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Full text of "Kants naturphilosophie als grundlage seins systems [microform]"

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NEGA  TIVE 

NO.  93-81450 


MICROFILM  tL)  1993 
COLUMBIA  L  NIVERSITY  LlBRARlES/NEW  YORK 


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AUTHOR: 


DREWS,  ARTHUR 


TITLE: 


KANTS 
NATURPHILOSOPHIE 


PLA  CE : 


BERLIN 

DA  TE : 

1894 


COTXJMBTA  UNIVERSrrY  i  lfU<ARIES 
PRESERVATION  DEPARTMENT 

BlBLl()CRAI>mCMICROi-ÜRM  TARGET 


Master  Negative  # 

^3  WH50-? 


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KANTS 


NATURPHILOSOPHIE 


ALS 


GRUNDLAGE  SEINES  SYSTEMS. 


Vdx 


ARTIini  DüEAVS 


DR.  PHIL.     ' 


BERLIN. 

VERLAG   VON   MITSCHER   &  RÖSTELL. 

1894. 


Vorwort. 


tu 


Die  vorliegende  Arbeit  über  die  kantische  Naturphilosophie 
war  ursprünglich  in  Aussicht  genommen  als  erstes  Kapitel  einer 
Darstellung  der  deutschen  Naturphilosophie  seit  Kant.  Der  Grund, 
warum  sie  zu  einem  selbständigen  Werke  angeschwollen  ist,  liegt 
darin,  weil  ich  bei  genauerem  Studium  des  Philosophen  fand,  man 
habe  das  naturphilosophische  Element  in  den  Schriften  Kants  bisher 
bei  weitem  unterschätzt  und  insbesondere  seinen  Bemühungen  um 
eine  dynamische  Theorie  der  Materie  lange  nicht  diejenige  Bedeutung 
zugeschrieben,  die  ihnen  sowohl  in  Hinsicht  auf  die  Richtung,  welche 
die  kantische  Gedankenentwickelung  genommen  hat,  wie  für  die 
eigentümliche  Ausbildung  dieser  Gedanken  im  Einzelnen  thatsächlich 
beizumessen  ist.  Man  hat  den  Philosophen  nach  seiner  theoretischen 
Seite  fast  lediglich  als  den  Begründer  der  modernen  Erkenntnis- 
theorie gewürdigt  und  dabei  übersehen,  wie  seine  ganze  Erkenntnis- 
theorie aus  naturphilosophischen  Erwägungen  hervorgegangen  und 
oft  in  den  wichtigsten  Punkten  von  ihnen  bestimmt  worden  ist. 
Die  vorliegende  Arbeit  schöpft  nun  bei  der  Hochflut  der  philosophi- 
schen Litteratur,  die  sich  mit  Kant  beschäftigt,  ihre  Daseinsberech- 
tigung vor  allem  daraus,  dafs  sie  die  gesamte  theoretische  Philosophie 
Kants  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Naturphilosophie  betrachtet. 
Ihr  Grundgedanke  und  Ergebnis  ist,  dafs  Kant  nicht,  wie 
man  es  gewöhnlich  darzustellen  pflegt,  Erkenntnis- 
theoretiker gewesen,  der  sich  nebenbei  auch  mit 
Naturphilosophie  beschäftigt  hat,*)  sondern  vielmehr 
wesentlich  Naturphilosoph,  der  sich  mit  Erkenntnis- 
theorie   nur    deshalb    befafst    hat,    um    insbesondere 


*)  Dieser  Gesichtspunkt  der  Beurteilung  herrscht  auch  z.  B.  vor  bei 
J.  Schal  1er  in  seiner  (beschichte  d.  Naturphilosophie  von  Baco  v.  Verulam 
bis  auf  unsere  Zeit  (1846j  II. 


IV 


Vorwort. 


seiner  Naturphilosophie  eine  sichere  wissenschaft- 
liche Unterlage  zu  verschaffen.  In  dieser  Bestimmtheit 
ist  das  Verhältnis  Kants  zur  Naturphilosophie  auch  von  Dieterich 
nicht  ausgesprochen  worden,  obwohl  der  letztere  in  seiner  Schrift 
über  ,,Kant  und  Newton"  (1S7G)  von  allen  noch  am  Entschiedensten 
den  Einflufs  der  naturphilosophischen  Ideen  auf  die  Entwickelung 
des  transcendentalen  Idealismus  betont  hat.  Auch  hat  Dieterich 
diesen  Einflufs  nur  bis  zur  Abfassung  der  Vernunftkritik  verfolgt 
und  viel  zu  viel  Nachdruck  auf  eine  lesbare  und  allgemein  ver- 
ständliche Darstellung  der  kantischen  Gedankenentwickelung  gelegt, 
um  den  Spuren  der  Naturphilosophie  bei  Kant  im  Einzelnen  weiter 
nachzugehen.  Angesichts  der  grolsen  Verwirrung,  die  noch  immer 
über  das  eigentliche  Wesen  und  den  bestimmenden  Grundgedanken 
der  kantischen  Philosophie  unter  ihren  Beurteilern  herrscht,  dürfte 
die  scharfe  Hervorkehrung  des  naturphilosopliischen  Gesichtspunktes 
nicht  ohne  Nutzen  sein,  wenngleich  eine  viillige  Klarstellung  aller 
einzelnen  Fragen,  an  welcher  die  Philosophie  das  ^^cHste  Interesse 
hat,  wohl  erst  von  der  Vollendung  des  trefflichen  Kommentars  von 
Vaihinger  zu  erwarten  ist.  Erweist  sich  doch  jener  Gesichtspunkt, 
wie  kein  anderer,  geeignet,  auch  Anfängern  eine  be(|ueme  Ein- 
führung in  die  kantische  Philosophie  zu  gewähren. 

Dafs  mit  dieser  Betonung  des  naturphiloso])hi3chen  Elementes 
bei  Kant  der  Einiluss,  den  Etliik  und  Religion  auf  seine  Ent- 
wickelung ausgeübt  haben,  nicht  lieral)gesetzt  oder  geleugnet  werden 
soll,  ist  selbstverständlich.  Hier  handelt  es  sich  lediglich  um  die 
theoretische  Philosophie  Kants,  und  da  erscheint  es  im  Interesse 
der  Klarheit  und  Folgerichtigkeit  geboten,  die  Spur  der  kantischon 
Gedankenentwickelung  möglichst  ohne  Rücksicht  auf  die  praktischen 
Interessen  des  Philosophen  zu  verfolgen,  um  zu  sehen,  wie  weit  man 
mit  der  Naturphilosophie  allein  gelangt,  und  den  Faden  der  Ariadne 
in  dem  Labyrinthe  der  kantischen  Ideenwelt  nicht  aus  den  Händen 
zu  verlieren.  Ich  selbst  bin  weit  entfernt,  die  Bedeutung,  die  z.  B. 
ein  Bousseau  für  den  Philosophen  gehabt  hat,  zu  unterschätzen; 
und  wenn  ich  auch  den  Nachdruck,  der  zumal  von  tlieologischer 
Seite  auf  den  Einflufs  der  praktischen  Ideen  auf  Kant  gelegt  wird, 
für  übertrieben  halte,  so  ist  es  mir  doch  nicht  unwahrscheinlich, 
dafs  der  letzte  und  tiefste  Grund  auch  seiner  naturphilosophischen 
Bestrebungen  ein  ethischer  und  religiciser  wtir.  AVas  Kant  im 
Innersten  seiner  Seele  vielleicht  vorgeschwebt  hat,  das  war  die  L  ber- 
brückung  jener  Kluft,  wie  sie  der  Deismus  der  Aufklärungsjjeriode 
im  Anschlufs  an  die  spiritualistische  Philosophie  von  Leibniz  und 
Wolff  zwischen  Notwendigkeit  und  Freiheit,  Sinnlichem  und  Uber- 


Vorwort. 


sinnlichem,  zwischen  der  Welt  und  Gott  aufgerissen  hatte.  Wenn 
sich  die  beiden,  wie  dies  die  Anschauungsweise  des  Spiritualismus 
war,  wie  Materielles  und  Immaterielles,  Stoff  und  Geist  zu  einander 
verhielten,  dann  war  eine  Gemeinschaft  zwischen  Gott  und  Welt, 
ein  thätiges  Einwohnen  des  lebendigen  Gottes  im  Menschen,  die 
Sehnsucht  und  das  Postulat  des  religiösen  Bewufstseins,  eine  Illusion. 
Es  ist  ein  Beweis  für  den  ahnungsvollen  Tiefblick  Kants,  dafs  er, 
als  das  sicherste  Mittel,  jenen  Gegensatz  zu  überwinden,  die  Be- 
gründung einer  dynamischen  Theorie  der  Materie,  die  allein  imstande 
ist.  den  religionsfeindlichen  Begrifl'  des  toten  Stoffes  zu  widerlegen, 
erkannt  und  damit  eine  monistische  Spekulation  auf  naturwissen- 
schaftlicher Grundlage  angebahnt  hat. 

Eine  Darstellung  der  theoretischen  Philosophie  Kants  von  ihren 
ersten  Anfängen    bis  zu  ihrem    schliefslichen  Ausgang  kann  natür- 
licher   Weise    nicht    überall    Neues    vorbringen.      Sie    mufs    sich    in 
wesentlichen  Punkten  auf  bewährte  alte  Ansichten  stützen  und  diese 
wiederholen,   um  keine  Lücke  in  der  Entwickelung  ofi'en  zu  lassen, 
ich  werde  zufrieden  sein,   wenn  man  findet,   dafs  unter  der  Beleuch- 
tung meines  Grundgedankens  sich    manches  in   einem  neuen  Lichte 
darstellt    und    dunkle    Stellen    bei   Kant,    welche    dem  Verständnis 
bisher    grofse    Schwierigkeiten    entgegensetzten,    vielfach    in    über- 
raschender Weise  aufgehellt  werden.     Insbesondere  glaube  ich,  dafs 
erst    so  Kants    nachgelassenes  Werk,    das  viel  umstrittene,    „Vom 
Übergänge   von   den    metaphysischen   Anfangsgründen 
der  Naturwissenschaft  zur  Physik"  seinem  innersten  AVesen 
und  seiner  Bedeutung  nach  sich  dem  Verständnis  mehr  erschliefsen 
wird,  als  dies  bisher  hat  der  Fall  sein  können.    Für  die  Darstellung 
und  Beurteilung    desselben  ist    es   ja    freilich    höchst  mifslich,    dafs 
durch  eine  unglückliche  Verkettung  von  Umständen  bisher  erst  zwei 
Drittel  dieses  Werkes   das  Licht    der  (Öffentlichkeit    erblickt  haben 
und  dem  allgemeinen  Leserkreise  zugänglich  geworden  sind.    AVenn 
ich  es  trotzdem  gewagt  habe,  mich  an  dieser  Stelle  eingehender  mit 
ihm  zu  beschäftigen,  so  ist  es,  weil  ich  aus  der  ganzen  Beschaffen- 
heit des  Werkes  selbst,   dem  vorliegenden  Inhaltsverzeichnis  und  aus 
mündlichen    Aufserungen     seines     jetzigen    Besitzers,     des    Pastors 
Albrecht    Krause    in    Hamburg,    die    Überzeugung    gewonnen 
habe,  dafs  für  die  Kenntnis  des  wesenthchen  Inhalts  jenes  Werkes 
das    fehlende  Drittel    nicht  von    grofsem  Belang    ist    und  jedenfalls 
das  Gesamturteil  über  dasselbe   in  keiner  Weise  modifizieren  kann. 
Mag  man  nun  mit  meinem  eigenen  Urteil  über  den  „Übergang-  ein- 
verstanden   sein    oder    nicht,    meine    eingehende    Darstellung    des 
letzteren,  wie  eine  solche  im  Zusammenhange  mit  den  übrigen  natur- 


VI 


Vorwort. 


philosophischen  Schriften  Kants  bis  heute  noch  nirgends  zu  finden 
ist,  wird,  denke  ich,  manchem  nicht  unwillkommen  sein,  der  keine 
Lust  hat,  sich  durch  dieses  Monstrum  voll  ödester  Wiederholungen 
und  trockenster  Scholastik  hindurchzuarbeiten.  Man  wird  mir  hoffent- 
lich auch  keinen  Vorwurf  daraus  machen,  dafs  ich  Kants  „Meta- 
physische Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft"  mit  griifster  Aus- 
führlichkeit erörtert  habe.  Diese  Schrift  ist  von  der  Kritik  bisher 
so  stiefmütterlich  behandelt  und  von  Stadler  in  seiner  übrigens 
ausgezeichneten  Schrift  über  „Kants  Theorie  der  Materie"  (ISS;)) 
so  ausschliefslich  blofs  aus  transcendental-idealistischem  Gesichts- 
punkte interpretiert  worden,  dafs  ich  darum  eine  neue  Darstellung 
versuchen  und  die  Berechtigung  ihrer  Leliren  noch  einmal  einer 
gründlichen  Prüfung  glaubte  unterziehen  zu  müssen. 

Trotzdem  würde  das  vorliegende  Werk  nicht  so  umfänglich 
geworden  sein,  wenn  es  nicht  aufserdem  noch  einen  besonderen 
Zweck  verfolgte,  den  man  neben  dem  rein  darstellenden  und 
kritischen  meinetwegen  als  dogmatischen  bezeichnen  mag.  Alle  an 
einem  Philosophen  geübte  Kritik  hat  nur  dann  einen  bleibenden 
und  philosophischen  Wert,  wenn  sie  sich  niclit  darauf  beschränkt, 
das  Falsche  an  jenem  blofs  hervorzuheben,  sondern  aus  den  gegebenen 
Voraussetzungen  zugleich  eine  richtigere  Ansicht  zu  entwickeln  sucht, 
wenn  sie  mit  andern  Worten  immanente  und  positive  Kritik  ist. 
Aus  diesem  Grunde  habe  ich  auch  der  kantischen  Naturphil()SO|)hie 
eine  positive  Seite  abzugewinnen  versucht  und  diese  an  den  be- 
treffenden Stellen  nach  Möglichkeit  herausgearbeitet.  Die  Natur- 
philosoi)hie  hat  keine  wichtigere  Frage  zu  beantworten,  als  die 
nach  dem  Wesen  der  Materie  und  dem  Vorhandensein 
einer  objektiven  Z  w  e  c  k  v  e  r  k  n  ü  p  f  u  n  g ,  womit  sie  der 
mechanisch-kausalen  Naturwissenschaft  gegenübertritt,  die  sich 
selbst  schon  als  die  alleinige  Löserin  des  Rätsels  der  Natur  betrachtet 
und  eine  von  ihr  unterschiedene  Naturphilosophie  niclit  aner- 
kennt. Es  giebt  aber  keinen  Philosophen,  der  eben  jene  Fragen 
eingehender  erwogen  und  eine  Antwort  auf  sie  gegeben  hätte,  die 
eine  gröfsere  Bedeutung  für  die  ganze  nachfolgende  Entwickelung 
gehabt  hat,  als  Kant.  Kant  ist  der  Erste,  der  eine  wahrhaft  philo- 
sophische, d.h.  dynamische,  Ansicht  über  die  Materie  aufgestellt 
hat,  und  er  ist  zugleich  derjenige  unter  allen  Philosophen,  mit  dessen 
Auffassung  des  Verhältnisses  des  Mechanismus  zur  Teleologie  der 
richtige  Gesichtspunkt  zur  Lösung  dieser  Frage  ein  für  alle  Mal 
vorgezeichnet  ist.  An  ihn  wird  daher  auch  eine  erneute  Erörterung 
jener  Probleme  am  Passendsten  anzuknüj)fen  haben. 

In  diesem  Sinne  scheint  mir  der  Ruf:  „Zurück  zu  Kant!",  der 


Vorwort. 


VII 


gegenwärtig  bereits  anfängt,  in  Verruf  zu  kommen,  eine  neue  Be- 
deutung zu  gewinnen.  Hundert  Jahre  sind  nun  bald  vertiossen, 
seit  der  jugendliche  Sehe  Hing  durch  seine  „Ideen  zu  einer  Philo- 
sophie der  Natur"  (ITüT)  das  naturphilosophische  Feuer  in  Deutsch- 
land zuerst  entzündete.  Wir  können  uns  nicht  rühmen,  in  dieser 
Hinsicht  besonders  viel  weiter  gekommen  zu  sein,  nachdem  sich  das 
von  jenem  aufgerichtete  Gebäude  als  ein  Luftschlofs  ausgewiesen 
hat.  Zwar  sind  der  Natur  inzwischen  selbst  zahllose  ungeahnte 
Antworten  von  der  höchsten  Bedeutsamkeit  in  mühsamer  Forscher- 
arbeit  abgerungen  worden,  das  Material  der  Naturerkenntnis  ist 
nachgerade  beinahe  ins  Unermefsliche  angewachsen ;  allein  es  fehlt 
der  geniale  Blick,  um  in  dieser  Unzahl  von  Einzelerkenntnisseu  die 
einheitlichen  Beziehungen  herauszufinden,  es  fehlt  an  der  ordnenden 
Hand,  dem  kühnen  Wagemut,  um  auf  dem  festen  Boden  der  Natur- 
wissenschaft den  Tempel  einer  Philosophie  der  Natur  zu  erbauen. 
Und  doch  giebt  es  kein  Werk,  das  dringlicher  wäre,  und  keine  Auf- 
gabe von  gröfserer  Bedeutsamkeit,  wofern  nicht  der  einheitliche 
Überblick  über  das  Einzelwissen  völlig  verloren  gehen  und  die 
Naturwissenschaft  selbst  an  ihrer  Seele  ernstlich  Schaden  nehmen 
soll.  Mehren  sich  doch  schon  jetzt  aus  den  Kreisen  der  Natur- 
forscher selbst  die  Klagen  über  den  einseitigen  Spezialismus,  der 
in  ihrer  Wissenschaft  naturgemäfs  immer  mehr  überhand  nimmt 
und  bei  aller  seiner  Notwendigkeit  und  Fruchtbarkeit  im  Ein- 
zelnen dennoch  den  Blick  für  das  grofse  Ganze  trübt,  die  Be- 
ziehungen zwischen  den  einzelnen  Gebieten  lockert  und  die  Wissen- 
schaft einem  Zustande  der  völligen  Zusammenhangslosigkeit  ent- 
gegentreibt. 

Dafs  der  Materialismus  unfähig  ist,  diesem  Zustand  ein  Ende  zu 
machen,  darüber  dürfte  unter  denkenden  Naturforschern  heute  kaum 
noch  ein  Zweifel  bestehen.  Der  Materialismus  ist,  historisch  betrachtet, 
nur  die  notwendige  Reaktion  der  empirischen  Wissenschaften  gegen 
den  absoluten  Idealismus  und  reaktionären  Theismus  einer  verstiegenen 
Spekulation  und  hat  als  solche  seine  welthistorische  Mission  erfüllt. 
Es  war  nur  natürlich,  wenn  der  Bankerott  desselben,  die  Einsicht 
in  seine  Unhaltbarkeit  und  die  Unbefriedigtheit  über  seine  einseitige 
Art,  die  Dinge  zu  betrachten,  den  Blick  zunächst  wieder  auf  Kant 
zurückwendete,  von  welchem  jene  Spekulation  selbst  ausgegangen 
\var.  Es  war  auch  entschuldbar,  dafs  man  bei  diesem  Zurückgreifen 
auf  Kant  Gedanken  in  dessen  Philosophie  hineintrug,  die  eigentlich 
dem  Geistesniveau  einer  ganz  anderen  Zeit  angehörten,  und  in  Kant 
wesentlich  den  Erkenntnistheoretiker  des  transcendentalen  Idealismus 
sah  —  hatte    sich    doch,    wie  Pauls en    dies    in    seinem  „Versuch 


VIII 


Vorwort. 


einer  Entwickelungsgeschichte  der  kantischen  Philosophie-'  (1875) 
klar  ausgeführt  hat,  bereits  in  Kants  eigenem  Bewiifstsein  unter 
dem  Einflufs  seiner  Zeitgenossen  das  Bild  seiner  Lehensarbeit  so 
sehr  verschoben,  dafs  er  sich  schliefslich  selbst  über  seine  ursprüng- 
lichen Ziele  täuschte  und  statt,  wie  anfangs  auf  den  Apriorismus, 
den  Nachdruck  später  auf  den  transcendentalen  Idealismus  legte. 
Diese  Kantbegeisterung  des  letzten  Menschenalters  hat  in  historischer 
Hinsicht  wenigstens  dazu  gedient,  die  späteren  Wandlungen  und 
Hineintragungen  in  die  kantische  Philosophie  als  solche  zu  erkennen 
und  den  ursprünglichen  Kant  mit  allen  seinen  Vorzügen  und  Fehlern 
wiederum  rein  herauszuschälen  ;  in  philosophischer  Beziehung  aber  hat 
sie  uns  gelehrt,  den  transcendentalen  Idealismus  des  Erkenntnis- 
theoretikers Kants  nicht  als  Unterlage  einer  Weltanschauung  für 
das   „Zeitalter  der  Naturwissenschaft-'   ansehen  zu  können. 

Unter  diesen  Umständen  liegt  es  nahe,  von  dem  Erkenntnis- 
theoretiker überhaupt  einmal  ganz  zu  abstrahieren,  wenn  es  sich  um  die 
Gewinnung  einer  positiven  ])hilosophischen  Grundlage  handelt,  und  wenn 
dabei  denn  schon  an  Kant,  als  den  Vater  der  modernen  Philosopliie, 
angeknüpft  werden  soll,  auf  Kant,  den  Natu  rphilosop  lien  oder 
Meta physiker  zurückzugreifen.  Wir  liaben  lange  genug  auf  den 
Ruf:  ,.Zurück  zu  Kant!-'  gehört:  man  hat  uns  dabei  immer  nur 
den  transcendentalen  Idealismus,  d.  h.  die  Verzichtleistung  auf  alles 
metaphysische  Erkennen,  als  der  AWusheit  letzten  Schlufs  angepriesen. 
Man  hat  sogar  den  Nachweis  zu  liefern  versucht,  dafs  nur  auf 
diesem  Boden  auch  eine  gesunde  Naturphilosophie  gedeihen  könne. 
Aber  alle  diese  Versuche  sind  bis  jetzt  ohne  Erfolg  geblieben. 
Hervorragende  Naturforscher,  wie  Helmlioltz  und  Dubois- 
Reymond,  ha})en  sich  zu  einer  der  kantischen  ähnlichen  Theorie 
bekannt,  aber  sie  haben  damit  der  Naturphilosophie  nichts  hinzu- 
gefügt als  nur  den  Schaden,  dafs  sie  das  Vorurteil  gegen  die  Mög- 
lichkeit einer  wirklichen  Naturphilosophie  in  weiteren  Kreisen  be- 
festigt haben.  Man  erinnere  sich  jetzt  bei  dem  Huf:  „Zurück  zu 
Kant!"  auch  einmal,  wie  dieser  zeitlebens  selbst  nach  einem  halt- 
baren Fundament  für  die  Naturwissenschaft  gesucht  und  auf  der 
Basis  seiner  erkenntnistheoretischen  Ideen  eine  dynamische  An- 
sicht d  e  r  M  a  t  e  r  i  e  entwickelt  hat !  Und  noch  Eins  :  man  gestehe 
doch  endlich  offen  ein,  womit  man  nun  schon  solange  das  Urteil 
über  Kant  zumal  in  den  Kreisen  der  Laien  verwirrt  hat,  dafs  dieser 
nichts  weniger  im  Sinne  hatte,  als  die  Unmöglichkeit  einer  meta- 
physischen Weltanschauung  zu  erweisen,  dafs  er  nur  die  Unmöglich- 
keit einer  apriorischen,  d.  h.  einer  apodiktisch  gewissen,  Metaphysik 
beweisen  wollte  und  bewiesen  hat  —  dann  wird  damit  das  schwerste 


/ 


Vorwort. 


\ 


IX 


Bedenken  beseitigt  sein,  das  berufene  Forscher  bisher  zumeist  davon 
abgehalten  hat,  an  die  Ausführung  einer  wahrhaft  modernen,  einer 
wissenscliaftlichen  Naturphilosophie  Hand  an  zu  legen.  Es  ist  wahr, 
so  hat  Kant  selbst  über  den  Dynamismus,  das  Fundament  einer 
derartigen  Naturphilosophie,  geurteilt,  „der  Grund  dieses  Gedankens 
ist  metaphysisch  und  also  auch  nicht  nach  dem  Geschmacke  der 
jetzigen  Naturlehrer;  allein  es  ist  zugleich  augenscheinlich,  dafs 
die  allerersten  (Quellen  von  den  Wirkungen  d  e  r  N  a  t  u  r 
ein  Vorwurf  der  Metai)hysik  sein  müssen.-' 

Berlin,  im  Februar   1894. 


Dr.  Arthur  Drews. 


:l! 


Inhalt. 


A.  Kant  als  Naturforscher      

Der  Streit  um  die  prästabilierte  Harmonie;  Martin  Knutzen  1. 
Kant  und  Newton  2.  Die  Scirätzung-  der  lebendip^en  Kräfte  4.  Die 
zwei  Arten  der  Bewegung  5.  Der  Unterschied  zwischen  mathematisclier 
und  physikalischer  Betrachtunpf  7.  Der  Mantrel  an  einer  Methode  in 
der  bisherif^en  Naturbetrachtunof  9.  Der  Raum  kein  Hindernis  für  die 
Annahme  des  influxus  physicus  11.  Die  Idee  des  Dynamismus  12. 
Die  NaturjTceschichte  und  Theorie  des  Himmels  14.  Die  mechanische 
Welterklärun^  und  die  Grottesidee  K).  Die  Nebularhypothese  K.  An- 
ziehunofs-  und  Zurückstofsunpfskraft  als  Prinzipien  der  mechanischen 
Welterkliirun^  22.  Die  Unendlichkeit  der  Sclulpfun":  23.  Die  Ver- 
gänglichkeit des  Weltalls  2G.  Das  Reich  des  Geistes  2S.  Die  Ent- 
stehung der  Erde  .'U.  Die  Erdbeben  'M.  Die  Zukunft  der  Erde  34. 
Die  physische  (.Teogra])hie  39.  Das  Wesen  der  Wärme  40  Die  Theorie 
der  W^inde  41.  Der  entwickelungsgeschichtliche  Charakter  der  kanti- 
schen Naturwissenschaft  42.  Die  Menschenrassen  44.  Die  Notwendig- 
keit einer  teleologischen  Erklärungsart  neben  der  mechanischen  48. 
Übergang  zur  Naturphilosophie  T)!). 


Seite 
1 


B.   Kant  als  Naturphilosoph 

I,  Die  vorkritisclie  Naturphilosophie 

Der  Rationalismus  1)2.  Die  Beziehungen  der  Habilitationsschrift 
Kants  zur  Naturphilosophie  53.  Das  Geltungsgebiet  des  Satzes  vom 
zureichenden  Grunde  51.  Die  Erhaltung  der  Kraft  55.  Das  Prinzip 
der  Folge  .»('».  Das  Prinzip  des  gleichzeitigen  Daseins  57.  Die  Ver- 
bindung von  Mathematik  und  Metaphysik  59.  Die  physische  Monade  CO. 
Der  Unterschied  der  kantischen  von  der  leibnizschen  Auffafsung  des 
Raumes  Gl.  Das  leibnizsche  Vorurteil  gegen  die  Anziehungskraft  und 
die  Notwendigkeit  der  letzteren  zur  Erklärung  des  Körpers  62. 
Volumen,  Trägheitskraft,  Masse.  Elastizität  (14.  Der  leere  Raum  65. 
Bewegung  und  Ruhe  66.  Die  Trägheitskraft  67.  Das  Gesetz  der 
Kontinuität  Qi<.  Das  bisherige  Verhältnis  der  Metaphysik  zur  Mathe- 
matik 69.  Das  unendlich  Kleine  7(1.  Die  negative  Grösse  7J.  Logische 
und  reale  Opposition  71 .  Wirkliche  und  mögliche  Entgegensetzung  74. 
Das  Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft  74.     Der  Unterschied    des  Real- 


52 


52 


XII 


Inhalt. 


grundes  vom  Erkenntnisfjrunde  7t».  Die  Natiiri)liiloso})hie  als  Ver- 
anlassung zur  Entdeckung  dieses  rnterschiedes  78.  Der  einzig  mögliche 
Beweis  vom  Dasein  Gottes  80.  Die  Unhaltbarkeit  der  Erfahrungs- 
beweise für  das  Dasein  Gottes  80.  Die  Einheit  in  der  Welt  84.  Das 
Wesen  Gottes  ^^),  Der  Unterschied  zwischen  der  leibnizschen  und 
kantischen  GottesautVaCsung  86.  Die  Physikotheologie  SS.  Die  Einheit 
von  Teleologie  und  Mechanismus  90.  Die  Einschränkung  der  Er- 
klärunorsofründe  90.  Die  Gewifsheit  der  Gotteserkenntnir.  und  die 
Metaphysik  91.  Die  Notwendigkeit  einer  Erneuerung  derMeta])hysik  93. 
Der  Unterschied  der  matliematischen  und  metaphysischen  lilethode  94. 
Die  echte  ]ilethode  der  Metai)hysik  [)7.  Kant  und  Swedenborg  99. 
Die  Erfahrung  als  einzige  Quelle  der  Erkenntnis  lO'i.  Apriorische 
und  aposteriorische  Erkenntnisart  J(i4.  Die  Metaj)hysik  als  Erkennt- 
nislehre 10;j.  Das  lüiumprobleni  lOG.  Der  absolute  Kaum  109.  Die 
Idee  des  Unendlichen  und  die  Naturphilosojjhie  Kants  1J2.  Kaum 
und  Zeit  als  Eormen  der  Anschauung  11;').  Keine  und  angewandte 
Mathematik  115.  Die  Sinnlichkeit  bei  Leibniz  und  Kant  117.  Sinn- 
liche und  Verstandeserkenntnis  119.  Das  metaphysische  Gesetz  der 
Stetigkeit  l'Jl.  Die  neue  Metaphysik  12i.  Die  subjektiv-formalen 
Regeln  des  Verstandes  124.  Die  Möglichkeit  der  Übereinstimmung 
von  Erfahrung  und  Denken;  naiver  Realismus  und  Skeptizisnms  125. 
Kant  und  Hume  127.  Die  Verstandesformen  als  apriorische  Bedingungen 
der  Erfahrung    128.     Der  Phänomenalismus    Kants    und   Humes    121'. 

