erscheinung im Verkehr mit anderen 
Kindern und in der Schule. 

Sie erweisen sich schon in den frühen Kinderjahren im l 
Verkehr als reizbar, brutal und grausam. Auch Grausamkeit | 
gegen Tiere wird öfter berichtet. 

Im Verkehr mit den Eltern tritt schon häufig der mange. 
zarterer Gefühle hervor; sie sind widerspenstig, trotzig, lieblos; 
und lügnerisch. 

Schon frühzeitig zeigen sie eine spud Auslese 
für alle Beispiele von Grausamkeit und lebhaften Trieb 
für Verbotenes. 

Ihre geistige Entwicklung ist mitunter verspätet, zuweilen | 
aber sind sie auffällig frühreif. 

= Bei der Untersuchung muß besonders Beachtung finden 
ihre Willensrichtung. 

Es ist auffällig, wie häufig das Symptom des Negativis- 
mus zum Vorschein kommt. Dies bringt sich bei Jüngeren 
zur Geltung gegen alles, was Pflicht und Gebot heißt, Ab- 
lehnung gegen die Wünsche und das Beispiel der Eltern und 
autoritativer Personen. 

Das Verbotene zieht sie dämonisch an; mit Vorliebe suchen 
sie den Umgang mit verwahrlosten, geistig minderwertigen 
Kindern. | 

Gerade solche Typen zeigen oft für einander lebhafte 
Attraktion. 

Schon frühzeitig können krankhaft geartete und unge- 
wöhnlich starke Triebe die Eltern verblüffen, z. B. der Trieb 
zur Beschädigung, zum Hinauswerfen von Gegenständen, zum 
- Stehlen, besonders aber zum Davonlaufen, auch frühzeitig 
sexuelle Triebe. 

In der Schule werden sıe bald der „Schrecken der Lehrer“ 
und eine Bedrohung für andere Kinder; die Reihe der bösen 
Streiche führt sie in ständige Konflikte, wobei sie sich mit- 
unter als schlau, aber stets unkorrigierbar erweisen. 

Der geistige Neuerwerb in den Schulgegenständen, auch 
die manuelle Fertigkeit braucht nicht unter dem Niveau zu 
sein. Doch zeigen sie dabei meist Mangel an Ausdauer. 


nn oe aee a me ae a 





j 
zwar beim Beginne und im Verlauf der Geschlechtsreife. 


i 


i 


=; JO 


Sehr häufig entwickelt sich das Leiden erst später, und 


Bis dahin war bei den Kindern nur eine auffällige Früh- 
reife oder vielleicht öfter eine verspätete Entwicklung zu ver- 
merken. 

Häufig aber sind doch andere Sapun die Zornmütig- 

‘keit, Wutausbrüche, bizarre Gewohnheiten, fremdartige Triebe 
‚vorher beim Kinde wahrgenommen. 
' In der Pubertätszeit nun, der Aprilwetterzeit des Lebens, 
vollzieht sich eine auffällige Veränderung des Charakters. Sehr 
frühzeitig bildet sich eine Ablehnung und Entfremdung gegen- 
über den nächsten Angehörigen, mitunter auch ungewohnte 
Brutalität gegenüber den Eltern und gegen autoritative Per- 
sonen, also auch hier Negativismus. 

Der Hang uad Zug zu minderwertigem Verkehr macht 
sich jetzt viel regsamer geltend. Es ist auffällig, wie leicht 
'bestimmbar und willensschwach die Kranken nach dieser 
Seite werden. Auch hier kommt die gegenseitige Attraktion 
dieser abnormen Typen sehr deutlich zum Vorschein. Es 
kommt auch zu Organisationen derselben. Sie gründen 
sich gewissermaßen eine ihrem Typus entsprechende Gesell- 
schaftsordnung. 

In ihrem Handeln tritt das Impulsive, Triebartige stärker 
hervor. Sie vermögen mitunter nachher selbst nicht 


“die Motive ihrer Handlungen, ihrer Verbrechen zu 


erläutern. 


Häufig ist eruierbar, daß Beispiele. oder Einflüsterungen 
gleichgearteter Kameraden dabei eine Rolle spielen. 
| Die gesteigerte Suggestibilität ist eben oft eine 


‚Kehrs eite des Negativismus. 


So wie bei den kindlichen Formen lassen sich auch hier 
stumpfere, trägere Individuen trennen von solchen, welche 
einen erregteren und aggressiveren Typus darstellen. 

Was die Verstandestätigkeit anbelangt, so ist Ge- 
wandtheit, Schlauheit, Routiniertheit sehr häufig vorhanden. 
Einzelne Fertigkeiten und Talente brauchen nicht zu fehlen; 
ihre Urteilsschwäche markiert sich aber häufig in dem Un- 
vermögen zur Gewinnung allgemeiner Begriffe. Sie 


er HE 


zeigen sich wenig geeignet, das bisher Erlebte richtig zu ver- 
werten. Es fehlt ihnen die Überschau, welche das begriffliche 
Denken vermittelt; meist an konkreten Eindrücken ‚haftend,. 
liegende Ziele. = 

Doch muß ausdrücklich gesagt werden, daß in vielen 
Fällen — keineswegs aber immer —- auch geistige Minder- 
' wertigkeit und Schwachsinn sich nachweisen lassen. 

Jedenfalls ist in solchen Fällen die Macht der Ver- 
standestätigkeit herabgesetzt, d. h. die regulierende und be- 
stimmende Wirkung der Intelligenz gegenüber den Impulsen | 
der Affekte und der Triebe ist vermindert. | 


Als ein evidenter und wesentlicher Mangel läßt sich häufig 
nachweisen das Fehlen jener Tätigkeit, welche wir als Ein- 
. £fühlung am besten bezeichnen, das Vermögen, mit anderen 
Menschen in richtigen Konnex zu treten, die Fähigkeit, sich 
den Gefühlszustand und die Rechte anderer Menschen zu ver- 
gegenwärtigen. 

Es ist also eine stets bestätigte Erfahrung, daß die krank- | 
hafte Anlage häufig einseitig auf dem Gebiete des. 
Gefühls- und Affektlebens sich bemerkbar macht] 


Zunächst ist die Intensität häufig krankhaft ge- 
steigert, so daß exzessive Affektlagen sich abnorm häufig 
ereignen. Diese aber sind naturgemäß richtunggebend sowohl 
für die Gedankenbildung als auch für Entschlüsse und Hand- 
lungen. 

Die Affekte stellen gewissermaßen die jeweilige Grund- i 
welle dar für den Fortgang und Ablauf der seelischen Leistungen. | 


Das Affektleben ist aber häufig auch im vorhinein insofern 
gestört, _als_die normalen Gefühlsbewegungen zu wenig in- 
tensiv vertreten sind; auch das Ausbleiben der normalen 
Affekte und Gefühlsregungen wird in der Sprache als Apathie, 


als Kaltherzigkeit, als Gemütsroheit bezeichnet. 

Durch die Verödung des Gemüts- und Affektlebens kommen 
für das betroffene Individuum viele Motive in Wegfall, welche 
sonst die Eignung für den menschlichen Verkehr, die Eignung 
für soziale Anpassung bestimmen. 


u; PAD S 


Besonders wichtig ist es, daß bei solchen Individuen das 
Gemütsleben aus der Konstitution heraus oft periodischen 
Schwankungen unterworfen ist, welche auch an sich erheb- 
liche Veränderungen in der ganzen Persönlichkeit und im 
Charakter hervorbringen. 


Insbesondere bei deutlich zirkulären Erkrankungen, d. i. 
bei häufigen Schwankungen zwischen melancholischer De- 
pression und manischer Exaltation, ist häufig Intelligenz, Ge- 
dächtnis, geordneter Gedankenablauf auffällig gut erhalten, so 
daß das Bestehen einer Psychose mitunter in Frage gestellt 
werden kann. 

So wie bei akuten Psychosen können auch bei organisch 
Belasteten ohne Psychose fremdartige Gefühle auftreten, 
welche an sich ohne entsprechende Überlegung Motive zu per- 
versen und antisozialen Handlungen abgeben können. 


| Die krankhaften Abweichungen des Affektlebens markieren 


sich aber auch häufig in der von der Norm abweichenden 


Dauer. 

Die krankhafte Veränderlichkeit und Unbeständig- 
keit der Gefühle und Affekte ist schon an sich geeignet, eine 
unbeständige und unverläßliche Persönlichkeit zu schaffen. 
Denn, wie erwähnt, werden von den Gefühls- und Gemüts- 
zuständen aus auch Gesamtauffassungen des betroffenen Men- 
schen nachweislich abgeändert. 


Bei Degenerierten aber ist es geradezu eine charakte- 
ristische Prägung, daß bei ihnen das Persönlichkeitsbewußtsein 
enormen Schwankungen unterworfen ist, und daß diese Schwan- 
: kungen weit über das Gebiet der Hysterie hinausreichen (Bon- 

höffer). 

Allerdings ist bei solchen gewöhnlich auch eine wenig 
regulierte Phantasietätigkeit vorhanden. 

Das Phänomen klar ausgearbeiteter Wahnideen ereignet 
sich bei letzteren relativ häufig, und zwar in kurzer Zeit, so 
daß die Diagnose der Paranoia leicht irrtümlich gestellt und 
durch den weiteren Verlauf widerlegt wird. 


Jedenfalls haben bei solchen „Degenerierten“ die Schwan- 
kungen der Stimmung und Affekte einen viel weiter tragenden 


cheli 
J 


Die re 
da. 
PZinzlrart 


EEE i E uls, 
Pi cA lere feren 
> Mediz; 


I>r. Kuszen, in Str LERT] 
or c 1 Int (E T 
diturie >: ur 

oze ? « u .7 


Vri P eiro 
Pa wire 
Ezere Fe, Sarit 

Cami t 


tiefe 4. 
$ > Zdi 


BE E R a mD ET a —— — Ze 
SernB m i I 
m ere nta ne e> 
7: Geriach 
Rh sire. 


mn 


ua o 


Einfluß auf den ganzen jeweiligen psychischen Aufbau des 
Individuums. 

Es werden dadurch Neigungen, Abneigungen, Gesinnungen 
und wesentliche Charakterzüge verändert. 

Die Auffassungen, die Willensrichtung, ja auch die 
Auslese des Erinnerungsmaterials werden rasch und weitgehend 
abgeändert. 

Solche verfehlt Angelegte sind gewissermaßen weitgehend 
suggestibel für ihre eigenen Stimmungsschwan- 
kungen. Es gibt hier nicht eine Persönlichkeit, sondern eine 
Reihe widersprechender Persönlichkeiten. 

Deshalb ist auch die Beurteilung so schwer und wider- 
spruchsvoll, weil die einzelnen Untersucher nicht dasselbe Ge- 
samtbild vor sich haben. 

Kein Wunder, daß die Individuen selbst in ihren Reak- 
tionen, aber auch in ihren Erzählungen und Angaben große 
Widersprüche aufweisen und daß ihre Erzählungen, abgesehen 
von den beabsichtigten Entstellungen, sich durch geringe Wahr- 
heitstreue charakterisieren. 


Nicht minder wichtig scheint mir jene Abnormität im Ge- 
müts- und Affektleben, bei welcher einzelne Affektrich- 
tungen geradezu aanraai dominieren und wenig 
zugänglich sind jenen ausgleichenden und regulierenden Ände- 
rungen der Stimmung, welche bei äußeren Anlässen oder bei 
inneren organischen Bedingungen im Leben des Normalen als 
die Regel bezeichnet werden. | 

Solche Individuen sind mitunter, wenn auch nur phasen- 
weise, von einzelnen Affektrichtungen beherrscht und darin 
zowissörmaßen erstarrt. 

Sie sind dadurch unzugänglich der ablenkenden , aus- 
gleichenden Wirkung äußerer Eindrücke, anzugänglich dem 
Zuspruch und dadurch unkorrigierbar. Es ist ihnen die Mög- 
lichkeit jener Leistung vermindert, welche wir als menschliche 
Einfühlung bezeichnen. 

Diesen Mangel hat in letzter Zeit in einer interessanten 
Schrift O. Groß, wenn ich ihn richtig verstehe, als affektive 
Kritiklosigkeit des Fühlens bezeichnet. 


u, A 


Diese Einengung der Affektskala, diese Armut an Ge- 
fühlen muß keineswegs mit Herabminderung der Intelligenz 
oder mit Unfähigkeit zu geistigem Neuerwerb einhergehen. 

ı Es ist auch Tatsache, daß trotz der Einengung des Gefühls- 
! und Affektlebens mitunter Impulse und enorm gewalt- 
tätige Handlungen auftreten. 


Es zeigt sich dies bei Gewohnheitsverbrechern, bei denen 

i die Wiederholung und Repetierung gleicher Handlungen oft 

auffällig und stereotyp wird, so daß sie als unkorrigierbar be- 
i zeichnet werden. 


Es liegt hier, wie schon eben erörtert wurde, eine Gleich- 
heit der Erstarrung vor, wie bei vielen Formen der Katatonie, 
bei denen desgleichen Verödung und Einengung des Gemüts- 
lebens, auffällige Stereotypie auch im Affektleben, endlich aber 
zeitweise impulsive Handlungen sich finden, welche durch 
normalpsychologische Erwägungen nicht zu verstehen sind. 
Jedenfalls wird sowohl bei den labilen erregbaren Formen 
wie bei der krankhaften Persistenz der Affekte gestört: das 
entsprechende seelische Gleichgewicht; das richtige Ver- 
hältnis der Affektwerte zueinander ist in beiden 
Formen erheblich beeinträchtigt. 

| Es geht oder es ging verloren die Fähigkeit, „das gegen- 

seitige Verhältnis der den einzelnen psychischen Inhalten zu- 
kommenden Affektwerte zu regulieren“ und den jeweiligen 
Erfordernissen anzupassen. 


Die Herkunft des krankhaften Affektlebens, be- 
sonders das seit Kindheit datierende, ist wohl vielfach in das 
Fragedunkel der Konstitution und der krankhaften Erblichkeit 
zurückzuverlegen. 

Es ist wohl die Ansicht aller unbefangenen Fachmänner, 

‚daß den Erlebnissen und den gelegentlichen Schädlichkeiten 
| mehr ein symptomatischer Wert zukommt, d. h. daß die Reak- 
! tion auf solche Gelegenheitsmomente durch die ganze An- 
| lage vorher bedingt ist. Es seien hier kurz einige Bei- 
` spiele angeführt. 

Eine junge Patientin, 22 Jahre alt, wurde wiederholt 
wegen brutaler Mißhandlung der Mutter, aber auch wegen 


— 15 — 


ihrer Gemütsreizbarkeit, Unbeständigkeit und Aggression in die 
Grazer psychiatrische Klinik gebracht. 

Aus der Vorgeschichte ergibt sich, daß der Vater ein 
starker Trinker war, welcher zweimal in psychiatrische Be- 
handlung überbracht wurde. Die Mutter ist nervös und in 
ihrem Gebaren „recht hilflos“. Zwei Brüder und eine Schwester 
werden von der Mutter selbst als „unbändige Wildlinge“ be- 
zeichnet. Ein kleiner Bruder bedrohte schon mit 7 Jahren 
die Leute mit Umbringen und fiel auf durch Unreinlichkeit. 
Trotzdem lernte er gut in der Schule. 

Die genannte Patientin konnte mit 18 Monaten bereits 
gehen und leidlich sprechen. Mit 3 Jahren schon zeigte sie 
einen unbändigen Zug in ihrem Wesen, warf alle Gegenstände 
auf den Boden, schrie auf die Gasse hinunter, mit anderen 
Kindern vermied sie den Verkehr. Gegenüber Tieren zeigte 
sie sich damals schon grausam. Schon als junges Mädchen 
drohte sie, die Mutter mit dem Revolver zu erschießen, als sie 
die verlangten Kleider nicht bekam. In der Schule war sie 
auffällig durch 'Lügenhaftigkeit und „Ersinnen von vielfachen 
Geschichten“, die sich als unwahr herausstellten. Auffällig 
war ihre Widersetzlichkeit und Respektlosigkeit gegen autori- 
tative Personen. In sexueller Beziehung soll sie nicht auffällig 
gewesen sein. Sie kam schon mit 13 Jahren das erste Mal 
in psychiatrische Behandlung und wurde seither viermal ent- 
lassen und wieder aufgenommen. Die große Reihe von Roh- 
heiten, Göwalttätigkeiten und Konflikten während dieser Jahre 
soll nicht im Detail erörtert werden. 

Tatsache aber ist, daß sie späterhin doch befähigt wurde, 
sich längere Zeit im Posten zu erhalten. 

Über einen anderen Fall sei desgleichen die Vorgeschichte 
kurz skizziert. 

Es handelt sich um einen 22 jährigen Studenten, den Sohn 
eines Arztes. Der Urgroßvater und der Onkel väterlicherseits 
endeten durch Selbstmord. Der Großvater väterlicherseits starb 
an vorzeitigen Erscheinungen einer Dementia senilis. Die 
jüngste Schwester der Mutter ist unheilbar krank. Die Mutter 
und der Vater sind nervös. Zwei Schwestern sind anämisch. 
Der Patient selbst ist ein Siebenmonatskind. 


Er hat schwere Rachitis durchgemacht. Schon als Kind 
zeigte er ein eigenartiges Verhalten, spielte nicht mit anderen 
Kindern. In der Schule war er sehr faul, log beständig und 
„betrog seine Lehrer“. Er wurde als schwieriges Problem 
vom Schuldirektor bezeichnet. Nach der Äußerung eines 
Lehrers soll schon frühzeitig Geschlechtserregung stattgefunden 
haben. Sehr häufig mußte er wegen seines Gebarens die 
Schule und die Pension wechseln infolge seiner schlechten 
Streiche. Er zeigte starken Zerstörungstrieb. 

Seine Eltern verdächtigte er durch üble Nachrede in weit- 
gehender Weise. Auch die Familie war vor seinen Diebereien 
nicht sicher. Als Grund seiner zahlreichen Streiche und Be- 
trügereien gab er jederzeit die verfehlte Erziehung und den 
Einfluß des Vaters an. Gegen den Vater hatte er schon seit 
früher Kindheit einen großen Haß. 

Trotz aller Misere bestand er seine Abiturientenprüfung 
gut, und die Lehrer behaupteten, er leiste Gutes, wo es auf 
Verstandestätigkeit ankomme. 

Eine operative Erweiterung der Nase und Beseitigung von 
Wucherungen daselbst erzielte keine nachweisliche Besserung. 

Auf der Universität wiederholten sich fast stereotyp seine 
Betrügereien, seine Geldverschwendung in langer Reihe, welche 
ihn schließlich in Konflikte und auf die Klinik brachten. 

Ein dritter Patient war 16 Jahre alt. Die Großmutter 
väterlicherseits war in ihrem Charakter auffällig abnorm, sehr 
jähzornig und aufgeregt. Die Schwester befand sich gleich- 
zeitig in der psychiatrischen Klinik in Graz und litt an zirku- 
lärer Psychose. Ein Bruder des Vaters starb an Alkoholdelır. 
Die Mutter selbst war 6 Jahre vor Aufnahme wegen Melan- 
cholie in Behandlung. 

Der Patient war das dritte Kind. Seine Geburt ging sehr 
schwer von statten und dauerte 12 Stunden. Bei der Geburt 
war er auffällig „klein wie ein Sechsmonatskind, dagegen der 
Kopf unverhältnismäßig groß“. | 

Schon in den Kinderjahren zeigte er ein aufgeregtes Wesen. 
In der Schule erwies er sich zum Lernen befähigt, aber auf- 
fällig faul, zerfahren, unordentlich, sowohl in Kleidung wie 
auch bei seinen Habseligkeiten. „Er wäre nur im Hemde auf 


a AT s 


die Straße gegangen, wenn es ihm erlaubt wäre.“ Er fiel auf 
durch seine Unbändigkeit und sein störrisches Wesen. Leicht 
geriet er in Zorn, wenn sein Wille nicht durchging. Besonders 
gegen seine Eltern richteten sich die Wutausbrüche. Gegen- 
über den Kameraden war er unverträglich, raufte stets mit 
ihnen. Gegen Strafen war er völlig refraktär. 

Als die Sachlage am Gymnasium unmöglich wurde, hatte 
man ihn auf die Handelsakademie geschickt; nach einem Monat 
setzte er den Schulbesuch einfach aus. 

In dieser Pubertätsphase nahm seine Zornmütigkeit zu. 
Er rannte mit dem Kopf gegen die Wand, zertrümmerte die 
Gegenstände, zerriß seine Bücher. In seinem Reden und Be- 
tragen war besonders auffällig die Roheit gegen die Mutter. 

Auf seinem Posten bei einer Leihbibliothek unternahm er 
einen Einbruchsdiebstahl. Er wurde verhaftet und hat sich 
bei der Gerichtsverhandlung in ziemlich gewandter, wenn auch 
auffällig hochtrabender Weise verteidigt. Die Gerichtsärzte 
anerkannten seine große Belesenheit und normale Intelligenz. 
Er wurde verurteilt, und nach seiner Abstrafung begann eine 
neue Reihe von Schwindeleien. Im Verlaufe dieser Konflikte 
sprang er in selbstmörderischer Absicht in den Fluß. 


Die Affekte sind ein Ergebnis, ein Erfolg der Vorgänge 
im gesamten Nervensystem und der davon abhängigen Organe; 
aber auch umgekehrt vermag die Produzierung von Affekten 
durch äußere Einflüsse den Gesamtzustand erheblich abzuändern 
nicht nur im abträglichen Sinne, sondern auch mit fördernder, 
ausgleichender, nutzbringender Wirkung. 

Ich habe es in zahlreichen Fällen beobachten können, daß 
Neuralgien, allgemeiner Kopfschmerz, Kopfdruck durch einen 
aktiven Affekt, aber auch durch Schreck mit einem Schlage 
hinweggeschafft werden. 

Es ist eine bekannte Tatsache, daß ein übermäßig domi- 
nierender Affekt, etwa der Trauer oder der Angst, durch 
anders geartete neue Affekte ausgeglichen und günstig beein- 
flußt wird. 

Die psychische Therapie hat sich also keinesfalls nur mit 
der Beeinflussung des Denkens, mit dem Anregen brauchbarer 

2 


se J0 aa 


Gedankeninhalte zu beschäftigen. Es müssen vielmehr die 
Wirkungen der Affekte aufeinander in Betracht gezogen 
werden. | | 

Man kann insofern von einem Heilwert der Affekte sprechen. 

Solche Erregungskrisen im Nervensystem setzen beachtens- 
werterweise nicht immer baldige Ermüdung und Erschlaffung, 
sondern sie können auffällig die Funktion restituieren. Hier 
gibt es eigenartige Gesetzmäßigkeiten, welche die derzeitige 
schulgemäße Erforschung über Ermüdung nicht zu erklären 
vermag. | 

So ist es eine häufige Tatsache, daß tiefe Verstimmungen 
der Hysterischen, auch Psychosen durch einen hysterischen 
Krampfanfall verscheucht werden und daß die betroffene 
Kranke sich nachher ausgeglichen, wohler, klarer, leistungs- 
fähiger fühlt. 

Auch bei Epileptikern verfügen wir über ähnliche Erfah- 
rungen. Das Ausbleiben der Krämpfe bewirkt mitunter einen 
beklommenen und benommenen Zustand, eine auffällige Hem- 
mung, gegen welche der Eintritt eines neuen Anfalles wie eine 
Erlösung wirkt, so daß solche Kranke mitunter selbst den An- 
fall herbeisehnen. 

Wohlbekannt ist es, daß Dämmerzustände und epileptische 
Psychosen durch den Anfall kupiert werden. 

Auch im physiologischen Leben gibt es Erfahrungen, daß 
einzelne Menschen in ihrem Arbeiten und Leisten auf einen 
toten Punkt angelangt sind, woselbst Phantasie, Einfälle und 
Gedanken stocken, wo die Initiative völlig versiegt und wo sie 
durch einen intensiven Affekt wiederum zum Ausgleich kommt, 
wonach die Arbeitsbereitschaft sich bessert und die Gedanken 
wieder in Fluß kommen. Ein ähnlicher „Heilwert“ wird ja 
mitunter den Exzessen zugeschrieben; doch kommt hier wohl 
am meisten die Wirkung einer seelischen Ablenkung und das 
oft drängende „Bedürfnis nach Änderung der Situation“ in 
Betracht. 

Eigentlich ist es auch eine vulgäre Erfahrung in der Tier- 
welt, daß Schreck, Angst und Gefahr die Tiere viel leistungs- 
fähiger erhält als ihre Genossen, welche in der Domestikation 
entarten. 


a FG u 


Es wurde von mehreren Autoren, darunter auch von 
Richet erörtert, daß der Schmerz eine Schutzvorrichtung für 
den Organismus darstellt; aber auch der psychische Schmerz 
ist mitunter imstande, andere Affekte zu beseitigen, insbesondere 
auch das Willensvermögen anzuregen. In der Tat wird oft 
gesprochen von der läuternden, ausgleichenden Wirkung eines 
wirklichen Unglückes. 

Insbesondere hysterische Beschwerden und Qualen werden 
durch Todesfall, durch herben Schmerz oft überraschend be- 
seitigt. 

Ganz automatisch vollzieht sich in uns eine geistige 
Sammlung im Momente wirklicher Gefahr und im Kampfe. 
Auch die Angstgefühle schwinden, wenn die Abwehr dringend 
nötig wird. 

Wie oft wirkt ein richtiger Zorn neubelebend und kräfte- 
steigernd. Es gibt ja Naturen, welche instinktiv. den Kampf 
und Polemik suchen, weil sie dabei in die beste Arbeitsver- 
fassung gelangen. 

Diese Wirkungen lassen sich also sowohl bei Kranken als 
auch bei Gesunden vielfach bestätigen. 

Wir können sagen: Die unbewußte Kraft der Selbstregulie- 
rung unseres Organismus wird oft neu belebt durch den Ein- 
bruch eines Affektes; das fundamentale Streben nach Ausgleich 
wird auch auf psychischem Gebiete durch geeignete Affekte 
zu einer höheren Leistung emporgebracht. 

Das menschliche Nervensystem stellt also in seinen Lebens- 
äußerungen ein komplizierteres Problem dar als der Zitteraal, 
bei welchem mehrere elektrische Entladungen schließlich die 
Funktion rasch erschöpft zeigen. 

Es sind beim Menschen vielmehr Reservekräfte, gebundene 
Energien, welche durch solche Reize, durch Affektausbruch 
frei und neu angefacht werden. 

Diese Erfahrungen treffen allerdings nur zu bei solchen 
Organismen, bei denen nicht durch Zerstörung des Gewebes 
und durch allgemeine Erschöpfung die Reaktionsfähigkeit und 
Widerstandsfähigkeit auf ein Minimum herabgesetzt ist. | 

Auch bei den „Desequilibrierten“, krankhaft Ver-, 
anlagten fehlt diese Selbstregulierung und Selbst- | 

2* | 


— 20 — 


steuerung der Affekte; auch jener heilsame Ausgleich, 
mit dem einzelne Affekte die Gesamtfunktion fördernd beein- 
flussen können. 


Es kommt hier auch schwer zur Herstellung des richtigen 


Verhältnisses der den einzelnen Vorstellungskomplexen zu- 


kommenden Affektwerte. 
Diese mangelnde Eqguilibristik der Affekte ist bei 


: Katatonikern wohl stets nachweisbar, besonders bei solchen, 


ee 


' wo die motorischen Symptome und die Erstarrung nicht zu 


intensiv in den Vordergrund treten. 

Wenn wir nun bei den vielgestaltigen Typen dieser 
Krankheit „moral insanity“ das Wesentliche und Wieder- 
kehrende kurz zusammenfassen, so können wir diese Symptome 
in folgendem aufzählen: 


Abnormer Mangel an höheren Gefühlskategorien: 
vermindertes Vermögen zu menschlicher Einfühlung; 
krankhafte Impulsivität mit ungehemmtem Trieb- 
leben; negativistische Willensriehtung und anderer- 
seits gesteigerte Suggestibilität. ` 

Die Reihe dieser Symptome aber findet sich wieder bei 
einer großen und bereits erwähnten Gruppe von psychischen 
Krankheiten, nämlich bei den leichteren Formen der 
Katatonie. 


Auch hier ist In psychischer Beziehung charakteristisch: 


der Negativismus und die nach anderen Richtungen gesteigerte 


Suggestibilität; der Ausfall und die Verödung einzelner Ge- 
fühlskategorien; die auffällige Beziehungslosigkeit (Dissoziation) 
von Verstandestätigkeit und Gefühlsleben; endlich aber auch 
die überraschende, gewissermaßen inselförmige Intaktheit ein- 
zelner Denk- und Gefühlskomplexe. 


Auch die Katatonie ist eine Erkrankung, welche die Ab- 
normität des Entwicklungsganges signalisiert. Es besteht kein 
Zweifel, daB seit Kahlbaum, dem ersten Beschreiber der 
Erkrankung, unter dem Ausdrucke Katatonie sehr verschieden- 
gestaltige geistige Erkrankungen zusammengefaßt werden, und 
es ist mit dem Namen selbst Verlauf und Prognose noch keines- 
wegs präzisiert. 


=,:91, = 

Auch Kahlbaum rechnete mildere Formen darunter, 
wie z. B. die Kauze, Sonderlinge, Einsiedler, auch die soge- 
nannte Predigerkrankheit. 

Die Bewegungsphänomene, insbesondere die Bewegungs- 
unfreiheit, die Stereotypien und Fixationen brauchen in milderen 
Fällen das Bild nicht zu beherrschen. 

Der Katatonie kommt bekanntlich als besonderes Charakte- 
ristikum zu die plötzliche Impulsivität, das Losbrechen 
aggressiver oder bizarrer Handlungen, bezüglich welcher nicht 
nachweisbar ist, daß entsprechende Gedankengänge und Motive 
vorausgingen. Es fehlen diesen Handlungen meist jene Kriterien, 
welche die Philosophen als Erwägen, Überlegen, Beabsichtigen, 
Entschlossensein, Geneigtheit oder Abgeneigtheit bezeichnen 
(Ebbinghaus). | 

Es ist wohl nur ein Bild, welches Wernicke gebraucht 
hat, wenn er vom „Freiwerden gestauter Energie“ spricht. 
Zum mindesten läßt sich häufig nachweisen, daß einerseits die 
Überlegung und Gedankenbildung gehemmt ist, während andrer- 
seits die motorische Innervation erhöht ist, wenn auch mit ge- 
ringer Auswahl, d. h. in stereotyper Wiederholung. Jedenfalls 
fehlt dabei der richtige Konnex zwischen Gedankenbildung und 
dadurch dirigierter Bewegung. 

Einzelne Individuen konstruieren sich erst nachträglich 
Motive und Veranlassungen zu den vollzogenen Handlungen, 
ohne daß diese nachträglichen Begründungen dem wirklichen 
Vollzug, dem wirklichen Hergang entsprechen. 

Kein Zweifel, daß die beiden Komponenten einer Hand- 
lung, d. i. einerseits die Gedankenbildung und die zugehörigen 
Gefühlserlebnisse, andrerseits die Inszenierung der Bewegungs- 
reihen sehr verschieden gestört sein können. Es gibt komplizierte 
Gredankenbildungen und klare Motive, welche den Weg zur Tat 
nicht finden, was wir als Willenslähmung bezeichnen. Anderer- 
seits haben kurz aufblitzende Affekte und kaum bewußte Ge- 
dankenreihen schon die Umsetzung aller Energie in motorische 
Leistungen zur Folge. Beide Möglichkeiten kann das Krank- 
heitsbild der Katatonie hervorrufen. 

Sehr häufig besteht bei dieser Erkrankung der rasche 
oder in Intervallen wiederkehrende Zwang zur Wieder- 


— 29 — 


holung. Diese verblüffende Repetierung liegt wohl häufig 
zugrunde bei der oft photographisch genauen Wiederholung 
seitens der Gewohnheitsverbrecher. 

Bei kriminellen Katatonikern hat mir das psychische 
Examen oft ergeben, daß die Gedankenbildung und die Be- 
wegungsinnervation in der Schnelligkeit des Ablaufes, also im 
Tempo auffällig ungleich sich vollziehen. Ehe die klare Über- 
legung ausgearbeitet ist, ist die Handlung schon vollzogen. 
Andererseits sind richtige Gedanken und Gefühle da, und das 
Ganze stockt, wenn es in Bewegung umgesetzt werden soll. 

Der Treppenwitz, d. h. der Ausbau der richtigen Über- 
legung erst nach vollzogener Handlung, läßt sich abnorm deut- 
lich bei leichten Formen der Katatonie nachweisen. 

Das Prinzip Wernickes der Sejunktion, d. h. Störung 
der Beziehung der einzelnen seelischen Funktionen unterein- 
ander, läßt sich auch nachweisen bezüglich der In- 
tensität und bezüglich des Rhythmus dieser ein- 
zelnen Funktionen. Dies betrifft sowohl die Grundwelle 
des Ablaufes der psychischen Funktionen, nämlich die Gefühle 
und Affekte, als auch andererseits die klare bewußte Gedanken- 
bildung und die beiden zugehörigen Bewegungsimpulse. 

Jedenfalls werden mir erfahrene Kiiniker bestätigen, daß 
gewisse Formen der Katatonie in Symptomen vor sich gehen, 
welche geradezu in Reinkultur die Vorbedingungen für krimi- 
nelle Handlungen und für deren stereotype Wiederholungen 
darstellen. 

Es kann also mit Fug und Recht auch die Kata- 
tonie als eine Form der geistigen Störung, insbe- 
sondere als eine Psychose in der Entwicklungszeit 
namhaft gemacht werden, welche diewesentlichen Be- 
dingungen der moralischen Abartung hervorbringen 
kann oder wenigstens in wesentlichen Zügen ihr 
gleicht. 

Nach den vorliegenden kurzen Erläuterungen gibt es also 
viele Kategorien von geistigen Störungen, welche die Sympto- 
matik und den Zustand der moralischen Abartung vorüber- 
gehend oder länger dauernd hervorrufen können. 

Diese Abartung kann in späteren Lebensphasen eintreten, 


— 9293 — 


also erworben sein, oder aber sie tritt auf in früher Kind- 
heit oder in der Pubertätszeit als ein andauernder, mit- 
unter lebenslänglicher Zustand; letzteres ist keineswegs immer 
der Fall, wie dies unter anderen Lon gard behauptet. 

In der großen Gruppe der krankhaften moralischen Ab- 
artung sind also sehr viele Typen vertreten mit verschiedenem 
Verlaufe und verschiedener Prognose. 

Bei der Übersicht empfiehlt es sich demnach, zunächst 
alle jenen Formen zu erörtern, welche wir mit größerer Sicher- 
heit als Phasen und als Erzeugnisse wohlbekannter, fester 
Krankheitsgruppen kennen gelernt haben. 

Die Zahl dieser Formen ist aber bereits eine sehr große, 
besonders wenn man auch die eben geschilderten inneren Be- 
ziehungen der Katatonie zu dep Symptomatik der krankhaften 
moralischen Abartung in der Jugend anerkennt. 

So wird aber von der Hauptgruppe eine große Zahl von 
Formen abgebröckelt, und es bleibt relativ ein viel kleinerer 
Rest, welcher die sogenannte angeborene Form der moral 
insanity umfaßt. 

Der nahezu 80jährige Name moral insanity, wenn er auch 
verschiedenwertige Formen in sich faßt, kann doch bestehen 
bleiben als Signal für die wichtige und sichere klinische Tat- 
sache, daß es Krankheitsprozesse und abnorme Ent- 
wieklungen gibt, welche elektiv und vorwiegend 
das Gefühls- und Gemütsleben und die daraus er- 
fließenden Handlungen beeinflussen. 


Literaturverzeichnis. 


Abercombie, Inquiries concerning theintellectualpowers. Edinburg 1830. 

Adrian, Zur Frage vom moralischen Irresein und Verbrecherwahnsinn. 
Dissertation Berlin 1881. 

Agostini, Consideration sur l’inefficacite de la peine chez les criminels 
vrais. Revue de psychiatrie 1899. 

Anton, Krankhafte Störungen und Hemmungen der geistigen Entwick- 
lung. Dittrich, Handbuch der forensischen Psychiatrie, Wien 1909. 

Arndt, Lehrbuch der Psychiatrie. Wien-Leipzig 1883. 

Baer, Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung. Leipzig 1893. 

Barr, La criminalité juvénile. Archives d'anthropologie criminelle 1901, 
p. 576. 


u. DE s 


Benedikt, Über die Psychologie des Verbrechens. Zeitschrift für 
Psychiatrie 1877, Bd. 33, p. 19. 

— Juristische Briefe. Österreichische Gerichtszeitung 1900. 

Berze, Über moralische Defektzustände. Jahrbücher für Psychiatrie 
1897, Bd. 15, p. 62. 

Bigot, Des périodes raisonnantes de l’alienation mentale. Paris 1877. 

Binswanger, Über die Beziehungen des moralischen Irreseins zu der 
erblich degenerativen Geistesstörung. Sammlung klinischer Vorträge 
von Volkmann 1887, Nr. 299, p. 1. 

Bischoff, Über einen Fall von Schwachsinn mit moralischer Depravation. 
Jahrbücher für Psychiatrie 1898, Bd. 17, p. 308. 

Blandford-Kornfeld, Die Seelenstörungen und ihre Behandlung. 
Berlin 1878. 

Bleuler, Über moralische Idiotie. Vierteljahrsschrift für gerichtliche 
Medizin 1893, 3. Folge, Bd. 6, Suppl.-Heft p. 54. 

— Die Lehre vom Verbrecher. Ärztliche Monatsschrift 1898. 

Bonelli, Un caso di pazzia morale.: Archivio di psichiatria 1902, Bd. 23. 

Bonfigli, Ancora sulla questione della pazzia morale. Rivista speri- 
mentale di freniatria 1877, Bd. 3, p. 550. 

— Ulteriori considerazioni sugli argomento della cosi detta pazzia morale. 
Rivista sperimentale di freniatria 1879, Bd. 5, p. 41. 

Bonhoeffer, Ein Beitrag zur Kenntnis des großstädtischen Bettel- und 
Vagabondentums. Berlin 1900. 

Brosius, Psychiatrische Abhandlungen. Neuwied 1863. 

Brunet, L’idiotie morale. Revue de Psych. 1900, p. 344. 

Buchholz, Über die Aufgaben des ärztlichen Sachverständigen bei der 
Beurteilung Imbeziller. Zeitschrift für Psychiatrie 1900, Bd. 57, p. 340. 

Büttner, Moralisches Irresein. Der Kinderarzt 1904, Nr. 4. 

Casper-Liman, Handbuch der gerichtlichen Medizin. Berlin 1881. 
9. Aufl., herausgeg. v. Schmidtmann, 1905. 

Channing, The connection between insanity and crime. Journal of 
insanity 1886, p. 452. 

Clouston, Clinical lectures on mental diseases. London 1892. 

Cohn, Die Psychosen im Kindesalter. Archiv für Kinderheilkunde 1883, 
Bd. 6, p. 115. 

Cramer, Gerichtliche Psychiatrie. Jena 1897. 

— Moralische Idiotiee Münchner medizinische Wochenschrift 1898, Nr. 46. 

— Die Behandlung der Grenzzustände in foro. Berliner klinische 
Wochenschrift 1900, Nr. 47 u. 48. 

Crothers, Moral insanity and inebriety. Philadelph. med. and surg. 
Rep. 1885, p. 589. 

— Moral insanity in inebriety. Journal ofthe american medical association 
1898, Bd. 31. 

Dallemagne, Dégénérés et desequilibres. Paris 1895. 

Deiters, Beitrag zur gerichtsärztlichen Beurteilung der höheren Stufen 
der Imbezillität. Allgemeine Zeitschr. f. Psych. 1879, Bd. 35, p. 135. 


u; WIR: Zn 


Delbrück, Über verminderte Zurechnungsfähigkeit bei moralischem 
Irresein. Korrespondenzblatt für Schweizer Ärzte Bd. 26. 

— Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler. Berlin 
1891. 

van Deventer, Ein Fall von sanguinischer Minderwertigkeit. Zeit- 
schrift für Psychiatrie 1895, Bd. 51, p. 550. 

Ellis, The criminal. London 1901. 

Emmert, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. Leipzig 1900. 

Emminghaus, Die psychischen Störungen des Kindesalters. Tübingen 
1878. 

Eulenburg, Der Marquis de Sade. Dresden 1901. 

Féré, Le sadisme aux courses de tauraux. Revue de médecine 1900. 

Ferriani-Rubemann, Minderjährige Verbrecher. Berlin 1896. 

Finger, Die geminderte Zurechnungsfähigkeit und die strafrechtliche 
Behandlung der gemindert Zurechnungsfähigen. Gerichtssaal 1904. 

Fornasini, Un caso di matrieidio. Anuali univas. di medic. 1886, 
p. 379. 

Friedländer, Imbezillität und moral insanity. Monatsschrift für 
Psychiatrie und Neurologie 1909, Bd. 25, H. 4. - 

Ganser, Ein Fall von erblicher Degeneration in der Form des morali- 
schen Schwachsinns. Zeitschrift für Psychiatrie 1902, Bd. 59, p. 338. 

Gasquet, On moral insanity. Journal of mental science April 1882. 

Gaupp, Über moralisches Irresein und jugendliches Verbrechertum. 
Jurist.-psychiatrische Grenzfragen 1904, Bd. 2, p. 51. 

Gauster, Über moralischen Irrsinn. Wiener Klinik 1877. 


Geill, Moral insanity und geborener Verbrecher. Ugeskift lor Läger 
1894, Nr. 25—26. 

Gleitsmann, Eine Entmündigung wegen moral insanity. Vierteljahrs- 
schrift für gerichtliche Medizin 1891, III. Folge, Bd. 1, Suppl. p. 121. 

Gockel, Über „moral insanity“. Dissertation Greifswald 1886. 

Goldsmith, Pazzia morale coll’ablazione dell’ovaia. Lombroso’s Archiv 
1886, Bd. VII, p. 231. 

O. Groß, Psychopathische Minderwertigkeiten. Wien 1910. 

Gudden, Das Wesen des moralischen Schwachsinns. Archiv für 
Psychiatrie 1908, Bd. 44, p. 376. 

Hecker, Simulation oder Geisterkrankieit Vierteljahrsschrift für ge- 
richtliche Medizin 1876. 

Heinrich, Kritische Abhandlung über die von Prichard als „Moral 
insanity“ geschilderte Krankheitsform. Zeitschrift für Psychiatrie 
1848, Bd. 5, p. 501. 

Henneberg, Beitrag zur forensischen Psychiatrie „Eine psychisch 
abnorme Diebsbande.“ Charite-Annalen 23. Jahrg. 1898. 

— Zur forensischen und klinischen Beurteilung der Pseudologia phantastica. 
Charite-Annalen 1990. 


Higier, Moral insanity bei einem 6jährigen Mädchen. Medycyna 1908. 


— 26 — 


Hoche, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. Berlin 1901. 

— Die Grenzen der geistigen Gesundheit. Halle 1903. 

Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. Wien-Leipzig 1881. 

Holländer, Zur Lehre von moral insanity. Jahrbücher für Psychiatrie 
1883, Bd. 4, p. 1. 

Hughes, Moral (affective) insanity. A plea for its retention in medical 
nomenclature. Journ. of psych. med. and ment. path. 1882, Vol. VII, 
P. 1, p. 64. | 

Kahlbaum, Über eine klinische Form des moralischen Tereso: Zeit- 

| schrift für Psychiatrie 1885, Bd. 41, p. 711. 

Kirn, Geistesstörung und Verbrechen. Festschrift zur Feier des 
50jährigen Jubiläums der Anstalt Illenau, Heidelberg 1892, p. 77. 


Kleudgen, Über das sogenannte moralische Irresein. et 
für gerichtliche Medizin 1889, Bd. 50, Suppl. p. 1. 


Knecht, Über die Verbreitung physischer Degeneration bei Verbrechern 
und die Beziehungen zwischen Degenerationszeichen und Neuro- 
pathien. Zeitschrift für Psychiatrie 1884, Bd. 40, p. 584. 


Kneidl, Moral insanity. Casopis lekaru ceskych 1907, Nr. 8. 

Knopp, Über Moral insanity. Zeitschrift für Psychiatrie 1875, Bd. 31. 
p. 697. 

Koch, Kurzgefaßter Leitfaden der Psychiatrie. Ravensburg 1889. 

— Die psychopathischen Minderwertigkeiten. Ravensburg 1891. 

— Abnorme Charaktere. Wiesbaden 1900. 

Köppen, Über die pathologische Lüge. Charite-Annalen 1888, Bd. 23. 

Kornfeld, Geistesstörungen in englisch-amerikanischer Rechtsprechung. 
Archiv für Kriminalanthropologie 1900, Bd. 5, p. 209. i 

Kowalewsky, Psychologie criminelle. Paris 1903. 

Kraepelin, Psychiatrie Leipzig 1903. 

Krafft-Ebing, Die Erblichkeit der Seelenstörungen und ihre Bedeu- 
tung für die forensische Praxis. Friedreichs Blätter für gerichtliche 
Medizin 1868, Bd. 19. 

— Die Lehre vom moralischen Wahnsinn und ihre Bedeutung für das 
Forum. Friedreichs Blätter 1871, p. 361. 

— Über Verbrechen und Wahnsinn. Zeitschrift für Psychiatrie 1873, 
Bd. 29, p. 359. 

— Lehrbuch der Psychiatrie. Stuttgart 1903. 

Krauß, Die Psychologie des Verbrechers. Tübingen 1884. 

Kuehn, Über die Geisteskrankheiten der Korrigenden. Archiv für 
Psychiatrie 1891, Bd. 22, p. 354. 

Kurella, Naturgeschichte des Verbrechers. Stuttgart 1893. 

Kröcher, Kritik der Moral insanity vom militär-ärztlichen Standpunkte 
Militär-ärztliche Zeitschrift 1885, Nr. 3. 

Leidesdorf, Sandon und die folie affective morale der Franzosen oder 
die „Moral insanity“ Prichards. Wiener medizinische Wochenschrift 
1865, Nr. 65. 


— 97 — 


Lenz, Die geisteskranken Verbrecher im Strafverfahren und Strafvoll- 
zuge. Blätter für Gefängniskunde 1900. 

Leubuscher, Bemerkungen über moral insanity und ähnliche Krank- 
heitszustände. Wochenschrift für die gesamte Heilkunde 1848, Nr. 50° 
und 51. 

Livi, Della monomania in relazione al foro criminale. Rivista speri- 
mentale di freniatria 1876, Bd. 2, p. 639. 

Lloyd, The claim of moral insanity in its medico-legal aspects. The 
New-York medical record 1887, p. 588. 

Lombroso, La pazzia morale e il delinquente nato. Archivio di 
psychiatria 1882, Bd. 3, p. 365. 

— Identità dell’epilessia colla pazzia morale e delinquenza congenita. 
Sein Archiv 1885, Bd. VI, p. i. 

— Le varietà della follia morale e dell’epilessia. Sein Archiv 1887, Bd. 
8, p. 100. 

— Pazzia morale senza anomalie fisiche esterne. Sein Archiv 1892, 
Bd. 13, p. 587. 

Lombroso-Fränkel, Der Verbrecher. Hamburg 1894. 

Longard, Geisteskrankheiten bei Gefangenen. Psychiatrische Wochen- 
schrift 1901, Nr. 39. 

— Über „Moral insanity“. Monatsschrift für Kriminalpsychologie 1906, 
Bd. 2, p. 677. Archiv für Psychiatrie 1907, Bd. 43, p. 135. 

Lykke, Bidrag til laeren om moral insanity. Diss. 1879. 


Magnan, Psychiatrische Vorlesungen. Leipzig 1891. 


Maier, Über moralische Idiotie. Journal für Psychologie und Neurologie 
1908, Bd. 13, p. 57. | 

Mannheimer, Les troubles mentaux de l’enfance. Paris 1899. 

Marandon de Montyel, Un cas de folie sans délire. Annales médi- 
co-psychologiques 189. 

Marro, Esami psichometrici di pazzi morali e mattoidi. Archivio di 
psichiatria 1885, p. 359. 


Mandsley, Responsibility in mental disease. London 1874. 

Mendel, Der moralische Wahnsinn. Deutsche Zeitschrift für praktische 
Medizin 1876, Nr. 52, p. 527. | 

— Bericht über die Sektion für psychologische Medizin und Nervenkrank- 
heiten des 9. internationalen Kongresses zu Washington vom 5.—10. 
September 1887. Neurologisches Zentralblatt 1887, Bd. 6, p. 454. 

— Moral insanity. Eulenburgs Realenzyklopädie 1888, 2. Aufl., Bd. 13, 
p. 388. 

Meynert, Gehirn und Gesittung. Naturforscher-Versammlung 1888. 

— Klinische Vorlesungen über Psychiatrie. Wien 1890. 

Möbius, Stachyologie. Leipzig 1901. 

Moeli, Über irre Verbrecher. Berlin 1889. 

Mönkemöller, Geistesstörung und Verbrechen im Kindesalter. Berlin. 
1903. 


=, O8 


Morel, Traité des degenerescences. Paris 1857. 

MorselliundLombroso, Epilessia larvata, pazzia morale. Lombroso’s 
Archiv 1885, Bd. VI, p. 29. 

Motet, Perversion intellectuelle et morale. L’enc&phale 1885, Nr. 5, p. 276. 

Müller, Über „Moral insanity“. Archiv für Psychiatrie 1899, Bd. 31, p. 325. 

Muralt, Über moralisches Irresein. München 1903. 


Musso und Stura, Caso tipico di follia morale. Archivio di psichi- 
atria 1884, Bd. 3, p. 182. 

Näcke, Die sogenannte „Moral insanity“ und der praktische Arzt. Ärzt- 
liche Sachverständigen-Zeitung 1895, Nr. 13. 

— Zur Lehre der sogenannten Moral insanity. .Neurologisches Zentral- 
blatt 1896, Nr. 11, p. 484. 

— Weiteres zum Kapitel der Moral insanity. Neurologisches Zentralblatt 
1896, Nr. 15, p. 678. 

— Kritisches zur Lehre der „Moral insanity“. Psychiatrische Wochen- 
schrift 1899, Nr. 13. | 

— Über die sogenannte „Moral insanity“. Wiesbaden 1902. 

— Einige Punkte aus der Lehre der sogenannten „Moral insanity“. 
Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 1906, Bd. 8, p. 126. 


Nasse, Die Regelwidrigkeiten der Gefühle. Zeitschrift für die Beurteilung 
und Heilung der krankhaften Seelenzustände 1838, 1. Bd., p. 434. 

— Die Gefühlskrankheiten. Zeitschrift für Psychiatrie 1847, Bd. 4, p. 179. 

Neißer, Paranoia und Schwachsinn. Zeitschrift für Psychiatrie 1897, 
Bd. 53, p. 241. 

Neumann, Leitfaden der Psychiatrie. Berlin 1883. 

Palmerini, Sulla questione della cosi detta pazzia morale. Rivista speri- 
mentale di freniatria 1877, Bd. 3, p. 537. 

— Sulla questione della pazzia morale. Rivista sperimentale di freniatria 
1879, Bd. 5, p. 28. 

Pelanda und Coiner, I pazzi criminali al manicomio di Verona nel 
decennio 1890—99. Turin 1902. 

Penta, Alcuni appunti sulle pazzie dei carcerati. Riv. mens. di psich. 
for. 1900. 

— Delinquenti e delitti primitivi. Rivista mensile pi psichiatria forense 
1901, p. 221. 

Pondojeff, Über den Begriff der Debilität mit vorwiegend ethischem 
Defekte. Diss. Berlin 1907. 

Prichard, A treatise on insanity. London 1835. 

Przeworski, Ein Fall moralischen Irreseins. Archiv für Kriminalanthro- 
pologie 1906, Bd. 22, p. 360. 

Raimondes, Moral insanity. Rio de Janeiro 1901. 

Reimer, Moralisches Irresein. Deutsche medizinische Wochenschrift 
1878, p. 230. 
Rémond und Lagriffe, De la valeur sociale des degeneres. Annales 

medico-psychologiques 1901. 


_ 29 — 


Sander und Richter, Die Beziehungen zwischen Geistesstörung und 
Verbrechen. Berlin 1886. 


Savage-Knecht, Klinisches Lehrbuch der Geisteskrankheiten. Leipzig 
1887. 

Schaefer, Ein Wort zum Schutze geisteskranker Soldaten. Stuttgart 
1892. 

— Der moralische Schwachsinn. Halle 1906. 


Scherpf, Zur Ätiologie und Symptomatologie kindlicher Seelenstörungen. 
Jahrbuch für Kinderheilkunde und physische Erziehung 1881, N. F. 
Bd. 16, S. 315. 


Schlöß, Über die Lehre vom moralischen Irrsinn. Jahrbücher für 
Psychiatrie 1889, Bd. 8, p. 242. 

Scholz, Privatgutachten über den Geisteszustand des M. K. Viertel- 
jahrsschrift für gerichtliche Medizin 1895, II. Folge Bd. 4, = 295. 

Schulze, Über Moral insanity. Diss. Berlin 1901. 

— Über Moral insanity. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 1904, Bd. 
61, p. 109. 

Siemerling, Über die Entwicklung der Lehre von den geisteskranken 
Verbrechern. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 1900, Bd. 57. 

Sioli, Über die Imbezillität. Zeitschrift für Psychiatrie 1900, Bd. 57, 
p- 102. 

Sommer, Diagnostik der Geisteskrankheiten. Berlin-Wien 1901. 

Stoelzner, Moralischer Schwachsinn im Kindesalter. Medizinische 
Klinik 1910, Bd. 6, p. 167. 

Stolz, Gedanken über moralisches Irresein. Zeitschrift für Psychiatrie 
1877, Bd. 33, p. 732. 

Störrin g, Vorlesungen über Psychopathologie. Leipzig 1900. 

Strauß, Über moralischen Wahnsinn. Diss. Berlin 1885. 

Stura, Un caso di pazzia morale nei fanciulli. Lombroso’s Archiv 1886, 
Bd. 7, p. 498. 

Svetlin, Über moral insanity. Wiener medizinische Wochenschrift 1899, 

Tamburini, Imbecillità morale e delinquenza congenita. Riv. sperim. 
di medic. legale 1886, Bd. 12, p. 81. 

Tanzi, Kritische Revue über moralisches Irresein und geborene Ver- 
brecher. Rivista sperimentale 1885, Bd. 10, H. 4. 

Thoma, Leicht abnorme Kinder. Zeitschrift für Psychiatrie 1905, Bd. 
62, p. 510. 

Tiling, Über angeborene moralische Degeneration. Zeitschrift für Psychi- 
atrie 1896, Bd. 52, p, 258. 

— Die Moral insanity beruht auf einem exzessiv sanguinischen Temperament. 
Zeitschrift für Psychiatrie 1901, Bd. 57, p. 285. 

Tonnini, Le epilessie. Lombroso’s Archiv 1885, Bd. VI, p. 370. 

Trömmer, Moralische Debilität. Deutsche medizinische Wochenschrift 
1902, p. 130. 


— 30 — 


Trueper, Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter. Güters- 
loh 1893. 

Tuczek, Über das pathologische Moment in der Kriminalität der jugend- 
lichen Verbrecher. Zeitschrift für klinische Medizin 1904. | 

Hack-Tuke, Prichard and Symons in especial relation to mental science 
with chapters on moral insanity. London 1891. 

Verga, Brevi considerazioni intorno ad alcun casi di pazzia morale. 
Lombroso’s Archiv 1887, Bd. 8, p. 46. 

Wernicke, Grundriß der Psychiatrie. Leipzig 1906. 

Westphal, Die konträren Sexualempfindungen. Archiv für Psychiatrie 
1870, Bd. 2. 

Westphal-Mendel, Diskussion über moralischen Wahnsinn. Berliner 
klinische Wochenschrift 1878, Nr. 15, p. 214. 

Weygandt, Atlas und Grundriß der Psychiatrie. München 1902. 

Witkowsky, Über den Schwachsinn. Neurologisches Zentralblatt 1886, 
Bd. 5, p. 569. 

Workmann, Moral insanity. The Canadian practitioner 1883, p. 10. 

Zeller, Bericht über die Wirksamkeit der Heilanstalt Winnenthal. Zeit- 

. schrift für Psychiatrie 1848, Bd. 5, p. 179. 

Ziehen, Gehirn und Seelenleben. Leipzig 1902. 

— Psychiatrie. Leipzig 1902. 

— Die Geisteskrankheiten des Kindesalters mit besonderer Berücksichtigung 
des schulpflichtigen Alters. Berlin 1902. 


Carl Marhold Verlagsbuchhandlung in Halle a. S. 





Heilpädagogische und verwandte Literatur. 
Anton, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. 6., in Halle a. S. Aerztliches über Sprechen 


und Denken. Preis M. 0,60. 
— Ueber geistige Ermüdung der Kinder im gesunden und kranken Zu- 
stande. Preis M. 0,40. 
Aschaffenburg, Prof. Dr. 6., in Köln a. Rh. Ueber die Stimmungs- 
schwankungen der Epileptiker. Preis M. 1,60. 


Berichte über die Verbandstage des Verbandes der Hilfsschulen 
Deutschlands. I. Hannover 1898, II. Cassel 1899. Preis à M. 1,—. 
III. Augsburg 1901. M. 2,—. IV. Mainz 1903 vergriffen. V. Bremen 
1905, VI. Charlottenburg 1907, VII. Meiningen 1909 à M. 2,—-. 

Bode, San.-Rat Dr., in Thale. Die in das Gebiet der Samaritertätigkeit 
fallenden Verletzungen, Erkrankungen und Unglücksfälle. Als Merk- 
und Handbuch für den Samariterunterricht zusammengestellt. Zweite 
Auflage. Preis M. 1,50. 

Bonhoeffer, Prof. Dr. K., in Breslau. Klinische Beiträge zur Lehre von 
den Degenerationspsychosen. Preis M. 1,60. 

Braunschweig, M. Das dritte Geschlecht (Gleichgeschlechtliche Liebe). 
Beiträge zum homosexuellen Problem. Dritte vermehrte Auflage. 
Mit 4 Illustrationen. Preis M. 1,20. 

Bresgen, San.-Rat Dr. M., in Wiesbaden. Die hauptsächlichen kindlichen 
Erkrankungen der Nasenhöhlen, der Rachenhöhle und der Ohren, sowie 
ihre Bedeutung für Schule und Gesundheit nebst grundsätzlichen Er- 
örterungen über Untersuchung und Behandlung solcher Kranken. 

Preis M. 1,60. 

Bresler, Oberarzt Dr. Joh., in Lüben (Schles.). Alkohol auch in geringen 


Mengen Gift. Nach öffentlichen Vorträgen. Preis M. 1,—. 
— Wie beginnen Geisteskrankheiten? Preis M. 1,—. 
— Die pathologische Anschuldigung. Preis M. 1,—. 


Bruns, Prof. Dr. L., Nervenarzt, Oberarzt der inneren Abteilung der 
Hannoverschen Kinderheilanstalt in Hannover. Die Hysterie im Kindes- 
alter. Zweite vielfach veränderte Auflage. Preis M. 1,80. 

Dannenberger, Dr. A., in Gießen. Ueber die porenkephalische Form der 
zerebralen Kinderlähmung. (Sommers Klinik I, 2.) Preis M. 3,—. 

— Ueber die Littlesche Form der zerebralen Kinderlähmung. (Sommers 
Klinik H, 3.) Preis M. 3,—. 

Donath, Dr. Julius, Universitäts-Dozent, Ordinarius am St. Rochus-Spital, 
in Budapest. Bestrebungen und Fortschritte in der Behandlung der 


Epilepsie. (1887—1900.) Kritische Studie. Preis M. 0,50. 
Ensch, Dr. med., in Brüssel. Untersuchung der Nasenatmung und des Ge- 
hörs in der Schule. Preis M. 0,50. 


` Feilchenfeld, Dr. Hugo, Augenarzt, in Lübeck. Der Heilwert der Brille. 
Preis M. 2,50. 

Felix, Dr. Eugen, Agrégé der Universität, in Bukarest. Die Schleim- 
polypen der Nase. Preis M. 0,50. 
Fink, Dr. Emanuel, Spezialarzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkranke, in 
Hamburg. Die Bedeutung des Schnupfens der Kinder. Preis M. 1,50. 
Flatau, Dr. Theodor S., in Berlin. Die Hysterie in ihren Beziehungen 


zu den oberen Luftwegen und zum Ohre. Preis M. 2,50. 
— Sprachgebrechen des jugendlichen Alters in ihren Beziehungen zu 
Krankheiten der oberen Luftwege. Preis M. 1,80. 


Gaupp, Priv.-Doz. Dr. Rob., in Heidelberg. Ueber moralisches Irresein 
und jugendliches Verbrechertum. (Enth. in Jur.-psych. Grenzfragen 


, 1/2.) Preis M. 2,40. 
Gelpke, Dr. Th., in Karlsruhe. Ueber die Beziehungen des Sehorgans 

„ zum jugendlichen Schwachsinn. Preis M. 0,80. 
Gündel, Dr. phil. A., Direktor der Idiotenanstalt zu Rastenburg (O.-Pr.). 
Zur Organisation der Geistesschwachen-Fürsorge. Preis M. 4,—. 
6utzmann, Dr. Herm, in Berlin. Von den verschiedenen Formen des 
Näselns. Mit sechs Abbildungen. Preis M. 1,50. 


Handbuch der Heilpädagogik, Enzyklopädisches. Unter Mitwirkung 
zahlreicher am Erziehungswerke interessierter Aerzte und Pädagogen 
herausgegeben von Prof. Dr. A. Dannemann in Gießen, Hilfsschulleiter 
H. Schober in Posen und Hilfsschullehrer Ed. Schulze in Halle a. S 


- 














Carl Marhold Verlagsbuchhandlung in Halle a. S. 





Erscheint in 10 Lieferungen à M. 3,—, wird insgesamt ca. 60 Druck- 
bogen in Lex. 8° umfassen und im Herbste 1910 fertig vorliegen. 
Ausführliche Prospekte mit Inhaltsangabe kostenlos; Lieferung 1 bereit- - 
willigst zur Ansicht. . 


Haymann, Dr. H., in Freiburg i. Br. Kinderaussagen. Preis M. 1,—. 
Heller, Dir. Dr. Th., in Wien-Grinzing. Schwachsinnigenforschung, Für- 
sorgeerziehung und Heilpädagogik. Preis M. 1,—. 


Hilbert, Dr. Rich., in Sensburg (O.-Pr.). Die Pathologie des Farbensinnes. 
Preis M. 1,80. 

Die Hilfsschule. Organ des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands. 
Monatsschrift für die gesamten Interessen der Hilfsschule und ihrer 
Lehrer. Herausgegeben von Rektor A. Henze und Hilfsschullehrer 
Ed. Schulze. Bezugspreis tür Verbandsmitglieder M. 3,— jährlich, für 
Nichtmitglieder M. 5,— jährlich. Probenummern kostenlos. 

Hübner, Augenarzt Dr., in Cassel. Blindheit und Blindenwesen. Preis M. 1,20. 

Jaeger, Dr., in Gießen. Familiärer Kretinismus.. Mit 5 Abbildungen. 
(Sommers Klinik I, 1.) Preis M. 3,—. 

Jahrmürker, Dr. Max, Oberarzt der psychiatrischen Klinik zu Marburg. 
Zur Frage der Dementia praecox. Eine Studie aus der psychiatrischen 
Klinik der Universität Marburg (Prof. Tuczek). Preis M. 3,-—. 

Ilberg, Stabsarzt d. R., Oberarzt Dr. Gg., in Großschweidnitz. Ueber Geistes- 
störungen in der Armee zur Friedenszeit. Zum Gebrauch für Offiziere, 
Militärärzte, Militärgeistliche, Auditeure und Aerzte. Preis M. 1,—. 

Die Irrenpflege. Monatsschrift für Irrenpflege und Krankenpflege zur Be- 
lehrung und Fortbildung des Pflegepersonals an Heil- und Pflege- 
anstalten und zur Vertretung der Standesinteressen desselben. Redigiert 
von Oberarzt Dr. Wickel, Obrawalde b. Meseritz (Posen). Abonnements- 
preis pro Halbjahr M. 3—. Probenummern kostenlos. 

Jung, Priv-Doz. Dr. C. J., in Zürich. Ueber die Psychologie der 
Dementia praecox. Ein Versuch. Preis M. 2,50. 

Juristisch-psychiatrische Grenzfragen. Zwanglose Abhandlungen 
Herausgegeben von Geh. Justizrat Prof. Dr. jur. A. Finger, Halle 
a.S., Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoche, Freiburg i. Br., Ober- 
arzt Dr. med. Joh. Bresler, Lüben i. Schl. Band I und II kosten 
komplett je M. 6,—. Von Band IH ab beträgt der Abonnementspreis 
M. 8,— tür den Band = 8 Hefte. Es liegen bis jetzt 6 Bände abge- 
schlossen vor. Jedes left ist auch einzeln käuflich. Ausführliche In- 
haltsverzeichnisse der Bände und Hefte kostenlos. 

Kafemann, Prof. Dr. R., in Königsberg. Ueber die sogen. Aprosexia nasalis. 


Denkschwäche der Schulkinder aus nasaler Ursache. Preis M. 1.50, 
Kayser, Dr. R., in Breslau. Ueber die Bedeutung von Nasenkrankbeiten 
tür den Gesichtsausdruck. Preis M. 1,50. 
— Die Laryngoskopie bei Kindern. Preis M. 1,50. 


Kelling, Dipl.-Ing. Joh., in Wien. Heizung und Lüftung für Kranken- 
häuser und Schulen. Zweite Aufl. Mit5 Abbildungen. Preis M. 0,80. 
Kielhorn, Schulinsp., Leiter der Hilfsschule in Braunschweig. Erziehung 
und Unterricht schwachbefähigter Kinder. Hilfsschul-Lehrplan. 
Preis M. 2,—. 
Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. Herausgegeben von 
Dr. med. et phil. Robert Sommer, ord. Prof. a. d. Univ. Gießen. 
Erscheint in Bänden & 4 Hefte. 4 Bände liegen abgeschlossen vor, 
der 5. ist im Erscheinen. Preis pro Band M. 12,—, pro Heft M. 3,—. 
Ausführliche Inhaltsverzeichnisse der Bände und Hefte kostenlos. 
Kluge, Dr., Direktor der brandenburgischen Provinzialanstalt fürEpileptische 
zu Potsdam. Männliches und weibliches Denken. Ein Beitrag zu? . 


Frauen- und Erziehungsfrage. Preis M. 1,—. 
König, Dr., Kreisarzt in Konitz (Westpr.).. Ohruntersuchungen in der 
Dorfschule. Ein Beitrag zur Schularztfrage. Preis M. 0,80. 


Krayatsch, Dir. Dr. Josef, k. k. Regierungsrat in Mauer-Oehling (Nieder- 
österreich. Zur Pflege und Erziehung jugendlicher Idioten und 
Schwachsinniger. Preis M. 1,—. 

Laquer, Dr. Leopold, Nervenarzt u. Schularzt der Städt. Hilfsschulen in 
Frankfurt a. M. Ueber schwachsinnige Schulkinder. Preis M. 1,50. 

— Die Bedeutung der Fürsorgeerziehung für die Behandlung und Ver- 
(sorgung von Schwachsinnigen. Sommers Klinik II, 2.) Preis M. 3,—. 


Vereinigung für gerichtliche Psychologie 
und Psychiatrie im Grossherzogtum Hessen. 
Sechstes Heft. 


Herausgegeben im Auftrage des Vorstandes von 
Professor Dr. A. Dannemann. 





Die Abtreibung der Leibesfrucht 
vom Standpunkte der lex ferenda. 


Referate, erstattet in der Versammlung vom 4. Juni 1910 
zu Mainz, durch 


Justizrat Dr. Horch in Mainz 
und 


Professor Dr. Otto von Franque in Gießen. 





Halle a. S. 
Carl Marhold Verlagsbuchhandlung. 
1910. 


Carl Marhold Verlagsbuchhandlung in Halle a. S. 











Erscheint in 10 Lieferungen à M. 3,—, wird insgesamt ca. 60 Druck- 
bogen in Lex. 8° umfassen und im Herbste 1910 fertig vorliegen. 


Ausführliche Prospekte mit Inhaltsangabe kostenlos; Lieferung 1 bereit- - 


willigst zur Ansicht. 


Haymann, Dr. H., in Freiburg i. Br. Kinderaussagen. Preis M. 1,—. 
Heller, Dir. Dr. Th., in Wien-Grinzing. MS BEIDIE OS: Für- 
sorgeerziehung und Heilpädagogik. Preis M. 1,—. 


Hilbert, Dr. Rich., in Sensburg (O.-Pr.). Die Pathologie des Farbensinnes. 
Preis M. 1,80. 

Die Hilfsschule. Organ des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands, 
Monatsschrift für die gesamten Interessen der Hilfsschule und ihrer 
Lehrer. Herausgegeben von Rektor A. Henze und Hilfsschullehrer 
Ed. Schulze. Bezugspreis tür Verbandsmitglieder M. 3,— jährlich, für 
Nichtmitglieder M. 5,— jährlich.. Probenummern kostenlos. 

Hübner, Augenarzt Dr., in Cassel. Blindheit und Blindenwesen. Preis M. 1,20. 

Jaeger, Dr., in Gießen. Familiärer Kretinismus. Mit 5 Abbildungen. 
(Sommers Klinik I, 1.) Preis Al. 3,—. 

Jahrmürker, Dr. Max, Oberarzt der psychiatrischen Klinik zu Marburg. 
- Zur Frage der Dementia praecox. Eine Studie aus der psychiatrischen 
Klinik der Universität Marburg (Prof. Tuczek). Preis M. 3,-—. 

Ilberg, Stabsarzt d. R., Oberarzt Dr. Gg., in Großschweidnitz. Ueber Geistes- 
störungen in der Armee zur Friedenszeit. Zum Gebrauch für Offiziere, 
Militärärzte, Militärgeistliche, Auditeure und Aerzte. Preis M. 1,—. 

Die Irrenpflege. Monatsschrift für Irrenpflege und Krankenpflege zur Be- 
lehrung und Fortbildung des Pflegepersonals an Heil- und Pflege- 
anstalten und zur Vertretung der Standesinteressen desselben. Redigiert 
von Oberarzt Dr. Wickel, Obrawalde b. Meseritz (Posen). Abonnements- 
preis pro Halbjahr M. 3,—. Probenummern kostenlos. 

Jung, Priv-Doz. Dr. C. J., in Zürich. Ueber die Psychologie der 
Dementia praecox. Ein Versuch. Preis M. 2,50. 

Juristisch-psychiatrische Grenzfragen. Zwanglose Abhandlungen 
Herausgegeben von Geh. Justizrat Prof. Dr. jur. A. Finger, Halle 
a. S., Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoche, Freiburg i. Br., Ober- 
arzt Dr. med. Joh. Bresler, Lüben i. Schl. Band I und II kosten 
komplett je M. 6,—. Von Band IH ab beträgt der Abonnementspreis 
M. 8— tür den Band = 8 Hefte. Es liegen bis jetzt 6 Bände abge- 
schlossen vor. Jedes Lleft ist auch einzeln käuflich. Ausführliche In- 
haltsverzeichnisse der Bände und Hefte kostenlos. 

Kafemann, Prof. Dr. R., in Königsberg. Ueber die sogen. Aprosexia nasalis. 


Denkschwäche der Schulkinder aus nasaler Ursache. Preis M. 1.50. 
Kayser, Dr. R., in Breslau. Ueber die Bedeutung von Nasenkrankbeiten 
für den Gesichtsausdruck. Preis M. 1,50. 
— Die Laryngoskopie bei Kindern. Preis M. 1,50. 


Kelling, Dipl.-Ing. Joh., in Wien. Heizung und Lüftung für Kranken- 
häuser und Schulen. Zweite Aufl. Mit 5 Abbildungen. Preis M. 0,80. 
Kielhorn, Schulinsp., Leiter der Hilfsschule in Braunschweig. Erziehung 
und Unterricht schwachbefähigter Kinder. Hilfsschul-Lehrplan. 
Preis M. 2,—. 
Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. Herausgegeben von 
Dr. med. et phil. Robert Sommer, ord. Prof. a. d. Univ. Gießen. 
Erscheint in Bänden à 4 Hefte. 4 Bände liegen abgeschlossen vor, 
der 5. ist im Erscheinen. Preis pro Band M. 12,—, pro Heft M. 3,—. 
Ausführliche Inhaltsverzeichnisse der Bände und Hefte kostenlos. 
Kluge, Dr., Direktor der brandenburgischen Provinzialanstalt fürEpileptische 


zu Potsdam. Männliches und weibliches Denken. Ein Beitrag zur . 


Frauen- und Erziehungsfrage. Preis M. 1,—. 
König, Dr., Kreisarzt in Konitz (Westpr.). ÖOhruntersuchungen in der 
Dorfschule. Ein Beitrag zur Schularztfrage. Preis M. 0,80. 


Krayatsch, Dir. Dr. Josef, k. k. Regierungsrat in Mauer-Oehling (Nieder- 
österreich. Zur Pflege und Erziehung jugendlicher Idioten und 
Schwachsinniger. Preis M. 1,—. 

Laquer, Dr. Leopold, Nervenarzt u. Schularzt der Städt. Hilfsschulen in 
Frankfurt a. M. Üeber schwachsinnige Schulkinder. Preis M. 1,50. 

— Die Bedeutung der Fürsorgeerziehung für die Behandlung und Ver- 
(sorgung von Schwachsinnigen. Sommers Klinik II, 2) Preis M. 3—. 


Vereinigung für gerichtliche Psychologie 
und Psychiatrie im Grossherzogtum Hessen. 
Sechstes Heft. 


Herausgegeben im Auftrage des Vorstandes von 
Professor Dr. A. Dannemann. 


Die Abtreibung der Leibesfrucht 
vom Standpunkte der lex ferenda. 


Referate, erstattet in der Versammlung vom 4. Juni 1910 
zu Mainz, durch 


Justizrat Dr. Horch in Mainz 
und 


Professor Dr. Otto von Franqu6 in Gießen. 





Halle a. S. 
Carl Marhold Verlagsbuchhandlung. 
1910. 


Juristisch- Psychiatrische 
Grenziragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 


Geh. Justizrat Prof. Dr. jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B. 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lüben i. Schles. 


VII. Band, Heft 4. 


A. Das Verbrechen der 
Abtreibung der Leibesfrucht de lege ferenda 
vom Standpunkte des Juristen. 
Von 


Justizrat Dr. Horch in Mainz. 


Als ich im Jahre 1878 unter den Auspizien der juristischen 
Fakultät in Gießen meine Doktorarbeit über „Das Verbrechen 
der Abtreibung“ schrieb, war von einer Bewegung, die auf 
eine Umgestaltung der strafrechtlichen Behandlung der Ab- 
treibung hinzielte, wenig oder gar nichts zu bemerken. Die 
hauptsächliche Divergenz, die damals bestand, beschäftigte 
sich mit der Frage, ob das Verbrechen der Abtreibung sich, 
wie die herrschende Lehre annahm, als ein spezifisches Tötungs- 
verbrechen charakterisiere oder ob, wie namentlich Wächter 
dies vertreten hatte, neben der Tötung die bloße Abtreibung 
der lebenden Frucht den Tatbestand des $ 218 des Strafge- 
setzbuches erfülle. Diese Streitfrage ist inzwischen, wie auch 
aus dem Vorentwurf zu einem neuen deutschen Strafgesetz- 
buch hervorgeht, zugunsten der herrschenden Lehre entschieden. 
Aber weit hinaus über diese nach dem Vorentwurf als „über- 
wunden“* geltende Auffassung sind kaum auf einem Gebiete 
des Strafgesetzbuchs, wenn wir von der Modekrankheit einer 
Diskussion über $ 175 absehen, soviele Umwälzungs- und 
Reformideen aufgetreten, wie gegenüber dem Verbrechen der 
Abtreibung. Und zwar berühren sich hier, wie kaum wo 
anders, die Grenzgebiete zwischen Medizin und Jurisprudenz. 
Von beiden Seiten ertönt in mitunter geradezu leidenschaft- 
licher Weise der Ruf nach einer anderweitigen Regelung der 
Strafbarkeit, nach einer vertieften Auffassung ihrer Grundlagen 

1+ 


u 

und dementsprechend nach einer Abänderung, ja nach 
einer Aufhebung der einschlägigen Strafbestimmungen. Zu 
allen diesen häufig aufklärenden, mitunter auch verwirrenden 
Bestrebungen gesellt sich die intensive Tätigkeit der Frauen- 
vereine, die naturgemäß auf diesem mit ihren Zielen und 
Reformen aufs engste verbundenen Gebiet eine bestimmte 
Stellung einzunehmen haben. So ist es nicht gerade leicht, 
inmitten dieser gärenden, in ihren Ausgangspunkten und Zielen 
so verschiedenartigen Bewegung das für die wissenschaftliche 
Behandlung des Themas Notwendige zusammenzufassen, das 
Überflüssige auszuscheiden. Aber ich. glaube auch, daß es für 
eine Vereinigung, die, wie die unsrige, die für den Mediziner 
und Juristen gemeinsamen, auf dem Grenzgebiete zwischen 
beiden Wissenschaften liegenden Interessen zum Gegenstand 
hat, kaum eine dankenswertere Aufgabe geben dürfte, als den 
Austausch der Meinungen über die Grenzen der Strafbarkeit 
eines Verbrechens, deren Reformbedürftigkeit außer Frage steht, 
während die Einzelheiten dieser Reform der Diskussion offen 
stehen. Keinem Praktiker, sei er Jurist oder Mediziner, wird 
die Erfahrung erspart geblieben sein, daß selten mehr Not, 
Elend, Verzweiflung und Bedrängnis sich offenbaren, als bei 
denjenigen, die den $ 218 des Strafgesetzbuches verletzen, daß 
es deshalb auch eines Einblicks in die tiefsten Tiefen mensch- 
lichen Elends bedarf, um hier das Richtige zu finden. Die 
himmlischen Mächte, von denen Goethe sagt: 

„ihr führt ins Leben uns hinein, 

ihr laßt den Armen schuldig werden, 

dann überlaßt ihr ihn der Pein,“ 


treten auch in den Begleitumständen dieses Verbrechens so 
häufig zutage, daß sie uns die Frage nahe legen, ob hier 
Schuld und Strafe in richtigem Verhältnis stehen. 


N 


Um zu einem Überblick zu gelangen über die vielfachen 
Meinungsverschiedenheiten, die in dieser Hinsicht zutage ge- 
treten sind, gestatten Sie mir, zunächst in kurzen Zügen die 
geschichtliche Entwicklung der strafrechtlichen Behandlung der 
Abtreibung darzulegen, da sie auch für die Beurteilung des 
Verbrechens de lege ferenda nicht ohne Interesse ist. 


a, Be 


Im römischen Recht war die Abtreibung an sich nıcht 
strafbar. Das Recht des Vaters, über Leib und Leben der 
Kinder zu verfügen, ließ ihn auch in dieser Hinsicht als abso- 
luten Gewalthaber erscheinen. Erst zweihundert Jahre nach 
Christus finden wir in L. IV, D.47,11 und L. VIII, D. 48, 8 
die ersten strafrechtlichen Bestimmungen des römischen Rechts. 
Aber auch diese Strafbestimmungen ließen — ein für die 
modernen Reformbestrebungen wichtiges Moment — die ledige 
Schwangere und die Ehefrau, die mit Einwilligung des Ehe- 
mannes abtrieb, völlig straflos. 

Den römischen Anschauungen gegenüber, wonach der Fötus 
lediglich pars viscerum war, vollzog das kanonische Recht die 
Gleichstellung des noch nicht geborenen Menschen mit dem 
lebendigen, und infolgedessen wurde die Abtreibung als homi- 
cidium mit dem Tode bestraft. Gestützt auf eine Stelle im 
dritten Buch Mose, Kapitel 12, Vers 2 bis 6, und in Überein- 
stimmung mit den Anschauungen älterer Philosophen und Natur- 
forscher vertrat das kanonische Recht die Auffassung, daß der 
männliche Fötus erst mit dem vierzigsten, der weibliche erst 
mit dem achtzigsten Tage beseelt werde. Die Abtreibung vor 
diesem Termin wurde mit einer Geldbuße, nach demselben 
mit dem Tode bestraft. Das Corpus Juris Canonici übernahm 
diese Auffassung des Verbrechens. Nachdem Papst Sixtus V. 
1588 die Unterscheidung zwischen fötus animatus und inani- 
matus aufgehoben hatte, wurde sie schon 1591 durch Gregor XIV. 
wieder hergestellt. Die prinzipielle Behandlung der Abtrei- 
bung als Tötungsverbrechen, die bis in die neueste Zeit wirk: 
sam geblieben, ist gleichfalls eine Frucht des kanonischen 
Rechtes und der bedeutsamste Gegensatz gegenüber den Be- 
stimmungen des römischen Rechts. Die gleiche Auffassung 
und die gleiche Unterscheidung begegnet uns auch in der CCC. 
Für die Abtreibung eines fötus animatus war die Strafe des 
Totschlags festgesetzt, die des fötus inanimatus sollte nach dem 
Ermessen der Richter im einzelnen Falle bestraft werden. An 
welchem Tage die Vitalität des Kindes beginnen sollte, darüber 
bestimmte die CCC. nichts. Die sächsischen Konstitutionen 
suchten diese Frage dadurch zu lösen, daß sie die Hälfte der 
Schwangerschaft als den gesetzlichen Zeitpunkt bestimmten und 


ar G 


namentlich den Umstand berücksichtigen ließen, ob Bewegungen 
des Kindes im Mutterleib zu verspüren wären, eine Unterschei- 
dung, an welche die Reformbestrebungen unserer Tage wieder 
angeknüpft haben. Die Partikulargesetzgebung setzte an Stelle 
des durch die CCC. vorgeschriebenen Schematismus eine Reihe 
von Unterscheidungsmerkmalen, insbesondere dahingehend, ob 
die Handlung mit Einwilligung oder wider Willen der 
Schwangeren geschah, ob sie gewerbsmäßig vorgenommen 
wurde, ob das abgetriebene Kind ein eheliches oder unehe- 
liches war (so im Hessischen Strafgesetzbuch $ 282), ob die 
Abtreibung durch Ärzte etc. rechtswidrig vorgenommen wurde 
(Hess. Strafgesetzbuch $ 285), ob die Frucht eine größere 
oder geringere Reife erlangt hatte usw. Das Strafensystem 
hat sich im Laufe der Zeit wesentlich gemildert. Die härteste 
Strafandrohung befindet sich im Preußischen Landrecht (Zucht- 
haus bis zu 10 Jahren) resp. im Preußischen Strafgesetzbuch 
von 1851 (Zuchthaus bis zu 5 Jahren). 

Im engen Anschluß an die Bestimmungen dieses Preußi- 
schen Strafgesetzbuches behandelt bekanntlich unser geltendes 
Deutsches Strafgesetzbuch jeden bewußt widerrechtlichen An- 
griff gegen den Fötus als Tötungsverbrechen und die Strafe 
ist die gleich hohe wie die des preußischen Vorbildes, während 
bei mildernden Umständen Gefängnis nicht unter sechs Monaten 
vorgeschrieben ist. Dieselbe Strafe trifft den mit Einwilligung 
der Schwangeren die Leibesfrucht abtreibenden Dritten. Der 
$ 219 bedroht die sogenannte Lohnabtreibung mit Zuchthaus 
bis zu 10 Jahren, der $ 220 die Abtreibung ohne Wissen und 
Willen der Schwangeren mit Zuchthaus nicht unter 2 Jahren, 
bei Todesfolge der Schwangeren mit Zuchthaus nicht unter 
10 Jahren oder mit lebenslänglichem Zuchthaus. 

Für den Fall der §§ 219 und 220 sind mildernde Umstände 
nicht zugelassen. 

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die an sich widerspruchs- 
vollen Bestimmungen unseres Strafgesetzbuches nur ein Über- 
gangsstadium zu einer gerechteren Auffassung des Verbrechens 
darstellen und daß die gegenwärtige Gestaltung des $ 218 zu 
erheblichen Bedenken anregt. Wenn wir sehen, wie das in 
Fragen der Gesetzgebung am höchsten stehende römische Volk 


DE, s 


die wichtigsten Anwendungsfälle der Abtreibung straflos läßt, 
während das ältere deutsche Recht sie als Tötungsverbrechen 
mit dem Tode bestraft, wenn wir in fast allen Gesetzgebungen 
eine allmähliche, aber konstante mildere Bestrafung der Ab- 
treibung beobachten, so ist dies offenbar darauf zurückzuführen, 
daß man den festen Boden, von welchem aus die Bestrafung 
des Verbrechens zu erfolgen hätte, bis jetzt nicht gefunden 
hat. Die Stellung, die das Verbrechen auch nach dem Vorent- 
wurf zu einem neuen Strafgesetzbuch einnimmt, als Tötungs- 
verbrechen, ist ganz gewiß ungerechtfertigt. Was ich in 
meiner oben angeführten Dissertation in dieser Hinsicht aus- 
geführt habe, ist heute noch zutreffend. „Es läßt sich nicht 
leugnen“ — heißt es dort —, „daß die gegenwärtige Auffassung 
des Strafgesetzbuches, wonach dem Fötus ein selbständiges 
Recht auf Leben zusteht, als dessen Verletzung die Abtreibung 
erscheint, sich weder vom juristischen noch vom natürlichen 
Standpunkt aus rechtfertigen läßt. Denn an und für sich kann 
der Fötus, da er kein Mensch ist, vielmehr, in allen seinen 
Lebensbedingungen von der Mutter abhängig, als pars mulieris 
erscheint, nicht Subjekt von Rechten sein, also auch ein Recht 
auf Leben nicht beanspruchen. Die Annahme des Rechtes auf 
Leben, das dem Fötus zustünde, ist demnach lediglich eine 
Fiktion, und auf Grund von Fiktionen sollte man kein Straf- 
gesetz konstruieren, zumal so viele schroffe Konsequenzen sich 
aus diesem verfehlten Standpunkt ergeben. Noch weniger ist 
aus Gründen der Strafpolitik geboten, die Abtreibung als einen 
Angriff gegen das Leben des Fötus aufzufassen, das wenigstens 
in der ersten Schwangerschaftszeit von der Volksmasse nie er- 
kannt und kaum begriffen wird und nur dem gelehrten Physio- 
logen mehr oder weniger klar sein kann.“ 

Der in diesen Worten niedergelegte Standpunkt von der Un- 
haltbarkeit der strafrechtlichen Auffassung unseres Strafgesetz- 
buchs ist heute in der ganzen reiehhaltigen Literatur unbe- 
stritten. So heißt es in der geistvollen Schrift von Hiller: 
„Das Recht über sich selbst“, Heidelberg 1908: „Über die 
Vitalität des Embryo, d. h. über seine Qualifiziertheit als etwas 
Lebendem besteht kein Zweifel; aber Vitalität eignet auch dem 
Ei vor seiner Befruchtung, eignet allen mütterlichen Organen, 


zus JRR ei 


die irgendeine in sich autonome Funktion haben, z. B. den 


Drüsen. Hier handelt es sich um die Frage: Ist diese Vitalität 


losgelöst von der Gesamtvitalität des Mutterorganismus denk- 
bar? Und diese Frage muß durchaus verneint werden. Denn 
die Möglichkeit derselben vitalen Funktionen ist dem Embryo 
erst durch seine Einverleibtheit in den Mutterorganismus ge- 
geben, eine Einverleibtheit, die ihn prinzipiell allen anderen 
Organen des mütterlichen Organismus gleichmacht.* 


Der Einmütigkeit dieser Erwägungen gegenüber, die auch 
durch den $ 1 BGB. bestätigt wird, wonach die Rechtsfähig- 
keit eines Menschen erst mit der Vollendung der Geburt be- 
ginnt, erscheint es auffällig, daß der Vorentwurf zu einem 
neuen Strafgesetzbuch, an diesen Bedenken achtlos vorüber- 
gehend, an der Stellung des Verbrechens als Tötungsverbrechen 
festhält. 


Allerdings ist es richtig, daß die Versuche, das Verbrechen 
einer anderen Kategorie von Delikten zuzuweisen, auf nam- 
hafte Schwierigkeiten stoßen. Die Abtreibung als eine Ver- 
letzung der körperlichen Integrität der Schwangeren 
hinzustellen, würde, soweit $ 220 in Frage kommt, keinem 
Bedenken unterliegen, aber bei dem normalen Falle, der Ab- 
treibung durch die Schwangere selbst oder mit ihrer Einwilli- 
gung, führt ein derartiger Standpunkt zu unhaltbaren Konse- 
quenzen. „Vor allem“ — sagt Camilla Jellinek im Band 5 
der Aschaffenburgschen Zeitschrift für Kriminalpsychologie und 
Strafrechtsreform, Seite 617 — „müßte man auch hier fragen, 
mit welchem Recht könnte der Staat die Gefährdung der 
eigenen Gesundheit strafen? Er schützt sie nicht einmal, wo- 
zu er wohl die Kompetenz hätte, und läßt die Arbeit schwangerer 
Frauen bis in die letzte Zeit sogar in Betrieben zu, die er- 
wiesenermaßen im höchsten Grade gesundheitsgefährlich sind, 
anstatt für sie in den schwersten Monaten ausgiebig zu sorgen. 
Aber selbst wenn er die Gesundheit schützen würde, hätte er 
noch keine Strafbefugnis gegen den einzelnen, der mit seiner Ge- 
sundheit schlecht umzugehen weiß. Wenn er diese Befugnis 
hätte, könnte er auch den strafen, der eine feuchte Wohnung 
bezieht oder eine waghalsige Hochtour unternimmt.“ 








z 30, 2 


Würde man, wie andere wollen, die Strafbarkeit der Ab- 
treibung als eine Verletzung der Ehe ansehen, so dürfte, 
‘ wie Jungmann (Das Verbrechen der Abtreibung, 1893) mit 
Recht bemerkt, die Strafe der abtreibenden Ehefrau nicht. 
härter sein als die des Ehebruchs, der schwersten Verletzung 
der Eheordnung, und wenn der Ehemann eingewilligt hätte, 
müßte die Abtreibung ebenso straflos bleiben, wie diejenige 
der ledigen Schwangeren. 