IIo  Die  kritische  Naturphilosophie 


Seite 


i;ii 


1.  Die  Grundlegung  der  Naturphilosophie 131 


a)  D  ie  reine  N  aturw  issensch  aft 

Philoso})hie  und  Einzelwissenschaft  131.  Die  Übereinstimmung 
von  Erfahrung  und  Vernunft  131.  Analytisches  und  synthetisches 
Urteil  132.  Die  Fragestellung  der  V^ernunftkritik  133.  Die  beiden 
Möglichkeiten  der  Übereinstimmung  von  Erfahrung  und  V^ernunft  134. 
Die  Natur  als  Erscheinung  und  Produkt  des  Verstandes  134.  All- 
gemeine und  besondere  Naturgesetze  137.  Die  reine  Naturwissen- 
schaft 138.  Die  „physiologischen  Grundsätze"  des  reinen  Verstandes  14(». 
Das  Prinzip  der  Axiome  der  Anschauung  140.  Bedeutung  desselben 
für  die  Mathematik  141.  Die^Wissenschaft  der  Zeit  142.  Das  Prinzip 
der  Antizipationen  der  Wahrnehmung  144.  Empfindung  und  Realität  146. 
Widerlegun«-  des  Erfahrungsbeweises  für  den  leeren  Raum  148  Die 
Erscheinungen  als  kontinuierliche  (irröfsen  150.  Mathematische  und 
dynamische  Grundsätze  150.  Die  Analogieen  der  Erfahrung  1.50.  Der 
Grundsatz  der  Beharrlichkeit  der  Substanz  141.  Substanz  und 
Materie  154.  Der  Grundsatz  der  Zeitfolge  nach  dem  Gesetze  der 
Kausalität  15G.  Subjektive  und  objektive  Vorstellung  der  Erfahrung  158. 
Widerlegung  des  kantischen  Prinzij)S  der  immanenten  Kausalität  J59. 
Das  Gesetz  der  Kontinuität  aller  V^eränderung  162.  Das  Kausal- 
gesetz und  die  Empfindung  163.  Die  transcendente  Kausalität  als  das 
wahre  Prinzip  für  die  Objektivität  unserer  W)rstellungsverknü})fung  165. 
Der  Grundsatz  des  Zugleichseins  nach  dem  Gesetz  der  Wechsel- 
wirkung 169.  Die  Postulate  des  empirischen  Denkens  171.  Die 
Empfindung  als  Prinzip  für    die  Realität    unserer  Vorstellungen    172. 


131 


Inhalt. 


XTII 


Das  Ding  an  sich  als  das  wahre  Prinzip  für  die  Realität  derselben  175. 
Die  Unmittelbarkeit  der  Materie  im  Bewusstsein  176.  Die  empirische 
Realität  178.  Die  Widerlegung  des  Idealisnms  180.  Seelenlehre 
und  Kiirperlehre  182.  Die  Gesetze  des  hiatus.  saltus,  casus  und 
fatum   1^3.     Gesamtergebnis  der  reinen   Naturwissenschaft    184. 

h)  Die  t  ran  Seen  deuten  Pri  nzipi  en  der  Nat  ur])h  i  1  o  s  ophi  e  . 

«)  Die  kosmologischen  1  deen 

Die  frühere  und  die  neue  Stellung  Kants  zum  Unendlichkeits- 
problem 185.  Die  transcendentale  Dialektik  1S7.  Die  Vernunft  188. 
Die  transcendentalen  kosmologischen  Ideen  189.  Die  Frage  nach 
dem  Aulhören  des  Weltprozesses  191.  Die  erste  Antinomie  193. 
Die  zweite  Antinomie  194.  Die  dritte  Antinomie  196.  Die  vierte 
Antinomie  199.  Das  Resultat  der  Antinomieenlehre  201.  Die  natür- 
liche Dialektik  und  das  menschliche  Denken  202. 

,^)  Die  Idee  der  Einheit 

Die  Unmöglichkeit  der  Theologie  2<)4,  Die  Materie  als  die  dem 
absoluten  Weltgrund  korrespondirende  Anschauung  2tl5.  Das  Prinzip 
der  Homogeneität  205.  Die  Prinzipien  der  S})ezifikation  und  der  Kon- 
tinuität der  Formen  206.  Die  regulative  Natur  dieser  Prinzipien  207. 
Die  Wertlosigkeit  der  Ideen  als  blofs  regulativer  Prinzipien  208. 
Die  Ideen  als  konstitutive  Prinzipien  209.  Die  Ap(Kliktizität  der 
Metaphysik  212.  Die  „dritte  M(»glichkeit^'  21  1.  Das  Ding  an  sich  218. 
Die  hypothetische  Natur  der  transcendentalen  Aesthetik  und  Ana- 
lytik 224.  Der  Begrilf  transcendental  227.  Die  Deduktion  der  reinen 
Verstandesbegriffe  228.  Das  empirische  und  das  transcendentale  Be- 
wufstsein  232.  Kants  Verwechselung  dieser  beiden  als  Kern  der 
transcendentalen  Deduktion  der  reinen  Verstandesbegriffe  234.  Kant 
und  seine  Nachfolger  238.  Der  hypothetische  Charakter  der  Ver- 
nunftkritik 25! >.  Die  Unbewufstheit  der  produktiven  Vernunft  240. 
Reine  Mathematik  und  Logik  als  die  einzigen  apodiktisclien  V/issen- 
schaften  243.  Kants  Verwechselung  der  reinen  und  angewandten 
Mathematik  244.  Die  kantische  ]^hiloso])hie  als  dogmatischer 
Rationalismus  und  die  i)hilosophische  Überwindung  des  letzteren 
durch  Schellinfy  245.  Die  Ideen  und  die  Naturwissenschaft  247.  Die 
immanente  Metaphysik  als  Kritik  der  reinen  V'ernunft  247.  Die  Ver- 
nunftkritik als  Grundlage  der  Naturphilosophie  250. 

2.  Der  Ausbau  der  Naturphilosophie 

a)Die      metaphysischen     Anfangsgründe      der      Natur- 
wisse n  s  (3  h  a  f  t     

Vernunftkritik  und  Ethik  25().  Die  Stellung  der  metaj)hysischen 
Anfangsgründe  im  Ganzen  der  kantischen  Gedankenentwickelung  252. 
Naturlehre  und  Naturwissenschaft  253.  Eigentliche  (reine)  und  un- 
eigentliche (angewandte)  Naturerkenntnis  254.  Allgemeine  und  be- 
sondere metaphysische  Naturwissenschaft  255.  Die  Möglichkeit  der 
letzteren  256.  Der  Ausschlul's  der  Chemie  und  Psychologie  aus  der 
Naturwissenschaft  257.  Die  J^letaphysik  der  körperlichen  Natur  259. 
Die  Bewegung  als  Grundbestinmiung  der  Materie  2H<».  Die  Aulgabe 
der   metaphysischen   Anfangsgründe    262.      Die    Einteilung    derselben 


Seite 


185 

185 


204 


250 
250 


H 


i 


XIV 


Inhalt. 


1 


I. 


■'4 

J 


nach  der  Kategorieentafel  262.     Die  mathematische  Form  der  Anfangs- 
gründe 26. 1. 

a)DiePhoronomie 

Die  Materie  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Quantität  2(;7.  Die 
Bewegung  269.  Die  Richtung  und  Geschwindigkeit  270.  Die  Ruhe  272. 
Empirischer  und  absoluter  Raum  27;].  Der  Widers})ruch  zwischen 
der  empirischen  Bewegung  und  dem  transcendentalen  Raum  274.  Die 
Relativität  der  Bewegung  278.  Mathematische  und  mechanische 
Konstruktion  279.  Die  verschiedenen  Fälle  der  Zusammensetzung 
von  Bewegungen  279.  Die  Ausführung  der  Zusammensetzung  281. 
Der  Fehler  dieser  Konstruktion  282.  Die  Beziehungen  der  Phoronomie 
zur  Kategorieentafel  285. 

/?)  Die    Dynamik 

Die    Materie    unter   dem   Gesichts^junkte    der    Qualität   28().     Die 
Raumerfüllung  als  BegritVsprädikat  und  als  reale  Eigenschaft  286.     Die 
Empfindung  als  die  Quelle  des  Begriffs  der  Raumerfüllung  2s7.     Die 
Raumerfüllung  als  Aljstofsungskraft  28.S.     Die  Abstofsungskraft  oder 
Elastizität  als  Grundkraft    290.       Der    kantische    Begriff"   der    Raum- 
erfüllung   291.      Mathematische     und    dynamische    l'ndurchdringlich- 
keit  292.  Die  Widersprüche  in  Kants  Auffassung  der  Raumerfüllung  292. 
Der  transcendentale  Realismus  als  Lösung  dieser  Widersprüche  29i. 
Materie  und  Sioff   295.      Der    kantische    Dynamismus    als    Materialis- 
mus 296.     Physische  und  mathematische  Teilbarkeit  297.     Kants  Aut- 
fassung   der    unendlichen  Teilbarkeit    der  Materie    und    ihre    Wider- 
sprüche 298.     Die    früliere    und    die  jetzige  Lösung  des  Problems  bei 
Kant  ;}(l].     Die  Unzulänglichkeit  der  Annahme  einer  l)l()fs  re})ulsiven 
Kraft  ;;02.     Die  Schwierigkeiten    in    Kants    Begründung   jener  Lnzu- 
länirlichkeit  303.    Die  Grundkratt  der  Anziehung  .304.    Der  Unterschied 
in  der  Erk<>nntnis  der  beiden  Grundkräfte  305.      Die  Schwierigkeiten 
in    dem  Verhältnis   von  Ausdehnunnr    und  Kraft    307.     Das  Aufgeben 
des  Stoffes  als  Lösung  dieser  Schwierigkeiten  309.     Die  Wirkung  in 
die  Ferne  319.     Scheinbare  und  wahre  Anziehung  312.     Die  Stellung 
Newtons  zum  Problem  der  actio    in    distans    und    die  Notwendigkeit 
der  letzteren  312.      l^ie  Übereinstimmung  der  beiden  Grundkräfte  .'513. 
Das  Problem  der  bestimmten   Raumerfüllung  3)1  i.      Das  Gesetz  des 
Verhältnisses  der  beiden  Kräfte  3)15.  Körperatome  und  Atheratome  318. 
Der  hyi)othetische  Charakter  der  Dynamik  und  ihr  eigentlicher  Wert  319. 
Die  Beziehungen  der  Dynamik  zur  Kategorieentafel  321.     Das  Problem 
der    spezifischen     Verschiedenheiten    der    Materie     322.       Der     leere 
Raum  322.     Dynamismus  und  Atomismus  326.     Die  Grundkräfte  der 
Materie  und  die  (jualitates  occultae  der  Scholastiker  32.S.     Kraft  und 
Gesetz  .329.     Die  Unmöglichkeit  einer  apriorischen  Ableitunfr  der  spe- 
zifischen VerschiedeJiheiten  der  J^Iaterie  332.     Körperlichkeit,  Dichtig- 
keit,   Kohäsion,    Aggregatzustände,    spezifische    Elastizität,    Ghemis- 
mus  333.     Die  Dynamik  und  die  Naturwissenschaft  339. 

;)  D  i  e    jM  e  ch  an  ik 

Die   Materie   unter   dem  Gesichtspunkte   der   Relation   33!>.     Die 
Bewegungsgröfse  341.     Die  Masse  342.     Kants  indirekte  Bestimmung 


Seite 


267 


286 


Inhalt. 

der  Bewegungsgröfse    und    ihre    Fehler    343.      Die    Bestimmung    der 
Masse    in    der    Monadologie    344.      Vergleich    mit    Kants    Erstlings- 
schrift 346.     Das  erste  Gesetz    der   Mechanik    346.     Die  Materie    als 
räumliche  Substanz    347.      Die    räumliche  Materie   und   die   wirkliche 
Substanz  348.     Die  Substanz  als  transcendente    350.      Die   Kraft    als 
transcendente    351.      Der    fundamentale    Widerspruch    der    Anfangs- 
gründe in  Kants  Bestimmung    des  Verhältnisses   von    Kraft   und  Be- 
wegung 351.     Die   Substanz    als    Träger   der   Kraft   354.      Vorläufige 
Bestimmung   der    Substanz    und    deren  Wert    in   philosophischer  Be- 
ziehung 359.     Der  infiuxus  physicus  auf  dem  Standpunkte  des  Kriti- 
zismus   360.      Das    zweite    Gesetz   der  Mechanik    363.      Die   Trägheit 
(Leblosigkeit)  der  Materie  364.     Naturwissenschaft   und    Naturphilo- 
sophie in  ihrer  Stellung  zum  Problem  der  Belebtheit  der  Materie  365. 
Die  UnStichhaltigkeit  der  Gründe  Kants  gegen  eine  Behandlung  dieses 
Problems  366.     Die  Momente  des  Lebens  369.     Die  Kraft  als  geistige 
und  als  Wille  369.     Der  AVille  als  ideell  bestimmter  371.     Das  Ver- 
hältnis der  Vorstellung  zum   Willen  372.     Der  ,.Sitz  der  Kraft"  374. 
Der    ideelle    Inhalt    des    Atomwillens    376.      Die    Unbewufstheit    der 
Monade  377.     Das  Bewufstsein  der  Monade  und  sein  Inhalt  378.     Die 
Annahme  einer  Beseeltheit  der  Materie  und  die  moderne  Naturwissen- 
schaft (Zöllner,    Haeckel)  379.     Die  Beseeltheit  der  Materie   und  das 
Gesetz  der  Trägheit  382.     Das   dritte   mechanische  (iesetz    383.     Die 
falsche  und  die  richtige  Ableitung  des  Gesetzes  383.    Die  Besonderungen 
des  Gesetzes  367.     Das  Verhältnis  desselben  zu  Kants  früheren  Aus- 
führungen 388.     Das  physische  Gesetz  der  Kontinuität  und  seine  Ab- 
leitung 390.     Die  Unmöglichkeit  des  absolut  harten  Körpers. 

t))  D  i  e  P  h  ä  n  0  m  e  n  o  1 0  g  i  e 

Die  Materie  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Modalität  iU)3.  Die 
Verwandlung  der  Erscheinung  in  Erfahrung  395.  Die  geradlinige 
Bewegung  als  blofs  m()gliche  396.  Die  krummlinige  Bewegung  als 
wirkliche  397.  Die  Erfahrungsbeweise  für  die  Wirklichkeit  der  Kreis- 
bewegung 398.  Der  tieiere  (irund  Kants  für  die  W^irklichkeit  der- 
selben 4ul.  Die  notwendige  Bewegung  401.  Die  verschiedenen  Be- 
deutunfi^en  des  leeren  Raumes  4U2. 

1))  Die   Teleol  ogie . 

Die  Einheit  der  theoretischen  mit  der  praktischen  Vernunft  404. 
Die  Unfähigkeit  der  Ästhetik  zu  dieser  Vermittlerrolle  40(>.  Die 
Teleologie  als  Prinzi})  der  Einheit  407.  Die  Spezifikation  der  Natur- 
gesetze 408.  Die  Teleologie  als  Prinzip  der  Spezifikation  409.  Die 
Natur  des  Zweckbegrifis  40!».  Die  Notwendigkeit  eines  Prinzips  a  priori 
für  das  Gefühlsvermögen  410.  Die  Teleologie  als  dies  Prinzip  a  priori  41 L 
Die  Aufnahme  der  Ästhetik  in  das  System  der  Wissenschaften  4 1 2.  Die 
Urteilskralt41  I.  Die  Teleologie  als  Vermittlerin  zwischen  dem  Gefühls- 
vermö(ren  und  der  Urteilskraft  414.  Bestimmende  und  refiektierende  Ur- 
teilskraft  415.  Die  Besonderungen  <\ev  reilektierenden  Urteilskraft  416. 
Die  subjektive  ästhetische  Zweckmäfsigkeit  417.  Die  ()l)jektive  intel- 
lektuelleZweckmäfsigkeit  i  1!».  Die  objektive  Zweckmäfsigkeit  als  Brücke 
zwischen    Natur   und    Fi'eiheit  4'^0.     Die  Teleologie   als   konstitutives 


XV 


Seite 


393 


404 


XVI 


Inhalt. 


' 


■fc 


! 


Prinzip  421.  Formale  und  reale,  äufsere  und  innere  objektive  Zweck- 
inäfsif^keit  423.  Die  Naturzweckmäfsigkeit  im  Organismus  423.  Die 
Teleologie  im  Weltganzen  425.  Der  Mechanismus  als  Prinzip  der 
Naturwissenschaft  42r).  Die  mechanische  Erklärung  des  organischen 
Reiches  426.  Die  Unfähigkeit  des  3lechanismus  zur  Erklärung  der 
Naturvorgänge  428.  Das  Verhältnis  des  Mechanismus  zur  Teleologie  429. 
Die  Teleologie  als  Prinzip  der  Naturphilosophie  431 .  Die  Erklärung  der 
zweckmäfsigen  Naturvorgänge  durch  Materialismus,  Hylozoismus  und 
Spinozismus  432.  Der  absolute  Verstand  als  das  vereinigende  Prinzip 
von  Mechanismus  und  Tele(dogie  433.  Der  endliche  und  der  unendliche 
Verstand  434.  Die  Theologie  VS.  Die  ]\Ionadenwelt  als  objektive 
Erscheinung  der  absoluten  Substanz  43'.).  Idee  und  Wille  als  Attri- 
but Gottes  440. 

c)  Der  Übergang  von  den  metaphysischen  Anfangsgründen 

der  Naturwissenschaft  zur  Phys  ik 

Die  drei  Kritiken  Kants  als  ])lofse  Vorarbeiten  zum  System  der 
reinen  Vernunft  4  «2.  Das  Verhältnis  der  Metaphysik  der  Sitten  und 
Metaphysik  der  Natur  zu  den  Kritiken  und  zu  einander  441.  Kants 
eigene  Zeugnisse  für  den  „Übergang-'  445.  Die  Zeugnisse  von 
Wasianski,  ßorowski  und  Hasse  44 G.  Schuberts  Auffindung  des  nach- 
gelassenen Manuskripts  und  der  Bericht  über  dasselbe  in  den  preui'sischen 
Jahrbüchern  447.  Reickes  Mittheilungen  und  VerüfVentlicliung  des 
Manuskripts  450.  Fischers  Zweifel  an  dessen  Wert  und  Krauses  Ein- 
spruch 451.  Krauses  „Populäre  Darstellung"  des  Überganges  454. 
Die  Abfassungszeit  des  Manuskripts  45(i.  Die  Bedeutung  des  Über- 
ganges für  die  kantisehe  Philosophie  459.  Die  Notwendigkeit  einer 
apriorischen  Systematisation  für  die  Physik  459.  Die  Unfähigkeit 
der  Mathematik  zur  Auffindung  eines  apriorischen  Prinzijis  für  die 
Systematisation  4(12.  Die  Kluft  zwischen  Metaphysik  und  Physik  4()2. 
Die  Aufgabe  des  Überganges  und  sein  Begriff  von  der  Materie  463. 
Die  Einteilung  der  Naturwissenschaft  464.  Die  empirische  Affekt ion 
des  Subjekts  als  Prinzi|)  der  Systematisation  der  l>ewegenden  Kräfte 
der  Materie  465,  Der  Unterschied  zwischen  der  früheren  und  späteren 
Ansicht  Kants  470.  Die  empirische  Affektion  in  den  früheren  Sciiriften 
Kants  471.  Die  Naturphilosophie  als  Bestimmungsgrund  der  kantischen 
Erkenntnistheorie  473.  Der  Prozefs  des  Zustandekommens  des  physi- 
kalischen Objektes  473.  Ding  an  sich  und  Gegenstand  an  sich  4  74. 
Die  Verwechselung  des  transcendentalen  und  empirischen  Ich  als 
Grundfehler  der  ofanzen  kantischen  Autfassungsweise  477.  Die  Materie 
als  Basis  der  Physik  und  oberstes  Prinzip  des  l'berganges  483. 
Die  Nichtigkeit  des  kantischen  Beweises  für  die  Apriorität  der 
Materie  485.  Die  Eigenschaften  der  Urmaterie  4^6.  Das  Elementar- 
system der  bewegenden  Kräfte  der  Materie  48S.  Das  Weltsystem 
derselben  191.  Kant  als  Vater  der  schellingschen  Naturphilosophie. 
Die  philosophische  Bedeutung  der  kantischen  Naturphilosophie  und 
ihr  Verhältnis  zum  transcendentalen   Idealismus  49  i. 


Seite 


442 


^. 


Kant  als  Naturforscher. 


Die  ersten  tiefer  greifenden  Anregungen,  die  Jemand  auf  })]iilo- 
sopliischem  Gebiet  empfängt,  pÜegen  bestimmend  für  die  ganze 
fernere  Entwickelung  seines  Denkens  zu  sein.  Bei  wenigen  Philo- 
soj)ben  zeigt  sich  dies  so  deutlich,  wie  bei  Kant.  Als  Kant  auf 
der  Universität  seinen  j)hil()S()})hischen  Studien  obhig,  war  der  Streit 
um  die  prästabilierte  Harmonie  bereits  erh)schen.  Aber  derjenige 
unter  seinen  Lehrern,  an  den  sich  Kant  am  engsten  anschlofs,  der  treff- 
liche Philosoph  und  Mathematiker  ]\[  artin  K  nutzen  (1713 — 1751), 
war  es  gerade  gewesen,  der  in  jenem  berühmten  Streite  schliefslich 
die  Entscheidung  lierbeige führt  hatte.  Es  läfst  sich  denken,  dafs 
er  häufig  in  seinen  Vorträgen  darauf  Bezug  genommen  und  so  auch 
den  jungen  Kant  für  ihn  besonders  interessiert  hat. 

Um  was  es  sich  dabei  gehandelt  hatte,  war  die  Frage,  ob  die 
Monaden  im  Verliältnis  des  j)hysi sehen  Einflusses  (intluxus 
physicus)  zu  einander  stehen  und  wechselseitig  auf  einander  wirken, 
oder  ob  dasjenige,  was  uns  als  eine  solche  Einwirkung  erscheint, 
nur  das  Kesultat  eines  einmaligen  göttlichen  Aktes  darstellt,  infolge 
dessen  eine  jede  Vorstellung  in  uns  von  einer  ihr  entsprechenden 
Vorstellung  in  den  anderen  Monaden  begleitet  ist.  Der  Urheber 
der  Monadoh)gie  hatte  in  der  k^tzteren  Annahme  die  einzige  Mög- 
lichkeit gesehen,  um  ]>ei  der  gegensätzlichen  Natur  von  Leib  und 
Seele  den  thatsächlichen  Zusammenhang  zwischen  ihnen  zu  erklären; 
und  sell)st  dann  noch,  als  die  Annalime  einer  (lualitativen  Gleich- 
artigkeit der  Seelen-  und  Kör])ermonaden  in  seinem  Denken  immer 
mehr  die  Oberhand  gewann,  hatte  er  daran  festgehalten,  die  allge- 
meine Weltkausalität  in  die  prästabilierte  Harmonie  zu  setzen. 
Lidessen  war  es  ihm  bei  seinen  Lebzeiten  niclit  gelungen,  weitere 
Kreise  für  seine  Ideen  zu  interessieren.  Erst  als  sein  Schüler 
Wolff  in  seiner  Schrift:  „Vernünftige  Gedanken  von  Gott,  der 
Welt  und  der  Seele  des  Menschen,  auch  allen  Dingen  über]iau})t", 
die  im  Jahre  1719  erschien,  jene  bei  Leibniz    zum  Teil  nur  zer- 

1)  r  e  w  s  ,  Kants  Naturphilosophie.  1 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


streut  vorhandenen  Ideen  in  eine  systematische  Form  gebracht  hatte, 
erst  da  tiel  ihnen  alsbald  eine  zahlreiche  Schar  von  Anhäni]^ern  zu, 
und  nun  mul'ste  das  allgemeine  Interesse  besonders  auch  auf  die 
prästabilierte  Harmonie  sich  richten.  A\'olff  selbst  hatte,  wie  in 
so  manchem  andern,  auch  in  diesem  Punkte  sich  schwankend  ge- 
äufsert.  Er  erkannte  die  (jualitative  Gleicluirtigktit  der  Monaden 
nicht  an;  darum  mufste  er  die  prästabilierte  Harmonie,  wie  Leibniz 
im  Anfang,  wieder  auf  das  Verhältnis  zwischen  Leib  und  Seele  ein- 
schränken, womit  nicht  ausgeschlossen  war.  dafs  in  der  KTu-perwelt 
nicht  doch  ein  })hysischer  Einilui's  stattfände.  Er  raubte  aber  jenem 
Prinzi])  den  Charakter  der  Absolutheit  auch  in  dem  Sinne,  dafs  er 
es  auf  den  Pang  einer  blofsen  Hypothese  herahdrückte.  Damit  war 
das  Zeichen  zum  Angrilf  gegei)en.  Die  ganze  nächste  Zeit  vom 
Jahre  17'J()  an.  in  welchem  die  neue  Schule  sich  zuerst  konstituierte, 
ist  mit  dem  Streite  um  die  juästabilierte  Harmonie  erfüllt,  während 
dessen  die  wolftisclie  Philosophie  immer  mehr  an  Ausbi-eitung 
gewann,  auf  je  w^eniger  Vertreter  das  ursprüngliche  leibnizsche 
Prinzip  von  den  Gegnern  desselben  eingeschränkt  wurde. 

Auf  die  Einzelheiten  dieses  Streites  näher  einzugehen,  der 
zwanzig  Jahre  hindurch  die  ])hil(»so{)hischen  K()pfe  Deutschlands  in 
Aufregung  gehalten  hat,  ist  überflüssig.  In  einer  höchst  belehrenden 
kleinen  Schrift  hat  IJenno  Flrdmann  ilm  auf  das  Eingehendste 
geschildert  und  die  Gründe,  die  den  schliefsliehen  Sieg  der  Theorie 
des  ])hysischen  Einflusses  herbeiführten,  dargelegt.*)  Sie  lagen 
nicht  so  sehr  in  dem  Vorzuge  ein(^r  gröfseren  Popularität,  wodurch 
sich  dies  Prinzi])  em])fahl,  wie  vor  allem  in  seiner  leichteren  l'ber- 
tragbarkeit  ;iuf  die  übrigen  Wissenschaften.  Als  daher  Knutzen 
im  Jahre  1735  seine  „Commentatio  philosophica  de  commercio 
mentis  et  corporis  per  iniluxum  j)hysicum  explicando"  bekannt  gab, 
die  zehn  Jahre  später  mit  einer  anderen  Abhandlung  zusammen 
unter  dem  Titel  „Systema  causarum  efticientium"  erschien,  (hi  war 
das  Schicksal  der  prästabilierten  Harmonie  besiegelt.  Die  hervor- 
ragendsten Glieder  der  Schule  bekannten  sich  zu  der  Theorie  des 
physischen  Einflusses,  und  Knutzen  hatte  den  Hulim,  das  be- 
deutendste Werk  über  diese  Frage  abgefafst  und  damit  jener  Theorie 
endgültig  zur  Herrschaft   verhol fen   zu   haben. 

Dafs  ein  solcher  Mann  auf  Kant  einen  hervorragenden  Kinllufs 
ausüben  mufste,  ist  wohl  begreiflich.  Kants  Biograph  Borowski 
teilt  uns  denn  auch  mit,  derselbe  habe  Knutzens  „wirklich  vor- 
trefflichen,  für  das  Genie  weckenden   und   sehr  unterhaltenden   Vor- 


I 


*)  JB.  Erdin  an  n:  Martin  Knutzen  und  seine  Zeit  fh^TG). 


I 


•\ 


\ 


I 


lesungen-'    unausgesetzt    besucht    und    ihnen    das    gröfste    Interesse 
abgewonnen.      Der    Lehrer    „fand    in    Kant    vortreffliche  Anlagen, 
ermunterte  ihn  in  Privatunterredungen,    lieh   ihm    m  der  Folge  be- 
sonders Newtons    Werke    und.    da   Kant  Geschmack   daran  fand, 
alles,  was  er  aus  seiner  herrlichen,    reichlich  versehenen  Bibliothek 
irgend  verlangte."*)     Man  geht,  wie  Er  d  mann  gezeigt  hat,    wohl 
zu  weit,  eine  direkte  Nachwirkung  von  Knutzens  philosophischem 
Standpunkt  auf  Kants  kritischen  Idealismus   anzunehmen;    aber  so 
viel  ist  gewifs,   dafs  Knutzen  es  war,  der  ihn  von  seinen  ursprüng- 
lich philologischen    Studien  abgezogen   und   ihn   für  die   Philosophie 
gewonnen    hat.**)     Durch    Knutzen    wurde    in    ihm    die  Vorliebe 
für  die  Mathematik    erweckt,    die  noch    einmal  eine    so   bedeutende 
Holle  in  seiner  gedanklichen  Entwickelung  spielen  sollte,  von  ihm  wurde 
er    auch    in    die  Naturwissenschaften    eingeführt  und   damit  seinem 
Denken  diejenige  ßichtung  gegeben,  welche  für  Kant  cliarakteristisch 
ist.     Insbesondere  wurde  in  dieser  Hinsicht  das  Studium  Newtons 
für    ihn    entscheidend,    auf   den    ihn  Knutzen    hingewiesen    hatte. 
Der  Eindruck,    den  Kant    aus  Newtons  Werken    empfing,    kann 
gar    nicht    hoch    genug   veranschlagt    werden.     „Newton    war    der 
gute  Genius,   welcher  an  der  Wiege   seiner  wissenschaftlichen   Ent- 
wickelung   stand    uiul  schützend    über   dem  Fortgange  seines  philo- 
so])hischen  Denkens  schwebte.     An  der  mathematischen  Strenge  jenes 
gnifsten  Vertreters  der  exakten  Wissenschaft  der  Neuzeit  bildete  sich 
seine  allgemeineDenkweise;  die  philosophischeNatu  ran  schauung 
desselben  regte  in  ihm  die  bestimmten  Probleme  an,  die  zur 
Entstehung  seiner  Hauptwerke  und  zur  Ausl)ild  ung  seiner 
eigenen    philosophischen    Weltanschauung  führten.***) 

Darin  lag  für  Kant  neben  seiner  persönlichen  Beeinflussung 
durch  Knutzen  em  neuer  Grund,  in  dem  Streite  über  die  prästa- 
bilierte Harmonie  sich  für  das  Prinzip  des  physischen  Einflusses  zu 
entscheiden.  Denn  nur  bei  der  Annahme  einer  wechselseitigen  Ein- 
wirkung der  Substanzen  auf  einander  konnte  er  die  Anschauumr 
JNewtons  sich  aneignen.  Beruhte  doch  eben  darin  die  wissen- 
schaftliehe That  des  grofsen  englischen  Forschers,  dafs  er  die  ge- 
samte Bewegung  der  Himmelskörper  auf  das  Gesetz  der  Gravitation 
zurückgeführt  und  die  Attraktion  oder  die  gegenseitige  Anziehung 
derselben  als  eine  allgemeine  Eigenschaft  der  Körper  nachgewiesen 
hatte.   Die  Körper  sind  durch  und  durch  mit  Kräften  begabte  Wesen; 

*)    Borowski:    Darstellung,'    d.    Lebens    und    Charakters     Kants  (1804), 
163.  28. 

**J  Erdniaun:   a.  a    ( ).    1  iG  iV. 

♦*♦)  Dietrich:  Kant  und  Newton  (1876)  2  f. 

1* 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


A.    Kant  als  Naturforscher, 


darin  hatte  L  e  i  b  n  i  z  dem  Cartesius  gegenüber  Hecht,  für 
welchen  der  Körper  nur  ein  totes  Eäumliches  war.  Aber  Unrecht 
hatte  er  darin,  die  gegenseitige  Einwirkung  der  Körper  auf  ein- 
ander j)rinzipiell  zu  leugnen  und  die  thatsiichlich  wahrgenommene 
Einwirkung  auf  den  unwahren  Schein  seiner  prästabilierten  Harmonie 
zurückzuführen,  Unrecht  auch  darin,  dafs  er  auf  i)hysikalischeni 
Gebiete  alles  Geschehen  mit  Cartesius  blofs  auf  Druck  und  Stofs 
beschränken  und  die  Attraktionstheorie  Newtons  nicht  anerkennen 
wollte.  In  beiden  Fällen  behält  N  e  w  t  o  n  gegenüber  L  e  i  b  n  i  z 
Recht:  weit  entfernt,  dafs  die  Ktirper  nur  in  unmittelbarer  Be- 
rührung auf  einander  wirkten,  besitzen  sie  sogar  die  Fähigkeit,  ver- 
mittelst der  ihnen  einw^ohnenden  wirkenden  Knift.  sowohl  aus  der 
Nähe,  w^ie  aus  der  Ferne,  einander  anzuziehen,  und  dies  el)enso  im 
Zustande  der  Ruhe,  wie  im  Zustand  der   Bewegung. 

Als  Kant    sich   diese  Konsequenzen    zum   Bewui'stsein    brachte, 
fand    er  sich  damit    in  offenem  Gegensatz    zur  Physik    seiner  Zeit, 
die  unter  dem  EinHul's  der  me(;hanischen  K()rj)erlehre  des  Cartesius 
nur  rei)ulsive  Kräfte  gelten  liefs.    Zugleich  aber  eröffnete  sich  ihm 
nunmehr   die  Aussicht,    „eine  der  gröfsten  8i)altungen-',  die  damals 
unter  den  Geometern    von  Europa   herrsclite,    „beizulegen^',    nändich 
den  Streit  über  die  Schätzung  der  lebendigen  Kräfte,  wie  er  zwischen 
den  Cartesianern    und    den  Anhängern    von   Leibniz    ausgel)rochen 
war.       Wenn    nämlicli    Cartesius    bei     dem    rein    mechanischen 
Charakter  seiner  Weltanschauung  die   Kraft  des  bewegten  Körpers 
nach    dem  Produkt    aus    seiner  iVIasse   und    der    ersten  Potenz,  der 
Geschwindigkeit    (mv)    oder  nach    demjenigen    gemessen   hatte,     was 
wir  heute  als    die   „Quantität    der  Bewegung-'   bezeichnen,    so  hatte 
dagegen  Leibniz*)    nicht    das   Produkt    aus    der  Masse    und    der 
einfachen  Geschwindigkeit,   sondern  das  Pi-odukt  aus  der  Masse   und 
dem  Quadrate  der  Geschwindigkeit  (mv-j  für  den  wahren  Mafsstab 
der  Kraft  des  bewegten  Kih-pers  ausgegeben.    Im  Besitz  einer  neuen 
Kräftelehre    glaubte    Kant,    den    Streit    zur    Zufriedenheit    heider 
Parteien   zum   Austrag     bringen    zu    können.      So    schrieb    er.     wohl 
nicht  ohne  von  Knutzen  hierzu  die  Anregung  (Mnj)fangen  zu  haben,*) 
seine  „Gedanken  von  der  wahren  Schätzung  der  leben- 
digen   Kräfte    und    Beurteilung    d  e  r    B  e  weise,    d  e  r  e  n 
sich  Herr  v.  Leil)niz  und   andere  Me  c  h  ani  k  e  r  in  dieser 
Streitsache    bedienet    haben,     nebst    einigen    vorher- 
geh  enden  Betrachtungen,   welche  die  Kraft  der  Körper 
überhaupt  betreffen"   (IT-iT). 

*)  Leihniz:   Ww.  i^^es.  v.   Pertz.     3  F.     VI.  2oS  Ih 
**j  B.  Erdmaiin:  a.  a.  O.    143  f. 


4 


Bescheiden    und    doch  voll  Vertrauen    in    seine  Kraft    begiebt 
sich  hier  der  Zweiundzwanzigjährige  auf  den    litterarischen  Kampf- 
platz,    um    die    berühmtesten    Männer    der    Wissenschaft    vor    das 
Tribunal  der  Wahrheit  zu  fordern    und  unbeschadet    seiner  Ehrer- 
bietung und  Hochachtung  vor  ihnen  ihre  Lehren  einer  unbefangenen 
Kritik    zu    unterziehen.      „Nunmehr   kann  man    es  kühnlich  wagen, 
das  Ansehen  der  Newtons  und  Leibnize   für  nichts   zu  achten, 
wenn  es   sicli   der  Entdeckung   der  W^ahrlieit   entgegensetzen  sollte, 
und    keinen    anderen   Überredungen    als  dem  Zuge    des   Verstandes 
zu  gehorchen"   (I.  f)).*)     Die   Welt  freilich  wird  sehr  geneigt  sein, 
zu  glauben,  er  wolle  sich  damit  über  jene  grofsen  Gelehrten  erheben. 
Diesen   Vorwuif    weist    Kant    zurück:     „Die    Wissenschaft    ist    ein 
unregelmäfsiger  Körper  ohne   Ebenmafs  und  Gleichförmigkeit.     Ein 
Gelehrter   von  Zwerggröl'se   übertrifft   öfters   an   diesem   oder  jenem 
T(Mle  der  Erkenntnis  einen  anderen,    der  mit  dem  ganzen  Umfange 
seiner   Wissenschaften   weit    über    ihn    hervorragt"    (7).      Was    hilft 
es.     sieh    immer    nur    auf   der  Heeresstrafse  zu  halten:'     Auf  diese 
Weise  kann  die  Wissenschaft  nicht  gefördert  werden.    „Ich  stehe", 
sagt  Kant,    „in    der  Einbildung,    es  sei  zuweilen    nicht  unnütz,  ein 
gewisses   edles  Vertrauen  in   seine  eigenen  Kr-ifte  zu  setzen.     Eine 
Zuversicht  von  der  Art  belebt  alle  unsere  Bemühungen  und  erteilet 
ihnen    einen    gewissen    Schwung,     welcher    der    Untersuchung     der 
Wahrheit  sehr  beförderlich  ist"   (S). 

Eine  solche  S])rache  mul's  von  vornherein  unser  Vertrauen  für 
(h'n  Jüngling  erwecken,  der  mit  jener  seiner  Erstlingsschrift  seine 
Studien  auf  der  Universität  zum  Abschlufs  brachte.  Und  in  der 
That.  so  fern  uns  der  Inhalt  jener  Schrift  auch  ireij^enwärti":  lieirt. 
und  so  wenig  wir  seiner  Liisung  des  oben  erwälmten  Streites  vom 
heutigen  Standpunkte  der  Wissenschaft  aus  heistiminen  können  :  der 
Gründlichkeit,  mit  welcher  der  jugendliche  Verfasser  bei  seiner 
Untersuchung  zu  Werke  geht,  dem  Scharfsiini,  den  er  an  vielen 
Stellen  offenhart,  und  der  Geschicklichkeit  bei  seinen  Gedanken- 
opciationen  vermögen  wir  doch  unsere  Anerkennung  selbst  dann 
nicht  zu  versa^^en,  wenn  uns  die  Schrift  im  grofsen  und  ganzen 
auch  als  verfehlt  erscheinen  mufs  und  ihre  Weitschweifigkeit  unseren 
Protest  herausfordert. 

Kant  teilt  alle  Bewegungen  in  zwei  Hauptarten  ein.  „Die  eine 
hat  die  Eigenschaft,  dafs  sie  sich  in  dem  Körper,  dem  sie  mitge- 
teilt worden,    selber    erhält    und    ins   Unendliche    fortdauert,    wenn 


*)    Ich    eitlere    nach    Hartensteins    achtbändiger    Ausgabe    von    Kants 
sämtlichen  Werken. 


6 


A.    Kant  als  Naturforsclier 


kein  Hindernis  sich  ent^ep^ensetzt.  Die  andere  ist  eine  immer- 
währende Wirkung  einer  stets  antreil)end('n  Kraft,  hei  der  nicht 
einmal  ein  Widerstand  niiti^  ist,  um  sie  zu  vernichten,  sondern  die 
nur  auf  der  äiifserlichen  Kraft  heruht  und  ehenso  hald  verschwindet, 
als  diese  aufhcirt,  sie  zu  erhalten.  Ein  Exem])el  von  der  ersten  Art 
sind  die  geschossenen  Kugeln  und  alle  geworfenen  Kör])er:  von 
der  zweiten  Art  ist  die  Bewegung  einer  Kugel,  die  von  der  Hand 
sachte  fortgeschohen  wird,  oder  sonst  alle  Körper,  die  getragen 
oder  mit  mäfsiger  (jresch windigkeit  gezogen  werden"  ('JÜ).  Diese 
ist  „von  dem  toten  Drucke  nicht  unterschieden,  wie  Herr  Baron 
Wolff  in  seiner  Kosmologie  schon  angemerkt  hat*'  ('J7).  und  kann 
nur  die  einfache  Geschwindigkeit  zum  Malsc  hahen ;  denn  die 
Kraft  heruht  hier  nicht  auf  den  bewegten  Körpern  seihst,  sondern 
auf  einer  äufseren  Gewalt:  folglich  hat  der  Widerstand  nur  nötig, 
die  Geschwindigkeit  zu  vernichten,  mit  welcher  der  Köjrper  seinen 
(3rt  verändert.  Ganz  anders  hingegen  hei  der  ,.lehendigen  Kraft." 
Diese  hat  ihre  Ursache  in  dem  hew^'gten  K(irper  seihst,  und  weil 
somit  der  letztere  bemüht  ist,  sich  in  seinem  Zustand  zu  erhalten,  so 
hat  der  äufserliche  Widerstand  nicht  hlofs  die  (Tcschwindigkcit  jenes 
Kcirpers,  sondern  auch  noch  die  Kraft,  welche  diesem  eigen  ist, 
aufzuheben,  und  die  ganze  Stärke  des  Widerstandes  mufs  folglich 
zusammengesetzt  sein  aus  der  Geschwindigkeit  und  eben  dieser 
Kraft,  d.  h.  die  lebendige  Ki-aft  eines  in  solcher  Ai't  be- 
wegten Kör])ers  ist  nach  dem  (Quadrate  der  Geschwindigkeit  zu 
messen  (28  f.). 

Wir  haben  heute  nicht  ncitig,  auf  eine  nähere  Widerlegung 
dieser  Sätze  einzugehen.  Sie  müssen  uns  in  ihrem  Resultate  ebenso 
wunderlich  erscheinen,  wie  die  Einteilung  der  Bewegungen,  auf 
welcher  jenes  Kesultat  beruht.  Es  ist  ja  von  vornherein  klar,  dafs 
es  eine  Bewegung  der  zweiten  Art  überhaupt  nicht  geben  kann, 
weil  sie  dem  Gesetz  der  Trägheit  widersj)reclien  würde.  Die  ganze 
Konfusion  schreibt  sich  nur  daher,  dafs  Kant  in  eine  Frage,  die 
an  sich  nur  die  Mechamk  angeht,  seinen  unklaren  metaphysischen 
Begriff  der  Kraft  hineinbringt,  der  hier  nur  die  Bedeutung  eines 
Hilfsbegriffes  hat  und  gar  nicht  bei  der  Entscheidung  der  Frage 
selbst  mitspricht.  Versteht  man  unter  Kraft  diejenige  Ursache, 
welche  der  (Quantität  der  Bewegung  eines  Kcirpers  j)roportional  ist, 
so  ist  es  nur  eine  Tautologie,  zu  sagen,  diese  Kraft  sei  gleich  dem 
Produkt  aus  der  Masse  und  der  einfachen  Geschwindigkeit.  Wir 
verstehen  unter  lebendiger  Kraft  die  Fähigkeit  eines  bewegten 
Körpers,  Arbeit  zu  leisten,  d.  h.  einen  seiner  Bewegung  entgegen- 
wirkenden konstanten  Widerstand    zu  überwinden,    und  diese  mifst 


A.    Kant  als  Naturforscher.  7 

die  heutige  Mechanik  nach  dem  halben  Produkt  der  Masse  und 
dem  Quadrate  der  Geschwindigkeit.  Für  die  theoretische  Mechanik 
erscheint  das  ganze  Problem  heute  nur  als  ein  blofser  Wortstreit, 
da  beide  Schätzungen  richtig  sind,  je  nachdem  ob  man  die  Kraft 
durch  die  absolute  Gröfse  des  überwundenen  Hindernisses  oder 
durch  die  Summe  der  Widerstände  mifst.  Kant  wufste  nicht,  dafs 
d'Alembert  bereits  im  Jahre  JT4r)  die  richtige  Lösung  des 
Problems  gegeben  und  die  wahre  Natur  desselben  erkannt  hatte, 
wenn  er  in  seinem  „Traite  dynamicjue*'  über  „la  fameuse  (juestion 
des  forces  vives"  bemerkt  hatte:  „Toute  la  ([uestion  ne  peut  plus 
consister  que  dans  une  discussion  metapliysi(iue  tres  futile  ou  dans 
une  disj)ute  de  mots  j)lus  indigne  encore  d'occuper  des  philoso})hes.''*) 
Wenn  jenem  ganzen  Streite  überhaupt  eine  wissenschaftliche  Be- 
deutung beizumessen  ist,  so  bezeichnet  er  nur,  worauf  Erdmann 
aufmerksam  macht.  ,,den  Al)lösungsprozefs  der  Mechanik  von  den 
philosophischen  Disziplinen,  mit  denen  sie  durch  Cartesius  und 
Leibniz  verwachsen  war."**)  Es  war  kein  Fortschritt,  dafs 
Kant  jene  rein  mechanische  Bestimmung  der  Kräfte  durch  das 
Hereinziehen  metaj)hysischer  Gesichtspunkte  verwirrte. 

Er  selbst  findet  die  Ursache  des  Streites  darin,  dafs  die  Be- 
teiligten die  mathematische  und  die  physikalische  Betrachtung  mit 
einander  vermengen  und  zwischen  reiner  und  angewandter  (empirischer) 
Mechanik  nicht  genügend  unterscheiden.  Die  ]\ratliematik  nändich 
betrachtet  in  der  Bewegung  eines  Körjiers  nichts  wie  die  Ge- 
schwindigkeit, die  JVEasse  und  noch  etwa  die  Zeit.  Sie  kann  daher 
niemals  etwas  über  die  durch  mv"  zu  messenden  lebendigen  Kräfte 
festsetzen,  weil  dieser  Begriff'  gar  nicht  in  ihren  Voraussetzungen  liegt 
und  andernfalls  in  den  Folgerungen  mehr  enthalten  wäre,  als  die 
Grundsätze  in  sich  fafsten,  das  rationatum  gröfser  sein  würde  als 
die  ratio  (;)8).  ,.Die  Mathematik  erlaubt  nicht,  dafs  ihr  Kiirper 
eine  Kraft  habe,  die  nicht  von  demjenigen,  der  die  äufserliche  Ur- 
sache seiner  Bewegung  ist.  gänzlich  hervorgebracht  worden"  (l'i(i); 
was  sie  verj)önt.  ist  die  freie  Bewegung,  die  etwa  aus  dem  eigenen 
Innern  des  Körpers  selbst  entspringt  (140).  „Sie  setzet  den 
Begriff  von  ihrem  Kör])er  selber  fest  vermittelst  der 
Axiomata,  von  denen  sie  fordert,  dafs  man  sie  bei  ihrem  Körper 
voraussetzen  müsse"  (IH')).  Da  somit  aus  den  wesentlichen  und 
geometrischen  Eigenschaften  eines  Körj)ers  kein  Argument  zur 
Leistung    einer    freien    und    unveränderten    Bewegung     entnommen 


*)  irAlembert:   a.  a    O.  XVII.    XXI. 
•*}  B.  Erdmaiiii:  a.  a.  0.  81. 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


werden  kann,  auf  dieser  aber  allein  das  Dasein  der  lebendigen 
Kräfte  beruht,  „so  folgt,  dafs  die  lebendigen  Kräfte  nicht  als 
eine  notwendige  Eigenschaft  erkannt  werden,  sondern  etwas 
Hypothetisches  und  Zufälliges  sind"'  (147  f.). 

Der  Körper  der  Mathematik  ist  von  demjenigen  der  Natur  ganz 
unterschieden.     Bei  jenem   kann  folglich  etwas  walir  sein,  was  doch 
für  diesen  keine  Geltung  hat  ( 1  ;]^).  \  04).     Von  dem  Körper  der  Mathe- 
matik gilt  unzweifelhaft  die  cartesianische  Schätzung,  mit  dem  KfJrper 
der  Natur  hat  es  jedoch   eine  ganz  andere  Bewandtnis.      ,.  Derselbe 
hat  ein   Vermögen  in  sich,    die  Kraft,    welche    von  draulsen  durch 
die  Ursache  seiner  Bewegung  in  ihm  erwecket  worden,    von  selber 
in   sich  zu  vergröl'sern,   so  dafs  in  ihr  Grade  der  Kraft  sein  können, 
die  von  der  äul'serlichen  Ursache    der  Bewegung  nicht  ents])rungen 
sind  und  auch  grölser  sind,   wie  dieselbe,   die  folghch  mit  demselben 
Mafse    nicht    können    gemessen    werden,     w^omit    die    cartesianische 
Kraft  gemessen  wird,  und  auch  eine  andere  Schätzung  haben"  (l'M]). 
„In    der    Natur    sind  wirklich  diejenigen  Kräfte  zu  finden,   deren 
Mafs    das    (^),uadrat    ihrer    Geschwindigkeit  ist,    nur    mit    der   Ein- 
schränkung, dafs  man  sie  auf  die  Art,  wie  man  es  bisher  angefangen 
hat,  niemals  entdecken  werde;  dafs  sie  sich  vor  dieser  Gattung  der 
Betrachtung    (nändich    der    mathematischen)    auf    ewig    verl;ergen 
werden,  und  dafs  nichts,  wie  irgend  eine  metaphysische  Unter- 
suchung oder  etwa  eine  besondere  Art  der  P^^rfahrung, 
selbige   uns    bekannt   machen  können.     Wir    bestreiten    also,"    sagt 
Kant  den  Leibnizianern,   „nicht  eigentlich  die  Sache  selbst,   sondern 
den   modum    cognoscendi"   (f)?).     Wir    nn'issen    die    met.-i})liysischen 
Gesetze  mit  den  Regeln   der  ^Mathematik   verknüpfen,   um  das  wahre 
Kräftemafs  der  Natur  zu  bestimmen  ( 104).    „Die  lebendigen  Kräfte 
werden    in    die   Natur    aufgenommen,    naclidem  sie  aus  der  Mathe- 
matik verwiesen  worden.     Man  wird  also  keinem  von  beidiMi  grofsen 
Weltweisen,     weder    Leibniz,     noch    Cartesius    durchaus    des 
Irrtums  schuldig  geben  können.      Auch    sogar   in    der    Natur    wird 
Leibniz'    Gesetz    nicht    anders    stattfinden,    als    nachdem    es    durch 
Cartesius'    Schätzung    gemäfsiget   worden  (d.  h.  auf   die    freie 
Bewegung  beschränkt  ist).     P]s  heilst  gewissermafsen  die  Ehre  der 
menschlichen  Vernunft  verteidigen,    wenn   man  sie    in   den   verschie- 
denen Personen   scharfsinniger  Männer  mit  sich  selber  vereinigt  und 
die  AVahrheit,    welche    von    der  Gründlichkeit    solcher  Männer  nie- 
mals  gänzlich  verfehlt  wird,   auch  alsdann  heraushndet,   wenn  sie  sich 
gerade  widersprechen"   (144  f.). 

In  der  mathematischen  Betrachtungsart,    die    Kant    in  solcher 
Weise  von  der  physikalischen  unterscheidet,  ist  unschwer  dasjenige 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


wiederzuerkennen,  w\as  er  später  als  „Phoronomie"  bezeichnet  und 
im  ersten  Hauptteil  seiner  „Metaphysischen  Anfangsgründe  der 
Naturwissenschaft"  als  „reine  Gröfsenlelire  der  Bewegung"  behandelt 
hat.  Auch  kündigt  sich  hier  bereits  die  Ahnung  des  Unterschiedes 
von  Mathematik  und  Erlährungswissenschaften  leise  an,  obgleich  sich 
Kant  über  den  Gegensatz  zwischen  dem  wirkliclu^n  Körper  der  Er- 
fahrung und  dem  mathematischen  Körper,  als  einem  Produkt 
aj)riorischer  Konstruktion  im  Räume,  noch  gar  nicht  völlig  klar  ist, 
wenn  er  z.  B.  den  Stofs  natürlicher  Körper  auf  einander  der  mathe- 
matischen Betrachtung  glauht  zuweisen  zu  ktinnen.  In  der  Mathe- 
matik ergel)en  sich  alle  Sätze  mit  absoluter  Allgemeinheit  und 
Notwendigkeit,  weil  ihr  Gegenstand  vor  aller  Erfahrung  vom  Ver- 
stände selbst  gesetzt  ist;  in  den  Erlährungswissenschaften  dagegen 
sind  wir  auf  blofse  Hypothesen  angewiesen,  die  niemals  mehr  als 
einen  hohen  Grad  von  Wahrscheinlichkeit  beans])ruchen  können. 
Es  ist  bemerkenswert,  dafs  er  in  seiner  Erstlingsschril't  der  leben- 
digen Kral't  der  Köi'per  imr  einen  hypothetischen  Erkenntniswert 
zuschreibt.  Kant  hat  diese  richtige  x^nsicht  einem  Vorurteil  zu 
Lielie  später  aufgegel)en,  ohne  dafür  etwas  anderes  einzutauschen 
als  den  blofsen  Schein  einer  apodiktischen  Naturwissenschaft. 

Wie  konnte  man  nun  glaulien,  das  richtige  Mafs  für  die  Ki'äfte- 
schätzung  der  Mathematik  entnehmen  zu  können,  wenn  die  leben- 
digen Kräfte  doch  blofs  in  der  Natur  zu  finden  sind?  „Es  ist 
wunderbar  genug,  dafs  so  grofse  Schlufskünstler  (wie  Cartesius 
und  Leibniz)  auf  solche  Abwege  geraten  sollten,  ohne  wahr- 
zunehmen oder  auch  nur  daian  zu  denken,  ob  dieses  auch  der 
Weg  sei,  der  sie  zum  Besitz  der  Wahrheit  führen  könne,  welcher 
sie  nachges])üret  hahen"  (!)ll).  Der  Grund,  weshalb  man  den  rich- 
tigen Weg  bisher  vci  fehlte,  kann  nur  ui  dem  Mangel  an 
einer  Methode  liegen.  ]\Ian  mufs  vor  allem  ..eine  Methode 
haben,  vermittelst  welcher  man  in  jedwedem  Falle  durch  eine  all- 
gemeine Erwägung  der  Grundsätze,  worauf  eine  gewisse  Meinung 
erbaut  worden,  und  durch  Vergleichung  derselben  mit  (h-r  Folgerung, 
die  aus  denselben  gezogen  wird,  abnehmen  kann,  was  in  Ansehung 
der  hieraus  geschlossenen  Lehren  erfordert  wird"  (flO).  „Wir  müssen 
die  Kunst  besitzen,  aus  den  Vordersätzen  zu  erraten  und  zu  mut- 
mal'sen,  ob  ein  auf  gewisse  Weise  eingerichteter  Beweis  in  An- 
sehung der  Folgerung  auch  wei'de  hinlängliche  und  vollständige 
Grundsätze  in  sich  enthalten"  (!)4).  „Wenn  man  sich  jederzeit 
diesei-  Art  zu  denken  heilissen  hätte,  so  hätte  man  sich  in  der 
Phil()soj)hie  viele  Lrtüiner  ers])aren  kcinnen,  zum  wenigsten  wäre  es 
ein  Mitlei  gewesen,   sich  aus  derselben  viel  zeitiger  herauszureifsen. 