Auch als Verbrechen gegen die Sittlichkeit im 
Sinne des 13. Abschnittes unseres Strafgesetzbuches kann die 
Abtreibung nicht aufgefaßt werden, denn das wesentliche 
Kriterium der in den §§ 171 bis 185 vorgesehenen Sittlich- 
keitsverbrechen, eine der Befriedigung des Geschlechtstriebs 
mittelbar oder unmittelbar dienende Handlung, ist bei unserem 
Verbrechen nicht gegeben. | 

Der Standpunkt, der die Strafwürdigkeit der Abtreibung 
mit der Verletzung von Staatsinteressen begründet, 
stützt sich vor allem auf Ihering, der in seinem „Zweck 
im Recht“, Band 1, Seite 503 sich dahin ausspricht: „Das 
Strafwürdige der Abtreibung besteht darin, daß sie eine Ge- 
fährdung des Nachwuchses enthält, welcher letztere zu den 
Lebensbedingungen der Gesellschaft gehört.“ Allein es er- 
scheint doch nach den Lehren des Robert Malthus, zu dem 
sich Roscher, Mohl, Adolf Wagner u. a. gesellen, zum 
mindesten höchst fraglich, ob der Staat wirklich ein Interesse 
' an einer möglichst starken Bevölkerung hat, abgesehen davon, 
daß die logische Konsequenz eines derartigen Standpunktes 
notwendigerweise auch die Bestrafung der Verhütung der Kon- 
.zeption und der Unfruchtbarmachung zur Folge hätte. Es darf 
in dieser Hinsicht auf Hegar, „Die operative Ära der Ge- 
burtshilfe* in „Beiträge zur Geburtshilfe und Gynäkologie“, 
Band 12, Seite 202 verwiesen werden, der sich dahin aus- 
spricht: „Ist unter unseren jetzigen Verhältnissen der Rück- 
gang der Geburtsziffern als ein Unglück zu betrachten? Eine 
den zurzeit bestehenden ökonomischen und kulturellen Ver- 
hältnissen einer Nation nicht angepaßte zu hohe Geburtsziffer 
hat ihre entschiedenen Nachteile, da sie die Qualität der Be- 
völkerung und ihren Aufbau verschlechtert“, und auf Gra- 


0 == 


bowsky, der in seiner Studie „Das Recht über sich selbst“ 
(Archiv für Kriminalanthropologie, Band 36, Seite 103) sagt: 
„Das Grundfundament jeder Sozialpolitik muß die Tendenz 
bleiben, jedem, der in die Gesellschaft hineingeboren wird, 
auch wirklich eine gewisse Existenz zu garantieren. Heute 
werden alle sozialpolitischen Maßnahmen durch die mit immer 
neuem Pauperismus verbundene Übervölkerung schon im Keime 
vernichtet. Früher sorgten riesige Epidemien dafür, daß von 
Zeit zu Zeit unter der Bevölkerung Ausmerzung gehalten 
wurde; heute, im Zeitalter der Hygiene, verhindern wir glück- 
licherweise, daß wahllos wertvolle und wertlose Mitglieder der 
Gesellschaft zugrunde gehen. Zum Ausgleich aber müssen 
wir schon eine gewisse Beschränkung der Kinderzahl treffen. 


Wenn man warnend auf das französische System hinweisen 


wollte, mit der Begründung, es schwäche die Expansionskraft 
und Militärkraft des Volkes, so ist immer für Deutschland zu 
bedenken, daß bei der Anlage unseres Volkes ein Hineinfallen 
in die Übertreibungen Frankreichs nicht zu befürchten ist. 
Hier spielen eben die Unterschiede der Nation eine Rolle. 
Im deutschen Volke lebt nun einmal die Freude am Kinder- 
segen, und durch die Modifizierung eines Gesetzesparagraphen 
wird diese psychologische Tatsache nicht aus der Welt ge- 
schafft. Wenn trotz dieser seelischen Dispositionen die Ab- 
treibung so stark im Schwunge ist, so. zeigt sich daraus am 
besten, daß frivole Motive hierbei nicht im Spiele sind, daß 
vielmehr ein solches Vorgehen oft genug als eine Notwendig- 
keit empfunden werden mag.“ Interessant ist es, daß in Eng- 
land, wo die Abtreibung in den ersten Monaten der Schwanger- 


schaft bis zum Eintreten der Kindesbewegungen bis 1837 über-. 


haupt nicht bestraft wurde, von einer numerischen physischen 
und moralischen Schwächung des Volkes zu keiner Zeit etwas 
zu bemerken war, während in Frankreich, wo die Abtreibung 
stets in der ganzen Schwangerschaft bestraft wird, ein fort- 
gesetztes Sinken der Bevölkerungsziffer zu merken ist. „Wenn 
es“ — sagt zu dieser Frage die mehrfach zitierte Camilla 
Jellinek — „als eine wahrscheinliche Folge künstlicher Ge- 
burtenbeschränkung überhaupt erscheint, daß weniger von 
den lebend geborenen Kindern vorzeitig eines natürlichen 


A 2 


Todes sterben, da ihre Existenzbedingungen bessere sind, so 
erscheint es als eine spezielle Folge der Aufhebung des bisher 
bestehenden Strafparagraphen, daß auch die mehr oder minder 
gewaltsamen Todesarten der Kinder abnehmen würden. Heute 
kann man den Kindsmord statt Abtreibung damit erklären, 
daß die Mutter zu dieser keine Hilfe fand, während sie den 
Kindsmord allen in Heimlichkeit besorgen kann. Wäre es 
übrigens wirklich ein großer Verlust, wenn das Heer der un- 
ehelichen Kinder sich verringern würde, da es ein so starkes 
Kontingent zu dem verkommenen und verbrecherischen Ge- 
sindel stellt, und zwar deswegen stellt, weil der Staat, der — 
es ist wie ein Hohn — die Vernichtung des ersten Lebens- 
keims bestraft, für die Lebensbedingungen der schon geborenen 
Wesen in durchaus ungenügender Weise sorgt? — Und wäre 
es zu bedauern, wenn die Prostitution, deren Hauptquelle die 
Entehrung eines Mädchens durch ein uneheliches Kind ist, ab- 
nehmen würde?“ 


Wir sind mit dieser letzten Äußerung bereits bei der nicht 
kleinen Zahl derer angelangt, die mit mehr oder weniger 
Temperament die gänzliche Aufhebung des $ 218 ver- 
langen. Aus den Ausführungen Radbruchs in der „Ver- 
gleichenden Darstellung des deutschen und ausländischen Straf- 
rechts“ geht ohne Zweifel hervor, daß er sich gegen die Be- 
strafung der Abtreibung in ihren wesentlichen Anwendungs- 
fällen wendet. 


Groß, der bekannte Österreichische Kriminalist, ist der 
Ansicht, daß die Straflosigkeit der Abtreibung in nicht sehr 
ferner Zeit sicher zu erwarten stünde. 


Dr. von Sterneck spricht sich im „Archiv für Kriminal- 
anthropologie“, Band 22, Seite 73 folgendermaßen aus: „Die 
Schwierigkeit, ein zu schützendes Rechtsgut bei der Abtrei- 
bung zu finden, deutet darauf hin, daß ein Bedürfnis nach Be- 
strafung derselben in den meisten Fällen nicht besteht.“ 


Moll meint in seiner „ärztlichen Ethik*, es gäbe wenig 
Gesetze im Strafgesetzbuch, die besonders mit Rücksicht auf 
die schwere Bestrafung so mit dem Volksgefühl in Widerspruch 
stünden, als die Bestrafung der Abtreibung. 


se Jo 


Lion in der „Monatsschrift für Kriminalpsychologie und 
Strafrechtsreform“, Band 4, Seite 287 schlägt Straflosigkeit 
während der ersten zehn Schwangerschaftswochen vor und 
Professor von Liszt kommt zu demselben Ergebnis, wenn er 
bemerkt: „Die Berechtigung des $ 218 ist sehr zweifelhaft. 
Völlige Aufhebung wird nicht durchzusetzen sein. Aber man 
könnte die Abtreibung während der ersten Monate straflos 
lassen und damit zu der älteren Auffassung zurückkehren.“ 


Grabowsky in seiner oben zitierten Kritik des Hiller- 
schen Werkes „Das Recht über sich selbst“ gelangt zu dem- 
selben Vorschlag, der nebenbei bemerkt in der französischen 
Strafgesetzgebung gegenwärtig als Novelle vorliegt. 


Es ist bezeichnend, daß die Haltung der Frauenvereine, 
die sich naturgemäß mit der Reform der strafrechtlichen Stel- 
lung dieses Verbrechens befaßt haben, eine sehr geteilte ist. 
Für die Aufhebung des $ 218 sind eine ganze Reihe von 
Schriftstellerinnen eingetreten, während eine andere Anzahl 
ebenso entschieden den gegenteiligen Standpunkt vertritt und, 
wie Camilla Jellinek hervorhebt, aus Versammlungen von 
Frauen vielstimmiger Protest gegen die Aufhebung der Straf- 
barkeit ertönte. 


Darüber aber herrscht in der gesamten Literatur Ein- 
stimmigkeit, daß die Bestrafung des Verbrechens de lege lata 
unhaltbar ist. 


Dr. Helene Stoecker hatte bei hervorragenden Ver- 
tretern der Wissenschaft und des sozialen Lebens eine Umfrage 
veranstaltet, wie sie sich angesichts der bevorstehenden Reform - 
unseres Strafrechts zu einer Umgestaltung des $ 218 stellten. 
Sie richtete an 600 bekannte Persönlichkeiten folgende Fragen: 


1. Würden Sie eine Änderung der §§ 218 und 219 bei 
der bevorstehenden Reform des Strafgesetzbuches für 
wünschenswert halten? 


2. Würden Sie unserer Forderung zustimmen können, die 
mit Willen der Schwangeren vorgenommene Abtreibung 
strailos zu lassen, dagegen eine Bestrafung in folgenden 
Fällen vorzusehen: 


a Age 


a) wenn die Abtreibung durch eine andere Person als 
die Schwangere selbst gegen den waällen derselben: 
vorgenommen wurde, 


b) wenn die Abtreibung durch die Schwangere selbst 
oder eine andere Person vorgenommen wird, aber 
nur, nachdem die Schwangere durch einen anderen 
unter Mißbrauch eines psychischen oder sozialen 
Abhängigkeitsverhältnisses zur Zulassung der Ab- 
treibung bestimmt worden ist? 


3. Wenn nicht, in welcher Form würden Sie dann eine 
Änderung vorschlagen ? 


Auf diese Anfragen sind 120 Antworten erfolgt. Darunter 
befinden sich nur 9, die jede Reform ablehnen, 111 treten für 
eine Abänderung der Bestimmungen ein, darunter 75 für die 
Straflosigkeit der mit Willen der Schwangeren vorgenommenen 
Abtreibung. Unter den letzteren befinden sich Prof. Häckel- 
Jena, Prof. von Ferneck- Wien, Dr. Friedrich, S. Krauß- 
Wien, Dr. Radbruch-Heidelberg, Prof. Dr. von Lilienthal- 
Heidelberg, sowie eine größere Anzahl in der Zeitschrift „Die 
neue Generation“ aufgeführter Ärzte. Eine beträchtliche An- 
zahl tritt für die Straflosigkeit der Abtreibung während der 
ersten fünf Monate ein. Andere wollen die Straflosigkeit von 
der Zuziehung eines oder zweier Ärzte abhängig machen. Prof. 
Mittermaier-Gießen u. a. verlangen Straflosigkeit bei Ver- 
gewaltigung und nachfolgender Schwangerschaft, eine Reihe 
von Ärzten Straffreiheit bei schwerer erblicher Krankheit der 
Eltern. Universitätsprofessor Dr. Beling-Tübingen verlangt 
‘eine allgemeine Bestimmung, daß die Abtreibung da erlaubt 
sel, wo die Austragung der Frucht und Entbindung ein höheres 
Rechtsgut, namentlich das Leben der Mutter, gefährden würde. 


Aus der Zusammenstellung dieser mannigfachen Vorschläge 
geht eines klar hervor, daß die gegenwärtige Gestaltung der 
Strafbarkeit fast ln verworfen wird. Von besonderem 
Interesse dürfte für uns die Stellungnahme unseres verehrten 
Vorsitzenden, Prof. Dr. Mittermaier, sein. Ich vermag seinen 
Standpunkt allerdings nur nach dem Auszug zu zitieren, der 
in der „Neuen Generation“ wiedergegeben ist. Hiernach hält er 


ze HR a 


allgemeine Straflosigkeit für bedenklich aus medizinischen und 
moralischen Gründen. Er will völlige Straflosigkeit nur bei 
Vergewaltigung und im übrigen Ärzte entscheiden lassen. Er 
hält die Unterscheidung zwischen belebter und unbelebter 
Frucht für sehr schwierig und glaubt, daß eine menschliche 
Betrachtung der Frage zu soviel Zweifeln führe, daß wir heute 
die Änderung nur in vorsichtiger Weise wagen dürften. „Sie 
möchte allerdings“, so schließt Professor Mittermaier, „in 
ihrem Gesamtgedanken ein Fortschritt sein.“ 

Was meinen persönlichen Standpunkt anbetrifft, so 
bin ich bereits in meiner früher erwähnten Abhandlung vom 
Jahre 1878 zu folgendem Ergebnis gelangt, das ich auch 
heute noch für zutreffend halte: „Nicht ein konkretes recht- 
liches Gut wird durch die Abtreibung verletzt, sondern das 
Gesetz verbietet die Handlung deshalb, weil das entgegenge- 
setzte Verhalten erfahrungsmäßig die reale Möglichkeit einer 
Verletzung jener Güter enthält oder mindestens Anlaß, Ge- 
legenheit zu solchen Verletzungen biete. Die Möglichkeit, 
daß durch die Abtreibung der sittliche Zweck der Ehe ver- 
nichtet, der außereheliche Beischlaf in einem dem gesunden 
Staatsleben widerstreitenden Umfang begünstigt, das Leben 
und die Gesundheit der Schwangeren gefährdet, der Staat in 
den Grundlagen seiner Existenz, einer sich stets erneuernden, 
gesunden, zahlreichen Generation bedroht wird, alle diese 
Möglichkeiten "werden die Abtreibung auch de lege ferenda 
für strafbar erklären. Allein die drakonische Strenge des Ge- 
setzgebers, der die Abtreibung als Tötungsverbrechen gegen 
‚das Leben des Fötus auffaßt, wird einer gerechteren Würdi- 
gung der einzelnen Fälle Platz machen müssen, die unter dem 
Gesichtspunkt unseres Strafgesetzbuches erschwert, wenn nicht 
unmöglich gemacht wird.“ 

Die Gründe, mit denen Hiller gegen den oben zitierten 
Standpunkt polemisiert, scheinen mir nicht überzeugend zu 
sein. Sie laufen im wesentlichen darauf hinaus, daß der Staat 
nicht wegen der bloßen Möglichkeit von Rechtsverletzungen 
bestrafen dürfe, und doch geht die Bestrafung einer ganzen 
Reihe von Delikten, beispielsweise der Transportgefährdung, 
der Brandstiftung, der Delikte der 88 823ff., von derartigen 


ib ar: „ee 


Gesichtspunkten aus. Ich bin der Ansicht, daß für eine völlige 
Preisgabe des $ 218 zurzeit noch keine genügende Voraus- 
setzung vorliegt, daß vielmehr einem so plötzlichen Übergang 
von der schweren Bestrafung zur Straflosigkeit Bedenken zahl- 
reicher Art entgegenstehen. Ich fürchte, daß eine solche 
plötzliche Aufhebung des $ 218 zu einer Verrohung und 
frivolen Verantwortungslosigkeit auf sexuellem Gebiete führen 
würde, unter der das weibliche Geschlecht mehr zu leiden 
hätte, als selbst bei einer Bestrafung des Deliktes. Zu der 
auch von Prof. Mittermaier für eine spätere Zukunft vor- 
gesehenen Aufhebung des $ 218 würde eine wesentliche Milde- 
rung der Strafe und vor allem eine Ausscheidung des Ver- 
brechens aus der Reihe der Tötungsverbrechen den Übergang 
zu bildenhaben. Meines Erachtens empfiehlt es sich, das Delikt 
der Abtreibung unter die Gefährdungsdelikte einzureihen, 
und zwar nicht als gemeingefährliches Verbrechen, sondern, 
soweit $$ 218 und 219 in Frage kommen, lediglich als Ver- 
gehen. Die Folge einer derartigen Stellung wäre, daß die 
Strafen noch wesentlich gemildert werden könnten, als es in 
dem Vorentwurf zum neuen Strafgesetzbuch der Fall ist, an 
dessen Betrachtung und Prüfung wir unsere eigenen Vorschläge 
nunmehr zweckmäßig anknüpfen können. 


Der Vorentwurf hat die $S 218, 219 und 220 in einen 
einzigen $ 217 zusammengefaßt, der folgenden Wortlaut hat: 
„Eine Schwangere, welche vorsätzlich ihre Frucht abtreibt 
oder im Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zu drei 
Jahren oder mit Gefängnis von drei Monaten bis zu drei Jahren 
bestraft. 


Ebenso wird bestraft, wer an der Schwangeren mit ihrer 
Einwilligung die Abtreibung oder Tötung vornimmt oder ihr 
die Mittel hierzu verschafft hat. Handelt er gegen Entgelt, 
so ist die Strafe Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder Gefängnis 
nicht unter sechs Monaten. 


Wer die Leibesfrucht einer Schwangeren ohne deren 
Wissen oder Willen vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe 
tötet, wird mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren, bei mildern- 
den Umständen mit Gefängnis nicht unter einem Jahr, und, 


wenn durch dıe Handlung der Tod der Schwangeren verur- 
sacht ist, mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft.“ 


Bedauerlich bleibt zunächst, daß der Entwurf die unhalt- 
bare Stellung des Deliktes unter den Tötungsverbrechen bei- 
behalten hat. Die früher mitunter vertretene Auffassung, daß 
die Abtreibung im engeren Sinne, die erste Alternative des 
Strafgesetzbuches, die Tötung der Leibesfrucht nicht erfordere, 
sondern schon erfüllt sei, wenn eine lebende Frucht vorsätz- 
lich vorzeitig zur Geburt gelangt sei, hält der Entwurf für 
überwunden und deshalb eine andere Fassung für nicht er- 
forderlich. Immerhin würde es zur Klarstellung einer Streit- 
frage, für deren anderweitige Auffassung Autoritäten wie 
Wächter und Hugo Meyer eingetreten sind, sich empfehlen, 
dem Gesetze eine klarere Fassung zu geben, etwa dahingehend: 
„Bine Schwangere, welche vorsätzlich ihre Frucht durch vor- 
zeitige Abtreibung oder im Mutterleib tötet usw.“ 


Die Strafe des gegenwärtig im $ 218 bedrohten Deliktes. 
ist erheblich gemildert. Der Entwurf besagt in seinen Motiven, 
daß es der Zulassung mildernder Umstände bei dem weiten 
Strafrahmen und der Minimalstrafe von drei Monaten Gefängnis 
nicht bedürfe. Die Zuchthausstrafe sei neben der Gefängnisstrafe 
beibehalten, weil Fälle vorkommen könnten, in denen wegen 
besonderer Verwerflichkeit der Gesinnung und wiederholter 
Begehung eine schwere Strafe geboten erscheine. 


Meines Erachtens entspricht auch die vom Vorentwurf 
vorgesehene Änderung des $ 218 nicht der einmütigen Ver- 
urteilung des bisherigen Strafensystems. Die Beibehaltung 
des Deliktes der selbsttätigen Schwangeren als Verbrechen ist 
lediglich eine Folge der in jeder Beziehung überwundenen 
Auffassung der Abtreibung als Tötungshandlung. Da aber, 
wie oben ausgeführt, ein Rechtsgut durch die Abtreibung nicht 
verletzt wird, sondern nur ein Gefährdungsdelikt vorliegt, ist 
kein Grund vorhanden, die Abtreibung der selbsttätigen 
Schwangeren und ihres Mittäters nicht ausschließlich als Ver- 
gehen zu charakterisieren. Die Zuchthausstrafe ist daher für 
den Fall des $ 217 Abs. 1, der dem $ 218 des gegenwärtigen 
Gesetzes entspricht, zu beseitigen. 


u 


A 


Für die besonders gravierenden Fälle, die der Entwurf 
vorsieht, genügt der Strafrahmen des Vergehens, etwa mit 
einer Erhöhung der im Entwurf vorgesehenen Maximalstrafe 
von drei Jahren bis zum normalen Maximum von fünf Jahren 
Gefängnis. Selbstverständlich müßte das Strafminimum im 
Falle des $ 217 Abs.1 auf das gesetzliche Minimum von 
einem Tag Gefängnis herabgesetzt werden. Ist doch gerade 
bei diesen Vergehen die denkbar mildeste Auffassung mitunter 
so sehr berechtigt, daß eine Reihe namhafter Autoritäten für 
die gänzliche Aufhebung des § 218 eingetreten sind, und ist 
doch sogar im Schweizer Entwurf Geldstrafe neben der Frei- 
heitsstrafe vorgesehen. Der erste Absatz des $ 217 müßte 
also lauten: 


„Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich durch 
vorzeitige Abtreibung oder im Mutterleibe tötet, wird mit Ge- 
fängnis bestraft“, wobei der zweite Absatz des $ 217 beibe- 
halten werden könnte. | 


Den Versuch im Falle des $ 217 Abs. 1 und 2 für straf- 
bar zu erklären, halte ich bei einem derartig in seiner Grund- 
lage angezweifelten Delikt für sehr bedenklich. Die Motive 
sprechen sich dahin aus, daß der Versuch, selbst wenn nur 
Gefängnisstrafe angedroht würde, um deswillen zu strafen sei, 
weil bei der Schwierigkeit, den Kausalzusammenhang zwischen 
der Abtreibungshandlung und dem Tode der Frucht nachzu- 
weisen, die Strafverfolgung sonst zu einem erheblichen Teil 
vereitelt würde. Die Motive betonen aber auch die „mehrfach 
aufgestellte Forderung der Straflosigkeit des Versuchs“. In 
Frankreich besteht diese Straflosigkeit. (Vergleiche Radbruch 
in der vergleichenden Darstellung des deutschen und ausländi- 
schen Strafrechts.) Die Gründe, die zugunsten der Straflosig- 
keit über eine frühere anderweitige Rechtsprechung gesiegt 
haben, sind in der Sitzung des Staatsrats vom 26. August 1809 
wie folgt dargelegt worden: 


Ce crime porte souvent sur des craintes, et quand il n’est 
pas consommé, outre que la société ne prouve aucun tort, c’est 
qu'il est fort difficile de constater légalement une intention 
presque toujours incertaine, une tentative trop souvent équi- 

2 


Ze er ge 


voque, surtout dans la supposition de l’impuissance de la cause 
et de la nullité de ses résultats. 

Es darf auch nicht übersehen werden, daß gerade der 
Versuch der Abtreibung der selbsttätigen Schwangeren häufig 
den Gegenstand unerhörter Erpressungen bildet und daß die 
Möglichkeit, eine sonst nicht nachweisbare Abtreibung als 
Versuch zu bestrafen, keinen genügenden Grund für die Straf- 
barkeit des Versuchs an sich bietet. Wird die Straflosigkeit 
des Versuchs statuiert, so fällt auch die nach der Recht- 
sprechung des Reichsgerichts unvermeidliche Konsequenz, daß 
der Versuch mit untauglichen Mitteln und am untauglichen Objekt 
gestraft werden muß, was zu der ungeheuerlichen Schlußfolge- 
rung führt, daß das Gesetz, welches ausdrücklich die Schwangere 
bedroht, auf die Nichtschwangere Anwendung findet. Freiherr 
von Bülow weist in seiner Besprechung des Vorentwurfs 
zum deutschen Strafgesetzbuch in der „Deutschen Juristen- 
zeitung“, Band 15, 1910, Nr. 4, mit Recht darauf hin, dab 
Binding es für eine „Vergewaltigung des Gesetzes“ erklärt 
hat, der Schwangeren, die der § 218 erfordere, die Nicht- 
schwangere zu substituieren. Es geht nicht an, daß man darauf 
verweist, daß bei der Neugestaltung des Versuchs im Vorent- 
wurf in „besonders leichten Fällen“ von Strafe überhaupt Ab- 
stand genommen werden kann. Denn abgesehen von der 
Dehnbarkeit des Begriffes der „leichten Fälle“ ist für die 
Opfer der Erpressung die Untersuchung und die Furcht vor der 
Strafe selbst sowie die Strafverhandlung von so schweren 
Folgen begleitet, daß diese auch durch eine spätere Frei- 
sprechung nicht ausgeglichen werden können. Bei einem 
Delikte, wie es im $ 218 zutage tritt und bei welchem selbst 
Anhänger der konservativen Richtung erklären, daß die all- 
mähliche Anbahnung der Straflosigkeit ein Fortschritt sei, ist 
die Straflosigkeit des Versuchs ein weiterer Schritt zu gegen- 
seitiger Verständigung. Mit der Beseitigung der Strafbarkeit des 
Versuchs entfallen auch die für die Beteiligung des dritten ım 
Vorentwurf vorgesehenen redaktionellen Änderungen („vor- 
nimmt“ statt „vorgenommen hat“). 

Wenn endlich der Entwurf auch noch den Dritten bestrafen 
will, der die Mittel zur Abtreibung unentgeltlich verschafft hat, 


=. TG 


so glaube ich, daß für eine derartige Erweiterung vom Stand- 
punkt der Praxis ein Bedürfnis nicht vorliegt, da die Mo- 
tive des Entwurfs hier Medikamente ins Auge fassen und 
es, soweit mir bekannt, innerlich wirksame Mittel überhaupt 
nicht gibt, die neue Fassung demnach bei der Strafbarkeit des 
Versuchs nur einen neuen Fall des Versuchs mit untauglichen 
Mitteln darbieten würde. 


Was den bisherigen $ 219 anbetrifft, so ist die Strafe des 
gegen Entgelt handelnden Dritten gleichfalls dem geltenden 
Rechte gegenüber wesentlich gemildert. Das Höchstmaß der 
Zuchthausstrafe ist statt auf zehn Jahre auf fünf Jahre fest- 
‚gesetzt, daneben wahlweise Gefängnis nicht unter sechs Monaten 
zugelassen, während das geltende Strafgesetzbuch nicht einmal 
mildernde Umstände kennt. Ich glaube, auch hier könnte die 
Zuchthausstrafe vollständig beseitigt und für die gewöhnlichen 
Fälle Gefängnisstrafe in ihrem normalen Umfang angedroht 
werden. Die Motive erkennen selbst an, daß auch bei dieser 
Tathandlung nicht selten Milderungsgründe vorliegen. Offen- 
bar ist auch hier die Stellung des Verbrechens als Tötungs- 
verbrechen für die Straffestsetzung maßgebend gewesen; aber 
das Höchstmaß einer fünfjährigen Gefängnisstrafe dürfte auch 
für die schweren Fälle bei einer anderweitigen Subsumierung des 
Deliktes ausreichen. Eventuell wäre für die Gewohnheits- und 
Gewerbsmäßigkeit eine spezielle Strafschärfung einzuführen. 


Bei dem bisherigen $ 220 ist die Strafandrohung insofern 
geändert, als mildernde Umstände unter Einstellung einer 
Minimalgefängnisstrafe von einem Jahr zugelassen sind und 
‚bei Verursachung des Todes der Schwangeren das Mindestmaß 
der Zuchthausstrafe von zehn auf fünf Jahre herabgesetzt und 
die lebenslängliche Zuchthausstrafe gestrichen ist. Die Motive 
rechtfertigen diese Strafmilderung damit, daß auch hier Fälle 
denkbar seien, die einer milderen Beurteilung Raum gestatten. 
Ein solcher Fall werde namentlich dann angenommen werden 
können, wenn die Handlung von einem nahen Angehörigen 
begangen sei, welcher sich durch die Besorgnis einer schweren 
Schädigung der gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Existenz 
der Schwangeren zu der Tat habe hinreißen lassen. Es wird 

9% 


— 20 — 


hierbei ausdrücklich auf den neuen § 62 des Vorentwurfs ver- 
wiesen, der dahin lautet: 


„Wo das Gesetz für den Fall, daß eine strafbare Hand- 
lung einen bestimmten, nicht gewollten Erfolg herbeiführt, eine 
erhöhte Strafe androht, tritt, soweit nicht anders bestimmt ist, 
die Strafe nur dann ein, wenn der Täter die Möglichkeit eines 
solchen Erfolges voraussehen konnte.“ 


Mit dieser Gestaltung des bisherigen $ 220 kann man sich 
vollständig einverstanden erklären. 


Über die mannigfachen Anregungen der ärztlichen Kreise 
bei einer anderweitigen Gestaltung der strafrechtlichen Be- 
handlung der Abtreibung, wie sie namentlich in der Abhand- 
lung „Die Abtreibung und das Recht des Arztes zur Vernich- 
tung der Leibesfrucht“ von Dr. Eugen Wilhelm in der Zeit- 
schrift „Sexual-Probleme‘‘, Maiheft 1909, Seite 321 ff., in „Vor- 
schläge zur Abänderung des Strafgesetzbuches bezüglich der 
Heilkunde“ von Sanitätsrat Dr. Hansberg in der Monatsschrift 
für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform, Band 3, S. 695, 
und von Calker, „Frauenheilkunde und Strafrecht“, S. 44#., 
niedergelegt sind, habe ich hier absichtlich nicht gesprochen, 
weil diese Seite des Themas Gegenstand der Betrachtung 
meines verehrten Korreferenten ist. Die Motive des Vorent- 
wurfs sagen hierüber folgendes: 


„Eine Vorschrift über straflose Vornahme der Perforation 
aufzunehmen, wie namentlich von seiten ärztlicher Kreise 
mehrfach in Anregung gebracht ist, erschien nicht angebracht. 
Die Entscheidung über die Straflosigkeit der Perforation ist 
allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu entnehmen. Diese Frage, 
sowie die damit eng zusammenhängende des erlaubten ärztlichen 
Eingriffs überhaupt ist bei der Körperverletzung, bei der Be- 
stimmung des Notstandsbegriffes und bei dem Strafausschlies- 
sungsgrund der befugten Berufsausübung berücksichtigt worden.“ 
Es erscheint mir fraglich, ob dieser Standpunkt ausreichend ist, 
den auf Grund seiner wissenschaftlichen Überzeugung zur Ab- 
treibung schreitenden Arzt zu schützen. Die von mir im Jahre 
1878 aufgestellte Forderung, daß „die durch Ärzte in Aus- 
übung des Berufs vorgenommene Abtreibung ausdrücklich von 


2s 9, ge 


der Straflosigkeit eximiert werde“, ist auch durch den Vor- 
entwurf nicht erfüllt. 

Gestatten Sie mir schließlich, meine Ausführungen in fol- 
genden Leitsätzen zusammenzufassen: 


1. 


Die Aufhebung der Strafbarkeit der Abtreibung des 
§ 218 des StrGB. ist zurzeit nicht zu befürworten. 
Es bedarf hierzu einer größeren Erfahrung an der 
Hand eines auf Grund eines reformierten Strafgesetzes 
zu sammelnden Materials. Der plötzliche Übergang von 
schwerer Strafandrohung zu gänzlicher Straflosigkeit 
ist in seinen Konsequenzen zurzeit nicht zu übersehen. 


. Ungerechtfertigt ist die Stellung des Deliktes unter 


den Tötungsverbrechen und alle mit dieser Stellung zu- 
sammenhängenden strafrechtlichen Konsequenzen. 


. Sowohl das Delikt des $ 218 als das des $ 219 sind 


als Vergehen zu behandeln innerhalb der gewöhnlichen 
Strafgrenzen der Gefängnisstrafe Mit einer derartigen 
Bestrafung wäre auch eine sehr wünschenswerte Ab- 
kürzung der Verjährung des Deliktes erreicht. 


. Bei beiden Delikten ist der Versuch straflos zu lassen. 
. Gegen den gewohnheits- und gewerbsmäßig gegen 


$ 219 handelnden Dritten sind besondere Strafbestim- 
mungen vorzusehen. 


. Der Gestaltung des Verbrechens des $ 220 StrGB. im 


Vorentwurf ist beizupflichten. 


. Der in pflichtgemäßer Ausübung seines Berufes zur 


Abtreibung schreitende Arzt ist durch eine spezielle 
Bestimmung gegen Strafverfolgung zu schützen. 


B. Die Frage der Abtreibung der Leibesfrucht 
de lege ferenda vom medizinischen Standpunkte. 


Von 


Prof. Dr. Otto v. Franque, Direktor der Frauenklinik 
| der Universität Gießen. 


In den Erörterungen über eine etwaige Änderung der 
Fruchtabtreibungsbestimmungen des Strafgesetzbuches haben 
Fragen der medizinischen Wissenschaft und des ärztlichen 
Standes einen ziemlich breiten Raum eingenommen, und sie 
sind, wie mir scheint, nicht immer scharf genug von den übrigen 
zu berücksichtigenden Gesichtspunkten, den juristischen, natio- 
nalökonomischen und ethischen, getrennt worden, namentlich 
ist die medizinische Wissenschaft von Freunden und von Gegnern 
der Abschaffung des Abtreibungsverbots als Hilfsgenossin ins 
Feld geführt und zur Entscheidung von Fragen herangezogen 
worden, die z. T. gar nicht vor ihr Forum gehören. Ich will 
versuchen, durch eine möglichst scharfe Fragestellung und 
durch tunlichste Ausschaltung aller nichtmedizinischen Momente 
in dieser Hinsicht Klarheit zu schaffen. 

Hier wirft sich als erste Hauptfrage die folgende auf: 
Läßt sich vom rein medizinischen Standpunkte aus, mit Rück- 
sicht also auf das körperliche Wohl der einzelnen und des 
Volkes, die Forderung der Abschaffung oder andererseits der 
Aufrechterhaltung des Abtreibungsparagraphen begründen? Die 
Antwort muß meiner Meinung nach ein klares „Nein“ sein. 
Sowohl wer die Unterbrechung der Schwangerschaft — wohl- 
gemerkt, ganz allgemein, auch bei Gesunden — gestatten, als 
wer sie weiterhin verbieten will, muß seine Gründe auf einem 
anderen Gebiete suchen, die medizinische Wissenschaft als 
solche kann keine Gründe für oder wider liefern. 


Was die Wohlfahrt des einzelnen, also hier der Schwan- 
geren anlangt, so muß ausgesprochen werden, daß die kunst- 
gemäß eingeleitete und nachbehandelte Unterbrechung ‚der 
Schwangerschaft in einer frühen Zeit (in den ersten zwei bis 
drei Monaten) keine ernstliche Gefahr für die Frau darstellt 
und, was mir das wesentlichste zu sein scheint, auf jeden Fall 
für die Schwangere weniger schmerzhaft und weniger gefähr- 
lich als das Überstehen einer Geburt am normalen Ende der 
Schwangerschaft ist. Die augenblicklichen Gefahren einer Ent- 
bindung sind die der Infektion, der Verletzung, der Blutung 
und endlich besonderer lebensbedrohender Komplikationen, wie 
Eklampsie, Embolie, Luftembolie, Nierenerkrankung; diese Be- 
sonderheiten fallen bei der Schwangerschaftsunterbrechung in 
den ersten drei Monaten ganz fort, den erstgenannten Gefahren 
läßt sich hierbei viel leichter und sicherer vorbeugen als bei 
der rechtzeitigen Geburt; durch die letztere und durch die 
Schwangerschaft wird ferner, auch wenn sie ganz normal ver- 
laufen, der Körper jeder Frau dauernd verändert, so gut wie 
immer geschädigt, und wenn dies auch glücklicherweise nicht 
immer in Gestalt von später auftretenden krankhaften Erschei- 
nungen sich geltend macht, so ist es doch häufig genug, und 
sehr selten wird man nach genauer körperlicher Untersuchung 
einer Frau, die geboren hat, sagen können, ihr Körper ist un- 
verletzt und ceteris paribus genau so widerstands- und leistungs- 
fähig wie vor der Geburt. Jede Blüte, die Frucht trägt, muß 
welken; es mag eine harte und traurige Erkenntnis sein, daß 
es auch für das menschliche Weib keine Ausnahme von diesem 
Naturgesetz gibt — aber es ist vielleicht ganz gut, wenn sich 
einerseits die Männerwelt, auch die Gesetzgeber, andererseits 
die moderne, mitunter, wie mir scheint, ihren Flug allzu hoch 
richtende Frauenwelt der Tatsache einmal klar bewußt wird. 
Diese Erkenntnis könnte auf dem Gebiete der sozialen Für- 
sorge für Wöchnerinnen und Schwangere und damit indirekt 
auch für das heute behandelte Gebiet gute Früchte tragen. 

Die normale Geburt schafft also sehr häufig zum mindesten 
die Prädisposition zu allerhand später, oft erst nach Jahren 
auftretenden Störungen, — ein Vorwurf, der die frühzeitige 
kunstgerechte Schwangerschaftsunterbrechung nicht oder wenig- 


Zu Of, S 


stens bei weitem nicht in gleichem Maße trifft. Wenn also 
die Aufhebung des Abtreibungsparagraphen aus anderen Gründen 
gerechtfertigt erschiene: die medizinische Wissenschaft als solche 
hätte mit Rücksicht auf das Wohl der einzelnen Schwangeren 
ebensowenig Grund, dagegen aufzutreten, als sie zu fordern. 
Das letztere deshalb nicht, weil sie als Naturwissenschaft jeden 
willkürlichen, nicht naturwissenschaftlich zu begründenden Ein- 
griff in den natürlichen Verlauf der Dinge, also auch die Unter- 
brechung der Schwangerschaft bei einer gesunden Frau, ver- 
werfen muß. Erst dann, wenn die Gefahren der Schwanger- 
schaft und der Geburt voraussichtlich über das Maß des bei 
natürlichem, normalem Verlauf Unvermeidbaren und Alltäg- 
lichen beträchtlich hinausgehen, — erst dann ist sie berechtigt, 
der Natur in den Arm zu fallen; mit anderen Worten: die 
medizinische Wissenschaft hat nur die Unterbrechung der 
Schwangerschaft bei kranken, nicht bei gesunden Schwangeren 
zu erwägen. 


Sie hat kein Interesse daran, ob bei letzteren die Schwanger- 
schaft ungestraft unterbrochen wird oder nicht, aber sie hat 
ein sehr großes Interesse daran, daß, wenn die Schwanger- 
schaft unterbrochen wird, dies kunstgerecht, von Sachver- 
ständigen mit den notwendigen Vorsichtsmaßregeln geschieht. 
Denn nur unter dieser Voraussetzung besteht die oben fest- 
gestellte relative Gefahrlosigkeit der frühzeitigen Unterbrechung. 
Hier kommen wir zu einem Punkt, der von der Berücksichti- 
gung des Wohles der einzelnen Schwangeren zu dem der Volks- 
gesundheit überleitett und der auch immer wieder in der 
Literatur hervorgehoben worden ist. 


Es ist eine altbekannte Tatsache, die ich nur bestätigen 
kann, daß bei der Abtreibung — wie ich mit Schickele die 
kriminelle Beendigung der Schwangerschaft im Gegensatz zu 
der ärztlich indizierten und ausgeführten Schwangerschafts- 
unterbrechung, dem künstlichen Abortus, nennen will — eine 
sehr große Zahl der Schwangeren tödlich infiziert oder ver- 
letzt oder wenigstens für Monate und Jahre in ihrer Gesund- 
heit schwer geschädigt wird, einerlei, ob sie selbst oder ge- 
legentliche oder berufsmäßige Abtreiber den Eingriff gemacht 


— 25 — 


haben. Und da es sich bei den betreffenden Unehelichen so 
gut wie immer um junge, kräftige, gesunde Personen, bei den 
Ehefrauen um die Mütter schon vorhandener zahlreicher Kinder 
handelt, so wird durch den angeführten Tatbestand nicht nur 
die Gesundheit einer Einzelnen, sondern auch des gesamten 
Volkes schwer geschädigt. 

Alle diese Unglücklichen aber werden, so argumentieren 
die Gegner des Abtreibungsparagraphen, gerade durch das 
Verbot der Abtreibung an der Aufsuchung sachkundiger kunst- 
gerechter Hilfe verhindert und so durch das harte Gesetz dem 
Siechtum oder dem Tod in die Arme getrieben — sie würden 
bei Aufhebung des Abtreibungsparagraphen sich und der Ge- 
sellschaft erhalten bleiben. 

Die Forderung, deshalb die Abtreibung zu gestatten, 
erscheint mir nicht logisch; man sollte vielmehr das Los der 
unehelich Geschwängerten und der übermäßig kinderreichen 
und armen Familien so gestalten, daß die Motive zur Abtrei- 
bung wegfielen; die Unterbrechung der Schwangerschaft er- 
scheint vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus nur dann 
gerechtfertigt, wenn der Grund dazu in der Schwangeren selbst 
liegt und nicht anders beseitigt werden kann, als eben durch 
Beseitigung der Schwangerschaft. Deshalb würden die Ärzte 
in ihrer Mehrzahl wohl auch nach Aufhebung des Abtreibungs- 
paragraphen die Unterbrechung bei gesunden Frauen ablehnen 
müssen, gerade so, wie beispielsweise sehr viele Ärzte, zu 
denen ich mit den meisten Klinikern gehöre, auch jetzt die 
juristisch zweifellos erlaubte Unterbrechung der Schwanger- 
schaft wegen absoluter Beckenenge ablehnen, weil sie wissen- 
schaftlich wegen der geringen Gefahr des Kaiserschnitts am 
normalen Ende der Schwangerschaft nicht mehr gerechtfertigt 
ist. Dagegen würde die Kurpfuscherei auf diesem Gebiete, 
wenigstens solange kein Kurpfuschereiverbot in Deutschland 
besteht, erst recht aufblühen, da ja das Geschäft dieser dunklen 
Ehrenmänner nun durch keine Schranken mehr behindert wäre. 
Die nötigen antiseptischen Kautelen, die sie vor dem Bestraft- 
werden wegen fahrlässiger Körperverletzung schützen würden, 
hätten sie sich bald angeeignet, wie sie dies zum Teil wohl 
schon jetzt getan haben. 


= DE 


Auf jeden Fall aber müßte die tunlichste Unschädlich- 
machung der gewerbsmäßigen Abtreiber im Interesse der 
Volksgesundheit auch vom medizinischen Standpunkte aus ge- 
fordert werden, und da ihr Hauptschutz gegen Entdeckung 
zurzeit die schwere Bestrafung ihrer Mitschuldigen, der 
Schwangeren, ist, hat Veit schon im Jahre 1886 von diesem 
Gesichtspunkte aus die Straffreiheit der Schwangeren verlangt. 
Will man diese nicht gewähren — und vom naturwissenschaft- 
lichen Standpunkt aus kann man sie, wie gesagt, nicht fordern —, 
so sollte man doch die Fassung der Abtreiber, denen sonst 
eben nicht beizukommen ist, dadurch erleichtern, daß man die 
Schwangeren sehr viel leichter bestraft, vor allem die ent- 
ehrende Zuchthausstrafe und, übereinstimmend mit der Petition 
des Frauenvereinsbundes, die Festlegung der Strafgrenze nach 
unten, endlich auch die Bestrafung des Versuches*) wegfallen 
läßt, ferner ihnen nach dem Vorschlag Straßmanns bei 
offenem Geständnis, das zur Festlegung des Abtreibers führt, 
bedingte Verurteilung oder, wie die Begründung des Vorent- 
wurfes es bezeichnet, bedingten Strafaufschub bewilligt und 
die Verjährung schon in sehr viel kürzerer Zeit (zwei Jahre) 
wie jetzt (zehn Jahre) eintreten läßt. 


Würde dabei beim bezahlten Abtreiber die Bestrafung mit 
Zuchthaus, und zwar wie bisher bis zu zehn Jahren bestehen 
bleiben und auch der Versuch bei ihm bestraft werden, dann 
würden sich wohl wenige finden, die das gefährliche Gewerbe 
weiter treiben würden. Die Bestrafung des Versuchs beim 
Abtreiber müßte vom medizinischen Standpunkte aus unter 
allen Umständen verlangt werden, weil auch die „Versuche“ 
der Abtreiber, seien sie nun auf medikamentösem oder mecha- 
nischem Wege gemacht, bei Schwangeren und Nichtschwangeren 
zu schweren Gesundheitsschädigungen führen können. Neben- 
bei gesagt gibt es, wie ich der Arbeit Kimmigs entnehme, 
schon ein Land, in dem regelmäßig die Schwangeren freige- 
sprochen, die Abtreiber aber strenge (mit Zuchthaus) bestraft 
werden, nämlich den schweizerischen Kanton Waadt. 


*) Der österreichische Entwurf läßt den Versuch unbestraft und 
gestattet ein Strafminimum von zwei Wochen Gefängnis. 


ig 


Ich möchte nicht unterlassen, an dieser Stelle auch auf 
die wichtigste in den letzten Jahren über kriminellen 
Abort erschienene Arbeit hinzuweisen, nämlich das ausge- 
zeichnete, im Auftrage der niederländischen gynäkologischen 
Vereinigung ausgearbeitete, das Material aller Kliniken in Hol- 
land verarbeitende Referat von Treub und Katharina von 
Tussenbroek. Es wird nachgewiesen, daß die kriminellen 
Aborte auch in Holland — und zwar unter gleichmäßiger Be- 
teiligung von Katholiken, Protestanten und Juden — in be- 
unruhigender Weise zugenommen haben, und daß 4% der 
kriminellen Aborte vom Tode, 30% von schwersten, lebens- 
bedrohlichen Erkrankungen gefolgt waren. Um dem Übel 
Einhalt zu tun, wird verlangt: Änderung des Strafkodex im 
Sinne des Fortfalls der in Holland anscheinend notwendigen 
Beweisführung, daß die Frucht im Moment des Abtreibens 
lebte; .Fortfall der Strafschuldigkeit der Schwangeren, weil, 
solange diese besteht, kein Arzt Klage stellen könne, die neben 
dem Abtreiber auch seine Patientin vor den Strafrichter 
brächte, und Änderung des Gesetzes betreffend das Berufs- 
geheimnis, in dem Sinne, daß dem Arzte zu sprechen erlaubt 
sei, wenn nach redlicher Einsicht höhere Interessen auf dem 
Spiele stehen — ein Ausweg, der, rein juristisch betrachtet, 
nach den Entscheidungen des Reichsgerichts in Deutschland 
heute schon möglich wäre. Vom Standpunkt des Arztes kann 
dieser Ausweg aber nicht gebilligt werden. Denn wenn sich 
die unglücklichen Schwangeren nicht mehr auf die absolute 
Schweigepflicht der Ärzte, die ich, ganz abgesehen von den 
juristischen Bestimmungen, als ethisch unerschütterlich fest- 
stehend betrachte, verlassen können, so werden sie auch nach 
geschehener Tat den Arzt meiden und in noch größerer Zahl 
als bisher elend zugrunde gehen. 

Die holländische Gesellschaft verlangt weiter, daß die 
Ärzte nicht ohne sehr triftigen Grund vor Schwangerschaft 
warnen sollen, daß die mehr weniger unverhüllten Abtreibungs- 
annoncen aus den Tagesblättern verbannt werden und daß 
durch die Polizei vor den Wohnungen der bekannten, aber 
nicht faßbaren Abtreiber Polizeidiener postiert werden sollen, 
welche die Aus- und Eingehenden genau kontrollieren. Auch 


Ger Tsaliszer Bossi kommt in einem. čer gecartstilfuchen 
_ 3 ‚ch erstatzeien Rei’era: zum gleichen 
Seziz. ca) eire starke Zuracme des krimire,en Aborts in 
alen Läriern festzestelt ist ozi daS eines der Hauptmittel 
s-;ner Bekämpfiurg die Stralssigzeit der Schwangeren ist, 
deren ee. dazu führt. den Abtreiber fassen zu können. 
Man mag über die Einrzeisorsciiäre der Autoren denken 
joieria geit aus den beiien Arbeiten von 
i hervor. eize sebr viel weitere Herab- 
S für die Schwangeren zu verlangen, 
ais sie in dem \crentwarie vorgeseben ist 
Von manchen Gegzern des Atrreibungsparagraphen ist 
tend gemacht worden. daß die Vermehrang der Bevö:kerung 
aufs Geradewöohl gar nicht wünschenswert sei. und daB der 
Hoa so vieser unehe,icher und ehelicher Kinder durch 
‚hwargerschaftsunierbreckung den übrig b.eivenden Kindern 
zugute käme, da diese besser ernährt und erzogen werden 
tten. Auch dieses Argument ist vom naturwissenschaft- 
lichen Standpunkte aus nicht haltvar; Plicht der Gesellschaft 
ist es, dafür zu sorgen, daß alle geborenen Kinder einiger- 
maben günstige Entwicklungsbedingungen fänden, und dieses 
Ziel ist nicht so schwer erreichbar, daß es ohne weiteres auf- 
gegeben werden dürfte, um statt dessen eine große Anzahl ge- 
sunder keimender Menschenleben willkürlich zu vernichten. Es 
ist viesmehr ganz gut möglich, daß durch das letztere Vor- 
gehen die Voiksgesundheit direkt geschädigt würde, weil 
gerade recht wertvolle Keime von der Entwicklung ausge- 
schlossen würden. Sind nicht die unehelichen Kinder zum 
größten Teil Sprossen gerade des jugendkräftigsten und ge- 
sundesten Teiles der Bevölkerung? Wenn man auch den 
Herzenserguß des Bastards Edmund in „König Lear“ : 
Was brandmarkt man uns denn 
Mit unecht? schlecht, mit Bastard? unecht? unecht? 
Die wir im heißen Diebstahl der Natur 
Mehr Kraft erhielten und lebend’gern Sinn, 
Als meist im dumpfen schalen Ehebett 
Zuteil wird einem ganzen Stamm von Tölpeln. 
Gezeugt so zwischen Schlaf und Wachen? 


setzung Ges 
1 


4 + 
Gi 
a 
N 


wenn man auch, sage ich, diesen Erguß nicht ohne weiteres 
anerkennen wird, so liegt doch im obigen Sinne ein Funken 
Wahrheit darin, und es darf wohl auch daran erinnert werden, 
daß eines der größten Genies aller Zeiten, Leonardo da Vinci, 
ein uneheliches Kind war. Was aber die späteren Sprößlinge 
kinderreicher Familien betrifft, so muß ich als Geburtshelfer 
daran erinnern, daß die Kinder vielgebärender Frauen in der 
Regel nachweislich besser entwickelt und schwerer sind, als 
ihre älteren Geschwister; es dürfte auch kaum schwer fallen, 
geistig hervorragende Menschen in genügender Zahl ausfindig 
zu machen, die als Spätgeborene zur Welt gekommen sind; mir 
selbst sind einige solche bekannt. 

Jedenfalls ist durchaus nicht ohne weiteres klar, daß die 
willkürliche Opferung der spätbefruchteten Keime gleichgültig 
für das Wohl des ganzen Volkes wäre. Die von den An- 
hängern des Neo-Malthusianismus, über den ich im übrigen 
kein Urteil abgeben will, angeführten Statistiken, die eine 
höhere Sterblichkeit der später geborenen Kinder beweisen 
sollen, beweisen auf keinen Fall, daß diese Kinder als schwächer 
und weniger widerstandsfähig geboren wurden, sondern höch- 
stens, daB sie infolge der verschlechterten wirtschaftlichen 
Lage der Eltern von Geburt an weniger gut gestellt waren 
wie ihre Geschwister. An diesem Punkte müßten und könnten 
Staat und Gesellschaft eingreifen, zumal auch in Deutschland, 
vor allem in den großen Städten, bereits ein merklicher Rück- 
gang der Geburtenzahl zu verzeichnen ist. Die bekannten 
Zustände in Frankreich, die den dortigen Vaterlandsfreunden 
schwere Sorge machen, liegen also auch für Deutschland 
durchaus nicht mehr in utopischer Ferne, so daß man im 
Interesse der Volkshygiene keinesfalls die willkürliche Ver- 
nichtung einer großen Zahl von Keimen befürworten kann. 

Ehe ich die Erörterung über die etwaige Aufhebung des 
Abtreibungsparagraphen verlasse, muß ich noch einen sonder- 
baren Irrtum einer der Hauptverteidigerinnen derselben, 
Camilla Jellinek, anführen und aufklären. Sie meint: Die 
logische Folge des Verbotes der Fruchtabtreibung aus be- 
völkerungspolitischen Gründen wäre, daß die konzeptionsbe- 
hindernden Mittel zum größten Teil unter Strafe fallen müßten; 


=, a0 2 


„denn bei denjenigen, welche als die wirksamsten von Ärzten 
empfohlen werden, von Frauen befolgt werden, handelt es sich 
in der Tat um die Vernichtung des schon befruchteten Eies un- 
mittelbar nach der gemutmaßten Befruchtung. Der Unterschied 
zwischen der Anwendung eines solchen Mittels und der Anwen- 
dung eines anderen etwa eine oder einige Wochen später, liegt 
meines Erachtens nur darin, daß zu letzterem eine Hilfe not- 
wendig oder wenigstens ratsam geworden ist.“ Diese Aus- . 
führungen entsprechen nicht den Tatsachen. Es ist für einen 
Laien und einen Arzt gleich unmöglich, das menschliche Ei 
unmittelbar nach der Befruchtung unschädlich zu machen; denn 
da befindet es sich noch wohlgeborgen im Eileiter und erst 
nach einer achttägigen Reise ist es im Gebärmuttergrund an- 
gelangt, wo es zunächst den einfachen Manipulationen der 
Laien noch immer unerreichbar ist. Alle konzeptionsbehin- 
‚dernden Mittel zielen vielmehr darauf ab, die Vereinigung von 
Sperma und Ovulum zu verhindern, indem sie dem ersteren 
das Eindringen in den Uterus unmöglich machen.*) 

Weder logisch noch naturwissenschaftlich noch praktisch 
medizinisch kann also die Konzeptionsbehinderung mit der Frucht- 


*) Camilla Jellinek macht noch eine weitere irrtümliche An- 
gabe, die ebenfalls hervorgehoben zu werden verdient, weil ziemlich 
weitgehende Schlußfolgerungen daraus gezogen werden. Sie behauptet, 
daß in England die in der ersten vor allem in Betracht kommenden 
‚Zeit erfolgende Abtreibung nicht bestraft werde; das ist falsch. Nach 
Radbruch hat der alte Unterschied von Foetus inanimatus und ani- 
matus, before and after quickening, in der englischen Gesetzgebung nur 
bis 1837 fortgelebt, und nach den Angaben von Kimmig ist die Be- 
strafung der Fruchtabtreibung (auch des Versuchs) in England sogar 
‚außergewöhnlich hart (lebenslängliche Zwangsarbeit. Man kann den 
Bund deutscher Frauenvereine nur beglückwünschen, daß er in seiner 
in anderen Punkten vom medizinischen Standpunkt aus nicht einwand- 
freien Petition sich bezüglich des § 218 den Standpunkt und die Begrün- 
dung Camilla Jellineks nicht zu eigen gemacht hat; da es auch an Ver- 
suchen, die Unterscheidung zwischen Abtreibung der „belebten und 
unbelebten Frucht“. wieder zu beleben, die auch Camilla Jellinek nicht 
übel zu gefallen scheint, nicht fehlt, so ist es doppelt zu begrüßen, daß 
der Frauenvereinsbund sich rückhaltslos der naturwissenschaftlich 
allein aufrecht zu erhaltenden Rechtsauffassung angeschlossen hat, daß 
es sich vom Momente der Befruchtung ab um ein drittes Lebewesen 
‚handelt. 


a BI, ss 


abtreibung auf eine Stufe gestellt werden, und das Gesetz 
kann sich mit der Anwendung konzeptionsbehindernder 
Mittel auf keinen Fall befassen; wohl aber könnte und sollte 
der Staat das Angebot und den Verkauf solcher Mittel, die 
gesundheitsschädlich wirken können, unter Strafe stellen, 
gerade so, wie er den Verkauf gesundheitsschädlicher Lebens- 
mittel verbietet, und vor allem sollte der Staat solche Mittel 
nicht noch patentamtlich schützen, wie dies geschehen ist. Ich 
besitze selbst ein solches Instrument, das bei der betreffenden 
Frau Abortus und Infektion veranlaßt hatte, und habe durch 
“Anfrage beim Kaiserlichen Patentamt festgestellt, daß es wirk- 
lich patentamtlich geschützt war, wenn auch der Schutz zur 
Zeit meiner Anfrage wegen Nichterneuerung erloschen war. 
Bekanntlich weiß das große Publikum nicht, daß der Patent- 
schutz nichts weiter bedeutet, als daß die betr. Erfindung neu ist; 
es glaubt vielmehr, es sei mit der amtlichen Gewährung des 
Schutzes auch ein Urteil über die Güte des patentierten Gegen- 
standes oder Verfahrens ausgesprochen, es sei gewissermaßen 
staatlich empfohlen, und in diesem Zusammenhang verdienen 
die patentamtlich geschützten konzeptionsbehindernden Mittel, 
die zugleich als Abtreibungsmittel dienen können, eine Er- 
wähnung. 

Das einzige ganz sichere Mittel der Konzeptionsbehinde- 
rung ist bekanntlich die operative Sterilisation, die ich an- 
hangsweise hier vielleicht auch erwähnen darf, weil dabei ein 
Irrtum auf juristischer Seite zu beseitigen ist. Van Calker 
hat in der Diskussion in der deutschen gynäkologischen Ge- 
sellschaft zu Straßburg im Juni 1909 ausgesprochen, daß er 
bezüglich derselben dieselbe Auffassung vertrete, wie bezüglich 
des künstlichen Abortus. Er hält die künstliche Sterilisation 
nur für zulässig, wenn neue Schwängerung eine Lebensgefahr 
oder eine unverhältnismäßig schwere Gesundheitsschädigung 
der Mutter zur Folge haben würde. Diese Gleichstellung von 
künstlichem Abortus und künstlicher Sterilisation ist logisch 
und medizinisch falsch. Beim künstlichen Abortus hat der 
Staat nach der bisherigen Auffassung ein Recht, hereinzureden, 
weil es sich nicht nur um die beiden Ehegatten, sondern um 
ein begonnenes drittes Leben, auf das er ein Recht zu haben 


== 982 „u 


glaubt, handelt. Bei der Sterilisation ist ein solches drittes 
Leben noch nicht vorhanden, ja im Augenblicke der Ausfüh- 
rung derselben steht nicht einmal fest, ob jemals ein solches 
Leben auch ohne die Sterilisation in Frage kommen würde; 
wollte der Staat hier hineinreden, dann wäre allerdings die 
logische Schlußfolgerung, daß er bei jeder Eheschließung das 
Recht hätte, in seinem Interesse Nachkommenschaft zu fordern, 
und dann dürfte er nicht nur jede Konzeptionsbehinderung 
verbieten und bestrafen, sondern logischerweise müßte er, da, 
abgesehen von der Sterilisation, die einzige sichere Methode 
der Konzeptionsbehinderung die Unterlassung der Kohabitation 
ist, auch diese Unterlassung mit Strafe bedrohen, er müßte 
wie Koran und Talmud die Ausübung der ehelichen Pflicht in 
regelmäßigen Zeitabständen zum Gesetz erheben. An der 
Logik dieser Schlußfolgerungen ändert auch die Heranziehung 
des § 224 (Körperverletzung mit Vernichtung der Zeugungs- 
fähigkeit) durch van Calker nichts, denn der ärztliche Ein- 
griff ist eben keine Körperverletzung im Sinne des Gesetzes, 
ganz abgesehen davon, daß auch nach Ansicht vieler Juristen 
die Einwilligung in die Körperverletzung die Rechtswidrigkeit 
ausschließt. Jedenfalls hoffe ich, in Ihrem Kreise Zustimmung 
zu finden zu der Diskussionsbemerkung, die ich in Straßburg 
zu diesem Punkte machte: „Die künstliche Sterilisation geht 
den Staat und den Juristen gar nichts an. Keine Frau ist 
den Staate gegenüber verpflichtet, sich schwängern zu lassen 
und Kinder zu gebären, sondern jede hat vollkommen freies 
Verfügungsrecht über ihren Körper, so lange es sich nur um 
diesen allein handelt, und kann, wenn ihr Mann damit einver- 
standen ist und wenn sie einen Arzt findet, der ihren Wünschen 
nachgibt, mit ihrem Körper machen lassen, was sie will. Ob 
der Arzt die Sterilisation ausführen soll oder darf, ist keine 
juristische, sondern eine rein medizinisch-ethische Frage, fast 
möchte man sagen, eine Geschmackssache. Ich habe mich zur 
Ausführung einer Operation nur zum Zwecke der Sterilisation 
noch niemals entschließen können*), und wenn ich z. B. lese, 

*) Ich war nachher doch einmal dazu gezwungen, aber in einem 


Falle, in welchem ein anderer Operateur die künstliche Sterilisation ge- 
legentlich einer bestimmten Art der Vorfallsoperation, welche das Wachs- 


"E e 


daß ein Operateur die Frau eines höheren Geistlichen nach 
dem sechsten Kinde sterilisiert hat, damit sie kein siebentes 
bekommt, so schüttle ich den Kopf über den Geistlichen und 
über den Operateur. Das werden andere auch tun, aber den 
Staat und die Justiz geht es, wie gesagt, nichts an. | 

Will der Staat etwas dafür tun, daß ıhm sein Menschen- 
material nicht geschmälert werde, so hat er ganz andere Wege 
zur Verfügung, die er allerdings bisher vollkommen vernach- 
lässigt hat. Nicht den Zeugungsunwilligen und Ungezeugten, 
bei denen seine Macht doch scheitern müßte, wende er seine 
Fürsorge zu, sondern er sorge dafür, daß nicht, wie jetzt, all- 
jährlich hunderttausende werdender und schon geborener Kinder 
alsbald wieder dahingerafft werden, die sehr wohl gerettet 
werden könnten durch eine bessere Fürsorge für die schwangeren, 
kreißenden und stillenden Frauen, für die geborenen und un- 
geborenen Kinder.*) Für dieses hohe Ziel stelle er uns Ärzten 
die Mittel zur Verfügung und auf diesem Wege wird sein 
Zweck, Menschen zu gewinnen, bei weitem mächtiger und 
wirksamer gefördert werden als durch die strengsten Bestim- 
mungen gegen den kriminellen Abortus.“ | 

Kehren wir zum Abtreibungsparagraphen zurück, so steht 
wohl soviel fest, daß die Gegner desselben seine Aufhebung bei 
der kommenden Strafrechtsreform kaum durchsetzen werden. 
Es erhebt sich daher eine zweite Hauptfrage: 

„Sind bestimmte Fälle von Schwangerschaftsunterbrechung 
als nicht unter diesen Paragraphen fallend gesetzlich festzu- 
legen ?* | 


tum des Uterus bei erneuter Schwangerschaft unmöglich machte, hatte 
ausführen wollen, aber nicht erreicht hatte. Ich mußte daher wegen 
lebensbedrohender Zustände der Mutter die nächste Schwangerschaft 
durch einen außergewöhnlich schwierigen Eingriff unterbrechen, da das 
Austragen mechanisch unmöglich war. Da die Wiederholung des Er- 
eignisses natürlich unter allen Umständen vermieden werden mußte, 
blieb mir nichts anderes übrig, als die künstliche Sterilisation nach- 
träglich vorzunehmen. Bei dieser Sachlage war aber diese dritte Opera- 
tion eigentlich doch nur ein nachgeholter, weil dem ersten Operateur 
mißglückter Akt der ersten Vorfallsoperation. 

*) Näheres hierüber in meinem Referat auf dem 1. deutschen 
Säuglingsschutz-Kongreß (s. Literaturverzeichnis). 

3 


In der Literatur wurde die Festlegung solcher Ausnahmen 
verlangt 


1. bei Vergewaltigung, 

2. aus sozialer Indikation, 

3. aus rassehygienischen Gründen, 

4. auf Grund ärztlicher Indikation wegen des Gesundheits- 

zustandes der Mutter. 

Die drei ersten Forderungen können eine Unterstützung 
von seiten der wissenschaftlichen Medizin nicht finden. Be- 
züglich der Vergewaltigung, kann von ihr höchstens, wie oben 
ausgeführt, bestätigt werden, daß der Körper der Schwangeren 
durch eine kunstgerechte Schwangerschafts-Unterbrechung 
weniger geschädigt wird als durch die Geburt; hält man also 
die Unterbrechung aus Gefühls- oder Gerechtigkeitsgründen 
für angezeigt, so ist von ärztlicher Seite dagegen nichts ein- 
zuwenden, sondern nur hervorzuheben, daß die Schwängerung 
durch Vergewaltigung nicht so leicht herbeizuführen ist, wie 
vielfach angenommen wird, und ganz außerordentlich selten 
. vorkommt, so daß das Bedürfnis nach einer derartigen gesetz- 
lichen Bestimmung in Wirklichkeit kaum sehr lebhaft ist, während 
die ethischen und forensischen Folgen einer solchen Bestim- 
mung nicht ganz unbedenkliche sein können.*) 


*) Anmerkung bei der Korrektur. Auch Holzapfel be- 
findet sich, wie in allen wesentlichen Punkten, auch darin mit mir in 
Übereinstimmung, daß vom medizinischen Standpunkte aus der künst- 
liche Abortus bei Notzucht zulässig sei (unter bestimmten gerichtlich 
festzulegenden Bedingungen), unter anderen, „weil es nicht ausgeschlossen 
ist, daß durch die biologischen Vorgänge in der Schwangerschaft der 
Organismus der Geschwängerten geschädigt wird (cf. Tierzuchtlehre)“. 
Wahrscheinlich meint Holzapfel, von dessen Vortrag mir bislang nur 
ein kurzes Referat zugängig ist, die sog. Telegonie oder Fernzeugung, 
d. h. die Beeinflussung aller späteren Geburten durch das erste Männ- 
chen, so daß also eine von einem minderwertigen Männchen geschwängerte 
Mutter auch bei späterer Schwängerung durch edle, ebenbürtige Ver- 
treter ihrer Rasse leicht minderwertige Sprößlinge zutage fördern soll. 
Wenn diese Möglichkeit, wie besonders Kollmann zeigte, auch wissen- 
schaftlich nicht ganz ausgeschlossen werden kann, so ist sie doch auch 
keineswegs einwandsfrei bewiesen und kann daher hier kaum verwertet 
werden. Zur Begründung der Berechtigung des Abortus artificialis bei 
Notzucht bedürfen wir ihrer auch nicht, sie ist vollkommen ausreichend 


a VE Tr se SEE zur VEE ESSEN NG TEEN FEHREEEERURGZesmGGEGRe=> — SSR SEE ESS a Ř BISREEEREREESEGRP IE ae FENSTER TER rg EN ur ES Tr ann gro sn 


Die soziale Indikation, d. h. die Schwangerschaftsunter- 
brechung wegen mißlicher wirtschaftlicher Lage der Eltern, 
ist zwar von manchen Ärzten aufgestellt und vertreten worden, 
sie hat aber mit der medizinischen Wissenschaft als solcher 
gar nichts zu tun, muß vielmehr von dieser aus den schon 
oben angeführten Gründen direkt abgelehnt werden. Ich 
stimme in dieser Beziehung ganz mit Thorns vortrefflichen 
Ausführungen überein, der besonders betont, daß seiner Er- 
fahrung nach die Aktreibung viel häufiger aus Gründen des 
Wohllebens und mangelnden Pflichtgefühls, als aus wirklicher 
Not geübt werde. Übrigens ist die rein soziale Indikation in der 
Ärztewelt ziemlich allgemein abgelehnt worden (Thorn, Jaffe, 
Matthes, Ahlfeld, Bossi, Holzapfel, Richter, ich selbst). 
Matthes, der die Unterbrechung der Schwangerschaft aus wirt- 
schaftlichen Gründen zwar nicht für den Arzt, aber für die Gesell- 
schaft für diskussionsfähig erklärt, tut dies in einer Form, die 
ein scharfes Licht wirft auf die Gefahr, dıe der Würde und 
Achtung des ärztlichen Standes als solchen aus einer Freigabe 
der Schwangerschaftsunterbrechung aus nichtärztlichen Gründen 
drohen würde. „Warum“, sagt er, „sollen gerade wir Ärzte 
uns von der Gesellschaft das Mandat aufbürden lassen, in 
solchen Fällen über Leben und Tod der keimenden Frucht zu 
entscheiden? ... . . diese Entscheidung ist einer wie immer 
zusammengesetzten Körperschaft zu übertragen. An diese 
appellieren die bedrängten Frauen entweder unmittelbar oder 
der Arzt bringt ihr jeden Fall zur Kenntnis, in dem eine 
schwangere Frau aus „wirtschaftlichen Gründen“ von ihm die 
Abtreibung der Leibesfrucht verlangt... .. Die Schwangere 
wird von der Körperschaft einer Anstalt überwiesen, die eigens 


zu dem Zweck eingerichtet ist. Die Ausführung des Beschlusses 


obliegt einer staatlich angestellten Person. Sollte sich für die 
Übernahme einer solchen Stelle kein Bewerber aus den Reihen 
der Ärzte finden, dann um so besser. Es läßt sich ganz gut 
denken, daß ein in dieser Spezialkunst tüchtig gebildeter Laie, 





gegeben durch die oben festgestellte Tatsache, daß jede ausgetragene 
Schwangerschaft und Geburt eine größere Gefährdung der Integrität des 
weiblichen Körpers darstellt als der frühzeitig kunstgerecht eingeleitete 
Abortus. 


Zr 





Lee om en ER Ethan e Are a 
ene ariet Sr ie Bas $ Alu ir una nei Dec 


toraa NT g 
e 


ETATEN BE DARN RE RED ET EE E DT EEA E TRENNEN N 


zan 6: s 


analog dem Scharfrichter, den Dienst in einer solchen An- 
stalt versieht ..... s 

Der Vorschlag ist vollkommen folgerichtig durchgedacht, 
und wenn er zu staatlich organisierten Abtreibungsanstalten 
mit einer Art Scharfrichter an der Spitze führt, so ist am 
besten dargetan, daß der ganze Vorschlag eine Verirrung ist, 
an der sich zu beteiligen die medizinische Wissenschaft und 
der Ärztestand klipp und klar ablehnen muß. 

Auch der Italiener Bossi, einer der sonst am modernsten 
und fortschrittlichsten gesinnten Gynäkologen, tut dies in seinem 
schon erwähnten, von der geburtshilflichen Gesellschaft von 
Frankreich gebilligten Referat mit den Worten: „Alles, was 
gegen die Gesetze der Natur ist, muß von den Jüngern der 
Heilkunst als gefährlich und verwerflich betrachtet werden. 
Ein Abortus, der keine medizinische Indikation hat, muß von 
den Gynäkologen als wahres Verbrechen betrachtet werden.“ 
(L’avortement, qui n’a pas d'indications médicales, doit être 
considéré par les gynécologues comme un crime véritable.) 

Zu erwähnen ist noch, daß manche ärztliche Autoren die 
Wendung „soziale Indikation“ unklar oder falsch gebrauchen, 
wenn sie dieselbe anwenden, um zum Ausdruck zu bringen, 
daß bei vorhandener ärztlicher Indikation die äußeren Ver- 
hältnisse der Patientin mit in Erwägung gezogen werden 
müssen. Wenn z. B. eine in kümmerlichen Verhältnissen 
lebende und aus diesen nicht entfernbare Proletarierfrau in 
einem gewissen Stadium der Tuberkulose geschwängert wird, 
so kann es ziemlich sicher sein, daß sie im Wochenbett der- 
selben erliegt; die Gattin eines begüterten Mannes, welche die 
ganze Schwangerschaft hindurch in einem wohlgeleiteten Sana- 
torium in einem Höhenklima unter den denkbar günstigsten 
Verhältnissen zubringen kann, wird möglicherweise im gleichen 
Stadium der Erkrankung trotz der Schwangerschaft genesen 
können. Es ist vollkommen berechtigt, bei der ersten Patientin 
die Unterbrechung vorzunehmen, bei der zweiten abzulehnen. 
Die gleiche Rücksicht auf die äußeren Verhältnisse sind wir 
auch bei manchen Operationen, außerhalb der Schwangerschaft, 
zu nehmen gezwungen; wir führen sie aus bei Leuten, die, 
auf ihrer Hände Arbeit angewiesen, auf rasche und ‚sichere 


= OT 


Genesung drängen, während wir sie bei Patientinnen, die ihr 
ganzes Leben nur ihrer Gesundheit widmen können, auf- 
schieben oder unterlassen; kein logisch und billig denkender 
Mensch wird diese Rücksichtnahme auf gegebene und vom 
Arzte nicht beeinflußbare Verhältnisse mißbilligen können — 
aber von einer „sozialen“ Indikation der Operation oder 
Schwangerschaftsunterbrechung kann man deshalb doch nicht 
sprechen, denn der für den Arzt maßgebende Grund, aktiv 
vorzugehen, ist doch der Krankheitszustand der Patientin, und 
nur weil dieser oder seine Gefahren in dem einen Falle nicht 
anders beseitigt werden können, ist die Schwangerschaftsunter- 
brechung berechtigt, in dem anderen Falle nicht, weil die 
Gefahr auf anderem, weniger der Natur zuwiderlaufendem 
Wege beseitigt werden kann. 

Wissenschaftlich gänzlich in der Luft schwebend ist die 
Forderung der Erlaubnis der Schwangerschaftsunterbrechung 
aus rassenhygienischen Gründen, welche die Petition des 
Bundes deutscher Frauenvereine aufstell. Denn es gibt keine 
Erkrankung der Mutter oder des Vaters, bei der die Wissen- 
schaft allgemein oder gar im Einzelfalle mit Sicherheit die 
Geburt einer minderwertigen, der Aufopferung ohne weiteres 
würdigen Frucht voraussagen kann, und die generell be- 
willigte Schwangerschaftsunterbrechung könnte ebenso oft ganz 
gesunde und wertvolle Keime betreffen, wie verdorbene. Die 
Petition führt folgende Erkrankungen an: Syphilis: sie ist durch 
zweckentsprechende Behandlung der Eltern heilbar, bezüglich 
der Frucht sogar oft durch alleinige Behandlung der Mutter 
noch während der Schwangerschaft. Schwere Alkoholisten 
und Geisteskranke können, sofern sie überhaupt fortpflanzungs- 
fähig sind, ganz gesunde und geistig hochstehende Nachkommen 
‚haben; die Übertragung der Tuberkulose durch den väter- 
lichen Samen und im Mutterleibe ist zwar möglich, und viel- 
leicht, wie gerade Arbeiten Sitzenfreys aus meiner Klinik 
zeigen, etwas häufiger, als man früher annahm, aber die über- 
‚große Mehrzahl aller Tuberkulösen bringt ganz gesunde und 
oft recht kräftige Kinder zur Welt, und die Gefährdung dieser 
Kinder beginnt erst, wenn sie nach der Geburt dauernd in die 
bazillengeschwängerte Umgebung ihrer Eltern gebannt sind. 


u: a 


Die Beobachtungen Sitzenfreys zeigten sogar, daß das 
Kind selbst dann gesund sein und bleiben kann, wenn der 
kindliche Teil des Mutterkuchens von Tuberkulose ergriffen 
ist, und die Mutter ihrer schweren Tuberkulose bald nach der 
Geburt erlag. Die Lehre von der im Mutterleibe erworbenen 
oder ererbten Disposition zur Tuberkulose aber ist noch 
viel zu unsicher begründet, und selbst wenn sie zutreffen sollte, 
läßt sie so zahlreiche Ausnahmen zu, daß man aus ihr eine 
Berechtigung der Schwangerschaftsunterbrechung bei Tuberku- 
lösen wegen der Gefahr der Vererbung der Erkrankung nicht 
ableiten kann. Wenn wir gelegentlich bei Tuberkulose doch 
die künstliche Fehlgeburt bewerkstelligen, so tun wir dies 
nicht, um einer Vererbung vorzubeugen, sondern nur ım Inter- 
esse des mütterlichen Lebens. 

Die Berechtigung der Schwangerschaftsunterbrechung auf 
Grund ärztlicher Indikation ist allgemein anerkannt, auch von 
Laien und Juristen, welch letztere nur noch über den Rechts- 
grund der Straflosigkeit streiten, in welchen Streit ich mich 
nicht einmischen will. Es fragt sich nur, ob in dem neuen 
Strafgesetz diese ärztliche Berechtigung überhaupt besonders 
erwähnt oder gar in ihren Grenzen und Anwendungsformen 
festgestellt werden soll. Es möchte manchem erscheinen, daß 
dies nur eine im Interesse des ärztlichen Standes aufzuwerfende 
Frage sei: es muß aber von vornherein betont werden, dab 
auch die Allgemeinheit und das Volkswohl ein erhebliches 
Interesse an der richtigen Entscheidung dieser Frage hat. 
Denn nur dann wird der Arzt im Einzelfalle seine Entschei- 
dung, ob die Schwangerschaft unterbrochen werden soll oder 
nicht, rein sachlich nach den ihm von der medizinischen 
Wissenschaft gelieferten Anhaltspunkten treffen und so das 
Wohl seiner Patientinnen und damit in letzter Linie das Volks- 
wohl im vollen Umfang wahren können, wenn er nicht in 
seinem Urteil beeinflußt und in seinem Handeln beengt ist 
durch die drohende Gefahr, das Strafgesetzbuch auf den Hals 
gehetzt zu bekommen, selbst wenn er wissenschaftlich richtig 
und optima fide gehandelt hat. Dabei muß ihm nicht nur die 
Freisprechung bei leichtfertiger Anschuldigung gewährleistet 
sein, sondern auch der größtmögliche Schutz gegen diese 





Te 
sel 
joe 

s 
9. 
erft" 
liebe 

t -t 
re E 


‚seht 


— 39 — 


letztere selbst. Denn schon die Erhebung der Anklage und 
die Verhandlung, auch wenn sie mit Freisprechung endigt, 
schädigt ihn in seinem Berufsleben so enorm, daß diese Gefahr 
allein, selbst wenn er mit Freisprechung rechnen kann, ge- 
nügen könnte, die Freiheit seines ärztlichen Handelns zum 
Schaden seiner Klientel zu beeinträchtigen: 

Ich habe in Straßburg und schon früher vorgeschlagen, 
daß die auch für die Kranken und die Allgemeinheit bedenk- 
lichen Gefahren ungerechtfertigter Anschuldigungen eines un- 
schuldigen Arztes durch eine der in Österreich gültigen Ver- 
fügung*) ähnliche Bestimmung vermieden oder wenigstens 


*) Verfügung des Justizministeriums an alle österreichische Ober- 
staatsanwaltschaften v.J. 1903 (Netolitzky, Dittrichs Handbuch Bd. 10, 
1907, S. 62): „In Straffällen, in welchen es sich um Feststellung eines 
von einem Arzte begangenen Kunstfehlers handelt, wird es sich in der Regel 
empfehlen, die Einholung eines Fakultätsgutachtens zu veranlassen, so- 
fern nicht den begutachtenden Gerichtsärzten eine anerkannte Autorität 
auf dem betreffenden Gebiete der Heilkunde zukommt und der Fall nach 
der Sachlage zu keinen Zweifeln Anlaß gibt. Es empfiehlt sich ferner, 
in solchen Fällen schon im Vorverfahren die Frage des Verschuldens 
vollkommen klar zu stellen, um nicht den beschuldigten Arzt selbst im 
Falle eines durch Freispruch endenden Hauptverfahrens in seinem An- 
sehen schwer zu schädigen und den ärztlichen Stand keiner ungerecht- 
fertigten Kritik in der öffentlichen Meinung auszusetzen. Da viele Fälle 
dieser Art zur Zuständigkeit des Bezirksgerichts gehören, wird es ge- 
boten erscheinen, im Sinne des letzten Absatzes des § 451 StrPO. Vor- 
erhebungen in dem vorerwähnten Sinne zu beantragen.“ 

Näheres s. v. Franqu&, ‚Beitrag zu den Unglücksfällen bei ge- 
burtshilflichen Operationen und ihrer gerichtsärztlichen Bedeutung. Volk- 
manns klin. Vorträge, N.F., Nr. 194, 1909. Ich sehe erst jetzt, daß 
Ahlfeld in seinem „Nasciturus“ schon 1906 die gleiche Forderung er- 
hoben hat mit den Worten: „Handelt es sich um Anklagen gegen den 
Arzt selbst in seinem Berufe, so sollte die Angelegenheit einem sach- 
verständigen Kollegium vorher unterbreitet werden, ehe sie zur weiteren 
gerichtlichen Behandlung kommt; dann würde oft eine einfache sach- 
gemäße Untersuchung des Falles ergeben, was schließlich erst nach 
langen, aufreibenden, Zeit und Geld fordernden Verhandlungen heraus- 
kommt, daß aus einer Maus ein Elefant gemacht war oder, wie so häufig, 
daß es sich um Erpressungsversuche gehandelt hat.“ 

Nicht anschließen kann ich mich der an gleicher Stelle geäußerten 
Ansicht Ahlfelds, „daß die Vergehen wider das keimende Leben, 
Kindsmord, fahrlässige Tötung im ärztlichen Berufe usw. dem Laien- 


= ‚A: ee 


herabgesetzt werden könnten und sollten, derzufolge die Klä- 
rung eines einschlägigen Falles durch die ärztlichen Sachver- 
ständigen vor Erhebung der Anklage und der öffentlichen 
Verhandlung zu erfolgen hat, und ich halte eine derartige 
Bestimmung auch heute noch für im höchsten Grade wünschens- 
wert, und zwar nicht nur im Interesse der Ärzte, sondern 
ebensowohl in dem Interesse der Kranken und der Allgemein- 
heit; aber ich bin mit Thorn durchaus einverstanden, daß es 
noch viel wichtiger ist, wenn außerdem durch gesetzliche Rege- 
lung der Angelegenheit die Anklagemöglichkeiten von vorn- 
herein für den bona fide handelnden Arzt ausgeschaltet oder 
auf ein Minimum reduziert sind. 

Ich erinnere nur an den von Radbruch nach Mitter- 
maier mitgeteilten konkreten Fall von Unterlassung der 
Schwangerschaftsunterbrechung bei Osteomalazie infolge der 
Angst der betreffenden Ärzte vor strafrechtlichen Folgen mit 
nachfolgendem Tod der Schwangeren bei der Geburt; wenn 
auch der gleiche Fall bei dem heutigen Stande der Wissen- 
schaft kaum mehr vorkommen dürfte und die Indikation zu 
dem künstlichen Abortus .bei dieser Erkrankung wissenschaft- 
lich überhaupt nicht mehr anerkannt zu werden braucht, so 
könnten doch ähnliche Fälle bei anderen Indikationen vor- 
kommen; ich erinnere nur an Treubs Fall von Ablehnung 
der Operation bei unstillbarem Erbrechen (wegen Einspruch 
des Beichtvaters!) mit nachfolgendem Tode der Mutter. Mir 
selbst ist ein Fall bekannt, in dem bei derselben Erkrankung 
die Schwangere erlag, nachdem der eine behandelnde Arzt, 
zugleich der Vater der Patientin, die Zustimmung zu der von 
dem Geburtshelfer wiederholt vorgeschlagenen Unterbrechung 
der Schwangerschaft verweigert hatte. Es wäre sehr wohl 
denkbar, daß auch heute noch ein Arzt aus übergroßer Ängst- 
lichkeit einer derart gefährdeten Schwangeren lieber gar nicht 


urteil, dem Schwurgericht entzogen werden möchten, weil nur Medi- 
ziner vom Fach und Berufsrichter in Gemeinschaft in der Lage seien, 
derartige Verbrechen und Vergehen zu be- und verurteilen“. Gerade bei 
der hier in Frage stehenden Abtreibung scheint es mir im hohen Grade 
im Interesse der Übereinstimmung der Rechtsprechung mit dem Volks- 
empfinden zu liegen, daß das Laienelement die letzte Entscheidung hat. 


ie Ae 


den Vorschlag der Schwangerschaftsunterbrechung machte, als 
sich den ihm von seiten des Strafgesetzbuches drohenden, für 
ihn in ihrem Ausgang unkontrollierbaren Gefahren auszusetzen. 
Gewiß wäre ein solcher Mann zu tadeln, aber entschuldbar 
wäre sein Verhalten bei der heutigen Rechtslage zweifellos. 

Ich halte also auch heute noch mit Thorn,* Jaftfe, 
Ahlfeld einen diesbezüglichen Zusatz zu § 217 des Vorent- 
 wurfs für dringend notwendig, auch nach Kenntnisnahme der 
in der Begründung des Vorentwurfs dagegen gemachten Aus- 
führungen, die zur Zeit des Straßburger Kongresses noch nicht 
veröffentlicht waren. Man muß nur bedenken, daß solche An- 
klagen überhaupt nur von wenig verständigen, oft böswilligen 
oder aufgehetzten Laien, meist nicht aus lauteren Motiven er- 
hoben werden,**) und ihnen gegenüber sind die scharfsinnigen 


*) Anmerkung bei der Korrektur. In allerjüngster Zeit hat 
sich Richter für die Ablehnung der Vorschläge Thorns, die den 
meinigen sehr ähnlich sind, ausgesprochen. Wenn mir auch die ausführ- 
liche Begründung Richters noch nicht zugängig ist, sondern nur der 
kurze Sitzungsbericht der Gynäkol. Gesellschaft zu München, so darf ich 
vielleicht doch darauf hinweisen, daß Richter (ebenso wie Straßmann, 
der sich früher ähnlich geäußert hat) nicht ausübender Geburtshelfer. 
sondern gerichtlicher Mediziner ist. In einer Frage, bei der, wie oben 
gezeigt, soviel auf das subjektive Sicherheitsgefühl derjenigen, welche 
sich immer wieder der Gefahr falscher Deutung ihrer Handlungen aus- 
setzen müssen, ankommt, sowie auf die Beseitigung des tatsächlich schon 
vorhandenen Gefühls der Rechtsunsicherheit bei diesen Ärzten, den aus- 
übenden Geburtshelfern, — in einer solchen Frage verdient meiner Mei- 
nung nach die Auffassung dieser letzteren größere Beachtung als die- 
jenige von Ärzten, die, so erfahren sie sonst sein mögen, sich mit den 
betreffenden Eingriffen höchstens einmal nachträglich theoretisch zu be- 
fassen haben, kaum jemals aber in die Lage kommen, vorher die Ent- 
scheidung und die Ausführung auf ihr Gewissen zu nehmen. Über die 
Zunahme der kriminellen Aborte, die Richter leugnet, kann 
natürlich der Gerichtsarzt, der nur von den gerichtskundig werdenden 
Fällen erfährt, gar nicht urteilen, sondern nur der praktische Arzt und 
der Kliniker. Und diese haben allerorten eine Zunahme festgestellt; ich 
kann diese Beobachtung nach meinen persönlichen Erfahrungen in Prag 
und auch in Gießen bestätigen. Die in der gleichen Sitzung der Gynä- 
kologischen Gesellschaft zu München gemachten Äußerungen Bech- 
manns (Staatsanwalt) halte ich, soweit sie von meinen Ausführungen 
im Text abweichen, durch die letzteren für bereits widerlegt. 

**) Vergleiche hier die Bemerkung Ahlfelds in der Anmerkung 
auf S. 39. 


Tanon = nal us ER EEE 
ann m Emmi ne an = 


u un E g 


OF e aai ma ann 


— 42 — 


und spitzfindigen juristischen Deduktionen, vermittels welcher 
bei der heutigen Rechtslage die Straffreiheit des ärztlichen 
Handelns mühsam genug — wie die große Literatur zeigt — 
aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen abgeleitet werden muß, 
vollkommen wertlos für den Schutz des Arztes. 

Ja nicht einmal dem Juristen und Richter gegenüber ist, 
auch nach dem Vorentwurf, der Arzt genügend geschützt; 
denn die Beweisführungen und Schlußfolgerungen der Begrün- 
dung zu dem Vorentwurf des neuen Strafgesetzes sind ja für 
den Richter nicht bindend, wenn der Entwurf Gesetz geworden 
ist, und nichts könnte ein noch im Banne der in dieser Be- 
ziehung engherzigen Moral seiner Kirche stehendes katholisches 
Richterkollegium hindern, den angeschuldigten Arzt, der bona 
fide aber auf einem bezüglich der wissenschaftlichen Indikation 
verschieden beurteilbaren Gebiete gehandelt hat, zunächst ein- 
mal zu verurteilen, so daß für diesen die Aufregungen, die 
Qualen der Ungewißheit, die Zeit- und Vermögensverluste bis 
zur Entscheidung einer höheren Instanz fortbeständen. Und 
kann man es dem Ärztestand verdenken, wenn er auf diesem 
heiklen Gebiet der juristischen Auslegekunst nicht unbedingt 
vertrauen kann, nachdem das höchste Reichsgericht sich nicht 
gescheut hat, den kunstgerecht ausgeführten ärztlichen Ein- 
griff als Körperverletzung im Sinne des Gesetzes zu bezeichnen ? 
Es kommt noch hinzu, daß die Aussagen der Sachverständigen, 
die etwa den zu Unrecht beschuldigten Arzt entlasten, eben- 
falls für den Richter nicht bindend sind, und daß infolgedessen 
zweifellose Rechtsirrtümer tatsächlich vorgekommen sind. Es 
ist daher begreiflich, wenn sich des ärztlichen Standes ein ge- 
wisses Gefühl der Schutzlosigkeit gegenüber der Justiz be- 
mächtigt hat und daß er durch bestimmt formulierte Gesetze 
auch gegenüber dem Richter geschützt sein will. Der körper- 
lichen Strapazen und schweren Seelenkämpfen wie kein anderer 
ausgesetzte Beruf des Arztes scheint mir hierzu auch ein Recht 
zu geben, und wenn ihm dieses dauernd versagt bleibt, kann 
es kaum ausbleiben, daß das Gefühl der Rechtsunsicherheit, 
deren tatsächliches Bestehen namentlich Ahlfeld überzeugend 
nachgewiesen hat, schließlich auch das Handeln des Arztes 
zum Schaden seiner Patientinnen in ungünstigem Sinne beein- 


Nae 


ed: 


flußt. An Stelle der subjektiven Meinung und Auslegung des 
jeweiligen Richters muß die klare gesetzliche Formulierung 
treten, nicht nur geduldet und daher unter Umständen ver- 
teidigungsbedürftig soll der ärztliche Eingriff sein, sondern 
rechtlich in aller Form anerkannt, wie er dies ja in einer 
ganzen Anzahl auswärtiger Gesetzgebungen schon ist. Auch 
der Entwurf des neuen österreichischen Strafgesetzbuchs sieht 
eine derartige Bestimmung vor. Die Begründung des Vorent- 
wurfs zu einem deutschen Strafgesetzbuch erklärt den Erlaß 
besonderer Vorschriften für das ärztliche Berufsrecht nicht für 
erforderlich und für bedenklich und schließt die diesbezüg- 
lichen Erörterungen folgendermaßen: „Endlich erschien, ent- 
gegen den Vorschlägen der Ärztekammern, auch eine Sonder- 
bestimmung über die Zulässigkeit der Perforation und der Unter- 
brechung der Schwangerschaft nicht erforderlich. Eine solche 
Vorschrift ist, wenn sie nach dem Angeführten überhaupt not- 
wendig war, jedenfalls nach der Erweiterung des Notstandes, 
der nunmehr Nothilfe zugunsten jedes dritten allgemein zu- 
läßt, entbehrlich geworden. Die Erweiterung des Notstands- 
begriffes ist überhaupt geeignet, alle Besorgnisse in Ärztekreisen 
zu zerstreuen, welche etwa trotz der vorstehenden Darlegungen 
noch geblieben sein könnten. Denn sie erstreckt ihre Wirk- 
samkeit nicht nur auf Perforation und Schwangerschaftsunter- 
brechung, sondern umfaßt schützend auch alle anderen ärztlichen 
Eingriffe, die zur Rettung eines andern aus einer nicht geringen 
Gefahr unternommen werden.“ 

Auch die Juristen Radbruch und Wilhelm halten diese 
Erweiterung des Notstandsparagraphen für befriedigend. Doch 
können wir Ärzte diese Berufung auf den Notstandsparagraphen 
aus zwei Gründen nicht für genügend erachten. Derselbe 
lautet: $ 67: Nicht strafbar handelt, wer eine Handlung zur 
Rettung der Person oder des Eigentums seiner selbst oder 
eines anderen aus einer gegenwärtigen, auf eine andere Weise 
nicht zu beseitigenden, unverschuldeten Gefahr vornimmt, es 
sei denn, daß die Gefahr nur gering ist. 

1. Die Heranziehung des Notstandsparagraphen schlecht- 
weg würde Nichtärzten, etwa Kurpfuschern und Hebammen, 
bei Abtreibungen zur Deckung dienen können. Radbruch 


ei AH, «ee 


‚sieht darin keine Bedenken, van Calker gibt zu, daß dies 
nicht ohne Bedenken ist, hält aber trotzdem wegen der recht- 
lich bestehenden „Freiheit des Gewerbebetriebes auf dem Ge- 
biete der Heilkunde“ eine differenzierende Behandlung von 
Laien und Ärzten für ausgeschlossen. Auch in der Begrün- 
dung des Vorentwurfs heißt es an einer Stelle: „Endlich 
scheint auch der Umstand entgegenzustehen (zu ergänzen: der 
Festsetzung eines ärztlichen Berufsrechtes), daß in Deutsch- 
land zurzeit die Ausübung der Heilkunde freigegeben ist.“ 
Nach dem, was weiter oben über die hohen Gefahren der 
Unterbrechung der Schwangerschaft durch Nichtärzte gesagt 
wurde, kann man vom ärztlichen Standpunkt aus niemals zu- 
geben, daß wegen juristischer Formbedenken die Volksgesund- 
heit ın geradezu leichtsinniger Weise preisgegeben wird. Wenn 
die Gesetzgebung in Deutschland mit Zulassung der Kurierfrei- 
heit und Herabdrückung der ärztlichen Kunst zu einem Gewerbe 
einmal einen schweren Fehler gemacht hat, der sich bitter ge- 
nug an der Volksgesundheit rächt, so ist dies doch kein Grund, 
daß dieser Fehler bei weiterer Gelegenheit wiederholt wird, 
noch dazu auf einem so lebensgefährlichen Gebiet wie auf dem 
‚der Abtreibung. Übrigens besteht doch noch ein fundamen- 
taler Unterschied zwischen der einfachen Ausübung der Hell- 
kunde durch Laien auf Grund der Kurierfreiheit und der Ab- 
treibung oder Perforation durch dieselben, ein Unterschied, der 
‚auch für den Juristen einleuchtend und durchschlagend sein 
sollte: im ersteren Falle handelt es sich nur um Leib und 
Leben der Person, die sich dem Kurpfuscher anvertraut hat; 
mag man es immerhin für strittig halten, ob ihr nicht Recht 
geschieht, wenn sie zu Schaden kommt, und ob der Staat Ur- 
sache hat, sie zu schützen. Anders bei der Schwangerschafts- 
unterbrechung: hier handelt es sich nicht nur um Leib und 
Leben des Antragsteilenden, der sich zum Kurpfuscher begibt, 
sondern auch um das Leben eines dritten, des werdenden 
Menschen, der unbefragt vernichtet werden soll; kann und 
darf es dem Staate gleichgültig sein, darf er ruhig zusehen, 
wenn dieses Leben geopfert wird auf das Urteil eines Laien 
hin, der durch nichts für solche wichtige Entscheidungen vor- 
bereitet ist und keinerlei Gewähr bietet für die Richtigkeit 


der Diagnose und Prognose, die er gestellt hat? Und nach. 
der bisherigen Praxis der Gerichte in Kurpfuscherangelegen- 
heiten und nach den Ausführungen der Begründung des Vor- 
entwurfs würde er ja freigesprochen werden, auch wenn gar 
kein Anlaß zur Schwangerschaftsunterbrechung vorlag, wenn 
er nur nachweisen kann, dab er selbst daran geglaubt hat. 
Er ist ja nicht verpflichtet, irgendetwas von der Heilkunde zu 
wissen! Sollten diesen Erwägungen gegenüber nicht doch die 
formalistischen Zweifel der Juristen hintangestellt und die 
Notwendigkeit der Aufnahme einer besonderen Bestimmung 
zugestanden werden, welche die ärztliche Unterbrechung der 
Schwangerschaft, aber nur diese ausdrücklich freigibt? 

2. Zu ernsten Bedenken bezüglich Anwendung des Not- 
standsparagraphen auf die ärztliche Unterbrechung der 
Schwangerschaft (wie übrigens auch bezüglich anderer ärzt- 
licher Operationen) geben noch die Ausdrücke: „gegenwärtige, 
auf andere Weise nicht zu beseitigende, unverschuldete Ge- 
fahr“ Anlaß. Alle drei Momente können fehlen und doch. 
kann die Unterbrechung der Schwangerschaft vom medizinisch- 
wissenschaftlichen Standpunkte aus vollkommen berechtigt sein, 
z. B. bei Tuberkulose einer im Ehebruch geschwängerten, voll- 
ständig mittellosen Person; soll man sie mit selbstgerechtem 
Achselzucken sterben und verderben lassen, weil sie voraus- 
sichtlich erst ım Wochenbett nach vielleicht 7 bis 8 Monaten 
zugrunde gehen wird, weil sie bei Zulassung der Schwänge- 
rung eine Schuld auf sich geladen hat, weil man sie nicht 
monatelang in einem Sanatorium zur Heilung unterbringen 
kann? Kein Arzt wird, vorausgesetzt, daß das Krankheits-. 
stadium derart ist, daB es die Unterbrechung wissenschaftlich 
rechtfertigt, hier mit „ja“ antworten. Aber der Jurist van 
Calker selbst zweifelt (S. 27), ob das Reichsgericht die 
Schwangerschaftsunterbrechung bei einer durch außerehe- 
lichen Beischlaf geschwängerten und durch die Schwanger- 
schaft am Leben gefährdeten Person durch „unverschuldeten. 
Notstand“ für gerechtfertigt hielte. 

Die Gefahr, wegen welcher wir operieren, ist sehr häufig 
nicht gegenwärtig, wir sehen sie nur herannahen, nicht einmal 
immer mit absoluter Sicherheit, sondern nur mit mehr weniger. 





ae A e 


großer Wahrscheinlichkeit. Und doch müssen wir operieren, 
wollen wir nicht das Leben unserer Patientinnen dem Zufalle 
preisgeben. So liegt die Sache z. B. bei Tuberkulose, schwerem 
Herzfehler, Nephritis, Extrauterinschwangerschaft. Ein näheres 
Eingehen auf diesen Punkt erübrigt sich aber, weil Schickele 
denselben schon in trefflicher Weise ausgeführt hat. Wer bürgt 
dafür, daß nicht einmal der Richter trotz des Gutachtens der 
Sachverständigen erklärt, eine „gegenwärtige Gefahr“ sei nicht 
vorhanden, die Unterbrechung daher rechtswidrig gewesen ? 
Auch die Frage, ob die Gefahr auf andere Weise nicht zu be- 
seitigen war, könnte im Einzelfalle sehr verschieden beant- 
wortet werden und sich als ein Fallstrick auch für den ge- 
wissenhaftesten Arzt erweisen, jedenfalls gelegentlich dem 
Juristen die letzte Entscheidung über rein medizinische Fragen 
erteilen, die ihm nicht zukommt. 

Allen diesen Bedenken wird mit einem Schlage ein Ende 
gemacht, wenn man sich entschließt, einen entsprechenden Zu- 
satz zu $ 217 zu machen; dabei müßte freilich von jedem 
Eingehen ins einzelne abgesehen werden, wodurch einerseits 
dem Fortschritt der medizinischen Wissenschaft gefährliche 
Schranken gesetzt, andererseits dem ärztlichen Stande erst 
recht Gefahren bereitet werden könnten, wie dies Wilhelm 
und die Begründung des Vorentwurfs sehr richtig auseinander- 
setzten. Aber eine allgemein gefaßte Bestimmung würde diese 
Gefahren nicht haben und sie würde außerdem den berechtigten 
Wünschen mancher Juristen, z. B. van Calkers, Rechnung 
tragen können, indem sie einen Übergriff der Ärzte auf nicht- 
ärztliches Gebiet durch Heranziehung einer ja auch natur- 
wissenschaftlich nicht zu rechtfertigenden rein sozialen Indikation 


ausschlösse; ja es würde dem jetzt schon von den berufenen 


Vertretern der medizinischen Wissenschaft festgehaltenen Stand- 
punkte vollkommen entsprechen, wenn in Anlehnung an den 
Notstandsparagraphen die Bestimmung aufgenommen würde, 
daß die Unterbrechung nur „bei nicht geringer Gefahr für 
Leib und Leben der Schwangeren“ erlaubt sein soll. 

Allerdings kann ich mich keinem der gemachten Vor- 
schläge ohne weiteres anschließen und ich möchte folgendes 
als Zusatz zu § 217 des Vorentwurfs vorschlagen: 


u A 


„Nicht unter diese Strafbestimmung fallen Eingriffe zur 
Entfernung des Schwangerschaftsproduktes, wenn dieselben von 
einem Arzte nach den Regeln der ärztlichen Wissenschaft 
wegen einer nicht geringen Gefahr für Leben und Gesundheit 
der Mutter unternommen werden. 

Vor Ausführung der Operation ist der Arzt verpflichtet. 
einen zweiten Arzt zuzuziehen, sofern der Zustand der Mutter 
die dadurch etwa nötige Verzögerung gestattet.“ 

Mir scheint, daß sich Juristen und Ärzte auf diese Fassung 
vereinigen könnten, die einerseits die medizinische Wissen- 
schaft nicht einengt, andererseits der Allgemeinheit und der 
Justiz die gewünschte Gewähr gegen eine zu laxe Indikations- 
stellung von seiten einzelner Ärzte bietet. 

Absichtlich habe ich den Ausdruck „Entfernung des 
Schwangerschaftsproduktes“ gewählt, um auch die Perforation 
des lebenden Kindes, ohne sie ausdrücklich nennen zu müssen, 
einzubegreifen; sie fällt ja nach juristischer Auffassung unter 
diesen Paragraphen. Mit dem Ausdruck „unternommen“ ist 
sowohl die Indikationsstellung als die Ausführung umfaßt. Der 
Zusatz „nicht gering“ würde der Forderung van Calkers 
entgegenkommen (der „unverhältnismäßig schwere“ Gefahr vor- 
schlug) und zugleich dem Vorschlag Schickeles entsprechen: 
„wenn er vom Standpunkt der ärztlichen Wissenschaft aus 
berechtigt war“; denn das ist eben nur dann der Fall, wenn 
die Gefahr eine nicht geringe ist. Man könnte höchstens ein- 
wenden, daß der Zusatz deshalb überflüssig sei, da ja schon 
vorher von den Regeln der ärztlichen Wissenschaft die Rede 
war. Der Einwand, daß der Richter dann wieder zu weit in 
die Indikationsstellung eingreifen könnte, indem er das Vor- 
handensein einer „nicht geringen“ Gefahr in Abrede stellen 
könnte, scheint mir nicht stichhaltig; denn ein gewissen- 
hafter Richter wird sich die alleinige Entscheidung in diesem 
Punkte nicht anmaßen, wenn sie ihm auch tatsächlich zusteht, 
er wird die Sachverständigen vorher anhören. Freilich sollte, 
wie besonders Ahlfeld mit Recht betont, auch hier eine 
bessere gesetzliche Regelung eintreten, welche die Anhörung 
und Auswahl der Sachverständigen nicht, wie anscheinend bis- 
her, der Willkür des Richters überlassen dürfte, sondern dem 





letzteren in dieser Hinsicht bestimmte Verpflichtungen auf- 
erlegte. Übrigens würde die Sachlage dieselbe sein, wenn der 
Zusatz „nicht gering“ wegbliebe; denn ebensogut wie eine 
nicht geringe, kann der Richter die Gefahr überhaupt be- 
streiten. 

Endlich bleiben auch bei Annahme des Zusatzes „wegen 
nicht geringer Gefahr“ die Schlußfolgerungen bestehen, nach 
welchen Wilhelm und in ähnlicher Weise auch der Vorent- 
wurf (S. 59) die Straflosigkeit des Arztes gesichert sieht; 
Wilhelm sagt: „Gibt es keine juristischen Normen, dann 
kann der Arzt, der den Abortus aus medizinischen Gründen 
vornimmt, obgleich die Operation nach den medizinischen 
Regeln nicht angezeigt war, doch nicht wegen vorsätzlicher 
Abtreibung bestraft werden, er begeht höchstens eine fahr- 
lässige Abtreibung, welche straffrei ist; denn er irrt nur ent- 
weder über eine Tatsache oder über Sätze der medizinischen 
Wissenschaft, die außerhalb des Strafrechtes liegen.“ Wilhelm 
hält allerdings nach der Erweiterung des Notstandsparagraphen 
jeden Zusatz betrefis des ärztlichen Handelns für unnötig, doch 
habe ich auseinandergesetzt, warum ich einen solchen im Inter- 
esse der Allgemeinheit und zur Beruhigung des Ärztestandes 
und — wie ich jetzt wohl hinzufügen kann — der strengen 
Juristen für geboten halte. 

Anhangsweise sei hier einer merkwürdigen Äußerung 
Wilhelms gedacht, dessen Ausführungen sonst dem Arzte 
sehr sympathisch sein müssen. Er meint: „Viel leichter könnte 
sich ein Arzt strafbar machen wegen fahrlässiger Tötung, wenn 
er den indizierten Abortus oder die indizierte Perforation nicht 
ausführt und die Mutter stirbt.“ Auch Schickele meint 9.55: 
Wenn die Auffassung van Calkers allgemein anerkannt 
würde, dann könnte selbstverständlich ein Arzt strafrechtlich 
verantwortlich gemacht werden, welcher trotz der „Gefahr 
einer schweren Schädigung“ die Schwangerschaft nicht unter- 
brochen hätte. 

Gerade bei der Schwangerschaftsunterbrechung (eher viel- 
leicht noch bei der Perforation) wird man wohl niemals den 
kausalen Zusammenhang zwischen dem Tod der Mutter und 
der unterbliebenen Schwangerschaftsunterbrechung. beweisen 


vum“ 


Eure Te 


re 


wa A == 


und mit Sicherheit behaupten können, daß der Tod nicht ein- 
getreten wäre, wäre die Schwangerschaft unterbrochen worden. 
Schon aus diesem Grunde würde es nie zur Verurteilung eines 
Arztes kommen können. Auch abgesehen davon, ist es aber 
wohl ausgeschlossen, daß ein Gericht einen Arzt verurteilen 
könnte, der erklärt, daß die Unterbrechung der Schwanger- 
schaft und die Perforation des lebenden Kindes gegen seine 
wissenschaftliche Überzeugung gehe. Bei künstlichem Abortus 
kommt noch hinzu, daß der Arzt, der ihn ablehnt, ihn deshalb 
doch nicht verhindert, also auch den Tod der Mutter nicht direkt 
verschuldet, da gerade hier höchst selten die Sache so liegen 
wird, daß nicht noch rechtzeitig ein anderer Arzt zugezogen 
werden könnte. Ich habe an anderer Stelle (Volkmanns Vor- 
träge) schon gesagt: „die Perforation des lebenden Kindes ist 
eine Maßnahme, die man wohl anraten und als wissenschaft- 
lich streng geboten bezeichnen, nicht aber gewissermaßen unter 
Strafandrohung befehlen kann. Das ist ein Punkt, den jeder- 
mann mit seinem eigenen Gewissen als Arzt und Mensch ab- 
machen muß.“ Ganz das gleiche gilt auch von der Unter- 
brechung der Schwangerschaft: in beiden Fällen handelt es 
sch eben um Vernichtung eines werdenden menschlichen 
Lebens, zu der in Friedenszeiten wenigstens niemand gesetz- 
lich gezwungen werden kann. Freilich gilt für einen Arzt, 
der beide Operationen aus ethischen Gründen ganz ablehnt, 
dasselbe, was strenggläubigen und den Vorschriften ihrer 
Kirche unter allen Umständen gehorsamen katholischen Ärzten 
gegenüber gesagt werden muß — ihre Ethik muß ihnen dann 
auch verbieten, überhaupt Geburtshilfe zu treiben. Da diese 
Schrift zur Feststellung des Standpunktes der medizinischen 
Wissenschaft einem Laienpublikum gegenüber bestimmt ist, 
darf ich vielleicht die Sätze, die ich in der „Medizinischen 
Klinik“ (1910, Nr. 16) bezüglich der Perforation ausgesprochen 
habe, unter sinngemäßer Ausdehnung auf den künstlichen 
Abortus hier wiederholen: „Als Lehrer der Geburtshilfe muß 
ich aussprechen: Jeder Studierende der Medizin erfährt auf 
der Hochschule, daß er als praktischer Geburtshelfer in die 
Lage kommen kann, die Schwangerschaft unterbrechen und das 
lebende Kind perforieren zu müssen, um die Mutter zu retten. 
4 


— 50 — 


Erlaubt ihm dies sein Gewissen nicht, so kenne ich nur einen 
Ausweg für einen ehrlichen und pflichttreuen Menschen — 
und nur ein solcher sollte überhaupt Arzt werden — aus 
diesem Dilemma: nämlich daß er von vornherein auf die Aus- 
übung der geburtshilflichen Praxis verzichtet. Tut er dies 
nicht, so macht er sich der bewußten Täuschung der sich ihm 
anvertrauenden schwangeren und gebärenden Frauen schuldig, 
die von ihm erwarten und denen er durch die Übernahme der 
Behandlung stillschweigend verspricht, daß er sie mit allen 
ihm von der Wissenschaft und Praxis zur Verfügung gestellten 
Mitteln über die Gefahren der Schwangerschaft und Geburt 
hinwegbringen wird. Dazu gehört aber unter Umständen auch 
der künstliche Abortus und die Perforation des lebenden 
Kindes.“ Mit diesen Sätzen scheint mir auch die Stellung, 
welche die wissenschaftliche Medizin den bekannten Ansprüchen 
der katholischen Moraltheologie gegenüber einzunehmen hat, 
genügend gekennzeichnet. 

Die Einwilligung der Schwangeren, welche Thorn, 
Schickele, Ahlfeld, die Ärztekammern und der Frauen- 
vereinsbund aufgenommen wünschen, habe ich absichtlich weg- 
gelassen, obwohl auch ich der Ansicht bin, daß im allgemeinen 
zu jedem operativen Eingriff die Einwilligung des zu Operie- 
renden eingeholt werden soll. Die Einwilligung zur „Operation“ 
überhaupt setze ich voraus; aber daß es sich um die Ent- 
_ dernung einer noch lebensfähigen Frucht, beziehungsweise die 
Tötung eines lebenden Kindes, handelt, das einer Mutter immer 
ausführlich auseinanderzusetzen , dazu sollte der Arzt gesetzlich 
nicht gezwungen werden; er würde bei strenger Befolgung der 
Vorschrift unter Umständen sich einer Grausamkeit schuldig 


machen, die nicht zu rechtfertigen ist. Aus Humanitätsgründen 


muß man es ihm also überlassen, unter Umständen still- 
schweigend die Verantwortung für die ja immer ernstlich ge- 
fährdete Mutter zu übernehmen. Wozu will man zu ihren 
körperlichen Qualen auch noch seelische hinzufügen? Daß 
bei jeder Operation in der Schwangerschaft diese gefährdet 
ist, daß bei jeder Geburt das Kind absterben kann, weiß jede 
Frau und sie wird sich nachher mit der Tatsache abfinden — 
sehr viel leichter, als wenn man sie zwingt, das Todesurteil 


ze Di s 


über ihre Leibesfrucht selbst zu sprechen. Bezüglich der Per- 
foration hat van Calker diesen Erwägungen schon Ausdruck 
gegeben, es kann aber auch bei der Schwangerschaftsunter- 
brechung die Sachlage eine ganz ähnliche sein. 

Die Zuziehung eines zweiten Arztes entspricht einem 
schon jetzt allgemein geübten und ‘von allen Lehrern der 
medizinischen Wissenschaft empfohlenen Brauch; auch Thorn 
wünscht die Aufnahme dieser Forderung; den von ihm ge- 
machten Zusatz eines „von ihm unabhängigen“ Arztes halte 
ich für überflüssig, dagegen den Zusatz „sofern der Zustand 
der Mutter die dadurch bedingte Verzögerung gestattet“ für 
unentbehrlich, nicht allein, weil meine Fassung auch für die 
Perforation gelten soll. Daß diese gelegentlich sofort ausge- 
führt werden muß, soll sie der Mutter etwas nützen, weiß 
jeder Arzt; aber auch bei der Schwangerschaftsunterbrechung 
ist es, wenn auch selten, so doch denkbar, daß der Verzug 
von einigen Stunden, welche die Zuziehung des zweiten Arztes 
erfordern könnte, für das Leben der Mutter entscheidend wäre. 
Als Beispiel führe ich an: Eklampsie vor der 28. Woche, die 
sehr selten, aber beobachtet ist, oder Blutung bei vollständig 
geschlossenem Muttermund, oder endlich die Extrauterin- 
schwangerschaft, an die man gewöhnlich bei der Abtreibung 
nicht denkt, deren Operation aber, juristisch und logisch be- 
trachtet, doch auch nichts anderes ıst als eine künstliche 
Schwangerschaftsunterbrechung, wenn sie auch durch die 
Bauchhöhle und nicht durch die Scheide vorgenommen wird. 

Für viel zu weitgehend halte ich den Vorschlag von 
Peters, welcher verlangt, daß einer der drei zuzuziehenden 
Ärzte. ein Amtsarzt sein müßte; außerdem soll das aufge- 
nommene Protokoll dem Vorstand der nächstgelegenen staat- 
liehen Entbindungsanstalt zur Begutachtung und endgültigen 
Entscheidung vorgelegt werden, die er in zweifelhaften Fällen 
erst nach eigener Untersuchung fällt. Endlich fordert Peters 
die Anzeige jedes Abortus und Einsendung des Präparates 


mit genauer Krankengeschichte an den Bezirksarzt. Das Miß- 


trauen, das sich in diesen Forderungen ausspricht, hat der 

Arztestand in seiner Gesamtheit keinesfalls verdient, und eine 

derartige fortlaufende amtliche Kontrolle seines beruflichen 
4* 





en a Tre De nen an 


Eu Pa 


ae U ET ET TE Te en ea mr none 


Frame ne en an 


narei, Dune 


ern 


[3 , 4 ) 


Handelns wäre mit der notwendigen Würde und Freiheit des 
Standes kaum vereinbar. Gegen einzelne unlautere Elemente, 
die sich in die Reihen der Ärzte wie in jeden Stand ein- 
schleichen könnten, würden aber auch derartige Bestimmungen 
nicht schützen. 

Unannehmbar für den Arzt ist der Vorschlag des deutschen 
Frauenvereinsbundes, daß jeder Fall einer Ärztekommission 
zur Begutachtung vorzulegen wäre, die dem Landgericht ange- 
gliedert ist und in dem auch Frauen Sitz und Stimme haben. 
Abgesehen von der ganz unnützen Komplikation, den Unan- 
nehmlichkeiten und Kosten für die Patientin und der Ver- 
zögerung, die die Kommission mit sich brächte, muß man 
fragen: was hat das Landgericht mit ärztlicher Indikations- 
stellung zu tun, was geht diese die anderen Frauen an, sofern 
sie nicht etwa als Ärztinnen herangezogen worden sind? Wo- 
her nehmen sie das Recht und die Befähigung, über Fragen 
der medizinischen Wissenschaft zu urteilen? Diese Forderung 
wäre in Hinsicht auf die soziale Indikation berechtigt, welche 
die medizinische Wissenschaft als solche ablehnen muß. Für 
sie kann es grundsätzlich nur eine Indikation zur Unter- 
brechung der Schwangerschaft geben: ernste krankhafte Zu- 
stände der Mutter, die während der Schwangerschaft oder bei 
oder nach der kommenden Geburt Leben oder Gesundheit der 
Mutter erheblich bedrohen, deren Gefahren aber nur, oder 
wenigstens am sichersten durch die Unterbrechung der 
Schwangerschaft beseitigt werden können. Dieses Prinzip wird 
meines Wissens seit langem von allen Lehrern der Geburts- 
hilfe ihren Schülern gelehrt, und es kennzeichnet meiner Mei- 
nung nach auch den Laien und Juristen gegenüber in voll- 
kommen klarer und ausreichender Weise den Standpunkt der 
medizinischen Wissenschaft; es ist daher verwunderlich, daß 
bei juristischen und merkwürdigerweise auch medizinischen 
Autoren zu lesen ist, ein leitendes Prinzip für die Unter- 
brechung der Schwangerschaft könne in der geburtshilflichen 
Lehre nicht angegeben werden. 

Einzelne Indikationen zur Schwangerschaftsunterbrechung 
anzuführen, unterlasse ich absichtlich; ihre Feststellung gehört 
nicht vor das Forum der Justiz, und muß dieselbe im Einzel- 


Se a zn 


falle doch über die Berechtigung. einer bestimmten Indikation 
entscheiden, so würde sie ihr eigenes Fundament, die Gerechtig- 
keit, untergraben, wenn sie ihrer Entscheidung nicht die Aus- 
sagen sachverständiger Vertreter der medizinischen Wissen- 
schaft zugrunde legen würde. 

Man überlasse die Entscheidung medizinischer Fragen — 
und eine solche ist die Unterbrechung der Schwangerschaft 
bei kranken Frauen — ruhig der medizinischen Wissen- 
schaft und der Gewissenhaftigkeit des Ärztestandes, man ge- 
währe der Wissenschaft die nötige Freiheit, und den Ärzten 
‚die nötige Sicherheit zu ruhiger, sachlicher Entscheidung, und 
das Wohl unserer Frauen, unserer Nachkommenschaft und 
unseres Volkstums wird sich in sicherer Hut befinden! 


Literaturverzeichnis. 

1. Ahlfeld: Nasciturus, eine gemeinverständliche Darstellung des Lebens 
vor der Geburt und der Rechtsstellung des werdenden Menschen. 
Leipzig 1906, Verlag F. W. Grunow. 

2. Ahlfeld: Der Arzt als Angeklagter. Mit bes. Berücksichtigung des 
Vorentwurfs zum Deutschen Strafgesetzbuch. Zeitschrift f. Geb. 
und Gyn. Bd. 66, 1910. 

3. Bossi: Des Moyens de remédier à la fréquence de l'avortement criminel. 
La Ginecologia moderna Bd. 1, 1908, Nr. 9. (Bericht für die 
französische geburtshilfliche Gesellschaft, 9. Oktober 1908.) 

4. F. van Calker: Frauenheilkunde und Strafrecht. Straßburg 1908, Ver- 
lag Schlesier & Schweickhardt. 

5. Ehinger und Kimmig: Ursprung und Entwicklungsgeschichte der 
Bestrafung der Fruchtabtreibung. München 1910. 

6. Julie Eichholz: Frauenforderungen zur Strafrechtsreform. 

7. v.Franque: Entbindungsanstalten, Wöchnerinnen- und Säuglingsheime 
als Mittel zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit. I. Deutscher 
Kongreß für Säuglingsfürsorge, Dresden 1909, und Zeitschrift für 
Säuglingsfürsorge, red. v. Salge, Bd. 3, 1909. 

8. v. Franque£: Beitrag zu den Unglücksfällen bei geburtshilflichen 
Operationen und ihrer gerichtlichen Behandlung. Volkmanns 
klinische Vorträge, N. F., Gynäkologie Nr. 194. 1909. 

9. Holzapfel, Heilkunde u.Strafrecht. Münch. med. Wochschr. 1910, Nr.31. 

10. Jaffe: Geburtshilfe und Strafrecht. Vortrag in der geburtshilfl. Ge- 
sellschaft zu Hamburg, 30. Nov. 1909. Zentralbl. f. Gyn. 1910, Nr. 9. 
11. Jellinek: Frauenforderungen zur deutschen Strafrechtsreform. 
Monatsschr. f. kriminelle Psychol. u. Strafrechtsreform. 5. Jahrg., 1909. 
12. Jellinek: Petition des Bundes deutscher Frauenvereine. Juni 1909. 


13. 


14. 


15. 


16. 


17. 


18. 
19. 


Kahl: Der Arzt im Strafrecht. Zeitschrift für die gesamte Strafrechts- 
wissenschaft Bd. 29, 1909. 

Kollmann, Kreislauf der Plazenta Chorionzotten und Teleponie. 
Zeitschr. f. Biol. Bd. 42. 

Mathes: Strafrecht und Frauenheilkunde. Gynäkol. Rundschau Bd. 4, 
Januar 1910. 

A. Pappritz: Die Vernichtung des keimenden Lebens. „Sexual- 
probleme“ herausgeg. v. Marcuse, Juli 1909. 

Peters: Zur Frage der Notwendigkeit gesetzlicher Bestimmungen 
zum künstlichen Abortus. Zentralblatt f. Gyn. 1910, Nr. 22. 

Radbruch: Geburtshilfe und Strafrecht. Jena 1907, Verlag G. Fischer. 

Richter, Über die Notwendigkeit gesetzlicher Bestimmungen betr. 
die künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft. Münch. med. 
Wochenschr. 1910, Nr. 29. 


. Schickele: Strafrecht und Heilkunde. Wiesbaden 1909, Verlag 


F. Bergmann. 


. Schneickert (Dr. jur.): Die gewerbsmäßige Abtreibung und deren Be- 


kämpfung. Monatsschrift f. kriminelle Psychologie u. Strafrechts- 
reform Bd. 2, 1906. 


. Sitzenfrey: Die Lehre von der kongenitalen Tuberkulose. Berlin 


bei S. Karger 1909. 


. Straßmann: Gerichtsärztliche Wünsche zur Reform der Straf- 


gesetzgebung. S.-A. s. Bericht der 3. Hauptversammlung des 
Medizinalbeamtenvereins, 1909. 


. Thorn: Die Notwendigkeit gesetzlicher Bestimmungen für den 


künstlichen Abortus. Zentralblatt f. Gynäk. Nr. 15, 1910. 


. Treub und Catharina van Tussenbroek: Over den crimineels 


Abortus in Nederland. Nederl. Tijdschrift voor Geneeskunde 
Bd. 1, Nr. 15, 1909. Ausführliches Autoreferat: Gynäk. Rundschau 
1909, Bd. 3, H. 18. 


. Veit: Über kriminellen Abortus. Deut. med. Wochschr. 1886, Nr. 51. 
. Vorentwurf zum Strafgesetzbuch. Berlin 1909. 
28. Wilhelm (Jurist): Frauenheilkunde und Strafrecht. Monatsschrift 


für Kriminalpsychologie 1910. 


. Derselbe: Die Abtreibung und das Recht des Arztes zur Vernichtung d. 


Leibesfrucht. „Sexualprobleme“ herausg. v. Marcuse, Mai, Juni 1909. 


Bemerkungen zur Diskussion. 
Anhangsweise möchte ich kurz die Punkte aus der Dis- 


kussion in Mainz berühren, zu welchen eine Äußerung meiner- 
seits mir geboten erscheint. Am wichtigsten ist wohl ein Ein- 
gehen auf die Worte des Herrn Oberstaatsanwalts von Hessert, 
der als einziger für die Aufhebung des Abtreibungsparagraphen 


eh = 


eingetreten ist. Ich bin allerdings dabei gezwungen, die mir 
eingangs gesteckten Grenzen rein medizinischen Gebietes zu 
überschreiten. Ich glaube, daß mit der Beseitigung der Be- 
strafung des Versuches und der starken Herabsetzung des 
Strafmaßes für die Schwangeren, die wir ja alle verlangen, 
den berechtigten menschlichen Gefühlen, denen Herr von 
Hessert so wohltuenden Ausdruck gegeben hat, genügend 
Rechnung getragen ist, ohne daß doch, wie bei der Aufhebung 
des Paragraphen, von Staat und Gesetz der Grundsatz aufge- 
geben wird, daß die Abtreibung aus nichtmedizinischen Gründen 
ein Unrecht ist und bleibt. Würde dies letztere aber geschehen, 
so könnte ein weiteres Herabsinken des allgemeinen sittlichen 
Niveaus und Verantwortlichkeitsgefühls in sexuellen Dingen 
im ganzen Volke nicht ausbleiben, und das wäre doch ganz 
gewiß nicht wünschenswert. 

Wenn eine Anzahl von Kindsmorden durch de Abtrei- 
bung ersetzt würde, so würde dies vom naturwissenschaftlichen 
und vom ethischen Standpunkt aus doch kein besonderer Ge- 
winn sein, denn es würde doch nur eine zeitliche Verschie- 
bung der unberechtigten Vernichtung menschlichen Lebens be- 
deuten, wobei noch daran zu erinnern ist, daß der Kindsmord 
doch meist im Affekt, die Abtreibung mit kalter Überlegung 
ausgeführt wird. Endlich muß ich aus meiner persönlichen 
Erfahrung anführen, daß bei vielen Geschwängerten die ethisch 
so hoch stehenden Muttergefühle in einer späteren Zeit der 
Schwangerschaft erst erwachen oder lebhaft wirksam werden, 
während im Anfang der Schwangerschaft der Gedanke an die 
letztere geradezu perhorresziert wurde. Bei Freigebung der 
Abtreibung würde daher manches Kind im Keime vernichtet 
werden, an dessen Beiseiteschaffung die Mutter einige Monate 
später nicht mehr gedacht haben würde. Diese menschlichen 
Leben würden also direkt der Aufhebung des Abtreibungs- 
paragraphen zum Opfer fallen. 

Wenn gesagt wird, daß man bei der Verhandlung von 
Abtreibungsfällen oft das Gefühl habe, man würde in gleicher 
Lage eben so gehandelt haben, so muß ich sagen: Ähnliche 
Empfindungen, daß man nämlich bei derselben Abkunft und- 
Vorgeschichte, unter den nämlichen äußeren Umständen viel 


leicht ebenso weit wie der Täter hätte kommen können, kann 
man bei jedem Verbrechen oder Vergehen haben, ohne daß 
man dabei das Bewußtsein verliert, daß man ein Verbrechen 
oder Vergehen vor sich hat. Und gerade bei der Abtreibung 
fühlen wir ganz deutlich, daß ein Unrecht geschehen ist, wenn 
wir auch meinen, auch wir hätten es in gleicher Lage viel- 
leicht begangen. Daß sie etwas Unrechtes und Unerlaubtes tun 
oder verlangen, wissen sicherlich auch alle, die abtreibenodersich 
abtreiben lassen wollen, ganz genau, selbst wenn sie überdiestraf- 
rechtlichen Folgen nicht genau unterrichtet sind. Jeder gesund 
und natürlich empfindende Mensch fühlt, wie ich glaube, das 
Unrecht in der Abtreibung gewissermaßen instinktiv, weil es 
sich eben um etwas Naturwidriges handelt. 

Bezüglich der Verbrecherstatistiken der Unehelichen gilt 
ähnliches wie von den gesundheitlichen Verhältnissen der 
spätgeborenen Kinder Vielgebärender. Nicht deshalb werden 
sie in so großer Anzahl zu Verbrechern, weil sie unehelich 
geboren sind, sondern weil sie gleich nach der Geburt ver- 
nachlässigt und allen körperlichen und geistigen Schädigungen 
wehrlos überlassen werden, weil ihnen der Schutz und die 
Wärme der Elternliebe und des Familienlebens fehlt. Als 
Argument für die Abschaffung des Abtreibungsverbotes können 
sie also ebenso wenig verwertet werden wie die Statistiken 
der Neomalthusianisten. 

Auch ist es nicht erlaubt, aus den Verhältnissen in Eng- 
land vor 1837 einen Schluß zu ziehen auf die Wirkungen des 
Abtreibungsparagraphen und seiner Abschaffung in unserer 
jetzigen Zeit. Damals, in der Biedermaierzeit, waren freilich 
die Menschen wirklich noch biederer, als sie es jetzt sind, und 
das Fehlen des Abtreibungsparagraphen hätte vermutlich da- 
mals in Frankreich und Deutschland ebensowenig geschadet 
wie in England, weil eben überhaupt sehr wenig Menschen auf 
die Idee, abzutreiben, kamen. Heute ist die Sachlage doch 
eine ganz andere, Diese Dinge werden überall öffentlich er- 
örtert, die sittlichen Anschauungen gerade auf sexuellem Ge- 
biete sind überall viel weniger streng wie damals und die 
Folgen der Aufhebung des Abtreibungsparagraphen könnten, 
in England wie in Deutschland, gleich bedenklich sein. Jeden- 


ER PE a 


falls darf man den Vergleich zweier so verschiedener Zeitalter 
und Völker nicht als Beweis heranziehen. 

Für den zum Schutze der Ärzte einerseits, zum Schutze 
gegen allzu laxe Indikationsstellung andrerseits gewünschten 
Zusatz zu § 217 des Vorentwurfs schon jetzt eine endgültige 
Fassung zu finden, scheint mir weit weniger wichtig, als die, 
soviel ich sehe, auch von den Juristen dieses Kreises in 
Übereinstimmung mit den Referenten gebilligte grun dsätz- 
liche Anerkennung seiner Notwendigkeit. Mir scheint 
meine Fassung auch dem in der Diskussion hervorgehobenen 
Gesichtspunkt der Gefahr zu laxer Indikationsstellung voll- 
kommen zu genügen. Nicht zu übersehen ist, daß diese Ge- 
fahr jetzt, wo gar keine gesetzlichen Normen bestehen, in noch 
größerem Umfang besteht und daher nur verringert werden 
kann dadurch, daß auch wir Ärzte uns für gesetzliche Fest- 
legung der in meinem Vorschlag enthaltenen Norm aussprechen, 
einer Norm, welche die überwältigende Mehrzahl aller Ärzte, 
den Regeln der Schule folgend, ja schon immer innegehalten 
hat. Eine noch engere Fassung allerdings müßten wir als 
Gefahr für Ärzte und für Patientinnen ablehnen. Dagegen 
könnte man wohl über die Zuziehung von beamteten Ärzten 
in irgendwelcher Form, am ehesten so, daß ihnen das von 
den behandelnden Ärzten aufzunehmende Protokoll vorzulegen 
und von ihnen aufzubewahren wäre, diskutieren, obschon ich 
persönlich dies der Allgemeinheit der Ärzte gegenüber, die ja 
auch ohne Kontrolle bisher nach den in meinem Berichte ver- 
tretenen allgemeinen Grundsätzen gehandelt haben und ferner- 
hin handeln werden, nicht für notwendig halte. Es ist auch 
bei beamteten Ärzten schon vorgekommen, daß sie allzu 
schwach und nachgiebig gegen unberechtigte Forderungen von 
Kollegen und Laien waren, und gegen das heimliche verwerf- 
liche Treiben einzelner unlauterer Elemente gibt es, wie ge- 
sagt, in keinem Stande ein sicheres Mittel. Niemals endlich 
wird sich der wirkliche oder vorgeschützte Irrtum in der Dia- 
gnose als Deckung einer nicht berechtigten Schwangerschafts- 
unterbrechung ganz aus der Welt schaffen lassen. 


zo 358 a 


Diskussion: 


Dr. Preetorius, Generalstaatsanwalt in Darmstadt: Ich 
meine, wir könnten unserer Dankbarkeit für die ebenso 
anregenden wie erschöpfenden Ausführungen der beiden Herren 
Referenten nicht besser Ausdruck geben, als wenn wir uns im 
wesentlichen mit ihren Leitsätzen einverstanden erklärten. 
Denn dieses Einverständnis darf ich bei der überwiegenden 
Mehrheit der Versammlung unbedenklich voraussetzen. Wir 
sind wohl einig darüber, daß sich de lege ferenda die Straf- 
losıgkeit des von der Schwangeren unternommenen Versuchs 
der Abtreibung empfiehlt. Dagegen wird an der Strafbarkeit 
der vollendeten Abtreibung auch gegenüber der Schwangeren 
festzuhalten und nur die Strafandrohung dadurch herabzusetzen 
sein, daß das Delikt aus der Gruppe der Verbrechen und Ver- 
gehen wider das Leben herausgenommen und in die Gruppe 
der Gefährdungsdelikte übertragen wird. Nachdem die Ab- 
treibung seit langer Zeit mit hoher Strafe bedroht ist, wäre es 
strafpolitisch höchst bedenklich, wollte man aus diesem ge- 
wohnten Zustand einer energischen Bestrafung plötzlich in das 
entgegengesetzte Extrem verfallen und die Schwangere, die 
ihre Schwangerschaft vorsätzlich vor der Zeit beendigt, ganz 
straflos ausgehen lassen. Daß mit hoher Strafe bedroht 
werden muß die „ewerbsmäßige Abtreibung, leuchtet ohne 
weiteres ein, und endlich ist eine gesetzliche Lösung dringend 
erwünscht, welche den pflichtmäßig handelnden Arzt vor straf- 
rechtlicher Verfolgung schützt. Eine Einzeldiskussion über die 
von den Herren Referenten aufgestellten Leitsätze ist schon 
um deswillen nicht möglich, weil uns die Leitsätze nicht 
schwarz auf weiß vorliegen. Deshalb möchte ich eine allge- 
meine Erklärung des Einverständnisses vorschlagen und dabei 
mit besonderer Freude die Tatsache feststellen, daB der 
juristische und der ärztliche Referent, jeder von seinem Fach- 
standpunkt aus durchaus selbständig vorgehend, in der Haupt- 
sache zu ganz den gleichen Ergebnissen gelangt ist. 

Direktor Dr. Kupferberg, Leiter der Gr. Hebammenlehr- 
anstalt zu Mainz: Das Referat v. Franque&s ist dermaßen 
erschöpfend, daß ihm eigentlich nichts beizufügen wäre. 


ae 250, 


Es besteht in Deutschland die große Gefahr der stets ge- 
ringer werdenden Geburtenzahl. Der Staat muß sich dagegen 
schützen und deshalb darf die Abtreibung niemals straffrei 
sein, auch nicht in den ersten Schwangerschaftsmonaten. Da- 
gegen sollte der Versuch entschieden straflos sein. Der 
Vertrieb antikonzeptioneller Mittel muß unter strengste Auf- 
sicht gestellt werden. Soziale: Gründe zur Abtreibung darf 
es für den Arzt niemals geben; medizinische Gründe sind 
schwer zu formulieren, daher sollten Kautelen geschaffen 
werden, sowohl für den Arzt als auch für das Publikum. Stets 
sollten zwei Ärzte, die unabhängig voneinander sind, die Frage 
des event. Abortes entscheiden, und zwar entweder unter Zu- 
ziehung eines beamteten Arztes, oder wenigstens unter Auf- 
nahme eines Protokolles, das dann dem beamteten Arzte zu 
den Akten zu geben wäre. Die ärztliche Schweigepflicht 
dürfen wir uns nie nehmen lassen, damit schwände jedes Ver- 
trauen in den Arzt. Die Annahme einer Schwängerung durch 
Gewalt ist exzeptionell selten berechtigt. 


Die Berechtigung zur operativen Sterilisierung einer Frau 
muß ausschließlich dem ärztlichen Gewissen vorbehalten bleiben; 
ebenso die Perforation des lebenden Kindes und die Frage, ob 
Abort oder große geburtshilfliche Operation bei absoluter 
Beckenenge. 


von Hessert, Oberstaatsanwalt in Darmstadt: Ich möchte 
mich für die Beseitigung der Strafbarkeit der einfachen Selbst- 
abtreibung aussprechen. Selbstverständlich muß Abtreibung 
ohne Zustimmung der Schwangeren strafbar bleiben, und es 
muß zu gleicher Zeit der gewerbsmäßigen Abtreibung durch 
Nichtärzte mit aller Schärfe entgegengetreten werden. 


Die beiden Herren Vortragenden haben schon beiläufig 
eine Reihe von Gründen erwähnt, welche für die Nicht- 
bestrafung der Selbstabtreibung sprechen, und der Herr Vor- 
sitzende hat einen derselben soeben besonders hervorgehoben, 
daß nämlich im Verhältnis zu der großen Häufigkeit der Vor- 
'nahme der mit Strafe bedrohten Handlung, insbesondere der 
Versuchshandlungen, es nur ganz selten zu einer Bestrafung 
kommt, weil die Staatsanwaltschaft keine Kenntnis erhält. 


=. 60: Se 


Herr Justizrat Dr. Horch hat es mit Recht zurück- 
‚gewiesen, die Abtreibung als Tötungsverbrechen oder als 
Körperverletzung zu bestrafen, und als Grund für die Strafbar- 
keit im wesentlichen die Gefährdung der Sittlichkeit und das 
Interesse des Staates an der Volksvermehrung angeführt. 

Ich bin der Meinung, daß diese gewiß sehr beachtungs- 
‘werten Gründe für die Bestrafung der Selbstabtreibung mehr 
wie auigewogen werden durch folgende rein praktische Er- 
wägung, die Dr. W. Kimmig*) zusammengestellt hat. 

1. Die Strafdrohung ist, wie oben schon hervorgehoben, 
so gut wie erfolglos. 

Ich bitte die anwesenden Praktiker, die von ihnen be- 
‚handelten Fälle in der Erinnerung an sich vorübergehen zu 
lassen und ich bin gewiß, daß es fast nur erfolglose Versuche 
‚meist mit untauglichen Mitteln, heiße Fußbäder, Rotwein mit 
Zimt, Safran und dergl. waren, die sie zu behandeln hatten, 
die wenigen schweren Fälle kommen im Verhältnis zu diesen 
Versuchen kaum in Betracht. Die schwersten waren wohl 
auch zugleich fahrlässige Tötungen und konnten eventuell als 
solche bestraft werden. 

Welche Ehefrau hat bei Verspätung der Periode nicht 
einmal ein heißes Fußbad genommen mit dem dolus eventualis, 
die etwa vorhandene Konzeption zu beseitigen. 

2. Diese Ohnmacht des (Gesetzes schädigt die Staats- 
autorität. 

3. Ein exakter Beweis der Kausalität zwischen der Ab- 
treibungshandlung und dem Erfolg ist meist ganz unmöglich. 

4. Die Strafbarkeit der Handlung treibt die Schwangere 
vom Arzt zum Pfuscher, der ihr Leben gefährdet. 

5. Das Verbot der Abtreibung mehrt die Zahl der unehe- 
lichen Geburten. 

Herr Professor v. Franqu& hat uns zwar gesagt, daß 
auch einmal ein Genie unehelicher Geburt war. Dagegen dürfte 
in Betracht kommen, daß, wie die Statistik lehrt, die Krimina- 


*) Ursprung und Entwickelungsgeschichte der Bestrafung der Frucht-. 


abtreibung und deren gegenwärtiger Stand in der Gesetzgebung der Völker. 
(Müncbeu 1910, Ernst Reinhardt.) Vergl. auch Dr. Berolzheimer in 
Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 1910, Bd. III, S. 282. 


> 6 Ze 


lität der Unehelichen eine nicht unbedeutend höhere ist als 
die der ehelich geborenen. Die Ursache dieser Erscheinung 
liegt allerdings nicht an der Tatsache der Zeugung außerhalb 
der Ehe, sondern in den sozialen Verhältnissen, unter welchen. 
uneheliche Kinder meist aufwachsen. Herr v. Franqu& sagt, 
theoretisch mit Recht, es sei unlogisch, deshalb die unehelichen 
Geburten zu vermindern, der Staat müsse vielmehr dafür 
sorgen, daß dieses vielleicht sogar tauglichere Menschenmaterial 
besser aufgezogen und erhalten werde. 

Wie gesagt, logischer wäre dies zweifellos. Praktisch 
wird diese Forderung aber nicht erfüllt, und ich fürchte, dies 
wird sich so bald nicht ändern. 

Auf der anderen Seite kommt doch in Betracht, daß durch 
eine Abtreibung, sowohl der Mutter wie ihrem Kind, oft un-- 
endlich viel Not und Elend erspart würde. Davon gar nicht 
zu reden, daß im Falle der Schwängerung durch Notzucht es 
m. E. eine Unbegreiflichkeit ist, der armen Frauensperson zu- 
zumuten, die Frucht des an ıhr begangenen Verbrechens noch 
auszutragen und großzuziehen. 

6. Die Strafbarkeit der Abtreibung führt oft zum verwerf- 
licheren, aber leichter auszuführenden Verbrechen der Kindes- 
tötung; sie begünstigt ferner das Erpressertum. 

Wer je mit Untersuchungen wegen Kindestötung zu tun 
gehabt hat, wird Ihnen von der Not, Angst und Verzweiflung 
erzählen können, in welcher in vielen Fällen die Schwangere 
sich vor Begehung ihrer scheußlichen Tat befunden hat, die 
dieselbe aber oft nur zu erklärlich machen. All dieser Jammer 
könnte vermieden werden, wenn zu richtiger Zeit die Schwanger- 
schaft unterbrochen worden wäre. 

7. Die Bestrafung der Fruchtabtreibung, wenigstens inner- 
halb der ersten Schwangerschaftsmonate, widerspricht dem. 
heutigen Volksempfinden. 

Auch Herr Dr. Horch hat dies zugegeben, er hält nur 
die Zeit noch nicht für gekommen, um eine gänzliche Be- 
seitigung des Strafverbots eintreten zu lassen, ich bin jedoch 
mit Hans Groß*) der Meinung, „daß die Zeit nicht mehr- 








*) Archiv für Kriminal-Anthropologie 1903, Bd. 12, S. 345. 


— 6&2 — 


fern ist, in der man die Abtreibung der Leibesfrucht nicht 
mehr strafen wird“. 

Mag auch die Abtreibung in vielen Fällen unmoralisch 
sein, so ist damit noch nicht gesagt, daß sie mit staatlicher 
Strafe bedroht werden muß. Ist doch auch die Verhütung 
der Konzeption zweifellos unmoralisch und doch überall 
straflos. 

Daß eine erhebliche Gefahr für die Volksmoral durch die 
Straflosigkeit nicht entsteht, beweist m. E. England, wo die- 
selbe bis 1837 bestand, gewiß ohne daß das englische Volk 
verdorbener geworden wäre als andere Völker. 

Herr Dr. Kupferberg hat behauptet, eine Befruchtung 
bei Notzucht käme so gut wie nicht vor und dieselbe sei ge- 
eignet, Zweifel zu erregen, ob wirklich ein erzwungener Bei- 
schlaf vorliege. 

Dem gegenüber möchte ich darauf aufmerksam machen, 
daß der Tatbestand der Notzucht nach dem StrGB. auch dann 
vorliegt, wenn infolge der angewendeten physischen Gewalt 
die Frauensperson schließlich den Widerstand aufgibt und den 
Beischlaf duldet. Außerdem aber auch dann, wenn die Frauens- 
person durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und 
Leben genötigt worden ist, den Beischlaf zu dulden. 

Selten mag die Befruchtung bei Notzucht ja sein, mir Ist 
nur eine solche erinnerlich, wo allerdings das arme Frauen- 
zimmer nicht nur ein Kind, sondern auch die Syphilis durch 
die Notzucht erworben hatte. 

Wie die Verhandlungen ergeben haben, werden soziale 
Gesichtspunkte für die Entscheidung der Frage, ob Abtreibung 
zulässig sei, auch von denen indirekt anerkannt, die sie an 
sich ablehnen, und es besteht hiernach zweifellos ein Bedürfnis, 
dieselben mindestens manchmal zu berücksichtigen; ich bin 
daher überzeugt, daß man schließlich doch dazu kommen wird, 
ihre Berücksichtigung in gewissen Grenzen zuzulassen, wenn 
ich auch zur Zeit nicht angeben kann, wie deren Bestimmung 
erfolgen soll. 

Wir behandeln vor dem nächsten Schwurgericht einen Fall, in 
welchem die Ehefrau eines armen Landwirts ihrer 15. Niederkunft 
‚entgegensah. Zwölf ihrer Kinder leben noch. Sie batdieHebamme 


>, GR, a 


flehentlich, die Frucht zu beseitigen. Diese ließ sich nach 
mehrfacher Ablehnung schließlich bestimmen, den Eihautstich 
zu machen, die Frucht ging zwar ab, doch starb die Mutter 
infolge des Eingriffs. M. E. lehrt dieser Fall überzeugend, daß 
es einen Weg hätte geben müssen, um diese Schwangerschaft 
straflos zu unterbrechen. 

Herrn v. Frangqu& muß ich zugeben, daß, wenn die 
Strafbarkeit des Versuchs beseitigt wird, praktisch was 
die Zahl der Fälle betrifft, die noch zur Bestrafung 
kommen, fast das gleiche Ergebnis erreicht wird wie bei der 
gänzlichen Beseitigung der Strafbarkeit. Bestehen bleiben 
jedoch die vorher erwähnten nachteiligen Folgen der Straf- 
drohung selbst. 


Dr. Buff, Oberstaatsanwalt in Mainz: Die praktischen 
Erfahrungen sprechen gegen die von Herrn Öberstaatsanwalt 
v. Hessert vertretene Auffassung. In der Weiberstrafanstalt 
waren regelmäßig die wegen Kindesmords Inhaftierten die besten 
Sträflinge. Ihre Straftat entspringt häufig genug der Angst 
vor der Schande ihres Fehltritts. Ähnlich liegen häufig die 
Dinge bei der Abtreibung. Es scheint mir äußerst bedenklich, 
dem Umsichgreifen einer laxen Moral durch Straflosigkeit der 
Abtreibung Vorschub zu leisten und damit eine Verwilderung 
der guten Sitte gegen die Auffassung aller ehrbaren Volks- 
kreise zu befördern. 

Zum Schutze des in Ausübung seines Berufs zur Ab- 
treibung schreitenden Arztes kann m. E. nicht sein pflicht- 
mäßiges Ermessen allein berücksichtigt werden ; jedenfalls inso- 
lange nicht, als die medizinische Wissenschaft nicht zu festen 
Grundsätzen über die Zulässigkeit künstlicher Aborte ge- 
kommen ist. 

In der Praxis sind mir Fälle vorgekommen, daß bei Frauen, 
die mehrere eheliche Kinder hatten, wiederholt vorzeitige Ab- 
gänge unehelicher Früchte veranlaßt worden sınd, weil angeb- 
lich die betreffenden Mütter die Schwangerschaften wegen 
heftigen Erbrechens nicht vertragen hätten. 

Es kann den Vorschlägen des Herrn Korreferenten hier 
nur beigetreten werden. 


zu L „ai 


Dr. Heil, Frauenarzt in Darmstadt: Anschließend an 
die Bemerkungen des Herrn Dr. Kupferberg bin ich der 
Ansicht, daß in den Fällen von Schwängerung bei zweifellos 
(gerichtsseitig) festgestellter Notzucht, deren Möglichkeit keines- 
wegs von der Hand zu weisen ist, der betr. Schwangeren un- 
bedingt das Recht zugebilligt werden muĝ, sich durch Ein- 
leitung des Abortus von dem Schwangerschaftsprodukt befreien 
zu lassen. In einem solchen Falle möchte ich das per crimen 
ıinjizierte Sperma für die betr. Schwangere einem ihrem Körper 
verbrecherisch einverleibten Fremdkörper (z. B. wie eine bei 
einem Mordversuch beigebrachte Revolverkugel, die sich ja die 
Betreffende jederzeit entfernen lassen dürfte) gleichachten, der 
imstande ist, ihr eine dauernde körperliche und — soziale Schä- 
digung zuzufügen. 


Dagegen kann ich dem Standpunkte des Herrn Oberstaats- 
anwalt v. Hessert nicht beipflichten. Wenn die Tat, i. e. 
die Abtreibung, straffrei bleiben soll, dann muß auch der 
Täter, ı. e. der Abtreiber straffrei bleiben. Es ist dann auch 
der Begriff „gewerbsmäßiger Abtreiber“ gar nicht zu fixieren. 
Etwa anzunehmen, daß die künftige straffreie Abtreiberei nur 
durch Ärzte erfolgen würde, ist nicht zulässig, denn einmal 
würden sich hoffentlich auch bei Straffreiheit des künstlichen 
Abortus für dieses schmähliche Geschäft nicht genügend Ärzte 
bereit finden lassen, und zum andern ließe sich dieses Handwerk 
den Pfuschern nicht verbieten dank der famosen Kurierfreiheit! 


Ich stehe auf dem Standpunkte der Herren Referenten und 
lehne die Straffreiheit des künstlichen Abortus unbedingt ab, bin 
aber auch mit den Herren der gleichen Ansicht bezüglich der 
Straflosigkeit des Versuchs und bezgl. der Notwendigkeit der 
Strafmilderung gegenüber dem jetzigen Rechtszustand. 


Ferner halte ich eine gesetzliche Bestimmung zugunsten 
des aus medizinischen Gründen von Ärzten ausgeführten künst- 
lichen Abortus für notwendig zum Schutze der Ärzte. Diese 
Bestimmung muß eine allgemeine Fassung erhalten ohne 
Kodifizierung der Einzelindikationen. Es kann im konkreten 
Fall sich eine Indikation zur Schwangerschaftsunterbrechung 
ergeben, die bis dahin in der Literatur noch nicht festgelegt 


zus. 65. 2 


ist, trotzdem aber für den vorliegenden Fall vollauf berechtigt 
ist. Ich selbst bin in dieser Lage gewesen. 5 

Um aber leichtfertigen, gewissenlosen ärztlichen „Abtrei- 
bern“ das Handwerk zu legen, sind im Gesetz bestimmte 
Kautelen zu fordern: der Abortus darf nur eingeleitet werden 
auf Grund eines ärztlichen Konsiliums, dessen Ergebnis der 
beamtete Arzt zu prüfen bez. zu genehmigen hat. Außerdem 
halte ich bei Ehefrauen die Zustimmung beider Ehegatten für 
notwendig. Die Anfertigung eines schriftlichen Protokolls, das 
event. beim beamteten Arzte zu hinterlegen ist, erscheint min- 
destens sehr zweckmäßig. 

Prof. Peters -Wien (Zentralbl. f. Gyn. 1910, Nr. 22, S. 724) 
macht den Vorschlag, daß „jeder Abortus von Hebamme und 
Arzt nicht nur wie bisher der Behörde anzuzeigen, sondern 
das Ei mit einer detaillierten, wahrheitsgetreuen Kranken- 
geschichte dem Bezirksarzte einzusenden sei, der sich von der 
Richtigkeit der Angaben auch wirklich zu überzeugen hat.“ 

Wenn jedes Abortei dem Kreisarzte eingesandt werden 
soll, werden sich m. E. die Kreisärzte mit Recht gegen diese 
Eiersammelstellen wehren, ganz abgesehen davon, daß ich mir 
einen praktischen Nutzen grade von dieser Maßregel in keiner 
Weise versprechen kann. 

Kreisarzt Dr. Balser, Medizinalrat in Mainz: Ich kann 
Herrn Oberstaatsanwalt Dr. Buff seine Bedenken sehr wohl 
nachfühlen. Die Anzeigen für die gerechtfertigte Ein- 
leitung der Fehl- oder Frühgeburt können im Gesetz unmög- 
lich einzeln aufgezählt werden, es können dafür nur allge- 
meine Grundsätze aufgestellt werden, über deren Anwendung 
im gegebenen Fall Meinungsverschiedenheiten unter gleich ge- 
wissenhaften Ärzten entstehen können. Die Grundsätze können 
auch von einzelnen Ärzten recht weitherzig ausgelegt werden. 
= Deshalb fordert Herr v. Franquöd bestimmte Vorsichtsmaß- 

regeln. Ich glaube, man kann darin noch einen Schritt weiter 

gehen, indem man die Wahl des zuzuziehenden Arztes nicht 

freigibt, sondern wenigstens einen Mitberater von vornherein 

bestimmt und aktenmäßige Festlegung des Tatbestands ver- 

langt. Die Mitwirkung eines im voraus bestimmten Sachver- 

ständigen scheint mir in solchen Fällen notwendiger als bei 
5 


D 


— 66 — 


Prozessen gegen Ärzte. Denn hier werden Gerichte und Stasts» 
anwaltschaften von vornherein in der Auswahl ihrer Sachver- 
ständigen sehr vorsichtig sein, um sich nicht in der Hauptver- 
handlung einer Bloßstellung auszusetzen. 

Als ich 1884 in Berlin studierte, äußerte Schröder: Der 
kriminelle Abort ist in Berlin ein soziales Unglück geworden. 
Heute begegnen wir diesem sozialen Unglück in viel kleinerën 
Städten als Berlin. In Mainz verliefen früher Jahre ohte 
einen Todesfall nach Abort, heute bringt fast jedes Jahr mehrere 
Todesfälle nach Abort. Wir wissen, daß es sich so gut wie 
ausschließlich um verbrecherische Abtreibung handelt, aber 
nur in seltenen Fällen ist der Beweis zu führen. Meist sind 
es Ehefrauen, die den gewerbsmäßigen Abtreibern zum Opfer 
fallen. Beide Herren Referenten fordern scharfes Vorgehen 
gegen diese Parasiten, aber das ist nur möglich, wenn die Ab- 
treibung nicht straflos bleibt. Man kann Ärzten nicht frei- 
geben, was bei Nichtärzten mit schwerer Strafe bedroht ist. Bei 
Straflosigkeit der Abtreibung kann man die Vornahme der Ab- 
treibung durch Nichtärzte strafrechtlich nicht anders qualifi- 
zieren wie etwa jetzt die Ausführung der Schutzpockenimpfung 
durch Nichtärzte. Jetzt ist die gewerbsmäßige Fruchtabtreibung 
vielfach mit der Ausübung der Kurpfuscherei verbunden, mancher, 
der sich den Titel Naturheilkundiger beilegt, ist im Hauptberuf 
gewerbsmäßiger Abtreiber. Auch diese Tatsache beleuchtet 
grell, wie verhängnisvoll die Freigabe der Krankenbehandlung 
durch die Gewerbeordnung gewirkt hat. Der Anzeigenteil 
vieler Zeitungen belehrt uns, welchen Zuständen wir mit ver- 
schränkten Armen gegenüberstehen. Übrigens sind in den 
Kreisen sogenannter „Damen“ bestimmte Methoden der mecha- 
nischen Fruchtabtreibung viel bekannter als man glaubt. In 
den Schaufenstern unserer Instrumentenmacher liegen die 
Gummiballons mit Ansatz zur Ausspülung der Gebärmutter zur 
gefälligen Auswahl aus. 

Bei aller erfreulichen Übereinstimmung der beiden Herren 
Referenten in ihren Schlußfolgerungen ist doch ihr Ausgangs- 
punkt grundverschieden. Herr Justizrat Dr. Horch wendet 
sich gegen die Qualifizierung der Abtreibung als Tötungsver- 
brechen und Herr Professor v. Franqu& geht davon aus, daß 


— 67 — 


vom naturwissenschaftlichen Standpunkte aus Leben, das zur 
Kntwicklung bestimmt ist, nicht vernichtet werden soll, wenn 
nicht ein höher zu bewertendes Leben zu seiner Erhaltung die 
Vernichtung des Keims notwendig macht. Für die Gesetz- 
gebung kann der naturwissenschaftliche Standpunkt nicht der 
allein maßgebende sein, auch wenn er bisher für die Qualifi- 
zierung einer bestimmten Tat vom Gesetzgeber anerkannt 
wurde. Damit müssen wir uns auch in Fällen abfinden, in 
denen uns die Zustimmung weniger leicht fällt. 

Dr. Oskar Kohnstamm, Sanatoriumsleiter zu Königstein 
im Taunus: Ich fühle mich gedrängt, zum Ausdrucke zu 
bringen, daß wir Ärzte, auch die gewissenhaftesten unter 
ung, sich doch stärker von sozialen Gesichtspunkten leiten 
lasgen, wenn wir mit der Indikationsstellung des künstlichen 
Abortes befaßt sind, als uns selbst bewußt ist. 

Herr Professor v. Franquö hat folgendes Beispiel ange- 
führt: Zwei schwangere Frauen sind gleichmäßig von der Tuber- 
kulose bedroht, die eine ist reich und kann sich pflegen, die 
andere ist arm. Er sagt mit Recht, daß, wenn er nur die 
erstere austragen läßt, er sich auf rein ärztliche Gründe stützt 
und der sozialen Indikation kein Zugeständnis macht. 

Ich setze einen anderen, äußerlich ähnlichen Fall: Bei 
zwei tuberkulösen Frauen ist in gleichem Maße zu befürchten, 
daß sie das Ende der Schwangerschaft wegen Lungentuber- 
kulose nicht erleben oder wenigstens nicht überleben. Eine 
Hoffnung, daß es doch gehen möchte, ist für beide vor- 
handen. Die eine ist Proletarierfrau und erwartet ihr 15. Kind, 
die andere trägt den sehnsüchtig gewünschten Majoratsherrn. 
Welcher Arzt würde sich nicht leichteren Herzens bei der 
ersteren Frau zur Einleitung des Aborts entschließen, als bei 
der zweiten! Das, was hier die Wage zum Ausschlag bringt, 
ist nicht{ein medizinisches, sondern ein soziologisches Moment. 
Dies ist der Grenzfall, von dem eine stetige Reihe zu den rein 
sozialen Fällen hinführt. 

Eine Arbeiterfrau hat sechs Kinder gehabt, hat dabei, um 
bei dem Beispiele von Herrn Kollegen Kupferberg zu 
bleiben, Krampfadern oder Vorfall erworben und hat es, da sie 
eine tüchtige Frau ist, doch durchgesetzt, bis jetzt den Haus- 

| ge 


zu 


halt leidlich im Gang zu halten. Für den noch vergrößerten 
Pflichtenkreis wird aller Voraussicht nach die weiter herab- 
gesetzte Leistungsfähigkeit nicht mehr ausreichen. — Oder, 
eine Frau hat schon mehrere taubstumme Kinder geboren und 
mit der neuen Schwangerschaft geht sie der Wahrscheinlich- 
keit eines gleichartigen neuen Schicksalschlages entgegen. — 
Oder, die Frau hat dem alkohol-vergifteten Gatten schon mehrere 
Kinder mit minderwertigem Gehirn geboren. Der Mann stirbt, 
während sie von neuem schwanger ist und einer Vervielfältigung 
des Elends entgegensieht. Und so weiter in der unendlichen 
Mannigfaltigkeit der ärztlich-sozialen Grenzfälle. 

Dem geburtshilflichen Spezialisten, den die Schwangere in 
ihrer Not angeht, fällt die Entscheidung leicht: wenn er keine 
strenge Indikation sieht, muß er aus seiner speziellen Berufs- 
pflicht heraus die Frau a limine abweisen. Für den Hausarzt 
liegt die Sache anders; ihm ist das Wohl der ganzen 
Familie anvertraut, für das er durch eine frühzeitige Ab- 
treibung der Leibesfrucht am besten sorgt. Es kann m. E. 
nach gar kein Zweifel sein, daß ihm eine nicht ferne Zukunft 
diese Pflicht kategorisch auferlegen wird. Jetzt allerdings ist 
er in schwerer Gewissensnot und es wäre sehr erwünscht, daß 
für solche Fälle eine Jury oder ein anerkannter ärztlicher Ver- 
 trauensmann zu Gebote stände, der ihm die Verantwortung er- 
leichterte. Daß der Eingriff im allgemeinen in einer Klinik 
gewissermaßen vor den Augen der ärztlichen Welt und nur im 
Notfalle nach dem 3. oder 4. Monat vorgenommen wird, ver- 
steht sich für uns alle von selbst. 

Auch für rein soziale Fälle, bei denen ärztliche Gesichts- 
punkte zurücktreten, lassen sich viele Möglichkeiten einer Ver- 
trauensstelle finden, sei es nun, daß sie aus einem oder zwei 
- Ärzten besteht, die in besonderem Maße mit dem Vertrauen 
ihrer Kollegen und der Bevölkerung ausgestattet sind, oder sei 
es eine gemischte Behörde oder der Jugendrichter. 

Es gibt also eine große Zahl von Möglichkeiten, unter 
denen die Weisheit des Gesetzgebers hoffentlich die beste 
herausfinden wird. | 

Ich denke mir, daß eine solche Einrichtung einem Wider- 
stande gleichen wird, der, in die schrankenlose Freiheit der 


— g 


Entschließung zum künstlichen Abort eingeschaltet, eine hin- 
reichende Hemmung darstellt, um neuen Gefahren für die 
Moralität und die Bevölkerungszunahme vorzubeugen. Auch 
sollte nach dem 3. oder 4. Monat dem Antrag auf Abtreibung 
der Frucht nur ausnahmsweise stattgegeben werden. 

Prof. Sommer, Gießen: Wenn ich das Ergebnis einer zirka 
20jährigen neurologischen und psychiatrischen Erfahrung mit 
der vorgetragenen Auffassung vergleiche, so ergibt sich in den 
wesentlichen Punkten eine völlige Übereinstimmung. Prinzipiell 
stehe ich auf dem Standpunkte, daß die Einleitung der Früh- 
geburt für diejenigen Fälle gesetzlich geregelt werden muß, in 
denen die Mutter durch diese Maßnahme vor unheilbaren 
körperlichen oder geistigen Störungen bewahrt werden kann. 
Aber die Zahl der praktischen Fälle dieser Art ist im Gebiet 
der Neurologie und Psychiatrie sehr gering. Die fortschreitenden 
diagnostischen Erkenntnisse über die Verlaufsart der Nerven- 
und Geisteskrankheiten haben auch in dieser Beziehung klärend 
gewirkt. Es erscheint völlig ausgeschlossen, einen beginnenden 
primären Schwachsinn, eine Paranoia oder Paralyse der Mutter 
durch Einleitung der Frühgeburt aufhalten oder sogar heilen 
zu können. Auch viele andere psychische Störungen, z. B. 
epileptischer oder hysterischer Art während der Schwanger- 
schaft erscheinen im Grunde "bei genauerer Kenntnis der Vor- 
geschichte in der Regel. als unabhängig von der Schwanger- 
schaft und sind in bezug auf die Heilbarkeit unabhängig hier- 
von. Allerdings können z. B. bei schwer anämischen und 
dabei neurasthenischen Frauen Fälle vorkommen, in denen die 
Frühgeburt mit Rücksicht auf die Mutter indiziert sein könnte, 
wenn mir auch ein solcher Fall bisher nicht vorgekommen ist. Das 
gleiche gilt für einige andere neurologische Krankheitsgruppen. 
Prinzipiell möchte ich fordern, daß die Einleitung der Früh- 
geburt von dem gleichlautenden Urteil mindestens zweier in 
dem Spezialfach sachverständiger Ärzte abhängig gemacht 
wird. Interessant in dieser Beziehung ist folgender Fall. Eine 
Frau, die seit längerer Zeit an sogen. Reynaudscher Krank- 
heit (symmetrische Gangrän) der Finger an beiden Händen litt, 
und die schon früher bei einer Schwangerschaft eine Ver- 
schlimmerung des Leidens erfahren hatte, wurde von neuem 


— 70 — 


schwanger. Bei der großen Gefahr einer erneuten Verstärkung 
des Leidens, das zu völligem Absterben der Fingerspitzen 
führen kann, neigte ich mich zu der Ansicht, daß die Einleitung 
der Frühgeburt gerechtfertigt sei, machte jedoch zur Voraus- 
setzung, daß ein anderer von mir genannter Sachverständiger 
sich meinem Gutachten anschlösse; dieser erklärte jedoch seine 
Übereinstimmung nicht, so daß die Einleitung der Frühgeburt 
unterblieb. Ich bemerke dabei noch, daß die Zahl der Fälle 
in der Gießener Klinik, bei denen sich solche Fragestellungen 
ergeben haben, eine relativ beträchtliche gewesen ist, während 
wir in den einzelnen Fällen praktisch keinen Grund hatten, die 
Einleitung der Frühgeburt zu empfehlen. Trotz dieser pro- 
zentuarischen Geringfügigkeit der in Betracht kommenden 
Krankheitszustände halte ich eine gesetzliche Regelung in 
obengenanntem Sinne für durchaus erforderlich. 


Dr. Oßwald, Direktor der Landesirrenanstalt Alzey: 
Herr Prof. Sommer hat schon die psychiatrischen Indika- 
tionen zur Einleitung des künstlichen Abortus gestreift. 
Ich möchte dazu noch bemerken, daß, wenn es auch eine 
Puerperalpsychose xar’ eSoynv, wie man früher glaubte, nicht 
. gibt, man doch nicht so selten Fällen wiederholter vorüber- 
gehender geistiger Erkrankung begegnet, bei denen auf der 
Basis einer starken psychopathischen Belastung eine manifeste 
Psychose das eine Mal durch ein schweres psychisches Trauma, 
das andere Mal durch Erschöpfung und das dritte Mal durch 
eine Gravidität mit sich daranschließendem Puerperium ausge- 
löst wird. Ist letzteres. mehrfach vorgekommen, so daß gar 
. kein Zweifel an der ursächlichen Bedeutung des ‚Fortpflanzungs- 
geschäfts besteht, und ist eine neue Gravidität eingetreten, so 
wird man ernstlich daran denken müssen, ob nicht zur Ver- 
hütung einer neuen psychotischen Phase der künstliche Abortus 
frühzeitig einzuleiten wäre, selbstverständlich auch hier unter 
subtilster Prüfung aller Momente und Zuziehung mindestens 
noch eines Kollegen. 


Schlußbemerkungen des Herrn von Frangu® siehe 
Seite 54. 


yrs 


u: a 


Die Vereinigung nahm auf Antrag des Herrn Generalstats- 
anwalts Dr. Preetorius hierauf mit allen gegen eine Stimme 
eine 

Resolution 
folgenden Inhaltes an: 


Die Vereinigung erklärt sich grundsätzlich mit den An- 
schauungen der beiden Referenten einverstanden insbesondere 
damit, daß unter Beibehaltung der grundsätzlichen Strafbarkeit 
des Aborts die Schwangere selbst zwar möglichst zu schonen, 
aber dem gewerbsmäßigen Abtreibertum entschieden entgegen- 
zutreten se. Auch sollte im Gesetz die grundsätzliche Be- 


` rechtigung der Ärzte zur Schwangerschaftsunterbrechung wegen 


schwerer Erkrankung der Mutter ausgesprochen werden, was 
im Vorentwurf zum neuen StrGB. nicht geschehen ist. 


NEYNEMANN'SOHE BUOHBRUCHEREI, GEBR. WOLFF, HALLE A. 8» 





R. v. Decker’s Verlag, Berlin sw. 19. 


Gegründet 1713. 


Berliner juristische Beiträge 


zum Zivilrecht, Handelsrecht, Strafrecht 
und zur vergleichenden Rechtswissenschaft. 
| Herausgegeben von 
J. Kohler, Geh. Justizrat, ord. Prof. a. d. Universität Berlin, 








Heft: I. A. Hellwig. Das Asylrecht der Naturvölker. Mit 


einem Vorwort von J. Kohler. Preis M. 4,—. 


„Die Untersuchung ist als außerordentlich tüchtig und als eine so eingehende 
und umfangreiche Verhandlung des Gegenstandes zu bezeichnen, wie sie bisher nicht 
vorhanden ist.. .* Zeitschrift für intern. Recht, Band XI, Heft 4%. 


Heft II: Dr. Cohn. Der Wucher. Ein Beitrag zur Entstehungs- 
geschichte des mohamedanischen Rechts. Mit einem Nach- 


wort von J. Kohler. Preis M. 2,—. 


„Eine lichtvolle Darstellung der Stellungnahme der mohamedanischen heiligen 
Bücher undTraditionen zum Wucher (Sachwucher) mit vergleichenden Gesichtspunkten. '’ 
Badische Rechtspraxis 1902, Nr. 26. 


Heft III: Prof. J. Kohler, Berlin. Handelsverträge zwischen 
Genua und Narbonne um das 12. und 13. Jahrhundert. 
Preis geh. M. 1,50. 


„Die kleine Abhandlung darf als ein recht wertvoller Beitrag der Geschichte des 
mittelalterlichen Handels bezeichnet werden. Die mitgeteilten Urkunden und die Er- 
läuterungen Kohlers eröffnen einen interessanten Einblick in die Handelsbeziehungen 
und die handelspolitischen Maßnahmen im 12. und 13. Jahrhundert . . .** 

Lit. Mitt. der Annalen des Deutschen Reiches: XVIII. Jahrg., Nr. 7. 


Heft IV: Dr. jur. Rundstein, Berlin. Das Recht der Kartelle. 
Preis M. 3,—. 


1. > . Die Schrift ist eine der interessantesten Studien über die so hochaktuelle 
Kartellfrage ... . 
e.. hierbei wird die Kartellgesetzgebung einer interessanten Kritik in bezug 
auf ihre Lückenhaftigkeit unterzogen.“ 
Österreichisches Handels-Journal vom 24. VII. 1904. 


Heft V: F. Heinemann, Berlin. Das crimen falsi in der alt- 
italienischen Doktrin. Preis M. 2,—. 


. „Die Arbeit zeigt energisches Eindringen in einen croßen, vielverzweigten 
literarischen Stoff und eine erfreuliche Selbständigkeit der Auffassung." 
Gerichtssaal. S. 169, Jg. 1905. 


Heft VI: Dr. Leonhard Holz. Die Prämiengeschäfte. 


Preis M. 2 vo 


„Verfasser entwickelt in dem ersten Teil seiner klar und fließend geschriebenen 
Arbeit die Formen der Prämiengeschäfte und ihre wirtschaftliche Bedeutung. Im 
zweiten Teile bespricht Verfasser die bisherigen Konstruktionsversuche und übt an 
ihnen in vielen Punkten beachtenswerte Kritik.“ 

Beiträge zur Erläuterung des deutschen Rechts. 5l. Jahrgang. Heft 1/2. 


Willensentschliessung und 
Rechtspraxis. 


Von 


Dr. J. Salgó, 


Dozent an der Universität in Budapest. 





Der Geisteskranke, 
und das Gesetz in Österreich. 


Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. 


Von 


Hofrat Dr. Heinrich Obersteiner, 
k. k. Universitätsprofessor. 





Halle a. S. 
Carl Marhold Verlagsbuchhandlung. 
1911. 


Juristisch -Psychiatrische 
Grenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 


Geh. Justizrat Prof. Dr.jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr.med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B, 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lüben i. Schles. 


. VIL Band, Heft 5. 


‘Willensentschließung und Rechtspraxis. 


Von 
Dr.. J. Salgó, Dozent an der Universität in Budapest. 


Auf dem Grenzgebiete, wo die Dämmerung zweifelhafter 
Rechtsprechung und ebensolcher psychiatrischer Beurteilung zu 
völliger Dunkelheit sich verdichtet, dort gedeihen Begriffe von 
scheinbar unzerstörbarem Leben, deren Notwendigkeit und 
Wichtigkeit keineswegs unbestritten ist. Wir sehen ja oft, 
daß Anschauungen und Meinungen gleich Dogmen bestehen 
bleiben und sich erhalten, nicht wegen ihres inneren Wertes, 
sondern einzig nur allein wegen ihrer zweifelhaften Bedeutung. 
Weil nämlich eben ihre zweifelhafte Bedeutung sie fortwährend 
in den Mittelpunkt der Diskussion stellt. 

Auch die Rechtspraxis hat solche Begriffe von erstaun- 
licher Lebenskraft; Begriffe, deren Wesen und Notwendigkeit 
immer dunkel und zweifelhaft war, deren praktische Anwendung 
aber'immer unabwendbar schien und deren Bedeutung, trotz aller 
Wandlungen der juristischen und psychiatrischen Wissenschaft, 
sich niemals verringerte. Ein solcher Begriff der allgemeinen 
Rechtspflege ist der der Zurechnungsfähigkeit, an dessen 
Stelle in jüngster Zeit der beliebtere Begriff der freien 
Willensentschließung getreten ist. 

Es gab eine Zeit, und sie ist ja noch nicht ganz vorüber, 
wo die Erörterung der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit 
zum unausweichlichen Requisit eines Sachverständigen-Gut- 
achtens gehörte. Zur Entschuldigung der Ärzte mag wohl 
dienen, daß die Frage, nach dem Wortlaute der einschlägigen 
Gesetze, von juristischer Seite an den Arzt gestellt wurde, und 
daß die betreffenden Gesetzestexte wohl kaum unter medizini- 
scher Mithilfe zustande kamen. Daß diese Frage in neuerer 
Zeit seltener aufgeworfen wird, ja, daß ab und zu die Erörte- 

1* 


ER Ve 


rung derselben in einem Fachgutachten auch schon von einzelnen 
Vertretern der Rechtswissenschaft aus Kompetenzgründen zu- 
rückgewiesen wird, das ist gewiß nur dem Umstande zu danken, 
daß Ärzte die Beantwortung der diesbezüglichen Frage konse- 
quent abgelehnt haben. Und wir Ärzte könnten mit diesem 


. Erfolge wohl zufrieden sein, wenn an die Stelle der Frage 


nach der Zurechnungsfähigkeit nicht die nach der freien 
Willensentschließung getreten wäre. Denn damit haben nur die 
Worte eine Änderung erfahren. Das Wesen der Frage ist un- 
verändert geblieben. Denn wo man früher Zurechnungsfähig- 
keit sagte, dort setzt man heute Willensfreiheit. Und wo man 


vorher von Unzurechnungsfähigkeit sprach, dort spricht man 


nunmehr von aufgehobener Willensentschließung. Auch der 
Verlegenheitsbegriff der verminderten Zurechnüngs- 
fähigkeit hat eine entsprechende Umtaufe erhalten und heißt 
nun verminderte Willensfreiheit. Im Grunde ist aber 
alles geblieben, wie es war. Aus alledem scheint hervorzugehen, 
daß die Rechtspraxis ähnlicher dunkler Begriffe nicht entraten 


- kann, wogegen von ärztlicher Seite wohl keine Einwendung 


erhoben werden könnte, — wenn die Beantwortung dieser 
Frage nicht eben den ärztlichen Sachverständigen zugeschoben 
würde. 

Und nun drängt sich schon hier die Frage auf: Was mag 
das für ein grundlegender und wichtiger Begriff der Rechts- 
wissenschaft sein, dessen Erläuterung und Entscheidung in der 
Praxis man dem Arzt zumutet? Andererseits aber: aus welchen 
Quellen medizinischen Studiums kann der Arzt die Kenntnis 
schöpfen, welche ihn zur Beantwortung der Frage nach der 
Willensfreiheit befähigen würde, deren er in seiner ganzen ärzt- 
lichen Tätigkeit nicht bedarf; eine Kenntnis, die er nur in den 
seltenen Fällen bekunden kann, wo er als gelegentlicher 
Zwischenrufer gehört wird? 

Wenn nun aber trotz wiederholter Ablehnung solcher 
Fragen von ärztlicher Seite dieselben doch immer wieder als 
unerläßlich hingestellt werden und deren Beantwortung als 
wesentlicher Anteil des fachärztlichen Gutachtens in der Ge- 
richtspraxis gefordert wird, dann ist es Pflicht der ärztlichen 
und speziell der psychiatrischen Disziplin, ihre Meinung über 


rn Be 


den mehrerwähnten Begriff zu äußern, damit die praktische 
Rechtswissenschaft auf Grund dieser Ausführungen entscheide, 
ob sie danach noch für die Beantwortung der Frage nach der 
Freiheit oder Unfreiheit der Willensentschließung ärztlichen 
Rat einzuholen gewillt ist, oder ob sie nicht besser tut, in 
Sachen der Willensfreiheit als forensischen Problems auf die 
Mitwirkung des ärztlichen Sachverständigen zu verzichten, 
indem sie an den Arzt nur Fragen ärztlicher Natur richtet. 
Da es sich bei unserem Thema um die praktische Anwen- 
dung. des Begriffes der freien Willensentschließung handelt, 
wäre es gewiß unangebracht, denselben von der Seite eines 
abstrakten philosophischen Begriffes zu betrachten und den- 
selben als solchen breitspurig zu umschreiben und zu erläutern. 
Unsere Betrachtungen wenden sich nur der evidenten sach- 
lichen Seite des Begriffes und seinem Verhältnisse zur mensch- 
lichen Handlung zu, wie es in den alltäglichen forensisch-psy- 
chiatrischen Ereignissen zutage tritt. Und von diesem Ge- 
sichtspunkte betrachtet, steht die Sache nicht so, wie Faust 
es ausdrückt: „im Anfange war die Tat“, sondern: am Aus- 
gangspunkt aller Handlungen steht der Wille. Für 
das naturwissenschaftliche Denken ist der Wille die Quelle aller 
Seelenvorgänge und der zentrale Erreger jeder menschlichen 
Handiung. Die moderne, naturwissenschaftliche Richtung der 
Strafrechtspflege beschränkt sich auch deshalb nicht mehr auf die 
Betrachtung der Handlung, als Endergebnis der Seelenvorgänge, 
sondern sie legt das größte Gewicht darauf, das Zustande- 
kommen der menschlichen Handlungen zu erkennen. Mit 
vollem Recht ist die Rechtsprechung der Überzeugung, daß 
eine gerechte und zutreffende Beurteilung einer Tat nur bei 
genauer Kenntnis ihres Ursprunges und ihres Zustandekommens 
erwartet werden kann. Wir mögen nun über den letzten, 
transzendentalen Sinn der psychischen Vorgänge welcher Mei- 
nung immer sein, der Vorstellung können wir keinen Raum 
geben, daß der Mensch, gleichsam über sich selbst erhaben, in 
kühler, gleichgültiger Objektivität aus mehreren vor ihm liegen- 
den Entschließungsmöglichkeiten in willkürlicher Auswahl eine 
herausgreift, um sie in die Tat umzusetzen. Wer psycho- 
logische Vorgänge nieht nur -äußerlich betrachtet, sondern 


ni 


Sy 


wur 


men e 


se b 


seinen Blick auch auf innere Beobachtung richtet, der erfährt 
leicht, daß wir selten, vielleicht niemals unser Denken und 
unsere Entschließungen nach Gutdünken richtunggebend beein- 
flussen können. Bestimmend sind vielmehr im allgemeinen 
solche psychische Elemente, welchen wir a priori kaum größere 
Bedeutung zuerkannt hätten, ja von deren Existenz wir kaum 
wußten. Ohne daß wir der unverdient überschätzten Tages- 
sensation, der sogen. Psychoanalyse, eine größere Bedeutung 
zuerkennen wollten, hat sie uns doch gelehrt, welchen schwer- 
wiegenden Einfluß und welche große Rolle die im Unterbe- 
wußtsein schlummernden und zurückgedrängten psychischen 
Elemente in unserem Seelenmechanismus haben. Aus dem 
‚aufmerksamen Studium pbysiologischer und pathologischer 
Seelenzustände geht hervor, mit welcher quälenden Energie 
diese dunklen Elemente in die Sphäre der Bewußtseinshelligkeit 
drängen, und mit welcher angstvollen Anstrengung wir oft ver- 
geblich gegen deren Vordrängen ankämpfen. Jeder konnte es 
gewiß an sich selbst schon erfahren, wie schwer wir uns einer 
aufsteigenden Vorstellung erwehren können, die ganz gegen 
unseren Willen unseren Gedankengang belastet und denselben 
oft bis zur Auslösung eines wahren Angstzustandes zeitweilig 
völlig hemmt und in pathologischen Fällen dauernd lähmt. In 
der Regel sind dies Vorstellungen und Gedanken, denen wir 
fremd gegenüberstehen und die eben wegen ihrer Beziehungs- 
losigkeit zu unserem normalen Denken so drückend empfunden 
werden. Wir ersehen hieraus, daß nicht nur bewußte, sondern 
auch in ihrer Bedeutung völlig dunkle, mit unserem Bewußt- 
seinszustand nicht kongruierende psychische Elemente unserem 
Gedankengange und unseren Entschließungen die Richtung vor- 
schreiben. Und darum müssen wir wohl erkennen, daß wir in 
überwiegender Weise nicht das und nicht so wollen, wie wir 
handeln, sondern, daß wir wollen, wie wir müssen. Kaum in- 
gleichgültigen, unwichtigen Dingen wählen wir unter mehreren 
Willensentschließungen. In Fällen von entscheidender Wichtig- 
keit handeln wir, wie wir unter dem Einflusse von äußerem 
und innerem Zwange handeln müssen. 