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A.    Kant  als  Naturforscher. 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


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Ich  unterstehe  mich  gar  7ai  sagen,  dafs  die  Tyrannei  (ha*  Irrtümer 
über  den  menschlichen  Verstand,  die  zuweilen  ganze  Jahrhunderte 
liindurch  gewährt  hat,  vormdindich  von  dem  Mangel  dieser  Me- 
thode hergerührt  hat  und  dafs  man  sich  also  dieser  nunmehr  vor 
anderem  zu  beHeifsigen  habe,  um  jenem  Übel  ins  Künftige  vor- 
zubeugen*'  (1)2  f.). 

Man  hat  bisher  d(^r  falschen  Voraussetzung  geliuldigt,  Materie 
kcinne  nur  in  unmittelbarer  Hcrührung  auf  Materie  wirken.  8el])st 
Leibniz  bekämpfte  die  newtonsdie  Lehre  der  allgemeinen  Attraktion, 
weil  ihm  die  Einwirkung  der  K()r})er  auf  einander  ohne  gegen- 
seitige Berülirung  zu  unvermittelt  schien,  als  dafs  er  sie  mit  dem 
Gesetz  der  Stetigkeit  (lex  continui)  j^laubte  verciiiip^en  zu  kfinnen. 
8o  schlofs  man,  ,.dars  keine  Bewegung  in  di'v  ^salur  entstehe  als 
vermittelst  einer  Materie,  (he  auch  in  wirklicb«^-  Bewegung  ist:  und 
dafs  also  die  Bewegung,  die  in  einem  Teile  der  Welt  verloren  ge- 
gangen, durch  nichts  anderes  als  entweder  durch  eine  andere  wirk- 
liche Bewegung  oder  die  umnittelbare  Hand  (lottes  kiuine  hergestellt 
werden.  Dieser  Satz  hat  denjenigen  jederzeit  viel  Ungelegenheit 
gemacht,  die  demselben  Beifall  gegeben  haben.  Sie  sind  genötigt 
worden,  ihre  Einbildungskraft  mit  künstlich  ersonnenen  Wirbeln 
müde  zu  machen,  eine  Hypotln^se  auf  die  andere  zu  bauen,  und, 
anstatt  dafs  sie  uns  endlicli  zu  einem  solchen  Plan  des  Welt- 
g  e  b  ä  u  d  e  s  führen  sollten ,  der  e  i  n  f  a  c  h  und  b  e  g  r  e  i  f  1  i  c  h 
genug  ist,  um  die  zusammengesetzten  Erscheinungen  der  ^S'atur 
daraus  herzuleiten,  so  verwirren  sie  uns  mit  unendlich  viel  selt- 
samen Bewegungen,  die  viel  wunderbarer  und  unbegreiflicher  sind, 
als  alles  dasjenige  ist,  zu  dessen  Erklärung  selbige  herangezogen 
werden  sollten*'  (öT  f.).  8o  hat  man  zwar  eine  l^iiysik,  die  voll  ist 
von  vortrefflichen  Proben  des  Scharfsinns  und  der  P]rtindungskraft, 
allein  es  fehlt  an  einer  wirklichen  Naturerkenntnis.  ,.Der  Weg 
der  Natur  ist  nur  ein  einziger  Weg*'  (;")!!).  Will  man  sie  wirklidi 
kennen  lernen,  so  mufs  man  daher  auch  bestrebt  sein,  ihre  Er- 
scheinungen in  einer  mciglicbst  einfachen  Weise  zu  erklären.  I^]ine  solche 
vereinfachte  Naturerklärung  abei-  besteht  in  der  Annahme  einer 
gegenseitig e n  E  i n  w i r  k  u  n g  d  e i"  K  ö r  p  er  au f  e i  n a, n  d e r  auch  ohne 
unmittelbare  Berührung,  wie  Newton  sie  zur  Erkläi'ung  der  Gravi- 
tation herangezogen  hat :  denn  nur  unter  dieser  \^)raussetzung 
begreift  man,  wie  ein  Körper  eine  wirkliche  Bewegung  durch  eine 
Materie  emi)fangen  könne,  die  selbst  in  Ruhe  ist.  ,.Es  ist  Avahr, 
der  Grund  dieses  Gedankens  ist  metaphysisch  und  also  auch  nicht 
nach  dem  Geschmacke  der  jetzigen  Naturlehrer;  allein  es  ist  zu- 
gleich augenscheinlich,    dafs    die    allerersten    Quellen   von 


den  Wirkungen  der  Natur  durchaus  ei  n  V o r  w  u  r  f  d  e r 
Metaphysik  sein  müssen"  (58).  Wenn  Newton  auf  jene 
Voraussetzung  das  unerschütterliche  Gebäude  seiner  Pliysik  er- 
richtet hat,  so  hat  die  Schulmetaphysik  kein  Recht,  dagegen  Ein- 
spruch zu  erheben;  denn  welche  Resultate  von  auch  nur  annähern- 
der Gewifsheit,  wie  das  Gesetz  der  Gravitation,  hätte  sie  vorzu- 
weisen ?  „Unsere  Metaphysik.-'  sagt  Kant,  „ist,  wie  viele  andere 
Wissenschaften,  in  der  That  nur  an  der  Schwelle  einer  recht 
gründlichen  Erkenntnis;  Gott  weifs,  wann  man  sie  selbige  wird  ü])er- 
schreiten  sehen.  Es  ist  nicht  schwer,  ihre  Schwäche  in  mancliem 
zu  sehen,  was  sie  unternimmt.  Man  findet  sehr  oft  das  Vorurteil 
als  die  gröfste  Stärke  ihrer  Beweise.  Nichts  ist  mehr  hieran 
Schuld  als  die  herrschende  Neigung  derer,  die  die  menschliche 
Erkenntnis  zu  erweitern  suchen.  Sie  wollten  gerne  eine  grofse 
Welt  Weisheit  haben,  allein  es  wäre  zu  wünschen,  dafs  es  auch  eine 
gründliche  sein  möchte"   ('ilj). 

Zudem  hat  diese  Metaphysik  nicht  einmal  Grund,  die  ihr  von 
Newton  nahe  gelegte  Annahme  zu  verwerfen.  Nur  der  gemeinen 
Ansicht  gilt  der  Raum  für  eine  treiniende  Schranke  zwischen  den 
verschiedenen  mit  Kräften  begabten  Substanzen.  Nur  ihr  ist  er 
gleichsam  der  gemeinsame  Behälter,  worin  die  Dinge  erst  sein 
und  wirken  können,  und  darum  vermag  sie  sich  nicht  vorzustellen, 
dafs  ein  Ding  dort  wirken  solle,  wo  es  selbst  nicht  ist.  Der  Meta- 
])hysik  eines  Leibniz  dagegen  sind  die  räundichen  Veiliältnisse 
an  den  Dingen  ja  selbst  erst  das  Produkt  der  Beziehungen  d(^r 
Substanzen  untereinander.  Der  Raum  ist  nach  Leibniz  nicht  früher 
als  die  Substanzen,  kann  daher  auch  kein  Hindernis  für  ihre  Wirkungs- 
weise sein.  Nach  dieser  Ansicbt  können  Substanzen  existieren  und 
dennoch  gar  keine  äufserliche  Relation  gegen  andere  haben  oder  in 
einer  wirklichen  Verbindung  mit  ihnen  stehen.  Da  nun  ohne  äufser- 
liche Verknü])fungen.  Lagen  und  Relationen  kv'm  Oi-t  vorhanden, 
so  ist  es  wohl  möglich,  dafs  ein  Ding  wirklich  existiert,  aber  doch 
nirgends  in  der  ganzen  Welt  zu  linden  ist  (20).  „Es  ist  daher 
nicht  richtig  geredet,  wenn  man  in  den  Hörsälen  der  AVeltweisheit 
immer  lehrt,  es  kchme  im  metaphysischen  Verstände  nicht  mehr 
als  eine  einzige  Welt  existieren.  Es  ist  wirklich  möglich,  dafs 
Gott  viele  Mülionen  Welten,  auch  in  recht  metaphysischer  Bedeutung 
genommen,  erschauen  habe"  (ebd.  f.).  Kann  es  doch  auch  Räume 
von  mehr  als  d  r  ei  Di  men  sione  n  geben,  obwohl  wir  über  die 
Welten,  die  in  ihnen  existieren,  natürlicher  Weise  nichts  ausmachen 
können,  weil  dieselben  doch  zu  uns  in  keiner  Beziehung  stehen 
würden  (23  f.).  Dafs  wir  uns  einen  Raum  von  mehr  als  drei  Dimensionen 


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A.    Kant  als  Naturforscher. 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


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nicht  vorstellen  können,  dies  lie^t  doch  hlols  an  unserer  eigenen 
Organisation,  weil  nämlich  die  Substanzen,  die  uns  und  unsere 
Welt  konstituieren,  in  der  Weise  auf  einander  wirken,  dal's  die  Stärke 
der  Wirkung  sich  umgekehrt  wie  (his  Quadrat  der  Weiten  verhält. 
Indessen  ist  dieses  Gesetz  willkürlicher  Natur,  und  Gott  hätte 
dafür  ebenso  gut  ein  anderes,  z.  B.  dasjenige  des  umgekehrten  drei- 
fachen Verliältnisses  wählen  können,  in  welchem  Falle  natürlich 
auch  ein  anderer  Raum  mit  andern  Eigenscliaften  und  Dimensionen 
entstanden  wäre.  „Eine  Wissenschaft  von  allen  diesen  möglichen 
Raumesarten  wiire  unfehlbar  die  höchste  Geometrie,  die  ein 
unendlicher  Verstand  unternehmen  könnte"   {'2:\}. 

Nacli   Leibniz   sollen  die  Beziehungen   der  unräumlichen  Sub- 
stanzen  unter  einander  keine  physischen  Wirkungen  dtn-selben  sein. 
Es  ist  jedoch   ,. leicht  zu  erweisen,  dafs  kein  Raum  und  keine  Aus- 
dehnung   sein    würden,    wenn    die    Substanzen    keine    Kraft    hätten, 
aufser    sich   zu    wirken.       Denn    ohne    diese    Kraft    ist   keine     Ver- 
bindung,     ohne     diese     keine     Ordnung     und      ohne     diese      kein 
Raum-'  (21).     Gründet  sich  somit  die  Eigenschaft  der  Ausdehnung, 
mithin  auch  die  dreifache  Abmessung  derselben  auf  die  F^igenschaften 
der  Kraft  und  das  Gesetz,    das  sie  bestimmt,  so  stehen  der  obigen 
Annahme  von  Seiten   der  Metaphysik  keine  Hindernisse    mehr    ent- 
gegen.    ]\[an  kann  alsdann  sowohl  die  Lehre  N  ewto  n  s  anerkennen 
und  braucht  sich   nicht   mehr,    wie    Leii)niz,    aus   metaphysischen 
Beweggründen  gegen    sie    zu    kehren,    als   auch    eröffnet    sich    damit 
die  Aussieht,   die    F.  ntstehung   (h's   Weltgebäudes    auf  natürliche 
Weise     zu     erklären ,     wobei     ^'  e  w  t  o  n     selbst     zu     einem     über- 
natüilichen    Akt    des  Schöpfers  glaubte    seine   Zuflucht    nehmen    zu 
müssen.     „Es  kommt,''   sagt  Kant,   ,.alles  darauf  an,  dafs  ein  Ktirper 
eine   wirkliche   Bewegung    erhalten    k()nne   auch    durch   die   Wirkung 
einer  Materie,  welche  in  Ruhe  ist.      Hierauf  gründe   ich  mich.      Die 
allerersten  Bewegungen   in  diesem  Weltgcbiiude  sind   nicht  durch  die 
Kraft   einer   bewegten  Materie    hervorgebracht   worden;    denn  sonst 
würden  sie  nicht  die  ersten  sein.     Sie  sind    aber  auch    nicht  durcli 
unmittelhare  (^ewalt  Gottes  oder  irgend  einer  Intelligenz  verursacht 
worden,  solange  es  noch  möglich  ist,   dafs  sie  durch  Wirkung  (iiner 
Materie,   welche  im  Ruhestande  ist,    haben  entstehen   können ;    denn 
Gott   ersj)art    sich    so   viele   Wirkungen,    als    er    ohne    (h^n    Nachteil 
der  Weltmaschine  thun  kann,   hingegen  macht  er  die  Natur  so  thätig 
und  wirksam,  als  es  nur  möglich   ist.     Ist  nun  die  Bewegung  durch 
die  Kraft  einer  an  sich  toten  und  unbewegten  ]VIaterie  in  die  Welt  zu 
allererst  hineingebracht  worden,   so  wird  sie  sich  aucli  durch  dieselbe 
erhalten  und,  wo  sie  eingebüfst  hat,  wieder  herstellen  können*'  (öl)  f.). 


Es  giebt  nicht  blofs  abstofsende,  sondern  auch  anziehende  Kräfte, 
nicht  blofs  eine  Wirkung  der  Körper  auf  einander,  die  sich  un- 
mittelbar berühren,  sondern  es  giebt  auch  eine  Wirkung  in  die  Ferne. 
Der  bisherige  äufserliche  Mechanismus  in  der  Naturbetrachtung  ist 
mithin  falsch:  die  Kcirper  sind  nicht  rein  tote,  räundiche  Wesen. 
An  die  Stelle  dieser  Anschauung  mufs  eine  dynamische  Er- 
klärung der  Naturerscheinungen  treten,  weil  sie  allein  dem 
Prinzip  der  Einfachheit  ents])richt.  Das  ist  der  tiefere  Gedanke,  der 
Kant  bei  Abfassung  seiner  Schrift  über  die  Kräfteschätzung  vorschwebt. 
„Wolf f."  bemerkt  er,  „hatte  das  Vorhaben,  uns  die  erste  Grund- 
lage zu  einer  Dynamik  zu  liefern.  Sein  Unternehmen  ist  unglücklich 
ausgefallen.  So  haben  wir  denn  zur  Zeit  noch  keine  dvnamischen 
Grundsätze,  auf  welche  wir  mit  Recht  bauen  krumen.  Unsere  Schrift, 
welche  die  wahre  Schätzung  der  lebendigen  Kräfte  darzulegen  ver- 
spricht, sollte  diesen  Mangel  ergänzen"  (114  f.).  Die  neue  Kräfte- 
schätzung, die  Kant  an  Stelle  der  Schätzung  des  Cartesius  und 
Leibniz  setzen  will,  ist  selbst  das  „  Fund  a  m  e  n  t  der  w  a  h  r  e  n 
Dynamik*'  (144). 

L  e  i  b  n  i  z  bat  in  metajdiysischer  Hinsicht  die  Einwirkung  der  Sub- 
stanzen aufeinander  überhaupt  geleugnet,  in  ]diysischer  Beziehung  hin- 
gegen den  Körpern  mit  Cartesius  nur  eine  Wirkung  in  unmittelbarer 
Berührung  zugeschrieben.    Knutzen  hat  eine  gegenseitige  Einwirkung 
auch  in  metaphysischer  Hinsicht  nachgewiesen  und  damit  den  Gegen- 
satz zwischen  Physischem  und  ^letaphysischeni,  zwischen  der  Welt  der 
Erscheinung  und  der  Wesen  aufgehoben.    Kant  zieht  die  Konse(|uenz 
dieser  Aulhebung  für  die  Physik:  es  ist  seine  Absicht,    die  Annahme 
einer  Wirkung  in  die  Ferne,  die  bei  der  Theorie  des  physischen  Ein- 
ilusses  nicht  zu  umgehen  ist,  auch  in  die  Physik  einzuführen,  zu  zeigen, 
dafs  erst  sie  eine  wirkliche  Naturerklärung  möglich  macht.    Damit  geht 
er  aber  zugleich  auch  über  New^ton  hinaus,   sofern  derselbe  vor  der 
blofsen  Annahme  von  Kräften  H^ilt  gemacht  und  als  Naturforscher  mit 
Recht  die  Frage  abgewiesen   hatte,   was   denn   die  Krait  als  solche 
sei.     Kants  Absicht  ist  nicht  sowohl  auf  Naturwissen  seh  aft,  als 
auf  Natur  j)h  i  loso])hi  e  gerichtet.     Mehr  und  mehr  drohten  exakte 
Forschung  und  Metaphysik  auseinanderzugehen,   seitdem   ihre   beiden 
gröfsten  Vertreter  in  bitterer  Feindschaft  gegen  einander  aufgetreten 
waren.      Den    Schaden    davon    hatte    nicht    die    Naturwissenschaft, 
sondern  die  Philosophie,  die  sich  vergeblich  abmühte,  in  der  Sicher- 
heit   ihrer    Resultate    und    deren    Bedeutsamkeit    es    jener    gleicli- 
zuthun.     Es  ist  Kants  Vorhaben,  diesen  gefährlichen  Rifs  zu  heilen, 
der  sich   zwischen   beiden   aufgethan    hat,    Leibniz  und  Newton 
in  einem  Dynamismus,  der  nietajjhysisch  und  physisch  zugleich  ist, 


I 


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A.    Kant  als  Naturforscher. 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


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mit  einander  auszusöhnen.  In  diesem  Sinne  gewinnt  Kants  AVort 
eine  weit  über  die  Unmittelbarkeit  liinausreichende  Bedeutung,  wenn 
er  sa^t :  „Ich  habe  mir  die  Bahn  schon  vor^ezeichnet,  die  ich  halten 
will.  Ich  werde  meinen  Lauf  antreten,  und  nichts  soll  mich  hindern, 
ihn  fortzusetzen"   (.S). 

So  enthält  also  KantsErstlingsschrift  gleichsam  zwischen  den  Zeilen 
bereits  das  Programm  seiner  ganzen  künftigen  Entwickelung. 
Man  wird  der  Bedeutung  dieser  Schrift  bei  weitem  nicht  gerecht, 
wenn  man  sie  in  einer  Darstellung  der  kantischen  Lehre  wegen  ihrer 
verfehlten  Lösung  des  Pro!)lems  der  Kräfteschätzung  mit  kurzen 
Worten  glaubt  abthun  zu  können.  Nicht  die  Art  und  Weise,  wie 
Kant  (bis  Probleu)  behand(dt,  auch  nicht  die  Einzelheiten  und  die 
uns  heute  zumeist  ganz  wunderlich  vorkommenden  Unterscheidungen, 
die  er  zur  Lösung  desselben  vorbringt,  machen  den  pliilosophischen 
Wert  seiner  Erstlingssclirift  aus.  Der  letztere  beruht  viidmehr  in 
der  Idee  des  Dynamismus,  welche  dem  allen  zu  (irunde  liegt.  Dafs 
es  solange  an  einem  einheitlichen  Leitfaden  gemangelt  hat,  um  sich 
durch  die  grofse  Zahl  von  Kants  Schriften  hindurchzuiinden,  und 
dafs  auch  heute  über  deninneren  Verlauf  seiner  Gedankenentwickelung 
die  Meinungen  noch  vielfach  auseinandergehen,  dies  hat  nicht  zum 
wenigsten  darin  seinen  Grund,  w^eil  man  bisher  seiner  Schritt  über 
das  JVlafs  der  Kräfteschätzung  eine  viel  zu  geringe  Beachtung  ge- 
schenkt hat.  Es  wird  sich  zeigen,  wie  die  Rekonstruktion  jener 
Entwickelung  sich  verhältnismäfsig  leicht  vollziehen  und  das  Bild 
der  letzteren  als  eine  gerade  aufsteigende  Linie  sich  darstellen  läfst, 
sobald  man  das  treibende  Prinzip  seines  Gedankenfortscbritts  in 
den  Dvnamismus  setzt^  dem  Kant  der  abstrakt  mechanischen  Natur- 
anschauung gegenüber  bestrebt  ist,   zum  Siege  zu  verhelfen.   — 

Dafs  die  Naturwissenschaft  durch  die  Annahme  einer  dynamischen 
Theorie  der  Materie  keine  Einbufse  erleidet,  dafs  vielmehr  gerade 
eine  naturwissenschaftliche,  d.  h.  rein  mechanische,  Erklärung  für 
die  Entstehung  des  Weltgebäudes  nur  auf  (-irrund  dynamischer 
Prinzipien  möglich  ist,  davon  hat  Kant  den  Beweis  in  einer  Schrift 
geliefert,  die  er  neun  Jahre  nach  jener  Erstlingsschrift  unter  dem 
Titel :  ,.  A  1 1  g  e  m  e  i  n  e  Naturgeschichte  und  Theorie  des 
H i  m m  e  1  s  o d  e r  V  ersuch  von  de r  V e  r  f  a  s s u  n g  und  d e m 
mechanischen  U  r  s  j)  r  u  n  g  e  des  ganzen  W  e  1 1  g  e  b  ä  u  d  e  s , 
nach  n  e  w  t  o  n  s  c  h  e  n  G  r  u  n  d  s  ä  t  z  e  n  a  b  gehandelt''  als  Frucht 
seiner  eingehenden  naturwissenschaftlichen  und  j)hilosophischen  Studien 
im  Jahre  ITf):")  veröffentlicht  hat.  Kant  hat  derselben  stets  eine 
besondere  Wichtigkeit  beigemessen,  wie  daraus  hervorgeht,  dafs  er 
durch    G  e  n  s  i  c  h  e  n    einen   Auszug   aus   ihr   hat   anfertigen    lassen, 


den  er  einer  17J)1  erschienenen  Übersetzung  der  Abhandhing 
William  Her  seh  eis  über  den  Bau  des  Himmels  beigefügt  hat. 
Auch  hat  er  seine  Hypothese  über  die  mechanische  Entstehung  des 
Weltgebäudes  in  seiner  Schrift  über  den  „Einzig  möglichen  Beweis- 
grund zu  einer  Demonstration  des  Daseins  Gottes*'  vom  Jalire  1703 
in  kürzerer  und  fafslicherer  Weise  dargestellt  und  sich  zeitlebims 
gern  jenes  ersten  bedeutenderen  Werkes  erinnert,  wodurch  er 
seinen  Namen  mit  unauslöschliclien  Zügen  in  die  Geschiciite  der 
Astronomie  eingetragen  liat. 

Copernicus  hatte  die  ])tolemäische  Ansicht  über  die  Kon- 
struktion des  Weltgebäudes  in  ihrem  Fun(hnnent  gestürzt  und  der 
Erde,  die  bis  dahin  für  dessen  ]\Iittelpunkt  gegolten  hatte,  ihre 
excentrische  Stellung  im  System  angewiesen.  Keppler  hatte  so- 
dann in  den  drei  nach  ihm  benannten  Gesetzen  die  Art  und  Weise, 
in  welcher  die  Planeten  sich  um  ihren  wahren  ]\rittelpunkt  bewegen, 
sowie  das  thatsächliche  Verh.ältnis  gefunden,  wie  es  zwischen  dem 
Abstand  der  Planeten  von  der  Sonne  und  der  Schnelligkeit  ihres 
Laufes  liesteht.  Dem  Scharfsinne  Newtons  endHcb  war  es  vor- 
behalten gewesen,  das  ])hysikalische  Prinzij)  jener  Kegeln  in  dem 
Grundgesetz  der  Gravitation  zu  entdecken,  nach  welchem  die  Welt- 
k(irj)er  sich  proportional  ihren  Massen  und  umgekehrt  j)roj)()rtional 
ihren  Entfernungen  anziehen;  er  hatte  damit  den  unumstöfsliclien 
Nachweis  geliefert,  dafs.  w  e  nn  einmal  die  Planeten  in  eben  dieser  Ent- 
fernung vom  Centralkörper  eben  diese  bestimmte  Geschwindigkeit 
erhalten  haben,  sie  dann  auch  den  ke])})lerschen  Gesc^tzen  gemäfs 
um  die  Sonne  laufen  müssen.  Allein  wie  konnnen  die  Planeten 
dazu,  gerade  an  dieser  Stelle  eben  die  für  sie  notwendige  Ge- 
schwindigkeit zu  erhalten,  so  dafs  ihre  eigene  Scliwungkraft  der 
Anziehungskraft  der  Sonne  das  Gleichgewicht  hält?  Wie  erklärt 
es  sich,  (hifs  sie  vermöge  ihrer  innewohnenden  Trägheit  gerade  in 
dieser  Weise  um  ihren  31  ittel])unkt  kreisen?  Hier  hatte  Newton 
Halt  gemacht  und  sich  darauf  berufen,  Gott  habe  es  selbst  so  an- 
geordnet. An  diesen  Punkt  knüpft  Kant  seine  kosmogonischen 
Untersuchungen  an,  um  „das  Systematische,  welches  die  grofsen 
Glieder  der  Schöpfuiig  in  dem  ganzen  Umfange  der  Unendlichkeit 
verbindet,  zu  entdecken,  die  Bildung  der  AVeltkörper  selber  und  den 
Ursprung  ihrer  Bewegungen  aus  dem  ersten  Zustande  der  Natur 
d  u  r  c  h  m  e  c  h  a  n  i  s  c  h  e  G  e  s  e  t  z  e  herzuleiten"   ( L  211). 

Das  scheint  ein  gewagtes  Unternehmen  zu  sein,  wenn  man 
bedenkt,  wie  der  Verstand  des  Menschen  an  den  geringsten  Dingen, 
die  ihm  täglich  und  in  der  Nähe  vorkommen,  oft  zu  Schanden 
wird.     Wie  sollte  es  nicht  vergeblich  sein,    das  Unermefsliche  und 


II 


16 


A.   Kant  als  Naturforscher. 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


'II 
II 


das,  was  in  der  Natur  vorging,  ehe  noch  eine  Welt  war,  zu  ent- 
decken !  Indessen  ist  wohl  unter  allen  Aufgaben  der  Naturforschung 
irgend  eine  mit  mehr  Dichtigkeit  und  Gewifsheit  gelöst  worden  als 
die  wahre  Verfassung  des  Weltbaues  im  grofsen.  die  Bewegungs- 
gesetze und  das  innere  Triebwerk  der  Undäufe  aller  Planeten? 
Einem  Newton  ist  es  gelungen,  hier  Einsichten  von  mathematischer 
Sicherheit  zu  eröffnen;  da  erscheint  es  auch  nicht  mehr  so  un- 
möglich über  den  Ursprung  des  Weltsystems  und  die  Erzeugung 
der  Himmelskörper  samt  den  Ursachen  ihrer  Bewegungen  etwas 
Bestimmtes  auszumachen.  ,, G  e  b  t  m  i  r  M  a  t  e  r  i  e  ,  ich  will  eine 
Welt  daraus  hauen  !^'  Das  ist  ein  Ausspruch,  der  vermessener 
klingt,  als  er  wirklich  ist. 

„Man  weii's/-  sagt  K;int,  „was  dazu  gelu)rt.  dafs  ein  K()rper  eine 
kugelrunde  Figur  erlange;  man  hegreift,  was  erfordert  wird, 
dafs  freischwebende  Kugeln  eine  kreisförmige  Bewegung  um  den 
Mittelpunkt  anstellen,  gegen  den  sie  gezogen  werden.  Die 
Stellung  der  Kreise  gegen  einander,  die  Übereinstimmung  der 
Richtung,  die  Excentrizitiit,  alles  kann  auf  die  einfachsten  meclia- 
nischen  Ursachen  gebracht  werden,  und  man  dai-f  mit  Zuversicht 
hoffen,  sie  zu  entdecken,  weil  sie  auf  die  leiclitesten  und  deutlichsten 
Gründe  gesetzt  werden  können.  Kann  man  aber  wohl  von  den 
geringsten  Pflanzen  oder  einem  Insekte  sich  solcher  Vorteile  rühmen? 
Ist  man  imstande,  zusagen:  gebt  mir  IVIaterie.  ich  will  euch  zeigen, 
wie  eine  Raupe  erzeugt  werden  könne?  Bleibt  man  hier  nicht  bei 
dem  ersten  Scliritte  aus  Unwissenheit  der  wahren  inneren  Be- 
schaffenheit des  Objekts  und  der  Verwickelung  der  in  demselben 
vorhandenen  Mannigfaltigkeit  stecken?  Man  darf  es  sich  also  nicht 
befremden  lassen,  wenn  ich  mich  unterstehe,  zu  sagen,  dafs  eher 
die  Bildung  aller  Himmelskörper,  die  Ursache  ihrer  Bewegungen, 
kurz,  der  Urs})rung  der  ganzen  gegenwärtigen  Vertassung  des  Welt- 
baues werde  können  eingesehen  werden,  ehe  die  Erzeugung  eines 
einzigen  Krauts  oder  einer  Raupe  aus  mechanischen  Gründen  deut- 
lich und  vollständig  kundwerden  wird*'  (IMI)  f.).  Man  darf  hoffen, 
der  ])hysische  Teil  der  Weltwissenschaft  werde  künftig  noch  einmal 
dieselbe  Vollkommenheit  erlangen,  zu  welchei'  Newton  die  mathe- 
matische Hälfte  derselben  erhoben  hat,  denn  neben  den  allgemeinen 
Gesetzen  der  Verfassung  des  Weltbaues  sind  vielleicht  in  der 
ganzen  Naturforschung  keine  anderen  solcher  mathematischen 
Bestimmungen  fähig,  als  diejenigen,  nach  welchen  er  entstanden 
ist  (220). 

Allein  hier  türmt  sich  v'm  anderes  Bedenken  auf.  AVenn 
diese  ganze  wunderbare  Harmonie  des  Kosmos,    die  stets  für  einen 


r 


Beweis  der  göttlichen  Allmacht  und  Weisheit  gegolten  hat,  nichts 
weiter  ist  als  das  Produkt  blinder  Kräfte,  wenn  sich  die  Voll- 
kommenheit des  Weltbaues  aus  den  natürlichen  Gesetzen  der  .Afaterie 
selbst  erklärt,  was  bleibt  für  die  göttliche  Vorsehung  noch  übrig, 
und  wodurch  unterscheidet  sich  eine  solche  Ansicht  von  dem  System 
des  R])ikur.  wonacli  die  Religion  eigenthch  für  überflüssig  erklärt 
und  an  die  Stelle  der  Gottheit  das  vernunftlose  Widerspiel  ungeistiger 
Atome  gesetzt  ist? 

Kant  ist  eifrig  bemüht,  die  Verträglichkeit  seiner  Kosmogonie  nnt 
der  Religion  nachzuweisen.      Die  Ähnlichkeit  seiner  Theorie  mit  der 
Ansicht   der   griechischen  Atomistiker  ist  nicht  zu  leugnen.     Allein 
diese  leiteten  die  Oi-dnung  des  Kosmos  aus  dem  ungefähren  Zufall  her. 
der  die  Atome  so  glücklich  zusammentreffen  liefs.  dafs  sie  ein  wohl- 
geordnetes Ganze  ausmachen,  ja.  sie  glaubten  sogar  die  organische  Welt 
ohne  weiteres  auf  die  anorganische  zurückführen  zu  köuinen.  Nach  Kant 
dageg(>n  ist  die  Materie  an  gewisse  Gesetze  gebunden,  „welchen  sie  frei 
überlassen,  notwendig  scheine  Verbindungen  hervorbringen  mufs.     Sie 
hat    keine    Freiheit,    von    diesem    Plane    der    Vollkommenheit   abzu- 
weichen.    Da  sie  also  sich  einer  höchst  weisen  Ahsicht  unterworfen 
heÜndet,    so   mufs    sie  notwendig    in    solche  übereinstimmende  Ver- 
hältnisse  durch    eine    über    sie    herrschende    erste  Ursache  versetzt 
worden  sein,    und  es  ist  ein  Gott    ehen  deswegen,    weil    die  Natur 
auch  selbst    im  Chaos  nicht   anders  als    regelmäfsig    und  ordentlich 
verfahren  kaiiir'    (217).     „Ich    erkenne",    sagt    daher    Kant,    ..den 
ganzen  Wei-t  derjenigen   Beweise,    die  man    aus  der  Schönheit    und 
vollkommenen     Anordnung    des    Weltbaues    zur    Bestätigung    eines 
höchst  weisen  Urhebers  zieht.    Allem  wenn  die  allgemeinen  AVirkungs- 
gesetze  der  Materie    gleichfalls  eine   Folge    aus  dem    höchsten  Ent- 
würfe sind,     so  können    sie  vermutlich    keine  andern  Bestimmuiigen 
haben  als  die.  dvn  Plan  seiher  zu  erfüllen  trachten,   den  die  höchste 
Weisheit    sich  vorgesetzt    hat''    (212f.j.     In    dieser  Weise  sucht  er 
m    Übereinstimmung    mit    Leibniz    und    Newton    die  Teleologie 
mit    dem  Mechanismus    zu  vereinigen,    und    man    mufs    einräumen, 
dafs  auf  dem  Boden    des  Deismus,    worauf  hier   Kant   noch   steht, 
eine   andere    Vereinigung  dieser  beiden  entgegengesetzten  Prinzipien 
nicht    wohl    denkbar    ist.       W\^nn    s])äter    Kant    in    seiner    „Kritik 
der   Urteilskraft"    dasselbe   Problem  in  einer  unendlich  viel  tieferen 
Weise    gelöst    hat,    so    war    dies    nur    auf   Grund   einer    vertieften 
Anschauung    über    das    Verhältnis    möglich,    wie    es    zwischen    Gott 
und  der   Welt  besteht. 

Wie    deidvt    sich    nun    Kant    die    mechanische    Entstehung    des 
Sonnensystems  oder  des  i)lanetischen  Weltbaus?    „Wenn  man  erwägt, 

D  r  ('  w  ft  ,  Kimtö  Naturphilosophie.  9 


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A.    Kant  als  Natui-forschor. 


A.    Knut   als  Naturforscher. 


19 


dafs    li  Planeten   mit    !)  ?)e,t,deiterii,*)    die  \\m    die  Sonne    als  ihren 
Mittelpnnkt  Kreise   l)eselireil)en.   alle  nach  einer  Soite  sich  bcwe-cn. 
lind  /wnr  nach  derjenigen,   nach  welcher  sich   die  Sonne   seiher  dreht, 
dafs  ihre    Kreise    nicht  weit  von   einer  -omeinen    Fläche    ahweielien, 
nämlich    von  dvv  verliln-erten  Ä(iuatorlläche  der  Sonne,   dal's  hei  .1(mi 
(entferntesten   der  znr  Sonncnwelt  «;ehöri^^en   Hininielski.rper.   wo   die 
gemeine  Ursache  dw  Hewei^nnn:  dem  Yermnten  nach  nicht   so  krättig 
^n'wesen  als  in  der  ^^ahheit  /um  iMitteljuinkte.  Ahweichnn.ircn  von  der 
Genauheit  dieser  Hestimmunften  statt,t,ndunden.   die  mit  dem  Man.^el 
der    eingedrückten    ]',ewegung     ein    genügsames    Verhiiltnis    hahen. 
wenn   man,    sage  ich,    allen    diesen   Zusammenhang  erwägt:   so  wird 
man   bewogen,   zu   ^lauhen,  dafs  eine  Ursache,   welche  es    auch   sei. 
einen  durchgängigen  Kinihils  in  dem  .ganzen  JJ:iume  dt>s  Systems  gehal»t 
liat   und   dal's  die  Einträchtigkeit  in   (h'r  Kichtung  un<l   Stellung  der 
]danetischen  Kreise  eine  Folge  der  fhereinstinimung  sei.  die  sie  alle 
mit  derjenigen  materialischen  Ursache  gehabt  liahen  müssen,  dadurch 
sie    in    liewegnng    gesetzt    worden"    (L^-iT)  f.).      Da    nun    der    l^aum 
zwischen   den    einzelnen    Planeten  gegenwältig   offenbar    leer  ist   und 
also  in  ihm    keine  iAIaterie  vorhanden    ist.    die  jene    gleichlT.rmigen 
Bewegungen    sollt(^   hervorgerufen   haben,     dennoch   ahcr    eine   natür- 
liche  Ursache   der  letzteren  gesucht   werden  mufs,  so  schliefst  Kant, 
dafs  eine  solche  lAlaterie  früher  einmal   .lagewesen  sei,   welche  die 
Bewei^ung     auf    alle    im   Kaume    betindlichen    Hiiumelski)ri)er    über- 
tragen   und   damit  die  Ursache  zur  Fntstehun-  di-s  Fhmetensystems 
geg'cd)en     habe.      Demnach    nimmt     er    an.    dafs    alle    Materie    der 
Körper    unserer  Sonnenwelt    im  Anfang    aHer  ])inge,    in  ihre    Fle- 
mente   aut*gel()st.   den  ganzen  Kaum  unseres  gegenwärtigen  l'laneten- 
systems  gleichsam  als  eine    ungeheure  Dunstkugel  erfüllte  und  dafs 
aus    diesem    einfachsten    Zustand    der    Natur,    als  dem    sog.    Chaos, 
sich  idle  anderen  Zustände  erst  herausgebildet    haben. 

Man  braucht  sich  nur  vorzusteUen.  die  Elemente  der  i\laterie  hätten 
hinsichtlich  ihrer  Schwere  unendlich  mannigfache  Unterschiede  darge- 
])Oten.  indem  z.  U.  diejenigen  unter  ihnen  von  grbfster  spezitischer 
Dichtigkeit  und  Anziehungskraft  an  und  für  sich  weniger  Kaum 
einnahmen,  auch  seltener  und  zerstreuter  als  die  leichteren  Arten 
waren,  so  ist  klar,  dafs  bei  einem  auf  solche  \Vvi<c  erfüllten  liaunie 
die  allgemeine  Kühe  nur  einen  Augenblick  dauern  konnte.  Die 
zerstreuten   P^lemente    dichterer  Art    sammeln    veiniittelst    der  An- 


*l  An  andorn  Stollen  s])riclit  Kant  von  (1  Planeten  (in.l  lo  he-leitern: 
Morkur,  Venus,  di.-  V.rdv  n.it  ilirm.  :\l<)n(li',  Mars.  Jupiter  mit  4  und  Saturn 
mit   5  Trabanten  (v<?l.  2.!0    31(1). 


Ziehung    aus    einer  Sphäre  rund    um    sich    alle  Materie  von  minder 
spezifisclier  S(diwere  an:    mit  diesen   vereinigt,   werden  sie  selbst   zu 
no(di     dichteren    hmgezogvn     und    so    fort.      Gäbe    es    in   der  Natur 
blofs  anziehende  Krä-f^te.   so  würde  mithin   alle  Materie  sich   schliefs- 
lich  zu  einem  einzigen  ungeheuren  Klnmj)ei]  zusammengeballt  haben. 
Nun  stofsen  sicli  aber  die  sämtlichen  in  J^>ewegung  betindlichen  kleinsten 
Tedchen    der   .ALtterie    zugleich    auch   ab.    und   durch    diese  Zurück- 
stofsungskraft.    ,die  sich   in    der    Flastizität  d.T  Dünste,    dem   Aus- 
flusse stark  riechender  K.'irp^^r  und  der  Ausbreitung  aller  geistigen 
Materien      offenbnrt.     und     die     ein     unstreitiges     Phänomenen     der 
Natur  ist.    werden   die  zu   ihren  Anzndiungspunkten  sinkenden    Ele- 
mente durch  einandei-  von  der  geradlinigten   Bewegung  seitwärts 
gelenkt,   und   der  senkrechte  Fall   schlägt  in  K  r  e  i  s  h  e  w  e  g  u  n  g  e  n 
aus,  die  den   .Mitteljiuiikt  der  Senkumr  umfassen"   ('2A')).      Denn  die 
erste  Folge  der  beiden  i.n.-en  einander  wirkenden  Kräfte  mao   zwar 
eine    allgemeine    AVirhelhewegum?    der    kleinsten    Teilchen   sein,    von 
denen  jedes    iuv  sich    krumme   Linien    durch    (He  Zusammensetzung 
der     anziehenden    und    der    seitwärts     gelenkten     U'mwendungskraft 
i)eschreibt:     diese    einander    widerstreitenden    und    sich    gegenseitig 
stfüviiden  Bewegungen   sind  doch   auf  alle   Weise  bestrebt,   einander 
zur  Gleichheit,   d.  li.   in   einen  Zu4and   zu   bringen,   wo  die  eine  der 
anderen    so    weni-    als    mr.glicli    hinderlich    ist:    dieser    Zustand    der 
kleinsten  Wirkung  aber  ist  dann  erreicht,  wenn  alle  Teilchen  in  parallel 
laufenden   und  gleich  gei-uditeten  Kreisbewegungen   um   den  Gentral- 
kdrjx'r  nls   ihren  I\f ittelpunkt  sich  ])ewegen.    Natürlich  vermdgen   nur 
diejenigen  Teilchen  in   diesen  freien  Kreisbewegungen  sich  schwebend 
zu   erhalten,    welche    durch    ihr  Fallen    und    durch   den    Widerstand 
der  anderen    eine    sohdie  Gescliwindigkeit    und    Bicditung    bekommen 
haben,     dafs    ihre   Schwungkraft    der    Anzieiiungskraft    das    Gleich- 
gewicht hiilt.      Diejenigen  jedoch,  die  eine  scdche  Genauit,rk«Mt  der  Be- 
stimmungen nicht  erhingen,    sinken  immer    tiefer  und  htben.    indem 
sie  die  Kreise  der  unteren   durchkreuzen,  in  den  allgemeinen  .Mittel- 
])unkt    der    Attraktion,     der    die    gWifste    Mengc^    von    Materie    um 
sich  versammelt  hat,  die  Sonne,  herab.    Jene  anderen  dagegc-n  müssen 
sich  in  einer  solchen   Weise  um  die  Sonne  bewegen,   dafs  alle   Um- 
läufe  mit    d(>r  Ebene    ihrer   Kreise    den  Mittelpunkt  der  Attiaktion 
durchschneiden.      Es    nähern   sich   fol-Iieh   alle  Teilchen   so   vicd.    wie 
mdgli(b,    eben  dieser  Ebene,    und  nur  diejenigen,    die  nicht  die  ge- 
hörige Nähe    erreichen  kr»nnen.    werden   schliefslich   ebentalls   in   die 
Sonne  herabgezogen. 

Jndem  nun  die  in  paralhden  Kreisen  in  einerund  derselben  Ebene 
nach  der  nämlichen  Kichtung  um  die  Sonne  sich  bewegenden  Elemente 


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*('  / 


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A.    Kant   als  Naturforscher. 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


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l 


„in  nicht  ^'ar  zu  ^rofsem  Unterschiede  des  Ahstandes  von  der  Sonne  ge- 
nommen, durch  die  Gleichheit  (U^r  paralkden  Bewe.i^^unp:  heinahe  in  re- 
spektiver  Rulie  ^egen  einander  sind,  so  thut  die  Anziehung  der  daselhst 
hetindlichen  Elemente  von  iiherti-effender  spe/itischei'  Attraktion  so- 
gleich hier  eine  heträchtliche  Wirkung"  :  sie  sammelt  die  nächsten  Par- 
tikeln zur  Bildung  eines  Kr)r])ers,  der  nach  dem  Mafse  seines  AVachstums 
innner  entferntere  Elemente  an  sich  zieht,  und  diese  so  entstandenen 
Körper  sind  ehen  die  Phmeten.  die  folglich  ehenso,  wie  die  Eh'iiiente, 
aus  denen  sie  sich  gehihlet  hahen,  in  der  gleichen  Hahn,  der  gleichen 
Ehene,  der  gleichen  Kichtuiig  um  die  Sonne  schwingen.  Dal's  die 
Planeten  in  Wirklic-hkcit  nicht  t)lol's  von  der  regelmäfsigen  Kreis- 
form, sondern  auch  von  der  gemeinsanuMi  Beziehungsehene  etwas 
ahweichen,  ciklärt  sich  aus  den  Unterschieden  der  Geschwindigkeit, 
die  zwischen  den  aus  weiter  Ferne  zur  Bildung  der  Phmeten 
zusammenschiefsenden  Elementen  hesteht,  sowie  daraus,  (hil's  ihre 
Beschränkung  auf  eine  Ebene  docli  immer  nur  eine  annähernde  sein 
kann  (L>4()— ^f):;).  Es  ist  aber  leicht  einzusehen,  dafs,  wie  um  die 
Sonne  die  Planeten,  in  derselben  Weise  sich  aneh  die  Monde  um  die 
Planeten  gebihh't  haben  ('J()7  If.).  ja.  die  Analogie  gestattet  uns 
sogar  die  Annahnn^,  auch  die  Fixsternwelten,  deren  systematischen 
Charakter  Kant  festgestellt  hat,  und  unter  denen  sich  die  Milch- 
strafse  zu  unserem  Sonnensystem  ganz  ehenso,  wie  die  Planeten  zur 
Sonne,  verhält  (L>:;4— LM4),  seien  auf  die  gleiche  Art,  wie  unser 
Soiniensystem,  aus  den  kleinsten  Teilchen  der  den  leeren  llaum 
erfüllenden  elementarisclien   Materie  entstanden  (289). 

Es  mul's  einer  (-ieschichte  der  Naturwisse^nschaft,  insbesondere 
der  Astnmcmiie  überlassen  l)leiben,  die  näheren  Details  der  kantisehen 
Theorie  des  Himmels  darzulegen,  seine  scharfsinnige  Hyj)othese 
üher  das  Milchstrafsensystem  und  die  systematische  Verfassung  unter 
den  Fixsternen,  wie  sie  in  ähnlicher  AVeise  sechs  dahre  später 
von  Lambert  in  seinen  ,.Kosmologischen  Briefen  über  die  Ein- 
richtung des  Weltbaues-'  (liiil)  ohne  Kenntnis  der  Ideen  Kants 
ausges[)rochen  und  später  von  Herschel  bestätigt  wurde,  einer 
näheren  Würdigung  zu  unterziehen.  Es  kann  hier  nicht  der 
Ort  sein,  die  Schlüsse,  die  er  aus  seiner  kosmogonischen  (irund- 
annahme  gezogen  hat,  und  welche  die  verschiedene  Dichtigkeit 
der  Planeten  und  das  Verhältnis  ihrer  Massen,  die  Excentrizität 
der  Planetenkreise  und  den  Ursprung  der  Kometen,  die  Entstehung 
des  Saturnringes,  die  tägliche  Umdrehung  des  Saturns,  das  Zodiakal- 
licht  u.  s.  w.  betreifen,  zu  i)rüfen  und  mit  den  Ergebnissen  der 
heutigen  Wissenschaft  zu  vergleichen.  Eine  solche  Darlegung  wird 
das  überraschende  liesultat  gewinnen,  dafs,  wenn  man  von  manchem 


Veralteten    absieht,    wie  es    bei    dem    damaligen  Stande    der    astro- 
nomischen    Kenntnis     nur     selbstverständlich     ist,     gar     vieles,     ja. 
vielleicht    das  Meiste    von  dem.    was  Kant    gelehrt    hat,    durch  die 
spätere  Forschung  bestätigt  worden   und  heute  in   der  Wissenschaft 
in  vollem  Ansehn  steht.*)     Uns  interessiert  lediglich  der  philosophische 
Grundgedanke    Kants,     aus    dem     heraus    er    seine    kosmogonische 
Hypothese    entwickelt    hat.     seine    Annahme,    dafs    dieser    Weltbau 
nicht  auf  einen  unmittell)aren  Machtspruch  des  Gottscluipfers  zurück- 
zuführen,   sondern     nach    den     allgemeinen     und    bekannten    Natur- 
gesetzen durch  kausalen  Mechanismus    aus  dem  Chaos  sich  heraus- 
gebildet habe.      Dafs   er  es  gewagt  hat,    dieses  Erkläiungsprinzij)  hei 
einem  Gegenstande  anzuwenden,    der,    wie    kaum  ein    ainh^rer,  sich 
demselben  zu    entziehen  schien,  damit    hat  Kant    einen    ungeheuren 
Schritt  vorwärts  nicht  blofs  in  der  Naturwissenschaft,  sondern  auch 
in  der  Philosoi)hie  gethan ;    bemerkt  er  doch  mit  Hecht,   es  sei  für 
einen  Philosoplien  eine  ,. betrübte  Entschliefsung,  bei  einer  zusammen- 
gesetzten und  noch  weit  von  den  einfachen  Grundgesetzen  entfernten 
Beschahenheit  die  Bemühung  der  Untersuchung  aufzugeben  und  sich 
(wie  Newton)  mit  der  Anführung  des  unmittelbaren  Willens  Gottes 
zu   begnügen"   (8.20). 

Man  hatte  bekanntlich  lange  keine  Almung  davon,  dafs  eine  ganz 
ähnliche  Hypothese,  wie  diejiMiige,  die  La  place  am  Schlüsse  seiner 
berühmten   ,.  Exposition   du  Systeme  du  monde''  (IT})!))  über  die  Ent- 
stehung des  Blanetensystems  aus  einer  um  ihre  Axe  rotierenden  Diinst- 
kugel  aufgestellt  hatte,  fast  ein  halbes  .Jahrhundert  früher  bereits  von 
Kant  entwickelt  wäre.     Es  bedurfte  erst  mannigfacher  Hinweise  aut' 
Kants  naturwissenschaftliches  Genie,  wie  sie  von  Alexandei-  v,  Hum- 
boldt in  seinem  „Kosmos-',  von  Ijittrow  in  seinem  i)ekannten  Werke 
über  die  „Wunder  des  Himmels",  insbesondere  aber  auch  vonScho])en- 
hauer  in  den   ..Parerga   und  Paralipomena"   (Bd.    II)  und    M  e  1  m - 
holtz  in  seiner  Rede  ..Über  die   Wechselwirkung  der  Xaturkräfte*' 
(1804),    sowie    von    Kuno   Fischer    im   dritten    Bande    der  ..Ge- 
schichten  der  neueren   Philosophie"   (1(S()0)    gegel)en   wurden,    um   die 
Augen  der  gebildeten  Welt  wieder  auf  den  ersten   Entdecker  jener 
Theorie  zurückzuwenden.     Heute  aber,  nachdem  auch  Zöllner  in 
seinen     „Photometrischen     Untersuchungen"     (hSt);'))     sich     für    jene 
Hypothese    erklärt    und    hier,    sowie    in    seiner    berühmten    Schrift 
„Über  die  Natur   der  Kometen"  (1(S72)    die   Verdienste   Kants    um 

*i  \\i\.  hieiühiT  dir  frehaltvolle  Al)haii(llunfr  Rouschles  ü])er  „Kant  und 
die  Naturwissenschaft  mit  hes.  Rücksicht  auf  neuere  Forschungen"  in  der 
„Deutschen  Vierteljahrsschrift"  18i;,s.  Heft  II,  Ahtlg.  I.  S^»— J02.  Ehenso: 
.J.  H.  V.  Kirchmajin:   ErUiuterunn^en /u  Kants  Schriften  zur  Xatur})l)ilos(>})liie. 


22 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


23 


>    \  t 


iii 


die  Naturwissenschaft  ins  rechte  Licht  gestellt  hat.  heute  ist  die 
sogenannte  K  a  n  t  -  L  a  p  la  ce  s  e  h  e  N  e  b  u  1  a  r  h  y  p  o  t  h  e  s  e  so  allge- 
mein anerkannt,  dal's  sie  geradezu  eirien  lesten  Bestainlteil  der 
modernen   i^ihlnng  darstellt.  ^ 

Wie  einfaeh  und  nahelic^gcnd  übrigens  diese  Hypothese  ist,  wo- 
durch sie  auch  den  Yoriang  üi)er  alle  anderen  Theorien  der  Planeten- 
bildung sich  errungen,  das  geht  unter  anderem  daraus  hervor,  dals 
auch  Laplaee.  viUlig  unabhängig  von  Kant,  aus  ganz  der  nändichen 
Voraussetzung  zu  ihr  «gekommen  ist.  Auf  diese  interessante  Über- 
einstimmung im  (Tedankengange  beider  Männer  hat  zuerst  ()  tto  Lieb- 
mann aufmerksam  gemacht.'"^)  Aus  der  gleichförn.igiMi  Umdrehung 
der  Planeten  in  der  Khene  des  Sonnenä(juators  sehliefsen  beide  auf  eine 
gemeinschaflliche  Ursache.  Kein  A\'under!  bei  IJuffon.  den  Kant 
sowohl,  wie  auch  La])lace.  gekannt  haben,  findet  sieh  in  dessen 
„Histoire  naturelle"  (17r)())  der  nämliche  Gcuhmke  ausgesprochen,  und 
bereits  bei  Newton  in  seinen  ..^lathematischen  Prinzipien  der  Natur- 
l)hilosophie"  heifst  es:  ,.  Planetae  sex  j)rincipales  revolvuntur  circa  Solem 
in  circulis  Soli  eoncentricis,  eadem  motus  directione  in  eodem  piano 
(|uamj)roxime.  Lnnae  dec(Mn  revolvuntur  circum  Tcrram,  Tovem  et 
Saturnum  in  circulis  concentricis,  eadem  motus  directione.  in  i)lanis 
orbium  Planetarum  (juamproxime.  Lt  hi  omnes  motus  reguläres 
originem  non  habent  ex  causis  niechanicis.  Klegantissima  liaecce 
Solls,  Planetarum  et  cometarum  compages  non  nisi  consilio  et  dominio 
Entis  intelligentis  et  potentis  oriri  potuit.*'**)  Ks  be(hjrfte  also 
nur  einer  Deutung  der  von  Newton  gtdieferten  Piämisstn  in 
natur\vissenschaftli<diem  Sinne,  um  die  richtige  Erklärung  der 
Phmetenentstehung  zu  linden.  Huffon  verfehlte  dieselbe,  imh-m  er 
annahm  ,  ein  Komet  habe  die  Sonne  gestrc^ift  und  ein  Stih'k 
von  ihr  los.i^crissen,  woraus  sich  alsdann  die  JManeten  gehildct 
hätten.  Kant  und  Laj)lace  haben  unabhängi.i,^  von  eimunh'r  diMi 
richtigen  Schlufs  giv.ogen.  und  damit  ist.  wie  Liei)mann  treffend 
bemerkt,  der  logische  Gedankenzusammenhang  tlurch  den  historisciien 
ergänzt   worden. 

Was  nun  die  Prinzii)ien  anbetrifft,  aus  denen  heraus  Kant  seine 
kosmogonische  Hyi)othese  entwickelt  hat.  so  sind  es  die  in  seiner 
Eistlingsschrift  bereits  angedeuten,  durch  (h'ren  Annahme  er  die  rein 
mechanische  Naturbetrachtung  zur  dynamischen  umgestalten  wollte. 
„Ich  habe'',  bemerkt  er  selbst,  ,.keine  anderen  Kräft(^  als  die  An- 
ziehungs-    und  Z  u  r  ü  c  k  s  t  o  f  s  u  n  gs  k  r  a  f  t    (an   anderen   Stellen 

*)   Philos.   Monatshefte   Bd.    IX    (I.^T.T).     L>46  — 'Jnl. 
**)   1  s.   N(>\vt<)iii:   Opera;   edit.   Horsley  (1782j.      171. 


I 
f    I 

I    I 


Spricht  Kant  auch  von  einer  ..sinkenden*'  und  einer  ..schiefsenden'' 
Krait;  'J.'>l)  f.  .')l(i)  zur  P]ntwickelung  der  grofsen  Ordnung  der  Natur 
angewandt,  zwei  Kräfte,  welche  beule  gleich  gewil's,  gleich  einfach 
und  zugleich  gleich  ursprünglich  und  allgemein  sind.  Beide  sind 
a  u  s  d  er  n  e  w  t  o  n  s  c  h  e  n  W  e  1 1  w  e  i  s  h  e  1 1  e  n  1 1  e  h  n  t.  Die  erstere 
ist  ein  nuniiiehr  aufser  Zweifel  gestelltes  Naturgesetz.  Die  zweite, 
welcher  vielleicht  die  Naturwissenschaft  des  Newton  nicht  soviel 
Deutli(dd^eit  als  der  ersteren  gewähren  kann,  nehme  ich  hier  nur 
in  demjenigen  Verstände  an,  da  sie  niemand  in  Abrede  stellt, 
nämlich  l)ei  dov  feinst(Mi  Auflösung  der  Materie,  wie  z.  E.  bei  den 
Dünsten*'  ('J24).  y,iy\('  Anziehung  ist  ohne  Zweifel  eine  ebenso  weit 
ausg(Ml(dinte  ßigenscdiaft  der  ^laterie,  als  die  Koexistenz,  welche 
d  e  n  R  a  u  m  m  a  cht,  indem  sie  die  Substanzen  d  u  r  c  li 
gegenseitige  xAb  hä  n  gig  k  ei  te  n  v  e  i- b  i  n  d  e  t .  oder,  eigent- 
licher zu  reilen:  die  Anziehung  ist  eben  diese  allgemeine  Beziehung, 
welche  die  Teile  dor  Natur  in  einem  Räume  vereinigt;  sie  erstreckt 
sich  also  auf  die  ganze  Ausdehnung  desselben  bis  in  alle  Weiten 
ihrer  Unendliiddceit'^  ('JJJl).  Die  Anziehung  ist  „eher  als  alle  Be- 
wegung*', sie  ist  die  ,.urs))rüngliche  Bewegungsquelle*',  „die  keiner 
frennlen  Ursachen  bedarf,  auch  durch  keine  Hindernisse  kann  aufge- 
halten werden,  weil  sie  in  das  Innerste  der  Materie  ohne  einigen  Stofs 
selbst  bei  der  allgemeinen  Buhe  der  Natur  wirkt.*'  Dei-  unermefs- 
lichen  Entferimngen  ungeachtet,  hat  sie  im  Aid'ang  der  Regung 
der  Natur  dvn  üherall  hin  zerstreuten  Stotf  zu  eigenen  Kcirpern  ge- 
sammelt und  ist  ebenso  die  l'rsache  ihrer  systematischen  \^'rl)indung, 
wie  der  dauerhaften  Beständigkeit  ihrer  (Trlieder,  welche  sie  vor  dem 
Yerfalh;  sichert  {e\)d.  f.). 