Für ein naturwissenschaftlich geschultes Denken bedarf es 
nur eines schwachen Hinweises auf die äußerst komplizierte 


jèl 
Jent 


a T 


Natur dieses äußeren und inneren psychischen Zwanges. Ohne 
weitere Beweisführung ist es klar, welche ausschlaggebende. 
Rolle den ererbten und organisch bedingten Komponenten, wie 
auch den erziehlichen Elementen unseres Seelenlebens zukommt 
und zukommen muß im Mechanismus unserer Willensent- 
schließungen. Aber auch dem Einfluß der verschiedensten zu- 
fälligen äußeren Momente können wir uns kaum entziehen. 
Der Hungrige denkt und entschließt sich anders in Fragen des 
Eigentumsrechts als der Satte, sowie auch der orgastisch er- 
regte Liebhaber anders urteilt und handelt in Sachen der Ethik 
und Wohlanständigkeit wie der bedrohte Ehemann. Das Ver- 
antwortungsgefühl und die Handlungsweise des Leiters eines 
großen Unternehmens muß sich anders gestalten als das des 
letzten Angestellten, ebenso wie das Bewußtsein der Zahlungs- 
pflicht andere Formen annimmt in dem Gehirne des Schuldners 
als in dem des Gläubigers. Im Prinzipe kann die Freiheit der 
Willensentschließung nur eine sein; in der Wirklichkeit aber 
ist sie so vielfach und verschieden, wie es die menschliche 
Psyche ist. In einem gegebenen Falle aber kann und darf die 
Rechtspflege eine individuell verschiedene Willensfreiheit nicht 
statuieren. Und darum, meine ich, muß der endlos fortgesetzte 
Wortstreit über Wesen und Wahrheit der freien Willensent- 
schließung resultatlos bleiben. Denn für die Beurteilung 
der täglichen Lebensvorgänge, wie sie die Rechtspraxis 


bietet, kann die Freiheit der Willensentschließung , so- 


fern wir von einer solchen sprechen wollen, nur eine 
individuelle sein, die nur für das Individuum Geltung 
hat, weil sie die Resultierende seiner psychischen Elemente 
das Endergebnis seiner gesamten überkommenen, veranlagten, 
anerzogenen und gelegentlich bedingten Seeleneigenschaften ist. 
Und so wenig man ein gemeinsames Hutmaß für alle Köpfe findet, 
ebenso wenig kann man den Maßstab eines theoretisch abge- 
leiteten Begriffs der Willensfreiheit bei allen Menschen in gleicher 
Weise verwenden. Die Freiheit der Willensentschließung ist 
eine individuelle psychische Eigenschaft und auch das nur in 
sehr beschränktem Maße, insofern sie nach konstanten und zu- 
fälligen Kräftewirkungen auch im Individuum innerhalb weiter 
Grenzen variiert und bis zur Unkenntlichkeit schwankende 





l 
(3 
s 

í 





oz 


IE 


bate a eni S 


u AR 


Formen annimmt. Die kriminalistische Kasuistik aller Zeiten 
und viele gerichtliche Sensationsaffären unserer Tage haben 
Willensentschließungen und Handlungen in großer Zahl er- 
bracht, die zu dem Bilde, das wir uns von der Psyche der 
Handelnden machen konnten, in schreiendem Gegensatze standen. 
. Wie oft müssen wir einbekennen, daß uns eine bestimmte 
Handlungsweise eines uns bekannten Individuums in ganz un- 
erwarteter Weise überraschte! Es ist deshalb nicht zu ver- 
wundern, wenn man angesichts solcher Vorkommnisse gänzlich 
inkongruenter Willensäußerungen die Freiheit menschlicher 
Entschließungen nicht gut gelten lassen mag. Aber selbst ohne 
solche sprunghafte Äußerungen menschlichen Willens, selbst 
die Konstanz und Gleichmäßigkeit der Handlungsweise eines 
und desselben Individuums spräche auch im entferntesten nicht 
für die ungebundene Freiheit des idean, wie wir dies noch 
weiter ausführen werden. 

Es ist aber ohne weiteres ieni daß sich die prak- 
tische Rechtspflege auf einem so schwankenden Boden, wie es 
. die auch individuell beschränkte sog. freie Willensbestimmung 
ist, nicht bewegen kann. Mag die Rechtswissenschaft auch noch 
so sehr zur naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethode hin- 
neigen und Ursache und Wirkung auf naturwissenschaftlicher 
Grundlage zu erforschen trachten, soweit können ihre Bestre- 
bungen nicht gehen, daß sie für jeden einzelnen Fall eine in- 
dividuelle und nur für das Individuum gültige Verantwortlich- 
keit feststellt. Selbst wenn sie es könnte, würde ihr zu einem 
solchen von Fall zu Fall erst festzustellenden Maße der Ent- 
schließBungsfreiheit die nötige Zeit fehlen. Aber sie kann es 
gar nicht. Für eine solche Maßbestimmung fehlt ihr jedes an- 
nähernd bräuchbare Maß zur befriedigenden Feststellung der 
individuellen Willensfreiheit. Die Möglichkeit der sozialen 
Prozedur gegen verbrecherische Anschläge und Friedensbrecher 
muß aber unter allen Umständen gesichert sein. Sie muß 
ebenso gesichert sein gegen kontroverse Theorien wie gegen 
die individuell verschiedenen Willensentschließungen. Rechts- 
philosophen mögen tiefgehende Betrachtungen über Wert und 
Realität theoretischer Begriffe anstellen; die Psychologie mag 
die allgemeinen und individuellen Elemente des psychischen 





2 Ge 


Geschehens und der Gesetze des Seelenmechanismus zu er- 
forschen trachten, — aber die Rechtspraxis beschäftigt sich 
nicht mit abstrakten Theoremen und transzendentalen Begriffen, 
sondern mit lebendigen Individuen, deren tägliche Plagen und 
Wünsche sie erledigen muß. Auch der praktische Arzt, der 
bei jedem Einzelfalle erst sämtliche, noch nicht erledigte 
Theorien und alle experimentellen Untersuchungsarten zu Rate 
ziehen wollte, bevor er sich zu irgendeinem Heilverfahren ent- 
schließt, würde gar bald des nötigen Vertrauens verlustig 
werden und seine Klientel einbüßen, weil er die ihm über- 
tragene Arbeit nicht zu leisten vermöchte. 

Denn wovon ist eigentlich die Rede? Die Rede ist davon, 
daß die menschliche Gesellschaft zur Sicherung ihres Bestandes 
und ihrer friedlichen Arbeit gewisse gemeinsame Bürgschaften 
geschaffen hat und noch schafft; — Bürgschaften und Über- 
einkommen, welche sie zur Benützung bestimmter Verteidigungs- 
maßregeln gegen Störenfriede und Angreifer berechtigen. Die 
menschliche Gesellschaft wählt hierzu solche Waffen, die der 
jeweiligen sozialen Auffassung entsprechen und notwendig 
scheinen. Sie kann auch dieser Verteidigungswaffen ohne Ge- 
fährdung ihrer eigenen Existenz nicht entraten. Sie mögen 
einer späteren Zeit oder einer anderen Gemeinschaft als zweck- 
widrig oder unangebracht erscheinen; sie mögen von Einzelnen 
derselben Epoche oder derselben sozialen Vereinigung als 
drückend und ungerecht empfunden werden; — sie müssen 
aber für jeden Einzelnen derjenigen Gesellschaft, welche die 
gesetzlichen Verfügungen erlassen hat, bindend und fraglos 
gültig sein. | 

Keine Kulturgemeinschaft sollte aber, im Bewußtsein ihrer 
Macht, die Grenzen dieser Selbstverteidigung überschreiten. ` 
Denn als machtsicherem und überlegenem Beobachter und 
Richter menschlicher Handlungen, an den weder Leidenschaft 
noch wechselnde Stimmung oder Voreingenommenheit heran- 
reichen darf, kann es nicht ihre Aufgabe oder Wunsch sein, 
die friedenstörende, verbrecherische Handlung strafend zu 
rächen. Die ausschließliche Aufgabe eines Gemeinwesens 
kann nur die Erfüllung der Verteidigungspflicht bilden. Die 
verbrecherischen Handlungen des Einzelnen interessieren das 


ei. > Se 


Gemeinwesen und deren amtliche Vertreter nur insoweit, als 
sie die sozialen Interessen schädigen. Man spricht vergebens 
von der Abschreckungs- oder Korrektionswirkung der Strafen, 
— ım Grunde kann und soll die soziale Gemeinschaft nichts 
anderes tun, als die ihr übertragene Verteidigung, den Schutz 
der sozialen Ordnung durchführen. Das nur allein kann der 
Sinn der gesetzlichen Verbote sein. Daß man da und dort 
früher und auch jetzt noch an dieses Grundprinzip der Rechts- 
pflege vergessen hat und vergißt, spricht nicht gegen das Prinzip. 
Denn auch der Rechtspflege, als einer menschlichen Institution, 
haften die Mängel aller menschlichen Institutionen an. Wir 
können aber auch den gesetzlichen Strafen eine abschreckende 
oder bessernde Wirkung zugestehen, ohne die Richtigkeit des 
Grundprinzips zu erschüttern. Denn auch diese, keineswegs 
sichergestellten Wirkungen der Strafe wären nur eine Erweite- 
rung und Ausgestaltung der sozialen Verteidigung, die keine 
andere Aufgabe haben kann, als das friedliche Beisammensein 
und den Gang der sozialen Arbeit zu sichern. 

Freilich war die Auffassung über diese soziale Schutz- 
‚arbeit zu verschiedenen Zeiten recht verschieden. Wir wissen, 
daß für eine gar nicht kurz bemessene Zeitepoche beispiels- 
weise das religiöse Bekenntnis für die Bestimmung des sozialen 
Friedens oder Unfriedens bestimmend war. Eine von dem 
herrschenden Bekenntnis abweichende religiöse Überzeugung 
galt als das schwerste Verbrechen gegen die Gesellschaft und 
wurde aufs schwerste bestraft. Das kann nach unserer heutigen 
Anschauung wohl nur auf gründlicher Verkennung der sozialen 
Exigentien beruht haben. Und es kann nicht wundernehmen, 
daß man in solcher Zeit auch manches andere ebenso gründ- 
‘lich verkannte. Denn nur aus einer solchen Verkennung konnte 
es geschehen, daß man die verwirrten und sinnlosen Reden 
von Geistesgestörten als schwere, antisoziale Verbrechen ansah 
und die Geisteskranken in schonungslosester Weise vernichtete. 
Der damals herrschenden Auffassung gemäß konnte man die von 
Teufeln und Dämonen Besessenen, die von Gott Abgefallenen 
und Verlassenen im Interesse der allgemeinen Sicherheit, die 
ja aufs schwerste bedroht schien, auch gar nicht schonen. 

Daß das anders geworden ist, daß die Seelenstörung nicht 


zæ i 


mehr als strafbares Delikt angesehen wird, das möchte ich 
nicht dem fortgeschritteneren Humanitätsgefühl zuschreiben, 
sondern dem wachsenden Intellekt und insbesondere dem zu- 
treffenderen Verständnisse in sachen der Psychiatrie. Gerade die 
tiefere Erfassung des Wesens der Seelenstörungen hat dieselben 
nicht nur aus der Liste der zu ahndenden Geschehnisse gestrichen, 
sondern sie auch unter einen besonderen gesetzlichen Schutz 
gestellt. In richtiger Erkenntnis der krankhaften Geisteszustände 
wurde als oberster Satz der Rechtspraxis ausgesprochen, daß 
Geistesgestörte für ihre Handlungen nicht verantwortlich ge- 
macht werden können. Sie können es nicht, weil die allge- 
meine Überzeugung die ist, daß die Seelenstörung den Ge- 
dankengang völlig verändert, die Empfindungswelt verkehrt und 
die Willensäußerungen in krankhafter Weise deroutiert. Und 
wenn die Gesetzestexte klipp und klar aussprechen würden, 
daß die Beurteilung von menschlichen Handlungen, welche im 
Verlaufe von Seelenstörungen und durch krankhafte Geistes- 
zustände ausgelöst werden, nicht Gegenstand richterlicher Er- 
'wägungen sein können, daß sie der Rechtsprechung nicht 
zugeführt werden können, — dann wäre damit für diese 
Fälle die eine Abgrenzung gegeben. Sie würden damit der 
nicht immer fachgemäßen psychiatrischen Erkenntnis juristi- 
scher Behörden entzogen und wären auch den Konsequenzen 
schwankender und unzulänglicher medizinischer Erfahrung 
nicht weiter ausgesetzt. Es bliebe nur die Frage des Schutzes 
der Gesellschaft gegen die unverantwortlichen Handlungen 
der Geistesgestörten, d. h. deren Unschädlichmachung, zu 
erledigen, und das ist keine Frage der Rechtspraxis mehr, 
sondern nur noch die Ausführung einer administrativen 
Maßregel. Dieses administrative Verfahren hätte neben dem 
Schutze der Gesellschaft gegen naturgemäß straflose Angriffe 
auf die Ordnung und Sicherheit des Gemeinwesens, auch 
noch die Zuführung des als „krank* erkannten Individuums 
in entsprechende ärztliche Behandlung resp. Pflege zu er- 
ledigen. Auf zu solchem Zwecke gestellte richterliche Fragen 
könnte der ärztliche Sachverständige seinem Wissen und dem 
jeweiligen Stande der psychiatrischen Wissenschaft entsprechend 
immer verständlich und sachgemäß antworten. Seine Antwort 


— 12 — 


würde und müßte sich eben immer ausschließlich auf den Ge- 
sundheitszustand des Untersuchten beziehen. Das würde der 
Erfahrung des ärztlichen Sachverständigen entsprechen und 
müßte auch, meiner Meinung nach, die dem Juristen notwendige 
Wissensergänzung voll und ganz bieten. 

Die praktische Rechtswissenschaft geht aber weiter. Für 
sie ist in den meisten Gesetzgebungen die konstatierte Geistes- 
störung als solche noch kein Grund dafür, die durch die Seelen- 
störung ausgelöste antisoziale Handlung als straflos anzu- 
sprechen. Sie knüpft an diese Konstatierung noch gewisse 
Bedingungen. Solche gesetzestextliche Bedingungen sind: die 
ausdrückliche ärztliche Feststellung der Zurechnungsfähig- 
keit oder vielmehr der Unzurechnungsfähigkeit, der Willens- 
freiheit oder der Aufhebung derselben, oder endlich der 
Erklärung darüber, ob der Geisteskranke, natürlich zur Zeit 
der Tat, seines Vernunftsgebrauches ganz oder teilweise beraubt 
war oder nicht. 

Die Fragen und die zu erteilenden Antworten scheinen den 
ärztlichen Sachverständigen bis zur Überflüssigkeit einfach. 
Verwundert über die Selbstverständlichkeit erteilt der Experte 
die gewünschte, freilich nur ihm selbstverständliche Antwort. 
Gewiß. ist der Geisteskranke unzurechnungsfähig. Ebenso 
- sicher ist seine freie Willensentschließung aufgehoben und ist 
er des Gebrauches der Vernunft beraubt. Und doch begibt sich 
der ärztliche Sachverständige mit der Beantwortung solcher 
Fragen auf schwankenden Boden und provoziert in vielen 
Fällen einen Gedankenaustausch mit dem Juristen, welcher 
dem Ansehen des Arztes und der von ihm vertretenen Wissen- 
schaft nicht immer dienlich ist. 

Wir wollen ganz absehen davon, daß es ausschließlich 
Sache des Juristen ist, jemandem eine Tat zuzurechnen oder 
nicht; daß der Jurist gerade so viel oder so wenig orientiert 
ist über die Willensfreiheit wie der Arzt, weil ja weder der 
eine noch der andere darüber mehr als eine subjektive Über- 
zeugung haben kann; und daß endlich auch der Jurist wissen 
mag, ob der Geisteskranke seine Vernunft gebrauchen kann 
oder nicht. Aber diese Fragen haben ihren Ursprung in gänz- 
licher Unkenntnis psychiatrischer Vorkommnisse. Und ganz 


in JS 


besonders die Frage nach der Freiheit oder Unfreiheit der 
Willensentschließung ist gerade von seiten der Rechtspflege 
ganz und gar unlogisch. Denn die soziale Ordnung und die 
dieselbe schützenden gesetzlichen Verfügungen gehen nicht 
von der Annahme der freien WillensentschlieBung aus und 
können gar nicht von dieser ausgehen. Der Sicherung der 
gesellschaftlichen Ordnung muß überall die Auffassung zugrunde 
liegen, daß es dem Individuum nicht gestattet sein kann, seinen 
Willensentschließungen freien, ungehemmten Lauf zu lassen. 
Das Gesetz fordert vielmehr, daß der einzelne seinen Willen 
nur innerhalb festgesteckter, enger Grenzen, in starker Be- 
hinderung, d. h. in Unfreiheit betätige.. In dem Augenblicke, 
ın welchem das Individuum die sozialen Fesseln seiner 
Willensregungen abzustreifen sucht und sie ungehemmt be- 
tätigen will, muß es mit dem Gesetze in Konflikt kommen. 
Das gilt im kleinen wie im großen. Wenn ich in dringender 
Eile, ungeachtet des behördlichen Überfüllungsverbotes, einen 
` vollen Straßenbahnwagen besteigen will, meldet sich sofort der 
Hüter der gesellschaftlichen Ordnung, der mich darüber be- 
lehrt, daß ich meinen freien Willen nur bei Strafe betätigen 
darf. Ich darf aus freiem Willen meine Bedürfnisse nicht aus 
der Tasche meines Nebenmenschen befriedigen. Es ist mir 
nicht gestattet, eine persönliche Beleidigung nach meinem 
eigenen freien Ermessen zu rächen. Ich würde auch den 
fanatischesten Anhängern der Philosophie der Herrenmoral, den 
- wirklichen oder eingebildeten „Übermenschen“ nicht empfehlen, 
die Lehre von „jenseits von gut und böse“ ins praktische 
Leben zu übersetzen und sie in ihren Handlungen zu verwirk- 
lichen. Sie würden bald darüber belehrt werden, daß ihre 
philosophische Überzeugung der öffentlichen Gewalt durchaus 
nicht imponiert, und sie müßten zu ihrem eigenen Schaden 
sehr bald erkennen, daß die begründetste Überzeugung des 
Einzelnen oder der Mehreren für die Rechtspflege vollkommen 
bedeutungslos ist. Es kann jemand wissenschaftlich durch- 
drungen sein von der absoluten persönlichen Freiheit in Sachen 
verschiedener sexueller Perversitätspraktiken und von der Ab- 
surdität der diesbezüglichen bestehenden gesetzlichen Verbote, 
— aber er darf diese seine wissenschaftliche Doktrin nicht in 


J 


s Je == 


die Praxis umsetzen, denn seine Überzeugung und seine freie 
Willensäußerung kann und darf von der öffentlichen Gewalt 
nicht respektiert werden. Er ist gezwungen, angesichts der 


‚gültigen öffentlichen Verfügungen die geschwellten Segel seines 


freien Willens zu streichen. 

Es geht daraus hervor, daß schon die Fragestellung nach 
der freien Willensentschließung fehlerhaft ist. Die Rechtspflege 
kann bei Beurteilung irgendeiner menschlichen Handlung, sei 
sie nun straf- oder zivilrechtlicher Natur, gar nicht von der 
Annahme eines freien Willens ausgehen; sondern sie müßte 
logischerweise und ihrer eigenen Voraussetzung gemäß fragen, 
ob die Willensentschließung des Individuums bei Ausführung 
einer bestimmten Handlung unter genügender Behinderung und 
durch die bestehenden gesetzlichen Verfügungen entsprechend 
gehemmt war. Nur der Geistesgestörte oder psychisch mangel- 
haft Entwickelte setzt sich mit ungehemmtem, freiem Willen 
über alle sozialen Verbote und Verfügungen hinweg; nur er 
folgt unbekümmert um alle Rechtsfolgen jeder momentanen 
Regung seines krankhaften Willens und seiner gestörten Emp- 
findungswelt. Weder das Zweckentsprechende einer mensch- 
lichen Handlung, noch die zielbewußte Absicht, noch auch die 
vorbereitete Überlegung resp. das Fehlen dieser Momente ent- 
scheiden für oder gegen einen pathologischen Geisteszustand. 
In viel bestimmterer Weise charakterisiert die von allen Be- 
denken und Hemmungen losgelöste, vollständig freie egoistische 
Willensentschließung die Handlungsweise des psychisch Kranken. 
Diese völlig freie, auf sich selbst gestellte Entfaltung des 
Willens zeigt sich in den uneingeschränkt egoistischen, anti- 
sozialen Handlungen der Imbezillen ebenso, wie in den rück- 
sichtslosen paranoischen Ausbrüchen oder in den endlosen 
Kämpfen der Querulanten usw. In allen einschlägigen Fällen 
sind diese Handlungen psychopathologischen Ursprungs der 
Ausfluß eines schrankenlos sich betätigenden freien Willens. 

Freilich werden die Vertreter der Rechtswissenschaft hier- 
auf erklären, daß diese Vorkommnisse nicht das Ergebnis freier 
Willensentschließung sind, sondern daß sie unter dem unwider- 
stehlichen Zwange krankhafter Seelenvorgänge zustande kommen 
und deshalb nichts gegen die Willensfreiheit des geistig ge- 


jen 


— 15 — 


sunden Individuums beweisen. Mit dieser Auffassung kann 
sich auch der ärztliche Sachverständige einverstanden erklären. 
Denn es liegt darin das. Zugeständnis, daß mindestens die 
Seelenvorgänge der psychisch Kranken nach einem zwingenden 


'Kausalitätsgesetze ablaufen, denen sich das Individuum nicht 


entziehen kann. Allerdings muß sofort festgestellt werden, daß 


‚keinerlei pathologische Prozesse neue Gesetze schaffen können. 


Die Vorgänge der Natur laufen ausnahmslos nach dem Gesetze 


von Ursache und Wirkung ab. Diesem Gesetze sind Gesund- 


heit und Krankheit in gleicher Weise unterworfen. Und wenn 
die Auffassung, daß im kranken Seelenleben das Kausalitäts- 
prinzip uneingeschränkt Geltung hat, richtig ist, und sie ist es 
zweifellos; wenn es wahr ist, daß den psychisch Kranken in 
seinen Willensäußerungen die freilich krankhaften Elemente 
seines Seelenlebens zwingend treiben und beeinflussen, und es 
ist zweifellos wahr; dann kann die Annahme nicht aufrecht er- 
halten werden, daß die Vorgänge psychischer Gesundheit außer- 
halb des allgemein gültigen Kausalitätsprinzips stehen. Es gibt 
keine besonderen Gesetze für Vorgänge krankhafter Natur und 
wieder andere für solche der Gesundheit. Denn die Krankheit, 
sei sie nun psychisch oder somatisch, ist nichts anderes als ein 
gesetzmäßiger Ablauf des Lebens unter veränderten Verhält- 


nissen. Und es ist gewiß nur eine menschliche Überhebung, 


den Seelenvorgängen einen Platz außerhalb des Gesetzes von 
Ursache und Wirkung anweisen zu wollen und eine uneinge- 
schränkte Freiheit der Willensäußerungen, also einer psychi- 
schen Funktion zu statuieren. Eine unvoreingenommene 
kritische Betrachtung der psychischen Vorgänge, eine auf- 
merksame Selbstbeobachtung überzeugt uns leicht, daß wir den 
komplizierten Mechanismus unserer Willensemanationen nicht 
nach freiem Ermessen dirigieren können. Wir können ebenso 
wenig in der gleichmäßigen und gefesteten Betätigung des 
Willens, die das Resultat einer gut disziplinierten Individualität, 
eines Charakters bildet, eine freie Willensbetätigung erkennen, 
als wir in den wechselnden Explosionen rasch schwindender 
Stimmungslagen oder in den leicht zu beeinflussenden Ent- 
schließungen minderwertiger geistiger Komplexe auch nur den 
Schimmer freier Willensentschließungen zu erblicken vermögen. 





In dem einen wie in dem anderen Falle ist der Wille nur die 
unausweichliche Resultierende solcher psychischen Komponenten, 
' die in der Willensbetätigung unbedingt zum Ausdruck kommen 
müssen. In diesen und in allen Fällen kann kein Zweifel be- 
stehen an der Abhängigkeit und Gebundenheit des Willens. 
Aber selbst der trügerische Schein, als könnte ich tun wie es 
mir beliebt, als könnte ich unter verschiedenen Entschließungs- 
möglichkeiten freie Wahl treffen, zeigt nur, daß ich die Einzel- 
heiten, die Elemente meiner möglichen Willensentschließungen 
erwägend, mich für jene entscheide, die mir besser und zweck- 
entsprechender erscheint. Das bedeutet nicht, daß die getroffene 
Entscheidung auch tatsächlich die richtige ist, sondern bloß, 
daß ich den kräftigeren Argumenten unterlegen bin. 

Die größeren und schwerwiegenden Inkonsequenzen zeigen 
sich aber nicht einmal an dem widerspruchsvollen und unge- 
klärten Wesen der Freiheit oder Unfreiheit des Willens. Viel 
schwieriger und schwankender wird die Frage und deren Be- 
antwortung, wenn es sich um die zahllosen Übergänge von 
der scheinbaren Freiheit zur behördlich anerkannten Unfreiheit 
handelt. So wie es für die medizinische Wissenschaft keine scharfe 
Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit gibt, ebenso wenig 
kann die Rechtspraxis eine absolut sichere Scheidung von voll- 
kommen freier Willensentschließung und sicherer Aufhebung der- 
selben vornehmen. Wenn es sich nur um die eine oder die andere 
Möglichkeit handeln würde, dann wäre eine Rechtsentscheidung 
wohl noch immer denkbar, wenn auch unter der Voraussetzung 
aller Irrtümer, die mit Entscheidungen auf Basis subjektiven 
Ermessens unausweichlich verbunden sind. Es wären das Irr- 
tümer, die mit dem geistigen Niveau der jeweiligen Zeitepoche 
innig zusammenhängen, die deshalb auch nicht auszuschalten 
sind und deren Folgen die Zeitgenossen sich nicht zu entziehen 
vermögen. Aber die Bestimmung der psychiatrisch noch so 
ungeklärten Übergangszustände mit Beziehung auf das Maß 
der Willensfreiheit, resp. auf das Maß der Einschränkung der- 
selben, kann in einwurfsfreier Weise vom ärztlichen Sachver- 
‘ständigen überhaupt nicht geleistet werden. Dazu fehlt ihm 
jedes auch nur halbwegs brauchbare Maß. Und ist schon die 
Meinungsäußerung über Freiheit oder Unfreiheit des Willens 


niemals das Resultat naturwissenschaftlicher Untersuchung oder 
medizinischer Erfahrung, sondern immer nur eines subjektiven 
Glaubens, — dann ist es die gutachtliche Meinung über ver- 
minderte Willensfreiheit noch weniger. Denn mit der Frage 
der Willensfreiheit oder Unfreiheit könnte sich auch der ärzt- 
liche Sachverständige ein für allemal abfinden. Nicht so aber 
mit der Bestimmung der verminderten Freiheit der Willensent- 
schließung in ihrem Verhältnis zur Rechtspraxis. In diesem 
Punkte kann es nicht einmal die ständige vorgefaßte Meinung 
des Begutachtenden sein, die zum Ausdruck kommt, sondern 
eine von Fall zu Fall schwankende Überzeugung des Sach- 
verständigen, für welche die richterliche Auffassung nicht 
immer das richtige Verständnis oder besser gesagt: die ent- 
sprechende Leichtgläubigkeit hat. 

Es zeigt aber auch, wie bedenklich und verkehrt es ist, 
Begriffe von der Qualität der verminderten Willensfreiheit in 
die Rechtspraxis einzuführen. Denn eigentlich ist dieser Be- 
griff ein Ausdruck der Verlegenheit der Rechtsprechung und 
der Psychiatrie in gleicher Weise. Das Bewußtsein, daB es 
zwischen Freiheit und Unfreiheit der Willensentschließung mehr 
Abstufungen gibt, als Psychiatrie und Rechtsprechung sich 
heute träumen lassen, führte zu dem praktisch unverwendbaren 
Begriff der verminderten Willensfreiheit, der in seiner Anwendung 
zu sehr grotesken und höchst bedenklichen strafrechtlichen Folge- 
rungen führen muß. Denn in einem gegebenen Falle bedeutet die 
Erklärung der verminderten Willensfreiheit, wie der verminderten 
Zurechnungsfähigkeit auf der einen Seite, daß der Inkulpat 
nicht geisteskrank ist und daher der Bestrafung zugeführt 
werden kann; auf der anderen Seite jedoch besagt dieselbe 
Erklärung zweifellos, daß wir es mit einem organisch bedingten 
abnormen psychischen Status zu tun haben, der die Straffähigkeit 
in mehr oder minder erheblichem Maße herabsetzt. Das Prinzip 
der verminderten Freiheit der Willensentschließung verhindert 
demnach die Zuweisung der minderwertigen psychischen Indivi- 
duen unter ärztliche Behandlung und Kontrolle und verhindert in 
gleicher Weise die volle Anwendung der gesellschaftlichen Ver- 
teidigungsmittel gegen die gefährlichsten antisozialen Elemente. 
Da es sich bei diesen fast ausschließlich um konstitutionelle 

2 


a IS - lm 


(angeborene oder früh erworbene) Abnormitäten handelt, die 
einer Besserung kaum zugeführt werden können und die wegen 
asozialen Verhaltens immer wieder mit der gesellschaftlichen 
Disziplin in Konflikt geraten, so wird eben durch die Rück- 
fälligkeit die verminderte Willensfreiheit oder Zurechnungs- 
fähigkeit mit jedem einzelnen Rückfalle besser demonstriert. 
Die natürliche strafrechtliche Folge muß deshalb eine ab- 
nehmende Straffähigkeit sein. Und es ergibt sich sinngemäß (!), 
daß die schlimmsten und am wenigsten zu bändigenden Elemente 
nach immer abnehmenden Strafen immer wieder gegen die 
menschliche Gesellschaft losgelassen werden. So kann und muß 
es auch den gültigen Bestimmungen und einschlägigen Gesetzen 
gemäß geschehen, daß ein Zufallsverbrechen wegen seiner 
schweren Einzelfolge ungleich schwerer bestraft wird als die 
wiederholte kleinkalibrige Missetat eines Degenerierten. Und 
doch kann kein Zweifel bestehen, daß der degenerierte gewalt- 
tätige Zuhälter, Trinker, Einbrecher oder Taschendieb, dessen 
. antisoziale Betätigung mit Bestimmtheit sich immer wiederholt, 
weitaus gefährlicher für die soziale Gemeinschaft ist als der- 
jenige, der infolge besonderer Umstände oder ausnahmsweiser 
Stimmungslage ein schweres Verbrechen begeht, das sich aber 
bei demselben Individuum kaum je wiederholen wird. Wohl 
sehen wir vielversprechende Anläufe in der Entwicklung der 
Strafrechtspflege, welche unter Berücksichtigung der Tat- 
umstände den tatsächlichen Verhältnissen insofern Rechnung 
tragen, als sie die Härte der Strafe zu mildern bereit ist, wenn 
die Gemeingefährlichkeit nicht erwiesen ist. Aber die erhöhte 
Gemeingefährlichkeit der Minderwertigen hat noch keine ge- 
nügende Beachtung gefunden und die bestehenden sozialen 
Einrichtungen erwiesen sich ihnen gegenüber als völlig unzu- 
reichend. 

Die Ursache dieser Situation liegt nicht in unserer erkennt- 
nistheoretischen Lücke über das Wesen der Willensfreiheit, — 
eine Lücke, die vielleicht niemals ausgefüllt wird. Denn un- 
geachtet derselben wird man immer Rechtsentscheidungen 
treffen müssen. Die menschliche Gesellschaft kann eben die 
endgültige Entscheidung der theoretischen Frage nicht ab- 
warten und die Entscheidungen in den täglichen Ereignissen 


oi 


r pi 
' 


ye 


=. O ze 


des Lebens nicht ad calendas graecas hinausschieben. Die 


Ursache liegt vielmehr in der Rückständigkeit der sozialen 
Administration. : Unsere gesellschaftlichen Einrichtungen stehen 
im Wesen eben auch heute noch dort, wo sie vor langen 
Zeiten standen. Den Missetätern gegenüber steht ihr auch 
heute noch die rächende Strafe als einzige Waffe zu Gebote. 
Sie kommt auch heute,..ebenso wie früher gerade um die Straftat 
zu spät, anstatt sie zu verhindern. Die wirkliche Aufgabe 
einer brauchbaren Gesellschaftsmaßregel müßte aber sicherlich 
die Verhütung, die Prävention antisozialer Handlungen sein. 
Die nachträgliche Bestrafung kommt wie der Mantel nach dem 
Ungewitter — zu spät. Es kann der sozialen Gemeinschaft im 
ganzen und jedem einzelnen Mitgliede derselben im Grunde 
sehr gleichgültig sein, wie schwer oder wie leicht die Strafe 
ausfällt, die demjenigen zugemessen wird, der das ruhige Zu- 
sammenleben und die friedliche Arbeit gestört hat. Die Strafe 
befriedigt höchstens das Rachegefühl des einzelnen, das in den 
sozialen Verfügungen aber keinen Platz haben darf und soll. 
Für die Gesamtheit kann einzig und allein das von Wichtigkeit 
sein, daß durch die Angriffe auf die Sicherheit und Ruhe der 
Individuen ihr eigener Bestand nicht gefährdet werde. Nur 
wenn sie die unter ihrem Gesetzesschutze stehenden Einzelnen 
vor Schädigung bewahrt, entspricht sie voll und ganz ihren 
übernommenen Verpflichtungen. Das aber vermag sie mit Er- 
folg nur gegenüber denjenigen Elementen, von welchen eben 
die Rede war. Nur bei den Individuen, deren körperlicher 
und psychischer Habitus deutlich die Merkmale antisozialer 
Veranlagung erkennen lassen, die deshalb zur Einreihung in 
den sozialen Betrieb von vornherein als ungeeignet bezeichnet 
werden müssen und die eine ständige und schwere Bedrohung 
der sozialen Ordnung bilden, — nur bei diesen Elementen 
könnte die Gesetzgebung ihre wirkliche vorbeugende Tätigkeit 
entfalten. Wenn der Staat sorgsam darauf achtet, daß in 
jedem Berufe nur der entsprechend Vorbereitete sich betätige; 
wenn er es verhindert, daß auf juristischem, ärztlichem oder 
irgendeinem anderen Gebiete jemand sich herumtummele, der 
vorher nicht den amtlichen Nachweis seiner Befähigung er- 
brachte; — dann kann es doch nicht utopistisch sein, jene 
9x% 





— 2%) — 


Elemente aus dem sozialen Leben auszuschließen, die auf 
Grund von festzustellenden oder festgestellten Merkmalen als 
unfähig erkannt wurden, ein soziales Leben zu führen. 

Bei einer solchen Feststellung fände eine Meinungsäußerung 
über das Maß der Einschränkung der freien Willensentschließung 
keinen Platz, denn sie müßte nicht auf Grund schon erwiesener 
Gemeingefährlichkeit erfolgen, wie das in der heutigen Rechts- 
praxis in Übung ist. Die psychiatrische Begutachtung solcher 
Übergangszustände würde sich dann wirklich nur aus den Zu- 
ständen selbst ergeben und würde keinen Zusammenhang mit 
den richterlichen Erkenntnissen haben. Dadurch wäre die ärzt- 
liche Begutachtung viel unabhängiger und weniger voreinge- 
nommen. Die psychiatrische Feststellung eines verminderten 
freien Willens nach Begehung einer oder mehrerer antisozialer 
Handlungen ohne ausgesprochene Geistesstörung steht immer 
unter dem Verdachte der Konnivenz einseitiger fachwissen- 
schaftlicher Voreingenommenheit. Denn genau besehen, ist für 
den ehrlichen Menschen jede Straftat nur bei fehlerhafter 
Willenstätigkeit und herabgesetztem Verantwortlichkeitsgefühl 
denkbar. Die strafbare Handlung hat aber weder die Auf- 
hebung der freien Willensentschließung noch deren krankhafte 
Einschränkung zur alleinigen Voraussetzung. Und die psychi- 
atrische Entscheidung der Frage, ob jemand für das soziale 
Leben und Zusammenwirken organisch tauglich ist, oder ob er 
infolge seiner Veranlagung, seines Entwicklungsganges und 
seines psychischen Habitus für ein solches unbrauchbar ist, 
muß nicht notwendigerweise von einer verbrecherischen Hand- 
lung ausgehen. Dazu genügt vollständig eine geübte, fach- 
kundige ärztliche Untersuchung. 

Man wird allerdings, etwas erschreckt über den Radikalis- 
mus, die asoziablen nicht ausgesprochen geisteskranken Ele- 
mente aus dem Leben der Gesellschaft auszuschalten, fragen, 
nach welchem Modus das geschehen solle? Unter dem Drucke 
der bestehenden sozialen Verfügungen wird man natürlich an. 
das Strafsystem denken, und eine Strafhaft von unbeschränkter 
Dauer auf Grundlage eines ärztlichen Gutachtens gegen Indivi- 
duen ohne verbrecherische Antezedentien oder mit solchen ohne 
größere Bedeutung wird als barbarisch und als unzulässige Ge- 


— 1 — 


fährdung der persönlichen Freiheit angesprochen werden. Das 
wäre es in der Tat, wenn es sich um eine Strafverfügung der 
menschlichen Gesellschaft handeln würde und nicht um einen 
Schutz, der in gleicher Weise der Gesellschaft und dem be- 
treffenden Individuum zuteil würde. Selbstverständlich dürfte 
eine solche Ausschaltung weder den Charakter der Ahndung 
noch den diffamierenden Beigeschmack der Strafverfügung an 
sich tragen. Die Versorgung solcher Individuen würde eine 
neue gesellschaftliche Institution erfordern, ähnlich denjenigen, 
welchen andere erwerbsunfähige, invalide Menschen unter allge- 
meiner Anerkennungdersozialen Fürsorgepflichtzugeführtwerden. 

Der Umstand, daß diese geistigen Minderwertigkeiten, von 
welchen hier die Rede ist, wahrscheinlich mit diesen Ver- 
figungen nicht einverstanden wären, kann wohl nicht gegen 
dieselben geltend gemacht werden. Die menschliche Gesell- 
schaft trägt keinerlei Bedenken gegen die dauernde Internierung 
von Paranoikern, obwohl nicht viele derselben mit dieser Für- 
sorge einverstanden sind und die sich ebenfalls auf ihr persön- 
liches Freiheitsrecht berufen.” Das Recht auf persönliche Frei- 
heit als Schlagwort will nicht viel heißen. Wir haben gesehen, 
wie enge Grenzen demselben auf Schritt und Tritt gezogen 
werden und wie wenig geneigt die menschliche Gesellschaft 
. ist, dem Individuum zu gestatten, sich frei auszuleben. Sollte 
dieses Recht gerade nur denjenigen eingeräumt werden, die die sog. 
Freiheit des Willens niemals richtig gebrauchen können? Sollten 
gerade nur jene diese Freiheit betätigen können, die von ihr 
den gemeinschädlichsten Gebrauch machen? Wäre das vom 
Standpunkte eines friedlich arbeitenden Gemeinwesens statt- 
haft? Die falsche Humanität von seiten derjenigen Gesellschaft, 
die die Greuel des Krieges als eines notwendigen Verteidigungs- 
mittels für menschlich zulässig anerkennt, ist übel angebracht. 
Die Unaufrichtigkeit steht ihr auf die Stirn geschrieben. Die 
Freiheit der Person ist zu gefährlich im Besitze solcher Indi- 
viduen, die von ihr keinen rechten Gebrauch zu machen ver- 
stehen. Sie darf als Schlagwort nicht dazu benutzt werden, 
um die Waffen der sozialen Verteidigung gegen völlig unver- 
antwortliche oder nur in beschränktem Maße verantwortliche 
Marodeure stumpf zu machen. 


— 29 — 


Endlich aber wäre ja eine auf Grund eines fachärztlichen 
Gutachtens ausgeführte Ausschaltung eines antisozialen, ab- 
norm veranlagten Individuums aus dem Gesellschaftskörper, 
und seine Unterbringung in entsprechend eingerichtete Ver- 
sorgung, selbst wenn diese zwangsweise Versorgung ohne zeit- 
liche Begrenzung angeordnet wird, noch lange kein vollzogenes 
Todesurteil. Sie wäre gewiß nicht irreparabler wie irgendein 
Justizirrtum, wenn wir auch die. Möglichkeit von Irrtümern der 
ärztlichen Untersuchung ohne weiteres zugeben. Solche Irrtümer 
wären auch keineswegs für das Gemeinwohl von so schwer- 
wiegender Bedeutung und für die psychiatrische Begutachtung 
nicht so kompromittierend, wie es in vielen einschlägigen Fällen 
die widersprechende Rechtspraxis und die fortwährend schwanken- 
den gutachtlichen Äußerungen über verminderte Freiheit der 
Willensentschließung sind. Denn die erklärenden Äußerungen 
des psychiatrischen Sachverständigen über den gesamten soma- 
tischen und psychischen Habitus des Untersuchten wären jeden- 
falls fachgemäßer und von überzeugenderer Eindringlichkeit, 
als es dessen unbeweisbare und subjektive Auslassungen über 
Willensfreiheit und deren Beschränkung sein können. So wie 
auch dem nichts im Wege stände, daß das ausgeschaltete In- 
dividuum während der Dauer seiner Ausschaltung wieder und 
wieder neuerlich untersucht und auf Grund solcher Unter- 
suchungen, und der eingehenden und fortgesetzten Beobachtung 
ın den Ausschaltungsinstituten, bei eventuell eingetretener 
Anderung seines Charakters unter gewissen Kautelen der freien 
Selbstbestimmung zugeführt werden könnte. 


Der Geisteskranke und das Gesetz in Österreich. 
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.*) 


| Von 
Hofrat Dr. Heinrich Obersteiner, k. k. Universitätsprofessor, 


Eine Anzahl von Gesetzentwürfen, respektive Vorentwürfen, 
die entweder ausschließlich oder zum Teil auf Geisteskranke 
und auf das Irrenwesen Bezug nehmen, ist in der letzten Zeit 
von der österreichischen Regierung ausgearbeitet worden, um 
den gesetzgebenden Körperschaften zur Beratung und Beschluß- 
fassung vorgelegt zu werden: das Entmündigungsgesetz, das 
Irrenfürsorgegesetz (Gesetz betreffend die Fürsorge für Geistes- 
kranke) und schließlich das Strafgesetz. 

Es ist vorauszusehen, daß die meisten der darin behandel- 
ten Fragen, die die Stellung der Geisteskranken gegenüber dem 
Gesetze, oder vielleicht besser — des Gesetzes gegenüber den 
Geisteskranken betreffen, lebhaftes Interesse beim Publikum fin- 
den werden, und daß wir, wie es zum Teile schon geschehen ist, 
von berufener und wohl auch unberufener Seite hierüber viel- 
fache Äußerungen, Kritiken, Verbesserungsvorschläge u. a. er- 
warten dürfen. | 

An erster Stelle ist hier wohl die Stimme des österreichi- 
schen Irrenärztetages zu hören, zu dem durch den Wiener 
Verein für Psychiatrie und Neurologie alljährlich an alle Psy- 
chiater und viele Juristen Österreichs die Einladung ergeht. 
Im Jahre 1907 kam dort das Referat von Hofrat v. Wagner- 
Jauregg über den die Zurechnungsunfähigkeit betreffenden 
Paragraphen im österreichischen Strafgesetzentwurf zur Be- 
ratung, 1908 das Referat von Dr. v. Sölder über das Ent- 
mündigungsgesetz. Ferner ist eben jetzt die Österreichische 


*) Abdruck aus der „Österr. Rundschau“, 26. Bd. 


Zr DE es 


kriminalistische Vereinigung in Gemeinschaft mit dem Verein 
für Psychiatrie und Neurologie daran gegangen, jene Para- 
graphen des Vorentwurfes zu einem österreichischen Straige- 
setze, die auch in das Gebiet des Psychiaters fällen, oder 
es wenigstens berühren, einer eingehenden Besprechung zu 
unterziehen, so z. B. wieder die Zurechnungsunfähigkeit, die 
gefährlichen Geisteskranken und die entsprechenden Maßregeln, 
die Trunkenheit- und Affektdelikte, Sexualdelikte u. a.*) Auch 
der psychiatrische Verband beabsichtigt, sich mit diesen Fragen, 
besonders mit dem Irrenfürsorgegesetz zu befassen. Ich möchte 
es nicht unterlassen, an dieser Stelle auf die wertvolle Arbeit 
von Dr. jur. S. Türkel hinzuweisen, welche das Materiale zur 
Vorgeschichte der jüngsten Irrengesetzentwürfe in großer Voll- 
ständigkeit enthält (Die Reform des österreichischen Irrenrech- 
tes, Wien 1907), sowie auf den sehr beherzigenswerten, auch 
von einem hervorragenden Juristen Dr. Nechansky verfaßten 
Artikel im 17. Bande der „Österr. Rundschau“, der das Entmündi- 
gungsgesetz einer sachgemäßen und zutreffenden Kritik unterzog. 


Ein jedes Gesetz im weitesten Sinne des Wortes ist ein - 
starrer, unverrückbarer Körper, von dem man nichts wegnehmen, 
dem man nichts zufügen darf. Dies gilt in erster Linie von 
den Naturgesetzen; das Gesetz der Erhaltung der Kraft, der 
Brechung des Lichtes, der Schwere — sie gelten heute ebenso 
wie vor Tausenden von Jahren, lange bevor man sie überhaupt 
kannte. Von dem Augenblicke aber, als ihre Unrichtigkeit 
nachgewiesen würde, hören sie auf Naturgesetze zu sein. 
Anders verhält es sich mit den Gesetzen, die sich der Mensch 
selbst macht bei ihrer Willkürlichkeit und Wandelbarkeit, 
mit den Gesetzen der Sitte, der Sittlichkeit und vor allem 


auch mit den eigentlichen Rechtsgesetzen. Jeder Fortschritt 


in der geistigen und materiellen Kultur, der Technik der Wissen- 
schaft, der sozialen, politischen Verhältnisse und Auffassungen 
kann gewisse Änderungen an diesen Gesetzen notwendig er- 
scheinen lassen, Änderungen, die nur höchst schwerfällig und 
langsam zu erreichen sind; dies gilt in erster Linie von den 


*, In Deutschland wird sich der Deutsche Verein für Psychiatrie in 
diesem Jahremit derDiskussion über den deutschen Strafgesetzentwurfbefassen. 


z O — 


Rechtsgesetzen, wenn auch theoretisch ein Federstrich des Ge- 
setzgebers sie umstoßen kann. So recht populäre und bekannte 


Beispiele sind die juristischen Schwierigkeiten, welche sich be- 
züglich der widerrechtlichen Aneignung von Elektrizität ergeben 


haben, die rasch aufblühende Aviatik wird den politischen Be- 
hörden, der Finanzverwaltung u. a. manche Verlegenheiten be- 
reiten und es hat auch bereits vor kurzem in Paris eine inter- 
nationale Konferenz in Luftrechtssachen getagt. 

In gleicher Weise haben uns auch die in den letzten Jahr- 
zehnten gewonnenen tieferen Einblicke in das richtige Ver- 
ständnis der Psychosen ganz neue Gesichtspunkte für die Auf- 
fassung der geistigen Störungen gegenüber dem Gesetze geliefert. 

‚Jeder Tag kann etwas Neues bringen, das direkt oder 
indirekt die Gesetzgebung berührt; die menschlichen Gesetze 
veralten mit einer höchst unbequemen Raschheit, schneller als 
viele technische Errungenschaften; die ausrangierten Kriegs- 
schiffe kann man allenfalls an die Türkei verkaufen, mit dem 
Buchstäben der unbrauchbar gewordenen Gesetzesparagraphen 
muß aber der Jurist, oder wer sonst damit zu tun hat, schlecht 
und recht, so gut es eben gehen mag, auszukommen trachten. 
Kaum neun Jahre nach dem Inkrafttreten des jetzt geltenden 
Strafgesetzes vom 27. Mai 1852 ordnete eine allerhöchste Ent- 
schließung vom 16. Februar 1861 die Ausarbeitung eines neuen 
Strafgesetzes an, eine Reihe neuer Entwürfe wurde seitdem von 
ganz ausgezeichneten Juristen (Hye, Glaser, Prazak, Schönborn 
und späteren) ausgearbeitet bis zu dem letzten vom September 
1909, dessen Motivenbericht erst vor wenigen Monaten heraus- 
gekommen ist und der binnen kurzem im Abgeordnetenhaus zur 


Beratung gelangen soll. Auch in Deutschland liegen bereits 


Vorentwürfe zu einem neuen Strafgesetzbuche und einer neuen 
Strafprozeßordnung vor, jenes ist seit 1870, dieses seit 1879 
in Kraft. 

Wenn wir die eingangs erwähnten neuen Gesetzentwürfe 
unseres Landes vor uns liegen haben, so wird es sich ohne 
weiteres ergeben, daß es vollkommen ausgeschlossen erscheint, 
auch nur einen geringen Bruchteil jener darin enthaltenen Be- 


stimmungen, die eine Beziehung zu den Geisteskranken auf- 


weisen, einer eingehenden kritischen Besprechung zu unter- 


u s e a 


ziehen. Ich möchte mich daher lieber darauf beschränken, 
einige Punkte hervorzuheben, die den geltenden Gesetzen, Vor- 
‘schriften und den jetzt gehandhabten Strafprozeßordnungen 
(zivil und militärisch) in dieser Beziehung entsprechen, und 
dabei die Blicke auch nach rückwärts und nach vorwärts 
richten. Ich werde mich also weder an die Juristen noch an 
die Psychiater wenden, denen ich damit nur Bekanntes sagen 
würde, sondern möchte vielmehr nur dem der Sache Ferner- 
stehenden einen klareren Einblick in gewisse Verhältnisse 


schaffen, die sich vielfach und immer wieder — wohl meist 
aus Unkenntnis — eine ganz irrige Auffassung gefallen lassen 
müssen. 


| So oft und mit so viel Energie ist aus dem Publikum der 
dringende Ruf nach einem Irrengesetze laut geworden, daß es 
sich wohl verlohnt,. auf diesen Punkt näher einzugehen. Ein 
vollkommenes Irrengesetz sollte alle Fragen behandeln, die die 
Beziehungen des Gesetzgebers zu den Geisteskranken betreffen. 
Es ist begreiflich, daß gar vieles davon in das Bereich des 
bürgerlichen Gesetzbuches, des Strafgesetzes und der Straf- 
prozeßordnung fällt, was von dort schwer eliminiert werden 
kann, und dafür auch bereits vom geltenden Rechte vorgesehen 
ist (Zurechnungsfähigkeit, Entmündigung, Begutachtung u. a.), 
man kann also durchaus nicht behaupten, daß wir in Österreich 
keine Gesetze für die Irren haben, wenn auch kein eigent- 
liches zusammenfassendes Irrengesetz; dazu kommen noch die . 
verschiedenen auf dem Verordnungswege erlassenen Vorschriften, 
die gewissermaßen eine Vervollständigung der betreffenden 
Gesetze darstellen. 

Man gewinnt aber den Eindruck, daß das Publikum unter 
einem Irrengesetze etwas ganz anderes versteht als die Irren- 
ärzte, die ja selbst am besten manche unleugbare, schwere 
Mängel der bestehenden Gesetze und Vorschriften kennen und 
wiederholt eine Reform des Irrenwesens, soweit es die Gesetz- 
gebung angeht, angeregt und verlangt haben. Für die Laien 
aber handelt es sich — so scheint es — immer wieder ledig- 
lich oder doch weitaus in erster Linie um die Furcht vor 
einer unberechtigten Internierung eines Geistesgesunden in einer 
Irrenanstalt; für sie sind auch die Irrenanstalten immer noch 


= BT u 


lediglich Detentionsanstalten voll Gräuel und Schrecken, nicht 
aber Krankenhäuser, die zur Heilung und Pflege einer bestimm- 
ten Gruppe von Gehirnkranken bestimmt sind. 

Die jetzt geltenden Vorschriften zur Unterbringung eines 
Geisteskranken in eine Irrenanstalt basieren auf der Verord- 
nung des Ministeriums des Inneren im Einvernehmen mit dem 
Justizministerium vom 14. Mai 1874. Da ja gerade die Angst 
vor den Privatanstalten besonders lebhaft ist, will ich mich 
auf die Bestimmungen beschränken. die die Aufnahme in eine 
solche betreffen. | 

Bis dahin genügte die Beibringung eines ärztlichen Zeug- 
nisses; Kranke, welche nicht ein Zeugnis mitbrachten, das von 
einem zur Praxis in den k. k. österreichischen Staaten berech- 
tigten Arzte ausgestellt war, mußten (in Wien) von dem Stadt- 
physikus untersucht werden, welcher das notwendige Zeugnis 
auszustellen hatte. 

In der Verordnung vom Jahre 1874 heißt es nun: 

„$ 8. Die Aufnahme eines Kranken in eine solche An- 
stalt darf nur auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses stattfinden, 
worin die vorhandene Gemüts- oder Geistesstörung bestätigt 
wird. Das Zeugnis muß vom Bezirks- oder Gemeindearzte des 
Aufenthaltsortes des Kranken ausgestellt oder, wenn es von 
einem anderen Arzte ausgestellt ist, vom Bezirks- oder Gemeinde- 
arzte bestätigt und nicht länger als 14 Tage vor dem Ansuchen 
. um Aufnahme ausgefertigt sein. Kranke, welche die Sicherheits- 
behörde wegen Gemeingefährlichkeit in eine Privatirrenanstalt 
abzugeben sich veranlaßt findet, sind auf Grund eines Zeug- 
nisses aufzunehmen, welches von dem dieser Behörde zur Ver- 
fügung stehenden Öffentlichen Arzt ausgestellt wird. 

x 9. Der leitende Arzt hat von der erfolgten Aufnahme eines 
Kranken binnen 24 Stunden dem Gerichtshofe erster Instanz, 
ın dessen Sprengel die Anstalt gelegen ist, die Anzeige mit dem 
Ersuchen um Empfangsbestätigung zu machen.“ 

Da sich sehr bald ergab, daß diese Verordnungen vielfach 
unvollständig waren und deren exakte Durchführung häufig nicht 
möglich war, erließ das Ministerium des Innern im Einvernehmen 
mit dem Justizministerium am 4. Juli 1878 Zusatzverordnungen 
zu dem eben angeführten Paragraphen. 


„Bei Militärpersonen genügt ein von einem k. u. k. Militär- 
arzte im Dienstwege ausgestelltes Zeugnis und bei Personen, 
die aus einer österreichischen öffentlichen Kranken- oder Irren- 
anstalt in eine Privatirrenanstalt übertreten, das zum Zweck 
der Aufnahme in die letztere ausgefertigte Zeugnis der betreffen- 
den Direktion. In Fällen, in welchen es sich um die sofortige 
Unterbringung eines Geisteskranken in die Anstalt wegen Ge- 
meingefährlichkeit handelt und ein vorschriftsmäßig ausgefertig- 
tes Zeugnis nicht mit der nötigen Schnelligkeit beschafft werden 
konnte oder wenn der Kranke aus dem Auslande kommt, und 
ein von einem Öffentlichen Arzte ausgestelltes, behördlich beglau- 
bigtes Zeugnis nicht beigebracht wird, ist es dem leitenden 
Arzte unter seiner Verantwortung zwar gestattet, den Geistes- 
kranken provisorisch aufzunehmen, doch hat er der politischen 
Behörde, welcher die Anstalt untersteht, längstens binnen 24 
Stunden hiervon die Anzeige zu machen, damit die Zulässigkeit 
des weiteren Verbleibens der betreffenden Person im Wege einer 
amtsärztlichen Untersuchung konstatiert werde. 

Bei Erstattung der Anzeige sind jene Umstände anzugeben, 
welche der Beibringung des vorgeschriebenen ärztlichen Zeug- 
nisses entgegenstanden und die den leitenden Arzt zur soforti- 
gen Aufnahme des Kranken bestimmten. | 

Kranke, welche die Sicherheitsbehörde wegen Gemein- 
gefährlichkeit in eine Privatanstalt abzugeben sich veranlaßt 
findet, sind auf Grund eines Zeugnisses aufzunehmen, welches 
von dem dieser Behörde zur Verfügung stehenden öffentlichen 
Arzte ausgestellt wurde “ i 

In der Praxis verhält sich also die Aufnahme kurz so, 
daß der aufzunehmende Kranke entweder bereits von einem 
unter Eid stehenden Amtsarzte untersucht und für geisteskrank 
erklärt worden ist, oder aber, daß der leitende Arzt zunächst die 
Verantwortung der Retention auf sich nimmt, bis der alsbald 
verständigte Amtsarzt (in Wien der Stadtphysikus) nach erfolgter 
Untersuchung des Aufgenommenen und Konstatierung der 
Geisteskrankheit die Aufnahme für gerechtfertigt erklärt und 
diese Erklärung zu Protokoll gebracht hat. Selbstverständlich 
müßte in dem Falle, als der Amtsarzt den Eindruck gewänne, 
daß es sich um einen widerrechtlich zurückgehaltenen Geistes- 


= 29 — 


gesunden handelt, dieser nicht bloß augenblicklich wieder in 
Freiheit gesetzt werden, sondern es würden sich für den An- 
staltsleiter die unangenehmsten Konsequenzen ergeben. Aber 
selbst angenommen, Anstaltsleiter und Amtsarzt wären der 
gleichen verbrecherischen Gesinnung und von den Angehörigen 
des angeblich Geisteskranken bestochen, so würde doch die 
nach einiger Zeit erscheinende gerichtsärztliche Kommission (jetzt 
ein Gerichtsbeamter und zwei sachverständige Gerichtspsychiater) 
das ganze Komplott aufdecken und dem Anstaltsleiter wie dem 
Amtsarzte gleich unangenehm werden. Wie hoch müßte die 
Bestechungssumme sein, damit ein Anstaltsleiter sich dazu her- 
gibt, einen Geistesgesunden zu internieren, wo ja mit vollster 
Sicherheit zu erwarten ist, daB dies raschestens aufkommt und 
jener damit nicht nur seine ganze Existenz ruiniert, sondern 
auch noch einer gerichtlichen Bestrafung entgegensehen muß? 
Und schließlich warum sollen denn gerade bei den Irrenärzten 
derartige verbrecherische Neigungen zum Ausdrucke kommen, 
bei einem Stande, dessen schwerer und verantwortungsvoller 
Beruf die größten Anforderungen an die humanitäre, menschen- 
ireundliche Gesinnung seiner Vertreter stellt? | 

Und wenn immer und immer wieder die Angst vor einer 
solchen widerrechtlichen Internierung durchklingt, trotzdem in 
Österreich kein einziger Fall einer solchen bekannt ist, so be- 
denkt das Publikum anderseits nicht, daß wiederhölt durch 
einen amtlichen Irrtum jemand in polizeilichen Gewahrsam 
gebracht wurde, daß nicht selten nach kürzerer oder längerer 
Untersuchungshaft die Untersuchung eingestellt wird, weil sich 
die Unschuld des Häftlings herausgestellt hat — aber auch 
schwerere Rechtsirrtümer sind unvermeidlicherweise vorge- 
kommen, die einem Unschuldigen viele Jahre seiner Freiheit, 
vielleicht auch sein Leben geraubt haben. Und dabei dürfte 
doch auch der Aufenthalt in einer mit allen Bequemlichkeiten 
ausgestatteten Irrenanstalt weniger peinlich sein als der in 
einer Kerkerzelle. 

Der noch in einem Frühstadium der Entwicklung befind- 
liche neue Gesetzentwurf, die Fürsorge für Geisteskranke be- 
treffend, enthält übrigens auch eine Bestimmung, nach welcher 
die Aufnahme provisorisch stattfinden kann (§ 19, 4): 


om 


— 30 — 


„durch Verfügung des leitenden Arztes im Falle dringen- 
der Gefahr und offenbarer Geisteskrankheit insbesondere bei 
gemeingefährlichen Krankheitsausbrüchen zugereister Personen 
auf Verkehrsanstalten, öffentlichen Verkehrswegen u. dgl. 


In dem sub 4 bezeichneten Falle ist jedoch von der An- 
stalt der politischen Behörde erster Jnstanz ihres Sitzes un- 
verzüglich . . . die Anzeige zu erstatten. Die politische 
Behörde fällt hierüber*) auf Grund amtsärztlicher Erhebung 
den im $ 14 vorgesehenen Ausspruch oder verfügt die Entlas- 
sung des Angehaltenen. Im letzteren Falle steht der Anstalt 
binnen 8 Tagen nach der Verständigung der Rekurs an die 
politische Landesbehörde offen. Dieser Rekurs hat aufschie- 
bende Wirkung.“ 


Es muß unbedingt die Möglichkeit offen gelassen bleiben, 
die Aufnahme, dort wo Gefahr im Verzuge ist, auch ohne lang- 
wierige und komplizierte Formalitäten, wie sie von manchen 
besonders ängstlichen Gemütern für alle Fälle verlangt werden, 
durchzuführen; oft, und doch nicht oft genug hat man es ver- 
sucht, das Publikum darauf aufmerksam zu machen, wie häufig 
Geisteskranke über sich selber und über ihre Umgebung Un- 
glück brachten, weil man es unterließ, sie und die andern recht- 
zeitig vor ihnen zu schützen. Es genügt die Tagesblätter durch- 
zusehen, um binnen kurzem ein erschreckend reiches Material 
zur Bekräftigung dieser Tatsache zusammenzustellen, und doch 
gelangt nur ein kleiner Bruchteil davon in die Öffentlichkeit, 
am wenigsten z. B. solche Fälle, in denen ein Geisteskranker 
in unsinniger Weise sein Vermögen vertut und. damit seine 
Familie zugrunde richtet und ähnliches. Vor mir liegt eine 
Nummer des „Neuen Wiener Tagblattes“ vom 30. Juli v. J.; 
da finde ich auf einer und derselben Seite die Nachricht aus 
Köln, daß eine Frau im Wahnsinne sich, ihre Tochter und drei 
Enkelkinder erdrosselte, und gleich danach den Bericht aus 
Frankfurt a. M., daß ein geisteskranker Trinker seine Frau 
ermordete und sich hierauf mit Petroleum verbrannte. 


Der Motivenbericht zum Entwurf eines Entmündigungs- 
gesetzes anerkennt daher auch die Notwendigkeit einer Rege- 


*) Internierungsberechtigung. 


lung jener Fragen, die sich auf die Behandlung von Personen, 
die im geisteskranken Zustand Verbrechen begehen, die Behand- 
lung von geistig minderwertigen und irrsinnigen Verbrechern, 
die Beschaffenheit der Anstalten, die zur Aufnahme solcher 
Geisteskranker dienen sollen, und auf Entlassung solcher Per- 
sonen in geheiltem oder ungeheiltem Zustande beziehen; es 
sind dies durchwegs Fragen, die den Schutz der Gesellschaft 
gegen Angriffe gemeingefährlicher, geisteskranker Individuen 
betreffen, die aber nur im Zusammenhang mit einer Reform 
des Strafrechtes und des Strafvollzuges zutreffend gelöst werden 
können. Gerade diesem dringenden Bedürfnisse trägt aber das 
geltende Recht in Österreich, wie in manchen andern Staaten: 


. keine Rechnung. 


Es muß daher als ein sehr erfreulicher Fortschritt bezeich- 
net werden, wenn der vorliegende Strafgesetzentwurf in dieser 
Beziehung Abhilfe zu bringen versucht. 


„Ss 36. Ein Geisteskranker oder Trunksüchtiger, der eine 
strenger als mit 6 Monaten Freiheitsstrafe bedrohte Tat began- 
gen hat und wegen Zurechnungsunfähigkeit*) zur Zeit der Tat 
nicht verfolgt oder nicht verurteilt werden kann, wird an eine 
staatliche Anstalt für verbrecherische Irre abgegeben, wenn 
er wegen seines kranken Geisteszustandes und mit Rücksicht 
auf seinen Lebenswandel und die Eigenart seiner Tat als be- 
sonders gefährlich für die Sittlichkeit oder für die Sicherheit 
der Person oder des Vermögens (gemeingefährlich) anzusehen ist. 


Der Kranke bleibt in der Anstalt, so lange seine Gemein- 
gefährlichkeit dauert. Die Entlassung kann endgültig oder auf 
Widerruf erfolgen. 


$ 37. Der zur Freiheitsstrafe verurteilte Täter eines Ver- 
brechens oder eines mit einer 6 Monate übersteigenden Frei- 
heitsstrafe bedrohten Vergehens, dessen Fähigkeit, das Unrecht 
seiner Tat einzusehen, oder seinen Willen dieser Einsicht ge- 
mäß zu bestimmen, zur Zeit der Tat infolge eines krankhaften 


*) Der neue Entwurf spricht durchwegs von „Zurechnungsunfähigkeit*“, 
während bisher der sprachlich unrichtige Ausdruck „Unzurechnungsfähigkeit“ 
im Gebrauche war. Man sagt ja auch nicht „unleistungsfähig“, „unmilitär- 
tauglich“ u. a. 


— 380. — 


Zustandes wesentlich vermindert war, kann nach dem Vollzuge 
der Strafe weiterhin verwahrt werden, wenn er wegen seines 
Zustandes und mit Rücksicht auf seinen Lebenswandel und 
die Eigenart seiner Tat als gemeingefährlich anzusehen ist. 

Das Gericht spricht die Zulässigkeit der Verwahrung im 
Urteil aus und ordnet sodann auf Grund der Ergebnisse des 
Strafvollzuges an, daß der Sträfling in einer besonderen Abtei- 
lung der im § 36. bezeichneten Anstalt zu verwahren sei, 
wenn seine Gemeingefährlichkeit nicht behoben ist. 

Die Entlassung kann endgültig oder auf Widerruf erfolgen.“ 

Der ungemein gründliche und vielseitig belehrende Motiven- 
bericht zum Strafgesetze führt mit Bezug auf diese beiden Para- 
graphe aus, daß der tatsächliche Zustand als ein höchst unbe- 
friedigender zu bezeichnen ist, und bemerkt ferner, daß die 
Aufnahme gemeingefährlicher Geisteskranker und speziell solcher, 
die eine mit schwerer Strafe bedrohte Tat begangen haben, in 
einer Irrenanstalt zu einer Reihe schwerer Mißstände und Un- 
zukömmlichkeiten führen muß. Manche Irrenanstalten haben 
sich daher auch geradezu geweigert, solche Personen aufzu- 
nehmen. Ebenso begegnet es, wie der Bericht weiter bemerkt, 
den größten Schwierigkeiten, sie dort dauernd anzuhalten; häufig 
werden sie bereits nach kurzer Zeit als geheilt oder gebessert 
entlassen, obwohl mit Sicherheit anzunehmen ist, daß sie bald 
wieder in den gefährlichen Zustand verfallen. 

Ich möchte noch hinzufügen, daß solche entlassene Sträf- 
linge oder Geisteskranke nicht selten als sicheres Amulett ein 
Zeugnis der betreffenden Irrenanstalt bei sich tragen, in welchem 
ihnen der frühere Anstaltsaufenthalt offiziell bestätigt wird. Mit 
einem solchen nützlichen Papier in der Tasche beginnen sie 
alsbald wieder ihre gefährliche Tätigkeit und weisen sich ge- 
legentlich der nächsten Verhaftung mit diesem wichtigen 
Dokumente aus, das sie meistens vor der Strafe schützt. 

Bedauerlicherweise fehlen uns aber die Instrumente zum 
Vollzuge der in den §§ 36 und 37 vorgesehenen Sicherungs- 
mittel und werden auch schon mit Rücksicht auf die großen 
Kosten nicht so leicht zu schaffen sein. Es besteht auch keine 
Einigung unter den Fachleuten über deren zweckmäßigste Ein- 
richtung. Aschaffenburg tritt in seinen Bemerkungen zum deut- 


BE Bo 


schen Strafgesetzentwurfe sogar entschieden für die Verpflegung 
der geisteskranken Verbrecher in gewöhnlichen Heil- und Pflege- 

anstalten ein. Doch scheint mir dies Vorgehen sowie die von 

bayrischen Irrenärzten (D. Rüdin) propagierten Annexe für® 
geisteskranke Verbrecher an Irrenanstalten weniger empfehlens- 

‘wert als Annexe für Geisteskranke an bestehenden Strafan- 

stalten (selbstverständlich mit fachmännischer ärztlicher Be- 

handlung) oder als die dritte Möglichkeit, die eignen Anstalten 

für verbrecherische Irre. Diese Annexe oder Spezialanstalten 

würden dann auch jene Sträflinge aufzunehmen haben, die 

während des Strafvollzuges geistig erkrankten (die geistes- 

kranken Verbrecher). 


Beim Vergleiche von § 36 und 37 St. G. zeigt es sich, 
daß der neue Entwurf zwischen Zurechnungsunfähigkeit und 
verminderter Zurechnungsfähigkeit unterscheidet, wenn auch 
diesem letzteren Ausdrucke im Texte des Gesetzentwurfes ab- 
sichtlich aus dem Weg gegangen wird. Aus rein dogmatischen 
Gründen wurde von juristischer Seite die verminderte Zurech- 
nungsfähigkeit lange bekämpft. Die Zurechnungsfähigkeit könne 
als juristischer. Begriff nur verneint oder bejaht werden. 
Für den begutachtenden Psychiater erscheint es aber von 
größter Wichtigkeit, daß diese i auch vom Gesetze 
anerkannt werden. 

Überhaupt war es dem sachverständigen Begutachter bis- 
her meistens unmöglich, nach dem wahren Wortlaute des § 2 
des bestehenden Strafgesetzes vorzugehen und zu entscheiden 
oder eigentlich seine Gutachten diesem Paragraphen anzupassen: 

„8 2. Daher wird die Handlung oder Unterlassung nicht 
als Verbrechen zugerechnet: | 

a) wenn der Täter des Gebrauches der Vernunft ganz 
beraubt war, 

b) wenn die Tat bei abwechselnder Sinnesverrückung, 
zur Zeit da die Verrückung dauerte, oder 

c) in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen 
vollen Berauschung, oder in einer anderen Sinnesverwirrung, 
in welcher der Täter sich seiner Handlung nicht bewußt war, 


begangen wurde.“ 
3 


se A ne 


$ 3 des österreichischen Militärstrafgesetzes ist mit dem 
angeführten identisch. 


Vollkommen im Rechte ist v. Wagner, wenn er von einem 


“ „berüchtigten Paragraph 2“ spricht; denn danach müßte die 


Mehrzahl derjenigen, die nach der gegenwärtig und schon lange 
bestehenden Praxis mit allgemeiner Zustimmung als zurech- 
nungsunfähig außer Verfolgung gesetzt wurden, zur Verurtel- 
lung kommen. Des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt 
sind ja nur völlig verblödete Kranke, die in der Regel nicht 
mehr straffällig werden. Hat man sich nun daran gewöhnt, 
vielen, die des Gebrauches der Vernunft nicht ganz beraubt 
sind, die Zurechnungsfähigkeit abzusprechen, so bleibt doch 
noch eine große Anzahl von Beschuldigten übrig, bei denen 
der Begutachter, trotzdem ihm deren geistige Verfassung voll- 
kommen klar verständlich war (so daß der Ausdruck „zweifel- 
hafter Geisteszustand“ eigentlich nicht zutreffend erscheint), 
oder noch mehr der Richter, dem der Psychiater eine völlig er- 
schöpfende Darstellung vom Geisteszustand des Untersuchten 
zur Verfügung stellt, in Verlegenheit kommen mußte, ob er sich 
für Zurechnungsfähigkeit oder -unfähigkeit aussprechen solle, 
die sogenannten Grenzfälle. 


Diesen Übelständen trachtet nun der neue Gesetzentwurf 
abzuhelfen. 


„$ 3. Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Tat wegen 
Geistesstörung, Geistesschwäche oder Bewußtseinsstörung nicht 
die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder 
seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen. 


s4 War die Fähigkeit des Täters, das Unrecht einzu- 
sehen oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen, 
zur Zeit der Tat infolge eines andauernden krankhaften Zu- 
standes vermindert, so ıst an Stelle der Todesstrafe auf lebens- 
länglichen Kerker zu erkennen. Hat der Täter, eine Freiheits- 
strafe verwirkt, deren Vollzug in ihrer regelmäßigen Art seinen 
Zustand verschlimmern würde, so ordnet das Gericht an, daß 
die Strafe nach den der Eigenart dieser Personen angepaßten 
Vorschriften vollzogen werde. Der Vollzug solcher Strafen 
findet in einer besonderen Strafanstalt oder in einer beson- 


- 5 — 


deren Abteilung einer Strafanstalt oder eines (fefangenenhauses 
statt.“ *) 

Um aber von vornherein der Besorgnis entgegenzutreten, 
es könnte durch die Milderung der Strafe bei verminderter 
Zurechnungsfähigkeit der strafrechtliche Schutz erschüttert 
werden, sagt $ 57: 


„Wenn der Täter handelt in einer an Zurechnungsunfähig- 
keit grenzenden Herabsetzung oder Schwäche der Fähigkeit, 
das Unrecht seiner Tat einzusehen oder seinen Willen dieser. 
Einsicht gemäß zu bestimmen, sofern dieser Zustand nicht 
durch verschuldete Trunkenheit hervorgerufen war... . kann 
statt der ausschließlich angedrohten zeitigen Kerkerstrafe auf 
Gefängnis erkannt werden; zeitige Freiheitsstrafen und Geld- 
strafen können bis auf die Hälfte der Untergrenze herabgesetzt 
werden.“ 

Ich will hier nicht auf das vielfach umstrittene Problem 
der verminderten Zurechnungsfähigkeit, respektive geistigen 
Minderwertigkeit näher eingehen. Seit vielen Jahren beschäftigt 
es Juristen und Psychiater und hat auch eine reiche Literatur 
gezeitigt. Wer sich dafür interessiert, der findet Belehrung in 
dem eingangs zitierten Referat von Hofrat v. Wagner, sowie 
in den erläuternden Bemerkungen zum österreichischen Motiven- 
bericht, der überhaupt eine reiche Fülle wertvoller und ein- 
gehender Auseinandersetzungen enthält, welche keineswegs nur 
für den Juristen verständlich sind, sondern zum großen Teil 
jedermann vielfaches Interesse bieten. 


Desgleichen möchte ich daran erinnern, daß, wie ich be- 
reits erwähnte, der Entwurf eines Entmündigungsgesetzes durch 
v: Sölder in seinem Referate am 3. österreichischen Irrenärztetag 
und durch Nechansky in der „Österr. Rundschau“ eine eingehende 
Kritik erfahren hat, so daß ich mich daher kurz fassen kann. 


*) § 3 und 4 des österreichischen Strafgesetzentwurfes entsprechen 
dem $ 63 des deutschen, verdienen aber sicherlich den Vorzug vor diesem, 
was auch von deutschen Psychiatern (Aschaffenburg) anerkannt wird. 
Namentlich sucht der österreichische Entwurf sowohl der naturwissenschaft- 
lichen, deterministischen als auch der indeterministischen Auffassung Rech- 
nung zu tragen, was immerhin als eine dankenswerte Konzession an erstere 
anerkannt werden muß. 

Z% 


2 She 


Am wertvollsten an diesem Entwurfe erscheint mir die Be- 
stimmung, daß die Bestellung eines Beistandes für leichtere 
Fälle von Geistesstörung (beschränkte Entmündigung) vorge- 
sehen ist und daB statt der bisher im österreichischen bürger- 
lichen Gesetzbuche gebräuchlichen odiosen Ausdrücke „Wahn- 
sinn und Blödsinn“ nunmehr die Bezeichnungen Geisteskrank- 
heit oder Geistesschwäche getreten sind. Es findet sich aber 
in dem genannten Entwurfe so manches, mit dem man, meiner 


‚Meinung nach, weniger einverstanden sein kann. So mache 


ich aufmerksam auf die große Kompliziertheit des Verfahrens, 
ferner, auf die Bestimmung, daß ein einziger Sachverständiger, 
der nicht einmal ein erfahrener Psychiater zu sein braucht, zur 
Begutachtung genügt, wodurch selbstverständlich der Wert der 
Gutachten für die Richter wesentlich herabgemindert wird. 

Aber sehr bedenklich erscheint die Einführung von Ver- 
trauensmännern, die sich der Geisteskranke (derselbe, der straf- 
gerichtlich „seinen Willen nicht bestimmen“ kann) selber wählen 
darf, die alle erdenkbaren Rechte, aber außer Verschwiegenheit 
keine Pflichten haben sollen. Sölder bemerkt ganz richtig, daß 
man unter den Vertrauensmännern auch jene wohlbekannten 
Leute wiederfinden werde, die sich schon bisher mit Vorliebe 
zu Anwälten Geisteskranker aufgeworfen haben, um sich an 
deren Vermögen zu bereichern. 

Auch die Heranziehung von Schöffen, Lann chtorn, zum 
Entmündigungssenat dürfte kein glücklicher Einfall sein. Es 
soll durch deren Unbefangenheit die Garantie gegen den Ein- 
fiuß der „Routine“ geboten werden. Mag diese Bestimmung 
auch, wie v. Sölder annimmt, ausschließlich die Berufsrichter 
und nicht die Psychiater treffen, so muß es doch höchst sonder- 
bar und auffällig erscheinen, wenn das Gesetz Kenntnis, Er- 
fahrung (Routine) verabscheut und dafür die Unbefangenheit der 
Ignoranz und der meist damit verbundenen falschen Vorurteile 


setzt. Es wäre vielmehr im Gegenteil gerade ein qualifizierter 


Senat anzustreben, dem eventuell auch ein psychiatrisch ge- 
schulter Arzt angehört, der in der Lage wäre, gegebenenfalls 
den Richtern die notwendigen Aufklärungen zu geben. 

Wenn eine so kompetente Stimme wie die des Hofrates 
Amschl sich überhaupt gegen die Institution der Schöffen bei 


u BR 2e 


der Rechtsprechung scharf äußert, um wieviel mehr gilt dies 
für solche Fälle, in denen spezielle, gründliche Sachkenntnis 
und Erfahrung dringend notwendig sind. „Ein im Richteramt 
erfahrener und altgewordener Mann bekennt gerne, daß das 
Ende seiner Laufbahn noch immer der Anfang seiner Lehrzeit 
ist; ein Schöffe jedoch läßt sich neben ihm auf dem Richter- 
stuhl nieder, gleichgezählt und gleichgewogen. Was der eine 
im Laufe des Lebens mühsam erlernt, was sein Dasein ausge- 
füllt, dem anderen gibts der Herr im Schlaf.“ *) 


| Sollte aber mit dieser Bestimmung im Hintergrund doch 

auch die so gefährliche und gefürchtete „Routine“ der ärzt- 
lichen Fachmänner gemeint sein, so würde dies nahe an eine 
arge Kurpfuscherei heranreichen: Ob die Indikation zu einer 
Blinddarmoperation vorliegt oder ob es sich um einfache Kolik- 
schmerzen handelt, diese Entscheidung wird jeder — auch die 
Väter dieser Bestimmung — lieber dem routinierten Arzte 
überlassen als dem durch keine Fachkenntnisse verdorbenen, 
unbefangenen Geschworenen, sei dieser nun ein Handschuh- 
macher oder selbst ein gelehrter Jurist. Und doch sind die 
Geisteskrankheiten — was heute wohl von keiner Seite mehr 
_ bestritten werden dürfte — nichts anderes als Erkrankungen 
des Gehirns, deren richtige Erkenntnis allerdings oft gründliche 
Sachkenntnis, vieljährige Erfahrung und vielseitiges Studium 
erfordert. Gerade über die unglückliche Einrichtung des Ver- 
'trauensmannes und der Schöffen äußert sich Nechansky ebenso 
scharf als richtig. 


Als erfreulicher Fortschritt muB es begrüßt werden, wenn 
sowohl das Entmündigungsgesetz als auch das Strafgesetz 
(SS 470, 471) weitergehende Maßregeln gegen die Trunksucht 
respektive Trunkenheit sowie gegen den chronischen Morphinis-, 
mus u. dgl. vorsehen. 


„E. G. § 3. Eine Beschränkung der Handlungsfähigkeit 
(beschränkte Entmündigung) einer volljährigen Person kann 


. ferner stattfinden: 


1 RE! 2. wenn sie N von Mißbrauch von Alkohol 


*) Amschl, Der österreichische Strafgesetzentwurf. H. Groß’ Archiv, 
Bd. 37. 


ee De 
(Trunksucht) oder von Nervengiften sich oder ihre Familie der 
Gefahr des Notstandes preisgibt oder die Sicherheit anderer 
gefährdet oder eines Beistandes zur gehörigen Besorgung ihrer 
Angelegenheiten bedarf. 

Str. G. $ 470. Wer im Zustand der Trunkenheit eine 
Verrichtung vornimmt, die, ohne besondere Umsicht oder Vor- 
sorge vorgenommen, geeignet ist, eine Gefahr für das Leben, 
den Körper oder die Gesundheit eines anderen herbeizuführen, 
wird mit Gefängnis oder Haft bis zu 6 Wochen oder mit Geld- 
strafe bis zu 500 K bestraft. | 

$ 471. Wer im Zustande offenbarer Trunkenheit durch 
sein Verhalten an öffentlichen Orten Ärgernis erregt, wird mit 
Gefängnis oder Haft bis zu vier Wochen oder mit Geldstrafe 
bis zu 300 K bestraft, wenn er dem Trunke ergeben ist.“ 

Schließlich möchte ich die Technik eines strafprozeßlichen 
Vorganges erörtern — der Erstattung von psychiatrischen 
Fakultätsgutachten —, wie sie in Wien üblich ist, und zwar 
aus zwei Gründen. Erstens ist diese Technik, soviel ich weiß, 
dem großen Publikum, das so häufig Gelegenheit hat, das Wort 
„Fakultätsgutachten“ zu lesen, aber auch den Richtern, die 
damit zu tun haben, fast gar nicht bekannt, anderseits wurden 
— besonders früher — diese Fakultätsgutachten, trotz der 
hohen Bedeutung, die ihnen das Justizministerium für die 
Strafrechtspflege beimißt (Justizministerialerlaß vom 18. Mai 
1874, Z. 6488), gerade von manchen Richtern recht abfällıg 
beurteilt und den Fakultäten einseitige Voreingenommenheit, 
Oberflächlichkeit u. a. vorgeworfen, so daß es wohl am Platze 
erscheint, hier etwas näher darauf einzugehen. 

Im Anschlusse an die Bestimmungen der Strafprozeßord- 
nung vom Jahre 1873 über die Abgabe von Sachverständigen- 
gutachten heißt es: 

„$ 126. Ergeben sich solche Widersprüche oder Mängel 
in bezug auf das Gutachten oder zeigt sich, daß es Schlüsse 
enthält, welche aus den angegebenen Vordersätzen nicht folge- 
richtig gezogen sind, und lassen sich die Bedenken nicht durch 
eine nochmalige Vernehmung der Sachverständigen beseitigen, 
so ist das Gutachten eines anderen oder mehrerer anderer 
Sachverständigen einzuholen. 


39 — 


Sind die Sachverständigen Ärzte oder Chemiker, so kann 
in solchen Fällen das Gutachten einer medizinischen Fakultät 
‘der im Reichsrat vertretenen Länder eingeholt werden. Das- 
selbe geschieht, wenn die Ratskammer die Einholung eines 
Fakultätsgutachtens wegen der Wichtigkeit oder Schwierigkeit 
des Falles nötig findet.“ 

In der Instruktion für das k. und k. Militärsanitätskomitee 
heißt es: | 

„Der Wirkungskreis dieses Komitees umfaßt die Über- 
prüfung ärztlicher und gerichtsärztlicher Gutachten, sowie die 
Klarlegung zweifelhafter Objekte der Militärrechtspflege vom 
fachwissenschaftlichen Standpunkt. Sollte das Militärsanitäts- 
komitee zur endgültigen Entscheidung hierher gehöriger oder 
anderer wissenschaftlicher Fragen ein Fakultätsgutachten als 
notwendig anerkennen, so ist dieses von der medizinischen 
Fakultät der Universität Wien, beziehungsweise vom justiz- 
ärztlichen Senate von Budapest einzuholen.“ 

Diese Fakultätsgutachten (oder Kunstgutachten), deren 
ärztliche Überprüfung unstatthaft ist, wurden früher nach dem 
Hofkanzleierlasse vom 15. August 1846 von einer Kommission 
erstattet, in der der jeweilige Dekan des medizinischen Pro- 
fessorenkollegiums den Vorsitz hatte (Unterrichtsministerial- 
erlaß vom 19. Dezember 1851), deren Mitglieder aber in erster 
Linie dem betreffenden Doktorenkollegium angehörten. Seit- 
dem zu Beginn der Siebzigerjahre die Lostrennung der Dok- 
torenkollegien von den Professorenkollegien erfolgte, sind die 
Gutachten eine recht unangenehme Belastung der medizinischen 
Universitätsfakultäten, am meisten in Wien und speziell für 
die Vertreter der Psychiatrie geworden. Nicht nur daß 80 bis 
90% dieser Gutachten sich auf psychiatrischem Gebiete be- 
wegen, liegen ihnen auch meist sehr ausgiebige, umfangreiche 
Akten zugrunde und sie werden schon dadurch, abgesehen 
davon, daß es sich meist um recht schwierige Fälle handelt, 
weitaus mühevoller und ausgedehnter als etwa ein Gutachten 
‘wegen eines ärztlichen Kunstfehlers. 

Eine aus zwölf Mitgliedern der Fakultät zusammengesetzte 
Kommission hat unter dem Vorsitze des Dekans über das vom 
Referenten vorgetragene Gutachten zu diskutieren und dessen 


ei Ar 


endgültige Fassung zu bestimmen. Früher war allerdings diese 
Kommission mitunter recht bunt zusammengewürfelt, Geburts- 
helfer und Chirurgen söllten ihre Meinung gerade über die 
schwierigsten psychiatrischen Fälle abgeben, überhaupt wollte 
man einmal nur Ordinarien (also oft nur einen einzigen Fach- 
mann) in die Kommission einbeziehen. Seit etwa zehn Jahren 
ist aber die Einrichtung getroffen, daß sie ausschließlich aus 
Fachmännern, also nicht bloß aus ÖOrdinarien und Extra- 
ordinarien, sondern auch aus Dozenten der Psychiatrie und 
gerichtlichen Medizin zusammengesetzt wird. Eine weitere 
Verbesserung ist endlich (ich spreche immer nur von der 
Wiener Fakultät) in den letzten Jahren dadurch eingeführt 
worden, daß für jeden einzelnen Fall ein Referent (der Sitz im 
Professorenkollegium haben muß) und ein Korreferent bestimmt 
werden und daß das Gutachten samt den Akten für die Mit- 
glieder der Kommission (und nur für diese) acht Tage vor der 
Verhandlung zur Einsicht im Dekanat aufliegt, damit jedem 
die Möglichkeit geboten sei, sich vorher gründlich über den 
Gegenstand zu informieren. Desgleichen ist es Usus geworden, 
daß, wenn es nur irgendwie möglich, der Beschuldigte durch 
die Referenten, eventuell auch durch die anderen Kommissions- 
mitglieder einer eingehenden persönlichen Untersuchung unter- 
zogen werde. 