„Wenn  nun  alle  Welten  und  Weltordnungen  dieselbe  Art 
ihres  Uisprunges  erkeimen  lassen,  wenn  die  Anziehung  unbeschränkt 
und  allgenn^in.  die  Zurückstofsung  der  Elemente  aber  ebenfalls 
durchgehends  wirksam,  wenn  bei  ileni  Unendlichen  das  (Irofse  und 
Kleine  beiderseits  klein  ist;  sollten  nicht  alle  die  Weltgebäude 
gleichermafsen  eine  beziehende  Verfassung  und  systematische  \er- 
bindung  unter  einander  angenommen  haben,  als  die  liimmelskiirper 
unserer  Sonnenwidt  im  Kleinen,  wie  Saturn.  .Jupiter  und  die  Erde, 
die  für  sich  insoiulerheit  Systeme  sind  und  dennoch  untereinander 
als  Glieder  in  einem  noch  gröfseren  zusammenhängen?"  Li  der 
That  k(>nnen  wir  nicht  zweifeln,  dafs  der  gesamte  Kosmos  ein 
einziges  grofses  System  ausmacht,  in  welchem  alle  Glieder  untt^r- 
einander  zusammenhängen  und  vielleicht  auf  einen  allgemeinen 
Mittelpunkt  bezogen  sind.  Es  läfst  sich  freilich  schwer  mit  dieser 
Annahme  vereinigen,    dafs   Kant   die  Schöpfung  dem  Räume 


24 


A.    Kant  als  Naturforschor. 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


'  \     \ 


nach  als  unendlich  ansieht,  weil  es  ungereimt  wäre,  die  Gott- 
heit nur  mit  einem  unendlich  kleinen  Teile  ihres  schöpferischen 
Vermögens  in  AVirksamkeit  zu  setzen  und  ihre  unendliche  Kraft, 
den  Schatz  einer  wahren  llnermefslichkeit  von  Naturen  und  Welten, 
unthätig  und  in  einem  ewigen  Mangel  der  Ausübung  verschlossen 
sich  zu  denken.  „Man  kommt  der  Unendlichkeit  der  Schöpfungs- 
kraft Gottes  nicht  näher,  wenn  man  den  Kaum  ihrer  Offenbarung 
in  einer  Sphäre,  mit  dem  Radius  der  Milchstrafse  beschrieben, 
einschliefst,  als  wenn  man  ihn  in  eine  Kugel  beschränken  will,  die 
einen  Zoll  im  Durchmesser  hat.  Alles,  was  endlich,  was  seine 
Schranken  und  ein  bestimmtes  Verhältnis  zur  Einheit  hat.  ist  von 
dem  Unendlichen  gleich  weit  entfernt"  ('J})'J).  Soll  die  Scli()j)fung 
wirklicli  ein  Zeugnis  der  göttlichen  Allmacht  sein,  so  kann  sie 
folglich  allen  gegenteiligen  Ansichten  der  Metaphysiker  zum  Trotz 
auch  nur  als  dem  liaume  nacb  unendlich  geda(;ht  werden:  denn  die 
Ewigkeit  für  sich  allein  ist  nicht  hinreichend,  die  Zeugnisse,  des 
höchsten  Wesens  zu  fassen,  wofern  sie  nicht  mit  der  Unendlichkeit 
des  Eaumes  verbunden  ist.  Ist  aber  der  Kaum  unendlicb  und  ge- 
schieht die  Ausbildung,  die  Rntwickelung  des  Weltbaues  in  der 
Zeit,  d.  h.  ist  die  Materie  nicht  von  Anbeginn  auch  sclion  geformt, 
sondern  schliefst  sie  die  verschiedenen  Stadien  der  Entwicklung 
nur  erst  der  Möglichkeit  nach  in  sich,  dann  mufs  von  jenem  oben 
erwähnten  Mittelj)unkte  der  Attraktion  des  Universums  aus,  an 
welchem  die  Entwickelung  begonnen  hat,  diu  Schöpfung  sich 
successive  weiter  und  immer  weiter  ausgebreitet  haben. 

Eine  streng  wissenschaftliche  Betrachtung  giebt  uns  freilich  nur 
Aufschlufs  über  die  Entwickelung  des  Planetensystems  und  h()clistens 
noch  des  Fixsternhimmels,  und  Kant  selbst  bemerkt:  „Ich  bin  den 
Folgen,  die  meine  Tlieorie  darbietet,  nicht  so  sehr  ergeben,  dal's 
ich  nicht  erkennen  sollte,  wie  die  M  utma  fsung  von  der  successiven 
Ausbreitung  der  Scluipfung  durch  die  unendlichen  Käume,  die  den 
Stoö'  dazu  in  sich  fassen,  den  Einwurf  der  Unerweisliclikeit  nicht 
völlig  ablehnen  könne.  Indessen  verspreche  ich  mir  doch  von  den- 
jenigen, welche  die  Grade  der  Wahrscheinlichkeit  zu  schätzen  im- 
stande sind,  dafs  eine  solclie  Karte  der  Unendlichkeit,  ob  sie  gleich 
einen  Vorwurf  begreift,  der  bestimmt  zu  sein  scheint,  dem  mensch- 
lichen Verstände  auf  ewig  verborgen  zu  sein,  niciit  um  deswillen 
sofort  als  ein  Hirngespinst  werde  angesehen  werden,  vornehndich 
wenn  man  die  Analogie  zu  Hilfe  nimmt,  welche  uns  allemal  in 
solchen  Fällen  leiten  mufs,  wo  dem  Verstände  der  Faden  der  un- 
trüglichen Beweise  mangelt''  (21)8).  Es  ist  die  Einbildungskraft, 
die  sich  über  die  (Frenzen    des  wissenschaftlich  Er  fahr  baren   erhebt 


1 
I 


und  dem  unvollendeten  Bilde  einen  Abschlufs  giebt,  der  allein  erst 
das  Gemüt  durch  den  Gedanken  der  Übereinstimmung  aller  Teile 
in  der  Welt  befriedigt. 

Angenommen,  die  Schöpfung  habe  von  ehiem  bestimmten  Punkte 
aus,  als  dem  (3rte  der  dichtesten  Häufung  der  Materie,  sich  successive 
immer  weiter    und  weiter  ausgehreitet,    diese  Materie  sei  unendlich 
und    die    Zeit,    darin    sie    sich    entwickelt,    sei  ebenfalls    unendlich, 
so    kann    die    Sphäre    der    ausgebildeten    Natur    allemal    nur  einen 
unendlich    kleinen    Teil    desjenigen    Inbegriffs    darstellen,    der    den 
Samen  zukünftiger  Welten  in  sich  trägt    und    sich    aus  dem  rohen 
Zustande    dt^r    Materie    in    längeren    oder    kürzeren   Perioden    aus- 
zuwickeln trachtet.     „Wenn  wir  eine  gewisse  Sphäre  überschreiten 
könnten,    würden   wir  daselbst   das  Chaos    und  die  Zerstreuung  der 
Elemente  erblicken,    die   nach  dem  Mafse,    als  sie  sich  dem   Mittel- 
l)unkte  näher  befinden,  den  rohen   Zustand  zum  Ted  verlassen  und 
der  Vollkommenheit  der  Ausbildung  näher  sind,    mit    den    Graden 
der    Entfernung    aber    sich    nacii    und    nach    in  einer  völligen  Zer- 
streuung verlieren.      Wir  würden   sehen,     wie  der  unendliche  J\aum 
der    g()ttli(^lien    Gegenwart,    darin    der   Vorrat    zu   allen  möglichen 
Naturbildungen  anzutreffen  ist,   in  einer  stillen  Xacht   begraben,   voll 
von   Materie  ist,    den   künftig  zu   erzeugenden   Welten   zum  Stoff*»  zu 
dienen,  und   von   Trit^-bledern.   sie  in    Bewegung  zu   bringen,   die  mit 
einer  schwachen  Kegung    diejenigen  Bewegungen    anfangen,    womit 
die   Unermefslichkeit  dieser  öden  Räume  dereinst    noch    soll    bidebt 
werden.      Es    ist    vielleicht    eine    I^eihc    von  Millionen  dahrcn    und 
dahrliunderten    verilossen,    die    die    Sphäre    der    gebildeten  Natur, 
darin    wir    uns  befinden,    zu  der  Vollkommenheit  gediehen  ist.    di(^ 
ihr  jetzt  beiwohnt:   und  es   wird   vielleicht  eine  ebenso  lange  Periode 
vergehen,   bis   die  Natur  einen   ebenso  weiten   Schritt  in   dem  Cliaos 
thut.      Es  werden  ^Millionen  und  ganze  Gebirge   von  Millionen  Jalir- 
hunderten   veriliefscn.   binnen  welchen  immer  neue  Welten  und  Welt- 
ordnungen  nach  einander  in   den   entfernten  Weiten   von  dem  Mittel- 
punkte   der    Natur    sich   bdilcii     und   zur   Vollkonimeidieit  gehingen 
werden;    allein  die  Schöpfung  ist  niemals  vollendet.     Sie  hat  zwar 
angefangen,    aber    sie    wird    niemals   aufhören.      Sie  ist  immer  ge- 
schäftig,   mehr  Auftritte  der  Natur,    neue   Dinge  und   neue   Welten 
hervorzubringen.     Das   Werk,    welches  sie  zustande  bringt,   hat  ein 
Verhältnis  zu   der  Zeit,   die  sie  darauf  anwendet.     Sie  braucht  nichts 
weniger    als    eine    Ewigkeit,    um    die  ganze    grenzenlose   Weite  der 
unendlichen  Käume    mit   Welten   ohne  Zabl    und  ohne  Ende  anzu- 
füllen" (211(3  f.). 

L)ie    Fruchtbarkeit    der    Natur    ist    ohne  Schrank(Mi.    weil  sie 


V 


2G 


A,     Kant  als   Xaturfors(;her. 


A     Kant  als  Naturforscher. 


27 


'    I 


iiit'lits  Anderes  als  die  Aiisiibuii^^  (\vv  miittliclien  Allniaelit  seiher  ist. 
„Uiiziiidi^M'  Tiere  und  I Plauzen  werdi  n  täiilicli  /erstöi-t  und  sind 
ein  Opfer  (Ki-  \'ei'^än,i]jli('hkeit :  aliei*  nicht  \veni,i]^er  bringt  die  Natur 
durch  ein  unerschiipltes  Zeu,u;un^svernH"),i{en  an  anderen  Orten 
wieih'rnm  hervor  und  l'idlt  (his  Leere  aus.  lietriichtliche  Stücke 
des  Erdhodens,  den  wir  hewohnen,  werden  wiederum  in  d(»m  Meere 
hej^rahen,  aus  dem  sie  eine  ,:,dinstit^e  Periode  liervor»^ez()«^en  hatte; 
al)er  an  anderen  Orten  er^iinzt  die  Natnr  (Kmi  Man<^^el  und  hrini't 
andere  Gegenden  hervor,  die  in  der  Tiefe  (h's  Wassers  verhornen 
Wiiren.  um  neue  Keichtümer  ihren*  Fruchtbarkeit  über  dieselben 
auszubreiten.  Auf  die  gleiclie  Xvi  ver,^ehen  Welten  und  Wclt- 
or(hiungen  und  werden  von  dem  Abirrunde  der  Ewigkeit  ver- 
schlungen; dagegen  ist  die  Schöpfung  immerfort  geschäftig,  in 
anderen  HimmelsgegeniU'n  neue  Bihlungen  zu  vei'richten  und  (Um 
Abgang  mit   Vorteil  zu  ergänzen*'   ("J!)ll  f.). 

,,Man  darf  nicht  erstaunen,  selbst  in  (hau  Oi'ol'scn  der  \\  crke 
Gottes  eine  Vergängbchkeit  zu  verstatten.  AHcs,  was  emllich  ist, 
was  einen  Anfang  und  lh•^j)rung  hat.  hat  (bis  Merkmal  seiner  ein- 
geschränkten Natur  in  sich;  es  mufs  vci'gelien  und  ein  Knde  haben. 
Newton,  dieser  grofse  Bewunderer  (ha*  Eigenschaften  (lottes  aus 
der  Vollkommenheit  seiner  Werke,  der  mit  der  tiel'sten  Kin>icht 
in  die  Trefflichkeit  der  Natur  die  gr(ifste  Khrfurcht  gegen  die 
Offenbarung  der  gbttlichen  Allmacht  verband,  sah  sich  irenötigt, 
der  Natur  ihren  Verfall  durch  den  natürlichen  Hang,  den  (he 
Mechanik  der  I^ewegung  dazu  hat,  vorbei"  zu  vta"kündigen.  Wenn 
eine  systematische  Verfassung  durch  die  wesentlicln^  Folge  (Ua* 
Hinfälligkeit  in  grofsen  Zeitläui'en  auch  den  allerkleinsten  Teil,  den 
man  sich  nur  denken  mag.  dem  Zustande  ihrer  Verwirrung  nähert, 
so  mufs  in  dem  iniendlichen  Ablaufe  der  Fwigkeit  doch  ein  Zeit- 
punkt sein,  da  diese  allmähliche  V^erminderung  alle  Hewe^nnig 
erschö[)ft  hat"  (.)()()).  Wahrscheinlich  wird  diese  Zerstöruni^  bei 
denjenigen  K()rpern  beginnen,  die  sich  dtan  J\Iittelj)unkt  des  Welt- 
alls am  nächsten  befinden,  sowie  auch  bei  ihnen  die  Frz(aiuung 
und  Bildung  angefangen  hat:  von  hier  wird  sie  nach  und  nach  in  weitere 
Entfernungen  sich  ausbreiten,  um  schliefslich  die  ganze  Welt  in 
einem  einzigiai  Obaos  zu  hegrjdaai.  Die  ausgebildete  Welt  be- 
Hndet  sich  demnach  zwischen  den  Buinen  der  zerstiuten  und  (hau 
Chaos  (ha-  uni^nd)ildeten  Natur  mittcai  inne  und  harrt  nui*  des  Zeit- 
punktes, wo  auch  sie  der  siclna-en  Vernichtung  anheimfallen  wird. 
Wenn  ihre  llmlaufsbewegungiai  sich  soweit  erschöpft  haben,  dafs 
sie  der  Anziehungskrat't  des  Centralk()r})ers  nicht  mein-  das  (lileich- 
gewicht  zu  halten  vermögen,   so  stürzen  die   Planeten   und  Kometen 


in  die  Sonne  und  helfen  deren  Glut  durch  den  gewaltigen  Zuwachs 
vermehren.  Das  Bild  einer  solchen  brennenden  Sonne  hat  Kant 
in  h()chst  ;inschaulicher  Weise  geschildert:  ..Man  sieht  in  einem 
Anblicke  weite  Feuerseen,  die  ihre  Flammen  gen  Himmel  erheben, 
rasende  Stürme,  deren  Wut  die  Heltigkeit  (ha*  ersten  vca'doppelt. 
welche,  indem  sie  seil)ige  über  ihre  Ufer  aufschwellend  machen, 
bald  die  erhabenen  Gegeiuhai  dieses  Weltkörpers  bedecken,  bald 
sie  in  ihre  Grenzen  zurücksinken  lassen ;  ausgebrannte  c'elstai.  die 
aus  den  flammenden  Schlünden  ihre  fürchterlichen  Spitzen  heraus- 
strecken,  und  deren  Uberscliw(aninung  ocha-  Fntbhii'suiig  von  dem 
wallenden  Feuia'elemente  das  abwechselnde  Erscheinen  und  Wa- 
schwinden der  Sonmadlecken  v(aairsacht:  dicke  Dämpfe,  die  das 
Feuer  ersticken,  und  die.  durch  die  Gewalt  der  Winde  erhoben, 
finstere  Wolken  ausmacluai.  welche  in  feurigtai  Regengüssen 
wiederum  lua-ahstiirzen  und  als  brennende  Ströme  von  den  Höhen 
des  festen  Sonnenlandes  sich  in  die  flaninienden  Thiiler  ergiefsen. 
das  Krachen  (ha"  Elemente,  den  Schutt  ausgebrannter  .Materien 
und   di(^  mit  dta-  Zerstihamg  ringende  Natur"   (MO!)  f.). 

Den  einzidiuai  AVeiten  also  steht  ein  sicheres  Ende  bevor.  Aber 
ist  es  nicht  denkbar,  dafs  die  Natur,  sowie  sie  aus  dem  alten  Chaos 
zu  systematischer  Ordnung  und  \'ollkommenheit  sich  erholaai  hat, 
ganz  ebenso  auch  imstande  sein  wird,  aus  dem  neuen  Chaos  sich 
wiederum  in  früherer  Scla'inheit  herzustellen?  Wenn  durch  ^\v\\  Sturz 
der  Planeten  in  die  Sonne  und  die  hi(a'durch  entlachte  un^Tjeheure 
Glut  alles  wiederum  in  die  kleinsten  Elemente  sicii  auflöst,  dann 
m(")gen  sich  diese  wohl  mit  <a'ner  der  Hitze  gemäfsen  Ausdehnungs- 
kraft und  mit  eiiua-  Schnelligkeit,  die  durch  keinen  W^iderstand 
des  llaumes  geschwächt  wird,  in  dieselben  waaten  Bäume  wiederum 
ausbreiten  und  zerstreuen,  wie  vorher,  und  alaa'mals  durch  das 
Widerspiel  der  Anzi(diungs-  und  Zurückstofsungskraft  zu  eiiuau 
neuen  Weltgebäude  umgeformt  werdiai.  Und  wiam  ein  einzelnes 
Blaneteiisystem  auf  diese  Weise  in  Verlall  geraten  und  durch 
wesentliche  Kräfte  si(h  daraus  wiederum  hergest(dlt  hat.  wenn  es 
wohl  gar  dieses  Spiel  mehr  als  einmal  wiederholt  hat.  so  wird 
endlich  die  iVaäode  herannahen,  die  ebenso  das  i^rofse  System,  darin 
die  Fixsttaaie  Glieder  sind,  durch  den  Verfall  ihrer  Bewegungen 
in   einem   Chaos   sammeln   wird. 

Die  Natur  ist  ein  Phönix,  der  sich  nur  darum  verbnamt.  um  aus 
seiner  Asche  wiederum  via-jüngt  em])orzusteigen.  \)vy  Geist,  der  alles 
dieses  überdenkt,  versenkt  sich  in  ein  tiefes  Erstaunen.  Aber  dennoch 
unzufrieden  mit  diesem  erhabenen  Gc^genstande,  dessen  Ver^^änglichkeit 
die  Seele  nicht  dauernd  befriedigen  kann,  wünscht  er  dasjenige  Wesen 


28 


A.    Kant   als   Xaturforscher 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


29 


in  der  Nähe  kennen  zu  lernen,  dessen  Verstand,  dessen  Gröise  die 
Quelle  desjenigen  Lichtes  ist.  das  sich  über  die  gesamte  Natur,  gleich- 
sam als  aus  einem  Mittelpuidct,  ausbreitet  (.•>()  1 — .-^04).  Eine  phan- 
tastisclie Naturbetrachtung  denkt  sich  die  Gottheit,  luit  Anziehungs-  und 
Zurückstofsungskräften  begabt,  in  jenem  Mittelpunkt  des  Eaumes, 
nach  weichem  das  gesamte  Universum  gravitiert.  Das  religiöse 
Bewul'stsein  aber  weil's  es  besser:  ,.I)ie  Gottlieit  ist  in  der  Un- 
endlichkeit des  ganzen  Weltraums  allenthalben  gleich  gegen- 
wärtig: allenthalben,  wo  Naturen  sind,  welche  tabig  sind,  sich  über 
die  Abhängigkeit  der  Gescbcipt'e  zu  der  Gemeinschaft  des  höchsten 
Wesens  emporzuschwingen.  beHndet  es  sich  gleich  nahe.  Die  ganze 
Schöpfung  ist  von  ihren  Kräften  durchdrungen;  aber  nur  derjenige, 
der  sich  von  dem  Geschöpfe  zu  befreien  weifs,  welcher  so  edel  ist, 
einzusehen,  dafs  in  dem  Genüsse  dieser  Ur(juelle  der  \^)llkommen- 
heit  die  lu'ichste  Staffel  der  Glückseligkeit  einzig  und  allein  zu 
suchen  sei,  der  allein  ist  fähig,  diesem  wahren  Beziehungspunkte 
aller  Treh'lichkeit  sich  näher  als  irgend  etwas  Anderes  in  der  Welt 
zu   betinden'-   (:V1  1  f.). 

8o  leitet  die  Betrachtung  der  Organisation  des  Weltbaues  zur 
Betrachtung  der  scluipferischen  Gottheit  hin.  und  die  Naturphilosophie 
schlägt  an  ihrem  Ende  unmittelbar  in  l{eligionsj)hilos()phie  um. 
Zwischen  dei*  leblosen  Natur  und  der  Gottheit  in  der  Mitte  aber  be- 
findet sich  das  weite  Reich  des  Geistes,  vor  allem  dasjenige  des 
menschlichen  (feistes,  und  dieses  ist  mit  der  Natur  so  eng  ver- 
flochten, dafs  auch  das  Bild  der  letzteren  nicht  vollständig  sein 
würde,  wenn  nicht  auch  seine  unmittelbaren  Beziehungen  zur  Natur 
wenigstens  mit  einigen  kurzen  Strichen  würden  angedeutet  werden. 

Mit  F]ntschiedenheit  betont  Kant  die  Abhängigkeit,  in  welcher 
sich  der  Geist  von  der  Materie  befindet  QVSi'y  iL).  Er  schliefst  daraus, 
entsprechend  dem  Prozesse  in  der  physischen  Welt,  bilde  auch  das 
geistige  Leben  eine  aufsteigende  Entwickelung.  und  die  verschiedenen 
Grade  seiner  Vollkommenheit  hingen  von  der  Art  und  Feinheit  des 
StoÜ'es  ab.  an  (hassen  Ein  Hufs  die  Geister  zur  Vorstellung  ihrer 
Welt  und  zur  Gegenwirkung  in  dieselbe  gebunden  seien.  Es  kann 
ja  keinem  Zweifel  unterliegen,  dal's  die  meisten  unter  den  Planeten 
bewohnl  sind,  und  dafs  auch  diejenigen,  deren  Beschaffenheit  eine 
Erzeugung  des  Bebens  vorläufig  noch  nicht  zuläfst,  dennoch  dereinst 
eine  Bevr)lkerung  tra^^'en  werden  (:>:)()  ff.).  Denniach  können  z.  B. 
die  Einwohner  der  Erde  und  der  Venus  ohne  ihr  beiderseitiges  Ver- 
derben ihre  Wohnplätze  mit  einander  nicht  vertauschen.  „Der 
Erstere,  dessen  Bildungsstotf  für  den  (4rad  der  Wärme  seines  Ab- 
standes    (von    der  vSoiuie)    ])roportioniert   und   daher   für   einen   noch 


i  i 


I 


gnifseren   zu  leicht  und   zu  flüchtig   ist.    würde   in  einer  erhitzteren 
Sphäre   gewaltsame  Bewegungen    und   Zerrüttung   seiner  Natur   er- 
leiden,  die  von    der  Zerstreuung  und  Austrocknung   der  Säfte   und 
einer    gewaltsamen    Spannung    seiner    elastischen    Fasern    entstellen 
würde  ;  der  letztere,  dessen  frr()berer  Bau  und  Trägheit  der  Elemente 
seiner  Bildung  eines  grofsen  Eintlusses  der  Sonne  bedarf,  würde  in 
einer   kühleren    Himmelsgegend    erstarren    und   in   einer   licblosigkeit 
verderben.     Ebenso  müssen  es  weit  leichtere  und  flüchtigere  Materien 
sein,  daraus  der  Körper  des   Ju])iter-Bewohners  besteht,    damit  die 
geringe  Regung,   womit  die  Sonne  in  diesem  Abstände  wnken  kann. 
diese  Maschinen    ebenso    kräftig    bewegen    könne,    als   sie  es  in  den 
unteren  Gegenden  verrichtet"   (i^oG).     Überhaupt,  meint  Kant,   mufs 
der    Stoff,    woraus    die    Bewohner   verschiedener   Planeten,    ja    sogar 
die     Tiere     und     Gewächse     auf    ihnen     gebildet    sind,     von     desto 
leichterer  und  feinerer  Art  und  die  Elastizität  der  Fasern  samt  der 
vorteilhaften    Anböge    ihres    Baues,     folglich    auch    der    Grad    ihres 
geistigen   Vermcigens  um   desto  vollkommener  sein,  je  weiter  sie  von 
der  Sonne  abstehen,  weil  nämlich  die  Feinheit  der  Materie  mit  ihrer 
Entfernung  von  der  Sonne  zunimmt.     So  ist  es  möglich,  dafs  auf  dem 
Merkur   ein    Gröudänder    oder    Hottentotte    ein    Newton    sein,    auf 
dem   Saturn    dagegen    ein   Newton    als    ein   Aife   bewundi^rt   würde 
(83()  ff.  !)12  f.).     Uns.  die  wir  die   Erde  ])ewohnen,  ist  nach  unserer 
Stellung  im  Planetensystem  ein   mittlerer  Grad  von  VollkonnniMiheit 
zu    teil    geworden,    aber    es    wäre    denkbar,    dafs    wir   auch    füi-   die 
höheren  Grade  dereinst  berufen  seien.     „Sollte  die  unsterbliche  Seele 
wohl   in   der  ganzen    Unendlichkeit    ihrer   künftigen    Dauer,    die   das 
Grab    selber    ni(;ht    unterbricht,    sonderji    nur    verändei-t,    an    diesen 
Punkt  des    Weltraumes,   an   unsere  Erde  jederzeit  geheftet  bleiben  ? 
Sollte    sie  niemals  von    den    übrigen   Wundern    der  Sch()])fung   eines 
näheren  Anschauens  teiliiaftig  werdtMi?     Wer  weifs,  ist  es  ihr  nicht 
zugedacht,  dal's  sie  dereinst  jene  entfernten  Kugeln  des  Weltgebäudes 
und    die  Trefflichkeit    ihrer  Anstalten,    die   schon   von   weitem   ihre 
Neugierde  reizen,  in  der  Nähe  soll  kennen  lernen  ?      Vielleicht  bilden 
sich   darum   noch   einige   Kugeln    des    Planetensystems  aus,   um   nach 
vollendetem   Ablaufe  der  Zeit,    die  unsert^m   Aufenthalt  allhier  vor- 
geschrieben  ist,    uns  in  anderen  Himmeln    neue   Wohnjilätze  zu   be- 
leiten.     Wer   weifs,    hiufen    nicht  jene  Trabanten    um   den  Jupiter, 
um   uns  dereinst  zu  leuchten  ?•'   (344). 

Es  ist  der  Gedanke  dei*  prozefsartigen  Natui-  des  Geistes,  den 
auch  Lessing  und  Herder  ausges])rochen  haben,  und  welcher 
in  der  l*hilosophie  eines  Schellin  g  dereinst  noch  zu  ungeahnter 
Bedeutung  sich  entfalten   sollte,  es  ist  der  Gedanke,  dafs  die  Natur 


30 


A.    Kant  als  Naturforscber. 


A.    Kant  als   Naturforsclier. 


31 


1  V 


mit  allen  ihren  Welten  und  allem  Ixeiclituni  ihrer  Kiv.euiiun^en  nur 
das  ]\I  i  1 1  e  1  fiii-  den  Sicirosznc^  der  F^iitwickclnnir  des  (Teist(^s  sei, 
wie  er  seinen  grolsarti.iijsten  Ausdi-iick  hei  H  eg  e  1  t^elundeu  hat,  der 
in  diesen  AVort(-n  Kants  zum  Durehhrueh  ^elanirt.  um  iiintnrt  nicht 
wieder  aus  dem  ])liil(»s()j)liis('hen  (Ticdnnkenschatze  /u  entschwinden. 
jVIaij^  es  um  jene  \'ermutun,ii<'n  Kants  bestellt  sein,  wie  es  will,  in 
der  Herv()rliel)un,i;-  (h'r  Einen  Wahrheit  hat  er  sich  ein  urr/weilel- 
luiftes  Verdienst  erworben,  und  d.irin  ist  vielleicht  die  kräftiii^ste  An- 
reiJjunii:  zu  suchen,  dit3  er  in  dieser  Hinsicht  s(u"ncn  ?saclil()l.u:(U'n  <^e- 
^ehen  hat:  „Je  iiäiiei-  nnin  die  Xatur  wii'd  kennen  lernen,  desto 
mehr  wird  man  einsehen,  dafs  die  .'illixemeinen  l^eschMiVenheiten  der 
Dinge  einander  nicht  fremd  und  getrennt  sind.  Man  wird  hinlänglich 
überfuhrt  werden,  dafs  sie  w  e  s  e  n  1 1  i  c  h  e  \  e  r  w  a  n  d  t  s  c  h  a  i'i  e  n 
haben,  durch  die  sie  sich  von  sell)er  anschicken,  einandei"  in  Rr- 
riciitung  vollkommener  Verfassungen  zu  unterstützen.  di(»  Weclisel- 
wirkung  der  Kiemente  zur  Sclu'inheit  der  materialiselien  un  1  (h)ch 
zuglei(;h  zu  den  \'orteilen  der  Geisterwelt.  und  dafs  überhaupt  die 
einzelnen  Naturen  dei*  Dinge  in  dem  Kehle  der  ewigen  Wahrheiten 
schon  untereinander,  so  zu  sagen,  ein  8vsteni  ausmachen,  in 
welchem  eine  auf  die  andere  beziehend  ist:  mm  vviid  auch  alsbald 
inne  werden .  d  a  f  s  d  i  e  V  e  r  w  a  n  d  t  s  c  h  a  f  t  ihnen  von  d  e  r 
(Gemeinschaft  des  Ursprungs  eigen  ist,  aus  dem  sie  ins- 
gesamt ihre  wesentlichen  Hestimmungen  gesch()j)ft  halxui"  (:)4'2). 
..In  der  That,  wenn  man  mit  solchen  Betrachtungen  und  mit  den 
vorhergehenden  sein  (icmüt  eriÜllt  hat.  so  giebt  der  Anblick  eines 
bestirnten  Himmels  bei  einer  heit<'ren  Nacht  eine  Art  des  Vergniig(Uis, 
welches  nur  edle  Seelen  empfinden.  Hei  der  allgemeincai  Stilbn  der 
]S'atur  und  der  I Julie  der  Sinne  redet  das  verborgene  Firkenntnis- 
verm()gen  des  unsterblichen  Geistes  eiiu'  unn(U)nnbare  Sprache  und 
giebt  unausgewickelte  J^egriffe.  die  sieh  wohl  emphnden.  alxu-  nicht 
lieschreiben  lassen"   (345).  — 

Die  Naturgeschichte  und  Theorie  des  Himmels  hatte  die  Oi'gani- 
sation  und  Entstehung  des  Weltbaues  im  Ganzen  betrachtet.  Nun- 
mehr wendet  Kant  dieselbe  Art  der  Betrachtung  auch  insbesondere 
auf  die  Erde  an  und  hat  auch  hier  eine  Keihe  von  fruchtbarcui 
(bedanken  zu  Tage  gefördert,  die  sein  naturwissenschaftliches  Genie 
in  um  so  hellerem  Gl.niz  erscheinen  lassen,  wenn  man  den  all- 
gemeinen Stand  d(U'  Wissenschaft  zu  seiner  Zeit  in  Erwägung  zieht, 
und  bedenkt,  wie  es  zum  Teil  ganz  neue  Gebiete  waren,  die  Kant 
mit  dem  kühnen  AVngemut  des  echten  Forschers  betreuten  hat.  Die 
Idee  der  Entwickelung,  die  er  von  N  e  w  t  o  n  übernommen,  und  die 
ihn    in   seiner  Tlieorie    des    Himmels   so   glanzende  Kesultate   hatte 


gewinnen  lassen,  diese  Idee  mufste  ihm  auch  hier  gleichsam  als 
Leuelite  dienen  und  bildete  das  zu  Giunde  liegende  Prinzip  hei  allen 
seinen  naturwissenschaftlichen  Untersuchungen.  Auch  die  Erde,  die 
ja  nur  ein  Glied  in  jenem  allgemeinen  Weltsystem  bildet,  hat  ebenso, 
wie  dieses,  ihi-e  Geschichte,  die  sich  in  die  Vergangenheit  so  gut, 
wie  in  die  Zukunft,  veifolgen  läfst.  und  diese  Betrachtung  ist  somit 
nui-  dasjenige  im  Khunen.  was  die  Naturgeschichte  des  HimmeLs  im 
Grofsen  oder  vielmehr  im   Unendlichen   gewesen  ist. 

Auch  die  Erde  licfand  sicli.  wie  die  übrigen  Himmelskörper, 
anfänglich  in  tHissigiU'  odei-  dunstförmiger  Verfassung  und  ging  erst 
alhniihlich  in  den  festen  Zustand  über.  Nun  giebt  es  ohne  W^irme 
keine  Flüssigkeit:  es  mufs  also,  wie  l\;!nt  dies  in  einem  kleinen 
Aufsatz  ,,U  her  di  e  A'  u  1  k  a  n  e  i  m  M  o  n  de'-  \oin  Jahre  1  iSö  näher 
ausgeführt  hat.  auch  die  Wärme  schon  anfangs  im  W^'ltraum  gleich- 
förmig ausgebreitet,  oder  der  ilüssige  Zustand  mufs  ein  feurig- 
flüssiger gewesen  sein.  Da  nun  ,.dunsti'()rmig  ausgebreitete 
Materien  weit  mehr  Elementarwärnu'  in  sich  fassen  und  auch  zu 
einer  duustförmigen  \'erbreitung  bedürfen,  als  sie  halten  kcinnen, 
sobald  sie  in  den  Zustand  dichter  Massen  übergelien.  die  sich  zu 
Weltkugeln  vei-einigen,  so  müssen  diese  Kugeln  ein  lil>ernnifs  von 
AVärmenuiterie  ülier  das  natürliche  (ileichgewieht  mit  dov  Wärme- 
materie im  iuium.  worin  sie  sich  befinden,  enthalten:  (L  i.  iiire 
relative  AVärme  in  Ansehung  des  Weltraumes  wird  angewachsen 
sein-  (I\'.  'J(M)  f.).  Hi'-raus  erklärt  sich  die  feurige  Nritur  des 
Centralkr)i])ers.  der.  als  die  gi-rifste  .Masse  in  jedem  Weltsyst(un,  natur- 
gemäfs  auch  dio  gi-()l"ste  Hitze  haben  mufs.  Ganz  eltenso  mufs  auch 
die  Krde  einst  eine  leuchtende  Keuerkugel,  wie  die  Sonne,  gewesen 
sein  ;  sie  kann  mithin  ihr  jetziges  Aussehen  erst  in  dem  Mafse  erhalten 
haben,  in  welchem  ihre  Obertiäche  abgekühlt  ist.  Während  dieser 
Prozefs  nach  aufsen  hin  sich  abspielte,  fingen  in  ihrem  Innern  an, 
sich  Jjuftblasen  zu  entwickeln,  stieg(ui  nach  oben  und  suchten  durcii 
die  gehärtete  J^inde  sich  einen  Ausweg  zu  verschaffen,  und  so  mufsten 
im  Schofse  der  Erde  weite  H(")h}ungen  entsteluai,  von  denen 
uns  insbesondere  die   Erdbeben   eine  Kunde  liel'ern. 

Nach  der  iürchtej'lichi'n  Katastro])he  des  Erdbebens  von  Lissabon 
gegen  Ende  des  Jahres  lioö  bildete  diese  Naturerscheinung  das 
allgemeine  Tagesgespräch.  Kant,  der  von  vielen  Seiten  daruiii 
ersucht  wurde,  sich  über  sie  zu  äufsern.  und  der  es  für  die  schöne 
i^flicht  des  Naturforschers  hielt,  bei  derartigen  Veranlassungen 
das  l^ddikum  durch  die  Einsicht  in  ihre  Ursachen  aufzuklären, 
veröffentlichte  im  folgenden  Jahre  drei  Abhandlunge]i  über  jenen 
(-T  egenstand :  „  \()  n  d  e  n  Urs  a  c  h  e  n  d  e  r  E  r  d  e  r  s  c  h  ü  1 1  e  r  u  n  g  e  n 


/ 


32 


A.    Kiiiit   als   Naturforscher, 


A.   Kant  als  Naturforscher. 


33 


l)ei  Gelege  11  lieit  des  Unglücks,  welches  die  westlichen 
L  ii  n  der  v  o  n  E  ii  r  o  ])  a  g  e  <^  e  ii  das  K  n  d  e  d  e  s  v  o  r  i  g  e  ii  J  a  h  r  e  s 
b  etro  ff  eil  hat ;"  die  „Gesc  h  i  ch  te  und  N  n  t  u  r  beschreib  uiig 
der  in  e  r  Iv  würdigsten  Vorfälle  d  (^  s  E  r  d  b  c  1  >  o  b  e  n  s  .  welches 
an  dem  F]nde  des  J7r)r)sten  Jahres  einen  grofsen  T(m1 
der  Erde  erschüttert  hat,"  und  sclilii^lslich  dii»  ,. Fortgesetzte 
Betrachtung  der  seit  einiger  Zeit  wahrgenommenen 
E  r  d  e  r  s  c  h  ü  1 1  e  r  u  n  g  e  11.  •' 

Man  hat  zur  P^rklnrun,"^  der  Erdbeben  die  mannigfachsten  Hypo- 
thesen aufgestellt,  indessen  leiden  diese  jille  mehr  oder  weniger  an 
dem  Fehler,  dafs  zwischen  der  vermeintlichen  Ursache  und  ihrer 
Wirkung  keine  genügende  ICongruenz  besteht.  „Es  ist  nicht  genug. 
auf  eine  Ursache  geraten  zu  sein,  die  etwas  mit  der  Wirkung  Ähn- 
liches hat;  sie  mufs  auch  in  Ansehung  der  Gröfse  proportioniert 
sein"  (I,  450).  ,.Es  wäre  ein  AV'erk  von  weitläufiger  Ausführung, 
alle  die  Hypothesen,  die  ein  jeder,  um  sich  seihst  neue  Wege  der 
Untersuchung  zu  bahnen,  aufbringt,  und  deren  eine  öfters  den  Platz 
der  andern,  wie  die  Meereswellen,  einnimmt,  anzuführen  und  zu 
l)rü{en.  Es  giebt  auch  einen  gewissen  richti,u;en  Geschmack  in  der 
Naturwissenschaft,  welcher  bald  die  freie  Ausschweifung  einer  Neuig- 
keitsbegierde von  den  sicheren  und  behutsamen  Urteilen,  welche  das 
Zeugnis  der  Erfahrung  und  Ak^v  vernünftigen  Glaubwürdigkeit  auf 
ihrer  Seite   Inibeii.   zu   unterscheiden  weil's"   (4:');")). 

Soviel  darf  wohl  als  sicher  angenommen  werden:  „die  Erdbeben 
haben  uns  g(>offenhart,  dafs  die  01)(>rtläche  der  Erd(»  voller  Wölbungen 
nnd  Hidilen  sei.  und  dafs  unter  unseren  Füfsen  verborixene  Minen  mit 
mannigfaltigen  Irrgäiigen  allenthalben  fortlaufen.  Diese  Hrthlen  ent- 
halten ein  loderndes  Eeuer  oder  wenigstens  denjenigen  brennbaren  Stoff, 
der  nur  einer  geringen  R(>izung  bedarf,  nm  mit  Heftijj^keit  um  sich 
zu  wüten  und  den  Hoden  idier  sich  zu  erschüttern  oder  gar  zu 
S])alten  (1.  i^ !()  f.).  Was  Kant  im  Einzelnen  über  die  „Entzündung 
der  nnt(M-irdischen  (Tränge"  sagt,  weiche  die  unmittelbare  Ver- 
anlassung zu  den  Erderschütterungen  giebt.  vermag  zwar  der  heutigen 
Wissenschaft  nicht  nn^hr  zu  genügen,  war  doch  auch  die  Chemie 
zu  jener  Zeit  noch  ganz  unausgebildet ;  indessen  das  rnn/ip  ist  doch 
im  Ganzen  von  ihm  richtig  bestimmt,  und  seine  Abhandlungen  über 
die  Erdbeben  sind  so  reich,  an  geistreichen  und  tretfenden  l^emerkungen, 
dafs  sie  das  Lob  Alex  a  n  d  e  r  s  v.  H  u  m  b  o  1  d  t  in  seinem  „Kosmos" 
wohl  verdienen. 

Worauf  es  ankommt,  ist,  die  Erdbeben,  als  Naturerscheinungen, 
nur  aus  natürlichen  Ursachen  zu  erklären,  unbeschadi't  dessen, 
dafs  sie  letzten   Endes  auch  nur,   wie  alles,   aus  dem    Willen  Gottes 


stammen  mögen.  „Selbst  die  fürchterlichen  AVerkzeuge  der  Heim- 
suchung des  menschlichen  Geschlechts,  die  Erschütterungen  der 
Länder,  die  Wut  des  in  seinem  Grunde  bewegten  Meeres,  die  feuer- 
speienden Berge  fordern  den  Menschen  zur  Betrachtung  auf  und 
sind  nicht  weniger  von  Gott  als  eine  richtige  Folge  aus 
beständigen  Gesetzen  in  die  Natur  eingepflanzt  als  andere 
schon  gewohnte  Ursachen  der  Ungemächlichkeit,  die  man  darum 
für  natürlicher  hält,  weil  man  mit  ihnen  mehr  bekannt  ist"  (415). 
„Lasset  uns  also  nur  auf  unserem  AVohnplatze  selbst  nach  der  Ur- 
sache fragen,  wir  haben  die  Ursache  unter  unseren  F^üfsen"  (453). 
Eine  solche  Untersuchung  ist  allerdings  weit  schwieriger  und 
unbequemer,  als  wenn  man  sich  einfach  auf  ein  Übernatürliches  beruft. 
„Die  Natur  entdeckt  sich  nur  nach  und  nach.  Man  soll  nicht 
durch  Ungeduld  das,  was  sie  vor  uns  verbirgt,  ihr  durch  Erdichtung 
abzuraten  suchen,  sondern  abwarten,  bis  sie  ihre  Geheimnisse  in 
deutlichen  Wirkungen  ungezweifelt  offenbart"  (410). 

Es  ist  daher  nicht  blofs  eine  in  wissenschaftlicher  Hinsicht  falsche, 
es  ist  sogar  eine  gefährliche  Meinung,  als  ob  man  in  jenen  Werkzeugen 
der  Heimsuchung  ein  absichtliches  Verhängnis,  eine  besonders  von  Gott 
gewollte  Veranstaltung  zu  erblicken  habe.  „Man  verstöfst  gar  sehr 
wider  die  ]\Ienschenliebe,  wenn  man  dergleichen  Schicksale  jederzeit 
als  verhängte  Strafgerichte  ansieht,  die  die  verheerten  Städte  um 
ihrer  Übelthaten  willen  betreffen,  und  wenn  wir  diese  Unglück- 
seligen als  das  Ziel  der  Rache  Gottes  betrachten,  über  die  seine 
Gerechtigkeit  alle  ihre  Zornschalen  ausgiefst.  Diese  Art  des  Urteils 
ist  ein  sträflicher  Vorwitz,  der  sich  anmalst,  die  Absichten  der 
göttlichen  Ratschlüsse  einzusehen  und  nach  seinen  Einsichten  auszu- 
legen. Der  Mensch  ist  von  sich  selbst  so  eingenommen,  dafs  er 
sich  lediglich  als  das  einzige  Ziel  der  Anstalten  Gottes  ansieht, 
gleich  als  wenn  diese  kein  anderes  Augenmerk  hätten  als  ihn  allein, 
um  die  Mafsregeln  in  der  Regierung  der  Welt  danach  einzurichten. 
Wir  wissen,  dafs  der  ganze  Inbegriff  der  Natur  ein  würdiger  Gegen- 
stand der  göttlichen  AVeisheit  und  seiner  Anstalten  sei.  Wir  sind 
ein  Teil  derselben  und  wollen  das  Ganze  sein"  (443  f.).  Und  doch 
lehrt  die  einfachste  Betrachtung,  dafs  die  Naturgesetze  um  unsert- 
wegen keinen  Abbruch  erleiden.  Die  Freude  der  Einen  und  das 
Unglück  der  Anderen  haben  oft  eine  gemeinsame  Ursache.  So  be- 
kamen die  mineralischen  Wasser  zu  Teplitz  durcli  das  Erdbeben 
zu  Lissabon  einen  erneuten  ZuÜufs,  und  die  Einwohner  stimmten 
ein  Tedeum  an,  indessen  zu  Lissabon  der  dammer  durch  die  Strafsen 
hallte  (420).  Wir  können  die  Absichten  Gottes  nicht  erraten,  die 
er  bei  der  Regierung  der  Welt  vor  Augen  hat;   „allein  wir  sind  in 

n  r  e  w  s  ,  Kantü  Naturphilosophie.  o 


34 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


keiner  Ungewifsheit,  wenn  es  auf  die  Anwendung  ankommt,  wie  wir 
diese  Wege  der  Vorsehung  dem  Zweck  derselben  gemäfs  gebrauchen 
sollen.  Der  Mensch  ist  niclit  geboren,  um  auf  dieser  Schaul)ühne 
der  Eitelkeit  ewige  Hütten  /u  erbauen,  weil  sein  ganzes  Leben  ein 
weit  edleres  Ziel  hat"  (444).  „Ich  bin  weit  davon  entfernt",  so 
schbefst  Kant  diese  Betrachtungen,  ,.hiermit  anzudeuten,  als  wenn 
der  Mensch  einem  unwandelbaren  Schicksale  der  Naturgesetze  ohne 
Kachsicht  auf  seine  besonderen  Vorteile  überlassen  sei.  Ebendieselbe 
h()chste  Weisheit,  von  welcher  der  Lauf  der  Natur  diejenige  Eiclitung 
entlehnt,  die  keiner  Ausbesserung  bedarf,  hat  die  niederen 
Zwecke  denhiUieren  untergeordnet,  und  in  eben  den  Ab- 
sichten, in  welchen  jene  oft  die  wichtigsten  Ausnalmien  von  den 
allgemeinen  Hegeln  der  Natur  gemacht  hat,  um  die  unendlich 
höheren  Zwecke  zu  erreichen,  die  weit  über  alle  Naturmittel  er- 
haben sind,  wird  aucli  die  Führung  des  menschlichen  Geschlechts 
in  dem  Kegimente  der  Welt  selbst  dem  Laufe  der  Naturdinge  Gesetze 

vorschreiben"  (ebd.). 

Die  Erd])eben  gaben  uns  Aufschlufs  über  das  Innere  der  Erde, 
sie    liefsen    uns    deren    feurige    Natur    erkennen    und    tiihrten    uns 
in     ihre    Vergangenheit     zurück:    so    dienen    sie     der    Theorie    des 
Himmels  zur  Bestätigung,  wonach  die  Erde,  ebenso  wie  die  übrigen 
Planeten,    ursprünglich    eine  Feuerkugel   gewesen    sein    mufs.      Wie 
steht    es    denn    nnn   a])er    nm    die    Zuknnft    dieses   Weltkörpers? 
Sind  Zeichen    vorhandi^n,    die    uns    hierüber    einen  Aufschlufs  ver- 
heifsen,    oder    müssen  wir    uns  mit  dem  allgemeinen  Gedanken  be- 
gnügen,  dafs  er,   als  entstanden,   ebenso  auch  dereinst  wieder  unter- 
gehen werde?     Dieser  Frage    ist    Kant    in    zwei    kleinen   Aufsätzen 
im    Jahre    17':)4    näher    getreten,    v.m    denen    der    eine    jedenfalls 
später  als  die  Naturgeschichte  und  Theorie  des  Himmels  geschrieben 
ist,     da,    Kant    hier    am     Schlüsse    die    letztere    unter    dem    Titel: 
„Kosmogonie  oder   Versuch,    den   Ursprung  dv^   Wtdtgebäudes,    die 
Bildung    der    Himmelskr»rper    und    die    Ursaclien    ihrer    Bewegung 
aus   den    allgemeinen    Bewegungsgesetzen    der    Materie    der  Theorie 
des  Newtoirgeinärs  herzuleiten"   als    eine  Schrift  ankündigt,    „die 
in    kurzem    öffentlich    erscheinen    wird"    (I.     ISO).      Die    „Unter- 
suchung der  Frage,  ob  die  Erde  in   ihrer  Umdrehung 
um    die    Achse,     wodurch    sie    die    Abwechselung    des 
Tages  und  der  Nacht   hervorbringt,    einige  Verände- 
rung   seit    den     ersten    Zeiten     ihres    Ursprunges    er- 
litten    habe,    und     woraus    man    sich    i  h  r  e  r  v  er  s  i  ch  e  r  n 
könne"    war    auf    Veranlassung    einer    Preisaufgabe    der    Königl. 
Akademie    der   Wissenschaiten    zu    Lerlin    geschrieben,    ohne    dafs 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


35 


jedoch  Kant  an  dieser  Konkurrenz  selbst  teil  nahm,  weil  er  sich 
auf  die  Zeugnisse  der  Geschichte  nicht  einlassen,  um  aus  ihnen  eine 
Bestätigung  für  seine  eigene  Ansicht  zu  entnehmen,  sondern  nur  die 
physikalische  Seite  jenes  Gegenstandes   in  Erwägung  ziehen  wollte. 

Kant  verwirft  zunächst  die  bekannte  Annahme,  die  im  Himmels- 
raume  ausgebreitete  Materie  müsse  durch  ihren  beständigen  Wider- 
stand die  Bewegung  der  Erde  schliefslich  ganz  aufheben,  da 
Newton  auf  überzeugende  Art  dargethan  habe,  dafs  der  Himmels- 
raum, der  sogar  den  leichten  kometischen  Dünsten  eine  freie  un- 
gehinderte Bewegung  gestattet,  mit  unendlich  w^enig  widerstehender 
Materie  erfüllt  sei :  er  weifs  also  noch  nichts  von  jenem,  wie 
Encke  später  gezeigt  hat,  thatsächlich  vorhandenen  AViderstande 
bei  der  Planetenbewegung.  Es  giebt  jedoch  ein  a.nderes  Hindernis, 
das  sich  der  i'reien  Bewegung  der  Erde  um  ihre  Achse  entgegen- 
stellt, und  dies  ist  nach  Kant  die  Anziehung  des  Mondes  und 
der  Sonne  und  die  aus  ihr  sich  ergebende  Erscheinung  der  Ebbe 
und  Flut.  „Die  Anziehung  des  Mondes,  welche  den  gröfsten 
Anteil  an  dieser  Wirkung  hat,  hält  das  Gewässer  des  Oceans  in 
unaufli()rlieher  Aufwallung,  dadurch  es  zu  den  l^unkten  gerade 
unterm  ^lond,  sowohl  auf  der  ihm  zu-,  als  von  ihm  abgekehrten 
Seite  hinzufliefsen  und  sich  zu  erheben  bemüht  ist;  und  weil  diese 
l^mkte  der  Aufschwellung  von  Morgen  gegen  Abend  fortrücken,  so 
teilen  sie  dem  Weltmeere  eine  beständige  Fortstnünung  nach  eben 
dieser  Gegend  in  seinem  ganzen  Inhalte  mit.  Da,  diese  Fort- 
strömung nun  der  Drehung  der  Erde  gerade  entgegengesetzt  ist, 
so  haben  wir  eine  Ursache,  auf  die  wir  sicher  rechnen  können,  dafs 
sie  jene,  soviel  an  ihr  ist,  unaufhörlich  zu  schwächen  und  zu  ver- 
mindern bemüht  ist"  (1.  1S3).  Man  schätze  eine  derartige  Vermin- 
(h'i'ung  nicht  gering!  „Wenn  man  erwägt,  dafs  dieser  Antrieb 
unablässig  ist,  von  jeher  gedauert  hat  und  immer  währen  wird, 
dafs  die  Drehung  der  Erde  eine  freie  Bewe;]^ung  ist,  in  welcher  die 
geringste  (Quantität,  die  ihr  genommen  wird,  ohne  Ersetzung  ver- 
loren bleibt,  dagegen  die  vermindernde  Ursache  unaufhörlich  in 
gleicher  Stärke  wirksam  bleibt,  so  wäre  es  ein  einem  Philosophen 
sehr  unverständiges  Vorurteil,  eine  geringe  Wirkung  für  niclits- 
würdig  zu  erklären,  die  durch  eine  beständige  Summierung  den- 
noch  auch   die   ^r()lste  Quantität  endlich   ersehö])fen   mufs"   (ebd.) 

Bekanntlich  hat  Robert  Player  Di  Jahre  später  diesen 
kaiitischen  Gedanken  wieder  aufgenommen  und  ihn  in  seinen  „Bei- 
trägen   zur  Dynamik  des  Himmels"    (l.S4b)    näher    durchgeführt."^') 


*)  Vgl.  J.  K.  Mayer:  Ges.  Schriften  (1874).     S.  155—242. 


36 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


Nach  Mayer  beträgt  die  Verlängerung  der  Umdrehungszeit  der 
Erde  durch  den  Einlhd's  von  Hhhe  und  Fhit  in  den  letzten 
2500  Jahren  nur  etwa  ^|^^.  Sekunde,  vorausgesetzt,  dafs  das  Vo- 
lumen der  Erde  keine  Veränderung  erlitten  liat,  während  Kant  für 
2000  dahre  eine  Vergröiserung  des  Tages  um  (Sü  Sekunden  heraus- 
reclmet;  aber  daraus  ist  dem  letzteren  kein  Vorwurf  zu  machen, 
weil  ihm  hei  dem  damaligen  Stande  der  Wissenschaft  die  Daten, 
die  bei  einer  solchen  Eechnung  in  Frage  kommen,  noch  keines- 
wegs sämtlich  zu  Gehote  standen.  Die  Entdeckung  jenes  Ge- 
dankens durch  Kant  verdient  unsere  volle  Bewunderung,  auch 
läfst  sich  dessen  KicLtigkeit  nicht  mehr  bestreiten,  seitdem  wir 
durch  Hansens  Berechnung  vom  Jahre  \^{w)  wissen,  dafs  der 
Sterntag  seit  den  Zeiten  des  Hipparch  (um  löO  v.  Chr.)  that- 
sächlich  um   den  (S4.  Teil  einer  Sekunde  zugenommen  hat.'-") 

Die  Erde  nähert  sich  also  dem  Stillstande  ihrer  Umwälzung 
mit  stetigen  Schritten,  und  zwar  solange,  bis  die  Umdrehungszeit 
um  ihre  Achse  der  Umlaufszeit  des  Mondes  um  die  Erde  gleich 
geworden  ist,  in  welchem  Falle  sie  ihm  immer  dieselbe  Seite  zu- 
kehren wird.  So  erklärt  es  sich  auch,  warum  der  jMond  in  seinem 
Umlauf  um  die  Erde  uns  immer  die  gleiche  Seite  zeigt.  Die  Um- 
drehungszeit des  Mondes  um  seine  Achse  ist  seiner  Umlaufszeit 
um  die  Erde  gleich,  weil  die  Anziehung  der  Erde  auf  den  Mond 
zur  Zeit  seiner  ursprünglichen  Bildung,  als  seine  Masse  noch 
llüssig  war,  die  Achsendrehung  des  letzteren,  die  er  damals  vermutlich 
mit  gröfserer  Geschwindigkeit  gehabt  haben  mag,  auf  die  gleiche 
Art  bis  zum  gegenwärtigen  Ijberreste  vermindert  haben  mufs  (18;)  f.). 
Diese  Annahme  wird  freilich  von  der  heutigen  Wissenschaft  nicht 
geteilt ;  indessen  hat  Kant  selbst  die  richtige  Ursache  jener  Er- 
scheinung in  seinem  Aufsatz  ,.Ftwas  über  den  Einflufs  des 
Mondes    auf    die    Witterung"    vom    Jahre     l«ll-i    angegeben. 