Ich verrate wohl kein Amtsgeheimnis, wenn ich mitteile, 
daß die von den Referenten erstatteten Gutachten in der Kom- 
mission in oft lange dauernden Diskussionen immer einer ein- 
gehenden Kritik durch die anderen Kommissionsmitglieder 
unterzogen und daß sie nur selten ganz ohne Änderung zum 
endgültigen Beschluß erhoben werden. 

In Anerkennung dieser mühevollen, zeitraubenden Arbeit 
(50 und mehr Stunden gehen dabei für den Referenten nicht 
selten von seiner Zeit verloren) glaube ich — soweit ich es 
beurteilen kann — haben die Fakultätsgutachten in der letzten 
Zeit wohl auch jene Wertschätzung gewonnen, die ihnen ge- 
bührt. 

Eine Verbesserung möchte ich aber noch wünschen, daß 
nämlich dieser große Aufwand an Mühe und Zeit auch den 
Fakultätsmitgliedern, von denen viele nicht einmal vom Staate 


SERIE | 


besoldet sind, in entsprechender Weise vergütet werde. Bisher 
erfolgte eine so schwere Leistung ohne jedwede Gegenleistung. 
Es hat sich auch bereits vor mehreren Jahren das Wiener 
medizinische Professorenkollegium auf dem Wege des Unter- 
richtsministeriums an das Justizministerium um Honorierung 
der Fakultätsgutachten gewendet. Da es sich lediglich um 
eine Geldfrage handelt, so darf mit Sicherheit erwartet werden, 
daß dieses Ansuchen, wie immer in ähnlichen Fällen, in 
kürzester Zeit günstig erledigt werden wird! 


So wenig die obigen Auseinandersetzungen beanspruchen, 
alle Beziehungen, die zwischen Geisteskranken als solchen und 
dem Gesetze bestehen, zu beleuchten, so genügen sie immerhin, 
um zu zeigen, daß ein vollkommenes Irrengesetz, das allen 
diesen Beziehungen gerecht würde, losgelöst von allen anderen 
Vorschriften und Gesetzen nicht denkbar ist. i 


Wenn also nicht nur von Laien, denen diese ganze Ange- 
legenheit manchmal recht unklar ist, und die ihr auch voll- 
kommen fernestehen, sondern auch von juridischen und nament- 
lich psychiatrischen Fachleuten der Wunsch nach einem Irren- 
gesetz zum Ausdruck gebracht wurde, so geschah dies vor 
allem, weil man gewisse Lücken in den bestehenden Gesetzen 
und Vorschriften richtig erkannte und deren Ausfüllung für 
notwendig erachtete. Dies erscheint nun allerdings durch die 
nenen Gesetzentwürfe zum großen Teile durchgeführt; ich er- 
innere wieder an die Rücksichtnahme auf die verminderte Zu- 
rechnungsfähigkeit in strafgerichtlicher, auf die beschränkte 
Entmündigung in zivilgerichtlicher Beziehung, auf die Für- 
sorge für kriminelle Geisteskranke und für Trunksüchtige u. a. 


Ich kann es aber nicht unterlassen, nochmals darauf hin- 
zuweisen, daß auch schon das geltende Recht in Österreich be- 
züglich der Geisteskranken keineswegs so ganz schlecht und 
unbrauchbar ist, wie es von manchen Seiten hingestellt wird; 
es hat sich vielmehr aus meinen früheren Darstellungen er- 
geben, daß sich mit den bestehenden Vorschriften und Gesetzen 
vielfach recht gut arbeiten ließ, ja daß in den neuen Ent- 
würfen sich auch manches findet, was gegenüber dem Alten 
durchaus nicht als eine Verbesserung zu bezeichnen ist. 


— 42 — 


Wir sind hier in Österreich wie auf den anderen Gebieten 
des Irrenwesens, so auch auf dem des Irrenrechtes durchaus 
nicht rückständig und gewiß auch geneigt, dem Fortschritte 
der Wissenschaft Rechnung zu tragen. 

Es ist also auch mit den neuen Entwürfen das Ideal eines 
Irrengesetzes nicht erreicht: wir müssen uns aber vor Augen 
halten, daß auf allen Gebieten der Rechtspflege das absolut 
richtige Recht ein Phantom darstellt, das man völlig aussichtslos 
anstrebt, ganz besonders aber ein dauernd richtiges Recht. Die 
menschliche Gesellschaft darf sich für befriedigt erachten, wenn 
der Gesetzgeber bemüht ist, alle Hinweise, welche die moderne 
Weltanschauung und die moderne Wissenschaft zur Verfügung 
stellen, zu berücksichtigen, um damit dem Rechtsgefühle und 
den Bedürfnissen der Zeit, in der das Gesetz herrschen soll, 
gerecht zu werden. 


tieyuemann’sche Buchdruckerei, Gebr. Wolff, Halle a. 9. 


m 


Beseitigung der Zeugungsfähigkeit 
und Körperverletzung 
de lege lata und de lege ferenda. 





Die 
künstliche Zeugung beim Menschen 
und ihre Beziehungen zum Recht. 
Von 


Dr. Eugen Wilhelm, Amtsgerichtsrat a. D. 
zu Straßburg i. Els. 





Halle a.S. 
Carl Marhold Verlagsbuchhandlung. 
1911. 


Juristisch- Psychiatrische 
Grenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 


Geh. Justizrat Prof. Dr.jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof.Dr.med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. B. 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lüben i. Schles. 


VII. Band, Heft 6/7. 


- Vorwort. 


Die beiden Abhandlungen, welche den Inhalt dieses Heftes 
bilden, stellen gewissermaßen eine gegenseitige Ergänzung dar. 

Die erste erörtert die Herbeiführung eines Zustandes, 
durch welchen die Zeugung von Nachkommen unmöglich ge- 
macht wird, während die zweite gerade mit der Frage sich 
beschäftigt, wie die Unmöglichkeit, Kinder zu zeugen, durch 
künstliche Mittel behoben werden kann. 

Beide Aufsätze beziehen sich hauptsächlich auf zukünftige 
Verhältnisse und Maßnahmen, deren Einführung in der Haupt- 
sache erst der Zukunft vorbehalten bleibt, insbesondere dürfte 
der Gegenstand der zweiten Abhandlung, die künstliche Zeu- 
gung beim Menschen, erst in kommenden Zeiten größere prak- 
tische Bedeutung gewinnen, wenn sie überhaupt jemals eine 
solche häufigere Wichtigkeit erlangt. 

Deshalb muß ich wohl auch gewärtig sein, daß mancher 
„ Wirklichkeitsjurist* meine an die Möglichkeit künstlicher Be- 
fruchtung angeknüpften juristischen Untersuchungen und Schluß- 
folgerungen als müßiges Theoretisieren und Spekulieren abtut. 

Wie dem auch sei, so dürfte sich die Berechtigung zur 
Erörterung der Frage doch schon allein daraus herleiten, daß 
tatsächlich in den letzten Jahren einmal die Frage der Vater- 
schaft aus angeblich künstlicher Befruchtung in Deutschland 
drei Instanzen, darunter das Reichsgericht, beschäftigt hat. 

Wenn auch dieser Fall bis jetzt als einziger dasteht und 
vielleicht lange es bleiben wird, so möge der Skeptiker auch 
einmal dem Juristen eine vielleicht zurzeit noch in der Haupt- 
sache ideologische Spielerei und einen Ausflug abseits des un- 
mittelbar brauchbaren Alltagsgebietes gestatten, selbst wenn 
der Weg etwas in das Reich Utopia führen sollte. 





I. 


Beseitigung der Zeugungsfähigkeit 
und Körperverletzung 


de lege lata und de lege ferenda. 


aaaea 


N MU DN 
> 


$ 9. 
§ 10. 


§ 11. 


. Einleitung . 


Inhaltsverzeichnis. 


Erster Abschnitt. 


. Die verschiedenen Verfahren zur Beseitigung der Zeugungs- 


fähigkeit 


. Die hauptsächlichsten Gründe der Beseitigung 


I. unmittelbare Linderung oder Heilung von Krankheiten: 
I. Verhütung der Schwangerschaft im individuellen Interesse 
DI. soziale und sozialpolitische Gründe 


. Die Beseitigung der Zeugungsfähigkeit und ihre Strafbarkeit Ba 


dem geltenden deutschen Reichsstrafgesetzbuch . 


. Das Recht des Arztes und seine Grenzen 
. Ist nach geltendem Recht die Beseitigung der Zensinrefähig- 


keit aus sozialpolitischen Gründen rechtlich statthaft . 


. Die Beseitigung der Zeugungsfähigkeit wegen krankhaften Ge- 


schlechtstriebes insbesondere: 
I. Sozialpolitische Gründe und individueller Heilungszweck 
I. Ist eine Heilung oder Herabsetzung eines krankhaften Ge- 
schlechtstriebes überhaupt zu erwarten ? T 
III. Ist die Kastration zwecks Heilung oder Herabsetzung eines 
krankhaften Geschlechtstriebes ein medizinisch gebräuch- 
liches und statthaftes Mittel ? 


. Die Beseitigung der Zeugungsfähigkeit und ihre Strafbarkeit 


nach den Vorentwürfen: 
I. zu einem deutschen 
II. zu einem schweizerischen . . 
IJI. zu einem österreichischen Siräfossetzbuch 


Zweiter Abschnitt. 
Die amerikanischen Gesetzesvorschläge und die schon erlasse- 
nen Gesetze 


Die Ansichten der Schriftsteller über die Bersikigong der: 


Zeugungsfähigkeit aus sozialpolitischen Gründen ; 
Die eigene Ansicht und die Vorschläge des Verfassers da jöge 
ferenda E a a en ee ee ee 


58 


60 


67 


$ 1. Einleitung. 


Die Frage nach der künstlichen Beseitigung der Zeugungs- 
fähigkeit ist in den letzten Jahren in verschiedenen Beziehungen 
von Bedeutung geworden; Arzte und Soziologen haben an- 
gefangen, weit mehr wie früher sich mit dem Gegenstand 
theoretisch und Arzte insbesondere auch praktisch zu beschäf- 
tigen, während allerdings der Jurist oder gar der Gesetzgeber 
[wenigstens in Europa*)] bisher dieser Frage kaum seine Be- 
achtung geschenkt hat. 

Im folgenden soll untersucht werden, ob, warum und wann 
der Arzt ein Recht hat, eine Person unfruchtbar zu machen, 
ferner wann eine strafbare Körperverletzung in der die Auf- 
hebung der Zeugungsfähigkeit bewirkenden Operation und in 
ihren Folgen liegt und welche Art von Körperverletzung, des 
weiteren, ob der Arzt auch aus sozialen und sozialpolitischen 
Gründen die Zeugungsunfähigkeit herbeiführen darf, sowie ob 
nicht ähnlich, wie dies schon in Amerika geschieht, das Gesetz 
ausdrücklich in bestimmten Fällen die Unfruchtbarmachung 
aus sozialen und sozialpolitischen Gründen gestatten sollte. 

Das Verhältnis der Beseitigung der Zeugungsfähigkeit zu 
der strafbaren Körperverletzung soll auch nach den Vorent- 
würfen zu einem deutschen, schweizerischen und österreichi- 
schen Strafgesetzbuch erörtert werden. 


*) In den Vereinigten Staaten Nordamerikas ist es anders: dort 
hat die Frage der operativen Aufhebung der Fortpflanzungsfähigkeit von 
Geisteskranken und Verbrechern in verschiedenen Staaten schon zu 
legislativen Maßnahmen geführt. (Siehe hierüber näheres weiter unten $ 9.) 


— 10 — 


Erster Abschnitt. 


$ 2. Die verschiedenen Verfahren zur Beseitigung 
der Zeugungsfähigkeit. 


Die Aufhebung der Zeugungsfähigkeit wird durch ver- 
schiedene Verfahren herbeigeführt. 

Durch die sogen. Kastration werden die Hoden (beim 
Manne), die Eierstöcke (beim Weibe) entfernt, so daß dadurch 
die Bildung der zur Zeugung nötigen Elemente (Samen, Eier) 
unmöglich gemacht wird. | 

Die Kastration kann eine solche sein, daß nicht nur die 
Testikel, sondern auch die äußeren Begattungsorgane des 
Mannes entfernt werden, in diesem Falle spricht man von 
Eunuchentum, !) eine derartige völlige Kastration ist nur beim 
Mann denkbar. | 

Die Zeugungsunfähigkeit wird in den letzten Jahrzehnten 
aber noch sehr oft auf andere Weise herbeigeführt, indem die 
Geschlechtsdrüsen. nicht beseitigt werden, sondern nur der 
Weg für den Austritt des Samens oder der Eizelle durch- 
trennt wird. ?) 





1) Oft werden die Begriffe: Bewirken von Eunuchentum und Kastra- 
tion im engeren Sinne nicht auseinander gehalten; so bezeichnet auch 
Forel, Die sexuelle Frage (München 1905, Reinhardt, S. 17), allgemein 
die Personen, denen die Geschlechtsdrüsen entfernt worden sind, als 
Eunuchen oder Kastraten. 

Den Unterschied macht dagegen ausdrücklich Rohleder in seinem 
sehr gut orientierenden Buch: Vorlesungen über Geschlechtstrieb und 
gesamtes Geschlechtsleben des Menschen (Berlin 1907, Fischers Med. 
Buchhdl., Kornfeld, Bd. I, S. 295). 

2) Alle diese Operationen, welche die Hoden oder Ovarien bestehen 
lassen, werden besser nicht als Kastrationen bezeichnet, indem man 
gut tut, den Begriff „Kastration“ nur auf die Fälle der Testikel- oder 
Ovarienexstirpation zu beschränken. So Löwenfeld, Über medizinische 
Schutzmaßnahmen (Kastration, Sterilisation) gegen Verbrecher und andere 
soziale Übel, mit besonderer Berücksichtigung der amerikanischen Ge- 
setzgebung, in den „Sexualproblemen* von Marcuse, April 1910, S. 304. 

Ebenso Good, Ein psychiatrisches Postulat an das Schweizerische 
Strafgesetzbuch, in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht 1910, 
23. Jahrg., 3. Heft. 

Anders Näcke in seinen Arbeiten: a) Die Kastration bei gewissen 


li — 


. Beim Mann wird meist die Vasektomie,?) d.h. die Zerteilung 
und Bindung des vas deferens (des Samenleiters) ausgeführt, 
bei der Frau die Tubensterilisierung, d. h. die Durchtrennung 
der Tuben, in der Absicht, daß die Verbindung zwischen 
Bauchhöhle und Gebärmutterhöhle unterbrochen, mithin das 
Zusammentreffen von Samenkörperchen und Eizelle unmöglich 
gemacht wird.?): 

Als Sterilisierungsmethode beim Manne wird auch noch 
erwähnt die Spermektomie, d. h. Unterbindung und Durchtren- 
nung des Samenstranges, also von Arterien, Venen, Lymph- 
gefäße, Vas deferens. 5) 
| In den allerletzten Jahren hält man auch eine Unfruchtbar- 
machung durch Röntgenbestrahlung nicht nur für möglich, 
sondern auch für die sicherste, gar keine schädlichen Folgen 
hinterlassende Methode.) Über einige erfolgreiche Anwen- 
dungen des Verfahrens beim Männe wird schon berichtet’) 


Klassen von Degenerierten als ein wirksamer sozialer Schutz, in Groß’ 
Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 1899, Bd. III, b) Über 
Kastration bei gewissen Entarteten, im gleichen Archiv von Groß, .1%08, 
Bd. XXXI, S. 174. c) Kastration in gewissen Fällen von Geisteskrank- 
heit, in der Psych.-Neurol. Wochenschrift 1905, Nr. 29. d) Die ersten 
Kastrationen aus sozialen Gründen auf europäischem Boden, im Neuro- 
logischen Zentralblatt 1909, Nr. 5. 


3) Vergl. Näcke (zit. Anm. 2), in Groß’ Archiv, Bd. III. Löwen- 
feld (zit. Anm. 2), S. 304. Rentoul (Liverpool), Sterilisation proposée 
de certaines personnes atteintes de dégénérescence, intellectuelle, in 
Lacassagnes Archives d’anthropologie criminelle, de medicine legale et 
de psychologie normale et pathologique, 15. juillet 1910, S. 516 bis 518. 

4) Häberlin, Über Indikationen und Technik der operativen 
Sterilisierung vermittels Tubenunterbindung, in der Medizinischen Klinik 
Bd. II (1906), S. 1310ff. 

Schickele, Strafrecht und Frauenheilkunde (Wiesbaden 1909, 
Bergmann, S. 65). 

5) Rentoul zitiert bei Ziertmann, Unfruchtbarmachung sozial 
Minderwertiger, in Aschaffenburgs Monatsschrift für Kriminalpsychologie 
und Strafrechtsreform 1908/09, 5. Jahrg., S. 739; ferner Schriftliche Mit- 
teilung von Dr. Good, der mir über verschiedene diese Arbeit be- 
treffende Fragen in liebenswürdigster Weise Auskunft erteilt hat. 

6) Good, oben zit. Anm. 2. 

1) Bericht von Krause und Ziegler in Fortschritte auf dem Ge- 
biet der Röntgenstrahlen, Heft 3, S. 127/128. 


12 


und auch bei der Frau soll die Sterilisierung durch Röntgen- 
bestrahlung schon gelungen sein.®) °>) 


$ 3. Die hauptsächlichsten Gründe der Beseitigung. 


Alle Arten der Beseitigung der Zeugungsfähigkeit können 
aus den verschiedensten Gründen vorgenommen werden. 

Eunuchentum?) kommt hauptsächlich im Orient vor zur 
Schaffung zuverlässiger Haremswächter und in den Ländern 


christlicher Kultur eigentlich nur als Ergebnis eines Aktes der 


Roheit, der Rache oder auch des religiösen Fanatismus, wie 
z. B. bei der Sekte der Skopzen in Rußland, welche zu Gottes 
Ehre ihre Geschlechtsteile zum Teil durch Abtrennung des ge- 
samten Hodensackes verstümmeln. 1°) 

Bei der Kastration im engeren Sinne sowie der Vasektomie, 
der Tubensterilisierung und,den anderen neueren Methoden 


8) Mündliche Angabe von Dr. Schickele, dem ich gleichfalls für 
verschiedene Mitteilungen zu Danke verpflichtet bin, vgl. auch Löwen- 
feld (oben zit. Anm. 2), S. 327. 

‘8a) Näcke in seiner Arbeit in Groß’ Archiv, Bd. IH, oben Anm. 2 zit., 
erwähnt noch als Methode zur Herstellung der Konzeptionsunfähigkeit 
der Frau die Zerstörung der Gebärmutterschleimhaut und insbesondere 
die sogen. „Verbrühungsmethoden“. Er nennt diese Verfahren aber ge- 
fährlich und unsicher. Wie mir Dr. Schickele mitteilt, kann man 
diese Metheden ruhig als veraltet und nicht mehr gebräuchlich be- 
zeichnen; ich werde sie daher in dieser Arbeit nicht weiter berück- 
sichtigen, auch nicht die in dem gleichen Aufsatz von Näcke auf Grund 
von Angaben des Dr. Ihle erwähnte Methode der Entfernung der Gebär- 
mutter bei Bestehenlassen der Ovarien, eine Methode, die Dr. Schickele 
als selten gebräuchlich erachtet. Ich selbst erlaube mir natürlich kein 
Urteil über diese Verfahren. 

®) Ein vor kurzem erschienenes Buch von Dr. Demötrius A Zambaco 
Pascha, Les Eunuques d'aujourd'hui et ceux de jadis (Masson & C. 
Paris 1911) gibt interessante Aufschlüsse über die noch heute in gewissen 
Teilen Afrikas bestehende Eunuchenfabrikation und den trotz der strengen 
Wachsamkeit und der Verfolgung des Eunuchen-Sklavenhandels seitens 
Englands und Frankreichs erfolgenden Export hauptsächlich nach der 
Türkei. Das Buch wurde mir zu spät bekannt, um es im Text verwen- 
den zu können. 

10) Pelikan, Gerichtlich-medizinische Untersuchungen über das 
Skopzentum in Rußland (deutsch von Iwanoff, Gießen 1876), zitiert nach 
Rohleder (oben zit. Anm. 1), S. 292. 


= 9: we 


sind hauptsächlich drei Gruppen von Motiven zu unterscheiden, 
dıe zur Beseitigung der Zeugungsfähigkeit führen können. 

I. Die Operation wird vorgenommen zu direkten Heil- 
zwecken im Falle gewisser Erkrankungen, insbesondere lokaler 
Art, so z. B. wegen Tuberkulose der Hoden oder Eierstöcke, 
wegen Sarkome, Zysten der Ovarien usw.,i!) ferner aber auch 
hauptsächlich bei Frauen als äußerstes Heilmittel gegen Neu- 
rosen oder Psychosen, die durch die erkrankte Sexualsphäre 
ungünstig beeinflußt‘ oder erzeugt werden.!?) 

In solchen Fällen ist meistens eigentliche Kastration, Weg- 
nahme der Hoden oder Ovarien, nötig. 

Beim Manne wird auch in gewissen Fällen von Hyper- 
trophie der Vorsteherdrüse lediglich Vasektomie angewandt. 13) 

Il. Die Unfruchtbarmachung wird bewirkt zur Verhütung 
der Schwangerschaft im individuellen Interesse 

l. an der Frau, und zwar in ihrem Interesse, um sie 
vor der Schwangerschaft zu bewahren. 

a) Dies geschieht oft seitens des Arztes auf Grund ärzt- 
licher, durch die medizinische Wissenschaft gebilligter Indika- 
tion, um die Frau vor einer voraussichtlich im Hinblick auf 
ihren Gesundheitszustand ihr Leben oder ihre Gesundheit nicht 
unbeträchtlich bedrohenden Schwangerschaft zu schützen. 

Von einigen Ärzten wird auch die Beseitigung der Fort- 
pflanzungsfähigkeit lediglich aus sogen. „sozialer Indikation“ 
vorgenommen oder wenigstens befürwortet, d. h. in Fällen, wo- 
eine Geburt die Frau (und den Mann) mit der dringenden Ge- 
fahr der wirtschaftlichen oder moralischen Zerrüttung ihrer 
Verhältnisse bedroht, so z. B. im Falle „offenbarer Armut bei 
Kinderüberfluß*. 

b) Die Aufhebung der Zeugungsfähigkeit der Frau kann 
auch stattfinden seitens gewissenloser Ärzte, um trotz mangels 
der unter a erwähnten Gründe der Frau die Unannehmlich- 


11) Schriftliche Mitteilung von Dr. Good. 

1?) Krömer, Beitrag zur Kastrationsfrage, in der Allgemeinen. 
Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin, 52. Bd. 
(1896), Heft 1. 

18) Borelius, Zur Kastration gegen Prostatahypertrophie, im 
Zentralblatt für Chirurgie, 23. Jahrg., 21. November 1896. 


a. SA, 


keiten der Schwangerschaft und die Lasten der Mutterschaft 
zu ersparen, lediglich aus Gründen der Bequemlichkeit, der 
Frivolität, der ungehinderten Genußsucht. 14) 

In den eben angeführten Fällen unter II, 1 wird heutzu- 
tage die Zeugungsfähigkeit wohl kaum noch durch Kastration, 
sondern meist durch eine die Geschlechtsdrüse beibehaltende 
Methode, und zwar meist durch Tubensterilisierung beseitigt. 

2. Denkbar ist es auch, daß die Operation beim Manne 
vorgenommen wird aus ähnlichen Motiven wie unter II 1a, d. h. 
um seine Frau oder Geliebte vor der Schwängerung zu schützen, 
wobei ein an und für sich berechtigtes!°) Motiv vorliegen 
könnte: Bewahrung vor einer Leib oder Leben der Frau 
‚schwer gefährdenden Schwangerschaft, oder ein nicht berech- 
tigtes wie unter 1b. Ja an und für sich wäre es möglich, 
' -daß der Mann im eigenen Interesse, aus Frivolität, Bequem- 
lichkeit seine Zeugungsfähigkeit beseitigen ließe, um unge- 
fährdet vor den aus der ehelichen oder unehelichen Schwänge- 
rung seiner Frau oder Geliebten oder überhaupt jeder Frau 
‚entstehenden Pflichten dem sexuellen Verkehr sich hingeben 
zu können. 

Bisher sind derartige Fälle nicht bekannt und wohl auch 
nicht vorgekommen. Werden aber die Berichte aus Amerika 
‚über die Gefahrlosigkeit, die günstigen Wirkungen, die Leich- 
tigkeit der Ausführung der Vasektomie durch weitere Erfah- 
rungen dahin bestätigt, daß es sich um eine fast schmerzlose, 
geringfügige Operation handelt, die den Geschlechtstrieb nebst 
Wollustgefühl unbeeinträchtigt läßt, so ist die Annahme wohl 


14) In dem Roman „Les demi-sexes“ von Jeanne de la Vaudöre 
(deutsch: Budapest 1900, Entartete Weiber) wird die Kastration genub- 
‚süchtiger Weiber behandelt, vgl. hierüber auch Iwan Bloch, Beiträge 
‚zur Ätiologie der Psychopathia sexualis, Bd. 1, S. 128, wo er über die 
Kastration aus ähnlichen Gründen bei Mädchen der Eingeborenen von 
Queensland und gewissen Weibern in Indien berichtet auf Grund des 
Aufsatzes von Mikludo-Maclay, Bericht über Operationen australischer 
Eingeborener, Zeitschrift für Ethnologie 1882, Bd. XIV, S. 26ff., sowie 
des Buches von H. Ploß, Das Kind in Brauch und Sitten der Völker 
(Berlin 1882, Bd. I, S. 418). 

15) Womit keineswegs gesagt ist, daß die Handlung als berechtigt 
und straflos betrachtet werden darf. 


=a I, 


nicht zu absurd, daß bei allgemeiner Kenntnis der Operation 
und ihrer Folgen, die Ausführung der Vasektomie aus den er- 
wähnten Motiven zu gewärtigen sein könnte. 

Ill. Die Unfruchtbarmachung kann auch in Betracht ge- 
zogen werden, 

1. um einen verbrecherischen oder krankhaften Trieb, ins- 
besondere Geschlechtstrieb, zu beseitigen oder herabzusetzen, 

2. um einen verbrecherischen oder degenerierten oder 
geisteskranken Nachwuchs zu verhindern. 

In den Fällen unter 1, in denen ein krankhafter Trieb 
(Geschlechtstrieb) geheilt oder gebessert werden soll, kann das 
Motiv ausschließlich, hauptsächlich oder nebenbei ein im ge- 
sundheitlichen Interesse des Patienten liegendes sein. Es kann 
aber auch die Operation aus dem Grunde erfolgen, um die 
aus dem Trieb entspringenden verbrecherischen oder über- 
haupt die Gesellschaft schädigenden Handlungen durch die 
mittels der Operation erhoffte Beeinflussung des Triebes zu 
verhüten. 


Gerade diese Gründe werden eine besondere Erörterung 


nötig machen. 

Man hat diese Gründe und die unter Nr. 2 meist auch 
„soziale“ Gründe genannt, und im weiteren Sinne des Wortes 
„sozial“ ist die Bezeichnung nicht unrichtig. 

Zum Unterschied jedoch von den früher erwähnten sogen. 
„Sozialen“ Gründen bei der Unfruchtbarmachung der Frau 
zwecks Verhütung der Schwanger- und Mutterschaft in ihrem 
und ihres Mannes Interesse und im Interesse ihrer gesell- 
schaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse halte ich es für 
besser, die Gründe, welche eine sterilmachende Operation direkt 
im Interesse der Gesellschaft wünschenswert erscheinen lassen, 
als soziologische oder auch rassenhygienische oder — noch 
besser und alle Arten dieser Gründe umfassend — sozial- 
politische zu bezeichnen. 

Unter diesen Gründen gibt es solche, von denen es oft 
schwer zu sagen ist, ob sie zu den sozialen Gründen im 
Interesse der Frau (bezw. Eheleute) gehören oder zu den 
soziologischen. 


"F U ~ a 


So der Grund, die Geburt eines mit großer Wahrschein- 
lichkeit kranken Kindes zu verhüten. 

Gerade diesen Grund rechnen manche Ärzte bei der Frau 
zu den die Verhinderung der Schwangerschaft rechtfertigenden 
sozialen Indikationen. 

Man muß ihn aber noch eher zu den im Interesse der 
Gesellschaft liegenden Gründen zählen, namentlich dann, wenn 
nicht nur wegen der mütterlichen Belastung bzw. Erkrankung, 
sondern auch wegen der väterlichen, ja manchmal ausschließlich 
von des Vaters Seite her die Geburt eines kranken oder 


.'degenerierten Kindes mit großer Wahrscheinlichkeit zu be- 


fürchten ist. 


S 4. Die Beseitigung der Zeugungsfähigkeit und ihre 
Strafbarkeit nach dem geltenden deutschen RStrGB. 


Die Bewirkung der Zeugungsunfähigkeit ist an und für 
sich eine strafbare Handlung. 

Der zur Fortpflanzungsunfähigkeit führende Eingriff ver- 
ursacht eine „Störung der körperlichen Unversehrtheit“, d. h. 
eine Körperverletzung,!°) und zwar eine „schwere“ im Sinne 
des § 224 StrGB., der lautet: 


„Hat die Körperverletzung zur Folge, daß der Ver- 
letzte ein wichtiges Glied des Körpers, das Sehvermögen 
auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache 
oder die Zeugungsfähigkeit verliert oder in er- 
heblicher Weise dauernd entstellt wird, oder in Siechtum, 
Lähmung oder Geisteskrankheit verfällt, so ist auf Zucht- 
haus bis zu fünf Jahren oder Gefängnis nicht unter einem 
Jahre zu erkennen.“ 

Und der folgende $ 225 besagt: 


„War eine der vorbezeichneten Folgen beabsichtigt 
und eingetreten, so ist auf Zuchthaus von zwei bis zu 
zehn Jahren zu erkennen.“ 

Beim Vorhandensein mildernder Umstände ist im Falle 
des $ 224 (also wenn die schwere Folge der Körperverletzung 


16) Liszt, Lebrbuch des Strafrechts (16./17. Aufl., Berlin 1906, 
Guttentag, S. 311). 


s T = 


nicht beabsichtigt war) die Strafe Gefängnis nicht unter einem 
Monat (§ 228). ST 

Für den Fall des $ 225, d. h. also, wenn die Beseitigung 
der Zeugungsfähigkeit beabsichtigt war, gibt es keine mildernden 
Umstände, es muß also die harte Strafe des Zuchthauses von 
zwei bis zehn Jahren ausgesprochen werden. 

Damit die §§ 224, 225 zur Anwendung kommen, muß die 
den Verlust der Sterilität nach sich ziehende Körperverletzung 
eine vorsätzliche sein, die schwere Folge — der Verlust 
der Zeugungsfähigkeit — dagegen kann aus Fahrlässigkeit oder 
Zufall entstehen ($ 224) oder aus Absicht (dann strengere Strafe 
des $ 225). 

Der $ 224 greift Platz, wenn ein Arzt eine vorsätzliche 
einfache Körperverletzung begeht, z. B. einen durch die 
medizinische Wissenschaft ihm nicht gestatteten Eingriff 
in rechtswidriger Weise vornimmt, und diese vielleicht an und 
für sich geringfügige Körperverletzung einen so unglücklichen 
Verlauf nimmt, daß die Zeugungsfähigkeit vernichtet wird. Auch 
wenn der Arzt gar nicht diese schlimme Folge wollte, ja sie 
gar nicht voraussehen konnte, fällt er dem $ 224 anheim. 
' Hat er aber diese Folge bei Begehung des vorsätzlichen rechts- 
widrigen Eingriffes beabsichtigt, dann: macht er sich des 
schwereren Verbrechens des $ 225 schuldig. 

Bei der Frage der Strafbarkeit der Unfruchtbarmachung 
ist es ganz gleichgültig, durch welche Methode die Sterilität 
erzielt wurde: ob mit oder ohne Verstümmelung der Organe, 
ob mittels Kastration im engeren Sinne oder mittels Vasektomie, 
Spermektomie, Tubensterilisierung, Röntgenbestrahlung, eben- 
sowenig kommt es darauf an, ob und welche sonstigen Wir- 
kungen auf den Gesamtzustand des Organismus durch die 
Operation erzeugt werden. 

Das Gesetz knüpft mit dürren Worten die Qualifikation 
der Körperverletzung als einer schweren und daher als eines 
Verbrechens an die Tatsache des Verlustes der Zeugungs- 
fähigkeit. 

Für das Strafmaß innerhalb des gesetzlichen Rahmens 
kann natürlich die Art der Operation und die Methode des 

2 


— 18 — 


Eingriffes sowie ihr Einfluß auf die Gesundheit im allgemeinen 
von großer Bedeutung sein. 

Die die Sterilität herbeiführende Körperverletzung kann 
aber auch eine bloße fahrlässigerweise begangene sein. Solche 
fahrlässige Begehung liegt vor, einmal wenn die Handlung gar 
nicht absichtlich vorgenommen wurde (z. B. jemand verletzt 
einen andern aus Unachtsamkeit durch einen Revolverschuß 
derart an den Genitalien, daß die Hoden exstirpiert werden 
müssen), sodann aber wenn die Verletzung zwar absichtlich 
erfolgt, aber unter fahrlässiger Nichtbeachtung der Grenzen 
bezw. anerkannten Grundsätze einer an und für sich zu 
körperlichen Eingriffen berechtigenden Befugnis, also z. B. 
wenn der Arzt den Eingriff zwar subjektiv zu Heilungszwecken 
vornimmt, aber in gröblicher Weise gegen die Grundsätze der 
medizinischen Wissenschaft dabei verstößt und den Patienten 
schädigt. 

Über diesen letzteren Punkt und insbesondere, ob und 
wann in Zweifelsfällen das Überschreiten der Grenzen des 
ärztlichen Rechtes als fahrlässige oder sogar als vorsätzliche 
Handlung zu betrachten ist, darüber weiter unten. 

Ist der zum Verlust der Zeugungsfähigkeit führende Ein- 
griff nur ein fahrlässiger, dann kann eine Bestrafung auch nur 
nach dem § 230 eintreten, der bestimmt: 

„Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung eines 
anderen verursacht, wird mit Geldstrafe bis zu 900 M. 
oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.“ 

„War der Täter zu der Aufmerksamkeit, welche er 
aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes, Berufes 
oder Gewerbes besonders verpflichtet, so kann die Strafe 
auf drei Jahre Gefängnis erhöht werden.“ 

Die Verfolgung einer solchen fahrlässigen Körperverletzung 
erfolgt an und für sich nur auf Antrag, jedoch dann von Amts 
wegen, wenn sie mit Übertretung einer Amts-, Berufs- oder 
Gewerbepflicht begangen worden ist ($ 232). 

Bei ärztlichen fahrlässigen Operationen, die die Fortpflan- 
zungsfähigkeit aufheben, wird meist zugleich eine Berufspflicht 
übertreten sein, so daß die Handlung des Arztes von Amts 
wegen verfolgt werden muß. 


=, 10. = 


§ 5. Das Recht des Arztes und seine Grenzen. 


I. Die Unfruehtbarmachung kann nun aber straflos sein. 
Sie ist es, wenn sie auf Grund eines Rechtes erfolgt, und ein 
derartiges Recht ist gegeben, wenn sie zu Heilzwecken nach 
den Regeln der medizinischen Wissenschaft und Praxis aus- 
geführt wird. | 
Die Berechtigung zu operativen Eingriffen ist vom Staate 
anerkannt des Heilungszweckes wegen; der Staat gestattet die 
nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft nötigen Mittel 
zwecks Heilung von Gesundheitsstörungen anzuwenden, daher 
darf der Arzt zur Erreichung dieses Zweckes auch Eingriffe 
und Einwirkungen in und auf den Körper vornehmen und 
nötigenfalls bis zur Aufhebung der Fortpflanzungsfähigkeit 
fortschreiten. Dabei ist Heilzweck im weiten Sinne aufzu- 
fassen nicht nur als Zweck der Heilung bestehender Krank- 
heiten, sondern auch als Zweck der Erhaltung der Gesundheit 
und Vorbeugung der Krankheit. 1?) 

II. Wie nun im einzelnen die Grenzen dieses Rechtes zu 
stecken sind, das ist allerdings oft zweifelhaft. 

Solche Zweifel ergeben sich insbesondere bei den Fällen 
der obigen Gruppe § 3 II 1a,d.h. woes sich darum handelt, die 
Frau vor einer Gesundheit oder Leben bedrohenden Schwanger- 
schaft zu bewahren. | 

Wann und unter welchen Umständen der Arzt den wich- 
tigen Eingriff zwecks Verhütung der Schwangerschaft vor- 
nehmen darf, das ist zweifelhaft. 

Nach van Calker!2) ist die Operation indiziert, wenn 
der Arzt zur Überzeugung gelangt, daß eine neue Schwänge- 
rung eine schwere, vielleicht unverbesserliche Gesundheits- 
beschädigung oder den Tod zur Folge haben könnte. 

17) Der gleichen Ansicht v. Liszt (Lehrbuch, 16. Aufl., S. 153: 
und insbesondere v. Lilienthal, Die pflichtmäßige ärztliche Handlung 
(Heidelberger Festgabe für E. J. Becker; Berlin 1899, Haering). Über 
die zahlreichen Ansichten hinsichtlich des Grundes des ärztlichen Ein- 
griffsrechtes vergl. meine Abhandlung in den „Sexual-Problemen“, 
Wilhelm, Die Abtreibung und das Recht des Arztes zur Vernichtung 
der Leibesfrucht, Mai- und Juni-Hefte 1909, S. 332. 


18) van Calker, Frauenheilkunde und Strafrecht, Straßburg 198, 
Schlesier & Schweickhard, Kap. V, S. 38 ff. 


QF 


=. DU: ze 


Schickele!?) und andere halten diese Indikation für zu eng 
und ich möchte ihnen beipflichten. Schickele erachtet die Steri- 
lisierung außer in den von van Calker ins Auge gefaßten Fällen 
insbesondere noch in folgenden für geboten: bei chronischen Er- 
krankungen aller Art, welche sich durch eine neue Schwanger- 
schaft rasch verschlimmern, bei Beckenverengerungen zur Ver- 
meidung von wiederholtem Kaiserschnitt oder beckenerweitern- 
den Operationen. 

Hirsch!) will ein Schwangerschaftsverbot ausgesprochen 
wissen, „wenn der Kräftezustand oder die Organe der Frau den 
Anforderungen, welche Schwangerschaft, Geburt und Wochen- 
bett an sie stellten, nicht gewachsen und wenn eine dauernde 
Schädigung der Gesundheit oder gar Verlust des Lebens durch 
sie zu erwarten ist“. 

Schickele und andere?) [insbesondere zuletzt Hirsch ?1)] 
wollen aber die Sterilisierung auch aus „sozialer Indikation“, 
d. h. wegen der wirtschaftlichen oder gewisser anderer sozialer 
Verhältnisse gestatten, Schickele schon da, wo „Kinderüber- 
fluß bei offenbarer Armut“ besteht. 

van Calker dagegen erkennt eine Befugnis zur Sterili- 
sierung aus rein sozialen Gründen nicht an, vielmehr lediglich 
in dem Sinne, daß die sozialen Verhältnisse bei der Beurtei- 
lung der Indikation aus medizinischen Gründen in Betracht zu 


19) Schickele, Strafrecht und Frauenheilkunde (oben Anm. 4 zit.), 
Kap. V, S. 6öff. 

19%) Hirsch, Zur Kritik des $ 6 des Entwurfes eines Gesetzes 
gegen Mißstände im Heilgewerbe (erweiterter Sonderabdruck aus den 

„Sexual-Problemen“, Berlin 1911). 

2) So auch namentlich Häberlin, Über Indikationen und Technik 
der operativen Sterilisierung vermittels Tubenunterbindung (oben Anm.4 
zitiert). 

21) Hirsch (oben Anm. 19a zitiert), S. 15ff.; auch in einer früheren 
Arbeit: Hirsch, Der künstliche Abort, in Groß’ Archiv, Bd. 39, 1910, 
befürwortet er die Indikation aus sozialen Gründen. Seine Ausführungen 
beziehen sich dort lediglich auf den künstlichen Abort, passen aber völlig 
auch auf die Sterilisierung. Überhaupt gelten alle zur Unfruchtbar- 
machung berechtigenden medizinischen Gründe zwecks Verhütung einer 
Schwangerschaft auch für die Unterbrechung der Schwangerschaft, nur 
kommen in dem letzteren Falle noch andere „soziale Gründe“ eventuell 
in Betracht, so z. B. im Falle der Schwangerschaft durch Notzucht. 


a "BE ne 


ziehen seien, also in den Fällen, wo es sich frägt, ob eine 
Schwängerung unter Berücksichtigung der konkreten sozialen 
Lage (Unmöglichkeit der nötigen Kur, Pflege usw.) den’ Tod 
oder eine unverbesserliche Gesundheitsbeschädigung zur. r. Folge 
haben würde. 


De lege lata bin ich moba der Ansicht von van Calker, 
daß eine Mitberücksichtigung der sozialen Verhältnisse nur so- 
weit statthaft ist, als diese Verhältnisse die Beurteilung der 
medizinischen Gründe mit beeinflussen. Diese medizinischen 
Gründe sollten zwar in dem weiteren von Schickele ange- 
nommenen -— insbesondere nicht auf schwere unverbesserliche 
Gesundheitsbeschädigung bezw. Todesgefahr beschränkten — 
Umfang anerkannt werden, nach dem geltenden Recht jedoch 
ist eine Sterilisierung der Frau in ihrem Interesse aus sozialen 
Gründen nicht ‚erlaubt. 22) 23) 


2) Vgl. auch meinen Aufsatz in Aschaffenburgs Monatsschrift für 
Kriminalpsychologie und Sirafrechtsreiorm 1910/11: Wilhelm, rauen: 
heilkunde und Strafrecht. 

2) Es will mir übrigens scheinen, als würden in vielen Fällen die 
Ärzte, wenn sie die Indikation aus „sozialen Gründen“ für stätthaft 
halten, eben nicht die reinen „sozialen Gründe“ im Auge haben, sondern 
eben die auch von mir de lege lata für zulässig erachteten gesundheit- 
lichen, durch die sozialen Verhältnisse mitbestimmten Gründe. So z. B. 
die bei Hirsch in seinem letzten Aufsatz (oben Anm. 19a zit.) Seite 16 
angeführten, Döderlein und Krönig. Diese sagen: „Ist durch unge- 
nügende Ernährung, mangelhafte Blutbildung infolge rasch auftretender 
Geburten eine starke Gewichtsabnahme eingetreten, sind infolge der 
vielen Geburten schwere neurasthenische Erschöpfungszustände bemerk- 
bar, wie wir ihnen besonders bei Frauen der unbemittelten arbeitenden 
Klassen begegnen, so ist in diesem Falle, wenn mehrere lebende Kinder 
schon vorhanden sind, Indikation zur Sterilisation gegeben.“ 


„Diese Frauen hätten nicht die Möglichkeit wie gut situierte 
Frauen, die durch einzelne Schwangerschaft erschöpften Kräfte in der 
Zwischenzeit wieder durch geeignete Mittel zu heben.“ 

Wenn in solchen Fällen ‚schwere neurasthenische Erschöpfungszu-- 
stände vorhanden sind, die durch weitere Geburteu verschlimmert würden, 
so besteht medizinische, gesundheitliche, berechtigte Indikation. 

Gegen die „soziale“ Indikation, anscheinend auch im Sinne von 
Döderlein und Krönig, haben sich nach Hirsch (S. 16) Sänger, 
Fehling und Kleinwächter energisch gewandt. 


_- 9 — 


Die medizinische Anschauung oder Wissenschaft allein 
kann aber diese Gründe nicht zu gesetzlich erlaubten machen. 

Denn wenn auch die medizinische Wissenschaft zu ent- 
scheiden hat, wann die Sterilisation zulässig ist, wann nicht, 
so kann sie doch nur ihre Entscheidung treffen aus medizini- 
schen Gründen; wo keine ärztliche Frage in Betracht kommt, 
hat auch die medizinische Wissenschaft ihr Recht verloren. 

Dies hindert nicht, daß die Forderung nach der Zulässig- 
keit der Sterilisation aus sozialen Gründen ethisch berechtigt 
und de lege ferenda eine Anerkennung und Regelung dieser 
Forderung wünschenswert erscheint. ?*) 

III. Manche Ärzte verkennen völlig das Verhältnis des Ge- 
setzes zur Indikation der Unfruchtbarmachung. *®) 


?) Mündlich erklärte mir Dr. Schickele, daß er eigentlich nur 
legem ferendam im Auge gehabt habe; ausder Schrift Schickeles dürfte 
aber nur herauszulesen sein, daß er auch nach geltendem Recht die 
„soziale Indikation“ für eine gesetzlich erlaubte hält. 

24a) So Häberlin (oben Anm. 20 zitiert), ferner auch von 
Franque: Die Frage der Abtreibung der Leibesfrucht de lega ferenda. 
vom medizinischen Standpunkt, in den Juristisch-psychiatrischen Grenz- 
fragen Bd. VII, 4. Heft 1910 (Referat erstattet in der Versammlung 
vom 4. Mai 1910 der Vereinigung für gerichtliche Psychologie und Psy- 
chiatrie im Großherzogtum Hessen). 

v. Franqu6 ist einerseits Gegner jeder Unterbrechung der 
Schwangerschaft wegen wirtschaftlichen Verhältnissen und rassehygieni- 
schen Gründen auch de lege ferenda,- anderseits aber meint er, daß der 
Arzt die Sterilisation — schon nach geltendem Recht — ganz nach Be- 
lieben vornehmen dürfte aus irgendwelchen beliebigen Gründen. Zwischen 
Sterilisation und künstlichem Abort sei jede Gleichstellung zu vermeiden. 
Ob der Arzt die Sterilisation ausführen solle oder dürfe, sei keine ju- 
ristische, sondern eine rein medizinisch-ethische Frage, fast möchte- 
man sagen, eine Geschmackssache. Den Staat und die Justiz gehe es 
nichts an. Die Frau habe volles freies Verfügungsrecht über ihren 
Körper, solange es sich nur um diesen allein handele, und könne, wenn 
ihr Mann damit einverstanden sei, mit ihrem Körper machen lassen, 
was sie wolle. Diese Auffassung ist unrichtig, wenn, was viele — 
man kann sagen die meisten — Juristen annehmen, die Einwilligung die- 
Strafbarkeit der schweren Körperverletzung, also auch der an und für sich. 
ein Verbrechen nach §§ 224, 225 StGB. bildenden Sterilisation, nicht. 
beseitigt. Die Frage ist nicht minder eine juristische wie beim künst- 
lichen Abort. Übrigens kommt für die juristische Beurteilung der 
Sterilisation das Einverständnis des Mannes einer zurechnungsfähigen 
Frau nicht in Betracht. 


— 23 — 


So erörtert Häberlin dieses Verhältnis vom Gesichts- 
punkt der Nachkommenschaft. 

Er meint, soweit es sich um Kinder kranker Mütter han- 
deln würde, habe der Staat keine Veranlassung, gegen die Ver- 
hütung der Zeugung solcher Kinder einzuschreiten, da die Ge- 
burteneinschränkung hier im Öffentlichen Interesse liege. Kämen 
aber voraussichtlich unbelastete Kinder zur Welt, so wären in 
der Praxis die diese Fälle betreffenden Sterilisierungen so 
wenig zahlreich, daß eine Gefahr für den Staat außer Frage 
sei. Dieser ganze Standpunkt ist irreführend. 

In erster Linie kommt in Frage, ob die Mutter krank 
ist und ob ihre gesundheitliche Gefährdung durch eventuelle 
Schwangerschaft und Geburt eine Sterilisierung erheischt; wird 
diese Frage bejaht, dann hat der Arzt ein staatlich anerkanntes 
Recht und die Pflicht zur Operation, wobei es gleichgültig ist, 
ob eventuelle Kinder degeneriert oder krank gewesen wären. 

Andererseits kann der Umstand, daß‘ die Zeugung der- 
artiger kranker Kinder zu erwarten ist (z. B. wegen Krankheit 
des Vaters), nicht das Recht geben, eine Mutter zu sterilisieren, 
die selbst nicht krank ist oder nicht derart, daß eine schlimme 
Gefährdung ihrer Gesundheit durch die etwaige Schwanger- 
schaft und Geburt zu befürchten ist. 

Die Frage, ob wegen der zu gewärtigenden Zeugung 
kranker Kinder die Unfruchtbarmachung der Mutter sich recht- 
fertigt, gehört zur Frage der sozialen oder vielmehr sogar auch 
der rassenhygienischen Indikation, und die Sterilisierung aus 
solcher Indikation ist eben nach geltendem Recht nicht gestattet. 

Die weiteren Bemerkungen Häberlins über Straflosig- 
keit der Sterilisierung sind gleichfalls irrtümlich. Er führt aus: 
Der Arzt habe keine staatliche Einmischung zu befürchten, denn 
der Staat kümmere sich auch nicht um andere Staatsbürger, 
welche aus den verschiedensten Gründen ihm Nachkommen- 
schaft schuldig blieben. 

Der Schutz des Staates beschränke sich auf das bestehende 
und das werdende Leben und bedrohe allein dessen Gefährdung 

oder Vernichtung mit Strafe. Eine strafrechtliche Folge sei 
somit ausgeschlossen. | 

Häberlin übersieht, daß rechtlich ein großer Unter- 


— 24 — 


schied existiert zwischen der Nichterzeugung von Nachkommen- 
schaft und der vorsätzlichen Vernichtung der solche Erzeugung 
unmöglich machenden Fortpflanzungsfähigkeit, und daß die 
bloße Nichterzeugung durch kein Gesetz bestraft ist, da- 
gegen wohl die tatsächliche Beseitigung der Zeugungsfähig- 
keit durch die §§ 224 und 225 StGB. 

Straflos ist der Arzt wegen seines Rechts auf Grund ge- 
sundheitlicher, die Frau betreffenden Indikation die Sterilisierung 
vornehmen zu dürfen, da wo eine solche Indikation gegeben 
ist. Besteht lediglich eine soziale Indikation, dann hat der 
Arzt kein Recht zur Unfruchtbarmachung und er ist auch 
nicht straflos trotz Einwilligung der zu Operierenden, wenn man 
annimmt, daß die Einwilligung die Strafbarkeit der schweren 
Körperverletzung nicht ausschließt (siehe weiter unten Nr. V). 

Deshalb aber, weil ethisch’ die Sterilisierung auch aus 
sozialer Indikation in sehr vielen Fällen gerechtfertigt ist, er- 
scheint es dringend wünschenswert, daß der Staat durch Ge- 
setz sie ausdrücklich unter den nötigen Kautelen erlaube. 

Ich würde vorschlagen, daß ein Kollegium, zusammen- 
gesetzt aus einem Chirurgen (Gynäkologen) und dem Kreisarzt, 
event. auch einem Psychiater, im Einzelfall darüber zu ent- 
scheiden hätte, ob die Beseitigung der Zeugungsfähigkeit der 
Frau aus sozialer Indikation zulässig ist. Dieser Beschluß 
müßte der Bestätigung seitens des Vormundschaftsgerichts be- 
dürfen, gegen dessen ablehnenden Bescheid Beschwerde an das 
Landgericht statthaft wäre. | 

Für die Umgrenzung des Begriffes und des Inhaltes der 
„sozialen Indikation“ hätte das Gesetz einige allgemeine 
Grundsätze unter Bestimmung der hauptsächlichsten Gruppen 
von Fällen aufzustellen, derart aber, daß das im Einzelfall ent- 
scheidende Kollegium noch andere Arten von Fällen unter den 
Begriff „soziale Indikation“ subsumieren könnte. Insbesondere 
wären auch unter die „soziale Indikation“ vom Gesetz aus- 
drücklich die Fälle aufzunehmen, wo mit Rücksicht auf den 
körperlichen oder geistigen Zustand der Mutter schwer be- 
lastete oder mit schweren Krankheitszuständen behaftete Kin- 
der mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. 

IV. Der Arzt hat heute nur ein Recht, die Sterilisierung 


— 25 — 


aus medizinischen, d. h. aus gesundheitlichen Gründen vorzu- 
nehmen. Dabei gilt aber auch nicht bloß die von einem Teil 
der Mediziner anerkannte, enger gezogene Indikation, sondern 
gleichfalls die von anderen Medizinern weiter ausgedehnte In- 
dikation als Bestandteil der medizinischen Wissenschaft. 

Und auch dann, wenn der Arzt diese weiten Grenzen 
überschreitet, aber immer noch aus Heilzwecken die Sterili- 
sierung ausführt, wird er sich nicht der vorsätzlichen 
schweren Körperverletzung schuldig machen, sondern höchstens 
eine fahrlässige strafbare Körperverletzung begehen. 

Zweifelhafter ist die Sachlage, wenn der Arzt lediglich 
aus reiner sozialer Indikation handelt, in dem Glauben, er habe 
dazu ein Recht. Es erscheint fraglich — und ist es insbe- 
sondere nach der schwankenden, nicht klaren Stellungnahme 
des Reichsgerichts zur Frage des Irrtums über „Sätze außer- 
halb des Strafrechts“ —, ob man einen den strafrechtlichen 
Vorsatz ausschließenden Irrtum annehmen darf oder nicht und 
ob nicht die Gerichte den Arzt wegen vorsätzlicher schwerer 
Körperverletzung — nicht bloß fahrlässiger — auf Grund $ 225 
StGB. bestrafen würden, wenn die Sache angezeigt und ver- 
folgt würde.) 

Ganz zweifellos macht sich der Arzt eines Verbrechens 
nach $ 225 StGB. schuldig, der bewußtermaßen unter dem 
Deckmantel von Heilzwecken durch die Sterilisierung nur den 
unter Gruppe II 1? $3 angegebenen Zwecken der Bequemlichkeit, 
Frivolität usw. der Frau dienen will. | 

V. Bei der Strafbarkeit des Arztes spielt die Stellung- 
nahme zur Frage der Einwilligung der operierten Person in 
die Operation eine wichtige Rolle. 

Einige Juristen wollen bei allen Körperverletzungen — ob 
leichte, gefährliche oder schwere — der Einwilligung des Ver- 
letzten die Bedeutung zuschreiben, daß sie die Straflosigkeit 
der Körperverletzung nach sich zieht. Nach dieser Ansicht 
wäre jede mit Einwilligung der zu operierenden Person ausge- 


2b) Vgl. Meyer-Allfeld, Lehrbuch des Strafrechts (Leipzig 1907) 
S. 134, Anm. 12 und die dort zitierten Entscheidungen des Reichs- 
gerichts. Auf diese Frage des Irrtums und die Grenzfälle (vorsätzliche 
oder fahrlässige Handlung) komme ich später in § 6 nochmals zurück. 


— 2 — 


führte Beseitigung der Zeugungsfähigkeit straflos, ganz ohne 
Rücksicht auf Heilungs- oder irgendwelchen sonstigen Zweck, 
auch die aus frivolsten Gründen erfolgte Unfruchtbarmaehung 
wäre nicht strafbar. Andere Juristen halten umgekehrt bei, 
allen Körperverletzungen die Einwilligung für belanglos, derart, 
daß sie auch nicht einmal die Strafbarkeit der leichten Körper- 
verletzung ausschließt. 

Eine Mittelmeinung endlich geht dahin, daß eine straf- 
bare Körperverletzung im Falle der Einwilligung des Ver- 
letzten jedenfalls dann nicht besteht, wenn es sich um eine 
leichte Körperverletzung handelt, daß dagegen bei gefährlichen 
und schweren Körperverletzungen die Strafbarkeit durch die 
Einwilligung nicht beseitigt wird. 

Dieser letzteren Mittelmeinung möchte ich en an- 
schließen.?®) 

Danach würde die Strafbarkeit der Dfsschkbimmediche 
auch trotz Einwilligung fortbestehen. 

Gleichgültig ist deshalb die Einwilligung für die ärztliche- 
Operation jedoch keineswegs. 

Die Einwilligung kann zwar eine rechtswidrige schwere 
Körperverletzung nicht zu einer rechtmäßigen oder straflosen 
stempeln, aber der an und für sich zur Operation berechtigte- 
Arzt macht sich strafbar — sei es auf Grund der Bestim- 
mungen über fahrlässige Körperverletzung oder über Freiheits-- 
beraubung oder Nötigung —, wenn er ohne Einwilligung: 
operiert in Fällen, wo das Einholen der Einwilligung möglich 
war, oder da, wo er sogar trotz Widerspruchs des Patienten. 
oder seines Vertreters den Eingriff macht. Denn dann handelt. 
er mindestens nicht nach den Regeln der ärztlichen Wissen- 
schaft, welche ihm in solchen Fällen die Unterlassung der 
Operation gebieten, er begeht daher allermindestens eine fahr- 
lässige Körperverletzung. 

VL Strafbar sind auch die in $ 3 Gruppe Il2 erwähnten Ope- 
rationen, möge sie auch der Arzt zu angeblichen Heilungs- 


=% Auf die Begründung dieser Ansicht und die Widerlegung der‘ 
anderen Meinungen einzugehen, ist hier nicht der Ort. Über die ver-- 
schiedenen Ansichten und ihre Vertreter vergl. Liszt: „Lehrbuch des. 
Strafrechts" (16. und 17. Aufl.) § 87, S. 313, insbes. Anm. 4: 


— 27 — 


zwecken der Frau vornehmen. Die Beseitigung der Zeugungs- 
fähigkeit eines Mannes wird stets strafbar sein, wenn sie im 
Interesse der Frau geschieht, denn wenn auch die Wissenschaft 
und der Staat in seltenen Fällen die Verletzung des Körpers 
eines Menschen zu Heilungszwecken eines anderen (wie z. B, 
bei der Transfusion) gestatten mag, so bildet doch die Be- 
seitigung der Zeugungsfähigkeit im Interesse einer anderen 
Person kein angemessenes, geschweige notwendiges Heilungs- 
mittel, das weder Staat noch medizinische Wissenschaft in 
diesen Fällen anerkennt. 

Ich würde auch nicht bloß fahrlässige, infolge irrtümlicher 
Anwendung medizinischer Regeln erfolgte Körperverletzung in 
diesen Fällen als vorliegend erachten, sondern vorsätzliche, 
nach §§ 224, 225 strafbare, weil der Staat eine diese Fälle 
deckende medizinische Regel — zur Zeit jedenfalls — gar 
nicht dulden würde und ein Arzt auch gar nicht die Zulässig- 
keit einer solchen Heilungsmethode annehmen, daher auch nicht 
auf Irrtum sich berufen könnte. 


& 6. Ist nach geltendem Recht die Beseitigung der 
Zeugungsfähigkeit aus sozialpolitischen Gründen 
rechtlich statthaft? 


In den letzten Jahren haben auch in Deutschland ver- 
schiedene Ärzte, in erster Linie Näcke?°), dann auch Loewen- 
feld 2%) und Good?®), die Unfruchtbarmachung aus sozial- 
politischen Gründen warm befürwortet; an einer oder der 
anderen Stelle ihrer Arbeiten gewinnt man den Eindruck, als 
werde behauptet, die Operation zu solchen Zwecken sei auch 
schon nach geltendem Recht erlaubt. Dem ist jedoch nicht so. 

I. Die sozialpolitischen Zwecke, welche zur Rechtfertigung 
der Unfruchtbarmachung angeführt werden: Verhütung von 
kranken, degenerierten, verbrecherischen Nachkommen einer- 
seits und andererseits event. Herabsetzung krankhafter oder 
verbrecherischer Triebe und dadurch Verminderung von un- 
= sittlichen und verbrecherischen Handlungen, daher direkte 
Förderung der. Allgemeinheit, diese Zwecke sind zwar durchaus 


26) Vgl. die oben Anm. 2 angeführten Schriften dieser Autoren. 


— 28 — 


zu billigen, aber solange kein ausdrückliches Gesetz mindestens 
die Beschränkung des Nachwuchses aus diesen Gründen ge- 
stattet und die Vornahme zur Unfruchtbarmachung zu diesem 
Zwecke regelt, besteht in diesen Fällen kein Recht zur Be- 
seitigung der Zeugungsfähigkeit. 

Der medizinische Heilungszweck kann die Operation aus 
den erwähnten rassenhygienischen und sozialpolitischen Gründen 
nicht rechtfertigen, denn möge man den Begriff des Heilungs- 
zweckes noch so weit fassen, so kann man ihn unmöglich auf 
die Verhütung eines Nachwuchses im Interesse der Allgemein- 
heit oder auf die Verhinderung von Verbrechen ausdehnen. 

Diese rassenhygienischen, sozialpolitischen Zwecke fallen 
nicht in das Gebiet der Heilkunde, wenigstens hat nicht 
die medizinische Wissenschaft, sondern der Staat die Grund- 
sätze zur Verfolgung dieser Zwecke aufzustellen und mindestens 
da, wo es sich darum handelt, zur Erreichung derartiger 
Zwecke in die körperliche Integrität des Individuums einzu- 
greifen. 

Deshalb kann auch nicht die medizinische Wissenschaft 
oder ein Kreis von Medizinern ohne weiteres durch gutacht- 
liche Äußerungen, Beschlüsse und dergl. die Zulässigkeit der 
Unfruchtbarmachung aus sozialen Gründen einführen und so 
wäre z. B. auch die nach Anhörung des Referates von Dr. 
Good ergangene einstimmige Anerkennung der Berechtigung zu 
der Operation aus sozialen Gründen seitens der Jahresversamm- 
lung schweizerischer Irrenärzte in Will (St. Gallen) im Jahre 
1905 für die Frage der rechtlichen Zulässigkeit der Maßnahmen 
bedeutungslos und nur wichtig als Fingerzeig für die Not- 
wendigkeit einer staatlichen Anerkennung und Regelung, event. 
auch von Belang für die Frage eines die. Strafbarkeit aus- 
schließenden Irrtums seitens eines auf diese Einstimmigkeit 
der schweizer Psychiaterversammlung sich stützenden operie- 
renden Arztes. 
= Übrigens herrscht auch bisher unter den Medisiner im 
ganzen genommen wohl noch völlige Unsicherheit sowohl über 
die Zulässigkeit als über die Grenzen einer solchen angeb- 
lichen Befugnis; so verlangt auch Good, welcher aus dem 
gesetzlich ausgedehnten Berufsrecht des Arztes die Befugnis 


ap! 


zur Operation aus rassenhygienischen Gründen herleiten möchte, 
daß bestimmte gesetzliche Grundsätze über die Grenzen der 
Befugnis aufzustellen seien, und schlägt selbst einige zu be- 
achtend&. Grundprinzipien vor, die aber ebensogut anders — 
in einschränkendem oder erweiterndem Sinne — gefaßt werden: 
können und eben nur Geltung haben, wenn sie gesetzlich. 
sanktioniert worden sind. 


Der Zweck: Beschränkung des Nachwuchses ist auch Er 
solcher, der, möge er auch vicht unter den Heilungszweck. 
fallen, als ein dem Heilungszweck äquivalenter und an und für: 
sich in gleicher Weise anerkannter betrachtet werden könnte; 
deshalb ist es auch nicht möglich, die operative Beseitigung 
der Fortpflanzungsfähigkeit als ein gesetzlich gestattetes, not- 
wendiges oder angemessenes Mittel zur Erreichung dieses. 
Zweckes aufzufassen. | 


Im Gegenteil: Durch seine ganze Gesetzgebung zeigt der 
Staat, daß er nicht nur im allgemeinen und grundsätzlich jede- 
Einschränkung des Nachwuchses verpönt mit ganz besonderen 
Ausnahmen (z. B. zu Heilungszwecken der Frau). Zu diesen. 
Ausnahmen gehört aber nicht die Einschränkung aus rassen-- 
hygienischen oder sozialpolitischen Gründen, denn der Staat hat. 
bisher nicht einmal die allernotwendigsten Maßnahmen in diesen 
Beziehungen geschaffen, nicht einmal Eheverbote für Kranke, De-- 
generierte, Verbrecher erlassen,jaer duldet es vielmehr ganz ruhig, 
daß z. B. Lungenkranke im letzten Stadium der Schwindsucht. 
heiraten und Kinder zeugen, oder daß Syphilitiker in der an- 
steckendsten Periode der Krankheit eine Ehe abschließen und. 
Kinder in die Welt setzen. 


Andererseits gestattet der Staat nicht einmal, daß öffent-- 
lich solchen Kranken die Mittel zum Präventivverkehr ange- 
raten werden, sondern belegt mit Strafe denjenigen, der diese- 
Mittel anpreist. Es kann also nicht davon die Rede sein, daß. 
der Staat die Beschränkung des Nachwuchses aus rassen- 
hygienischen‘ und soziologischen Gründen, ebenso wie aus 
Gründen der Heilung von Kranken anerkennt, jedenfalls kann. 
keine auch nur stillschweigende Anerkennung des Staates 
dafür angenommen werden, daß der Nachwuchs durch das 


— 30 — 


Mittel der operativen Unfruchtbarmachung aus den: erwähnten 
Gründen verhindert werden dürfe. 

Daß der Zweck: Verhütung eines defekten Nachwuchses 
durch Unfruchtbarmachung kranker oder verbrecherischer Ele- 


‘mente durchaus nicht ohne weiteres vom heutigen Staate an- 
erkannt wird, zeigt z. B. auch die Ablehnung, welche in 


mehreren Staaten Amerikas die von einem Teil der gesetz- 
gebenden Faktoren angenommenen gesetzlichen Bestimmungen 
über Unfruchtbarmachung seitens eines Teiles der legislativen 
Macht erfahren hat. So z. B. legte der Gouverneur von Penn- 
sylvanien gegen ein von der gesetzgebenden Versammlung ein- 
gebrachtes Gesetz über Unfruchtbarmachung von Idioten und 
schwachsinnigen Kindern sein Veto ein. Der Gouverneur be- 
zeichnete das Gesetz unter anderem als Produkt einseitiger 
Gelehrten, als unethisch, es könne gar zur Vivisektion auch an 
Menschen führen, es verletze die bestehenden Gesetze, welche 


Erziehung der Idioten, aber nicht Schutz der Gesellschaft ver- 


langen.) 

II. Ähnliches wie hinsichtlich der Berechtigung oder viel- 
mehr Nichtberechtigung zur Unfruchtbarmachung zwecks Ver- 
hütung eines defekten Nachwuchses gilt bezüglich des Rechtes 
zur Bewirkung der Fortpflanzungsunfähigkeit zwecks Trieb- 
und Charakteränderung, um das Individuum zu bessern sowie 
Verbrechen und soziale Schäden dadurch zu vermindern. 

Denn auch ein solches Recht erkennt der Staat nicht an. 
Zum Zweck der Erziehung und Besserung sind höchstens — 
und dies nur in mäßigen Grenzen — gewisse körperliche Züch- 
tigungsrechte gegen Schüler, Zöglinge usw. erlaubt, darüber 
hinaus sind körperliche Eingriffe völlig verpönt, durch An- 
drohung der Strafen im Strafgesetzbuch und ihre Festsetzung 
mittels Richterspruchs gibt der Staat ausdrücklich zu erkennen, 
daß der Zweck der Verbrechensverhütung durch Maßnahmen 
gegen den Verbrecher nur auf Grund bestimmter Gesetze ge- 
stattet ist. 

Also auch zur Besserung und größeren sozialen Anpassung 
des Individuums ist seine Unfruchtbarmachung verboten, ganz 


26a) Vergl. Ziertmann (ob. Anm. 5 zit.), S. 735—737. 


sehen“ 


a 


= Bi 3 


abgesehen davon, daB — wie weiter unten des näheren erörtert 
werden soll — es höchst fraglich erscheint, ob denn überhaupt 
von der Beseitigung der Zeugungsfähigkeit die wünschenswerte 
Trieb- und Charakteränderung zu erhoffen ist. Ä 

Es liegt auch kein Widerspruch darin, daB man beim ärzt: 
lichen Eingriff im gesundheitlichen Interesse des Patienten die 
Berechtigung dazu einfach aus einem vom Staate stillschweigend 
anerkannten Recht herleitet und für dieses Recht ebenso wie 
für seine Grenzen keine ausdrückliche gesetzliche Bestimmung 

verlangt, die Grenze vielmehr durch die medizinische Wissen- 
schaft feststellen läßt,2”) während man andererseits für die Be- 
schränkung des Nachwuchses aus rassenhygienischen und sozial- 
politischen Gründen, sowohl hinsichtlich. des Rechts dazu als 
seiner Grenzen, eine ausdrückliche gesetzliche Regelung für nötig - 
hält. Denn im ersten Fall ist der Zweck eben stillschweigend 
anerkannt, im zweiten Fall existiert nicht nur keine solche An- 
erkennung, sondern eher eine stillschweigende staatliche Mib- 
billigung; es bedarf deshalb ausdrücklicher gesetzlicher Nor- 
mierung sowohl des Rechtes als seiner Grenzen. 

III. Man kommt also zu dem Resultat, daß heute die Be- 
seitigung der Zeugungsfähigkeit aus rein sozialpolitischen 
Gründen (einerlei, welche Methode angewandt wird) nicht 
erlaubt und demnach nach dem deutschen Recht als schwere 
Körperverletzung strafbar ist. 

Fraglich kann es nur sein, ob eine vorsätzliche oder fahr- 
lässige Körperverletzung vorliegt. 

Es ist einleuchtend, daß es einem aufs äußerste wider- 
streben muß, bei der seitens eines Arztes aus der wohlmeinendsten 
Gesinnung etwa bewirkten, im allgemeinen Interesse liegenden 
Unfruchtbarmachung ein schweres mit Zuchthaus bedrohtes 
Verbrechen nach § 225 anzunehmen, bei dem sogar die Zu- 
billigung mildernder Umstände gesetzlich unmöglich ist. 
Je nachdem man sich aber zur Frage des Irrtums über die 

Rechtswidrigkeit der Handlung stellt, kann man nicht anders 
als eine vorsätzliche Handlung für gegeben zu erachten. 


am Vergl. meine Anm. 17 und 22 erwähnten Aufsätze in den 
„Sexualproblemen“ und in Aschaffenburgs Monatsschrift. 


Nach der einen — auch von Liszt?®) verteidigten — 
Ansicht ist der Irrtum über die Rechtswidrigkeit belanglos, 
d. h. schließt den Vorsatz nicht aus, wenn das Moment der 
Rechtswidrigkeit nicht in den Tatbestand des Delikts ausdrück- 
lich im Gesetz aufgenommen ist. Gerade bei den verschiedenen 
Arten der Körperverletzung gehört aber die Rechtswidrigkeit 
nicht zum gesetzlichen Tatbestand. Nach dieser Auffassung 
wäre die vom Arzt aus sozialen oder sozialpolitischen Grün- 
den ausgeführte Unfruchtbarmachung eine strafbare, vorsätz- 
liche, schwere Körperverletzung. 

Eine andere Meinung geht allerdings dahin?°) — und das 
Reichsgericht teilt sie im allgemeinen —, daß bei dem Irrtum 
über die Rechtswidrigkeit zu unterscheiden ist, ob ihm ein 


. Irrtum über tatsächliche Verhältnisse oder über Rechte zu- 


grunde liegt. Im ersteren Fall beseitigt der Irrtum den Vorsatz, 
im zweiten Falle nicht. In concreto ist es allerdings oft 
schwer, die beiden Arten von Irrtum auseinanderzuhalten, und 
auch das Reichsgericht hat schwankende und widerspruchsvolle 
Entscheidungen über diese Frage erlassen, es unterscheidet ins- 
besondere wieder zwischen „Sätze des Strafrechts“ und „Sätze 
außerhalb des Strafrechts“ und stellt einen Irrtum über „Sätze 
außerhalb des Strafrechts“ dem tatsächlichen, den Vorsatz aus- 
schließenden Irrtum gleich. 

Wie sich das Reichsgericht zur Frage der Unfruchtbar- 
machung zwecks Verhütung eines defekten Nachwuchses oder 
zwecks Besserung des Verbrechers und Verhütung späterer 
Delikte verhalten würde, läßt sich daher von vornherein ebenso- 
wenig sagen wie in den früher erörterten Fällen der Sterili- 
sierung der Frau aus sozialen Gründen in ihrem Interesse. 


Faßt man den Irrtum des Arztes über sein angebliches 
Recht, die Zeugungsfähigkeit aus sozialpolitischen Gründen zu 
beseitigen, als einen Irrtum über ein besonderes Recht auf, so 
wäre nach dem Reichsgericht der Irrtum nicht zu berücksich- 
tigen, es müßte schon sein, daß man ihn als Irrtum über Sätze 
außerhalb des Strafrechts gelten läßt. 


38) Liszt, Lehrbuch des Strafrechts, 17. Aufl., S. 181, § 91. 
2) Vergl. bei Liszt (Anm. 28 zit.) $ 40, Anm. 2, S. 175. 


— 33 — 


Hält man dagegen diesen Irrtum des Arztes über sein 
Recht lediglich für einen Irrtum über die Grenzen des an und 
für sich bestehenden Heilungsrechtes, so wäre eher von Irrtum 
über Sätze außerhalb des Strafrechts zu sprechen. 

Nähme man demgemäß einen den Vorsatz ausschließen- 
den Irrtum an, so wäre der Arzt nur wegen Fahrlässigkeit zu 
strafen und könnte nach § 230 StGB. lediglich mit Geldstrafe 
belegt werden, auch wenn es sich um eine schwere Körper- 
verletzung handelt. 


8$ 7. Die Beseitigung der Zeugungsfählgkeit wegen 
krankhaftem 6teschlechtstrieb insbesondere. 


I. Soxtalpolitische Gründe und individueller Heilungszweck. 


Aus sozialpolitischen Gründen darf nach geltendem Recht 
ein Mensch nicht fortpflanzungsunfähig gemacht werden, auch 
nicht mit seiner Einwilligung. Nun fragt es sich aber, ob nicht 
von einem anderen Gesichtspunkt ein Recht zur Bewirkung 
der Fortpflanzungsunfähigkeit hergeleitet werden kann, näm- 
lich vom rein medizinischen Heilungszweck. 

Wenn nämlich neben dem Zweck (oder auch ohne ihn): 
Verhütung degenerierter, kranker, verbrecherischer Nach- 
kommen oder schädlicher, verbrecherischer Handlungen — zu- 
gleich der Zweck verfolgt wird (bezw. dieser letztere Zweck 
allein), einen krankhaften Trieb oder Zustand zu beseitigen 
oder herabzusetzen bezw. zu bessern, und angenommen wird, 
“ die Beseitigung der Zeugungsfähigkeit ziehe tatsächlich in 
solchen Fällen durchgängig diese Wirkung nach sich, so läßt 
sich die Frage aufwerfen, ob die Operation nicht als eine zu 
Heilzwecken erfolgende und deshalb durch die medizinische 
Wissenschaft erlaubte und straflose Handlung zu betrachten ist. 

Damit solche Heilzwecke verfolgt werden können, muß 
eine Krankheit 5 mindestens ein krankhafter Zustand vor- 
liegen. 

Es genügt also nicht, daß man Öhsraklersigengchaflen ab 
ändern, daß man Roheit, Brutalität, geschlechtliche Begierde 
oder Rücksichtslosigkeit mildern will, es muß mindestens ein 
krankhafter Zustand in Betracht kommen: 
3 


zu... g 


` II. Ist eine Heilung oder Herabseizung des krankhaften 
Geschlechtstriebes überhaupt xu erwarten? 

Zur Entscheidung der Frage, wann eine medizinische In- 
dikation wegen Krankhaftigkeit des Geschlechtstriebes gegeben 
ist, wird man aber zunächst feststellen müssen, ob die Un- 
fruchtbarmachung auf gewisse krankhafte Triebe einen günstigen 
Einfluß ausübt und auf welche Triebe. 

Trotzdem seit Jahrhunderten . Kastrationen ausgeführt 
werden, ist sich doch die ‘Wissenschaft nicht einmal über die 
Wirkungen dieser ältesten Operation völlig klar. 

Soviel allerdings kann man ohne weiteres als feststehend 
behaupten, daß unter den krankhaften Trieben höchstens eine 
Beeinflussung eines krankhaften Geschlechtstriebes durch 
die Unfruchtbarmachung in Rechnung gezogen werden kann. 

Welchen Einfluß aber die Beseitigung der Zeugungs- 
fähigkeit im Einzelfall auf einen krankhaften Geschlechts- 
trieb oder überhaupt auf den Geschlechtstrieb ausübt, 
das ist noch recht zweifelhaft. Jedenfalls sind zu unter- 
scheiden: die Wirkungen beim Eunuchentum und der Kastration 
im engeren Sinne einerseits und die Wirkungen nach erfolgter 
Vasektomie und Sterilisierung andererseits. Beim Eunuchen- 
tum und der Kastration im engern Sinn kann man wohl als 
durchschnittliche Wirkung eine quantitative und qualitative 
Schwächung des Geschlechtstriebes annehmen. Dabei kommt 
es für den Grad der Schwächung darauf an, ob in früheren 
oder späteren Jahren, insbesondere vor oder nach der Pubertät 
die Kastration stattfand. 

„Eine Kastration im jugendlichsten Alter, vor der Pubertät, 
bedingt für gewöhnlich Verlust der Erektions- und Ejakulations- 
fähigkeit. Bei Kastration während der Pubertät bezw. nach 
derselben kann aber die Erektionsfähigkeit noch längere Zeit 
fortbestehen bleiben.“ 3°) 

Nach M0112!) entwickelt sich überhaupt bei jung kastrierten 
Personen der Kontrektationstrieb, die Anziehung zum anderen 
Geschlecht nicht. 


%) Rohleder, Vorlesungen usw., ob. zit. Anm. 1 (Bd. I, S. 299). 
3) Moll, Untersuchungen über die libido sexualis, Bd. 7. Berlin, 
Fischers mediz. Buchhandlg., S. 253. 


si. She 


Andererseits „mangelt es zweifellos auch nicht an Fällen, 
in welchen bei im jugendlichen Alter kastrierten Individuen 
sich ein Geschlechtstrieb deutlich geltend machte“ .??) 

Rohleder und Löwenfeld berichten überhaupt über 
die Erfahrungen einer Anzahl von Schriftstellern, wonach in 
vielen Fällen die Kastration gar keine Änderung in der Qua- 
lität und Quantität des Geschlechtstriebes hervorgerufen, ja 
sogar manchmal eine auffallende Steigerung verursacht habe. 

Bei der Vasektomie und Tubensterilisierung scheint die 
Sache anders zu liegen als bei der Kastration. Nach den Be- 
richten aus Amerika, wo über die Vasektomie schon beträcht- 
liche Erfahrungen gesammelt wurden, soll die Vasektomie 
niemals eine Beeinträchtigung des Geschlechtstriebes oder 
sonstige üble Folgen nach sich ziehen. 

Sharp berichtet hierüber wie folgt: 3°) 

„Die Operation (der Vasektomie) ist überaus einfach und 
sehr leicht auszuführen; ich verwende gewöhnlich weder all- 
gemeine noch lokale Anästhesierung. Die Ausführung der 
Operation dauert etwa drei Minuten und der Patient kehrt 
sofort an die Arbeit zurück, hat unter Unbequemlichkeiten nicht 
zu leiden, ist in seinem Streben nach Leben, Freiheit und Glück 
auf keine Weise behindert, ist jedoch in wirksamer Weise un- 
fruchtbar gemacht. Ich führe diese Operation seit neun vollen 
Jahren aus. Ich habe 236 Fälle, die vortreffliche Gelegenheit 
für Beobachtung nach der Operation bieten, und ich habe nie- 
mals irgendein ungünstiges System wahrgenommen. Atrophie 
der Hoden und zystische Degeneration finden nicht statt, es 
folgen keine Störungen des geistigen oder nervösen Zustandes, 
sondern der Patient wird im Gegenteil heiterer und geweckter, 
läßt mit übermäßiger Masturbation nach, und rät seinen Kame- 
raden, zu ihrem eigenen besten sich derselben Operation zu 
unterziehen. “ 


3) Löwenfeld, S. 304, ob. Anm. 2 zit. Auch Zambaco Pascha 
{oben Anm. 9 zitiert) berichtet S. 102 von einem im jugendlichen Alter 
kastrierten Eunuchen, der die heftigste libido verspürt und regelmäßig 
zur Stillung seines Triebes das Bordell besucht habe. Vgl. auch S. 
245, Ab. 4 über die koitusartige Möglichkeit gewisser Eunuchen. 

3) Zit. nach Ziertmann, S. 738, ob. Anm. 5 zit. 


gt 


di Je 2m 


Auch die Unfruchtbarmachung durch Ronie een 
soll potestas coeundi und libido unberührt lassen.8$) 

Die Spermektomie dagegen soll nach Ren to ul 35) dia Be-. 
gierde und die Fähigkeit zu sexuellem Verkehr beseitigen, 
doch dürfte wohl auf diese Wirkung nicht regelmäßig zu zählen 
sein; denn es ist nicht ersichtlich, warum diese Methode einen. 
sichereren Einfluß auf den Geschlechtstrieb ausüben sollte als 
die Kastration, die Entfernung der Hoden. Ich habe auch in. 
der Literatur sonst nichts über die Wirkung der Spermektomie 
auf den Geschlechtstrieb gefunden. 


Als Resultat ergibt sich: 


Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ist bei Erwachsenen 
als Folge der Unfruchtbarmachung eine Herabsetzung (selten eine’ 
Beseitigung) eines krankhaften Geschlechtstriebes zu erwarten, 
wenn die Methode der Kastration im engeren Sinne angewandt 
wird, wahrscheinlich hat die beim Mann ausgeführte bloße 
Spermektomie eine ähnliche Wirkung auf den Geschlechtstrieb, 
doch dürften über . diese Methode noch’ die praktischen Er- 
fahrungen fehlen. . | 


Will man also zu Heilzwecken zwecks Beseitigung oder 
Herabsetzung eines krankhaften Geschlechtstriebes die Be- 
wirkung von Zeugungsfähigkeit in Erwägung ziehen, so wird 
man zurzeit wohl nur die ältere Methode, d. h. die Kastration 
im engeren Sinne anwenden. | 


Unter den zwei Methoden der Bewirkung von Eunuchen- 
tum und Kastration im engeren Sinne wird man nur die zweite 
für zulässig erachten. Denn wenn auch die Beseitigung der 
äußeren Geschlechtsorgane neben derjenigen der Hoden unter 
Umständen noch eine tiefergehende Wirkung auf den Ge- 
schlechtstrieb ausüben mag als die bloße Exstirpation der 
Hoden, so ist der Unterschied in den Wirkungen beider. Ope- 
rationen nicht ein derartiger, daß anstatt der weit weniger 
in die körperliche Integrität einschneidenden. Kastration im 
engeren Sinne der stark verstümmelnde, zum Eunuchen 


' u) Vgl. Krause und Ziegler, ob. Anm. 7 zit., ähnlich schriftliche 
Mitteilung von Dr. Good. Good ob. Anm. 2 zit. 
85) Zitiert bei Ziertmann, ob. Anm. 5 zit. 


au Van gm 


machende, auch schon an und für sich gefährlichere Eingriff 
begründet wäre. | 


III. Ist die Kastration zwecks Heilung oder Herabsetzung 
eines krankhaften Geschlechtstriebes ein medizinisch gebräuch- 
liches und statthaftes Mittel? 


Die Vornahme von Kastrationen zur Beseitigung oder 
Herabsetzung eines krankhaften Geschlechtstriebes [abgesehen 
in Fällen schlimmer sexueller Aufregungszustände als Be- 
gleiterscheinungen schwerer Neurosen und Psychosen bei Frauen, 
die durch die Ovarialsphäre beeinflußt werden ®®)] ist anschei- 
nend in Europa noch nicht häufig erfolgt, insbesondere nicht 
häufig bei Männern. 

Näcke berichtet über vier solcher Kastrationen, die in 
dem schweizer Asyl zu Wil ausgeführt wurden.) Sie wurden 
allerdings in erster Linie aus sozialpolitischen, nicht individuellen 
und nicht medizinischen Gründen vorgenommen; hätten nur 
erstere Gesichtspunkte vorgelegen, so würden strafbare Hand- 
lungen (vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzungen je nach- 
dem) in Frage stehen. Die Möglichkeit der gleichzeitigen Vor- 
nahme aus gesundheitlichen Zwecken im Interesse der Ope- 
rierten kann dagegen diese Handlungen rechtfertigen. 

Diese vier Fälle sind folgende: 

Ein 25jähriges Mädchen, welches an Epilepsie mit zeit- 
weisen heftigen Tobsuchtsanfällen und ausgesprochener Nym- 
phomanie litt, hatte schon zweimal geboren, und zwar epilep- 
tische, blödsinnige, im heimatlichen Armenhaus untergebrachte 
Kinder. Man wollte also zweifellos in erster Linie einem 
weiteren kranken Nachwuchs Einhalt tun. 

Ein anderes 36jähriges Mädchen mit angeborenem Schwach- 
sinn, zeitweisen Aufregungszuständen und übermäßiger libido 
hatte gleichfalls zwei uneheliche Kinder geboren, die der Ge- 
meinde zur Last fielen. Schon aus dem kurzen Bericht 
Näckes geht unverblümt hervor, dab man die Kastration 


#) Krömer, Beitrag zur Kastrationsfrage, ob. Anm. 12 zit. 
3) Näcke, Die ersten Kastrationen aus sozialen Gründen auf 
europäischem Boden, ob. Anm. 2 zit. 


z WIR ne 


vornahm, damit nicht die Gemeinde Gefahr lief, weitere Kinder 
des Mädchens unterhalten zu müssen. 

In den beiden anderen Fällen handelte es sich um Männer, 
die infolge ihres krankhaften Geschlechtstriebes Sittlichkeits- 
delikte begangen hatten. Durch die Kastration sollte hier in 
erster Linie der sozialpolitische Zweck der Verhütung weiterer 
strafbarer Handlungen gegen die Sittlichkeit erstrebt werden. 
Der eine 31jährige Mann litt seit der Pubertät an krankhafter 
libido, an wahrer Satyriasis. Der andere, 32 Jahre alt, war ein 
in gewisser Hinsicht geistig sehr regsamer und gut begabter 
Homosexueller, der aber schon früh stets von übermäßiger gleich- 
geschlechtlicher libido gequält war. 

Wegen sozialpolitischen Zwecken wäre die Kastration nicht 
als zulässig zu erachten, dagegen fällt die Strafbarkeit weg, . 
wenn in diesen vier Fällen auch individuelle Heilungszwecke 
verfolgt worden sind. 

In zwei der Fälle handelt es sich zweifellos um krank- 
hafte Zustände: bei dem 25jährigen Mädchen um Nympho- 
manie, bei dem 3ljährigen Mann um Satyriasis. Beide Zu- 
stände sollen nun sogar nach der Kastration verschwunden. 
sein. Man kann deshalb, da eine Heilung dieser Zustände 
gleichzeitig mit dem sozialpolitischen Zweck erstrebt und sogar 
angeblich erreicht worden ist, die Kastration in diesen beiden 
Fällen sehr wohl als eine durch den Heilungszweck gedeckte, 
keine strafbare Körperverletzung bildende ärztliche Operation 
betrachten. 

Zweifelhafter sind die beiden anderen Fälle: Immerhin 
läßt sich wohl die „übermäßige libido* des 36jährigen Mäd- 
chens nebst Aufregungszuständen als krankhafter Zustand auf- 
fassen, der anscheinend auch gebessert worden ist. Jedoch 
wird man mit der Einreihung von „übermäßiger libido“ in die 
krankhaften Zustände, welche die Kastration rechtfertigen, sehr 
vorsichtig sein müssen, sonst könnte jeder Arzt in Spitälern 
sich für befugt halten, dem Wunsch der Verwaltung ent- 
sprechend, ledige, zum Geschlechtsverkehr neigende, leicht 
schwangere Mädchen zu kastrieren, um unter dem Vorwand 
der Heilung krankhafter libido die Gemeinde vor den ihr zur 
Last fallenden unehelichen Kindern zu bewahren. 


— 39 


Recht zweifelhaft ist auch die Sache in dem Falle des 
Homosexuellen, der angeblich von seinem Trieb geheilt 
worden ist. 

Zunächst muß man überhaupt die konträre Sexualempfin- 
dung als krankhaften Zustand betrachten, wenn man dem Arzt 
ein Recht auf ihre Beseitigung durch Kastration zuerkennen will. 

Gerade die ersten Sachverständigen auf dem Gebiet der 
Homosexualität halten sie aber nicht für krankhaft, sondern 
lediglich für eine physiologische Varietät. Immerhin gilt sie 
für viele Ärzte als krankhaft, so daß man sogar von einer weit 
verbreiteten medizinischen Anschauung- in dieser Beziehung 
sprechen kann. 

Die Kastration zwecks Beseitigung oder wenigstens Herab- 
setzung des homosexuellen Triebes mag daher immerhin eine 
in .das Gebiet medizinischer Behandlung fallende Operation dar- 
stellen. 

Sodann ist aber fraglich, ob tatsächlich eine Beeininegung 
der Homosexualität möglich ist. 

Obgleich der oben erwähnte kastrierte Homosexuelle be- 
hauptet, er sei von seinem homosexuellen Trieb geheilt worden, 
zweifelt Näcke selber an dem Vorhandensein dauernder 
Heilung. 

Auch Mol1®®) warnt dringend vor Kastration als Heil- 
mittel der Homosexualität, und die gleiche — mir schriftlich 


mitgeteilte — Ansicht teilen Iwan Bloch und Magnus 
Hirschfeld. 


Ebenso hat För&, ein bekannter französischer Arzt, in 
einem Aufsatz: „La castration contre l’inversion sexuelle“ ın 
der „Revue de chirurgie“ (Paris, Alcan) vom 10. März 1905 
ganz dringend von der Vornahme der Kastration zwecks Heilung 
der konträren Sexualempfindung abgeraten. 


„Die Heilung der Inversion“, sagt Féré, „könne durch die 
Kastration wohl kaum bewirkt werden, da es sich um eine 
Gehirnassoziation handele, die Kastration verschlimmere sogar 
unter Umständen den psychischen Zustand des Patienten.“ 


3) Moll, Die konträre Sexualempfindung. 3. Aufl. 1899, S. 462. 
Berlin, Fischers Mediz. Buchhandlg. 


= #0: es 


Sehr scharf, aber nicht obne Grund. wendet sich Numa 
Praetorius bei der Besprechung des Aufsatzes von Féré in 
der Bibliographie der Homosexualität im Jahrbuch für sexuelle 
Zwischenstufen, Bd. VII, S. 715, gegen die Kastration als 
Heilmittel der Homosexualität. ` 

' „Man müsse staunen“, meint er, „daß es Ärzte gibt, welche 
die Kastration zur angeblichen Beseitigung der konträren 
Sexualempfindung anraten oder wenigstens nicht dringend davon 
abraten.“ 

Und in der Tat ist nicht ersichtlich, wie der homosexuelle 
Trieb beseitigt werden sollte, da man hei Kastrationen, nament- 
lich wenn sie bei Erwachsenen erfolgen, meist höchstens nur 
auf eine Herabsetzung des Triebes zählen kann, während die 
sexuelle Begehrlichkeit an und für sich am ehesten -noch 
bei Kastrationen in früher Jugend schwindet. Ebenso aber 
wie der heterosexuelle Trieb in erster Linie psychisch bedingt 
ist und durch Kastration nach der Pubertät selten aufgehoben 
wird, muß das gleiche bei dem auf das eigene Geschlecht ge- 
richteten, durch eine eigenartige, angeborene (Gehirnanlage 
bedingten homosexuellen Trieb gelten. 

Diese rein theoretischen Erwägungen werden auch be- 
stätigt durch einen von Fö&r& mitgeteilten Fall der Kastration 
eines Homosexuellen. Ob dies der erste ähnliche Fall in Europa 
ist, weiß ich nicht, jedoch liegt er vor den schweizer Fällen, 
über die Näcke berichtet. 

Ein Homosexueller, der alles vergeblich angewandt hatte, 
um seinen Trieb los zu werden, und dem ein Arzt schließlich 
' die Kastration vorgeschlagen hatte, war dem entgegengesetzten 
Rat von För& gefolgt und hatte die Kastration nicht vor- 
nehmen lassen. In einem anderen Fall dagegen, den Fer 
kennen lernte, hatte ein Homosexueller auf Anraten verschie- 
dener Ärzte sich kastrieren lassen, um sich von seinem homo- 
sexuellen Trieb zu heilen. 

Féré berichtet nun über die Wirkungen dieser Kastration 
wie folgt: „Der Zustand dieses Homosexuellen ist seither nur 
noch schlimmer. Die Neigung zu erwachsenen Männern be- 
steht fort, der Betreffende hat die gleichen Erektionen wie 
früher, nur ist sein Wille schwächer geworden, weniger wider- 


ss A s 


standfsähig. Um nicht eine tiefere Neigung zu einem Manne 
zu fassen, muß er oft den Ort wechseln. Er kann sich mit 
keiner Arbeit mehr wie . früher nachhaltig beschäftigen, seine 
neurasthenischen Störungen nehmen zu, ebenso die sexuellen 
Zwangsgedanken. Er hat die Selbstmordgedanken aufgegeben, 
aber er sucht ein Narkotikum, um sich zu betäuben. Chloral 
und Opium hat er schon probiert.“ 

Die Kastration hat also hier eine körperliche und geistige 
Zerrüttung hervorgebracht und stellt ein abschreckendes Beispiel 
dar gegen die Indikation der Kastration ala Heilmittel der 
Homosexualität. | | 

Nicht. gerade für die Indikation dieses angeblichen Heil- 
mittels gegen krankhaften Geschlechtstrieb spricht auch der 
von Krafft-Ebing) mitgeteilte Fall. 

. Ein 18jähriger junger Mann litt derart an häufigen Pol- 
lutionen und dem fortgesetzten unwiderstehlichen Drang zur 
Masturbation, daß sein körperlicher und geistiger Zustand 
schwer angegriffen wurde und er als letztes Heilmittel die 
Kastration verlangte. Trotzdem Krafft-Ebing ihm davon 
abriet, ließ er die Exstirpation- beider Hoden durch einen Chi- 
rurgen, der dazu bereit war, vornehmen. 


Die Operation hatte aber in den ersten zwei folgenden 
Jahren keinen Einfluß auf den krankhaften Geschlechtstrieb; 
die physische und moralische Situation blieb unverändert. Sug- 
gestion war fruchtlos, alle Mittel gegen die Pollutionen und 
den Drang zur Masturbation nützten nichts. Patient trug sich 
sogar mit dem Gedanken, auch den Penis abnehmen zu lassen, 
um eine Linderung seines Zustandes zu erreichen. 

Da trat etwa zwei Jahre nach der Kastration eine Besserung 
ein und schließlich führte der junge Mann normalen Beischlaf 
aus. Die Pollutionen schwanden allmählich, wodurch das 
Nervensystem zu einer gewissen Ruhe und Erholung gelangte. 

Bemerkenswert ist hier, daß trotz der Kastration der Bei- 
schlaf mit andauernder Erektion, Ejakulation (von Prostata- 
sekretes) und intensivem Wollustgefühl möglich war; die 


®) Krafft-Ebing, Arbeiten aus dem Gesamtgebiet der Psy- 
chiatrie und Neuropathologie (Leipzig, 1894), Heft 4, S. 189—192. 


Kastration hat hier potestas coeundi und libido nicht beseitigt 
vielmehr beıde bestehen lassen, andererseits ist es sehr fraglich, 
wie auch Krafft-Ebing betont, ob die allmähliche Beruhigung 
der genitalen Sphäre, das allmähliche Schwinden der Krank- 
haftigkeit des Triebes auf Rechnung der Kastration zu setzen 
sei und ob nicht ein solcher Erfolg auch ohne Kastration, in 
einer Heilanstalt früher zu. erzielen gewesen wäre. Die 
nach der Kastration noch lange Zeit, viele Monate hindurch 
unverändert fortdauernde Krankhaftigkeit des Triebes gestattet 
eher den Schluß, daß die Kastration nichts genützt hatte. 

Krafft-Ebing erwähnt an der gleichen Stelle auch den 
oben Anm. 12 angeführten Aufsatz von Krömer: „Beitrag 
zur Kastrationsfrage“ 4%), in welchem dieser Autor sich zwar 
dafür ausspricht, daß die Möglichkeit bestehe, durch Kastration 
indirekt ein ex masturbatione schwer psychisch und neurotisch 
geschädigtes Nervensystem günstig zu beeinflussen, insofern es 
mit nachlassenden genitalen Reizen zur Ruhe gelangen könne 
und überdies ex castratione die Gesamternährung beträchtlich 
gehoben werde. 

Krömer macht aber darauf aufmerksam, daß solche Fälle 
selten sein dürften und daß man bei der Indikationsstellung 
sehr skeptisch vorgehen müsse. Krafft-Ebing verweist 
auch auf Baker-Brown, die gegen Masturbation die Ent- 
fernung der Testikel versuchten, und teilt eine Erfahrung von 
Defoys mit, der einen Affen wegen exzessiver Onanie kastriert 
‘ hatte und fand, daß das Tier danach geradeso masturbierte 
wie früher. 

Diese praktischen Fälle bestätigten also die obige An- 
sicht, daß auf Beseitigung eines krankhaften Geschlechts- 
triebes mit wenig Wahrscheinlichkeit, dagegen mit mehr Wahr- 
scheinlichkeit auf seine Herabsetzung zu zählen ist, letzteres 
jedoch auch keineswegs mit Bestimmtheit erwartet werden darf. 

Bei der Frage nach der Kastration als Heilmittel krank- 
haften Geschlechtstriebes wird aber nicht nur diese Ungewiß- 
heit in ihrem Einfluß auf diesen Trieb zu erwägen sein, son- 
dern man muß insbesondere auch etwaige ungünstige Wirkungen 


10) In der Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche 
Medizin, Bd. 52. 


= AI me 


auf den gesamten körperlichen und geistigen Zustand in Rech- 
nung ziehen. | | 

. Über diese Frage etwaiger schädlicher Nebenwirkungen 
herrscht noch mehr Ungewißheit als über die Frage nach dem 
Einfluß der Kastration auf den Geschlechtstrieb. 

So behauptet Rieger (Professor der Psychiatrie) in seinem 
Buch „Die Kastration in rechtlicher, sozialer und vitaler Hin- 
sicht* (Jena, Fischer 1900), daß abgesehen von der Beein- 
flussung des Geschlechtstriebes, irgendwelche üblen Folgen der 
Kastration auf Geist oder Körper der kastrierten Person nicht 
einträten und nicht erwiesen seien, und daß selbst bei den in 
der Kindheit kastrierten Knaben sich gar keine unangenehmen 
Wirkungen zeigten, mit Ausnahme eines abnormen Äußeren und 
einer abnormen Stimme: nämlich des Ausbleibens männlicher 
Behaarung und des Stimmwechsels. | 

Rieger ist auch der Ansicht, daß die Kastration sowohl 
bei der Frau wie beim Manne keine schlimmen Folgen für die 
Gesundheit habe. 

Bis. zu einem gewissen Grade wird diese Auffassung be- 
stätigt von Blasius,*!) der gerade im Anschluß an die von 
Rieger zum Ausgangspunkt seiner Abhandlung genommene, 
durch Unfall erfolgte Kastration eines Mannes eine Umfrage 
bei Unfallversicherungs-Gesellschaften gehalten und das spär- 
liche Material unter Beifügung zweier eigenen Beobachtungen 
zusammenstellte. 

Danach war in keinem der 8 Fälle eine eigentliche Er- 
werbsstörung infolge des glatten Verlustes der Hoden vor- 
handen, ebensowenig eine geistige Depression. Allerdings bleibt 

hier die Frage offen, ob nicht gesundheitliche Schäden be- 
standen, welche keine Erwerbsstörung verursachten. 

Gegenüber der Anschauung von Rieger sind aber so viele 
_ ärztliche Stimmen vorhanden, welche die Möglichkeit von üblen 
Wirkungen als Folge der Kastration annehmen, daß bei der 
Frage nach der Opportunität der Operation der Arzt derartige 
mögliche Wirkungen wird berücksichtigen müssen. 


41) Blasius, „Über die Folgen einseitiger und doppelseitiger 
Kastration für die Erwerbsfähigkeit und die Entschädigung dieses 
Schadens“ in der Monatsschrift für Unfallheilkunde, 1896, Nr. 9. 


=. MU: u 


Dabei. wird allerdings zwischen Kastration von Männern 


und Frauen zu unterscheiden sein. 


Bei der Kastration der Frau scheinen eher sesundhertliche 


Störungen befürchtet werden zu müssen.‘?) 
Ohne Rücksicht auf das Geschlecht sollen aber oft unlieb- 


same Folgen eintreten.“3) 


So wird von tiefgreifenden Charakteränderungen berichtet, 
insbesondere auch von Forel,) der als weitere üble 
Wirkungen Fettsucht und nervöse Störungen nennt. 


Solche schlimmen Folgen werden insbesondere auf die durch 
Beseitigung der Geschlechtsdrüsen unmöglich gemachte innere 


Sekretion zurückgeführt. 


Auch Good*) nimmt stets ungünstige Wirkungen an. 
„Die Folgen der Kastration sind natürlich je nach dem Alter, 
in dem die Operation gemacht wurde, verschieden, immerhin 


sind stets Nebenfolgen unliebsamer Art mit ihr verbunden, be- 


sonders auf dem Gebiet des Seelenlebens.“ 


Schlimme Folgen dürften insbesondere auch eher bei älteren 
Männern zu befürchten sein.) 


Ein Beispiel sehr übler Folgen gewährt auch der oben 
S. 40 von Féré mitgeteilte Fall des kastrierten Homosexuellen. 


Erwägt man nun, daß die Kastration den Menschen eines 
Organes, der Geschlechtsdrüsen, beraubt und ihm die wichtige 
Fähigkeit nimmt, Kinder in die Welt zu setzen, berücksichtigt 


4) Vergl. die bei Krömer (ob. Anm. 12 zit.) wiedergegebenen 
Stimmen; ebenso mündliche Mitteilung von Dr. Schickele, ferner 
Jeanselme et Touraine, Troubles psychiques apres la castration 
chez la femme in dem Journal de medicine de Paris vom 13. August 1910. 

13) Näcke, „Die Kastration bei gewissen Klassen von Degenerierten 
usw.“, ob. Anm. 2 zit. Über die Wirkungen der Kastration bei den 
Eunuchen z. vgl. insbesondere auch Zambaco Pascha (oben Anm. 9 zit.) 
namentlich die Kapitel über: „Etat physique ou somatique des eunuques“ 
und „Etat moral ou psychique“ (S. 105—116). Danach hat jedenfalls die 
im jugendlichen Alter vorgenommene Kastration regelmäßig schwere 
körperliche und geistige Schädigungen zur Folge. 

44) Forel, „Die sexuelle Frage“, S. 17—18, ob. Anm. 1 zit. 

4) Good, ob. Anm. 2 zit. 

46) Bo elins, „Die Kastration gegen a oben 
Anm. 13 zit. 


— 4 — 


man, daß nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissen-- 


schaft im Einzelfall ziemliche Unbestimmtheit herrscht über 


den Einfluß und die günstige Einwirkung der Kastration auf 


einen krankhaften Geschlechtstrieb und noch viel mehr Ungewiß- 
heit darüber, ob und welche etwaige üblen gesundheitlichen 


Folgen eintreten, dann kann man die Kastration in ihrer- 
therapeutischen Anwendung gegen einen krankhaften Ge- 


schlechtstrieb nur als eine gewagte, ünsichere Operation auf- 


fassen, als ein Experiment, das noch nicht als anerkanntes- 


therapeutisches operatives Mittel zu dem betreffenden Zweck 
in der medizinischen Wissenschaft gelten kann. +) 
Wenn der Arzt dieses Mittel anwendet, so wird die Sach- 


lage die gleiche sein wie bei allen neueren, noch wenig ex-- 


perimentierten Mitteln. 
Hat die Operation einen günstigen Erfolg, dann wird der 


Arzt als geschickter, verständnisvoller Operateur gefeiert, hat. 


sie dagegen schlimme Wirkungen, dann läuft er Gefahr, wegen 
fahrlässiger Körperverletzung bestraft zu werden, je nachdem 


die medizinischen Kollegen und Sachverständigen das Mittel. 


als ein in concreto zu gewagtes bezeichnen, das der Operateur 


nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft und Praxis. 


nicht anwenden durfte. 

Deshalb wird der Arzt bei einem jedenfalls gegen krank- 
haften Geschlechtstrieb noch ungewohnten Mittel wie die 
Kastration diese nur bei willensfähigen Personen vornehmer 


dürfen, deren Einwilligung in die Operation er erlangt hat.. 


Bei Kindern und Geisteskranken wird man die Operation 


zu diesem Zweck nur für zulässig erachten in verzweifelten. 
Fällen, in denen die Kastration als letztes zu versuchendes: 


Mittel zur Heilung oder Herabsetzung eines zu den schlimmsten 
Folgen führenden krankhaften Geschlechtstriebes sich darstellt.‘°) 


47) Dieses Ergebnis berechtigt dazu, auch schon an dieser Stelle zu: 
bemerken, daß aus den gleichen Gründen der Unsicherheit der Folgen. 
auf *den Geschlechtstrieb und der Ungewißheit über gesundheitliche: 


Nachteile die Kastration zurzeit auch de lege ferenda noch nicht als sozio- 
logisches Mittel zur Eindämmung von Sittlichkeitsverbrechen in Betracht 
kommen kann. 


18) Vgl. auch Krömer (oben Anm. 12 zitiert) hinsichtlich der 
Kastration junger Geisteskranker: Man könne an Kastration denken,. 


' 


— 36 — 


Denn liegen derartige Voraussetzungen nicht vor, so entfällt 
auch der Gesichtspunkt, unter dem man sonst Operationen an 
diesen Personen für statthaft hält, nämlich daß sie bei vernünftiger 
Würdigung der Sachlage die Einwilligung gegeben hätten. *°) 

Aus demselben Grund der Zweifelbaftigkeit der Operation 
wird man auch unbedingt verlangen müssen, daß der Arzt den 
willensfähigen Patienten genau über die Zweifelhaftigkeit des 
Mittels unterrichtet und ihm neben den voraussichtlichen Vor- 
teilen auch die eventuellen Nachteile der asus) ausführ- 
lich auseinandersetzt. 

Gerade bei neuen, noch nicht erprobten Operationen muß 
man eine solche vorherige genaue Aufklärung im Gegensatz 
zu allgemein üblichen Operationen begehren und sie alsnach den 
Regeln der medizinischen Wissensehaft erforderlich betrachten. 

Hat deshalb der Arzt eine solche genauere, auch die 
Schattenseiten berücksichtigende Belehrung nicht, oder nur eine 
ungenügende vorangehen lassen und schlagen die Operation 
und ihre Wirkungen schlecht aus, so kann der Arzt wegen fahr- 
lässiger Körperverletzung bestraft werden, weil er nicht nach den 
Regeln der ärztlichen Wissenschaft und Praxis verfahren ist. 


$ 8. Die Beseitigung der Zeugungsfähigkeit und ihre 
Strafbarkeit nach den Vorentwürfen zu einem deutschen, 
einem schweizerischen und einem österreichisehen 
Strafgesetzbuch. 2>) 
I. Deutscher Vorentwurf. 
Während nach dem geltenden deutschen Strafgesetzbuch 


„wenn bei jungen maniaci die sexuelle Seite derart schwer betont ist, 
daß tobsüchtige Erregung infolge onanistischer oder anderer Exzesse 


immer wiederkehrt, daß körperliche und geistige Vernichtung zu er- 


warten steht.“ 

4%) Über die Fälle nangdi und nicht möglicher Einwilligung 
vgl. insbesondere von Bar, Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit 
‚des Arztes, im „Gerichtssaal“ Bd. LX, S. %9ff.; ferner Büdinger, Die 
Einwilligung zu ärztlichen Eingriffen (Leipzig u. Wien 1905, Deuticke), 
auch von Lilienthal (oben Anm. 17 zit.). 

4%) In den folgenden Ausführungen habe ich hauptsächlich das 
Verhältnis der strafbaren Körperverletzung zu der seitens eines 
Arztes vorgenommenen rechtswidrigen Beseitigung der Zeugungs- 
fähigkeit im Auge. 


in. 
I: 


[er 


z= AT a 


die Beseitigung der Fortpflanzungsfähigkeit, falls kein Recht 
zur Vornahme der Operation besteht und auch keine bloße 
fahrlässige Handlung vorliegt, ein Verbrechen nach den 
$$ 224, 225 darstellt, ohne Rücksicht auf die Operations- 
methode und ihre Wirkungen auf den körperlichen oder geistigen 
Zustand, ist nach dem Vorentwurf zu einem deutschen Straf- 
gesetzbuch die Sachlage nicht mehr die gleiche. 

Der neue Paragraph über die schwere Körperverletzung, 
$ 229, ist nämlich gegenüber dem zurzeit bestehenden $ 225 
insofern geändert, als die kasuistische Aufzählung der schweren 
Folgen der Körperverletzung weggelassen ist, insbesondere die 
Erwähnung des Verlustes der Zeugungsfähigkeit. 

Der $ 229 lautet einfach dahin in Absatz 1: 

„Hat die Körperverletzung eine schwere Schädigung 
des Körpers oder des Geistes des Verletzten zur Folge 
gehabt, so ist die Strafe Zuchthaus bis zu fünf Jahren, 
bei -mildernden Umständen Gefängnis nicht unter einem 
Monat.“ 

Und Absatz 2 führt dann des näheren aus: 

„Eine schwere Schädigung des Körpers oder des Geistes 
liegt insbesondere vor, wenn infolge der Körperverletzung 
der Verletzte in Todesgefahr geraten, in schwere und 
langdauernde Krankheit verfallen oder sonst in dem Ge- 
brauch seines Körpers oder Geistes u und schwer 
beeinträchtigt worden ist.“ 

Nach Absatz 3 tritt Zuchthausstrafe bis zu zehn Jahren 
ein, wenn der eingetretene piore. von dem Täter beabsich- 
tigt war. 

Damit die Beseitigung der Fortpflanzungsfähigkeit nach 


dem Vorentwurf eine schwere Körperverletzung bilde, ist jetzt 


erfordert, daß sie eine schwere Schädigung des Körpers oder 
des Geistes bedeutet. _ 

Von den Beispielen des Abs. 2 des $ 229 werden die 
Fälle des „in Todesgefahr Geraten“ oder des „in schwere und 
langdauernde Krankheit Verfallen* als Folge der Operation 
nur selten zutreffen, immerhin wird bei einer ungeschickt 


‚ausgeführten Kastration namentlich einer Frau oder bei einer 


unglücklichen Verkettung von Umständen eine Todesgefahr 


s= AO a 


als Ausnahmefall wohl eintreten können, als Regel werden 
beide Eventualitäten nicht platz greifen. 

Dagegen wird sich eher die Frage erheben, ob nicht eine 
lange und schwere Beeinträchtigung in dem Gebrauch des 
Körpers oder Geistes als Folge der Operation anzunehmen ist. 

In erster Linie kommt in dieser Beziehung in Betracht, 
ob man die Tatsäche, daß das Individuum nicht mehr zeugungs- 
fähig ist, als eine derartige schwere Beeinträchtigung auffaßt. 

Die Zeugungsfähigkeit, obwohl von außerordentlicher 
Wichtigkeit für das Individuum, hat doch fast ausschließlich 
familienrechtliche, soziale, moralische Bedeutung; für das 
körperliche Wohlbefinden der Person spielt sie kaum eine 
Rolle, und auch hinsichtlich der psychischen Gesundheit ist 
sie nur von Einfluß mittels indirekter Reflexwirkungen aus 
ihrer sozialen Funktion. Mit der Beseitigung der Fortpflan- 
zungsfähigkeit wird dem Individuum nur die Möglichkeit ge- 
nommen, einen — meist nicht gewollten — Erfolg, die Be- 
fruchtung, zu erzielen. 

Man kann daher diese Aufhebung der Zeugungsfähigkeit sehr 
wohl nicht -als eine schwere Beeinträchtigung in dem Ge- 
brauch des Körpers oder des Geistes auffassen und überhaupt 
nicht als eine schwere Körperverletzung, ich gebe aber zu, daß 
die entgegengesetzte Meinung auch viel für sich hat. 

Würde man die Tatsache der operativen Bewirkung von 
Zeugungsunfähigkeit an und für sich wegen der Unmöglich- 
keit, Kinder zu zeugen, für. eine schwere Körperverletzung 
halten, dann wäre auch nach dem Vorentwurf der gesetzliche 
Zustand ganz derselbe wie bisher und es käme bei der Frage, 
wie eine vorsätzliche, widerrechtliche Unfruchtbarmachung 
juristisch zu beurteilen ist, nicht darauf an, welche Art Opera- 
tion angewandt wurde und ob und etwa welche Wirkungen der 
Verlust der Zeugungsfähigkeit auf Körper und Geist gehabt hat. 

Bildet aber nach dem Vorentwurf die Beseitigung der 
Fortpflanzungsfähigkeit an und für sich keine schwere Körperver- 
letzung mehr, so wird man hinsichtlich der Qualifikation der 
Körperverletzung zu unterscheiden haben, durch welche Art 
von Operation die ‚Beseitigung herbeigeführt wurde. 

Die Verursachung von Eunuchentum, die Entfernung nicht 


a 


ss AO 


nur der Hoden, sondern auch der äußeren Geschlechtsteile — 
ganz oder teilweise — fällt zweifellos unter den $ 229, da 
hier eine schwere und langdauernde Beeinträchtigung in dem 
Gebrauch des Körpers, in der Ausübung der Geschlechtsfunk- 
tion verursacht wird. | 

Bei der Kastration im engeren Sinne ist schon weniger 
sicher, ob $ 229 Anwendung findet. 

Man kann allerdings geneigt sein, die Exstirpation der 
Hoden oder Övarien — ganz ohne Rücksicht auf sonstige 
spätere Wirkungen auf den (Gesamtzustand — schon als 
schwere Schädigung des Körpers im Sinne des $ 229 aufzu- 
fassen, namentlich in der Erwägung, daß durch die Entfernung 
der Testikel die anscheinend für den menschlichen Organismus 
förderliche und wünschenswerte, wahrscheinlich auch von den 
Geschlechtsdrüsen erzeugte innere Sekretion unmöglich ge- 
macht wird, wenigstens von diesem Organ aus. 

Andererseits aber läßt sich die Auffassung vertreten — und ich 
möchte sie für die zutreffendere halten — , daß in jedem Einzelfall 
die Wirkungen der Kastration ins Auge zu fassen sind und 
nur da, wo in concreto schwere Schäden für Körper oder 
Geist festgestellt werden, von einer schweren Körperverletzung 

im Sinne des $ 229 gesprochen werden kann. 

In manchen Fällen werden wohl solche Schäden sich 
herausstellen, insbesondere würde ich da eine schwere Schädi- 

gung im Gebrauch des Körpers annehmen, wo die libido und 
die potestas coeundi verschwunden oder kaum noch vorhanden 
sind. Ä 
Wo dies nicht zutrifft und auch keine andere schwere 
Schädigung im Gebrauch des Körpers sich einstellt, da kann 
dann auch nicht der § 229 angewendet werden. 

In solchen Fällen würde es sich bei der Kastration nur 
um gefährliche Körperverletzung nach $ 228 des VE. handeln. 

Der $ 228 über die sogen. „gefährliche Körperverletzung“ 


lautet: 


„Hat der Täter die Körperverletzung mittels gefähr- 
lichen Gebrauchs einer Waffe oder eines Messers oder 
sonst in einer Weise begangen, daß dadurch das Leben 
des Verletzten oder in erheblichem Maße seine Gesund- 

4 


D, 


— 50 — 


heit gefährdet werden konnte, so ist die Strafe Gefängnis 

nicht unter zwei Monaten, bei mildernden Umständen 

Gefängnis bis zu drei Jahren oder Haft oder Geldstrafe 

bis zu 5000 M.“ | 

Die Kastration ist nun nach der Anschauung wohl der 
allermeisten Mediziner eine Operation, durch welche in erheb- 
lichem Maße die Gesundheit gefährdet werden kann; nament- 
lich wird bei der Kastration der Frau schon die Operation an 
und für sich wohl als eine gefährliche gelten müssen. 

Jedenfalls aber sind die meisten Mediziner der Ansicht, 
daß namentlich bei der Frau, aber auch bei dem Manne, wenn 
auch keine schwere Schädigung im Gebrauch des Körpers ent- 
stehen muß, so doch erhebliche gesundheitliche Störungen 
des Individuums als Folgen der Kastration eintreten können. 5°) 
Damit ist aber der Tatbestand des $ 228, der gefährlichen 
Körperverletzung erfüllt, auch wenn in concreto, im Einzelfall 
auch nicht der geringste gesundheitliche Schaden entsteht. 

Ist die angewandte Methode die Vasektomie, so verhält 
sich die Sache wieder anders. 

Bei der Vasektomie bleiben die Testikel bestehen, nach 
Sharp!) findet auch keine Atrophie der Hoden statt, ebenso- 
wenig zystische Degeneration, es folgten auch keine Störungen 
des geistigen oder nervösen Zustandes. 

Kurz außer dem Fortfall der Zeugungsfähigkeit sei keine 
üble Wirkung festzustellen. 

Wenn alles das richtig ist, dann könnte auch nicht nur 
nicht von einer schweren Schädigung des Körpers die Rede 
sein, sondern auch ebensowenig von einer durch die Operation 


5) Rieger (oben $ 7, Text nach Anm. 40 zitiert) leugnet nicht 
nur die vitale Funktion der Geschlechtsdrüsen, sondern verneint auch, 
daß irgendwelche nennenswerte gesundheitliche Schäden als Folgen der 
Kastration entstehen; den Verlust der Sexualfunktion betrachtet er nur 
als Verlust eines Genusses. 


Mit seinen Auffassungen dürfte Rieger wohl allein stehen. Es sei 
auch auf die Lektüre des Buches des Kenners des Eunuchentums Zam- 
baco Pascha (ob Anm. 9 zitiert) verwiesen, insbesondere auf dessen 
Kapitel über die innere Sekretion S. 177 ff. 

51) Vgl. oben Text bei Anm. 33 und Anm. 33, 


an. Be 


zu befürchtenden erheblichen Gefährdung des Lebens oder der 
“Gesundheit. 

Demnach lägen weder der Tatbestand der schweren noch 
der gefährlichen Körperverletzung bei rechtswidrigem vorsätz- 
lichen Vornehmen der Operation vor.°?) 

Wegen des bei der Operation gebrauchten Messers oder 
äbnlichen Instrumentes darf man nicht eine gefährliche Körper- 
verletzung für gegeben erachten. Denn nur dann begründet 
eine mittels Messers begangene Körperverletzung den Tat- 
bestand der gefährlichen Körperverletzung, wenn der Ge- 
brauch ein gefährlicher war. 

In der Hand des fachkundigen Operateurs ist der .Ge- 
brauch des Instrumentes bei der an und für sich nicht gefähr- 
lichen Operation der Vasektomie kein gefährlicher. 


62) Im Laufe der Zeit dürften allerdings auch bei der Vasektomie 
zwar keine Atrophie im Sinne der Verkleinerung der Hoden, wohl aber 
eine Degeneration des Hodenepithels eintreten (schriftliche Mitteilung 
von Dr. Good); aber selbst wenn man in dieser Degeneration an und 
für sich bei sonstiger durch die Vasektomie völlig unberührten Gesund- 
heit einen schweren Schaden in dem Gebrauch des Körpers sehen wollte, 
so liegt ein solcher längere Zeit nach der Operation nicht vor, und es 
ist auch völlig ungewiß, nach wieviel Jahren die Degeneration eintritt. 
Von einer schweren Körperverletzung könnte man daher auch im Hin- 
blick auf solche eventuelle Degeneration der Hoden nicht sprechen, eben- 
sowenig von einer erheblichen Gefährdung des Lebens oder der Gesund- 
heit, d. h. also auch nicht von einer Körperverletzung nach § 228. 

Einzelne Ärzte wie Dumstrey (im Zentralblatt für Chirurgie, 
23. Jahrg. Nr. 18) und Czerny (in der Deutschen medizinischen 
Wochenschrift, April 1906) berichten allerdings von schweren Schädi- 
gungen, namentlich auch des Geisteszustandes, als Folge der bei alten 
Männern zur Heilung der Prostatahypertrophie angewandten Vasektomie. 

Diese Fälle können aber für die Frage der Schwere oder Gefähr- 
lichkeit der Vasektomie im allgemeinen nicht herangezogen werden, da 
es sich um besondere Ausnahmefälle handelt, bei denen hohes’ Alter 
and vor der Operation schon bestehende Krankheit eine wichtige 
Rolle spielen und für die Frage der normalerweise eintretenden Folgen 
der Vasektomie, daher auch nicht für die Anwendbarkeit des $ 228 auf 
sie maßgebend sein können. Immerhin wird man die amerikanischen 
Berichte mit Vorsicht aufnehmen müssen. Man wird aber wohl sagen 
können, daß regelmäßig die Vasektomie weder eine schwere noch eine 
gefährliche Körperverletzung bildet, wenn man nicht schon in der Un- 
fruchtbarmachung als solcher ein Verbrechen gegen § 229 erblickt. 


4* 


PER; pre 


Nach dieser Auffassung würde die Vasektomie regelmäßig 
nur eine einfache Körperverletzung bilden im Sinne des § 227 
VE., der lautet: 

„Wer vorsätzlich einen andern körperlich mißhandelt 
oder an der Gesundheit beschädigt, wird wegen Körper- 
verletzung mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit 
Haft oder mit Geldstrafe bis zu 5000 M. bestraft. In 
besonders leichten Fällen kann von Strafe abgesehen 
werden.“ 

Wenn auch die Vasektomie keine üblen Folgen hat, so 
muß doch der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit als 
eine körperliche Mißhandlung und wohl auch wegen des Ver- 
lustes der Fortpflanzungsfähigkeit als Gesundheitsbeschädigung 
aufgefaßt werden, aber eben nur als gewöhnliche Körperver- 
letzung. 

Die Vasektomie wird aber, selbst wenn keine medizinische 
Indikation ein Recht zur Ausführung der Operation gab, im 
Falle der Einwilligung des zu ÜOperierenden in die Operation 
nicht strafbar sein, da — wenigstens der überwiegenden An- 
sicht der Juristen nach — die Einwilligung des Verletzten in 
die leichte Körperverletzung die Straflosigkeit bewirkt. 

Zu ganz dem gleichen Resultat wie bei der Vasektomie 
gelangt man bei einer etwa durch Röntgenbestrahlung er- 
folgten Unfruchtbarmachung, welche nicht nur das übrige 
Geschlechtsleben, sondern überhaupt den gesamten - körper- 
lichen und geistigen Zustand unbeeinflußt lassen soll. 58) 

Good (schriftliche Mitteilung) wirft sogar die Frage auf, 
ob man da noch überhaupt von „Körperverletzung“ im ana- 
tomischen Sinne reden kann. 

Im Sinne des Gesetzes muß man allerdings auch hier 
eine Körperverletzung als vorliegend betrachten, weil eine 
Einwirkung auf die Funktionsfähigkeit eines Organes — der 
Geschlechtsdrüsen — erfolgt und eine körperliche Änderung 
in den Sekretionen dieses Organes hervorgebracht wird. 

Aber auf alle Fälle ist diese Körperverletzung eine leichte 
zu nennen. 

5) Vgl. Good (oben Anm. 2 zit.) sowie insbesondere Krause und 
Ziegler (oben Anm. 7 zit.). 


u I: 


. Für eine besonders leichte möchte ich jedoch weder die 
durch Vasektomie noch die durch Röntgenstrahlen verursachte 
Körperverletzung erklären, wegen der wichtigen Folgen der 
Unfruchtbarmachung. Daher würde auch nicht der letzte Satz 
des § 227 in diesen Fällen platz greifen, der gestattet, über- 
haupt von Strafe abzusehen. 

Was die Spermektomie anbelangt, so würde diese Operation 
eine schwere Körperverletzung im Sinne des $ 229 darstellen, 
wenn es richtig ist, daß sie ein Schwinden der libido und der 
potestas coeundi zur Folge hat. Denn eine derartige Beseiti- 
gung der Geschlechtsfunktion muß als schwere Beeinträchti- 
gung in dem Gebrauch des Körpers aufgefaßt werden, wahr- 
scheinlich aber ist ein solches Schwinden oder eine beträcht- 
liche Herabsetzung des Triebes nur mehr oder weniger unbe- 
stimmt, nicht aber sicher, so daß gegebenenfalls nur von einer 
gefährlichen Körperverletzung nach § 228 die Rede sein könnte. 

Die Tubensterilisation der Frau dürfte nicht als eine 
leichte Körperverletzung anzusehen sein, sondern mindestens 
als eine gefährliche. 

Nach einigen Ärzten soll sie allerdings für einen geübten 
Operateur mit Leichtigkeit und so gut wie ohne Gefahr auszu- 
führen sein.) 

Dabei wird wohl für den Grad der Gefährlichkeit der 
Operation es darauf ankommen, ob die Operation unter Er- 
öffnung des Bauches oder von der Scheide aus erfolgt. 

So sagt Good5) von der ersteren Methode, sie sei 
schwieriger und gefährlicher als die Vasektomie wegen der 
Notwendigkeit einer Narkose und weil infolge der Eröffnung 
des Bauchfells eine Infektion der gesetzten Wunde, die ja 
freilich höchst selten eintrete, doch nicht mit absoluter Sicher- 
heit auszuschließen sei. 

Schon durch die Operation an und für sich kann also 
(mindestens im Falle der Eröffnung des Bauches) die Gesund- 
heit (ja das Leben) der Frau in erheblichem Maße gefährdet 
werden, deshalb wird mindestens die unter dieser Eröffnung 


4) So nach dem „sehr erfahrenen Gynäkologen“, auf den sich 
Löwenfeld, S. 327 (oben Anm. 2 zit.), beruft. 
5) Oben Anm. 2 zit. 


— 54 — 


erfolgende Tubensterilisierung als gefährliche Körperverletzung 
nach § 228 zu gelten haben. 

Das Ergebnis, wonach nach dem deutschen Vorentwurf — falls 
man der oben entwickelten Anschauung folgt — die Vasektomie 
(und vielleicht auch gewisse Operationsmethoden der Tubensteri- 
lisierung) nur eine leichte Körperverletzung bildet, drängt die Frage 
auf, ob es gerechtfertigt war, den Verlust der Zeugungsfähig- 
keit als eine stets die schwere Körperverletzung begründende 
Folge zu streichen. 

Ich möchte die Frage bejahen. 


Ich halte es nicht für ein unerfreuliches Resultat, daß die 
Vasektomie nur als leichte Körperverletzung strafbar ist und 
daher im Falle vorheriger Einwilligung in die Operation 
straflos sein wird. 


Diese Anschauung hängt allerdings mit der allgemeinen 
Auffassung über die Grenzen des Einmischungsrechts des 
Staates in die Angelegenheiten des einzelnen und mit der 
Stellungnahme zur Einschränkung der Kindererzeugung zu- 
sammen. Wer möglichste Selbstregulierung des Nachwuchses 
durch die Eltern für statthaft, ja wünschenswert erachtet, wer 
mehr Gewicht legt auf die Qualität als auf die Quantität des 
Menschenmaterials, wer eher glückliche Zustände bei ge- 
ringerer Bevölkerungsziffer erstrebenswert findet, als möglichste 
Herdenvermehrung auch auf Kosten des Wohlstandes und des 
körperlichen und geistigen Fortschrittes, wer davon ausgeht, 
daß der Mensch frei über seinen Körper verfügen darf und 
daß daher grundsätzlich auch dritte, die bei dieser Verfügung 
mitwirken, höchstens nur strafbar sein sollen, wenn es sich 
um Eingriffe schwerer Natur handelt, der wird es nicht für 
ein Übel ansehen, daß der Arzt, der Vasektomie ausführt, 
nicht dem Strafrichter verfällt, auch wenn er ohne medizinische 
Indikation zur Operation schritt. 


= IL Der Schweizerische Vorentwurf. 

Auch nach dem Vorentwurf zu einem schweizerischen 
Strafgesetzbuch richtet sich die Art der Strafbarkeit der wider- 
rechtlichen Unfruchtbarmachung danach: einmal in welches 
Verhältnis man die Beseitigung der Zeugungsfähigkeit zur 


ir En as 


Körperverletzung bringt, sodann wie man die verschiedenen Ope- 
rationen zwecks Aufhebung der Fortpflanzungsfähigkeit wertet. 

Der schweizerische Vorentwurf kennt gleichfalls drei Arten 
von Körperverletzungen, die u den drei Arten des 
deutschen Rechts entsprechen. 

Die schwerste Art ist die Körperverletzung mit bleibendem 
Nachteil, die ungefähr der schweren Körperverletzung des 
deutschen VE. entspricht: danach wird mit Zuchthaus bis acht 
Jahren bestraft unter anderem: „Wer vorsätzlich einen Körper- 
teil oder ein wichtiges Glied oder Organ eines Menschen ver- 
stümmelt oder ein wichtiges Glied oder Organ einos Menschen 
unbrauchbar macht, einen Menschen dauernd arbeitsunfähig 
oder siech macht oder lebensgefährlich verletzt“ (§ 74). 

Die Unfruchtbarmachung unter Beseitigung oder Ver- 
stümmelung auch der äußeren Geschlechtsteile (Eunuchentum) 
fällt zweifellos unter den Paragraphen, aber auch die bloße 
Kastration im engeren Sinn wird durch die Bestimmung ge- 
troffen, denn die Entfernung der Hoden oder Ovarien bedeutet 
mindestens die Verstümmelung eines Körperteiles ohne Rück- 
sicht auf den weiteren Einfluß der Operation auf das Ge- 
schlechtsleben. 

Hinsichtlich der Vasektomie wird es sich auch hier fragen, 
wie man die Unfähigkeit, Kinder zu zeugen, infolge der Un- 
möglichkeit des Spermaausflusses auffaßt. Sieht man schon in 
dem diese Wirkung herbeiführenden Eingriff in den inneren 
Geschlechtsapparat das Verstüimmeln oder Unbrauchbarmachen 
= eines Organs, so wäre $ 74 anwendbar. 

Ist man der Ansicht dagegen — einer Ansicht, der ich 
mich anschlösse —, daß bei der Vasektomie von einer Ver- 
stümmelung oder einem Urnbrauchbarmachen eines Organs im 
Sinne des Gesetzes nicht die Rede sein kann, so würde zu er- 
wägen sein, ob der $ 75 platz greift, der als schwere 
Körperverletzung betitelt ist (aber nicht den Inhalt des Para- 
graphen über die schwere Körperverletzung des deutschen 
Vorentwurfes hat). 

Dieser $ 75 lautet in Absatz 1 wie folgt: 

„Wer einen Menschen vorsätzlich an einem Körperteil 
oder an einem wichtigen Glied oder Organ oder an 





d Be 


seiner Gesundheit schwer schädigt oder schwächt, wird 

mit Zuchthaus bis zu drei Jahren oder mit Gefängnis 

von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestraft.“ 

Auch die Beantwortung der Frage nach der Anwendbar- 
keit dieses Paragraphen auf die Vasektomie hängt davon ab, 
wie man die Tatsache der Unmöglichkeit des Spermaausflusses 
wertet. Liegt in dem diese Folge bewirkenden Eingriff eine 
schwere Schädigung oder Schwächung der inneren Geschlechts- 
organe bei sonst normaler Funktionierung des Geschlechts- 
apparates ? 


Die Bejahung der Frage hat zweifellos viel für sich, aber 
mit noch größerem Recht läßt sich behaupten, daß bei unge- 
trübter Gesundheit und ungestörter libido und potestas coaundi 
eine schwere Schädigung oder Schwächung eines Organs 
nicht anzunehmen ist. 


Nach dieser Auffassung läge nur eine einfache Körper- 
verletzung nach $ 76 vor, der besagt: | 
| „Wer einen Menschen vorsätzlich an seinem Körper 

oder an seiner Gesundheit schädigt oder schwächt, wird 

auf Antrag mit Gefängnis bestraft. Hat der Täter eine 

Waffe oder ein gefährliches Werkzeug gebraucht oder 

einen hilflosen Menschen verletzt, so wird er ... von 

Amts wegen bestraft.“ 

Das gleiche wird für die Unfruchtbarmachung durch 
Röntgenstrahlen zu gelten haben. 

Fraglich ist es, ob bei Vasektomie und Röntgenbestrahlung 
nur Verfolgung auf Antrag oder von Amts wegen zu erfolgen 
hat. Letzteres dürfte eher anzunehmen sein, da ein gefähr- 
liches Werkzeug gebraucht wird und anscheinend das Gesetz 
den Begriff „gefährlich“ im Sinne abstrakter, nicht konkreter 
Gefährlichkeit, auffaßt. 


Die Spermektomie wird entweder eine Körperverletzung 
mit bleibendem Nachteil oder eine schwere Körperverletzung 
nach $ 75 darstellen, je nachdem libido und potestas coeundi 
ganz schwinden oder nur teilweise. Im ersteren Fall wird 
man von einem Unbrauchbarmachen eines wichtigen Gliedes 
($ 74), ım letzteren Fall mindestens von einer schweren 


zu; pT s 


Schädigung oder Schwächung an einem wichtigen Gliede ($ 75) 
sprechen müssen. 

Die Tubensterilisierung kann, falls die Operation unglück- 
lich ausfällt, unter Umständen eine lebensgefährliche Ver- 
letzung bilden und daher unter $ 74 fallen oder nur den Tat- 
bestand des $ 75 erfüllen, wenn die Operation eine schwere 
Gesundheitsbeschädigung bewirkt. 

Regelmäßig wird wohl beides nicht der Fall sein, weshalb 
sie dann auch wie die Vasektomie nur als einfache Körper- 
verletzung zu beurteilen sein wird.5®) 


III. Der Österreichische Vorentwurf. 

Nach dem Vorentwurf zu einem österreichischen Straf- 
gesetzbuch ist die Sachlage sehr einfach. 

Der $ 299 zählt zu den Fällen der mit Kerker oder Ge- 
fängnis von ein bis zehn Jahren bestraften Körperverletzungen 
die gänzliche Aufhebung oder wesentliche und bleibende 
Schwächung der Fortpflanzungsfähigkeit. 


Danach ist jede rechtswidrige Operation, welche vor- 
sätzlich die Zeugungsfähigkeit beseitigt, nach diesem Para- 
graphen strafbar, ohne Rücksicht auf sonstige Folgen und an- 
gewandte Operationsmethode. 


Die mit Einwilligung des Verletzten ausgeführte Operation 
wird jedoch milder zu strafen sein auf Grund des $ 301, der 
mit Gefängnis oder Haft von zwei Wochen bis zu zwei Jahren 
bedroht, wer einem andern mit dessen Einwilligung eine 
schwere Verletzung am Körper oder schweren Schaden an 
der Gesundheit zufügt. 

Nach diesem Paragraphen ist zu schließen, daß der Vor- 
entwurf bei Körperverletzungen, die keine schweren darstellen, 
die Einwilligung überhaupt als Strafausschließungsgrund an- 
erkennt. 


6) Bei den Bestimmungen über die Körperverletzungen des 
schweizerischen Vorentwurfes wird noch jedesmal in mehreren Absätzen 
unterschieden; ob die Art der versuchten Körperverletzung die gleiche 
ist wie die vom Täter gewollte oder ob eine andere Art von 
Körperverletzung eintrat, als die vom Täter beabsichtigte. Je nachdem 
werden auch verschiedene Strafmaße festgesetzt. Auf diese Einzelheiten 
kann hier nicht eingegangen werden. 


za, GE a 


Die Beseitigung der Zeugungsfähigkeit gilt aber nach dem 
österreichischen Vorentwurfe kraft Gesetzes als schwere 
Körperverletzung, wie dies unzweideutig aus Nr. 4 § 297 her- 
vorgeht, wo schon die bloße Tatsache des Eintrittes der Zeu- 
gungsunfähigkeit bei gewöhnlicher vorsätzlicher Körperverlet- 
zung diese zurschweren stempelt Die Einwilligung hat daher 
nur mildere Bestrafung, dagegen nicht Straflosigkeit zur Folge. 


Zweiter Abschnitt. 


— 


$ 9. Die amerikanischen Gesetzesvorschläge 
und schon erlassene Gesetze über die Beseitigung der 
Zengungsfähigkeit aus sozialpolitischen Gründen. 


Die Unfruchtbarmachung ist nach deutschem Recht, wenn 
sie nicht zu Heilungszwecken im Interesse des Patienten er- 
folgt, eine strafbare Handlung. In Europa ist auch bisher die 
Beseitigung der Zeugungsfähigkeit aus sozialpolitischen (sozio- 
logischen, rassenhygienischen usw.) Gründen bisher — soviel 
ich weiß — durch kein Gesetz erlaubt worden. In Nord- 
amerika dagegen haben verschiedene Staaten im Wege legis- 
lativer Maßnahmen die Aufhebung der nl 
aus derartigen Gründen angeordnet. 57) 
Im Jahre 1902 hat der Staat Indiana „Ein Gesetz zur Ver- 
hütung der Fortpflanzung von Gewohnheilsvorbrecherm, Idioten, 
Schwachsinnigen und Notzüchtlern“ erlassen. 


Das Gesetz selber lautet: °®) 
„Anstalten, in welchen solche Personen interniert sind, 


sollen ermächtigt sein, eine Sachverständigenkommission 
zu ernennen, bestehend aus Zwei Ärzten, welche den 
Geisteszustand der Insassen zu untersuchen haben. Da 
Heredität eine höchst wichtige Rolle bei der Übertragung 





23) Die folgenden Angaben über die amerikanische Gesetzgebung 
sind den Arbeiten von Näcke und besonders von Ziertmann und 


Löwenfeld entnommen (oben Anm. 2 zit.). 
5) Zitiert nach Löwenields Aufsatz in den Sexual-Problemen 


(oben Anm. 2 zit.), S. 321/322. 


us pO a 


von verbrecherischen Anlagen, der Idiotie und des Schwach- 
sinns bildet, wird durch die gesetzgebende Körperschaft 
des Staates Indiana angeordnet, daß nach Annahme 
dieses Gesetzes jede Anstalt des Staates, die zur Auf- 
nahme von Gewohnheitsverbrechern, Idioten, Notzüchtlern 
und Schwachsinnigen bestimmt ist, verpflichtet sein soll, 
neben den bereits angestellten Anstaltsärzten zwei tüch- 
tige Chirurgen zu wählen. Aufgabe dieser soll es sein, 

im Verein mit dem Oberarzt der Anstalt den geistigen 

und körperlichen Zustand derjenigen Insassen zu unter- 

suchen, die hierzu von dem Anstaltsarzte und dem Ver- 
waltungsrate der Anstalt vorgeschlagen werden. 

Wenn nach dem Urteile der Sachverständigenkom- 
‚mission und des Verwaltungsrates Fortpflanzung der Be- 
treffenden nicht ratsam ist und keine Aussicht auf Besse- 
rung des geistigen und körperlichen Zustandes der Insassen 
besteht, soll der Chirurg gesetzlich ermächtigt sein, zur 
Verhütung jene Operation auszuführen, die als sicherste 
und wirksamste erachtet wird. Diese Operation soll je- 
doch nur in Fällen vorgenommen werden, die als unver- 
besserlich erklärt sind.“ 

Auch in einigen anderen Staaten Nord-Amerikas führte 
die Frage der Unfruchtbarmachung gewisser defekter Elemente 
zu legislatorischen Schritten. | 

Im Staate Konnektikut entschied sich das Unterhaus mit 
einer Majorität von 130 gegen 28 Stimmen für eine Bill, nach 
welcher Gewohnheitsverbrecher und geistig defekte Individuen 
in den Strafanstalten und Irrenhäusern des Staates einer das 
Fortpflanzungsvermögen aufhebenden Operation unterzogen 
werden sollen. 

Das von der gesetzgebenden Versammlung des Staates 
Pennsylvanien angenommene Gesetz zwecks Beseitigung der 
Fortpflanzungsfähigkeit bei Idioten, gegen welches jedoch der 
Gouverneur sein Veto einlegte, habe ich schon früher erwähnt. 

Das gleiche Los wie dem Pennsylvanischen Gesetz wider- 
fuhr einer von beiden legislativen Körperschaften im Staate 
Oregon angenommenen Bill, welche denselben Inhalt wie das 
Indianagesetz hatte und noch eine Definition des Gewohnheits- 





— 60 — 


verbrechers enthielt. Danach sollte als Gewohnheitsverbrecher 
gelten, wer in irgendeiner Anstalt wegen eines Verbrechens 
zum dritten Male eine Strafe abbüßt. 

Die gleiche Bill wie in Oregon wurde im Staat Illinois in 
der Legislaturperiode 1909 eingebracht und vom Senat, aber 
nicht vom Unterhaus angenommen. 


$ 10. Die Ansichten der Schriftsteller. 


I. Die Beseitigung der Fortpflanzungsfähigkeit aus sozial- 
politischen Gründen wird auch von einer ganzen Anzahl von 
Schriftstellern — insbesondere medizinischen — warm befür- 
wortet. 

Rentoul’) möchte die zwangsweise Unfruchtbarmachung 
bei Wahnsinnigen, Epileptikern, Idioten, Gewohnheitsverbrechern, 
Trunksüchtigen, gewohnheitsmäßigen Vagabunden ausgeführt 
"haben. 

Allerdings verlangt er strenge Kautelen, strengere als das 
Gesetz von Indiana aufstellt. 

„Kein Arzt soll die Operation vornehmen dürfen ohne 
die schriftliche Erlaubnis einer Kommission für das Irrenwesen, 
und nur besonders durch die Kommission autorisierte Ärzte 
sollten operieren dürfen. Ein eingehender Bericht soll jähr- 
lich dem Parlament vorgelegt werden. Wer ohne besondere 
Erlaubnis und ohne die schriftliche Einwilligung der Eltern 
oder Vormünder des Patienten operiert, oder wer eine fort- 
pflanzungsunfähig gemachte Person zu ungesetzlichen Zwecken 
benutze, oder wer fortpflanzungsunfähig gemacht ist und eine 
fortpflanzungsfähige Person heirate, ohne ihr Kenntnis von 
seinem Zustand gegeben zu haben, solle für jede Übertretung 
zu 15 (?!) Jahren Gefängnis verurteilt werden.“ 

‚Wie ich einem Artikel von de Varigny°) entnehme, 
will Rentoul sogar alle Personen steril machen, die mit vor- 
gerückten organischen Krankheiten des Herzens, der Lungen, 
der Nieren behaftet sind. 

de Varigny rügt diese „Übertreibungen“ schon des- 


5) Bei Ziertmann (oben Anm. 2 zit.), S. 739. 
€) In der wissenschaftlichen Rundschau des po oumaal des Débats“ _ 
vom 2. März 1911. 


u 


Base 


wegen, weil in diesen Fällen die Vererbung diskutabel sei, 
stimmt aber gleichfalls dem Prinzip bei, gewisse Klassen von 
Degenerierten und Geisteskranken zu „neutralisieren“. 

Er zitiert auch noch den Physiologen Marey, der. gleich- 
falls für dieses Prinzip eintritt und auch seine Ausdehnung 
auf gewisse Verbrecher befürwortet.6®) 

Ebenso wie für Rentoul geht auch für Sharp®) das 
Gesetz von Indiana nicht weit genug. Er wünscht eine ge- 
setzliche Bestimmung, wonach der Mann, der heiraten wolle, 
unfruchtbar gemacht werden solle, wenn einer oder beide ehe- 
schließenden Teile an einem „Defekt“ (?)€2) oder einer chroni- 
schen übertragbaren Krankheit litten. 

Hier hat der Fall, daß. der Mann seiner Fortpflanzungs- 
fähigkeit beraubt würde wegen eines Fehlers oder einer Krank-. 
heit der Frau, eine große Änlichkeit mit den früher von mir 
erörterten Fällen einer Unfruchtbarmachung des Mannes im. 
Interesse der Frau, nur daß hier die Operation mehr im Inter- 
esse des Nachwuchses erfolg. Was ich als bisher kaum der 
Wirklichkeit angehöriges Vorkommnis bezeichnete, wird in 
analoger Anwendung hier sogar als Gesetz vorgeschlagen. 

Näcke®) nennt folgende Gruppen, bei denen er Un- 
fruchtbarmachung für wünschenswert hält: 

1. Gewohnheitsverbrecher, die nicht nur immer aus Not 
rückfällig werden; Verbrecher aus impulsiven Antrieben, aus- 
geprägt verbrecherische Naturen, die -vor keiner Gewalttat. 


602) Zambaco Pascha (oben Anm. 9 zitiert) nennt nach (S. 247-250). 
verschiedene französische Schriftsteller, welche : die Unfruchtbar- 
machung gewisser Kranker oder Verbrecher empfehlen; so hätten Viaud- 
Bruant (im Journal des Débats) und Dr. Cabanès die „Kastration“ der 
Apachen (letzterer durch Röntgenbestrahlung) vorgeschlagen. Er er- 
wähnt sodann insbesondere einen’Artikel von Desfosses „La stérilisation 
des alienés et des criminels“ in der Presse médicale vom 23. März 1910 
und einen solchen von Thuliè: „Selection en sens inverse“ in der ‚Revue 
philanthropique vom 15. Februar 1910. Beide ‚Artikel konnte ich leider 
nicht mehr für diese Arbeit verwerten. 

&) Nach Ziertmann (oben Anm. 2 zit.) S. 739. 

°) Den Defekt spezialisiert Sharp gar nicht weiter! 

6) In seinen oben Anm. 2 angeführten Arbeiten, insbesondere in 
dem Aufsatz in Groß’ Archiv, Bd. II. 


zurückseheuen; Sittlichkeitsverbrecher, deren Individualität so 
beschaffen ist, daß sie immer wieder dieselben oder ähnliche 
Delikte begehen müssen. 

2. Imbezille, bevor sie als gebessert aus der Anstalt ent- 
lassen werden. 

3. Die Epileptiker. 

4. Die noch im zeugungsfähigen Alter stehenden, mög- 
licherweise zu entlassenden chronischen Geisteskranken: ins- 
besondere auch die Paralytiker. 

5. Die noch zeugungsfähigen unheilbaren Trinker. 

6. In gewissen schweren Fällen die an Hysterie, Neur- 
asthenie, Chorea usw. Leidenden. 


Näcke schlägt die Vornahme der Operation vorderhand 
nur bei Personen vor, die sich ih Gefängnissen, Irren- und 
anderen Anstalten befinden, und zwar nur bei Individuen im 
Alter von 25—55 Jahren. 

Löwenfeld“) möchte den Kreis der in Betracht kom- 
menden Personen enger fassen. 

Er stimmt Näcke bei hinsichtlich der Imbezillen, Epi- 
leptiker und chronischen Geisteskranken. 

Bezüglich der Trinker möchte er nicht die Unheilbarkeit 
als Voraussetzung aufstellen, sondern wegen der besonderen 
Gefährlichkeit des Potatoriums schon jedes zum zweiten Male 
wegen Trunksucht einer Anstaltsbehandlung zugeführte Indi- 
viduum sterilisieren. 

Neurasthenien und Hysterien, weil auch in schweren Formen 
heilbar und ihr Einfluß auf die Nachkommenschaft nicht be- 
sonders schwerwiegend, zählt er nicht zu den die Sterilisierung 
rechtfertigenden Krankheiten. 

Die Beschränkung auf Individuen im Alter von 25 bis 55 
Jahren erscheint ihm nicht begründet, weil vorher und bei 
Männern oft nachher Zeugungsfähigkeit bestehe. 

Good®5) schlägt einen allgemeinen, das ärztliche Berufs- 
recht ausdehnenden Paragraphen vor: 

„Ist ein ärztlicher Eingriff im Interesse des Patienten, 


€t) Oben Anm. 2 zit. S. 310--311. 
6) Oben Anm. 2 zit. S. 273. 





=) 63 we 


eines anderen Individuums oder des Gemeinwohles, der 

Rassenhygiene geboten und hat die ärztliche Wissenschaft 

und Erfahrung die Indikation zum Eingriff im Prinzip 

als zu Recht bestehend anerkannt, so gehört der Vollzug 
des Eingriffs rechtlich zur ärztlichen Berufspflicht.“ 

Damit sei allgemein dem Arzt das Recht zur Unfruchtbar- 
machung aus sozialen Gründen gegeben und die medizinische 
Wissenschaft hätte die Fälle und die Grenzen der Operation 
auch zu sozialen Zwecken zu bestimmen. 

Diese Fälle, bei welchen nach Good zurzeit die medi- 
zinische Wissenschaft die Sterilisierung aus sozialen Gründen 
gestattet, sind „Psychosen und Psychoneurosen, die stark aus- 
geprägten degenerativen Charakter haben, und darum im 
Punkte der Heredität gefährlicher sind als andere Krankheits- 
formen“. 

Allerdings verlangt Good eng umgrenzte Kautelen, und 
zwar folgende: 

„Die Operation sollte nur erfolgen an Eheleuten im 
zeugungsfähigen Alter, wenn sie aus der Anstalt ent- 
lassen und in Verhältnisse zurückversetzt würden, in 
welchen sie wieder Gelegenheit zu legalem Geschlechts- 
verkehr bekämen.“ 

1. Bei Männern, mit ausgesprochener Senilität und über- 
haupt über 60 Jahren, habe die Operation zu unterbleiben 
wegen den in diesem Alter von einem Eingriff in die Genital- 
sphäre zu befürchtenden schweren DD Nebenerschei- 
nungen. 

2. Die Indikation solle motiviert und schriftlich von drei 
erfahrenen Ärzten (zwei Irren- resp. Nervenärzten und einem 
Operateur) gestellt werden. 

3. Zur Ausführung des Eingriffs solle die schriftliche Ein- 
willigung des Gewaltinhabers des zu Operierenden erfordert 
werden; wenn immer möglich auch die Beibringung der 

eigenen Zustimmung des Patienten. 

Als weitere Schriftsteller, welche die Sterilisation Ent- 
arteter befürworten, führt besonders Löwenfeld®®) noch an: 


= %) Oben Anm. 2 zit. S. 312. 


eo 


den Italiener Zuccarelli, die Engländer Dr. Bevan Lewis, 
Dr. Barr, Sir John Mc. Dougall. 

Näcke®”) nennt auch Lohmer, der in der Umschau 
Nr. 21, 1908, S. 408, dafür eintritt, und sagt: 

„Die Kastration ist heutzutage eine völlig gefahrlose Ope- 
ration.6®) Votiert ein gewissenhaftes Sachverständigenkollegium 
ihre Notwendigkeit in dem einen oder anderen Falle, so kann 
sich der gesunde Menschenverstand ebensowenig dagegen 
sträuben, wie etwa gegen den Impfzwang, die Seuchengesetz- 
gebung oder gegen die ungeheueren Machtbefugnisse der 
Sicherheitspolizei.“ 

II. Die Vorschläge der vorerwähnten Schriftsteller haben 
hauptsächlich die Verhütung eines kranken, degenerierten, 
verbrecherischen Nachwuchses im Auge, aber auch die Un- 
fruchtbarmachung zwecks Verhinderung oder Verminderung 
von Verbrechen seitens des zu operierenden Individuums ist 
schon in Erwägung gezogen worden. 


In Betracht könnte nur kommen die Verhinderung von 
Sittlichkeitsverbrechen, höchstens noch von Roheitsdelikten, 
indem man auf ein Schwinden oder wenigstens eine Herab- 
setzung des zu Verstößen gegen die Sittlichkeit neigenden 
Geschlechtstriebes und auf eine Herabminderung brutaler An- 
lagen und zu Roheiten inklinierender Impulsivität als Folge 
der bewirkten Fortpflanzungsunfähigkeit zählen würde. 

Dabei könnte als Operation nur an die wirkliche Kastration 
(eventuell an die Spermektomie beim Mann) gedacht werden, 
da nur bei ihr derartige vielleicht möglichen Erfolge nicht von 
vornherein als ausgeschlossen erscheinen, wie bei den Methoden 
der Vasektomie, der Tubensterilisation und der Röntgenbe- 
strahlung. | 

Zurzeit ist aber die Wissenschaft noch nicht in der Lage, 


e) Näcke, Über Kastration bei gewissen Entarteten (oben 
Anm. 2 zit.). 

6) Unter Kastration versteht hier Lohmer wahrscheinlich 
die Beseitigung der Zeugungsfähigkeit bei Bestehenlassen der Ge- 
schlechtsdrüse, er hat als Operation wahrscheinlich hauptsächlich die 
Vasektomie und Tubensterilisation im Auge. Daß die Tubensterilisation 
stets wirklich gefahrlos sei, dürfte zu viel gesagt sein; vgl. oben. 


— 65 — 


bezüglich der Kastration (und noch viel weniger der neuen 
Methode der Spermektomie) mit genügender Bestimmtheit oder 
auch nur hinreichender Wahrscheinlichkeit die Wirkungen der 
Operation auf Geschlechtstrieb oder gar Charakter anzugeben 
oder vielmehr es läßt sich sagen, daß diese Wirkungen tat- 


sächlich nicht nur bezüglich etwaiger Charakteränderungen 


völlig ungewiß und höchst zweifelhaft sind, sondern auch be- 
züglich des Geschlechtstriebes als unbestimmt, schwankend, 
von Fall zu Fall verschieden, bezeichnet werden müssen, wie 
dies oben aus $ 7 und insbesondere aus den Ausführungen 
über die Frage der Zulässigkeit der Kastration als Heilmittel 
gegen einen krankhaften Geschlechtstrieb zur enug hervor- 
gehen dürfte. 


Auch Näcke und Loewenfeld halten Kastrationen 
zwecks Verhütung von Verbrechen seitens des Individuums 
für ein allzu unsicheres, noch ein recht gewagtes Experiment 
darstellendes Mittel. Demnach hat meiner Ansicht nach vor- 
läufig der Gedanke an eine gesetzliche Einführung der Un- 
fruchtbarmachung zwecks Verhinderung strafbarer Handlungen 
seitens des zu Kastrierenden auszuscheiden. 


Ein Amerikaner, Boies,®) schlägt bei Notzucht, Inzest, 
sexuellem Verkehr mit Imbezillen, Wahnsinnigen, Betrunkenen 
oder Betäubten, und bei Sodomie die Unfruchtbarmachung vor 
als wirksamstes Mittel, die Betreffenden abzuschrecken und in 
Schranken zu halten. 

Der Zweck, den dieser Schriftsteller verfolgen will, ist 
also in erster Linie Sühne und Abschreckung, d. h. er will 
die Beseitigung der Fortpflanzungsfähigkeit als wirkliche Str afe e 
anwenden. 


Auch Cas sy 70) hebt diesen Gedanken des PORN RN 
mittels hervor, obgleich er in erster Linie „Besserung der De- 


6) Boies, The Science of Penology (New York, London, 
Putnam, 1901, S. 92 und 123), zitiert bei Ziertmann, S. 740, Anm. 4, 
oben Anm. 2 zit. 

”%) Cassy, How to liquid the overproduktion of defectives and 
criminals. Journal of the American. med. Assoc. 1898, p. 1848, 
zitiert bei Näcke in seinem Aufsatz in Groß’ Archiv, Bd. III, oben 
Anm. 2 zit. = 

5 


— 66 — 


generation und Erzielung nützlicher Bürger“ (?) durch die Un- 
fruchtbarmachung erhofft. 

Daß die Einführung der Kastration als Abschreckungs- 
mittel und als eigentliche Strafe völlig zu verwerfen ist, daß 
sie die Rückkehr zu einem barbarischen, überwundenen Stand- 
punkt bedeutet, bedarf wohl nicht weiterer Ausführung. 

III. Somit bliebe nur die Frage übrig, ob nicht zwecks 
Verhütung. eines kranken, degenerierten, verbrecherischen 
Nachwuchses die Aufhebung der Zeugungsfähigkeit gesetzlich 
zu regeln wäre. 

Wenn man die Feststellungen der medizinischen Wissen- 
schaft über die Vererblichkeit gewisser krankhafter oder ver- 
brecherischer Anlagen, ihre Übertragung auf die Nachkommen in - 
derselben oder in geänderter Form oder überhaupt in der 
Form schwerster Degeneration ins Auge faßt, wenn man 
namentlich die Berichte liest über ganze Generationen von 
Geisteskranken oder Verbrechern mit ihrer ungeheuren Summe 
von sozialem und individuellem Elend und Schaden, die sie 
verursachen, so kann man es nur für wünschenswert halten, 
daß der Staat anfange, die Beseitigung der Fortpflanzungs- 
fähigkeit gewisser schadhafter Elemente zu regeln. 

Die Bedenken, die schon dagegen geltend gemacht worden 
sind, teile ich nicht. | 

So meint Fehlinger’!): 

„Die Unfruchtbarmachung aus rassenhygienischen Gründen 
sei nicht zu gestatten, weil die Anwendung der Kastration, 
wenn sie einmal für rückfällige Verbrecher, Blödsinnige und 
Schwachsinnige eingeführt würde, leicht auf andere Klassen 
ausgedehnt werden könne, deren Fortpflanzung als unerwünscht 
betrachtet werde, und in dieser Möglichkeit läge die größte 
Gefahr. 

Ein auf den Fortschritt bedachtes Gemeinwesen müsse 
sich von staatssozialistischen Experimenten, wie es die künst- 
liche Zuchtwahl sei, entschieden fern halten, weil deren Er- 
gebnis ein Menschenschlag sein würde, der zu weiterem Empor- 
steigen nicht befähigt sein würde.“ 

1) Fehlinger, Über Eheverbote in Amerika. Groß’ Archiv, Bd. 39, 
Heft 1 u. 2. 


a Or 


Diesen Ausführungen ist zu entgegnen, daß einmal die 
Gefahr der Ausdehnung der Maßregel auch auf andere Klassen 
als auf rückfällige Verbrecher, Blödsinnige und Schwachsinnige 
nicht davon abhalten kann, die Maßnahme wenigstens bei den 
Personen anzuwenden, bei denen sie zurzeit dringend wün- 
schenswert scheint, zweitens aber, daß, wenn sie sich bei 
diesen Personen bewährt, die etwaige spätere gesetzliche Aus- 
dehnung der Operation auf weitere Klassen von Kranken gar 
keine „Gefahr“ bedeutet und nicht jetzt schon von jeder ge- 
setzlichen Inangriffnahme des Problems abschrecken darf. 


Endlich aber läßt sich vielleicht anstatt dervon Fehlinger 
aus der Zulassung der Unfruchtbarmachung gezogenen Schluß- 
` folgerung eines zu jeglichem Kulturfortschritt unfähigen 
Menschenschlages mit mehr Recht behaupten, daß gerade die 
künstliche Zuchtwahl — die übrigens nicht einmal mit der 
Beseitigung der Zeugungsfähigkeit gewisser Elemente identisch 
ist — einen zu besserem Emporsteigen fähigen Menschenschlag 
produzieren würde. 


$ 11. Eigene Ausicht und Vorschläge des Verfassers 
de lege ferenda. 


Vorerst wird man, das hebe ich ausdrücklich hervor, bei 
der bisher ungewohnten Maßnahme vorsichtig und schrittweise 
vorzugehen haben. 


Eine solche Vorsicht vermißt man bei den Vorschlägen 
ausländischer Schriftsteller wie Rentoul, Sharp, Boies, 
die gleich über das Ziel hinausschießen und auch, soweit man 
dies aus den mitgeteilten Auszügen aus ihren Werken (ihre 
Richtigkeit vorausgesetzt) schließen kann — nicht immer wohl 
den nötigen kritischen Sinn an den Tag legen [dies gilt z. B. 
auch hinsichtlich der unsinnigen (der Ausdruck ist wohl nicht 
zu hart), von Rentoul gegen unrechtmäßige Operation oder 
Heirat eines Fortpflanzungsunfähigen usw. vorgeschlagenen 
Strafe von 15 Jahren Gefängnis]. 

Eine ruhigere, praktischere und vorsichtigere Behandlung 
der Frage findet mar dagegen bei Näcke, Löwenfeld, 
Good. 

5* 


se Do 


Näcke insbesondere gebührt das Verdienst, als wohl 
erster in Deutschland das Problem der Unfruchtbarmachung 
aus sozialpolitischen Gründen angeregt, eingehend erörtert und 
faßbare, praktische Vorschläge zu seiner Inangriffnahme ge- 
macht zu haben. In seinen Bahnen haben sich dann Löwen- 
feld und Good gleichfalls mit wohldurchdachten, DEBBTZIGENE: 
werten Vorschlägen bewegt. 

Auch ich kann mich im allgemeinen der von diesen 
Schriftstellern bei ihren Vorschlägen verfolgten Richtung nur 
anschließen. 

Meiner Ansicht nach wäre zunächst die Unfruchtbar- 
machung lediglich bei Insassen von öffentlichen Anstalten: Irren- 
Pflege- und Strafanstalten, Spitälern u. a., vorzunehmen und 
nur bei bestimmten beschränkten Gruppen von Personen. 
Diese Personen wären: hochgradig Schwachsinnige, chronische 
Geisteskranke, die an ausgesprochenen Geisteskrankheiten im 
eigentlichen Sinne leiden, gewisse Gewohnheitsverbrecher, viel- 
leicht auch Epileptiker schweren Grades und Gewohnheitstrinker. 

Trinker wären nur bei der zweitmaligen (vielleicht sogar 
erst bei der drittmaligen) Anstaltszuführung als Gewohnheits- 
trinker zu betrachten. Bei dem Gewohnheitsverbrecher hätte 
die Unfruchtbarmachung zu erfolgen erst während der Ver- 
büßung der dritten (bezw. vierten) Strafe, wenn er verurteilt 
ist dreimal wegen folgender Verbrechen: Notzucht, unzüchtige 
Handlungen mit Kindern unter 14 Jahren, Raub, Totschlag, 
Mord oder zweimal wegen eines dieser Verbrechen und zwei- 
mal wegen gefährlicher oder schwerer Körperverletzung, oder 
schweren Diebstahls oder Erpressung. 

Auszuschließen wäre die Maßnahme bei unheilbaren 
Geisteskranken, bei denen eine Entlassung aus der Anstalt nie 
in Frage kommt. | 

Zuzulassen wäre die Unfruchtbarmachung erst von einem 
bestimmten Alter ab, etwa 25 Jahre, weil anzunehmen. ist, daß 
erst von da ab die Zweckmäßigkeit der Anwendung der 
Maßregel sich genau überschauen läßt, ferner wäre die Maß- 
nahme bei Männern über 60 Jahre hinaus nicht zulässig, da 
Eingriffe in die Geschlechtsorgane bet älteren Männern an- 
scheinend leicht schwere Schädigungen nach sich ziehen 
können; bei Frauen über 50 hinaus hätte die Operation als 


=. 300: Zu 


'zweeklos im Hinblick auf die eingetretene natürliche Sterilität 
zu unterbleiben. Mit Good die- Unfruchtbarmachung auf 


Eheleute zu beschränken, halte ich für nicht angezeigt. 
'Anzuwenden wäre beim Manne die Vasektomie, bei der 


Frau die Tubensterilisierung (event. bei beiden die Röntgenbe- 
strahlung, falls größere günstige Erfahrungen gesammelt werden). 


Dagegen nicht die Kastration, da der beabsichtigte Zweck 
lediglich ist: Verhinderung der Fortpflanzungsmöglichkeit, und 
dieser Zweck am besten und bequemsten ohne sonstige Neben- 
wirkungen durch die genannten Verfahren erreicht wird. 

Die Entscheidung über die Vornahme der Maßregel wäre 
durch eine Kommission zu treffen, bestehend aus einem Chi- 
rurgen (bezw. Gynäkologen bei Frauensterilisierungen) und 
einem Psychiater, die entweder bei der Anstalt angestellt oder 
staatlich zu derartigen Entscheidungen ausdrücklich ermächtigt 
‘wären, ferner aus dem Direktor der Anstalt. 

Der Beschluß der Kommission müßte richterlicher Bestä- 
tigung durch den Vormundschaftsrichter bedürfen mit Be- 
schwerderecht seitens der Kommissionsmitglieder im Falle der 
Verweigerung der Bestätigung, und seitens des zu Öperierenden 
(bezw. seines gesetzlichen Vertreters) an das nageneht im 
Falle der Bestätigung des Kommissionsbeschlusses. 

Vor Erlaß dieses Beschlusses wäre überhaupt der zu 
Operierende (bezw. sein gesetzlicher Vertreter) stets zu hören; ; 
seine Einwilligung wäre jedoch nicht nötig. 

Wenn die neue Maßregel sich bewährte, könnte man auch 
außerhalb der’ öffentlichen Anstalten die Unfruchtbarmachung 
von hochgradigen Schwachsinnigen, chronischen Geisteskranken, 
hochgradigen Epileptikern und Gewohnheitstrinkern aus dem 
sozialpolitischen Grunde der Verhütung eines kranken oder ver- 
brecherischen Nachwuchses auf schriftlichen Antrag der 
Kranken bezw. ihres gesetzlichen Vertreters gestatten nach 
vorheriger, dem Bestätigungszwang durch den Richter unter- 
liegender Entscheidung einer ähnlichen Kommission wie die 
oben erwähnte. E 

‘ Man könnte ferner aus denselben Gründen bei willens- 
fähigen Personen auċh in anderen Fällen, wo eine Vererbung 
von Krankheiten;'wie hochgradige Hysterie oder Neurasthenie so- 
wie Schwindsucht oder Syphilis zu befürchten wäre, die Ope- 


- 00 — 


ration mit ausdrücklicher schriftlicher Einwilligung des Patienten 
zulassen, aber ebenfalls nur nach Entscheidung der Kommission 
und der richterlichen Bestätigung. 

Wohlverstanden auch in diesen letzteren Fällen habe ich 
‚nicht eine Operation im gesundheitlichen Interesse des Patienten 
im Auge, denn die ist auch heute schon statthaft, sondern eine im 
Interesse des Nachwuchses, im Interesse des Staates und der 
Gesellschaft liegende. 

In allen den Fällen, wo mit großer Wahrscheinlichkeit 
kranke Nachkommen zu erwarten sind, da handelt es sich 
nicht nur um einen sozialpolitischen Zweck, sondern auch um 
einen sozialen im oben $ 3 und $ 5 erörterten Sinne, um 
eine direkt das Wohl und Wehe der Familien- und wirt- 
schaftlichen Verhältnisse der Frau (und des Mannes) be- 
rührende Angelegenheit. Diese Fälle zählen daher auch zu 
den sozialen Indikationen, die bei der Sterilisierung der Frau 
zwecks Verhütung der Schwangerschaft in Betracht kommen, 
wenn die schwere Belastung oder Krankheit des Kindes durch 
mütterliche Vererbung zu erwarten ist. Wie schon oben 
ausgeführt in § 5, sollte vor allem der Staat die soziale Indi- 
kation und zwar in dem auch diese Fälle einschliessenden Umfang 
bei der Indikation zur Sterilisierung der Frau anerkennen und 
gesetzlich regeln. 

Soweit die schwere Belastung und Krankheit des Kindes 
durch den Einfluß des belasteten, kranken usw. V aters zu 
gewärtigen ist, so wäre vorerst nur unter den engen für die 
sozialpolitische Indikation oben angegebenen Voraussetzungen 
und nur bei Insassen öffentlicher Anstalten an dem Mann die 
Vasektomie vorzunehmen. 

Zusammenfassend würde ich also als nächstes wünschens- 
wertes Ziel der Gesetzgebung vorschlagen: 

Einmal ausdrückliche Anerkennung und Regelung dr 
sozialen Indikation zur Sterilisierung der Frau in ihrem 
(bezw. ihrem sanitären und wirtschaftlichen) Interesse. 

Sodann ausdrückliche Anerkennung und Regelung der 
Unfruchtbarmachung von Frau oder Mann aus sozialpolitischer 
Indikation in den oben von mir näher bezeichneten Fällen von 
Krankheit oder Verbrechertum bei Insassen öffentlicher Anstalten. 


TE VB 


II. 


Die künstliche Zeugung beim Menschen 
und ihre Beziehungen zum Recht. 





Inhaltsverzeichnis. 


§ 1. Einleitung . . : : : 2 mn ner ner. . T5 


I. Die künstliche Zeugung beim Menschen nach 
Rohleders RR 


§ 2. Indikation und Ausführung . . . . . en TO 
§ 3. Religiöse und moralische Beurteilung . . . 2. a... 79 
8 4. Sachverständigenqualifikatioin . . . . 2 2 2 2 nn nn. 82 
I. Die künstliche Zeugung in juristischer 
Beziehung. | 
§ 5. Rechtmäßigkeit und Strafbarkeit . . . 83 
8 6. Die künstliche Zeugung bei einer Ehefrau und die Stellung dë: 
Kindes. . . 86 
§ 7. Ein Prozeß über Anfschtang dèr Ehelichkeit eines angeblich 
künstlich gezeugten Kindes . . . 97 
§ 8. Die. künstliche Zeugung bei einer Inverheiratsten Frau and die 
Stellung des Kindes . . » 2 2 2 222222... 101 
Schlußwort: 
$ 9. Die künstliche Zeugung vom ökonomischen Gesichtspunkt . . 105 


Anbans gi la a ee ee ee, ee ee 5 a lOD 


& 1. Einleitung. 


Den meisten Medizinern ist wohl das Gebiet der künst- 
lichen Zeugung beim Menschen ein recht fernliegendes, jeden- 
falls gibt es aber nur eine verschwindend kleine Anzahl von 
Ärzten, welche die Methode der künstlichen Befruchtung schon 
angewandt hat. 

Die hochinteressante Monographie Rohleders über die 
künstliche Zeugung beim Menschen!) lehrt dies zur Genüge. 

Kein Wunder daher, wenn unter den Juristen kaum 
einige diesen Gegenstand kennen und wenn bisher die juristi- 
schen Probleme, welche sich aus der künstlichen Zeugung 
eines Menschen ergeben können, nur sehr wenig behandelt 
worden sind. 

Derart terra incognita ist diese Materie vielen Juristen, 
daß z. B. gleich die beiden ersten Juristen — ein Richter und 
ein Universitätsprofessor —, denen ich von dem Buch Roh- 
leders sprach, anfänglich meine Angaben für einen Witz und 
den Bericht über die künstliche Zeugung des Menschen für 
die Phantasie eines Jules Verne oder eines Wells hielten. 

Und in der Tat, es mutet einen fast wie ein Märchen 
an, wenn man hört, daß die künstliche Zeugung, d. h. die 
Entstehung eines Menschen infolge einer lediglich per instru- 
mentum erfolgten Einführung männlichen Samens in den Uterus 
der Frau, möglich sein soll. 


!) Die künstliche Zeugung beim Menschen. Eine medizinisch- 
juristische Studie aus der Praxis. Von Dr. med. Hermann Rohleder, 
Spezialarzt für Sexualleiden in Leipzig. Leipzig 1911. Verlag von 
Georg Thieme. 84 Seiten. 


n, ne 


Diese Entstehungsart des Menschen ist aber nicht nur 
möglich, sondern ist schon in einer Anzahl von Fällen ärzt- 
licher Kunst gelungen. ?) 

In seiner Monographie stellt Rohleder alles zusammen, 
‘was über die Materie bekannt ist und was sich wohl über- 
‚haupt darüber sagen läßt. 


1. Die künstliche Zeugung beim Menschen 
. nach Rohleders Monographie. 


§ 2. Indikation und Ausführung. 

Um zu zeigen, wie schon theoretisch die Möglichkeit einer 
Befruchtung beim Menschen gegeben erscheint, teilt Rohleder 
-die Resultate künstlicher Befruchtung bei Tieren mit. 

Gerade beim Tiere läßt sich durch die Möglichkeit 
‚dauernder völliger Isolierung während der Brunstzeit der un- 
umstößliche Beweis führen, daß die nach vorangegangener 
künstlicher Einführung ‘männlichen Samens in die Gebärmutter 
des Weibchens abgeworfenen Jungen eben nur dieser künst- 
lichen Methode das Leben verdanken. 

.e Nicht nur die künstliche Fischbefruchtung ist leicht aus- 
führbar und wird heutzutage in allen Kulturländern in den 
großen Flüssen rationell im Großen betrieben, sondern auch 
die für die künstliche Befruchtung beim Menschen viel beweis- 
kräftigere künstliche Zeugung von Säugetieren hat glänzende 
Ergebnisse geliefert, namentlich in den letzten Jahren. 

Rohleder berichtet hierüber wie folgt: 

„Ganz besonders aber hat ein Russe, Elias Iwanoff, eine 
neue Ära in der künstlichen Befruchtung an Säugetieren und 
ihrer praktischen Verwertung mean TETN Er hat die 


2) Auch der berühmte und sehr vordichtige Gynäkologe. von 
Winckel (Über die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung im 
Hinblick auf $ 1591 BGB. im „Recht“ vom 10. März 1909, Nr. 5) stellte 
fest, daß das wirkliche Vorkommen einer künstlichen Befruchtung beim 
Weibe positiv erwiesen ist. 


a 


Methode der künstlichen Befruchtung an Nutztieren so aus-- 
gearbeitet, daB er — mehr Befruchtungen erzielte als auf 
natürlichem Wege, selbst bei Stuten, die bisher steril waren,. 
ebenso erzielte er an Rindern, Schafen und anderen Tieren 
sehr günstige Resultate, die im Hinblick auf die Tierzucht von. 
großer Bedeutung zu werden versprechen. Wie dieser Forscher 
mitteilt, soll bereits in Amerika auf vielen Farmen und in: 
Ungarn in großen Gestüten diese künstliche Befruchtung prak- 
tisch betätigt sein, ... und T. Fraenkel gibt an, daß auch. 
in ostpreußischen und baltischen Pferdezuchtanstalten die künst- 
liche Befruchtung sich eingebürgert habe.“ 

Rohleder behandelt sein Thema hauptsächlich vom: 
medizinischen Standpunkt, zum Schluß aber auch vom 
juristischen. 

Er schildert ausführlich die Methode und ihre Bedingungen; | 
auf die Einzelheiten kann und soll hier nicht eingegangen 
werden; es sei unter anderem nur bemerkt, daß das Vorhanden- 
sein von Bedingungen zu erstreben ist, die möglichst den 
günstigsten Voraussetzungen für die physiologische Befruch- 
tung ähnlich sind, so z. B. Injektion des Spermas an den 
beiden Tagen unmittelbar post menstruationem, Einführung 
der Injektionsspritze über den äußeren Muttermund hinweg in. 
den Zervix usw. 

Vor der Operation erfordert Rohleder, abgesehen: von 
einer Anzahl sonstiger Prüfungen, genaueste Untersuchung der 
Geschlechtsorgane und insbesondere ihrer Sekrete, namentlich. 
damit im Fall des Bestehens von Gonokokken oder eines un- 
gesunden oder überhaupt unfruchtbaren Spermas die Injektion 
unterbleibe. 

Für indiziert hält Rohleder die künstliche Befruchtung 
in den verschiedenen Impotenzfällen des Mannes insbesondere 
auch bei Bildungsfehlern des Gliedes, z. B. bei Hypospadie 
und sonstigen Formen, wo eine immissio penis nur unter er- 
schwerten Umständen möglich ist, ferner bei den verschiedenen 
Mißbildungen der weiblichen Geschlechtsorgane; auch bei 
mangelnder Wollustempfindung der Frau sei künstliche Be- 
fruchtung — obgleich wenig aussichtsvoll — doch zu ver- 
suchen. 


u, MR c 


Impotenz infolge sexueller Anomalien will Rohleder- 
gleichfalls als Indikation für die Operation gelten lassen. An- 
gesichts der Möglichkeit der Vererbung der Anomalie in der- 
selben Form oder in der Form gewisser Degeneration würde 
ich eher eine künstliche Befruchtung für kontraindiziert er- 
achten. Homosexuelle, Fetischisten, Sadisten brauchen sich 
nicht zu verheiraten und wenn sie es tun, so ist es noch am 
besten, sie zeugen keine Kinder; ein Bedürfnis, ihnen dazu 
gar zu verhelfen, besteht sicherlich nicht. 

Daß Rohleder in dieser Beziehung keine Kontraindikation 
annimmt, wundert um so mehr, als er die Kontraindikation in 
allen Fällen hervorhebt, in denen eine pathologische Ver- 
erbung stattfinden kann, so z. B. wenn vorliegen: krankhafte 
Beschaffenheit des Spermas, konstitutionelle Erkrankungen wie 


"Tuberkulose, Syphilis, Diabetes, Karzinom, Geisteskrankheiten, 


Alkoholismus, Morphinismus, oder entzündliche Erkrankungen 
der Genitalorgane usw.; ferner beim Weibe: Entwicklungs- 
fehler im weiblichen Genitale, entzündliche Erkrankungen des 


‚gesamten Genitalschlauches; dann bei beiden Geschlechtern: 


höheres Alter, 50 Jahre höchstens beim Mann, Mitte der 30 
höchstens bei der Frau, kurz überall da, wo eine physiolo- 


‚gische Zeugung unerwünscht ist oder die Gefahr krankhafter 


Nachkommen besteht. 
Eingehend wird geschildert Technik .und Ausführung der 


‘Operation; die verschiedenen Methoden: vaginale und uterine; 


letztere zerfallend in Insufflations-, Injektions- und Infiltrations- 

methoden, sowie das eigene von Rohleder selbst gebrauchte 

Verfahren mittels Braunscher Uterusspritze. 
Rohleder will die künstliche Befruchtung nur als Not- 


'behelf anwenden, nur dann, wenn alle anderen Mittel zur Be- 


hebung der Sterilität fehlgeschlagen haben: er will sie dagegen 
nicht etwa als ständigen Ersatz für die normale Befruchtung 


‚gebrauchen, der Arzt habe seiner Pflicht genügt, wenn es ihm 
geglückt sei, den Eltern zu einem Leibeserben zu verhelfen. 


Vorzunehmen sei die künstliche Befruchtung nur, wenn 


der Arzt mit Sicherheit eine natürliche Befruchtung für aus- 
‚geschlossen halte. Jedenfalls sei sie nicht früher als ein Jahr 


nach Eheabschluß, im allgemeinen aber 1 bis 3 Jahre nach 


der Heirat auszuführen, wobei man sich im großen und ganzen 
bei einer von seiten der Frau verursachten Sterilität weit eher 
abwartend verhalten könne, als bei der durch Impotenz des 
Mannes verschuldeten. 

Die Anwendung der gleichsam selbsttätigen Befruchtungs- 
instrumente — Befruchtungspessare, die, in die Vagina eingelegt, 
ein Entweichen des Spermas verhüten und sein Eindringen in 
den Uterus begünstigen sollen — verwirft Rohleder als ent- 
weder nicht zum Ziel führend oder überhaupt für die Gesund- 
heit der Frau gefährlich. 

Die bisherigen Erfolge der künstlichen Befruchtung sind 
nach Rohleder die folgenden: 

Soweit die Literatur darüber berichtet, ist die künstliche 
Befruchtung versucht worden in 75 Fällen mit 29 Erfolgen 
und bei Ausscheidung einiger nicht einwandsfreier Fälle in 
65 Fällen mit 21 Erfolgen; Rohleder selbst hat 6 Fälle zu 
verzeichnen mit einem Erfolg. 


8 3. Religiöse und moralische Beurteilung 
der künstlichen Zeugung. 


Rohleder widerlegt eine Anzahl von Einwänden, die man 
gegen die künstliche Befruchtung erheben könnte. 

Sie verstoße nicht gegen die Religion. Eine päpstliche 
Enzyklika aus dem Jahre 1887 solle die künstliche Befruch- 
tung „unwiderruflich“ verdammt und die Beschäftigung mit 
diesem „unmoralischen“ Problem streng verboten haben. Der 
katholische Arzt Mantegazza habe jedoch vom religiösen 
und zwar vom streng religiösen Standpunkt keine Bedenken 
gegen das Verfahren gehabt und gs als ganz moralisch emp- 
fohlen. Mit Hilfe der Wissenschaft eine sterile Frau fruchtbar 
zu machen, sei nach Mantegazza, auch vom religiösen Ge- 
sichtspunkt, ein verdienstvoller Akt, denn man handele ja 
nur nach den Worten der Bibel: „Seid fruchtbar und mehret 
euch.* 

Die künstliche Befruchtung ist nach Rohleder auch 
nicht unnatürlich. Im Gegenteil, sie sei die natürliche Ergän- 
zung des durch irgendwelche Hemmnisse gehinderten natür- 
lichen Befruchtungsaktes. Die unnatürlichen, d. h. pathologi 


— 80 — 


schen Störungen sollten eben : auf ganz natürliche Weise da- 
durch beseitigt werden. 


Ob dieser vom Standpunkt der „Religion“ und „Natur“ 
unternommene Rechtfertigungsversuch gelungen ist, möchte ich 
bezweifeln. Denn „natürlich“ ist zweifellos nur die durch 
Beischlaf bewirkte Befruchtung, nicht die durch eine Spritze 
verursachte, ebenso dürfte wohl ım Sinne der Kirche nur die 

„natürliche“ Befruchtung erlaubt sein und nicht die künstliche, 
welche direkt dem auf Unfruchtbarkeit der sterilen Ehe ge- 
richteten „Willen Gottes“ entgegenarbeitet. 


Wissenschaft und Religion stehen hier,. eben wie so 
oft, in striktem ‚Gegensatz zueinander, und eine Vereinigung 
beider Gesichtspunkte, des wissenschaftlichen und des reli- 
giösen, ist hier wie in vielen anderen Fällen ein vergebliches 
und unfruchtbares Bemühen. 


Deshalb wird man aber die künstliche Befruchtung ET 
verwerfen; es kommt vielmehr nur darauf an, ob sie vom 
Standpunkt menschlicher Moral berechtigt ist. 


Und das muß man mit Rohleder durchaus bejahen. Sie 
ist moralisch gerechtfertigt sowohl vom LES der Ehe- 
leute als des Arztes. 


Mit Recht sagt Rohleder: Der Zweck der künstlichen 
Befruchtung, kinderlosen Eheleuten ein Kind zu bescheren, ist 
nicht unsittlich, daher kann es die dazu nötige Handlung auch 
für die Ehegatten nicht sein, vorausgesetzt, daß sie nicht — 
ohne Wissen des Arztes — zu unsittlichen Zwecken von Ehe- 
gatten gefordert wird. 


Ebenso verstößt sie er gegen die ärztliche Moral, wenn 
sie eine medizinisch notwendige Operation, ein therapeutisches 
Heilmittel gegen Unfruchtbarkeit darstellt und die Eheleute 
auf dieses Mittel vom Arzt aufmerksam gemacht, ausdrücklich 
seine Anwendung wünschen. Dann ist, wie Rohleder zu- 
treffend betont, der Arzt nicht nur zur rn berech- 
tigt, sondern verpflichtet. 


Deshalb wendet sich auch Rohleder mit Recht gegen 
die Gründe eines Urteils des Tribunal de Bordeaux, welches 


= 8i = 


die Zusprechung des von einem Arzt wegen versuchter künst- 
licher Befruchtung verlangten Honorars verweigert hat. (Aller- 
dings hatte der Arzt in ganz marktschreierischer Weise seine 
Methode annonciert und 1500 Fr. Honorar für eine erfolglose 
künstliche Befruchtung begehrt, immerhin ist aber die prin- 
zipielle ablehnende Stellungnahme des Gerichts gegenüber der 
künstlichen Befruchtung nicht gutzuheißen.) Das Gericht 
hatte es entschieden getadelt, daß überhaupt eine künstliche 
Einführung von Sperma vorgenommen, daß eine Befruchtung 
erstrebt worden war durch „moyens artificiels, que r&prouve 
la loi naturelle et qui pourraient même en cas d’abus créer un 
veritable danger social“, und hatte betont, daß diese Methode 
mit der Würde der Ehe unvereinbar sei. 


Weit bedenklicher als die Befruchtung mit dem Sperma 
des Ehemannes ist diejenige mit fremdem Sperma. Rohleder 
berichtet aus der Literatur über einen Fall, wo ein ver- 
heirateter Arzt seiner Frau fremdes Sperma injizierte, und von 
zwei Fällen, in denen seitens der sterilen Frau ein derartiges 
Ansinnen gestellt wurde. Als Regel verneint Rohleder. ganz 
entschieden die moralische Zulässigkeit einer derartigen Ein- 
spritzung, dagegen würde er sie gestatten in ganz verzweifelten, 
ganz exzeptionellen Fällen, um ein größeres Unglück zu ver- 
hüten, wenn z. B. infolge der Sterilität seitens eines Ehegatten 
die Gefahr des Verfallens in schwere Psychose oder der Be- 
gehung von Selbstmord oder von Ehebruch bestände. 


Ferner verlangt Rohleder bei der Ausführung der Opera- 
tion die Beobachtung einer ganzen Reihe besonderer Kautelen, 
unter andern Beschaffen des fremden Spermas durch die Ehe- 
gatten, genaue mikroskopische Untersuchung des Samens, 
schriftliches Zeugnis der Ehegatten über ihre Einwilligung, 
Zuziehung eines zweiten streng sittlichen Anschauungen Rech- 
nung tragenden Arztes. 


Bei der Benutzung fremden Spermas sei jedenfalls der 
Arzt niemals zur Operation nn sondern höchstens 
dazu berechtigt. 

Die Vornahme einer künstlichen Befruchtung durch den 
Arzt bei Nichteheleuten hält Rohleder für durchaus verpönt. 

6 


— 8 — 


S 4. Sachverständigenqualifikation bei der Beurteilung 
der künstlichen Zeugung, 


Eine wichtige Rolle wird in Streitfällen über Zeugung auf 
Grund künstlicher Befruchtung die Tätigkeit der zuzuziehenden 
medizinischen Sachverständigen spielen. 

` Über die Qualifikation zu dieser Sachverständigentätigkeit 
hat allerdings Rohleder sehr pessimistische Ansichten. Er 
meint, daß auf die Begutachtungen der künstlichen Befruch- 
tung sich noch in erhöhtem Maße die folgenden Sätze von 
Professor Dr. Näcke über die sachverständige Beurteilung der 
Homosexualität anwenden lassen, daß „die meisten Gerichts- 
ärzte, Psychiater und Neurologen, mögen sie nun Professoren 
sein oder nicht, keine Sachverständigen sind, da allein nur 
die wirklichen Sachverständigen urteilen könnten, d. h. solche, 
die sehr viele, am liebsten Hunderte von Homosexuellen in 
der Außenwelt gesehen, weiter aber auch in der großen ein- 
schlägigen und sehr weit zerstreuten Literatur zu Hause seien, 
daß daher unter Berücksichtigung dieser Umstände nur etwa 
ein Dutzend Sachverständige in Sachen der Homosexualität in 
Deutschland seien“ (Näcke, Homosexualität und Sachver- 
ständiger, im Reichsmedizinalanzeiger 1910, Nr. 2.) 

Das Gebiet der künstlichen Befruchtung sei noch weniger 
erforscht. In Deutschland gäbe es keine Ärzte, die auch nur 
Dutzende von künstlichen Befruchtungen vorgenommen oder 
auch nur die einschlägigen Kenntnisse der Literatur besäßen. 

Hierfür hat Rohleder selbst im Laufe seiner Schrift 
typische Beispiele angeführt, wonach sogar solche Kollegen, 
die sich mit dem Thema beschäftigt und über dasselbe ge- 
schrieben hatten, trotzdem die Literatur über die Frage und 
über die schon erfolgten Befruchtungen und Befruchtungsver- 
suche gar nicht oder nur ganz unvollständig kannten. ` 

Rohleder kommt daher zu dem betrübenden Resultat, 
daß heute keine wirklichen Sachverständigen auf dem Gebiet 
der künstlichen Zeugung existieren, weder unter den Praktikern 
noch unter den Gynäkologen oder Universitätsprofessoren. Trete 
ein solcher Fall gerichtlich an die Ärzteschaft heran, so müsse 
derselbe nolens volens eben mehr theoretisch entschieden 
werden. 


— 83 — 


II. Die künstliche Zeugung in juristischer 
Beziehung. 


—— 


& 5. Rechtmäßigkeit und Strafbarkeit. 


Der Erörterung der künstlichen Befruchtung vom juristi- 
schen Standpunkt widmet Rohleder einen kürzeren Schluß- 
teil. Die durch die eigenartige Zeugungsmethode geschaffenen 
juristischen Probleme will ich hier des näheren in etwas aus- 
führlicher und selbständiger Weise untersuchen. 

Rohleder faßt hauptsächlich zwei Fragen ins Auge: 

1. Ist die künstliche Befruchtung eine rechtmäßige, ge- 
setzliche ? 

2. Ist das durch sie erzeugte Kind ein legitimes ? 

Aus dem Zweck der Ehe schließt Rohleder, daß die 
künstliche Befruchtung gesetzlich sei, sie stelle sich überhaupt, 
wenn vom Arzte ausgeführt, als Ausfluß eines Berufsrechts 
und als notwendige nach den Regeln ärztlicher Wissenschaft 
vorgenommene Maßnahme zu einem staatlich anerkannten 
Zweck dar. 

Dies gelte sowohl bei Einspritzung von Sperma des Ehe- 
mannes als von solchem eines dritten im Falle des Einver- 
ständnisses beider Ehegatten; anders läge die Sache, wenn 
fremdes Sperma ohne Wissen und Willen der Gattin verwendet 
werde. Hier handele es sich um Täuschung, falsche Voraus- 
setzung, Verbrechen. | 

Beide Fälle sind allerdings juristisch zu trennen; ferner 
ist aber zivilrechtliche und strafrechtliche Beurteilung der künst- 
lichen Befruchtung überhaupt auseinanderzuhalten. 

Die künstliche Befruchtung, ob nun von einem Ehegatten 
oder einem dritten, z. B. einem Arzte ausgeführt, ist an und 
für sich keine strafbare Handlung, und zwar ganz einerlei ob 
Sperma des Ehemannes oder eines dritten injiziert wurde. 

Kein Strafgesetz sieht diese Handlung vor. 

Natürlich kann unter Umständen eine strafbare Handlung 
vorliegen, insofern die Vornahme der künstlichen Befruchtung 
den Tatbestand eines Paragraphen des Strafgesetzbuches in- 

h* 


— B4 — 


folge besonderer Umstände erfüllt. So z. B. könnte man Frei- 
heitsberaubung annehmen, wenn bei einer gegen ihren Willen 
bewußtlos gemachten Frau eine Injektion ausgeführt, oder 
Nötigung, wenn die Frau zur Operation gezwungen worden, 
wäre. Auch Körperverletzung könnte durch die Einspritzung 
begangen werden, z. B. wenn krankes Sperma die Frau in- 
fizieren würde; die Tatsache der Bewirkung einer Schwanger- 
schaft, weil einen physiologischen Vorgang darstellend, könnte 
nicht als Verursachung von Körperverletzung betrachtet 
werden, anders wäre die Sache vielleicht aufzufassen, wenn 
die Schwangerschaft üble Folgen für die Gesundheit nach 
sich zögə. _ 

Wenn die Frau die Einspritzung duldet, aber über die 
Natur des Inhaltes der Einspritzung getäuscht wird, z. B. 
das Sperma für Wasser oder eine unschädliche oder nütz- 
liche Flüssigkeit hält oder glaubt, die Injektion erfolge mit 
Sperma des Ehemannes, während fremdes Sperma verwendet 
wird, so handelt es sich zwar um ein moralisches Verbrechen, 
nicht aber ohne weiteres um ein strafrechtliches, deshalb ist 
es zu weitgehend, wenn Rohleder einfach sagt, es liegt - 
Täuschung, falsche Voraussetzung, somit Verbrechen vor, falls er 
darunter eine unter das Strafgesetz fallende Handlung versteht. 

Am ehesten ließe sich noch das Delikt der Beleidigung der 
Frau, eventuell auch des etwa gleichfalls getäuschten Ehe- 
mannes konstruieren. 

Überall wo nun die Operation der künstlichen Befruch- 
tung nicht strafbar ist, braucht sie deshalb nicht eine recht- 
mäßige Handlung zu bilden. Alles was nicht strafbar ist, ist 
strafrechtlich erlaubt; aber alles, was nicht strafbar ist, stellt 
deshalb noch keine zivilrechtliche erlaubte Handlung oder gar 
ein vom Gesetz anerkanntes Recht dar. 

Soweit die künstliche Befruchtung in den von Rohleder 
vorgeschlagenen Grenzen medizinischer Indikation unter Beob- 
achtung aller nötigen Garantien ausgeführt wird, bin auch ich 
der Meinung, daß sie nicht nur eine straflose, nicht nur eine 
nicht unsittliche Handlung bildet, sondern auch als eine medi- 
zinische Maßnahme, eine dem staatlich anerkannten Heilungs- 
zweck im weiteren Sinne dienende Maßregel aufzufassen ist, 


per 


Ni 


Zee BE, s 


und daß der Arzt daher ein Recht, ja eine Pflicht zu ihrer 
Vornahme hat. | 

Die Anschauung des früher schon erwähnten französischen 
Gerichts von Bordeaux, wonach die künstliche Befruchtung an 
und für sich eine zivilrechtlich unerlaubte Handlung sei, ist 
daher nicht zu billigen, ebensowenig wie die ähnliche Ansicht 
von Dr. Olshausen (Gerichtsassessor zu Berlin), in der 
Deutschen medizinischen Wochenschrift 1908, Nr. 12, S. 515 
und 516), der es „mit der Würde der Ehe für unverträglich 
hält, die künstliche Befruchtung aus dem Gebiet der Wissen- 
schaft auf die Praxis zu übertragen“. 

Ich meine umgekehrt daß es dem Pflichtbewußtsein des 
Arztes Ehre macht, wenn er den berechtigten Wunsch zweier. 
Eheleute nach einem Kind, dessen natürliche Zeugung ihnen 
nicht möglich ist, zu erfüllen strebt mit allen durch die medi- 
ziınische Wissenschaft gebotenen Mitteln, und wenn er ver- 
sucht, durch künstliche Befruchtung eine vielleicht durch die 
Sterilität eines Ehegatten und die Kinderlosigkeit unglückliche 
und zerrüttete Ehe wieder zu einer würdigeren zu gestalten. 

So zweifellos für mich die Rechtmäßigkeit der Operation 
ım Falle der Verwendung von Samen des Ehemanns im Ein- 
verständnis. beider Eheleute feststeht, so gebe ;ich- zu, 
daß man im Falle der Einführung fremden Samens selbst mit 
Einwilligung beider Ehegatten doch Bedenken hinsichtlich der 
Rechtmäßigkeit der Handlung hegen kann. 

Auch hier würde ich die Handlung für eine rechtmäßige. 
halten, wenn sie beschränkt wird auf die äußerst. seltenen 
Fälle drohenden Unheils und unter Beobachtung der von Roh- 
leder erforderten strengen Kautelen. Anders in den Fällen, 
in denen nicht sämtliche von Rohleder aufgestellten Er- 
fordernisse vorliegen, und in allen Fällen insbesondere, wo 
fremdes Sperma ohne Wissen und Willen eines der beiden 
Ehegatten und — möchte ich hinzufügen — ohne Wissen und 
Willen desjenigen, von dem das Sperma herrührt, eingeführt 
würde. Möge sich in solchen Fällen auch nicht immer eine 
strafbare Handlung konstruieren lassen, so läge stets eine un- 
sittliche und unrechtmäßige Handlung vor. Das gleiche muß 
auch für die Fälle gelten, wo etwa zwar Sperma des Ehe- 


z 6 


mannes, aber ohne dessen Einwilligung oder ohne Kenntnis 
der Natur der Flüssigkeit seitens der Frau injiziert würde. 

Würde also z. B. ein Arzt Honorar für derartige Opera- 
tionen einklagen, so wäre die Klage wegen Unsittlichkeit der 
Leistung abzuweisen, in, solchen Fällen wäre die Entscheidung 
des Tribunals von Bordeaux, welches Honorar für den Ver- 
such künstlicher Befruchtung nicht bewilligte, gerechtfertigt. 

Eine derartige Handlung könnte auch z. B. den Arzt vor 
das Ehrengericht bringen, also ihn ehrengerichtlicher Strafe 
aussetzen. 


Der Unterschied zwischen strafloser und rechtmäßiger und 
strafloser und unerlaubter Handlung hat also rechtlich große 
Bedeutung. 


$ 6. Die künstliche Zeugung bei einer Ehefrau 
und die Stellung des Kindes. 


I. Die zweite Frage: Ist ein durch künstliche Befruchtung 
erzeugtes Kind ein legitimes? beantwortet Rohleder. wie 
folgt: Wenn es 


a) mit dem Sperma des Ehemannes im Einverständnis 
beider Ehegatten erzeugt ist: mit ja; 

b) mit dem Sperma des Ehemannes ohne Einverständnis 
des Ehemannes erzeugt ist: mit nein; 

c) mit fremdem Sperma ohne Einverständnis des Gatten 
oder der Gattin erzeugt ist: mit nein; 

d) mit fremdem Sperma im Einverständnis beider Ehe- 
gatten erzeugt ist: mit ja, doch sei dies juristisch zweifelhaft. 

Diesen vier Arten wäre noch der Fall hinzuzufügen, in 
welchem das Sperma des Ehemannes ohne Einwilligung 
der Frau eingeführt wird, z. B. wenn die Ehefrau gar nicht 
wüßte, daß Sperma injiziert wird, sondern z. B. glaubt, es 
handle sich um eine hygienische Einspritzung. 

Für die Frage der Ehelichkeit eines Kindes sind nach 
dem BGB. folgende Hauptgrundsätze maßgebend: 

Die Ehelichkeit wird angenommen, wenn die Frau das 
nach Eingehung der Ehe geborene Kind vor oder während 
der Ehe empfangen und der Mann der Frau innerhalb der 


Empfängniszeit der Frau beigewohnt hat (Satz 1 Absatz 1, 
$ 1591 BGB.). 

Daß aber der Mann der Frau innerhalb der Empfängnis- 
zeit beigewohnt habe, wird ohne weiteres nach ausdrücklicher 
Bestimmung von Satz 1 Absatz 2 $ 1591 BGB. vermutet. 

Die Annahme der Ehelichkeit beruht also auf zwei Ver- 
mutungen, auf der Vermutung, daß das Kind gerade aus der 
Beiwohnung des Ehemannes herrührt, und der Vermutung, daß 
der Ehemänn tatsächlich seiner Frau beigewohnt hat. 

Beide Vermutungen können entkräftet werden. 

Wird nachgewiesen, daß der Ehemann seiner Frau nicht 
beigewohnt hat, so sind beide Vermutungen: „die Beiwohnung 
und damit natürlich der vermutete Kausalzusammenhang 
zwischen Beiwohnung und Zeugung“ entkräftet, die Annahme 
der Ehelichkeit ist daher in diesem Falle hinfällig. 

Das gleiche gilt, wenn zwar die Beiwohnung stattfand, 
aber wenn es offenbar unmöglich ist, daß die Frau das Kind 
von dem Manne empfangen hat. Diese Entkräftung der Ver- 
mutung des Kausalzusammenhangs zwischen Beischlaf und 
Schwangerschaft sieht ausdrücklich Satz 2 des Absatzes 1 
S$ 1591 vor. 

Wie verhält sich nun der künstliche Befruchtungsversuch 
diesen Grundsätzen gegenüber, wenn die Ehelichkeit eines 
Kindes von dem Ehemann angefochten und der Nachweis ge- 
liefert wird, entweder daß der Ehemann während der gesetz- 
lichen Empfängniszeit seiner Frau gar nicht beigewohnt hat 
oder daß das Kind gar nicht aus dem Beischlaf mit dem Ehe- 
mann herrühren kann, weil z. B. das Kind noch während der 
Empfängniszeit mittels Fehlgeburt zur Welt kommt. 

II. Kann in solchen Fällen mit Rücksicht auf stattge- 
habte künstliche Befruchtungsmethode die Ehelichkeit behauptet 
werden. 

Ein Schriftsteller, der die Frage schon erörtert hat, Dr. 
Olshausen (oben zit), meint, daß die Ehelichkeit des Kindes 
auf bloße künstliche Befruchtung nicht gestützt werden könne. 

Nach § 1591 BGB. sei das Kind ja nur dann ehelich, 
wenn der Mann seiner Frau während der Empfängniszeit bei- 
gewohnt habe. Habe er ihr also nicht beigewohnt, so könne 


— 88 — 


das Kind nicht ehelich sein, demnach sei das durch künst- 
liche Befruchtung erzeugte Kind ein uneheliches. 

Meiner Meinung nach ist zweierlei zu unterscheiden: Die 
Frage, ob ein tatsächlich nachgewiesenermaßen aus künst- 
licher Befruchtung stammendes Kind ein eheliches ist oder 
nicht, und die Frage, ob die an den Beischlaf mit der Ehe- 
frau geknüpfte Vermutung, daß das Kind von diesem Bei- 
schlaf herrührt, auch für die künstliche Sameneinführung des 
Ehemannes gilt oder nicht. 

Die erste Frage nach der Ehelichkeit des tatsächlich 
durch künstliche Befruchtung erzeugten Kindes muß man 
meiner Ansicht nach unbedingt bejahen. 

Der Grund, warum ein Kind ehelich ist, beruht doch 
darauf, daß es gezeugt ist aus dem Samen und dem Ei 
eines in gesetzlicher Weise verheirateten Ehepaares, einerlei 
wie die Vereinigung von Samen und Ei zustande kam;?) das 
Gesetz sagt ja auch gar nicht, daß ein Kind nur dann ein 
eheliches ist, wenn die Empfängnis durch Beischlaf erfolgte, 
sondern nur, daß die Ehelichkeit ohne weiteres vermutet wird, 
wenn die zwei Tatsachen: Empfängnis und Beischlaf (wobei 
letzterer selbst wieder vermutet wird) feststehen. 

Ist nun auch die Ehelichkeit eines tatsächlich durch künst- 
liche Befruchtung erzeugten Kindes anzunehmen, so folgt daraus 
noch nicht, daß die Tatsache der Schwangerschaft der Frau 
und des erfolgten künstlichen Befruchtungsversuches die Ver- 
mutung und Annahme der Ehelichkeit des Kindes rechtfertigen. 

Auch ich glaube, daß Beischlaf und künstliche Befruch- 
tungsmethode allzu verschieden sind, um ohne weiteres für 
letztere die an den Beischlaf geknüpfte zmuse Platz 
greifen zu lassen. 

Die Wahrscheinlichkeit des Erfolges ist bei der künst- 
lichen Methode eine viel geringere als bei der Beiwohnung, 


3) So auch der von Rohleder (S. 80) zitierte Prof. J. Schwalbe 
in seinen Bemerkungen zu dem Aufsatz von Olshausen, ebenso 
Rechtsanwalt Dr. Traumann, Künstliche Befruchtung und Vaterschaft, 
in der Zeitschrift „Das Recht“ Nr. 22, vom 25. November 1909, der 
nachzuweisen sucht, wie überall im BGB. der Kindschaft der Gedanke 
der Blutverwandtschaft zugrunde liegt. 


2.80: 


und die Gründe, welche hier zur Aufstellung der Vermutung 
führten, treffen dort nicht alle zu. 

Fällt demnach die Gleichstellung des künstlichen Befruch- 
tungsversuchs mit dem Beischlaf hinsichtlich der Vermutung 
der Ehelichkeit des Kindes weg, so kann nicht ohne weiteres 
das Kind auf Grund künstlicher Einführung von Sperma als 
ehelich angenommen ‚werden, wenn nachgewiesen ist, daß ein 
Beischlaf nicht stattfand. 

Ebenso kann nicht das Kind auf Grund künstlicher Be- 
fruchtungsmethode als ehelich gelten, wenn zwar ein Beischlaf 
des Ehemannes erfolgte, aber wenn es den Umständen nach 
offenbar unmöglich ist, daß das Kind aus diesem Beischlaf 
herstammt. 

In diesem Falle darf man nicht argumentieren, das Kind 
müsse als ehelich betrachtet werden, weil der Satz 2 des Ab- 
satzes 1 des $ 1591 BGB. zutreffe, wonach ein Kind nur dann 
nicht ehelich sei, wenn es den Umständen nach offenbar un- 
möglich ist, daß die Frau das Kind von ihrem Manne emp- 
fangen hat. Hier sei eben infolge des künstlichen Befruch- 
tungsversuches es wohl möglich, daß die Frau das Kind von 
ihrem Manne empfangen habe. 

Diese Argumentation wäre unrichtig. 

Satz 2 des Absatzes 1 hat zweifellos den Sinn, daß die 
Worte „daß die Frau das Kind von dem Manne empfangen 
hat“ bedeuten, „aus Beischlaf empfangen hat“. Wo kein 
Beischlaf stattgefunden hat oder das Kind aus dem stattge- 
fundenen unmöglicherweise stammen kann, ist die Möglich- 
keit einer Herkunft aus künstlicher Methode gleichgültig. 

Diese Interpretation des Satzes 2 des Absatzes 1 ergibt 
sich daraus, daß dieser Satz in unzertrennlichem Zusammen- 
hang steht mit dem Satz 1 desselben Absatzes und daher in 
beiden Sätzen die Worte „beigewohnt hat“ nur vom Beischlaf 
zu verstehen sind und nicht auf eine künstliche Befruchtungs- 
art ausgedehnt werden dürfen. 

Ebenso wie in Satz 1 die Vermutung der Ehelichkeit an 
den Beischlaf geknüpft ist, ebenso muß der Zusammengehörig- 
keit beider Sätze wegen in Satz 2 die Entkräftung dieser Vermutung 
nur und schon eintreten, wenn die offenbare Unmöglichkeit der 


== He 


Entstehung des Kindes aus einem Beischlaf nachgewiesen ist. 
Ob das Kind möglicherweise auf künstliche Weise gezeugt ist, 
kommt nach dieser Bestimmung des Satzes 2 nicht in Betracht. 

Würde man bei nicht stattgefundenem Beischlaf die Ent- 
kräftung der Ehelichkeit nicht gelten lassen, wenn die bloße 
Möglichkeit der Entstehung des Kindes aus künstlicher Be- 
fruchtungsmethode dargetan ist, so würde man diese Möglich- 
keit gleich werten wie die Möglichkeit der Zeugung aus 
Beischlaf, und man müßte dann konsequenterweise auch an 
eine innerhalb der Empfängniszeit erfolgte künstliche Samen- 
einführung die gleiche Vermutung der Ehelichkeit knüpfen wie 
an den Beischlaf. 

Wie oben ausgeführt, ist aber künstlicher Befruchtungs- 
versuch und Beischlaf hinsichtlich des Grades der Möglichkeit 
und Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Zeugung nicht auf 
gleiche Stufe miteinander zu stellen, die Vermutung der 
Ehelichkeit, die aus dem Beischlaf gefolgert wird, kann daher 
nicht ohne weiteres aus dem künstlichen Akte hergeleitet und 
deshalb ebensowenig die auf Grund nicht erfolgten oder die 
Zeugung unmöglicherweise bewirkenden Beischlafes sich er- 
gebende Annahme der Unehelichkeit durch den Nachweis der 
Möglichkeit einer Zeugung aus künstlicher Befruchtung 
entkräftet werden. 

Auch das Reichsgericht hat in einem (weiter unten $ 7 
näher zu besprechenden) Prozeß erklärt, daß es nicht genüge, 
daß ein künstlicher Befruchtungsversuch nachgewiesen sei, um 
im Falle nicht stattgefundener Kohabitation die hieraus resul- 
tierende Unehelichkeit des Kindes auszuschließen. 

Das Reichsgericht hat diese Auffassung aus dem engen 
untrennbaren Zusammenhang des Satz 2 mit dem Satz 1 be- 
gründet und des näheren aus der Entstehungsgeschichte des 
Bürgerlichen Gesetzbuchs diesen Zusammenhang nachgewiesen. 

Über die eigentlichen, tieferen soeben von mir entwickelten 
Ursachen, warum Satz 2 nicht auch künstliche Befruchtung be- 
rücksichtigen kann, hat das Reichsgericht sich —- wenigstens 
soweit ich dies aus dem im Wortlaut nur teilweise veröffent- 
lichten Urteil zu ermessen vermag — nicht deutlich ausge- 
sprochen. 


== Oj 


= I. Hat nun kein Beischlaf stattgefunden oder nur eim 
solcher, aus dem das Kind offenbar nicht stammen kann, 
andererseits aber ein künstlicher Befruchtungsversuch, dann: 
gilt das Kind als unehelich, weil eben der künstliche Versuch 
nieht die Vermutung der Ehelichkeit nach sich zieht, aber 
diese Annahme der Unehelichkeit wird allerdings dann wider- 
legt, wenn tatsächlich der Nachweis geführt wird, daß das 
Kind aus der Befruchtungsoperation mit Samen des Ehemanns- 
gezeugt ist. 

Allerdings unter der Erbringung dieses Beweises darf man“ 
nicht das verstehen, daß der Ausschluß jeder Möglichkeit. 
einer auf Beischlaf mit einem dritten zurückzuführenden Zeu- 
gung positiv nachzuweisen sei, sondern man wird sich wie 
überhaupt bei Beweisführungen im Prozeß damit begnügen 
müssen, daß ein sehr hoher Grad von Wahrscheinlichkeit für 
die zu beweisende Tatsache (die durch künstliche Befruchtung 
zustande gekommene Schwangerschaft) dem Richter die Über- 
zeugung von der Richtigkeit dieser Tatsache (die Überzeugung. 
des Kausalzusammenhanges zwischen künstlichem Befruch- 
tungsakt und tatsächlicher Zeugung des Kindes aus diesem, 
Akte) beibringt. 

Diese Beweisführung wird leichter oder schwerer sein, je 
nachdem die Operation mit Willen beider Ehegatten vorge- 
nommen wurde oder ohne Wissen und Willen eines Ehegatten. 

Waren die Ehegatten einig darüber, daß Sperma des 
Mannes injiziert wurde, sind auch gar keine Tatsachen vorge- 
bracht, woraus ein Beischlaf der Frau mit einem dritten 
während der gesetzlichen Empfängniszeit zu vermuten ist, 
leistet die Ehefrau als Zeugin sogar den Eid, daß sie mit 
keinem dritten während dieser Zeit geschlechtlich verkehrt 
hat, so kann der Richter den Beweis der auf Grund der künst- 
lichen Methode stattgehabten Zeugung des Kindes als geführt 
erachten. 

Anders wenn die Einführung des Samens ohne Wissen: 
und Willen des Ehemanns erfolgte. 

Wird in dem Prozeß um die Ehelichkeit des Kindes — in 
dem Falle, daß ein Beischlaf des Ehemanns nicht stattfand. 
oder das Kind aus einem solchen unmöglich gezeugt sein. 


— 929 — 


kann — die Ehelichkeit auf die Behauptung einer hinter dem 
Rücken des Ehemannes erfolgten introductio seminis des Ehe- 
mannes gestützt, so erweckt diese Angabe ohne weiteres den 
Verdacht, daß es sich nur um eine Ausrede handelt, daß der 
Befruchtungsversuch wohl gar nicht vorgenommen wurde oder 
nur zu dem Zweck, die schon wahrgenommenen oder be- 
fürchteten Folgen eines ehebrecherischen Verkehrs durch die 
Möglichkeit der Berufung auf die künstliche Methode zu ver- 
decken. 

In solchen Fällen wird einmal der strikte Beweis der be- 
haupteten Vornahme des künstlichen Verfahrens mittels Samens 
des Ehemannes und die genaue Feststellung der Art und Weise 
der Ausführung zu verlangen sein, ferner der Nachweis, daß 
die Zeugung auch durch die Injizierung entstanden ist, ins- 
besondere wird auch der Verdacht eines ehebrecherischen 
Verkehrs hier positiv zu entkräften sein. 

Daß namentlich der letztere Beweis der ehelichen Treue 
ein sehr schwieriger, meist unmöglich zu liefernder sein wird, 
liegt auf der Hand, ganz undenkbar ist er aber nicht und das 
Gericht kann sehr wohl nach Prüfung aller über die ge- 
gebenen Verhältnisse und maßgebenden Motive der Ehefrau 
erbrachten Beweise zur Überzeugung gelangen, daß eine andere 
Art Zeugung als die künstliche zu verneinen ist. 

Etwas anders wird die Sache wieder liegen, wenn die In- 
jektion des Spermas ohne Wissen der Frau oder unter ihrer 
Täuschung erfolgte. Hier wird lediglich ein ähnlicher Beweis 
wie beim Vorhandensein der Einwilligung beider Ehegatten 
genügen, wenn die Täuschung durch den Ehemann oder mit 
seiner Kenntnis statt hatte, denn dann fallen meist die bei 
einer hinter dem Rücken des Ehemannes ausgeführten künst- 
lichen Samenimmission bestehenden, für die Ehelichkeit des 
Kindes verdächtigen Motive und Umstände weg. Wird da- 
gegen die Täuschung durch einen dritten ohne Wissen des 
Ehemanns bewirkt, so wird ein strengerer Beweis des Kausal- 
zusammenhanges zwischen Befruchtung und Zeugung wieder 
zu verlangen sein, weil auch hier die künstliche Methode leicht 
den Verdacht erregt, daß man sich auf sie beruft, um die 
Folgen ehebrecherischen Verkehrs zu bemänteln. 


s= 03 


Also: Das sowohl mit als ohne Einwilligung der Ehegatten 
durch künstliche Befruchtung gezeugte Kind ist ehelich, wenn 
Sperma des Ehemanns verwendet wurde, aber der Nachweis 
des Kausalzusammenhanges zwischen Befruchtung und Zeugung 
ist nötig, wenn die Ehelichkeit angefochten wird. 

IV. Wer allerdings an und für sich die Ehelichkeit des: 
ohne Einwilligung eines Ehegatten mittels künstlicher Befruch- 
tung gezeugten Kindes leugnet, für den kommt in diesem Falle 
der Nachweis des Kausalzusammenhanges nicht in Betracht, 
für den steht die Unehelichkeit fest, sobald der Mangel der 
Einwilligung eines Ehegatten bei dem künstlichen Befruch- 
tungsversuche nachgewiesen ist. 

Für den ist es dann gleichgültig, ob der künstliche Be- 
fruchtungsversuch zur Zeugung führte oder nicht. | 

Rohleder verneint die Ehelichkeit eines ohne Willen 
des Ehemannes durch künstliche Befruchtung gezeugten Kindes. 
Ich würde diese Auffassung nicht für richtig halten und dem 
mangelnden Wissen und Willen des Ehemannes (sowie auch 
der Ehefrau — einen Fall, den Rohleder nicht erwähnt) nur 
eine besondere Bedeutung bei der Frage des Nachweises des. 
Kausalzusammenhanges zwischen Injektion und Zeugung bei- 
legen. 

Die Ehelichkeit des durch künstliche Befruchtung, wenn 
auch ohne Wissen und Willen eines Ehegatten, gezeugten 
Kindes ergibt sich aus folgenden Erwägungen: 

Nicht der Wille der ‚Ehegatten bewirkt die Ehelichkeit, 
sondern zwei Tatsachen sind hierfür maßgebend: einmal die 
Verheiratung und zweitens die während der Empfängniszeit 
erfolgte Einführung von Samen des Ehemannes, der sich mit 
dem Ei der Frau vereinigt. 

Dabei ist es gleichgültig, ob die Einführung des Samens 
infolge Beischlafes erfolgte oder mittels künstlichem Verfahren, 
ebenso ob Beischlaf oder künstliche Einführung mit oder ohne 
oder gegen den Willen eines Ehegatten vor sich gingen. 

Auch ein ohne gültigen Willen oder gegen den Willen 
eines Ehegatten ausgeführter Beischlaf benimmt dem durch 
diesen Akt gezeugten Kind nicht die Ehelichkeit. So z. B. 
wenn der Ehemann zur Zeit der Zeugung geisteskrank ist oder 


— 94 — 


in hypnotischem Zustand seiner Frau beiwohnte; das gleiche 
gilt, wenn das Kind der Notzucht des Ehemannes sein Leben 
verdankt. 


Ebenso muß deshalb das bloße Willensmoment bei der 
künstlichen Befruchtung für die Frage der Ehelichkeit des 
Kindes irrelevant sein. 


Noch viel eher ließe sich behaupten, daß ein im Einver- 
ständnis beider Ehegatten durch künstliche Methode gezeugtes 
Kind unehelich sei, weil es nicht durch Beischlaf gezeugt sei, 
als daß man für die Frage der Ehelichkeit oder Unehelichkeit 
einen Unterschied macht, je nachdem die künstliche Methode 
mit Wissen und Willen der Ehegatten oder ohne solche ange- 
wendet wird. 


V. Ist das injizierte Sperma nicht Sperma des Ehemannes, 
sondern eines fremden Mannes gewesen, dann kann meiner 
Ansicht nach das durch dessen Befruchtung gezeugte Kind 
nicht als eheliches betrachtet werden, einerlei ob beide Ehe- 
gatten mit der Injektion in Kenntnis der Eigenschaft des 
Spermas als eines fremden einverstanden waren oder ob eine 
Täuschung oder ein Irrtum beider Ehegatten oder eines 
Eheteiles über die Eigenschaft des Spermas obwaltete. Roh- 
leder hält im Falle des Einverständnisses beider Ehegatten 
das Kind für ein eheliches. Ich erachte das nicht für richtig, 
denn an und für sich besteht die Ehelichkeit nur für die aus 
Samen und Ei der Ehegatten, der wirklichen Eltern gezeugten 
Kinder. Selbstverständlich kann aber gesetzlich das Kind als 
eheliches gelten, wenn eine Anfechtung der Ehelichkeit seitens 
des Ehemannes nicht erfolgt. 


VI. Der Ehemann hat es überhaupt in der Hand, die Frage 
der Ehelichkeit bezw. Unehelichkeit eines angeblich durch 
künstliche Befruchtung gezeugten Kindes aufzurollen durch die 
ihm — bei seinen Lebzeiten — allein zustehende Anfechtungs- 
klage ($ 1593 BGB.). Macht er von dieser Klage innerhalb 
der gesetzlichen Frist von einem Jahr seit Kenntnis der Ge- 
burt ($ 1594 BGB.) keinen Gebrauch, so gilt das Kind als 
ehelich und niemand kann mehr eine Unehelichkeit des Kindes 
geltend machen. 


— 95 — 


Am ehesten wird eine Anfechtungsklage der Ehelichkeit 
des angeblich durch künstliche Befruchtung gezeugten Kindes 
seitens des Ehemannes dann zu erwarten sein, wenn der künst- 
liche Befruchtungsversuch ohne Wissen und Willen des Ehe- 
mannes stattfand, dagegen seltener, wenn er selbst damit 
einverstanden war und selbst in die künstliche Methode das 
Vertrauen setzte, ihm ein Kind zu schenken. 


Jedoch auch im Falle seines Einverständnisses ist trotz- 
dem eine spätere Anfechtungsklage der Ehelichkeit des Kindes 
seitens des Ehemannes nicht ausgeschlossen, sei es daß Sperma 
des Ehemannes oder eines dritten verwandt wurde. 


Wurde Sperma des Ehemannes genommen, so kann trotz- 
dem der Ehemann, der nachträglich Bedenken bekommt, ob 
nicht das Kind aus einem ihm verborgen gebliebenen ehe- 
brecherischen Verkehr seiner Ehefrau stammt, die Ehelichkeit 
anfechten und sie bestreiten, bis ıhm der Nachweis erbracht 
wird, daß das Kind tatsächlich aus dem künstlichen Befruch- 
tungsversuch herrührt (vorausgesetzt immer, daß unbestritten 
feststeht, daß der Ehemann selber mit seiner Frau nicht den 
Beischlaf vollzogen hat). 


Wurde dagegen Sperma eines dritten verwandt, so genügt 
der Beweis, daß das Sperma fremdes, nicht vom Ehemann 
herrührendes war, um die Anfechtungsklage des Ehemannes, 
der während der gesetzlichen Empfängniszeit seiner Frau nicht 
beigewohnt hat, als berechtigt erscheinen zu lassen, einerlei, 
ob der Ehemann seinerzeit Kenntnis hatte von der Eigenschaft 
des Spermas als eines fremden oder nicht. Hier zeigt sich 
gerade die Wichtigkeit des Unterschiedes, ob man ein mit 
fremdem Sperma durch künstliche Befruchtung im Einver- 
ständnis beider Ehegatten gezeugtes Kind an und für sich für 
ehelich oder nicht hält. 


Ist ein solches Kind an und für sich kein eheliches, so 
kann eben der Ehemann, der nachher es bereut, ein nieht von 
ihm stammendes Kind als eheliches betrachten zu sollen, ein- 
fach gestützt auf die Tatsache der Fremdheit des Samens die 
Unehelichkeit des Kindes feststellen lassen. 


Auch hier ist aber, wie in allen Fällen, der Ehemann mit 


w G os 


seiner Klage an die einjährige Frist gebunden, nach deren 
Ablauf ohne Klageerhebung das Kind als eheliches gilt. 


Ebenso wie der Ehemann stets durch Nichterhebung der 
Anfechtungsklage das Kind definitiv zum ehelichen machen 
kann, ist es ihm auch möglich, schon vor Ablauf der An- 
fechtungsfrist dies Resultat zu erreichen bezw. die Anfechtungs- 
möglichkeit der Ehelichkeit zu beseitigen, indem er nämlich 
das Kind als das seinige anerkennt, eine Anerkennung, die 
nicht bloß ausdrücklich, sondern auch stillschweigend, insbe- 
sondere auch durch das ganze Verhalten des Ehemannes 
gegenüber dem Kind erfolgen kann ($ 1598 und dazu Planck: 
BGB. Anm. 1 zu $ 1598). 


Eine solche Anerkennung ist allerdings nur möglich erst 
nach der Geburt des Kindes, deshalb ist das Einverständnis 
des Ehemannes in den künstlichen Zeugungsakt gleichgültig 
und kann niemals als Verzicht auf die spätere Anfechtungs- 
klage und Anerkennung des später etwa aus der künstlichen 
Befruchtung stammenden Kindes als eheliches bewertet werden. 


' VII. Bisher bin ich davon ausgegangen, daß kein Beischlaf 
des Ehemannes, sondern nur ein künstlicher Befruchtungsversuch 
während der gesetzlichen Empfängniszeit stattfand, ohne daß 
ein ehebrecherischer Verkehr der Frau feststeht. 

Würde dagegen ein Ehebruch der Frau erwiesen, dann 
müßte ohne weiteres trotz der künstlichen immissio seminis 
des Ehemannes die Unehelichkeit des Kindes angenommen 
werden. 


Denn die künstliche Methode wird eben nicht dem Bei- 
schlaf des Ehemannes rechtlich gleichgesetzt hinsichtlich der 
Vermutung der Ehelichkeit des Kindes. 


Den Nachweis aber zu erbringen, daß das Kind aus dem 
künstlichen Befruchtungsversuch gezeugt ist, wird meist ganz 
undenkbar sein, es müßte schon eine offenbare Unmöglichkeit 
bestehen, daß das Kind aus dem Ehebruch stammt. Regel- 
mäßig wird aber ohne weiteres die Tatsache mangelnden Bei- 
schlafes des Ehemannes und andererseits die Feststellung des 
Ehebruches die Annahme der Unehelichkeit zur Folge haben, 
gegenüber welcher die Möglichkeit der Zeugung aus künst- 


=, ON 


licher Befruchtung mit Samen des Ehemannes gleichgültig und 
der Beweis der Zeugung regelmäßig ganz und gar unerbring- 
lich ist. | 


§ 7. Ein Prozeß über Anfechtung der Ehelichkeit eines 
angeblich künstlich gezeugten Kindes. 


Ein Teil der oben erörterten Fragen über die Ehelichkeit 
eines durch künstliche Befruchtung gezeugten Kindes ist schon 
in der Praxis vorgekommen und bildet den Gegenstand eines 
bis zum Reichsgericht gelangten Rechtsstreites. Der Fall ist 
folgender: - 


Ein Ehemann ist seit 1898 kinderlos verheiratet. Am 
7. August 1904 gebar seine Frau ein Mädchen. Im Dezember 
1904 focht der Ehemann die Ehelichkeit des Kindes an, da 
das Kind nur durch Ehebruch gezeugt sein könne, weil nach 
einigen fruchtlosen Kohabitationsversuchen in der ersten Zeit 
der Ehe keine weiteren stattgefunden und besonders in der 
gesetzlichen Empfängniszeit weder eine Kohabitation noch der 
Versuch einer solchen erfolgt sei, denn er, der Ehemann, sei 
impotent. Die Gegenpartei behauptete dagegen, das Kind sei 
ehelich, weil die Ehefrau eine künstliche Befruchtung vorge- 
nommen habe, derart, daß sie vom Bettuch des Mannes nach 
dem Verlassen desselben das frisch ejakulierte Sperma des 
Mannes gesammelt und mittels einer Kerze in die Scheide ein- 
geführt habe. 

Das Landgericht Koblenz wies die Klage des Ehemannes 
auf Feststellung der Unehelichkeit ab, indem es sich der An- 
schauung der beklagten Partei anschloß. 

Auf eingelegte Berufung seitens des Ehemannes hin be- 
stätigte das Oberlandesgericht Köln das Urteil des ersten 
Richters, nachdem noch die Ehefrau über ihre Angaben 
eidlich als Zeugin vernommen worden war. 

In den Gründen heißt es: „Die Versicherung des Mannes, 
daB er während der gesetzlichen Empfängniszeit weder den 
Beischlaf ausgeführt habe, noch den Versuch eines solchen ge- 
macht habe, sei durch die Mutter des Kindes erwiesen. Nichts- 
destoweniger könne das Kind von dem Kläger empfangen worden 
sein, denn das Wesen der Empfängnis bestehe in dem Zusam- 

7 


98 — 
mentreffen des männlichen Samens mit dem weiblichen Ei. 
Wenn § 1591 Abs. 1 als notwendige Bedingung der legitimen 
Abstammung des Kindes den Beischlaf des Mannes durch Ver- 
einigung der Geschlechtsorgane der Ehegatten bezeichne, so 
sei dies nur das normale Mittel, um Empfängnis zu erreichen, 
es sei aber nicht das einzige Mittel zu diesem Zweck. 

Nach den Angaben der medizinischen Wissenschaft könne, 
wenn der Mann unfähig sei, den normalen Beischlaf zu voll- 
ziehen, Schwangerschaft auch eintreten ohne Vereinigung der 
Genitalien mittels der künstlichen Befruchtung. 

Das Gericht zieht dann hieraus den Schluß, daß in dem 
Falle, wo die Schwangerschaft der Frau ausschließlich aus der 
Tatsache resultiere, daß die Frau durch künstliche Einführung 
des Spermas des Ehegatten befruchtet worden sei, das Kind 
in gleicher Weise als vom Ehemann empfangen betrachtet 
werden müsse.“ 

Das Gericht läßt also bei der künstlichen Sameneinführung 
ganz die gleiche Vermutung der Ehelichkeit gelten wie im 
Falle des Beischlafs, deshalb bemerkt auch das Gericht 
weiter, daß auch. der Satz 2 des Absatzes 1 des $ 1591 im 
Falle künstlicher Sameneinführung nicht platz greife, wonach 
das Kind unehelich sei, wenn es den Umständen nach offenbar 
unmöglich ist, daß die Frau das Kind von dem Manne 
empfangen hat. Daraus folgt weiter, daß das Gericht auch 
nur geringe Bedeutung dem Beweis beilegt, „daß die Frau 
während der gesetzlichen Empfängniszeit sich des Ehebruchs 
schuldig gemacht habe, selbst wenn dieser Beweis noch mit 
anderen Beweisen verbunden sein sollte, welche die Vaterschaft 
eines dritten anzeigten. Nach Ansicht des Gerichts erfordere 
es das Interesse des Kindes, daß es als ehelich angesehen 
werde, wenn es durch ‚den Ehegatten erzeugt sein könne, 
einerlei ob diese Möglichkeit aus Beischlaf oder künstlicher 
Sameneinführung sich herleite.“ 

Das Gericht geht also viel weiter als ich es oben getan, 
es stellt künstlichen Befruchtungsversuch hinsichtlich der Ver- 
mutungen und des Beweises der Ehelichkeit und überhaupt in 
jeder rechtlichen Beziehung dem Beischlaf gleich. 

Dieses oberlandesgerichtliche Urteil hob dann allerdings 


— 99 — 


auf eingelegte Revision hin das Reichsgericht durch Urteil 
vom 4. Juni 1908 auf, da die durch § 1591 BGB. geschaffene 
Rechtslage durch die vorherige Instanz verkannt worden sei. 

Wörtlich scheint nur ein Teil (der auf das Verhältnis des 
Satz 2 zu Satz 1 des Abs. 1 $ 1591 bezügliche) veröffentlicht 
worden zu sein (in „Das Recht“ 1907, S. 522, Nr. 2946 oben 
zitiert). Ein anderer Teil ist inhaltlich wiedergegeben durch 
Olshausen (in Deutsche Medizinische Wochenschrift 1908, 
IL. Halbjahr, S 1636, Nr. 38), auch durch Rohleder, sowie 
durch Traumann („Recht“ 1909, Nr. 22, oben zitiert). 

Das Reichsgericht geht von dem Standpunkte aus, daß 
es sich um eine naturwissenschaftliche Frage handle, ob und 
unter welchen Umständen eine künstliche Befruchtung möglich 
sei, die jedoch nur geprüft werden könne unter genauester 
Kenntnis des jetzigen Standes der physiologischen Forschungs- 
ergebnisse, und nur unter Hinzuziehung von Sachverständigen. 
Würde dem Gericht demnach der Beweis erbracht: worden 
sein, daß in diesem Falle tatsächlich eine Empfängnis herbei- 
geführt worden sei und daß der zum Beischlaf unfähige Mann 
hiermit einverstanden gewesen wäre, so würde das Reichs- 
gericht keine Bedenken getragen haben, ein auf diese Weise 
gezeugtes Kind für ein eheliches zu erklären. 

Das Reichsgericht verlangt also bei künstlicher Samen- 
einführung auch im Falle der Einwilligung des Ehemannes den 
Beweis der Zeugung, läßt demnach bei dem künstlichen Akt 
nicht die gleiche Vermutung der Ehelichkeit gelten, wie bei 
dem Beischlaf. 

Das Reichsgericht erkennt also einmal die Ehelichkeit 
eines tatsächlich durch künstliche Befruchtung mit Samen des 
Ehemannes unter dessen Einwilligung gezeugten Kindes an, 
verlangt aber den Beweis der Zeugung, läßt also bei künst- 
lichem Akt nicht die gleiche Vermutung der Ehelichkeit zu, 
wie die bei dem Beischlaf durch das Gesetz vorgesehene. 

Die früher erwähnten, wörtlich im „Recht“ 1907 mitge- 
teilten Ausführungen des Reichsgerichts darüber, daß Satz 2 
des Abs. 1 $ 1591 in unzertrefinlichem Zusammenhang mit 
Satz 1 des gleichen Absatzes stehe und keine selbständige 
Rechtsregel bilde, zielen darauf hin zu beweisen, daß die Ver- 

Zr 


— 10 — 


mutung der Ehelichkeit auf Grund des Beischlafs nicht bei 
bloß stattgehabter künstlicher Methode Anwendung finde. 
Trautmann (oben zitiert) sagt auch: „Das Reichsgericht 
hat betont, daß die behauptete künstliche Befruchtung mit 
dem Samen des Ehemannes kein Fall der „Beiwohnung“ sei. 
Nach der sich hieraus ergebenden ausdrücklich ausgesprochenen 
Ansicht des Reichsgerichts müßte deshalb die Beweislast für 
die behauptete künstliche Befruchtung das beklagte Kind 
treffen.“ | 

Auch in dem von Olshausen und Rohleder wieder- 
gegebenen Teil des Urteils heißt es am Schluß: „Es sei durch 
nichts gerechtfertigt, solchen Kindern, die durch künstliche 
Befruchtung empfangen sein sollen, dieselbe Vorzugsstellung 
hinsichtlich des Beweises der Ehelichkeit einräumen zu wollen, 
wie den durch normalen Beischlaf erzeugten.“ 

‚ Das Reichsgericht wirft sodann noch die Frage auf, ohne 
sie jedoch zu entscheiden, ob es möglich sei, durch künstliche 
Befruchtung eine Vaterschaft desjenigen zu begründen, dessen 
Samen gegen resp. ohne seinen Willen zur Einspritzung be- 
nutzt wurde. 

Das Reichsgericht meint jedoch, daß man sich doch nicht 
so leicht zur Bejahung derselben wird entschließen können, 
wegen der sich hieraus ergebenden Folgen, besonders unter 
Berücksichtigung der Möglichkeit einer außerehelichen Emp- 
fängnis. 

Das Reichsgericht neigt also zur Verneinung der Frage, 
die ich oben entschieden bejaht hatte. Das vom Reichsgericht 
. angeführte Bedenken wegen der Möglichkeit einer außerehelichen 
Empfängnis würde nur zutreffen, wenn man an den künst- 
lichen Befruchtungsversuch die Vermutung der Ehelichkeit 
knüpfen würde. Verlangt man aber den strikten Beweis der 
tatsächlich künstlich zustande gekommenen Zeugung, dann ist 
eben durch Erbringung des Beweises die Annahme der Mög- 
lichkeit der außerehelichen Schwängerung beseitigt; und sobald 
in dieser Richtung Zweifel bestehen, wird man den Beweis der 
künstlichen Zeugung eben nicht als geliefert betrachten. 

Die Art des diesem Prozeß zugrunde liegenden angeblichen 
künstlichen Befruchtungsversuches machte es noch viel zweifel- 


— 101 — 


hafter, ob eine tatsächliche Zeugung aus diesem Akt entstanden 
ist, als in den bisher meinen Ausführungen zur Basis dienenden 
Fällen der von Ärzten nach wissenschaftlichen Regeln ausge- 
führten künstlichen Befruchtungsverfahren. 


Gerade bei einem derartigen ohne Arzt und jedenfalls 
ohne ärztliche Methode angeblichen erfolgten Befruchtungs- 
versuch wird man einen ganz besonders strengen Beweis der 
tatsächlich aus einer solchen Manipulation zustande gekommenen 
Zeugung fordern müssen. Die Schwierigkeit einer solchen sehr 
strengen Beweisführung wird in diesem Falle ihrer Unmöglich- 
keit gleichkommen, wobei es sich fragt, ob eine derartige, von 
einer Frau ohne Hilfe des Arztes in primitivster Weise ange- 
wandte Methode — gesetzt auch, ihre Vornahme wäre er- 
wiesen — überhaupt eine Zeugung zur Folge haben könnte, 
eine Möglichkeit, die von Winckel, der schon oben (Ein- 
leitung Anm. 2) erwähnte Gynäkologe, ausdrücklich verneint. 


$ 8. Die künstliche Zeugung bei einer unverheirateten 
Frau und die Stellung des Kindes. 


An den in $ 7 erörterten Prozeß hat außer Ölshansen 


noch Traumann (beide oben zitiert) Jamanisehe Ausführungen = o g 


geknüpft. 


Der letztere ist ebenso wie ich der Meinung, daß die Vani 
schaft sich nach der Zugehörigkeit des mit dem Ei sich vereinigen- 
den Samens bestimme, einerlei ob diese Vereinigung infolge Bei- 
schlafes oder künstlicher Befruchtung sich vollziehe und ebenso 
einerlei, ob die Einführung des Samens mit oder ohne Willen 
des Samenlieferers erfolge. 


Von diesen Gesichtspunkten ausgehend gelangt Trau- 
mann dazu, auch bei der Schwängerung einer unverehelichten 
Frau durch künstliche Befruchtung den für den haftbaren 
Vater zu erklären, von dessen Samen das Kind herrührt. Ist 
allerdings die künstliche Befruchtung ohne den Willen des 
Samenproduzenten vorgenommen worden, so hält Traumann 
die Entscheidung für zweifelhaft; aus seinen Erörterungen 
scheint aber hervorzugehen, daß er auch diesen Mann für den 
gesetzlichen Vater ansieht; es muß dann konsequenterweise 


auch dieser Vater wider Willen unterhaltspflichtig erklärt 
werden. 

Die künstliche Befruchtung kann allerdings auch bei einer 
ledigen Frauensperson eine Rolle spielen. Rohleder bespricht 
diesen Fall nicht, er sagt nur und mit Recht, daß selbstver- 
ständlich die künstliche Befruchtung bei Nichteheleuten vom 
Arzte nicht vorgenommen werden darf. 

Wenn sie nun aber, sei es vom Arzte, sei es von einem 
Laien, sei es von der Frau selber, vorgenommen wird (man 
denke nur, daß die in dem oben erörterten Prozesse beteiligten 
Eheleute nicht verheiratet gewesen wären), wie ist die Sache 
zu beurteilen. 

Nach $ 1717 BGB. gilt als Vater des unehelichen Kindes, 
wer der Mutter innerhalb der Empfängniszeit beigewohnt hat. 
Dem Kind ist dieser Vater unterhaltspflichtig ($ 1708). 

Die Vaterschaft gilt nicht und die Unterhaltspflicht 
fällt weg, wenn noch ein anderer Mann der Mutter innerhalb 
der Empfängniszeit beigewohnt hat. 

Würde nun innerhalb der Empfängniszeit einmal ein natür- 
licher Beischlaf und ferner ein künstlicher Befruchtungsversuch 
mit dem Sperma eines anderen Mannes als mit demjenigen des 
"Beischläfers, stattfinden, so frägt es sich, hat der Beischläfer 
als Vater zu gelten oder kann er die künstliche Einführung 
von Samen eines dritten einer seine Vaterschaft und Unter- 
haltspflicht ausschließenden Beiwohnung eines dritten gleich- 
setzen. 

Dies könnte er meiner Ansicht nach nicht. Der, welcher 
der Mutter beigewohnt hat, wird als Vater betrachtet, weil die 
Vermutung gilt, daß das Kind aus dem Beischlaf herrührt. 
Diese Vermutung wird zerstört, wenn ein anderer noch wäh- 
rend der Empfängniszeit mit der Mutter den Beischlaf vollzogen 
hat, denn dann besteht gerade soviel Wahrscheinlichkeit, daB 
das Kind aus der einen oder anderen Beiwohnung stammen 
kann. 

Bei erfolgtem Beischlaf und versuchter künstlicher Be- 
fruchtung ist aber nicht eine gleiche Wahrscheinlichkeit vor- 
handen. Die künstliche Methode begründet nicht wie der Bei- 
schlaf eine gesetzliche Vermutung der Vaterschaft. Demnach 


Au 


— 103 — 


ist die bloße Tatsache der künstlichen Sameneinführung gegen- 
über einem Beischlaf an und für sich gleichgültig und der Bei- 
schläfer gilt als Vater. 

Bedeutsam könnte die künstliche Methode nur werden, 
wenn bewiesen würde, daß das Kind aus ihr herstammt, dieser 
Beweis ist aber bei gleichzeitig während der . Empfängniszeit 
vollzogenem Beischlaf regelmäßig undenkbar und nur für den 
Fall möglich, daß es den Umständen nach offenbar unmöglich 


ist, daß das Kind aus der Beiwohnung herrührt. Eine der- 


artige Beiwohnung bliebe nach Satz 2 Abs. 1 § 1717 außer 
Betracht für die Frage der Vaterschaft. 

Ein solcher Fall einer nicht zu beachtenden Beiwohnung 
würde z. B. eintreten können, wenn der Beischläfer und die Mutter 
der weißen Rasse angehören, das Kind aber als Negerkind 
auf die Welt käme. Würde gleichzeitig bewiesen, daß Sperma 
eines Negers injiziert wurde, so könnte wohl der Beweis der 
Herkunit des Kindes von der künstlichen Befruchtung als pge- 
führt gelten und der Beischläfer wäre nicht unterhaltspflichtig 
(wohl aber der mit der Injektion einverstanden gewesene 
Neger, vgl. das Folgende). 

Ist gar kein Beischlaf nachgewiesen, sondern ren ein 
künstlicher Befruchtungsversuch, so fragt es sich, ob der 
Mann, dessen Sperma genommen wurde, als Vater ne 
ist. Zunächst ist auch hier davon auszugehen, daß die künst- 
liche Sameneinführung nicht dem Beischlaf juristisch gleichzu- 
setzen ist, und nicht ohne weiteres wie letzterer die Vermutung 
der Vaterschaft begründet, vielmehr ist auch hier der Nach- 
weis der Zeugung des Kindes durch die künstliche Befruchtung 


zu verlangen. 


Daß unter Umständen dieser Nachweis als geführt gelten 
kann, ist wohl denkbar, z. B. wenn der in Anspruch genom- 
mene angebliche Vater zugibt, daß sein Sperma zur Einführung 
gebraucht wurde und die Mutter in einer den Richter über- 
zeugenden Weise beschwört, niemals einen Beischlaf oder 
Jedenfalls nicht während der Empfängniszeit vollzogen zu haben. 

In solchen Fällen ist jedoch zu unterscheiden, ob das 


Sperma mit Wissen und Willen des Mannes eingeführt wurde | 


oder ohne bezw. gegen seinen Willen. 





— 104 — 


Ersterenfalls wird man den Mann als Vater anerkennen 
müssen, letzterenfalls nicht. 

Allerdings beruht auch die uneheliche Vaterschaft und 
Unterhaltspflicht nicht auf dem Gedanken einer Inanspruch- 
nahme wegen unerlaubter Handlung, sondern wegen tatsäch- 
licher Verwandtschaft, und für diese Blutsverwandtschaft ist es 
gleichgültig, ob ein Beischlaf mit oder ohne Willen der Zeu- 
genden vollzogen wurde. So erklären auch die Motive zum 
BGB. es ausdrücklich für irrelevant, ob der Schwängerer zu- 
rechnungsfähig oder unzurechnungsfähig ist, also einen gültigen 
Willen haben kann oder nicht. 

Deshalb ist für die natürliche Blutsverwandtschaft auch 
bei künstlicher Befruchtung an und für sich belanglos, ob der 
Samen mit oder ohne Willen desjenigen, von dem er herrührt, 
eingeführt wurde. 

Trotzdem aber wird man im üdslelichen Verkehr die ohne 
Wissen und Willen des Samenlieferers erfolgte künstliche Be- 
fruchtung, entgegen der oben angeführten Ansicht von Trau- 
mann, nicht ebenso wie den Beischlaf als die die Vaterschaft 
im Rechtssinn und die Unterhaltspflicht begründende Tatsache 
betrachten dürfen. Denn während im ehelichen Verkehr die 
Vaterschaft ihren Grund hat ohne weiteres in der Vereinigung 
von Samen und Eı der Ehegatten, weil sie durch das Ehe- 
band verbunden sind und daher das Willensmoment bei 
jeglicher Art der Sameneinführung bedeutungslos ist, wird im 
unehelichen Verkehr nach Sinn und Zweck des § 1717 nur 
eine solche Handlung dem Beischlaf gleichgesetzt werden 
dürfen, welche mindestens das Merkmal mit dem Beischlaf 
gemeinsam hat, daß sie wenigstens als vom Lieferer des Samens- 
verursacht sich darstellt, indem dieser Mann entweder künst- 
lich seinen Samen einführt oder der Einführung seines Samens 
durch die Frau oder einen dritten zustimmt. Wo er gar nicht 
mitwirkt und auch nicht mit der Einführung einverstanden ist, 
da kann auch seine Persönlichkeit nicht als die objektive Ur- 
sache der künstlichen Befruchtung betrachtet werden und seine 
Vaterschaft und Unterhaltspflicht können nicht entstehen. 


— 105 — 


Schlusswort. 


$ 9. Die künstliche Zeugung vom national-ökonomischen 
Gesichtspunkt. 


Schließlich sei noch bemerkt, daß vom national-ökonomi- 
schen Standpunkte die künstliche Befruchtung völlig belanglos 
ist, wie Rohleder hervorhebt, bei ihrer abnorm seltenen An- 
wendung, und dies selbst, wenn sie allmählich weit mehr als 
bisher angewandt würde, da von den 10 Proz. der sterilen 
Ehefrauen sich weitaus der größte Teil nicht für die künstliche 
Befruchtung eigne. 

Danach sind auch alle Befürchtungen, die ängstliche Ge- 
müter in juristischer oder sozialer Beziehung aus einer Ver- 
breitung künstlicher Zeugungen hegen oder gar alle Hoffnungen 
auf künstliche Zuchtwahl oder Rassenverbesserung, die leicht 
Geblendete nähren wollten, zurzeit als Phantastereien zu be- 
lächeln, die noch lange Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, 
ja vielleicht stets Phantastereien bleiben dürften. 


Anhang. 


Aus dem in verschiedenen Anmerkungen der obigen Ab- 
handlung I erwähnten Buch von Dr. Zambaco Pascha!) 
„Les Eunuques d’aujourd’hui et ceux de jadis“ (Masson & Cie., 
Paris 1911) ist mir ein Faktum bekannt geworden, das, soweit 
die Mitwirkung der Frau bei der Zeugung in Betracht kommt, 
in gewissem Sinn ein Analogon zur künstlichen Zeugung durch 
männlichen Samen bildet. 


Bisher hatte ich es nicht für denkbar gehalten, daß je- 
mals es Verhältnisse geben könnte, die einen Zweifel ver- 
1) Korrespondent der Akademie der Wissenschaften, Mitglied der 
Académie de médecine zu Paris und derjenigen zu St. Petersburg, Mit- 
glied verschiedener anderer wissenschaftlicher Gesellschaften, Komman- 
deur der Ehrenlegion, _ 
8 


— 106 — 


anlassen würden, ob die Gebärende auch die Mutter des von 
ihr geborenen Kindes sei. 

Schon allein das Aufwerfen dieser Frage scheint Ulk oder 
Wahnwitz zu sein, und doch findet sie sich in dem erwähnten 
Buch im Ernst für gewisse Fälle gestellt. 

Es handelt sich um folgendes: 

Zambaco Pascha berichtet von zwei Fällen (allerdings 
aus Amerika, und was soll nicht alles dort möglich sein!), in 
denen jedesmal einer Frau die kranken Övarien exstirpiert 
wurden, worauf der Arzt ein gesundes Ovarium, das von einer 
anderen Frau entnommen war, einsetzte. 

Bei beiden Frauen mit aufgepfropftem, fremdem Ovarium 
sei bald die Menstruation gekommen und beide Frauen hätten 
später je ein Kind geboren. 

In dem einen Fall habe der Operateur, Dr. Moris Stephenson, 
das eingesetzte Ovarium von einer Negerin genommen und 
einer der weißen Rasse angehörigen, mit einem Weißen (einem 
Franzosen) verheirateten Frau eingesetzt. Diese weiße Frau 
habe ein Mulattenkind geboren. Diese Frau habe also dank 
des der Negerin entnommenen Ovarium ihre Fruchtbarkeit 
wieder erlangt. Die Ovula des Ovariums hätten der Frucht 
die charakteristische Eigenheit der Negerin übertragen, d. h. 
den Charakter der Negerrasse, der aber durch die Spermatozoen 
der kaukasischen Rasse gemildert worden sei. 

Nach Zambaco Pascha ist nun als Mutter dieser dank 
fremder Ovarien geborenen Kinder diejenige zu betrachten, die 
das Ovarium geliefert hat. Die zweite, die gebärende Frau 
sei nur eine bloße „couveuse“, eine fremde Eier Brütende. 

Ein anderer Arzt, Dr. Kaanar, hatte nach Kenntnis des 
einen Falles, der Geburt des weißen Kindes, behauptet, daß 
das überpflanzte Ovarıum neue Eier produziere, die der Frau 
gehörten, welche das Einpfropfen erlitten habe, und hatte daher 
diese Frau für die Mutter erklärt. 

Zambaco Pascha hält es zwar nicht für unlogisch, daß 
nach Erschöpfung des Stockes der in dem fremden Ovarium 
früher existierenden Eier das Ovarium in seiner neuen Woh- 
nung neue Eier erzeuge, die ausschließlich der neuen Be- 
sitzerin gehörten, so daß man, falls diese Neubildung von 


— 107 — 


Eiern zuträfe, das aus diesen Eiern gezeugte Kind als das- 
jenige der Gebärenden betrachten könne. 

Der zweite Fall, die Geburt eines Mulattenkindes, beweise 
aber nach Zambaco Pascha deutlich den Anteil der ersten 
Besitzerin des Ovarium an der Zeugung. Jedenfalls habe in 
diesem zweiten Fall die Negerin und nicht die Gebärende als 
Mutter zu gelten, weil das Kind Produkt einer Negerin und 
eines weißen Erzeugers sei. 

' Die — namentlich juristischen — Konsequenzen, welche 
dies Ergebnis hätte, wenn wirklich Zambaco Paschas Schluß- 
folgerung zu billigen wäre, würden ungeheuerlich sein und 
sollen hier nicht weiter ausgedehnt werden; man denke nur 
an das Erbrecht des Kindes gegenüber seiner — vielleicht vor 
der Geburt! — gestorbenen — Mutter! 

(Wie wäre auch das Verhältnis des Vaters zu seinem 
Kind, das eine außereheliche Mutter hätte und doch von der 
Ehefrau des Vaters geboren wäre?!) 

Mindestens müßte man, falls man der früheren Besitzerin 
des Ovarium einen Anteil an der Zeugung zuerkennen will, 
beide Frauen als Mütter betrachten; die juristischen Kon- 
sequenzen wären allerdings vielleicht noch ungeheuerlicher. 

Meiner Ansicht nach wird aber der Jurist (zum Glück 
oder leider, wie man will) nicht in die Lage kommen, bei 
derartigen Zeugungen und Geburten seinen Scharfsinn auf die 
Entwirrung eines Knäuels von Schwierigkeiten anzuwenden, 
ebensowenig wird der Naturwissenschaftler zuerst zu Hilfe ge- 
rufen werden müssen, um etwa die Vorfrage zu entscheiden, 
ob das Kind aus einem früheren Ei des Ovarium oder einem 
erst seit der Einpflanzung produzierten stammt. 

Denn für die Frage der Mutterschaft wird es als völlig 
gleichgültig zu betrachten sein, aus welcher Art Ei das Kind 
herrührt, in keinem Fall kann die frühere Besitzerin des 
Ovarium als die Mutter des Kindes gelten. In dem Augen- 
blick, in dem das Ovarium eingepfropft wird, geht es in den 
Besitz der anderen Frau über, wird Bestandteil ihres Körpers, 
ihrer Persönlichkeit: die Tatsache, daß diese Frau den Zeugungs- 
akt duldet, daß in ihrem Schoß die Bildung des Embryo und die 
Geburt vor sich geht, macht sie zur Mutter und nur sie allein. 











— 108 — 


Schließlich mag noch die am Ende des betreffenden 
Kapitels von Zambaco Pascha aufgeworfene Frage erwähnt 
werden, ob durch eine analoge Operation (Aufpfropfen eines 
Hoden) Kastrate wieder fruchtbar gemacht werden könnten? 

Er meint: Gewisse Versuche mit Tieren würden eine solche 
Hoffnung erwecken, falls der Experimentator sich nicht ge- 
täuscht habe. Denn Zeugungen seien seines Wissens bisher 
nicht auf diese Weise erfolgt. 

Wenn wirklich jemals derartige Experimente beim Kastraten 
gelingen und Zeugungen eines wieder mannbar gewordenen 
ehemaligen Kastrierten möglich würden, so wäre meiner An- 
sicht nach in diesen Fällen stets der Exkastrat und generandi 
capax redivivus der Vater des Kindes, nicht der frühere Hoden- 
besitzer. 

Auch hier würde also die Gelegenheit zum Ausklügeln 
juristischer Finessen für die Juristen verloren gehen. _ 


NEYNEMANN’SONE BUCHDRUSKEREI (GEBR, WOLFP), HALLE A, © 


Selbstanzeigen Geisteskranker. 


Von 


Dr. Hermann Haymann, 


früher Assistenzarzt der psychiatrischen Universitätsklinik Freiburg i. Br. 
jetzt Hausarzt der Kuranstalt Bellevue, Konstanz. 





Halle a. S. 
Carl Marhold Verlagsbuchhandlung 
1911. 


Juristisch- Psychiatrische 
Grenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 


Geh. Justizrat Prof. Dr. jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoche 
Halle a. S. Freiburg i. B. 


Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lüben i. Schles. 


VII. Band, Heft 8. 


Aus der psychiatrischen Universitätsklinik Freiburg i. B. 


Selbstanzeigen Geisteskranker 
von 
Dr. Hermann Haymann, fr. Assistenzarzt der Klinik, 
jetzt Hausarzt der Kuranstalt Bellevue, Konstanz. 


Unter Selbstb eschuldigung oder Selbstbezichtigung 
' verstehen wir eine Äußerung, worin jemand spontan anderen 
Personen offenbart, sich gegen ein Gesetz vergangen zu haben ; 
geschieht dies dem Gerichte gegenüber, so sprechen wir 
von einer Selbstanklage oder besser: Selbstanzeige. Was 
die Selbstbeschuldigung bezw. die NSelbstanzeige von dem Ge- 
ständnis unterscheidet, ist der Umstand des Spontanen. Von 
Geständnis reden wir nur, wenn der zu seinem Nachteil 
Aussagende bereits Prozeßpartei geworden ist, Angeschuldigter 
oder Angeklagter; ist dies noch nicht der Fall, so „gesteht“ 
er nicht, sondern bezichtigt sich, zeigt sich an. Von juristi- 
scher Seite wird diese Scheidung vielleicht angefochten werden; 
wenigstens betont Lohsing, daß ein „Geständnis“ selbst erst 
zur Anklage bezw. Anschuldigung führen könne. Wenn ich 
im nachfolgenden die Trennung in dem angedeuteten Sinne 
durchführe, so geschieht es deshalb, weil ich das „Geständnis“ 
— nach meiner Definition — von meinen Betrachtungen aus- 
schließen will. | 

Gewiß hat auch das Geständnis, in unserm engeren. Sinne; 
mannigfache Beziehungen zur Psychopathologie. Diese’ Bezie- 
hungen können sogar manchmal die gleichen oder doch ganz 
ähnliche sein, wie sie sich uns bieten werden. Trotzdem möchte” 
ich mich aus Zweckmäßigkeitsgründen und noch mehr, weil 
das Gestehen psychologisch in den meisten Fällen doch ganz 
anders zu werten ist als das Selbstanzeigen, in dem angedeu- 
teten Sinne beschränken. — 

1* 


ss 4 


Es taucht nun zunächst die Frage auf, ob nicht jede 
Selbstbeschuldigung (und dies gleich bis zu einem ge- 
wissen Grad im Gegensatz zum „Geständnis“) etwas Patho- 
logisches ist. Die Konsequenz der Selbstbeschuldigung oder 
doch der Selbstanzeige ist die Strafe. Jede Strafe vernichtet 
menschliche Güter, seien es materielle, seien es ideale, sei es 
die Freiheit, sei es das Leben. Die Selbstanzeige wird also 
zu einem Akt völliger oder teilweiser Selbstvernichtung. Die 
Selbstvernichtung widerspricht dem jedem gesunden Menschen 
von vornherein innewohnenden Selbsterhaltungstrieb. Ist ein 
Verneinen dieses Triebes in allen Fällen krankhaft? Schon 
wenn wir die sehr nahe liegende Parallele zum Selbstmord 
ziehen, ergibt sich die Antwort. Der Selbstmord ist gewiß in 
einer sehr großen Zahl der Fälle das Ergebnis eines krankhaft 
veränderten Denkprozesses. Daß es aber auch einen „physio- 
logischen“ Selbstmord gibt, wird niemand bestreiten. 

In das Gebiet noch physiologischer Selbstbeschuldi- 
gung möchte ich z. B. jene Fälle rechnen, wo ein Mensch, 
nach Abklingen des Affektes, der ihn zum Verbrechen trieb, 
sich als den Täter beschuldigt, weil sein ethisches Gefühl dies 
verlangt, sein „Gewissen“, wie man sich wohl ausdrückt, ihm 
keine Ruhe läßt; auch dann, wenn dies Gewissen geweckt 
worden ist durch religiöse Einflüsse, etwa durch den Beicht- 
vater. Schon diesem hat er ja seine Schuld bekannt; damit 
hat er in gewissem Sinne die erste Selbstbeschuldigung ausge- 
sprochen; sie zur Selbstanzeige, dem Richter gegenüber, zu 
machen, ist in diesem Falle freilich — als die weltliche Vor- 
aussetzung zur Erlangung der geistlichen Absolution — psycho- 
logisch betrachtet ein ganz anderer Vorgang, wie auch hin- 
wiederum die Selbstbezichtigung in der Beichte psychologisch 
anders zu bewerten ist als eine nicht in der Art sanktionierte 
Form der Selbstbeschuldigung. 

Wie die ethischen, so können aber auch rein intellektuelle 
Motive zu einer physiologischen Selbstbeschuldigung oder 
Selbstanzeige führen. Z. B. sind Fälle bekannt, wo jemand zu- 
gunsten ihm nahe stehender Personen, d. h. um von diesen 
den Verdacht abzulenken, sich selbst angeschuldigt hat, und 
dies Motiv stünde zwischen den ethischen bzw. gefühlsmäßigen 


HIER 


an; 


N: 


EN TE 
EL. 


si: 
N 


T. 
gl 


Eu dr 


und den rein intellektuellen Triebfedern. Oder es sind Fälle 
bekannt, daß jemand sich beschuldigt hat, um den Verdacht 
eines andern, größern von ihm begangenen Verbrechens von 
sich abzulenken. Ein andermal will sich einer, der die schließ- 
liche Entdeckung fürchtet, durch die Selbstanzeige milde Richter 
sichern: Dies alles wären durchaus nicht krankhafte Formen 
der Selbstbeschuldigung, die auch keineswegs etwa im Sinne 


eines Selbstvernichtungsaktes gedeutet werden können. 


Aber noch in einem andern Sinne’ kann die Selbstanklage 
Ausfluß der Lebensbejahung sein. Man denke an den obdach- 
losen Vagabunden. Es ist eine ganz bekannte Erscheinung, 
daß der nicht selten mit Einbruch der strengen Winterkälte sich 
Kost und Nachtquartier für einige Zeit dadurch zu sichern 
sucht, daß er sich bei einem kleinen Diebstahl, beim Bettel 
oder einem andern Vergehen „erwischen“ läßt, was ja in der 
Wirkung auf die Selbstanzeige hinausläuft, da die „Äußerung“, 
von der wir oben in der Definition sprachen, keineswegs immer 
eine in präziser Form mit Worten abgegebene Erklärung des 
Tatbestandes sein muß. 

Von diesem aus Selbsterhaltungstrieb und mit vollster Ab- 
sichtlichkeit sich bezichtigenden Vagabunden führen nun alle 
möglichen Übergänge hinüber ins pathologische Gebiet, wo der. 
Selbstvernichtungstrieb bald mehr bald weniger ausgesprochen 
das Leitmotiv abgibt, oder wo das unbewußte an Stelle des be- 
wußten Handelns tritt. 





Wenden wir uns nunmehr ausschließlich zu diesen patho- 
logischen Selbstbezichtigungen! Selbstbeschuldigun- 
gen hört der Psychiater jeden Tag von seinen Patienten. Da- 
von trägt ein Teil den Stempel des Pathologischen von vorn- 
herein an der Stirn. Es sind jene, deren Inhalt so unsinnig 
ist oder der objektiven Wirklichkeit so vollkommen widerspricht, 
daß selbst der Laie keinen Augenblick an ihrem krankhaften 
Ursprung zweifelt. Daneben gibt es aber solche, die gar nicht 
so ohne-weiteres als krankhaft gefälscht erscheinen müssen, die 
an und für sich recht wohl einen tatsächlichen Hintergrund 
‚haben könnten. Bei ihnen kann nur die Betrachtung der Ge- 


u: be ee 


samtpersönlichkeit, unter Umständen zusammen mit einer Er- 
forschung der Tatsachen zur richtigen Beurteilung führen. 


Von .alledem soll im einzelnen nicht die Rede sein. Es - 


sind, wie gesagt, alltägliche Erscheinungen, die manchmal ein 
ganzes Krankheitsbild geradezu beherrschen. Nicht so alltäg- 
lich wie diese Selbstbeschuldigungen sind die forensischen 
Selbstanzeigen Geisteskranker, und sie haben dement- 
sprechend in der deutschen psychiatrischen Literatur bisher 
nur eine äußerst geringe Beachtung gefunden. Meist werden 
sie hier und da nebenbei erwähnt, namentlich bei Besprechung 
der Melancholie, und vereinzelt sind Fälle, die hierher gehören, 
mitgeteilt worden. Und doch liegen solche Fälle von Selbst- 
anzeigen, wie ich an einigen der mir zur Verfügung stehenden 
zu zeigen hoffe, und wie auch ein Teil der in der Literatur 
niedergelegten zeigt, durchaus nicht immer einfach; ja sie kön- 
nen mit zu den schwierigsten forensisch- psychiatrischen Frage- 
stellungen führen. Gewiß gibt es auch hier Fälle, die klar 
zutage liegen, wo ohne weiteres Staatsanwalt oder Richter 
selbst die Überzeugung gewinnen wird, daß er es mit einem 
Geisteskranken zu tun hat, dessen Selbstanzeige eben deshalb 
also nichtig ist. Sie werden den Psychiater nicht beschäftigen. 
Daß es aber auch anders gelagerte Fälle gibt, Fälle, in denen 
die Schwierigkeiten derart sind, daß sie unter Umständen ganz 
übersehen werden können, darauf eben soll hier hingewiesen 
werden. 


Das Verhältnis des Anzeigenden zu der Straftat, 
deren er sich bezichtigt, kann ein ganz verschiedenes sein. Im 
wesentlichen liegen folgende Möglichkeiten vor: 1. Die Straf- 
tat hat überhaupt nicht stattgefunden; 2. die Straftat ist zwar 
begangen worden, aber nicht von dem Anzeigenden; 3. der An- 
zeigende ist zwar der Täter, aber die Anzeige erfolgt aus krank- 
haften Motiven. 

Naturgemäß werden Fälle, die zu der letzten Kategorie 
gehören, forensisch die größten Schwierigkeiten bereiten, Schwie- 
rigkeiten, die ohne den Psychiater kaum aus dem Wege zu 
räumen sein werden. Fälle der ersten Art sind für den Ju- 
risten in dem Augenblick erledigt, wo nachgewiesen wird, daß 


em 


a 


das betr. Vergehen überhaupt nicht stattgefunden hat. Und 
die der zweiten Art werden unter Umständen dadurch sich er- 
ledigen, daß der wirkliche Täter entdeckt oder für den: Anzei- 
genden die Unmöglichkeit seiner Beteiligung aus irgendwelchem 
Grunde nachgewiesen wird; freilich wird das schon zieh immer 
ganz leicht sein. 

Und nicht so einfach mit Ja oder Nein erledigen sich die 
Fragen, die sich dem Psychopathologen aus diesen Fällen er- 
geben. 

Wollen wir wiederum einteilen, so müssen wir vom psy- 
chiatrischen Standpunkte aus unterscheiden zu- 
nächst zwischen solchen Selbstanzeigen, die erstattet werden 
bei erhaltenem Bewußtsein, und solchen, bei deren Er- 
stattung das Bewußtsein aufgehoben oder getrübt ist. 
Als Störung des Bewußtseins kann jede klinische Form einer 
solchen in Betracht kommen. Unter den andern Fällen, die 
keine Beeinträchtigung des Bewußtseins zeigen, unterscheiden 
wir zweckmäßig solche, bei denen die Ursache der Selbstanzeige 
in Störungen des Affekt- und Gemütslebens liegt, und 
solche, die in Störungen der Denkprozesse (im weitesten 
Sinne) begründet sind. Nicht in jedem Falle freilich werden 
sich die Grenzen absolut scharf ziehen lassen; der psychologische 
Mechanismus der Selbstanzeige wird gewöhnlich ja nicht so 
einfach zutage liegen, und manchmal wird, wie auch sonst 
so oft, selbst die Grenze zwischen physiologisch und patho- 
logisch verwischt sein. 

Suchen wir dies unser psychiatrisches Schema auf das vor- 
hin angeführte mehr juristische zu übertragen, so finden wir, 
daß jede der dort angeführten Möglichkeiten mit jeder der hier 
genannten zusammentreffen kann. Jede in Betracht kommende 
Form psychischer Anomalien kann zur Selbstanzeige führen, 
ob ein Verbrechen gar nicht stattgefunden hat, oder ob ein 
anderer der Täter war, oder der Anzeigende zwar der Täter 
war, die Anzeige aber aus krankhaften Motiven erfolgt. 

Uns wird naturgemäß das klinisch-psychiatrische Prinzip 
‘leiten. Wir wollen es verfolgen in Anlehnung an das einschlä- 
gige kasuistische Material, und zwar im wesentlichen unser 
eigenes, der Freiburger psychiatrischen Klinik entstammend. 


=. B on 


Erschöpfende Vollständigkeit aller pathologischen Möglichkeiten 
ist dabei natürlich ausgeschlossen. 


Wir beginnen mit den Fällen, die ihre Ursache in Störungen 
der Denktätigkeit (bei erhaltenem Bewußtsein) haben. Dabei 
kommt zunächst in Betracht der angeborene Schwach- 
sinn, dessen einzelne Komponenten je für sich zur Selbstan- 
zeige führen können; um wieviel mehr ihre Vereinigung: die 
Urteilsschwäche, das abnorme (nicht durch den Intellekt ge- 
hemmte) Triebleben, die — sekundären — moralischen Defekte, 
dazu jene sog. degenerativen Züge, denen wir später bei der 
Gruppe der Hysterie wieder begegnen werden, und von denen 
hier namentlich die Neigung zum Lügen hervorgehoben sei, 
die beim Imbezillen, wenigstens teilweise, sich erklärt aus dem 
Mangel an Reproduktionsfähigkeit und aus der kindischen Freude 
an der eigenen Produktivität. Im einzelnen Falle kann es 
schwer sein, zu sagen, welcher dieser Faktoren den Schwach- 
sinnigen zur Selbstanzeige gebracht hat. Wollenberg führt 
das Beispiel eines zugleich allerdings hysterischen Imbezillen 
an, der sich während einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe 
eines Mordes bezichtigte, alle Einzelheiten der Tat beschrieb 
und schließlich, als sich keinerlei tatsächliche Grundlagen für 
seine Angaben fanden, eingestand, er habe alles nur vorge- 
bracht, um einen Wechsel in seinem einförmigen Gefängnisleben 
herbeizuführen, später allerdings auch dies widerrief und neue 
Details des Mordes anführte, die den ersten widersprachen. 

Im folgenden möchte ich meinen hierhergehörigen Fall I 
kurz skizzieren. 

Der 27 jährige F. S. kam in die Klinik aus der Untersuchungs- 
haft, wo eine typische Gefängnispsychose zum Ausbruch gekom- 
men war, die dann in der Klinik, im Laufe von 11/, Monaten, 
vollständig abklang. Aus den uns überwiesenen Akten ergab 
sich, daß S. sich vor Jahren am Tage nach einem Brande bei 
der Polizei gestellt hatte mit der Angabe, er habe aus Fahr- 
lässigkeit jenen Brand verursacht; am Tag darauf hatte er dem 
Untersuchungsrichter eröffnet, er habe den Brand absichtlich ` 
gelegt, könne allerdings keinen Grund dafür angeben. Ein Gut- 
achten, das damals von nichtpsychiatrischer Seite erhoben 


G: 


‚worden. war, hatte den S. als vollkommen zurechnungsfähig 
bezeichnet, und es war die Verurteilung zu drei Jahren Zucht- 
haus erfolgt. Die Strafe wurde verbüßt; aber bei der Entlas- 
sung aus der Strafanstalt hob das von dort ausgestellte Füh- 
rungszeugnis hervor, S. habe seine mehrfachen Disziplinarver- 


gehen jeweils eingestanden, „doch, wie es scheint, weniger aus 


bewußter Liebe zur Wahrheit als aus Unbeholfenheit und 
Mangel an Routine“. Dann heißt es weiter: „Was die geistige 
Begabung anlangt, so steht er sehr tief, so daß man bisweilen 
hätte die Frage nach seiner Zurechnungsfähigkeit verneinen 
mögen.“ 21/, Jahre nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus 
legte er innerhalb sechs Wochen drei Brände. Vier Wochen 
nach dem dritten lief er zur Gendarmerie und fragte, ob er 
nicht ausgeschrieben sei, was zu seiner sofortigen Festnahme 
führte, worauf er dann auch ohne Umschweife erzählte, daß 
er die Brände gelegt habe, wie schon einmal früher. Die Be- 
weggründe seien jetzt die gleichen gewesen wie damals: „Ich 
wollte einmal etwas anstellen; es plagte mich förmlich; ich 
hatte keine Ruhe mehr, bis es brannte“; dabei war er jedesmal 
einer der Ersten gewesen beim Löschen. In der Untersuchungs- 
haft, die darauf verhängt wurde, brach die d yohose 
aus, die zur Einlieferung in die Klinik führte. 

Wir haben es hier also. mit einem Falle zu tun, der gleich 
zwei Selbstanzeigen aufweist, die allerdings unter sich nicht 
ganz identisch sind. Zunächst sei gesagt, daß an der Diagnose 
einer Imbezillität nicht zu zweifeln ist; fast könnte man ver- 


sucht sein, schon aus dem Vergehen selbst und der ganzen Art 
seiner Ausführung auf den Schwachsinn des Täters zu schließen. 


Die Diagnose wird aber erhärtet durch das Ergebnis der Be- 
obachtung im Gefängnis und in der Klinik. Was nun die 
psychologischen Vorgänge bei den Selbstanzeigen betrifft, so 
waren sie jedenfalls in den zwei Fällen nicht ganz identisch, wie 
ja auch die Anzeige in verschiedener Form erfolgte, bezw. das 
zweite Mal nur insofern erfolgte, als sich S. dem Gericht in 
die Hände spielte. Nicht unwahrscheinlich ist es, daß sich schon 
beim ersten Male das Motiv geltend gemacht hat, das beim 
zweiten Mal deutlich hervortritt: die Angst vor der Ent- 
deckung, die S. in Wirklichkeit gar nicht zu fürchten brauchte. 


eu, 10 Ze 


Lief er nun das erste Mal direkt zur Polizei mit der Angabe: 
„Ich bin’s gewesen,“ zunächst noch mit der milderen Form der 
Fahrlässigkeit, dann aber spontan mit der Angabe.der Absicht- 
lichkeit, so tat er es das zweite Mal mit der forschenden Frage, 
ob er nicht schon ausgeschrieben sei, einer Form der Selbst- 
anzeige, die gerade bei Imbezillen wiederholt angegeben wird. 
DaB beidemal, ganz besonders aber im zweiten Falle die Ur- 
teilsschwäche sehr erheblich mitgewirkt hat, liegt auf der 
Hand. Vielleicht kommt auch noch in Betracht die Neigung 
der Imbezillen zu triebartigen Handlungen; wie es den 
S. vorher dazu getrieben hat, in einem ganz dunklen Drange 
nach Betätigung, die verschiedenen Häuser anzuzünden, so kann 
es ihn nachher zur Selbstanzeige getrieben haben. Sicher hat 
er jedesmal die Konsequenzen nicht zu überblicken vermocht, 
weder rein intellektuell noch auch die moralischen. Erwähnt 
sei noch, daß S. auch in der Klinik sofort Wärtern und Kranken 
gegenüber von seinen Taten erzählte; es machte sich da eine 
gewisse Neigung zur Großsprecherei geltend. Unter 
Umständen hat auch dies Motiv noch etwas mitgewirkt, als er 
vorher zur Polizei lief. Nur nebenbei sei auch noch darauf 
hingewiesen, daß S. alle seine Disziplinarvergehen im Zucht- 
haus jedesmal prompt eingestanden hat. — — 

Anschließend hieran möchte ich meinen Fall II mitteilen, 
bei welchem die in Betracht kommenden Störungen wiederum 
vornehmlich auf intellektuellem Gebiet liegen. 

In der Nacht vom 10. zum 11. August 1904 war in H. 
eine Scheuer angezündet worden; das Feuer hatte auch das 
angebaute Wohnhaus ergriffen, und ein im Dachstock wohnender 
‘5 jähriger Taglöhner war verbrannt. Der Verdacht hatte sich 
damals gegen den 1862 geborenen Landwirt H. Z. gerichtet, 
der als Mieter in jenem Hause wohnte, die Scheuer aber und 
einen Teil des Hauses an Aftermieter weiter vermietet hatte. 
Ein wirklich stichhaltiges Motiv für die Tat wußte zwar nie- 
mand anzugeben; aber jedermann traute sie dem Z. zu. Einige 
kleine Verdachtsgründe sprachen gegen ihn, und er wurde in 
Untersuchungshaft genommen. Z. stellte aber die Tat mit aller 
Entschiedenheit in Abrede und mußte schließlich mangels 
genügender Beweise auf freien Fuß gesetzt werden. 


se He 


Mitte Oktober 1907 wurde nun Z. von einem Radfahrer 


niedergefahren und erlitt einen Schädelbruch mit Gehirner- 
schütterung; er war zunächst völlig bewußtlos, dann noch 
mehrere Tage schwer besinnlich, hatte in den Nächten deli- 
rante Erregungszustände, konnte aber nach sechs Wochen aus 
der chirurgischen Klinik, in die er gebracht worden war, ent- 


lassen werden. -Nun wurden allerlei psychische Eigentümlich- 


keiten ,an ihm bemerkt. Zwar war er früher schon immer 
etwas verschlossen und schüchtern und nie besonders hell im 
Kopf gewesen (so daß er in der Schule einmal sitzen geblieben 
und später in seiner Landwirtschaft immer weiter rückwärts 
gekommen war); jetzt aber trat ein hoher Grad von VergeßB- 


lichkeit ganz besonders in den Vordergrund, so daß er sich in 


den Straßen der Stadt, ja sogar im eigenen Hause nicht mehr 


zurecht fand; nachts schreckte er öfters auf und erkannte dann 


nicht einmal mehr seine Frau. Mit seiner Arbeit war es nicht 
mehr weit her, beschäftigte man ihn aber nicht, so saß er in 
einer Zimmerecke herum; im Gegensatz zu früher betete und 
jammerte ®r viel. 

Am 25. April 1908 erschien nun Z. morgens 7 Uhr auf 
der Polizei und gab dort an, jenen Brand vor fast 4 Jahren 


gelegt zu haben. Schon acht Tage vor dieser Selbstanzeige 


hatte er die gleichen Aussagen seiner Frau gegenüber gemacht 


und vielleicht auch in der Beichte, die er am gleichen Tage 


abgelegt hatte. Von dem Tage an, an welchem er sich seiner 
Frau eröffnet hatte, bis zu dem, an welchem er sich dem Ge- 
richte stellte, hat er wiederholt Selbstmordabsichten $eäußert, 


so daß man ihn ständig bewachen mußte. Am Morgen der 


Selbstanzeige ging er zuerst zur Kirche und von dort aus direkt 


zur Polizei. Dem Untersuchungsrichter vorgeführt wiederholte 
er seine Selbstbezichtigung in vollem Umfange. Als Gründe 


seiner Brandstiftung, die er schon acht bis vierzehn Tage vorher 
geplant gehabt habe, gab er an, er habe dadurch von dem Orte 
H. loskommen wollen, ferner habe er seinem Aftermieter, der 
ihm „verleidet“ war, „einen Spuk spielen wollen“; einen Ver- 
mögensvorteil habe er nicht bezweckt, da er ja mit seiner 
Fahrnis gar nicht versichert gewesen sei; den Tod jenes alten 


Taglöhners habe er natürlich nicht gewollt. Über die Einzel- 


ae o = 


heiten der Brandstiftung machte er genaue Angaben. Gleich- 
zeitig mit der Selbstanzeige wies er den Untersuchungsrichter 
‚darauf hin, daß er einen Schädelbruch erlitten habe, häufig an 
Kopfweh und Schwindel leide, das Gedächtnis verloren habe. 
Ausdrücklich gibt er an, daß er das Geständnis nicht etwa auf 
Veranlassung des Beichtvaters ablege; hätte er es früher getan, 
so hätte er vielleicht den Unfall nicht erlitten. 

Am 8. August 1908 erfolgte die Aufnahme in die Klinik 
zum Zwecke der Begutachtung. Die vorhin angeführten ana- 
mnestischen Daten wurden hier teilweise eruiert, teilweise be- 
stätigt. Objektiv wurde festgestellt: eine gewisse Rigidität 
der Arterien, leichte Gesichtsasymmetrie, geringe motorische 
Kraft, etwas stelzender Gang, Schwanken bei längerem Stehen 
mit geschlossenen Füßen, leichtes Abweichen der Zunge, Ver- 
änderungen des Gehörorgans, die vom Spezialisten mit Sicher- 
heit auf einen Schädelbruch zurückgeführt wurden, und Schwer- 
hörigkeit, geringe Pupillendifferenz bei prompter Lichtreaktion. 
‚aber etwas trägerer und geringerer Konvergenzreaktion, Fehlen 
der Bauchdeckenreflexe und ziemlich lebhafte PatÄlarreflexe. 
Im psychischen Bilde fiel vor allem das Schwerfällige, Affekt- 
lose, Scheue seines Wesens auf, ferner die geringe Initiative, 
‚das geringe Interesse für die Umgebung (er kannte nach 6 
Wochen keinen Mitpatienten und keinen Arzt mit Namen). 
Die Schulkenntnisse zeigten Lücken, die selbst für einen Mann 
seiner Bildung ziemlich erheblich zu nennen waren, doch nicht 
so, daß man den Eindruck einer ausgesprochenen Imbezillität 
erhalten’hätte, ebenso verhielt es sich mit den später erworbenen 
Kenntnissen; bei der Prüfung dieser versicherte Patient immer 
wieder, nicht selten unter Tränen, daß er das früher gewußt, 
jetzt aber vergessen habe. Das Urteil für einfachste Dinge 
war leidlich gut, versagte schwierigeren Problemen gegenüber, 
die doch sonst durchaus in der Sphäre des Mannes gelegen 
hatten. Seine eigene Situation beurteilte er ganz falsch (wünsch- 
te z. B. für einen Nachmittag nach Hause zu dürfen, um der 
Frau zu helfen etc.). Alle Denkprozesse vollzogen sich auf- 
fallend langsam und ermüdeten den Patienten bald. Die eigene 
geistige Produktivität war ganz gering. Merkfähigkeit und 
Gedächtnis für weiter Zurückliegendes waren unter dem Durch- 


a 4. 2 


schnitt. Die Stimmungslage war fast durchweg eine recht ge- 
drückte und konnte durch unbedeutende äußere Anlässe leicht. 
noch weiter herabgedrückt werden. Die Klagen des Z. bezogen 
sich namentlich auf seine seit dem Unfall hervorgetretene Ver- 
geßlichkeit, unter der er subjektiv ziemlich litt, ferner wurde 
angegeben häufiger Kopfschmerz, zeitweise auftretender Schwin- 
del und allgemeines Schwächegefühl. Erwähnt sei noch, daß. 
Z. angab, im Gefängnis während der Untersuchungshaft Stimmen 
gehört und „Nebelwellen“ gesehen zu haben; auch in der 
Klinik sah er an einem der ersten Tage einen Bogen, in dem 
Buchstaben standen, die aus lauter goldenen Ringen zusammen- 
gesetzt waren, rasch aufsteigend und wieder verschwindend, 
und später einmal ging „Christus der Herr“ neben ihm her, 
-wobei eine Stimme ihm zurief, das Himmelreich sei offen. 
= Nach der ganzen Lage der Dinge ergab sich, daß wir 
einen wohl von Hause aus leicht imbezillen Menschen vor uns 
hatten, bei dem sich aber im Anschluß an eine schwere Schädel- 
verletzung, der eine kurze Bewußtlosigkeit und eine mehrere 
Tage anhaltende delirante Verwirrung unmittelbar gefolgt waren, 
eine chronische psychische Veränderung herausgebildet hatte, 
eine posttraumatische Demenz. Die Begründung dieser 
Auffassung soll uns hier nicht beschäftigen ; es sei nur mitgeteilt, 
daß unser Gutachten in diesem Sinne abgegeben wurde; d. h. 
es wurde die Frage offen gelassen, ob die wohl von Jugend 
auf bestehende Imbezillität so hochgradig war, daß sie den Z. 
als zur Zeit des Brandes krankhaft gestört im Sinne des § 51 
StrGB. hätte erscheinen lassen, die jetzt entstandene Demenz. 
mache ihn auf alle Fälle nicht verhandlungsfähig;; eine Besserung 
sei nicht zu erwarten. Daraufhin wurde das Verfahren ein- 
gestellt. | 

An dieser Stelle interessiert nur die Selbstanzeige. 
Die Dinge liegen hier schon verwickelter als im Fall I. Zunächst 
sei erwähnt, daß die Frage, ob die Selbstanzeige der Wirklich- 
keit entsprochen, bis zum Schluß des Verfahrens nicht gelöst 
worden ist. Außer den wenigen schon bei der ersten Festnahme 
bestehenden Verdachtsgründen hatte man jetzt zwar das „Ge- 
ständnis“. Aber es war das Geständnis eines notorisch Geistes- 
kranken, und ein solches kann, ebenso wie das Zeugnis eines. 


se le 2 


'Geisteskranken, nie und nimmer als Beweismittel dienen. Im 
allgemeinen liegt gewiß in der Motivierung einer Selbst- 
anzeige der sicherste Beweis für ihre Richtigkeit. 
Wie sieht es nun aber mit den Motiven in unserm Falle aus? 
Z. selbst gibt an, er habe durch die Brandstiftung seinem After- 
mieter, der ihm verleidet war, einen Spuk spielen und habe 
von seinem Wohnort loskommen wollen. Ein anderer hätte 
dem Aftermieter gekündigt, und wäre von dem ihm nicht mehr 
zusagenden Dorf, an das ihn nicht etwa irgendwelcher Besitz 
band, weggezogen. So konnte also die Motivierung kaum irgend- 
eine Sicherheit für die Richtigkeit der Selbstanzeige geben — 
wenn es sich nicht um einen von Hause aus imbezillen oder 
doch zum mindesten sehr beschränkten Menschen gehandelt 
hätte. Die Motivierung, die er anführt, ist'aber für einen solchen 
äußerst charakteristisch. Es ist die Motivierung, wie wir sie 
z. B. besonders von Kindermädchen zu hören bekommen, die 
etwa das ihnen anvertraute Kind vergiften oder das Haus 
ihrer Dienstherrschaft anzünden, um von ihrer Stelle fortzu- 
kommen. Damit steigt also die Wahrscheinlichkeit, daß der 
Selbstanzeige die Tat entsprochen hat. 

Nun fragt es sich, aus welchen Gründen die Selbstanzeige 
erstattet worden ist. In erster Linie gewiß aus Angst, diesem 
häufigsten aller Motive. Zwar war seit dem Brande eine Reihe 
von Jahren verflossen, und gewiß wäre ohne die Selbstanzeige 
niemand auf den früheren Verdacht, daß Z. der Täter sein 
könnte, zurückgekommen, so daß dieser sich also wohl hätte 
beruhigen können. Aber da kam der Unfall; die anschließende 
Demenz trübte das Urteil des Mannes für seine eigene 
Situation, seine Religiosität war gleichfalls durch den -Un- 
fall geweckt oder krankhaft gesteigert worden, und so 
kam er dazu, „lieber schon auf dieser Welt einen Teil des 
Fegfeuers abzumachen“, wie er sich ausdrückte. Daß die mo- 
ralischen Qualitäten des Z. allein nicht etwa ausgereicht hätten, 
sich dem Gerichte zu stellen, das geht aus der Art hervor, wie 
er bei der richterlichen Vernehmung kurz nach dem Brande 
die Täterschaft so absolut von sich wies, und aus dem Umstand, 
daß ihm eigentlich alle, die ihn kannten, die Tat zutrauten. 
Nur unter dem Einfluß der Demenz und der durch sie erzeug- 


= I = 


ten Frömmigkeit, die Vorteile und Nachteile nach dem Gesichts- 
punkte eines diesseitigen oder jenseitigen Fegefeuers abwiegt, 
kam die Selbstanzeige zustande. Der Angstaffekt wurde nicht 
durch Vernunftgründe, die im gegenteiligen Sinne hätten 
sprechen können, überwunden, und so drängte die ängstliche 
Spannung zur Lösung durch die Selbstanzeige. 

Unentschieden muß es wie gesagt in diesem Falle bleiben, 
ob die Brandstiftung die Tat eines andern bisher unentdeckten 
Täters war (ja ob es sich überhaupt um Brandstiftung gehandelt 
hat), oder ob Z. zwar der Täter ist, seine Selbstanzeige aber 
aus krankhaften Motiven heraus erfolgte, schließlich ob er, falls 
er der Täter war, zur Zeit des Deliktes geisteskrank im Sinne 
des Strafgesetzbuches war oder nicht. 

Die ganze Sachlage, wie sie sich hier bei einem Falle von 
traumatischer Demenz herausgebildet hat, kann sich natürlich 
bei einer ReiheanderererworbenerIntelligenzstörungen 
auch ergeben, etwa bei einer senilen oder einer arteriosklero- 
tischen, bei einer epileptischen oder einer alkoholistischen De- 
menz, ebenso auch bei einer Dementia praecox. — — 

Ein III. Fall, über den ich kurz berichten möchte, gehört in 
das Gebiet der Dementia praecox, jener Formen jugendlichen 
Irreseins, die charakterisiert sind gleichzeitig durch eine Schädi- 
gung des Intellekts und des Gemütslebens; und zwar: gehört er 
zu der Gruppe der Katatonie. 

Lehrer E. G. wurde am 13. Februar 1902 in die Klinik 
aufgenommen und blieb da bis zu seinem vor kurzem durch 
eine Lungenentzündung herbeigeführten Tode. Er erschien 
zwei Tage vor seiner Aufnahme, am 11. Februar, vor dem 
Staatsanwalt, gab an, sich mit Tieren widernatürlich vergangen 
zu haben, verlangte Scheidung seiner Ehe. Sein Verhalten bei 
dieser Gelegenheit und bei seinem zweiten Erscheinen vor Ge- 
richt, am darauffolgenden Tage, wo er die gleichen Selbst- 
kezichtigungen wiederholte, ließen Zweifel an seiner geistigen 
Gesundheit auftauchen. Es stellte sich heraus, daß der älteste 
Bruder an „Schwermut“ leidet,. und daß bei G. selbst schon 
seit 5 Monaten leichte Zeichen geistiger Störung sich bemerkbar 
gemacht hatten. Etwas menschenscheu und übertrieben schüch- 
tern sei er schon immer gewesen. In der Klinik wiederholt 


=. 


er seine Angaben nochmals: er habe mit zwei Katzen und mit 
Schafen Unzucht getrieben; dafür habe er den Tod verdient; 
auch seine Frau habe er unglücklich gemacht; ihr habe er von 
seiner Unzucht erzählt, und weil sie ihm darauf gesagt habe, 
es sei nicht strafbar, er brauche nicht zum Staatsanwalt, sei 
sie seine Mitschuldige und müsse auch sterben. Spontan gibt 
er dann noch Versündigungsideen in opponierender Form an: 
mit andern Tieren als den genannten habe er nie etwas ge- 
habt, er habe auch nicht gewußt, daß auf seinem Verbrechen 
die Todesstrafe stehe; auch mit seinen Schülern habe er nie 
etwas Unrechtes verübt. 

Zunächst erregt, verfällt Patient am 26. Februar in Stupor. 
In der nächsten Zeit wechseln agitierte und stuporöse Zustände 
miteinander ab, bis dann sehr bald der stuporöse Zustand zur 
dauernden Herrschaft gelangt, verbunden mit allen nur denk- 
baren typischen Symptomen der Katatonie. 

Wie gesagt handelt es sich bei der Dementia praecox um 
eine Störung nicht nur des Intellektes, sondern auch der 
affektiven Seitedes Seelenlebens. Für das Zustandekommen 
der Selbstanzeige wird gerade dieses zweite Moment zu betonen 
sein, zumal in unserm Falle, der selbst als die Krankheit voll 
entwickelt war, kaum nennenswerten Intelligenzrückgang 
zeigte. Es handelte sich damals bei G. wohl um eine sog. 
„initiale Depression“, wie sie häufig das erste Stadium 
der Katatonie darstellt, und in der es, nach Sommer, gerade 
auch zu Selbstanklagen nicht selten kommt, wenn auch gewöhn- 
lich nicht zu einer gerichtlichen Selbstanzeige wie hier. Charak- 
teristisch ist auch die opponierende Form,in der wenigstens 
in der Klinik ein Teil der weitern Versündigungsideen vorge- 
bracht wurde. Die Entscheidung, daß es sich in dem sich 
selbst Anzeigenden um einen Geisteskranken handelte, war in 
diesem Falle nicht schwer. Schon der Staatsanwalt hatte ja 
diesen Verdacht gefaßt. Irgendwelche Anhaltspunkte für die 
Realität der Delikte ergaben sich nicht. 

Hingewiesen sei noch auf den Umstand, daß G. gleichzeitig 
auch seine Frau noch bezichtigte, nicht als Täterin, aber als 
Mitwisserin. Es ist .gar nicht selten, daß mit der Selbstanzeige 
zugleich die Anzeige gegen andere, besonders gegen 


— 17 — 


die nächsten Angehörigen erstattet wird. Die Motive hierfür 
sind sehr verschiedener Art. Wie die selbstmörderische Mutter 
ihr Kind mit in den Tod nimmt, entweder um es nicht allein 
zurückzulassen, oder weil sie es als einen Teilihrer selbst mit in 
ihr Wahnsystem einbezieht, so auch hier. In dem von Zingerle 
mitgeteilten berühmt gewordenen Falle Bratuscha erreichte es 
der sich anzeigende Mann, daß seine schwachsinnige Frau schließ- 
lich sogar selbst, wenigstens vorübergehend, ein Geständnis ab- 
legte, und er erreichte ferner, daß sie tatsächlich zu einer 
schweren Kerkerstrafe verurteilt wurde; als Grund dieser Mit- 
beschuldigung gab or später an, er habe gedacht, wenn er schon 
bestraft werde, dann sollte sie es auch. Diese Motivierung ist 
äußerst dürftig. In unserm Falle war überhaupt keine Moti- 
vierung für die Bezichtigung der Frau zu erlangen. Dies ist 
deshalb nicht zu verwundern, weil bekanntlich gerade in der 
Psychologie der Dementia praecox die Logik des Normalen fast 
immer aufhört. Auch für die Begründung der eignen Beschul- 
digung hätte unser Katatoniker, wenn er jemals wieder gesund 
` geworden wäre, mit größter Wahrscheinlichkeit auch nach- 
träglich viel weniger eine Motivierung geben können als Kranke 
irgendeiner andern Kategorie geistiger Störung, die sich selbst 
anzeigen. Gerade deshalb, infolge dieser Motivlosigkeit, wird 
ja auch eben eine derartige Selbstanzeige so wenig glaubhaft 
erscheinen und wird der Selbstankläger so rasch als geistes- 
krank erkannt werden. — — 

Bei den zuletzt angeführten Fällen sind uns erstmals, wenn 
auch zunächst nur angedeutet, Wahnideen begegnet. Eine 
andere Gruppe von Geistesstörungen ist durch Wahnideen gerade 
charakterisiert, die Paranoia und die ihr verwandten Zustände 
Die Störung liegt auch bei ihr in erster Linie auf dem Gebiete 
der Denkprozesse. Die Wahnideen haben den Standpunkt des 
Kranken „verrückt“, und es ist begreiflich, daß es auch hier 
einmal zu einer Selbstanzeige kommen kann. Doch ist bemer- 
kenswert, daß in allen bekannt gewordenen Fällen zu der rein 
intellektuellen Störung sich eine wenn auch nur vorübergehende 
Abnormität des Affektlebens gesellt hat, wenn es zur Selbst- 
anzeige kam. 

Über einen eigenen hierher gehörigen Fall verfüge ich 

2 


— 18 — 


nicht. Marguliés hat über Fälle von Selbstanzeigen bei Para- 
noia berichtet. Während die früheren, vornehmlich französischen 
Autoren für diese Fälle angenommen hatten, es träte im Ver- 
lauf einer Paranoia eine melancholische Phase mit Angstzu- 
ständen auf, oder an ein vorausgegangenes melancholisches 
Initialstadium schließe sich eben eine „sekundäre“ Paranoia an, 
in deren Wahnsystem nun die ängstlich melancholischen Ideen 
mit hineinspielen, gibt Marguliös eine.andere und wohl 
richtigere Darstellung des zugrunde liegenden psychischen 
Mechanismus. Der Paranoiker bezieht gleichgültige Äußerungen 
oder Ereignisse auf sich, glaubt, man halte ihn für einen Ver- 
brecher, fühlt sich als solcher verfolgt, wird dadurch ängstlich 
erregt, weiß nicht mehr aus noch ein und sucht, derart 
unsicher geworden, halb unbewußt, durch die Anzeige 
Schutz gegen seine Verfolger zu erlangen. In einer 
andern Reihe von Fällen erzeugen die Verfolgungsideen eine 
solche Unsicherheit der Auffassung, daß der Kranke nicht mehr 
zwischen wahnhafter Wahrnehmung und wirklichem Erlebnis 
zu unterscheiden vermag und so wenigstens vorübergehend - 
glaubt, er könne die Tat, deren er sich beschuldigt sieht, wirk- 
lich begangen haben; in seiner eigenen Unsicherheit 
schreitet er zur Selbstanzeige, um, vielleicht wieder halb un- 
bewußt, durch die gerichtliche Untersuchung Klarheit zu 
schaffen. 

Auch Kreuser hat über einen Paranoiker berichtet, der sich 
selbst dem Gericht angezeigt hat, und zwar zu wiederholten 
Malen, wobei sich ergab, daß er die ersten Straftaten, deren 
er sich bezichtigte, wirklich begangen hatte, während er die 
letzte gar nicht verübt hatte, was dann eben zu seiner psy- 
chiatrischen Begutachtung führte. Die richterlichen Erhebungen 
mußten im letzten Falle erst nachweisen, daß die Anzeige jeder 
tatsächlichen Begründung entbehrte, ehe der krankhafte Cha- 
rakter dieser Wahnideen ebenso zu beweisen war, wie der der 
gleichzeitig bestehenden Verfolgungsideen. 

Dupré hebt hervor, daß bei den S benke der Pa- 
ranoiker eine große Rolle dem Alkohol zukomme. Und Meyer 
weist darauf hin, wie gerade bei alkoholistischen Geistes- 
störungen Selbstbeschuldigungen häufig vorkommen, hin und 


— 19 .— 


wieder auch, gewöhnlich in wenig bestimmter Form, solche 
gegenüber dem Gericht, vor allem bei der akuten Alkohol- 
Paranoia. Auch eine meiner Patientinnen, eine Kellnerin, 
die eine akute Alkohol-Halluzinose durchmachte, lief in der 
Nacht vor ihrer Einlieferung in die Klinik mehrfach zur Polizei, 
‚um zu fragen, ob gegen sie oder gegen ihren Geliebten irgend- 
welche Anzeige vorliege. Zu einer präziseren Angabe kam es 
micht. Sichergestellt wurde, daß in diesem Falle Sinnes- 
täuschungen eine wichtige Rolle spielten. Die Patientin 
hatte halluziniert, ein Polizist hätte vor ihrer Türe Einlaß ver- 
langt; obwohl sie sich davon überzeugte, daß dies tatsächlich 
‚nicht der Fall war, halluzinierte sie immer wieder die gleiche 
Szene, wurde dadurch schließlich unsicher und ängstlich are 
mund lief mit jener Frage zur Polizeistation. 

Bei einer andern, der Paranoia (im Sinne der zitierten 
Autoren) nicht nur srinplomalisch: sondern auch im Wesen 
nahestehenden Psychose, der Dementia paranoides, sind 
gleichfalls Selbstanzeigen beschrieben worden. Meyer hat 
‚einen Fall mitgeteilt, und nebenbei erwähnt Sommer einen 
solehen kurz. Die Selbstanzeigen sind in diesem Falle nicht 
anders zu bewerten als die sonstigen sehr zahlreichen Kon- 
fabulationen dieser Kranken; sie konfabulierenihre Ver- 
brechen. 

‚Eine wie große Bedeutung Erinnerungsfälschungen 
für das Zustandekommen von Selbstanzeigen gewinnen können, 
dafür spricht der oben bereits erwähnte Fall von Zingerle. 

Es handelte sich dort um einen intellektuell nicht minder- 
wertigen Psychopathen, in dessen damaligem Geisteszustand 
‚eine Vorstellungsgruppe eine dominierende Stellung gewann, 
‚eben diejenige, die nachher den Inhalt der Selbstanzeige bildete. 
Durch Autosuggestion glaubte er selbst vollkommen daran, und 
dank seiner regen, etwas abenteuerlichen Phantasie gestaltete 
er jene Vorstellungsgruppe immer weiter aus, fälschte unbewußt 
seine Erinnerungen und konfabulierte in diesem Sinne. 

Dieser Typus der Selbstanzeige ist charakteristisch für jene 
große klinische Gruppe der Hysterischen und Psychopathischen. 
Gerade Hysterische und Psychopathen werden neben 
den Melancholikern in erster Linie genannt, wenn Beispiele für 

Oi 


— 20 — 


Selbstanzeigen Geisteskranker angeführt werden. Bei jenen 
„psychogenen“ Störungen liegt der Grundzug des Leidens 
in der abnormen Beeinflußbarkeit, sowohl durch äußere wie 
durch innere Einflüsse, und dies bildet die Wurzel auch der 
Selbstanzeigen. Durch Autosuggestion kommt der psyeho- 
pathisch Degenerierte mit seiner leicht erregbaren Phan- 
tasie dazu, irgendein Verbrechen, von dem etwa gerade die 
Zeitungen voll sind, oder von dem er in einem Kriminalroman 
gelesen hat, sich schließlich selbst zuzuschreiben. Dies dann 
dem Gericht anzuzeigen, treibt ihn wohl oft noch die gleich- 
falls diesen Menschen eigentümliche Sucht, eine Rolle zu 
spielen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. 
Erleichtert wird der Hergang noch vielfach dadurch, daß ein 
großer Teil der hierhergehörigen Individuen auch intellektuell 
mehr oder weniger minderwertig ist. So teilt z. B. Meyer einen 
Fall von Selbstanzeige (wegen Kindestötung) mit, die eine 
Hysterische, welche gleichzeitig ziemlich hochgradig imbezill 
war, gegen sich erstattet hat. 

Die Selbstanzeigen Hysterischer bilden eine spezielle Form 
deshysterischen Lügens, einer wohlbekannten Erscheinung, 
deren psychologische Grundlagen trotz ihrer Häufigkeit nicht 
ganz klar und wohl sicher auch nicht einheitlich sind. Die 
Selbstbeschuldigungen dieser Art unterscheiden sich von allen 
andern, ob sie nun auf Wahnideen oder Halluzinationen beruhen 
oder aus einem krankhaft gesteigerten und veränderten Affekt 
entspringen, dadurch, daß die Kranken sich der Unrichtigkeit 
ihrer Anklage bewußt sind, was bei all den andern Gruppen 
nicht der Fall ist; Vallon nennt sie daher Mystificateurs oder 
Menteurs im Gegensatz zu den Sinceres. Freilich kann auch 
ihnen das Bewußtsein der Fälschung verloren gehen, sie können 
selbst an die Wirklichkeit ihrer Phantasiegebilde glauben; wir 
haben dann die Erscheinung der Pseudologia phantastica Zu 
ihr führt das hysterische Lügen ohne Grenzen hinüber. 

Eben die Suggestibilität der Hysterischen bringt es mit 
sich, daß es nicht selten zu psychischen Epidemien kommt. 
Gewissermaßen epidemisch können dann auch die Selbst- 
anzeigen auftreten. Es. sei hier nur daran erinnert, daß z. B., 
wie v. Schrenck-Notzing erwähnt, in dem berühmten Prozeß 


= 1 s 


Berchtheld sich während der 14 tägigen Verhandlungen nicht: 


weniger als sieben Personen bei der Münchner Staats- 
anwaltschaft meldeten mit der Angabe, sie hätten den Mord 
begangen. Zeitungsberichte hatten hier den psychischen In- 
fektionskeim in eine Reihe von krankhaften Gemütern gleich- 
zeitig gestreut und ihn dort zur Entwicklung gebracht. 

In das große Gebiet der psychopathischen Konstitutionen, 
dem wir die eben besprochenen Bilder der Hysterie und ver- 
wandter Erscheinungen zurechnen müssen, gehören auch leichte 
Formen dauernd bestehender Anomalien auf affektivem Gebiet, 
speziell die sogen. konstitutionelle Depression. Von 
dieser führen dann allerdings wieder die Fäden hinüber in ein 
anderes Gebiet, zu den ausgesprochenen Affektpsychosen, 
speziell zum manisch-depressiven Irresein bezw. zur Melancholie. 


‚Es wurde schon eingangs gestreift, daB Selbstbeschuldi- 


gungen Melancholischer etwas ganz Alltägliches seien. Sie 
stellen auch ein großes Kontingent zu den eigentlichen, ge- 
richtlichen, Selbstanzeigen. Oben. wurde bereits über eine 
Selbstanzeige im Verlauf einer initialen Depression bei Kata- 
tonie, die ja unter Umständen große Ähnlichkeit mit einer 
melancholischen Depression haben kann, berichtet. Hier soll 
nun ein Fall angereiht werden, in dem es sich um einen kon- 
stitutionell depressiven Menschen handelte, dessen habituell 
traurige Stimmung dann zeitweilig, und so auch gerade zur 
Zeit seiner Selbstanzeige, zu einer ausgesprochenen Melan- 
cholie anstieg. 

Fall IV. J. B., 48 Jahre alt, mehrfach vorbestraft, 
darunter einmal wegen Brandstiftung (er hatte in einer- Wirt- 


schaft, wo er, arbeitlos, einige Male nächtigte, den Strohsack 


angezündet, weil der Wirt ihn einen Lausbuben genannt hatte), 


erschien am 14. Februar 1900 vor dem Amtsgericht in L. und 


gab an, am 13. April 1896 um die Mittagszeit eine Fabrik in 
L. angezündet zu haben. Der Brand hatte tatsächlich statt- 

gefunden, man hatte auch Brandstiftung vermutet, hatte aber 
= trotz umfangreicher Nachforschungen den Täter nicht ermitteln 
können. Nun wurde J. B. in Untersuchungshaft genommen. 
Er blieb auch hier bei seiner Selbstanzeige, schilderte sein 
Vorgehen bei der Brandstiftung (er habe eine Schnur mit 


r oa — q Aue ruhen em Fre ma nen: Scheren Seren e O o 


— 9 — 


Petroleum getränkt, in den Spinnsaal gelegt, und als der Saal 
mittags leer war, die Schnur mit einem Streichholz in Brand 
gesetzt), konnte aber einen plausiblen Grund für die Tat nicht 
angeben. Am 5. April wurde er mit seinem ehemaligen Dienst- 
herrn, dem Fabrikbesitzer, konfrontiert; aufgefordert, jetzt 
noch einige Details anzuführen, erklärte er plötzlich, er habe 
den Brand überhaupt nicht gelegt, und blieb nun im folgenden 
dauernd bei dieser Angabe. Damit stimmten die Zeugenaus- 
sagen überein, die alle dahin lauteten, daß nie irgendein Grund 
zum Verdacht gegen J. B. vorgelegen hatte. Sie ergaben auch, 
daß er stets für einen Sonderling gegolten hatte, und so wurde 
Beobachtung in der psychiatrischen Klinik angeordnet. 

Diese ergab in körperlicher Beziehung (außer: geringem- 
Bartwuchs und Stottern) nichts Auffallendes. Psychisch trat 
besonders das Stumpfe, Wunsch- und Interesselose seines 
Wesens hervor; er sprach wenig und leise, kümmerte sich 
nicht um seine Umgebung, war lässig in seinen Bewegungen, 
zeigte dauernd eine traurige, gleichgültige Gemütsstimmung. 
Die Intelligenz entsprach dem Bildungsgrade. Insbesondere 
war auch nichts von etwaigen Gedächtnislücken festzustellen. 
Er machte geordnete Angaben über sein Vorleben. Aus diesem 
sei erwähnt, daß er als Kind Scharlach und Hirnhautentzün- 
dung durchgemacht habe, daß er ein mittlerer Schüler ge- 
wesen und oft unschuldig bestraft worden sei. Er sei gern 
einsam gewesen, habe sich namentlich auch fast nie zu weib- 
lichen Personen hingezogen gefühlt (im ganzen habe er höch- 
stens dreimal in seinem Leben geschlechtlich verkehrt). Er 
habe gern und viel gelesen, alles was ihm „unter die Finger 
kam“, habe das Gelesene auch verstanden, aber leicht wieder 
vergessen. Viel getrunken habe er nie. Zeitweise sei er noch 
ernster gewesen als sonst schon; da sei ihm alles verleidet. 
gewesen, so als ob er gar nicht in die Welt gehöre. In dieser 
Stimmung habe er seine Selbstanzeige erstattet (nach einer obdach- 
los verbrachten Nacht), er habe sich damals nach der Einsamkeit 
einer Zuchthauszelle gesehnt, um da sein Leben vollends zu 
verbringen. Auch im Untersuchungsgefängnis habe ihn noch 
seine Stimmung beherrscht. Erst bei der Konfrontation mit 
seinem Dienstherrn habe die Wahrheit gesiegt, da er jenen 


ae 93, u 


doch nicht habe anlügen können. Jetzt wisse er, daß die 
Anzeige in einer Art Verwirrung erfolgt sei, gerade wie er 
früher in solchen Zuständen Selbstmordabsichten gehabt habe 
und auch wirklich einmal in den Rhein gesprungen sei. (Ein 
Bruder von ihm habe gleichfalls durch Selbstmord geendet.) 
Viel liege ihm auch jetzt nicht am Leben. Doch müsse er 
dabei bleiben, daß er die Fabrik nicht angezündet habe, wenn 
es ihm auch ganz gleichgültig sei, falls man ihn ins Zuchthaus 
sperren wolle. Erwähnt sei noch die Angabe, er habe fast 
immer Kopfschmerzen, bald mehr, bald weniger; sie seien 
auch am Morgen der Selbstanzeige vorhanden gewesen. Die 
Anzeige habe aber keinerlei Erleichterung gebracht. 

In dem von der Klinik abgegebenen Gutachten wurde aus- 
geführt, daß es sich um einen konstitutionell abnormen Menschen 
handle, bei dem, vielleicht im Anschluß an äußere Anlässe, 
ausgesprochene Melancholien wiederholt aufgetreten sind. Eine 
solche lag sicher auch zur Zeit der Selbstanzeige vor. Der 
Kranke wollte sich, seinen schwermütigen Gedanken ent- 
sprechend, bestrafen lassen, zugleich hoffte er, in der Einsam- 
keit der Gefängniszelle sich vor den Menschen und vor den 
Eindrücken der Außenwelt verbergen zu können. Die An- 
nahme, daß der Selbstanzeige ein tatsächlich verübtes Ver- 
brechen zugrunde liege, wurde, schon nach den gerichtlichen 
Ermittlungen, durch nichts gerechtfertigt (während es anderer- 
seits allerdings auch vorkommen kann, daß ein Melancholiker 
in seiner traurigen Verstimmung ein wirklich von ihm be- 
gangenes Delikt gesteht bezw. anzeigt). 

Der Fall ist das ganz typische Beispiel einer Selbst- 
anzeige bei Melancholie, ähnlich wie der viel zitierte 
Fall von Cramer, wo sich ein Student fälschlicherweise 
eines von einem andern begangenen Mords bezichtigte, und 
dem von Krafft-Ebing angeführten Fall Morels, wo sich 
die deprimierte Mutter beschuldigte, den Tod ihres (an einer 
Krankheit verstorbenen) Kindes durch Mißhandlungen herbei- 
geführt zu haben. 

Charakteristisch ist, wie mit dem Abklingen der melan- 
cholischen Erscheinungen auch die Behauptung, ein Verbrechen 
begangen zu haben, nicht weiter aufrecht erhalten wird. Die 


— Ə — 


Selbstanzeigen der Melancholischen unterscheiden sich 
eben dadurch von denen der Paranoiker. Die der letzteren 
entstehen zwar langsamer, erst auf Grund logischer Erwägungen, 
werden dann aber zäh festgehalten, verteidigt und zum weitern 
Ausbau des Wahnsystems verwandt. Beim Melancholischen 
treten sie mit dem Affekt auf und schwinden mit ihm und 
werden nicht immer logisch in das Gedankengebäude einge- 
reiht. Der Paranoiker kämpft für die einmal fixierte Idee, 
auch wenn es sich um die der Selbstverschuldung handelt ; 
der Melancholiker ist dankbar für den Zuspruch, der ihm aus- 
einandersetzt, daß er gar nicht der Täter sei, und glaubt viel- 
leicht, wenigstens vorübergehend, daran. 

‚Es ist begreiflich, daß es der der Melancholie entgegen- 
gesetzten affektiven Psychose, der Manie, im allgemeinen 
sehr fern liegt, jenen Akt der Selbstvernichtung, der in der 
Selbstanzeige enthalten ist, zu begehen. So wirkt ein Fall, 
den gelegentlich Nitsche erwähnt, fast wie ein Kuriosum. 
Ein chronisch Manischer schrieb an den Untersuchungsrichter, 
der auch gegen ihn eine Untersuchung wegen verschiedener 
Beleidigungsklagen führte, er müsse ihm, „nachdem er mit 
seinem Gotte in Konferenz getreten“, mitteilen, daß er in dem 
eben schwebenden Mordprozesse als Täter in Betracht komme, 
und bat um seine Verhaftung. Die Untersuchung ergab seine 
Schuldlosigkeit. Der Kranke gab später in der Klinik schmun- 
zelnd an, die Selbstanzeige sei ein Witz gewesen, mit dem 
er den Richter habe foppen wollen. Gewiß ein eigenartiges 
Motiv! — — 


Während wir im bisherigen die Fälle von Selbstanzeigen 
betrachtet haben, in denen es sich um Krankheiten mit er- 
haltenem Bewußtsein handelt, gibt es nun aber, wie schon 
gesagt, auch solche von Kranken mit mehr oder minder 
getrübtem Bewußtsein. Daß bei ihnen von einer psycho- 
logischen Motivierung ihrer Handlung in dem Sinne wie bei 
den bisher besprochenen Formen geistiger Störung nicht die 
Rede sein kann, liegt auf der Hand. Im ganzen kommt ihnen 
wohl auch, schon ihrer geringeren Häufigkeit wegen, eine 
weniger hohe Bedeutung zu. 


u DR u 


Krafft-Ebing zitiert einen Fall von Legrand; ein an 
Typhus erkrankter Angeklagter deliriert im Sinne der Anklage; 
während er bisher beharrlich seine Schuld. bestritten hat, ruft 
er im Fieberdelirium wiederholt: ich habe gestohlen, ich 
bin der Dieb usw. Dieser Fall ist insofern schon den früheren 
nicht analog, als es sich ja hier nicht um einen bisher Unverdäch- 
tigen, sondern um einen bereits Angeschuldigten handelt. Daß 
bei Deliranten der Inhalt der Delirien von den dem Ausbruch 
der Störung unmittelbar vorausgegangenen Ereignissen be- 
stimmt wird, wie Krafft-Ebing bemerkt, ist nicht verwunder- 
lich, und so auch nicht, daß ein Angeklagter im Sinne der 
Anklage deliriert. Selbstverständlich kann diesem Schuld- 
bekenntnis keinerlei Bedeutung als Beweismittel zuerkannt 
werden. E 

Ganz ähnlich wie Selbstanzeigen im Delirium sind solche 
zu beurteilen, die im Rausche erfolgen. Auch bkierfür er- 
wähnt Krafft-Ebing ein charakteristisches Beispiel, ursprüng- 
lich von Pelmann mitgeteilt. Ein Trinker bezichtigte sich 
des Mords, wurde verhaftet, widerrief, nachdem die akute 
Alkoholwirkung vorüber war, sein Geständnis, wurde trotzdem 
verurteilt und erst im Wiederaufnahmeverfahren, nachdem der 
wirkliche Täter ermittelt war, freigesprochen. Gerade beim 
Rausch, wo die Grenze zwischen Physiologischem und Patho- 
logischem oft so schwer zu ziehen ist, kann auch die Frage, 
ob eine Selbstanzeige krankhaft gefälscht ist oder nicht, 
Schwierigkeiten machen, wie eben in dem angeführten Bei- 
spiele. Dagegen ereignet es sich, schon nach dem alten 
Sprichwort, nicht selten, daß gerade in der Trunkenheit auch 
das Bekenntnis einer wirklich begangenen Tat erfolgt. Größte 
Vorsicht in der Verwertung der Anzeige Trunkener wird 
immer am Platze sein. | we. 
~ Auch diejenige Störung nun, welche durch anfallsweise 
auftretende Trübung des Bewußtseins geradezu charakterisiert 
ist, die Epilepsie, kann zu krankhaften Selbstanzeigen 
führen. | 

Köppen teilt einen Fall von schwerem Dämmerzustande 
mit, während dessen sich ein Epileptiker wegen einer Majestäts- 
beleidigung, die er offenbar gar nicht begangen hatte, auf der 


Polizeiwache stellte. Mit dem allmählichen Abklingen des. 
Dämmerzustandes wurde er bei den vorgenommenen Verhören 
selbst immer mehr zweifelhaft, ob er die Tat begangen habe, 
und schließlich fand er sich in Haft, ohne zu wissen, warum 
er festgenommen worden war. Interessant ist noch, daß er, 
während er noch im Dämmerzustand war und die Idee seiner 
Verschuldung noch aufrecht erhielt, gleich auch entlastende 
Momente anführte. 

Im Anschluß hieran möchte ich noch meinen Fall V mit- 
teilen. 

Am 10. Februar 1908 abends 1/,7 Uhr erschien vor dem 
Staatsanwalt in K. der 44jährige Maurer H., machte eine Ver- 
beugung und sagte (wörtlich): „Ich habe die Ehre, eine Selbst- 
anzeige zu erstatten. Ich habe der Schweiz die Pläne der 
Festung X. ausgeliefert; Sie werden mich verhaften müssen.“ 
Er machte genaue Angaben über seine Personalverhältnisse 
und schilderte, wie er zu seiner Straftat gekommen sei; ein 
Fremder habe mit ihm Beziehungen angeknüpft, ihm Vorschuß 
gegeben, ihn zu weitern Zusammenkünften bestellt, er habe 
so dem Fremden nacheinander einen Situationsplan der ganzen 
Festung und drei Detailzeichnungen geliefert, alles „aus dem 
Kopfe“. Daß er damit den Interessen der Landesverteidigung 
entgegenhandle, habe er damals nicht gewußt, erst viel später 
habe er die Tragweite seiner Handlungen erkannt. Jetzt er- 
statte er die Selbstanzeige, weil er das Zusammenleben mit 
seiner Frau satt habe und es vorziehe, sein Verbrechen zu 
bekennen und seiner gerechten Strafe entgegenzugehen. Dem 
Staatsanwalt fiel damals zwar die feierliche, geschraubte Art 
des H. auf; verstört, verwirrt oder verzweifelt sei er aber nicht 
erschienen. 

H. wurde in Haft behalten. Bei einer Vernehmung am 
nächsten Tage machte er einige weitere Angaben, die die 
vorhergehenden in einigen unwesentlichen Punkten ergänzten; 
namentlich blieb er dabei, daß er die Zeichnungen nur aus 
der Erinnerung angefertigt habe und sicher vieles darauf falsch 
gewesen sei. 

Am 22. Februar gab H. bei einer neuen Vernehmung an, 
er habe bis zum 20. Februar nicht gewußt, daß und weshalb 


ir SO a 


er in Haft sei; auch jetzt wisse er noch nicht, wie er zur 
Staatsanwaltschaft gekommen sei, und was er dort erklärt 
habe. Er sei eben sehr erregbar, namentlich seitdem, er als. 
Soldat von einem Pferde an den Kopf geschlagen worden sei; 
er habe oft Kopfschmerzen, verliere die Gedanken oft, und es 
fehle ihm die Erinnerung an das, was er in der Erregung ge- 
tan. Eine letzte solche Erregung habe er am Sonntag, den 
9. Februar durchgemacht, doch sei er an diesem Tage ganz 
still gewesen, weil er „innerlich“ mit sich zu tun gehabt habe. 
Am nächsten Morgen aber sei er auf Selbstmordgedanken ge- 
kommen, habe sich erschießen wollen, und sei schließlich, als 
er den Revolver nicht fand, mit einer Schnur in den Wald 
gegangen, um sich zu erhängen. An der Ausführung der Tat 
sei er durch zwei Männer verhindert worden, er habe sich 
dann auf eine Bank gesetzt. Von da an weiter fehle die Er- 
innerung. | | | 


Von den Vernehmungen durch den Staatsanwalt und den 
Untersuchungsrichter wußte er nichts mehr. „Es kommt mir 
nur so vor,“ sagte er, „wie wenn in einem großen Zimmer 
lebhaft auf mich eingesprochen worden wäre, und wie wenn: 
ich noch die Stimmen hören würde.“ In der Nacht vom 18. 
zum 19. Februar sei er dann erst wieder zu sich gekommen. 
„Es träumte mir, ich sei auf freiem Felde gegangen und eine 
Herde Gendarmen sei mit aufgepflanztem Bajonett auf mich 
zugeritten und habe mich angesprochen: Willst du sagen, daß: 
du Zeichnungen von der Festung gemacht hast! Mit der Ant- 
wort ‚Ei, das hab ich ja schon gesagt‘, bin ich erwacht und 
entdeckte, daß ich in einer Zelle war; trotzdem kam mir die 
Erinnerung, daß ich dem Staatsanwalt Angaben gemacht hatte, 
nicht.“ 


Die Straftat gab H. auch bei dieser Vernehmung, bei der 
er sich offenbar in veränderter psychischer Verfassung befand,: 
zu. Wörtlich sagte er dabei: „Es kam mir (nach der Auf- 
forderung durch den Fremden) der geniale Gedanke, ihm 
billige Phantasiezeichnungen zu liefern. Ich sagte mir: ‚wenn: 
der absolut etwas haben will, ich habe freie Hand, kontrol- 
lieren kann er mich nicht‘. Daß ich damit etwas Unrechtes 


— 92 — 


getan hätte, der Gedanke ist mir im gesunden Zustand noch 
nie gekommen.“ 

Es wurde nun eine sehr es Reihe von Zeugenverneh- 
mungen vorgenommen, teils um den Tatbestand zu ermitteln, 
teils um objektive Angaben über den Geisteszustand des H. 
zu erhalten. Und vom 12. März bis zum 23. April 1908 wurde 
H. zur Beobachtung in der psychiatrischen Klinik Freiburg 
untergebracht. 

Aus dem Ergebnis der Zeugenaussagen, die sich auf die 
Ermittlung des Tatbestandes beziehen, sei nur erwähnt, daß 
sie wenig positives Resultat lieferten. Es konnte nur fest- 
gestellt werden, daß H. in der fraglichen Zeit wiederholt an 
Werktagen in Sonntagskleidern fortgefahren war, und daß er 
einige größere Ausgaben gemacht hatte (wie übrigens auch 
sonst hin und wieder). — Nicht gelungen ist es, trotz aller 
Bemühungen, jene Männer zu ermitteln, die den H. nach seiner 
Angabe am Erhängen verhindert haben sollen. 

Um so ergiebiger waren die Zeugenvernehmungen, die 
den Geisteszustand des H. betrafen; es sei nur das Wesent- 
lichste hier kurz resümiert. Der Vater des H. war ein notori- 
scher Schnapstrinker und blieb manchmal wochenlang seiner 
Familie fern; auch Großvater und Großmutter scheinen reich- 
lich Alkohol konsumiert zu haben. Der Vater war im Dorf 
allgemein als der „Lügen-Franzl“ bekannt. H. selbst war von 
klein auf nicht wie andere Menschen; nach Angabe seiner 
Geschwister habe er sich immer mehr gedünkt als sie, habe 
gern seine Kameraden unter Höherstehenden gesucht, habe 
gern renommiert, „Sprüche gemacht“, und auch sonst viel ge- 
logen. Auch während der Lehrzeit habe er sich manchmal 
eigentümlich benommen, habe z. B. einmal ein Pferd geliehen 
und sei in einem Kaminfegeranzug vor das Haus seines Meisters 
geritten. Oft habe er drei bis vier Tage überhaupt nicht ge- 
arbeitet. Fast alle, die ihn kannten, Mitarbeiter und Vorge- 
setzte sowie sonstige Bekannte, nahmen an, er „spinne“ zeit- 
weise, leide an „Größenwahn“, sei „ein verrückter Kerl“, sei 
manchmal „übergeschnappt* oder „obenaus“ etc. Die schon 
in der Kindheit an den Tag gelegten Eigenschaften, Lügen- 
haftigkeit und Renommiersucht, Sprüchemacherei und recht- 


— 90 a 


haberisches Wesen, zeigte er auch späterhin dauernd und be- 
wies dies durch eine große Reihe auffallender Handlungen,. 
die von den Zeugen angegeben wurden. Er schrieb schwül- 
stige Briefe, verfaßte phrasenhafte Gedichte, hielt Vorträge- 
über Dinge, von denen er im Grunde nichts verstand, lud sich: 
Gäste ein zu Zeiten, wo er selbst nichts zu leben hatte, kaufte 
ganz unsinnige Gegenstände (ein Harmonium um 360 M., einen 
goldenen Zwicker, den er nicht brauchte, seinem ganz un- 
musikalischen Sohn eine Flöte etc.)., 

Mehrere Zeugen gaben an, daß er zeitweise ohne oder 
doch ohne genügenden Grund getobt und gelärmt habe, ohne 
daß er irgend etwas vorher getrunken habe. Immer habe er: 
recht haben und alles am besten können wollen. Wiederholt 
sei es vorgekommen, daß er plötzlich von der Arbeit fortge- 
laufen und erst nach ein bis zwei Tagen wiedergekommen sei.. 
Öfter habe er „patriotische oder religiöse Anwandlungen“ ge- 
habt. Einer seiner Arbeitgeber hat beobachtet, wie er einmal 
plötzlich in größter Erregung mit einem schweren Hammer 
anhaltend auf einen Stein schlug, sich dann aufrichtete und 
sagte: „Die wo schuld sind, daß ich so Stein klopfen muß,. 
sollen heut noch verrecken“; dann habe er den Kopf ge- 
schüttelt und darauf ruhig weiter gearbeitet. Öfter habe er 
über Kopfweh geklagt. Seine Frau habe er zeitweise sehr- 
schlecht behandelt („wie einen Sklaven“). Aufgefallen ist 
noch, daß er so häufig von einem Platz zum andern zog. 

Die ausführlichsten Angaben stammen von der Ehefrau. 
Sie gab an, das Benehmen ihres Mannes sei nicht wie das 
eines „richtigen“ Menschen. Er war zeitweise ohne Ursache 
5 bis 10 bis 30 Minuten lang stark erregt, schimpfte in diesem. 
Zustand und drohte sogar mit dem Beil. Nachher legte er 
‚sich gewöhnlich ohne ein Wort zu sagen zu Bett, und wenn 
man ihm später sein Verhalten vorhielt, so bestritt er alles. 
Öfter kam es vor, daß er auf kurze Zeit nicht mehr wußte, 
was er wollte. Häufig hat er sich an Dinge, die ihm sicher: 
erzählt worden waren, nachher nicht mehr erinnert und machte: 
der Frau Vorwürfe, daß sie das ihm nicht gesagt habe. Manch- 
mal sei er, wenn er in Erregung war, auf und davon ge- 
sprungen, entweder nur bis zur Haustür oder aber auch ein. 


— 30 — 


‘Stück weiter; dann kam er ruhig zurück, es war alles vor- 
bei, und er konnte dann nicht angeben, was gewesen war. 
Nicht selten habe er über Kopfweh geklagt; auch habe er 
manchmal Schwindel gehabt, so daß er erklärte, es gehe alles 
mit ihm im Kreise herum, wie in einem Karussell. Alkohol 
habe er nie viel ertragen können. Immer habe er sehr viel 
Worte gemacht, so daß er „nicht zu Ende“ kam. Stets habe 
‚er viel gelogen, „aufgeschnitten“, und habe die Wahrheit 
immer mit den Worten beteuert: „Habe ich dich schon ein- 
‚mal angelogen?*; das Lügen habe ihm scheints Vergnügen 
gemacht, sonst könne er keinen Grund dafür gehabt haben. 
Wiederholt habe er erzählt, er sei ein Sohn des Fürsten von 
Fürstenberg; darum wolle er auch nichts mit ordinären Leuten 
zu tun haben; selbst die Frau war ihm „zu gemein“. Schon 
immer sei er fromm gewesen, aber in den letzten Jahren immer 
‚mehr, so daß er in die Betstunde gelaufen sei; seiner Frau 
warf er vor, sie bete zu wenig; manchmal sei es aber auch 
vorgekommen, daß er mitten im Gebet aufgesprungen sei und 
zu schimpfen angefangen habe. Krampfanfälle hat die Frau 
nie beobachtet; auch kein Einnässen des Bettes. Dagegen sei 
im letzten Winter zweimal das Kopfkissen morgens blutig ge- 
wesen, was die Frau auf nächtliches Nasenbluten zurückge- 
führt habe. Was die übrigen Zeugen sonst noch angegeben 
hatten, wurde von der Ehefrau bestätigt. 

Verhältnismäßig wenig brauchbare Aussagen lagen über 
die Zeit der Straftat vor. H. soll damals ganz der gleiche 
gewesen sein wie auch sonst. Über die Zeit der Selbstanzeige 
erfuhren wir folgendes: Acht Tage vor dieser habe H. seinem 
Hauswirt gegenüber davon gesprochen, er wolle sich er- 
schieden, das Leben sei ihm verleidet. Am Tage vor der An- 
zeige erzählte er ihm, er lasse sich von seiner Frau scheiden, 
da er nicht weiter mit ihr leben könne. Auch am. Morgen 
der Anzeige habe er geäußert, er gehe aufs Amtsgericht, um 
sich scheiden zu lassen. Der Ehefrau war er am Tage vor 
der Anzeige als besonders still aufgefallen: manchmal habe 
er gar keine Antwort gegeben. Am Morgen der Selbstanzeige 
war er scheinbar ruhiger, erklärte, nicht zur Arbeit, sondern 
mit seiner Frau ins Spital gehen zu wollen, da er sie für 


geisteskrank halte. Nachdem die Frau weggegangen, ging 
auch er und hinterließ den Kindern, es könne spät werden 
` bis er wiederkomme. Von den Ereignissen des Tages konnte 
objektiv nur noch das eine festgestellt werden, daß H. zwischen 
10 und 12 Uhr in der Wirtschaft war, in der seine Tochter im 
Dienst stand, dieser dort angab, er arbeite jetzt eine Zeitlang 
nicht mehr, und dann gegen 12 Uhr aus der Wirtschaft weg- 
ging. Über die Zeit nach der Selbstanzeige sagte der Ge- 
fängnisaufseher aus, es sei ihm gleich bei der Aufnahme der 
starre Blick des H. aufgefallen. In den ersten Tagen nach 
der Anzeige habe er niedergeschlagen in seiner Zelle gesessen, 
habe nichts geredet und habe auf Fragen ab und zu keine 
Antwort gegeben. Später sagte er dann einmal, er wisse nicht, 
warum er da sei. Einzelne Dinge, die er in den ersten Tagen 
dem Aufseher erzählt hatte, stellte er völlig in Abrede, be- 
‚hauptete z. B. auch, Personen gar nicht zu kennen, von denen 
‚er in den ersten Tagen erzählt hatte, er sei bei ihnen in Dienst 
gestanden etc. Im ganzen gab der Aufseher an, er habe den 
Eindruck gewonnen, es mit einem geistig nicht ganz Normalen 
zu tun zu haben. \ | 

Da H. selbst gleichfalls angab, er sei „zeitweise nicht 
richtig im Kopf“ und sei es jedenfalls zur Zeit der Selbst- 
anzeige nicht gewesen, so erfolgte die Einweisung in die Klinik 
zum Zwecke der Begutachtung. 

Das Ergebnis der hier vorgenommenen Untersuchung und 
der Beobachtung ist in Kürze folgendes. Zeichen irgendeiner 
organischen Erkrankung des zentralen Nervensystems fanden 
‚sich nicht; insbesondere waren auch Folgen des erwähnten 
Unfalles (Schlag auf den Kopf durch ein Pferd) nicht nach- 
weisbar, abgesehen von einer völlig reaktionslosen Narbe. 

Auf psychischem Gebiet wurde festgestellt, daß es sich 
‚um einen Mann von guter durchschnittlicher Intelligenz handelt; 
ja in einzelnen Richtungen hat er sich durch eine wahllos 
betriebene Lektüre eine das Maß des Durchschnittsarbeiters 
überragende Halbbildung angeeignet. Nur das Urteil über 
seinen eigenen Wert und über alles, was sich auf seine Person 
bezieht, zeigte sich, wohl mit infolge dieser Halbbildung, als 
getrübt. Auch Belehrungen in dieser Richtung war er ganz 


— 2 — 


unzugänglich. Mechanisches und logisches Gedächtnis er- 
wiesen sich als im ganzen gut; nur zeigte sich das Gedächtnis. 
in doppelter Weise durch abnorme Eigenschaften beeinträch- 
tigt: einmal durch abnorme Bewußtseinstrübungen, die offenbar 
eine Amnesie für gewisse Zeiträume hinterlassen hatten, und 
ferner durch die krankhafte Fälschung von Erinnerungen im 
Sinne der Pseudologia phantastica. Die schon in den Zeugen- 
aussagen vielfach erwähnte Neigung zum Lügen und Renom- 
mieren trat auch in der Klinik sehr bald zutage. Es handelte 
sich dabei aber keineswegs um bewußte Lügen; Dinge, die 
ihm seine offenbar sehr bewegliche Phantasie vorgespiegelt 
hatte, nahmen für ihn Wirklichkeitscharakter an, so daß er 
nachher nicht mehr zwischen Wahrheit und Fälschung unter- 
scheiden ‘konnte. Hierher gehören Angaben über seine Schul- 
bildung und seine Schulleistungen, über sein musikalisches Talent, 
seine hohe Abstammung (ein Gedanke, mit dem er offenbar 
seit früher Kindheit mit Vorliebe gespielt hatte, obwohl er 
wußte, daß er seinem Vater körperlich und nach seiner Cha- 
rakteranlage völlig ähnlich war), ferner solche über Versuche 
seiner Frau, ihn zu vergiften. Es handelte sich dabei wohl 
sicher nicht um eigentliche Wahnideen, da die subjektive 
Überzeugungskraft sicher bewiesener Tatsachen fehlte, und 
auch nicht um bewußte Lügen, da H. selbst längst nicht mehr 
zu unterscheiden vermochte, was wahr daran war, was nicht. 
Und ähnlich sind wohl Sinnestäuschungen zu beurteilen, über 
die H. auf entsprechende Fragen Angaben machte, z. B. daß 
er oft von Frauenstimmen gesungene Melodien höre, so deut- 
lich, daß er sie „ganz genau“ nachsingen könnte, und zwar 
gewöhnlich, wenn er sich in halbwachem Zustand befinde, 
oder daß er Vorträge höre mit anschließenden Diskussionen, 
in denen er die Hauptrolle spiele. Anscheinend handelte es 
sich dabei um Phantasievorstellungen, die er durch einen halb- 
willkürlichen Akt einleitete und die dann sinnlichen Charakter 
annahmen und als wirkliche Wahrnehmungen imponierten. 
Ebenso auffallend wie diese Eigentümlichkeiten der Ver- 
standestätigkeit und der Sinnesfunktion waren gewisse Ano- 
malien des Gemütslebens. Schon die abnorme Phantasietätig- 
keit wies auf ungewöhnliche Gefühlsbetonungen hin, die den 


3 — 


inneren Erlebnissen bei H. zukommen. Vom Inhalt dieser 
Phantasievorstellungen aber waren die Stimmungen bei H. viel 
mehr abhängig als von tatsächlichen Beziehungen. So machte 
ihm z. B. die Aussicht auf eine etwaige schwere Bestrafung 
gar keinen Eindruck; er war heiter in dem Gedanken, daß er 
jetzt eine Rolle spiele, Gegenstand allgemeiner Aufmerksam- 
keit sei. Dagegen traten aber noch Stimmungsschwankungen 
auf, die überhaupt jeder psychologischen Motivierung ent- 
behrten; Zustände ausgesprochener Depression, in denen ihm 
„alles verleidet“ war, wechselten mit solchen ausgelassener 
Lustigkeit, in denen ihm „zum Singen zu Mute“ war. Die 
Stimmungslage spiegelte sich jeweils schon in seinem Äußern 
wieder. Das einemal stand er stumpf in einer Ecke des 
Saales, ließ den Kopf hängen, redete fast nichts; das andere- 
mal ging er erhobenen Hauptes mit kühnen Schritten, auf der 
Nase den goldenen Zwicker, den er nicht brauchte, durch den 
Hof und „machte seine Sprüche“. Haltung, Gesichtsausdruck, 
Blick, Gesichtsfarbe verrieten jeweils bald, ob H. einen „guten“ 
oder einen „schlechten“ Tag hatte. . Ein gewisses Selbstbe- 
wußtsein trat sogar noch in den Zeiten der Depression her- 
vor: er begründete z. B. seine Verstimmung einmal damit, 
daß er es hier nicht aushalte, seine „zarten Nerven“ ertrügen 
den Umgang mit Kranken nicht. Zwischendurch traten un- 
vermittelt auch kürzer oder länger dauernde Perioden stärkerer 
Gereiztheit auf, in.denen er z. B. plötzlich ohne jeden Anlaß 
andere Patienten beschimpfte und bedrohte, nachher aber 
wieder ganz freundlich mit ihnen zusammenblieb. | 

Diese letzteren Erscheinungen leiten hinüber zu einer in 


-der Klinik gemachten Beobachtung von Bewußtseinstrübung. 


Eines Vormittags saß H. lesend am Tisch, fing dann plötzlich . 
an, mit den Fäusten heftig auf dem Tisch herumzuhämmern, 
sprang dann auf, rannte mehrmals sehr erregt im Saale auf 
und ab, legte sich dann aufs Bett und verfiel alsbald in tiefen 
Schlaf, der fast den ganzen Tag über. anhielt. Nachher er- 
innerte er sich an das Einhauen auf den Tisch gar nicht mehr, 
an däs Umherlaufen im Saal dunkel und ohne einen Grund 
dafür angeben zu können; dagegen wußte er noch zu sagen, 
was er unmittelbar vor der geschilderten Szene gelesen hatte. 
3 





‚Im äußeren Gebaren des H. fielen dauernd sein gespreiztes 
Wesen, seine Weitschweifigkeit, die Umständlichkeit seines 
Tuns auf, ferner seine Neigung zur Frömmelei, die ganz im 
Widerspruch stand zu der deutlichen Gefühlsabstumpfung seinen 
nächsten Angehörigen gegenüber. | 

Die subjektiven anamnestischen Angaben, die H. in der 
Klinik machte, bestätigten im ganzen die objektiven Fest- 
stellungen.. Erwähnt sei noch, daß er mitteilte, er sei immer 
nervös gewesen, sei es aber in den letzten Jahren immer mehr 
geworden. Schon von klein auf habe er an Aufregungszu- 
ständen gelitten, sei oft „ganz rasend“ geworden, und auch 
diese Zustände hätten sich im Laufe der Jahre verschlimmert; 
wenn sie jetzt kämen, habe er dabei Schmerzen im ganzen 
Körper, fühle sich wie elektrisiert, und der Kopf sei wie be- 
nommen. üÖfter sei es während der Schulzeit und in den 
darauffolgenden Jahren vorgekommen, : daß ihm plötzlich 
schwarz vor den Augen wurde, so daß er sich setzen mußte; 
nachher habe er sich müde und hungrig gefühlt. Mehrfach 
‚sei es ihm auch passiert, daß er plötzlich während einer Hand- 
lung — z. B. wenn er auf einen Arbeiter zuging, um ihm 
einen Auftrag zu erteilen — nicht mehr wußte, was er vor- 
gehabt hatte; dieser Zustand habe 1 bis 2 bis 5 Minuten, zu- 
weilen auch stundenlang gedauert. Zwei,von seinen Brüdern 
seien Bettnässer gewesen, er selbst nicht. Auch habe er nie an 
Krämpfen gelitten, wohl aber zwei seiner Kinder. Richtig sei, 
daß er oft von der Arbeit fortgelaufen sei, meist nach einem 
kleinen Ärger, manchmal auch ohne jeden Grund. 

Sehr wenig präzis sind seine Auskünfte über die Zeit der 
ihm zur Last gelegten Straftat. Gerade hier hatte man am 
meisten den Eindruck, daß Erinnerungen an Wirkliches und 
= Phantasiegebilde sich so sehr ineinander verwoben, daß er 
außerstande war, das Tatsächliche aus dem Gemenge von Er- 
lebtem, Erdachtem und Erlogenem herauszuschälen. 

Über die Zeit der Selbstanzeige erfuhr man von H., er 
sei tags zuvor sehr ärgerlich gewesen, da er mit seiner Frau 
Streit gehabt habe. Am Tag der Anzeige selbst sei er dann 
morgens voll Verzweiflung fortgelaufen, ohne zu wissen, was 
nun werden solle Die Erinnerung an alles Folgende werde 


u GE Se 


nach und nach immer undeutlicher, so könne er sich z. B. 
nicht erinnern, daß er im Wirtshaus bei. seiner Tochter ge- 
wesen sei, könne es aber auch nicht bestreiten; er wisse, daß 


‚Ihn einige Männer am Erhängen gehindert hätten, . könne sie 


aber nicht beschreiben etc. Von später wisse er gar nichts 
mehr; die nächste Erinnerung sei die an ‘das Erwachen in 
der Gefängniszelle (das er uns ebenso schilderte, wie früher 
bei seinen gerichtlichen Vernehmungen). Alles Folgende sei 
dann ‘wieder klar. | 

Auf Grund des hier auszugsweise wiedergegebenen Mate- 
rials wurde das Gutachten erstattet. Es kam zu dem Schlusse, 
daß H. ein von Jugend auf abnormer Mensch. sei, 
dessen Hauptstörung sich im wesentlichen decke mit jener 


Form der Psychopathie, ‚die als Pseudologia phantastica 


klinisch bekannt ist. Dazu träten aber noch episodische Er- 
eignisse, die nur als Bewußtseinstrübungen gedeutet werden 
können, und die den Gedanken nahe legen, daß H. nebenbei 
auch noch Epileptiker sei. Dafür sprächen außer den 
periodisch wiederkehrenden Bewußtseinsveränderungen einzelne 
Züge im psychischen Bilde des H., die Selbstgefälligkeit im 
Auftreten, die Gesprächigkeit, die Weitschweifigkeit im Reden, 
der Egoismus, die Neigung zur Frömmelei; endlich wären 
vielleicht die von der Frau angegebenen Blutflecke Spuren 
nächtlicher Zungenbisse. Immerhin wurde die Diagnose auf 
Epilepsie nur mit allem Vorbehalt gestellt, da eigentliche 
Krampfanfälle nie beobachtet worden waren und sowohl Be- 
wußtseinstrübungen (Dämmerzustände), wie sie hier vorlagen, 
als auch die angeführten Charaktereigentümlichkeiten bei 
andern Formen nervöser Entartung, speziell bei der Hysterie, 
ebenfalls vorkommen. Für die forensische Beurteilung er- 
schien diese Entscheidung zudem als nicht allzu wesentlich. 

Denn sicher war, daß die Selbstanzeige in einem Dämmer- 
zustand erfolgt war, also in einem Zustand von Bewußt- 
losigkeit ($ 51 StGB.), sei es nun ein hysterischer oder, was 
wahrscheinlicher ist, ein epileptischer gewesen. In beiden 
Fällen bildet die korrekte äußere Haltung während der Selbst- 
anzeige keinen Grund zur Annahme einer Täuschung. In 
beiden Fällen kann der Inhalt der Selbstanzeige durchaus 

3% 





s S Se 


richtig sein (muß es aber nicht), da irgendwelche äuBeren Ge- 
schehnisse in den Dämmerzustand ebenso hineinspielen können 
wie etwa in den Traum gesunder Menschen. 

Viel schwieriger war die Hauptfrage zu beantworten, ob 
H.. zur Zeit der ihm zur Last gelegten Tat zurechnungsfähig 
im Sinne des Gesetzes war. Nichts sprach, für die Annahme 
eines Dämmerzustandes auch zu jener Zeit. Aber H. gehört 

zweifellos zu jenen Menschen, die dauernd an der Grenze 
_ der geistigen Gesundheit (in forensischem Sinne) stehen, und 
zwar steht er ihr so nahe, daß zum mindesten berechtigte 
Zweifel darüber bestehen konnten, ob er sich nicht zur Zeit 
des Reats in einem Zustand von krankhafter Störung der 
Geistestätigkeit befunden habe, der dem Grade nach ausreichte, 
seine freie Willensbestimmung auszuschließen. 

Auf Grund dieses Gutachtens und wohl auch in der Er- 
wägung, daß außer der sicher in krankhaftem Zustand er- 
folgten Selbstanzeige kaum irgendwelche greifbaren Unter- 
lagen für die Anklage vorhanden waren, wurde H. freige- 
sprochen. 
© Gerade dieser letzte Fall zeigt, welche forensisch- 
psychiatrischen Schwierigkeiten sich bei Selbst- 
anzeigen Geisteskranker ergeben können, und daß sie am 
größten dann sind, wenn die Selbstanzeige in solchen Zu- 
ständen erfolgt, zu denen fast gar keine Brücken vom normalen 
psychologischen Geschehen hinüberführen , wie dies bei dem 
Dämmerzustande der Fall ist. Das Motiv, das H. selbst 
angab, er zeige sich an, weil er das Zusammenleben mit seiner 
Frau satt habe, enthält für den normalen Menschen viel Un- 
wahrscheinliches; um das Zusammenleben mit der Frau zu 
beendigen, hätte es doch einfachere und radikalere Mittel ge- 
geben; denn eine Bestrafung wäre doch immerhin nur eine 
Befreiung auf einige Zeit gewesen (H. wußte nicht einmal, 
welch lange Strafe auf Landesverrat steht), und dazu eine 
teuer erkaufte. Daß er seiner „gerechten Strafe“ entgegen 
gehen wollte, wie er auch sagte, das klingt gleichfalls sehr 
unwahrscheinlich, da er, wie er später versicherte, in klaren 
Zeiten nie daran gedacht hatte, sich eines Verbrechens schuldig 
gemacht zu haben. Und hätte er dies Bewußtsein gehabt, so 


einne 


ae HT 


hätte doch in normalen Zeiten sein ethisches Empfinden sicher 
nicht ausgereicht, sich dem Gericht zu stellen, um so seine 
Tat zu sühnen, da er im Leben sonst durchaus nicht etwa 
ein ethisch so feinfühlender Mensch. war. Von’ einer Ver- 
stimmung im Sinne der Melancholie, die in der Vergangen- 
heit nach dunklen Punkten forscht, um für ihre Depression 
einen Inhalt und einen. Grund zu entdecken, kann aber auch 
keine Rede sein. Der Staatsanwalt hob ausdrücklich hervor, H. 
habe bei seiner Selbstanzeige keinen verstörten oder gar ver- 
zweifelten Eindruck gemacht. Zweifelloes müssen wir ein 
kompliziertes Spiel der Motive annehmen, das sich im 
Unterbewußtsein:des H. abgespielt hat. Eigentümlich 
sind seine Äußerungen, er wolle auf das Amtsgericht, um sich 
scheiden zu lassen; dann: er wolle sich das Leben nehmen; 
dann: er werde wohl lange nicht nach Hause zurückkehren; 
ferner: er wolle mit der Frau ins Spital, da diese geistes- 
krank sei; endlich: er arbeite jetzt eine Zeitlang nicht mehr. 


‚Bei all diesen Äußerungen war das Bewußtsein wohl schon 


mehr oder weniger getrübt. Wieviel die Summe der darin 
angedeuteten Motive und Erwägungen bei der Erstattung der 
Selbstanzeige im Dämmerzustand mitgewirkt haben mag, wie- 
weit andere, vielleicht noch dunklere Beweggründe 
mit im Spiele gewesen sein mögen, läßt sich nicht entscheiden. 
Jedenfalls kommt kein einziger Grund in Betracht, der einen 
normalen Menschen unter normalen Verhältnissen zu einer 
Selbstanzeige hätte veranlassen können. Und war so auch 
die Frage, ob H. zur Zeit der Anzeige krank war, leicht zu 
beantworten, so bot doch die andere, ob ‘er für die Tat ver- 
antwortlich zu machen sei, erhebliche Schwierigkeiten, zumal 
auch gar nicht einmal feststand, ob er sie überhaupt begangen 
hatte, wenn schon er selbst sie. später, auch nach Abklingen 
des Dämmerzustandes, noch zugab. Nach militärischen Gut- 
achten konnte sie jedenfalls so, wie er sie schilderte (Einzel- 
heiten hier mitzuteilen verbietet der Stoff), nicht begangen 
worden sein. Und es wäre nicht unmöglich, daß er, nur um 
zu renommieren oder um sich den Schein besonderer morali- 
scher Qualitäten zu geben, später eine im Dämmerzustand an- 
gezeigte Straftat nicht in Abrede gestellt hat. Mit dem Ge- 


= Dr 


danken, die Festungspläne zum Zwecke des Gelderwerbs zu 


verraten, konnte er aber auch sehr wohl zu der Zeit, als er. 
als Maurer beim Festungsbau mitarbeitete, gespielt haben, 
und später kann er, mit seiner beweglichen Phantasie, dazu 
gekommen sein, diesen Gedanken als wirklich ausgeführt zu 
betrachten. Die Erklärungsmöglichkeiten sind zahlreich, die 
Möglichkeit der Klärung ist um so geringer. 

Eine besondere Schwierigkeit bot dieser Fall eben da- 
durch, daß der sich selbst Anzeigende auf den ersten Blick 
durchaus nicht den Eindruck eines Kranken machte. Er war 
in seinem Benehmen und seiner Haltung durchaus geordnet, 
„nicht verstört, verwirrt oder verzweifelt“, wie der Staats- 
anwalt aussagte, wenn auch seine feierlich geschraubte Art 
etwas auffiel. Gerade der Umstand, daß Kranke in Dämmer- 
zuständen sich nach außen hin so korrekt benehmen, macht, 
die Erkennung und richtige Bewertung ihres Zustandes für 
den Laien oft so schwierig (auch wenn es sich um in diesem 
Zustand begangene Straftaten handelt). 


Im ganzen haben alle die obigen Ausführungen wohl das 


‚eine gezeigt, daß in jedem Falle von Selbstanzeige die An- 


nahme eines pathologischen Vorganges zum mindesten von 
vornherein nicht von der Hand zu weisen ist, und es ergibt 
sich daraus die Forderung, in diesem Falle stets, selbst wenn 
dem Anscheine nach jener Verdacht durch nichts geweckt 
wird, einen psychiatrischen Sachverständigen heran- 
zuziehen. Im Falle Bratuscha ist ein Justizmord eben 
noch verhütet worden; in mehreren der übrigen eben ange- 
führten Fälle wurden empfindliche Freiheitsstrafen von Un- 
schuldigen durch den Psychiater abgewendet, der nachwies, 
wie Störungen der Denkprozesse, der Stimmung, 
des Trieblebens oder Trübung des Bewußtseins 
Ursache einer Selbstanzeige geworden sind für Straf- 
taten, die andere vollbracht hatten oder die gar nicht statt- 
gefunden hatten, oder die der Anzeigende zwar verübt, aber 
nur aus krankhaften Motiven zur Anzeige gebracht hatte. 
Daß freilich die Fälle von Selbstanzeigen nicht zu häufig 
sind, das wurde schon oben gesagt. Es wurde aber auch hin- 


— 39 — 


gewiesen auf die Paralielen, die zwischen Selbst- 
anzeigen und Geständnis bestehen, und ein nicht geringer . 
Teil der psychopathologischen Erwägungen, die wir hier an- 
gestellt haben, hat mutatis mutandis auch für das Geständnis 
Geltung: Es bestehen zwischen beiden Erscheinungen die 
gleichen Beziehungen .wie, um das Negative heranzuziehen, 
zwischen Verschweigen und Leugnen: sie sind verwandt und 
doch psychologisch und auch juristisch verschieden zu be- 
werten. Gerade aus der Verwandtschaft ergeben sich aber 
die entsprechenden Konsequenzen für die Praxis. Und prak- 
tischen Zwecken sollten auch meine Ausführungen über die 
Selbstanzeigen in erster Linie dienen. 


Literatur. 


Bresler, Die pathologische Anschuldigung. Jur.-psychiatr. Grenzfr., 
V, 8. 

Cramer, Gerichtliche Psychiatrie, 

Hoche, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. 

Köppen, Gerichtliche Gutachten. 

Krafft-Ebing, Gerichtliche Psychopathologie. 

Lohsing, Das Geständnis in Strafsachen. Jur.-psychiatr. Grenzfragen, 
III, 1—83. 

— Betrachtungen über das Geständnis. Groß’ Archiv, IV. 

Marguliés, Über Selbstanklagen bei Paranoia. Groß’ Archiv, XX. 

Meyer, Selbstanzeigen Geisteskranker. Archiv f. Psychiatrie, XL. 

Nitsche, Über chronisch-manische Zustände. Allgem. Zeitschr. f. 
Psych., LXVII. 

Pfister, Gutachten. 

Sommer, Kriminalpsychologie. 

Zingerle, Beitrag zur forensischen Bedeutung der Erinnerungsfäl- 
schungen. Psychiatr.-neurol. Wochenschr., VII. 


Carl Marhold Verlagsbuchhandlung in Halle a. S. 


Juristisch - Psychiatrische Grenzfragen. 


Zwanglose Abhandlungen. 


Herausgegeben von 
Geh. Justizrat Prof. Dr. jur. A. Finger, Geh. Hofrat Prof. Dr. med. A. Hoche, 
Halle a. S. Freiburg i. Br. 
Oberarzt Dr. med. Joh. Bresler, 
Lüben i. Schles. 


Band 1 und 2 kosten komplett je M. 6,—. Von Band 3 ab beträgt der Abonne- 
menispreis M. 8,— fiir den Band — 8 Hefte. Es liegen bis jetzt 6 Bände ab- 
geschlossen vor. Jedes Heft istin sich völlig abgeschlossen und einzeln käuflich. 


Ausführliche Verzeichnisse über den Inhalt der Bände und Hefte kostenlos. 


1 Band. 


Heft 1. Schultze, Prof. Dr. Ernst, in Greifswald. Die Stellungnahme des Reichsgerichts- 
zur Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche und zur Pfleg- 


schaft, nebst kritischen Bemerkungen. Einzelpreis M. 1,—. 
„ 2/3. Görres, Dr. Karl Heinrich, Rechtsanwalt in Karlsruhe i. B. Der Wahrspruch der 
Geschworenen und seine psychologischen Grundlagen. Einzelpreis M. 3,—. 


„ 4. Endemann, Prof. Dr. jur. Friedr., in Halle a. S. Die Entmündigung wegen Trunk- 
sucht und das Zwangsheilungsverfahren wegen Trunkfälligkeit. Bisherige Er- 
fahrungen. Gesetzgeberische Vorschläge. Einzelpreis M. 1,50. 

„ S/M. Schaefer, Sanitätsrat Dr. Fr., in Lengerich i. W. Die Aufgaben der Gesetzgebung 
hinsichtlich der Trunksüchtigen nebst einer Zusammenstellung bestehender und 
vorgeschlagener Gesetze des Auslandes und Inlandes. Einzelpreis M. 8—. 

„8. Hoche, Prof. Dr. A., in Freiburg i. Br. Zur Frage der Zeugnisfähigkeit geistig 
abnormer Personen. Mit einigen Bemerkungen dazu von Prof. Dr. A. Fingerin 
Halle a.S — Frankenburger, Justizrat Dr., in München. Aus der Praxis des 
Lebens. Einzelpreis M. 0,80. 


oO. Band. 


Heft 1/2. Vorträge, gehalten auf der Versammlung von Juristen und Aerzten in Stuttgart 1908. 
Heidlen, Oberlandesgerichtsrat Dr., Stuttgart: Vormundschaft oder Pflegschaft. 

— Dr. Kreuser. \Medizinalrat, Winnenthal: Über Paranoia. — Dr. Wollenberg, 

Prof.. Tübingen: Über das Querulieren Geist: ..ranker. — von Schwab, Minister 

rialrat Dr., Stuttgart: Unterbringung geisteskranker Strafgefangener in Württem- 

berg — Dr Rob. Gaupp., Privatdozent, Heidelberg: Über moralisches Irresein 

und jugendliches Verbrechertum. — Dr. A. Fauser, Sanitätsrat, Stuttgart: Über 

die Bedeutung der neueren Entwicklung der Psychiatrie für die gerichtliche 
Medizin. — Dr. Wildermuth, Sanitätsrat, Stuttgart: Über die Zurechnungs- 
fähigkeit der Hysterischen — Dr. Daiber, Winnenthal: Statistische Erhebungen 

über die forensischen Beziehungen der württembergischen Irrenanstaltspfleglinge. 
Einzelpreis M 2,40. 

„ 3/5 Stier, Dr Ewald, in Berlin. Fahnenflucht und unerlaubte Entfernung. Eine psy- 
chologische, psychiatrische und militärrechtliche Studie. Einzelpreis M. 8,—. 

„ 6. Mittermaier, Prof., in Giessen. Die Reform des Verfahrens im Strafprozess. — 
Sommer, Prof.. in Giessen. Die Forschungen zur Psychologie der Aussage. Vor- 

träge, gehalten zur Eröffnungsversammiung der Vereinigung für gerichtliche Psy- 
chologie und Psychiatrie im Grossherzogtum Hessen am 5. November 1904 zu 


Giessen Einzelpreis M. 1,230. 

„~ 7/8 Camerer, Dr. med., in \Winnenthal, und Landauer, Oberlandesgerichtsrat in Stutt- 

gart. Die G:istesschwäche als Entmündigungsgrund. Einzelpreis M. 1,30. 

è? 
IH. Band. 

eft 1/3 Lohsing, Dr. jur. Ernst. Das Geständnis in Strafsachen. Einzelpreis M. 2,50. 
„» 4. Cramer, Prof. Dr. A., in Göttingen. Ueber Gemeingefährlichkeit vom ärztlichen 

Standpunkte aus. Einzelpreis M. 0,50. 


„ 5. Siefert, Dr. Ernst, in Halle a. S. Ueber die unverbesserlichen Gewohnheitsver- 

brecher und die Mittel der Fürsorge zu ihrer Bekämpfung. Einzelpreis M. 0,80. 

„ 6/7. Vorträge, gehalten auf der Versammlung von Juristen und Aerzten in Stuttgart 1908: 

Kreuser, Medizinalrat Dr.. Winnenthal, Schanz, Oberlandesgerichtsrat Dr., 

Stuttgart: Die Stellung der Geisteskranken in Strafgesetzgebung und Strafprozeß. 

— Schott, Oberarzt Dr. A., Weinsberg, Gmelin, Landesgerichtsrat Dr., Stutt- 

gart: Zur Psychologie der Aussage. — Krauss, Dr. Reinhold, Kennenburg. 

Teichmann, Justizministerialsekretär, Landrichter R., Stuttgart: Die Berechtigung 

der Vernichtung des kindlichen Lebens mit Rücksicht auf Geisteskrankheit der 

Mutter. Einzelpreis M. 2,80. 

» 8. Die Zwangs-(Fürsorge-)Erziehung. Vorträge, gehalten in der Vereinigung für 
gerichtliche Psychologie und Psychiatrie im Grossherzogtum Hessen. 

Einzelpreis M. 1,50. 


Bm mn a IH N en dan me en a a m he ae 
Eyuemaun sche Bucudruckerei, Gebi. Wolff, Halle a. S. 


_ 


din. iin en iini 


-e ind A D T 


leag 


eddie i 


t de is 
6 Bin è 
veh ht 


kesten, 











| 383903 








1909- Grenzfragen. 53905 

| 1911 i 
KB: 

— LI 


we. 
{PR 
go 


UNIVERSITY OF CALIFORNIA LIBRARY 





DATE DUE SLIP 
UNIVERSITY OF CALIFORNIA MEDICAL SCHOOL LIBRARY 


THIS BOOK IS DUE ON THE LAST DATE 
. STAMPED BELOW ` 
ee — aO