Kant  weist  hier  nach,  dals  weder  das  Licht,  noch  die  An- 
ziehungski-aft  des  Mondes  einen  merklichen  EinÜufs  auf  die  W^itterung 
auszuüben  vermiige.  „Wenn  man  aber  eine  weit  über  die  Höhe 
der  wägbaren  Luft  sich  erstreckende,  die  Atmosphäre  bedeckende 
i  m  ])o  nderable  Materie  annimmt,  die,  durch  des  Mondes  An- 
ziehung bewegt  und  dadurch  mit  der  unteren  Luft  zu  verschie- 
denen Zeiten  vermischt  oder  von  ihr  getrennt,  der  Affinität  mit 
der  letzteren  wegen  die  Elastizität  derselben  teils  zu  verstärken, 
teils  zti  schwächen  und  so  mittelbar  ihr  Gewicht  zu  verändern  ver- 


*)  Vgl.  Reuschle:  a.  a.  O.  7G  tV.     Ders.:    „Deutsche    Vierteljahrsschrift" 
Heft  1,  S.  L'(ii  fV.     Zöllner:   Über  d.   Natur  d.   Kometen.     460  li". 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


37 


mag ,  so  wird  man  es  möglich  finden ,  dafs  der  Mond  indirekt 
auf  Veränderung  der  Witterung,  aber  eigentlich  nach  chemischen 
Gesetzen  Eintiufs  haben  könne"  (VL  354  f.).  Denn  ,.neue  ver- 
borgene Kräfte  zum  Behuf  gewisser  Erscheinungen  auszudenken, 
die  mit  den  schon  bekannten  nicht  in  genügsam  durch  Erfahrung 
beglaubigter  Verbindung  stehen,  ist  ein  Wagstück,  das  eine  gesunde 
Naturwissenschaft  nicht  leichtlich  einräumt*'  (^ÖO). 

In  diesem  Zusammenhange  spricht  nun  Kant  auch  die  Vermutung 
aus,  „der  Mittelpuidvt  der  Schwere  (im  Monde)  möchte  vielleicht  mit 
dem  der  GriUse  dieses  Kör|)ers  nicht  zusammentretfen,  sondern  zu  der 
abgekehrten  Seite  hin  liegen"  und  fügt  hinzu :  „Ob  übrigens  die 
Eigenschaft  desselben,  sich  in  derselben  Zeit  um  seine  Achse  zu 
drehen,  in  welcher  er  seinen  Kreislauf  macht,  aus  der  nändichen 
Ursache  (nämlich  dem  Unterschied  der  Anzitdiung  beider  HiUften 
bei  einem  Monde,  der  um  seinen  Planeten  läuft,  wegen  seiner  viel 
gröfseren  Nahheit  zum  letzteren  als  der  des  Planeten  zur  Sonne) 
allen  Monden  als  eigen  angenommen  werden  dürfe,  mufs  denen, 
die  in  der  Attraktionstheorie  bewanderter  sind,  zu  entscheiden  über- 
lassen werden"  (VI.  3;")0).  In  der  Tliat  ist  es  diese  excentrische 
Lage  des  Mondschwerpunkts,  der  nach  Hansens  Ent- 
deckung (1854)  ungefähr  8  geographische  Meilen  weiter  von  uns 
entfernt  ist  als  der  Mittelpunkt  des  Mondes,  worin  die  AVissenschaft 
gegenwärtig  die  Ursache  für  die  obige  Erscheinung  sieht.  Wenn 
man  nämlich  voraussetzt,  „dafs  die  ursprüngliche  Axendrehung  des 
Mondes  von  der  jetzigen  nicht  sehr  verschieden  war,  dann  mufste 
die  Anziehung  der  F]rde  ihre  Periode  der  Undaufszeit  allmählich 
genau  gleich  machen,  sofern  dieselbe  dem  Mondkörper  die  Lage  zu 
geben  strebte,  in  welcher  der  den  excentrischen  Schwerpunkt  ent- 
lialtende  Durchmesser  stets  direkt  nach  der  Erdmitte  gerichtet 
war,  der  ]\lond   mithin  der   Erde  stets  dieselbe  Seite  zukelirt."*) 

Die  andere  Abhandlung,  m  welcher  sich  Kant  mit  der  Zukunft 
unserer  Erde  l)efafst  hat,  ist  betitelt  „Die  Frage,  ol)  die  Erde 
veralte?  p  h  y  s  i  k  a  1  i  s  c h  e  r  w  o g  e  n."  Sie  untersucht  nicht  die 
etwaigen  Veränderungen  des  Erdballs  im  Ganzen,  wie  die  vorige 
über  die  Achsendrehung  der  Erde,  sondern  sie  forscht,  ob  in  dem 
Organismus  der  auf  ihr  sich  abs])ielenden  Vorgänge  selbst  Ursachen 
vorhanden  seien ,  die  mit  der  Zeit  eine  solche  Umgestaltung 
insbesondere  ihrer  Oberfläche  herbeiführen  müssen,  dafs  ihre  Kräfte 
gleichsam  aufgerieben  werden  und  das  Leben  auf  ihr  seinem  Unter- 
gang   entgegengeht.      Kann    von    einem    «olchen    Altern    der    Erde 

*)  Reuschle:  a.  a.  0.  82.  Vgl.  Fechner:  „Prof.  Schieiden  u.  der 
Mond«  (J85Gj.     S.  390  fi. 


38 


A.    Kant  als   Naturforscher. 


Überhaupt  geredet  werden,  so  ist  es  in  dem  Ablauf  seiner  Ver- 
änderungen jedenfalls  nicht  ein  Al)schnitt.  dem  äufsere  und  gewalt- 
same Ursachen  zu  Grunde  liegen.  ,. Ebendieselben  Ursachen,  durch 
welche  ein  Ding  zur  Vollkommenheit  gelangt  und  darin  erhalten 
wird,  bringen  es  durch  unmerkliche  Stufen  der  W'rändcrungen 
seinem  Untergange  wieder  nahe.  Es  ist  eine  natürliche  Schattie- 
rung in  der  Fortsetzung  seines  Daseins  und  eine  Folge  eben- 
derselben Gründe,  dadurcli  seine  Ausbildung  bewirkt  worden,  dafs 
es  endlich   vt^rfallen   und  untergehen  mul's"   (I.    11)1  f.). 

Vier  Gründe  bringt  Kant  für  die  Ansicht  eines  Veraltens  der  Erde 
vor,  die  er  der  Reihe  nach  untersucht,  um  schliefslich  seine  eigene 
Meinung  dahin  auszusprechen,  „dafs  der  Regen  und  die  Bäche,  indem 
sie  das  Erdreich  beständig  angreifen  und  von  den  hohen  Gegenden 
in  die  niederen  abspülen,  die  Höhen  nach  und  nach  eben  zu  machen 
und,  soviel  nn  ihnen  ist,  die  Gestalt  der  Erde  ihrer  Unebenheiten 
zu  berauben  trachten.  Diese  Wirkung  ist  gewifs  und  zuver- 
lässig" (liOM).  Sie  ist  aber  nicht  sowohl  deshalb  Besorgnis  erregend, 
weil  bei  der  allgemeinen  Versetzung  der  Schichten  die  fruchtbaren 
unter  den  toten  versenkt  und  begraben  weiden,  sondern  vielmehr 
deshalb,  weil  die  ganze  Nützlichkeit  der  Krdobertläche  auf  der 
Einteilung  des  festen  Landes  in  Thider  und  Höhen  beruht.  Wenn 
erst  alle  Ungleichheiten  der  Oberfläche  verschwunden  sind,  dann 
wird  das  ohne  x\bzug  sich  häufende  AV^asser.  das  der  Regen  über 
den  Krdhoden  führt,  den  Schofs  derselben  durchweichen,  und  es 
wird  damit  die  Bewohnbarkeit  unserer  Erde  vernichtet  werden. 
Eine  solche  Veränderung  der  P]rd()berfläche  kann,  wie  gesjigt,  nur 
„durch  unaufhörliche  S  u  m  m  i  e  r  u  n  g  e  n"  herbeigeführt 
werden  ;  aber  schliefslich  l)raucht  das  Verderben  nur  Zeit,  um  sich 
durchzusetzen,  ja,  im  Hinblick  auf  die  allmähliche  Einschränkung 
der  [jaiidseen  kann  man  nicht  einmal  behauj)ten,  die  Schritte  zu 
jener   Veränderung  seien  gar  nicht  bemerkbar. 

Wir  werden  l)ei  diesem  Gedanken  Kauts  an  die  Betrachtungen 
von  Helmholtz  und  Gl  aus  ins  erinnert,  wonach  im  Anschlufs 
an  das  l^rinzip  der  A(iuivalenz  von  Wärme  und  Arbeit  der  Natur- 
prozefs  dann  zum  Stillstand  kommen  wird,  wenn  durch  die 
allgemeine  Ausgleichung  der  verschiedenen  Tem])eraturen  die 
Wechselwirkung  der  Kräfte  und  ihr  gegenseitiger  Umsatz  ver- 
nichtet sein  wird. ')  Andrerseits  klingt  es  auch  an  die  Spektdation 
eines  j\Iainländer**)  an,  wenn  Kant  am  Schlüsse  seiner  Abhand- 


*)   Helmholtz:  Über  die  Wechselwirkuii«^^  d.  Naturkrälte  (1854). 

**)  Vjil.  dessen  „Philosophie  der  Erlösunjj:"  (lö7ti)  u.  meine  Kritik  derselben 
in:  Die  deutsche  Sj)ekulati()n  seit  Kant  mit  bes.  Jlücksicht  auf  das  Wesen 
des  Absoluten  u.  d.  Persütdichkeit  Gottes.     (1893.)     Bd.  II,  S.  359—384. 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


39 


lung  die  Frage  aufwirft,  ,,ob  sich  nicht  die  stets  wirksame  Kraft, 
welche  gewissermafsen  das  Leben  der  Natur  macht,  und  die,  wie- 
wohl sie  nicht  sichtbar  in  die  Augen  fällt,  dennoch  bei  allen 
Zeugungen  und  der  ( )konomie  aller  drei  Naturreiche  geschät'tig  ist. 
nach  und  nach  erschöpfe  und  dadurch  das  Veralten  der  Natur 
verursache."  Unter  dem  „allgemeinen  AVeltgeist,"  wie  Kant  diese 
Kraft  bezeichnet,  versteht  er  jedoch  nicht  ein  immaterielles  Agens,  eine 
Seele  der  Welt  oder  etwas  Ähnliches,  sondern  „eine  subtile,  aber 
überall  wirksame  Materie,  die  bei  den  Bildungen  der  Natur  das 
aktive  Prinzip  ausmacht  und,  als  ein  wahrer  Proteus,  bereit  ist, 
alle  Gestalten  und  Formen  anzunehmen.  Eine  solche  Vorstellung 
ist  einer  gesunden  Naturwissenschaft  und  der  Beobachtung  nicht  so 
sehr  entgegen,  als  man  wohl  denken  sollte*'  ('iOf)).  Man  kann  einen 
derartigen  ,, Proteus  der  Natur' ^  sogar  mit  einer  gewissen  Wahr- 
scheinlichkeit annehmen,  mufs  dann  aber  auch  besorgen,  „dafs  die 
unaufhörlichen  Zeugungen  vielleicht  immer  mehr  von  demselben 
verzehren,  als  die  Zerstöuaing  der  Naturbildungen  zurückliefert,  und 
dafs  die  Natur  vielleicht  durch  den  Aufwand  derselben  beständig 
etwas  von  ihrer  Kraft  einbüfse"   (ebd.).   — 

Bereits  in  dieser  Schrift  über  das  Veralten  der  Erde  hatte 
Kant  eine  natürliche  Erklärung  für  die  Entstehung  der  Gebirge, 
der  Flufsrinnen  u.  s.  w.  zu  geben  gesucht  (I.  192  ff.).  Von  jetzt 
an  beginnt  er  ül)erhaupt  der  Beschaffenheit  der  Erdoberfläche  und 
den  auf  ihr  sich  darbietenden  Erscheinungen  seine  Aufmerksamkeit 
zuzuwenden  und  auch  diese  dem  fruchtbaren  Gesichtspunkte  der 
Entwickelung  zu  unterwerfen.  Die  Resultate  dieser  Forscliungen  hat 
Kant  insbesondere  in  seinen  „Vorlesungen  über  physische 
G  e  o  g  r a  ])  h  i  e"  niedergelegt,  von  denen  uns  U  i  ii  k  .  ein  Schüler 
Kants,  nach  dessen  Handschrift  ein  allerdings  nur  sehr  ungenügendes 
P>ild  hinterlassen  hat  (1802);  haben  doch  diese  Vorlesungen  während 
mehr  als  dreifsig  Jahre  einen  äufserst  zahlreichen  Kreis  von  Zuhörern 
zu  fesseln  und  selbst  die  Bewunderung  des  Ministers  v.  Zedlitz  zu 
erregen  gewufst !  Die  physische  Geographie  bildet  das  Seitenstück  zur 
„A  n  throi)ologie  in  ])ragmati  seh  er  Hi  n  sich  t"  (1798).  mit 
welcher  zusammen  sie  ein  „auf  Weltkenntnis  abzweckendes"  System  der 
Natur  in  der  Absicht  ausmacht,  „allen  sonst  erworbenen  Wissen- 
schaften und  Geschicklichkeiten  d;is  Pragmatische  zu  verschaffen,  da- 
durch sie  nicht  blofs  für  die  Schule,  sondern  für  das  Leben  brauchbar 
werden,  und  wodurch  der  fertig  gewordene  Lehrling  auf  den  Schauplatz 
seiner  Bestimnmng,  nämlich  in  die  Welt,  eingeführt  wird"  (11.447; 
VlI.  4:)4).  Wek'hen  Gegenstand  eine  solche  Wissenschaft  behandelt, 
darüber  hat  Kant  in    seinem    „Entwurf    und    Ankündigung 


40 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


41 


<  f 


eines  Collegii  der  physischen  Geographie"  (1757)  sich 
folgendermafsen  ausgesprochen:  „Die  physische  Geographie  erwägt 
die  Natiirheschaffenheit  der  Erdkugel  und  was  auf  ihr  befindhch 
ist:  die  Meere,  das  feste  Land,  die  Gebirge.  Flüsse,  den  Luftkreis, 
den  iMenschen,  die  Tiere,  Pflanzen  und  Mineralien.  Alles  dieses 
aber  nicht  mit  derjenigen  Vollständigkeit  und  ])hilosophischen  Genau- 
heit in  d(^n  Teilen,  welche  ein  Geschäft  der  Physik  und  Natur- 
geschichte ist,  sondern  mit  der  vernünftigen  Neugierde  eines  Reisen- 
den, der  allenthalben  das  Merkwürdige,  das  Sonderbare  und  Schöne 
aufsucht,  seine  gesammelten  Erfahrungen  vergleicht  und  seinen 
Plan  überdenkt"  (IL  :\).  Mit  einer  erstaunlichen  Eelesenheit  auf 
allen  Gebieten  der  Natur-  und  Vfakcrkiiude  hat  Kant  seinen  Stoff 
zasammengetragen,  „die  gründlichsten  Beschreibungen  besonderer 
Länder  von  geschickten  Reisenden"  benutzt,  um  seinen  Vortrag 
möglichst  anziehend  zu  gestalten  und  dabei  eine  Reihe  von  frucht- 
baren Gedanken  ausgestreut,  die  auch  heute  noch  unsere  höchste 
Bewunderung  herausfordern. 

Li  tlie  Reihe  dieser  Betrachtungen  gehört  auch  Kants  Schrift- 
chen   über    das  Feuer   „Medi  t  a  tion  um   quarundam    de  igne 
succincta     delineatio",    womit    er    sich    im    Jahre    1755    den 
Doktortitel  erworben  hat.     Aus  dem  hydrostatischen  Gesetze,  nach 
welchem    der  Seitendruck   pro])ortional  der  Tiefe  ist,    folgert  Kant, 
die    Teilchen    einer    Flüssigkeit    drückten     sich    nicht    unmittelbar, 
sondern  durch   Vermittelung  einer  gewissen  elastischen  Materie,  mit 
deren  Hilfe  sie  das  Moment  ihres  Gewichtes  überallhin  gleichmäfsig 
verteilen.     Ebenso    läfst    die    zunehmende    Verdichtung    erkaltender 
fester  Körper,  sowie  die  Thatsache,    dafs  die  letzteren  durch  ange- 
hängte Gewichte    ausgedehnt  werden,    ohne    zu  zerreifsen,    und  bei 
der  gröfsten   Ausdehnung  das  gröfste  Gewiciit  zu  tragen  vermögen, 
darauf  schliefsen,    dafs  auch  sie  aus  Molekülen  bestehen,    die  nicht 
in  unmittelbarer   Berührung,  sondern    ebenfalls  durch  Vermittelung 
einer  elastischen  Materie  zusammenliängen  und  sich  mit  ihrer  Hilfe 
gegenseitig  anziehen  (L  ooO  f.).    Auf  diese   Weise  wird  begreiflich, 
wie    die    P]lemente    eines    Körpers    bei    teilweiser    Entfernung   jener 
vereinigenden  Materie    aus    den  Zwischenräumen    sich    nähern    und 
das  Volumen  des  Körpers  verringern.  dagegiMi   Ijei  Vermehrung  der 
Quantität    oder   Elastizität    derselben,    sich  vun    einander    entfernen 
und    ihr   Volumen    vergröfsern     können,    ohne    den    Zusammenhang 
unter    einander    einzuhiifsen    (H^iU'.).       Wenn     demnach     ein    jeder 
geriebene  oder  gestofsene  Köri)er  warm  und   nach  allen  Richtungen 
«deichmäfsio;  verdünnt    wii'd   und  dadurch  die  Gegenwart  von  etwas 
Elastischem,   innerhalb  seiner  Masse  Enthaltenem  beweist,  das  infolge 


jener  Erregung  sich  auszudehnen  trachtet,  so  folgt,  dafs  diese  elastische 
Materie  selbst  der  „Wärmestoff"  und  seine  und ula torische 
oder  vibratorische  Bewegung  dasjenige  ist,  was  man  mit  dem 
Namen  Wärme  bezeichnet.  Diese  Materie  der  Wärme  ist  aber 
nichts  Anderes  als  der  Äther  oder  die  Materie  des  Lichts,  welche 
durch  die  starke  Anziehungs-  oder  Adhäsionskraft  der  Korper 
zwischen  ihren  Poren  zusammengeprefst  ist  (L  o55  vgl.  auch: 
„Vorles.  über  physisch.  Geogr.  VIIL  2 18  f.),  wo  Kant  das  Licht 
für  eine   „zitternde  Bewegung  des  Äthers"   erklärt.*) 

Von  gröfserem  Interesse  als  diese  Ausführungen,  die  entfernt 
an  die  moderne  Auffassung  der  Wärme  anklingen,  ist  Kants  Theorie 
der  Winde,  die  er,  abgesehen  von  den  betreffenden  Stellen  in  der 
„Physischen  Geographie-  und  dem  ..Supplemente"  zu  derselben 
(VIIL  28(3 — 295,  446  ft'.)  bereits  in  seinen  „Neuen  Anmer- 
kungen zur  Erläuterung  der  Theorie  der  Winde"  im 
Jahre  1756  vorgetragen  hat.  Unabhängig  von  Hadley,  der  ihm 
hierin  bereits  im  Jahre  1735  vorangegangen,  nachdem  Halley 
1686  eine  falsche  Erklärung  der  Passatwinde  gegeben  hatte,  hat 
Kant  an  dieser  Stelle  die  letzteren  sowohl,  wie  die  Monsune 
(Moussons),  richtig  aus  der  Achendrehung  der  Erde  erklärt  und 
zugleich  zum  ersten  Male  das  Drehungsgesetz  der  Winde  ausge- 
sprochen, wie  es  erst  viel  si)äter  von  Dove  in  seinen  „Meteoro- 
logischen Untersuchungen"  (1837)**)  und  seiner  Abhandlung  „Über 
den  Eintiufs  der  Drehung  der  Erde  auf  die  Strömung  ihrer  Atmo- 
sphäre" theoretisch  begründet  worden  ist.***) 

„Ein  Wind,  der  vom  Äquator  nach  dem  Pole  hinweht,  wird  immer 
je  länger,  desto  mehr  westlich,  und  der  von  dem  Pole  zum  Äcjuator 
hinzieht,  verändert  seine  Richtung  in  eine  KoUateralbewegung  aus 
Osten"  (IL  47S).  Diese  Regel  ist  der  „Schlüssel  zur  allgemeinen 
Theorie  der  Winde",  an  deren  Richtigkeit  Kant  so  wenig  zweifelte, 
dafs  er  sie  sogar  für  „ungemein  nützlich"  hielt,  „wenn  man  sie  zur 
Entdeckung  neuer  Länder  anwenden  will.  Wenn  ein  Seefahrer  in 
der  siullicheii  llalbkugcd  nicht  weit  von  dem  AVendezirkel  zu  der 
Zeit,  wenn  die  Sonne  denselben  überschritten  hat.  einen  anhaltenden 
Nordwestwind  verspürt,  so  kann  dieses  ihm  ein  beinahe  untrüg- 
liches Merkmal  sein,  dafs  gegen  Süden  hin  ein  weitgestrecktes  festes 
Land    sein    müsse,    über    welches    die  Sonnenhitze    die  A(iuatorsluft 


*)  Vgl.  G.  Werther  in:  Altpreufsische  Monatsschrift  (IbGG),  S.  441—44/. 

**)  a.  a.  O.  124  ft.  132  f.  138.  244  ft. 

***)  Poggendorfs  Annaleii  (l8Hr)).    XXXVl.  321— ;5[)1.    Vgl.  Zöllner: 
a.  a.  O.   476  tl.     Reuse  hie:  a.  a.  O.  G.S  IV. 


42 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


nötigt,  zu  streichen  und  einen  mit  einer  westlichen  Abweichung  ver- 
bundenen Nordwind  macht.  Die  Gegend  von  Neuholhind  giebt  nach 
den  jetzigen  Wahrnehmungen  noch  die  gröfste  Vermutung  eines 
daselbst  befindlichen  weit  ausgebreiteten  Australlandes"  (485).  Die 
Richtigkeit  dieser  Vermutung  hat  die  Folgezeit  bestätigt;  Kant  hat 
die  groi'se  Ausbreitung  des  australischen  Festlandes  vorausgesagt, 
die  damals  nocii   so  gut  wie  unbekannt  war. 

Die  physische  Geographie,  wie  Kant  sie  vorgetragen  hat,  ist  nicht 
eine  rein  willkürliche  Samndung  von  Kuriositäten,  eine  blol'se  Beschrei- 
bung merkwürdiger  Naturerscheinungen,  wie  es  nach  den  ol)igen 
Worten  Kants  wohl  den  Anschein  haben  könnte.  Im  Gegenteil 
verleiht  auch  hier  der  entwickeln ngsgeschichtliche  Gesichts- 
punkt diesen  Betrarhtuiigeii  erst  ihren  besonderen  Wert,  und 
gerade  eine  Geschichte  der  Naturphilosophie  unseres  Jahrhunderts 
kann  nicht  genug  betonen,  wie  selir  dieser  mai'sgebende  Gedanke 
unserer  Zeit  bereits  in  dem  Kopfe  desjenigen  Denkers  gelebt  hat, 
der  mit  liecht  für  den  Vater  der  neuesten  Philosophie  gehalten 
wird.  Gerade  (hulurch  ist  ja  Kant  so  grofs  und  ist  er  seinen  Zeit- 
genossen so  weit  überlegen,  dafs  er  die  unhistorische  Anschauungs- 
weise der  Aufklärungs[)eriode  durch  die  Betonung  der  historischen 
Betrachtungsart  korrigiert  und  diese  auch  auf  die  Natur  anwendet, 
die  man  als  ein  fertig  Gegebenes  sonst  hinzunehmen  gewohnt  war. 
])urch  die  Hervorkehrung  dieses  Gesichtspunktes  hat  Kant  nicht 
blol's  die  geschichtliche  Sj)ekulation  seinei*  unmittelbaren  Nachfolger 
in  (k'r  i^hilosophie  vorweggenommen,  welche  die  gleiche  Betrachtungs- 
weise nur  mehr  auf  das  gesamte  Gebiet  des  ])hysischen  und  g(?istigen 
Lebens  überhau])t  auszudehnen  brauchten,  sondern  ist  er  auch  so  zu 
sagen  der  X'atcr  der  modernen  Na  t  u  i- w  i  s  s  ensc  ha  ft  geworden, 
insofern  dieselbe  ihren  höchsten  Ruhm  darin  setzt  und  ihre  gWifsten 
Erfolge  dadurch  gewonnen  hat,  dafs  sie  das  Leben  der  Natur  als 
einen  geschichtlichen  i*rozefs  betrachtet. 

Man  darf  sich  dadurch  nicht  irre  maclien  lassen,  wenn  Kant 
in  der  Kiideitung  zu  seinen  Vorlesungen  üher  ])hysisclie  Geographie 
die  Geograidiie  als  Naturbeschreiliung  in  den  Gegensatz  zur  Naturge- 
schichte stellt :  „Die  Geschichte,  sagt  er,  ,,betrifft  die  Begebenheiten,  die 
in  Ansehung  der  Zeit  sich  nach  einander  zugetragen  haben.  Die  Geo- 
graphie betrifft  Erscheinungen,  die  sich  in  Ansehung  des  Raumes  zu 
gleicher  Z(Mt  ereignen.  Die-  Geschichte  ist  eine  Erzählung,  die  Geo- 
grapiiie  aber  eine  Beschreibung"  (VIIT.  1 ;")")  f. ).  Thatsächlich  enthalten 
nicht  blofs  die  „Vorlesungen-'  eine  „Geschi  chte  der  (^JueHen  und 
Brunnen-',  eine  „(tc schichte  der  Flüsse*',  eine  „Geschichte 
der  grolsen  Veränderungen,   welche  die  Erde  ehedem  erlitten  hat  und 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


43 


noch  erleidet",  sondern  der  „Entwurf"  vom  Jahre  17:")?  zeigt  auch 
zur  Genüge,  wie  sehr  die  geschichtliche  Betrachtungsweise  im  Vorder- 
grunde der  kantischen  Erörterungen  gestanden  hat.  Ül)erhaupt  ist 
dieselbe  von  dem  Begriffe  der  j)hysischen  Geographie  gar  niclit  zu 
trennen;  darüber  hat  Kant  sich  unzweideutig  in  der  „Nach- 
richt von  der  Ei  i  n  1  e  i  t  u  n  g  seiner  Vorlesungen  in  dem 
Winterhalbjahre  von  ITbö — ITGb"  ausgesprochen,  wo  er  uns 
zugleich  einen  allgemeinen  Überblick  über  das  von  ihm  behandelte 
Thema  bietet.  „Diese  Disziplin",  heifst  es  hier  von  der  physischen 
Geogra])hie,  „wird  eine  p  hy  s  is  ch  -  m  oral  i  seh  -  und  politische 
Geographie  sein,  worin  zuerst  die  Merkwürdigkeiten  der  Natur 
durch  ihre  drei  Reiche  angezeigt  werden  mit  Auswahl  derjenigen, 
welche  Einflufs  vermittelst  des  Handels  und  der  Gewerbe  auf  die 
Staaten  haben.  Dieser  Teil,  welcher  zugleich  das  natürliche  Ver- 
hältnis aller  Länder  und  Meere  und  den  Grund  ihrer  V'erknüpfung 
enthält,  ist  das  eigentliche  Fundament  aller  Geschichte, 
ohne  welchen  sie  von  Märchenerzälilungen  wenig  unterscliieden  ist. 
Die  zweite  Abteilung  betrachtet  den  Menschen  nach  der  Mannig- 
faltigkeit seiner  natürlichen  Eigenschaften  und  dem  Unterschiede 
desjenigen,  was  an  ihm  moralisch  ist,  auf  der  ganzen  Erde:  eine 
sehr  wichtige  und  ebenso  reizende  Betrachtung,  welche  uns  eine 
grofse  Karte  des  menschlichen  Geschlechts  vor  Augen  legt.  Zuletzt 
wird  dasjenige,  was  als  eine  Folge  aus  der  Wechselwirkung  beider 
v(U'her  erzählten  Kräfte  angesehen  werden  kann,  nändich  der  Zu- 
stand der  Staaten  und  Völkerschaften  auf  der  Erde  erwogen,  nicht 
sow^ohl  wie  er  auf  den  zufälligen  Ursachen  der  Unternehmung  und 
des  Schicksals  einzelner  Menschen,  als  etwa  der  Regierungsfolge,  den 
Eroberungen  oder  Staatsränken  beruht,  sondern  in  Verliältnis  auf 
das,  was  beständiger  ist  und  den  entfernten  Grund  von  jenen  ent- 
hält, nändich  die  Lage  ihrer  Länder,  die  Produkte,  Sitten,  Gewerbe, 
Handlung  und  Bev()lkerung.  Selbst  die  Verjüngung  einer  Wissen- 
schaft von  so  weitläuHgen  Ansichten  nach  einem  kleineren  Mafsstabe 
hat  ihren  grofsen  Nutzen,  indem  dadurch  allein  die  Einheit  der 
Erkenntnis,  ohne  welche  alles  Wissen  nur  Stückwerk  ist,  er- 
langt wird"   (II  :V2()L  vergl.   XUI.    IT)!)  f.). 

Einheit  der  Erkenntnis,  das  ist  es,  woran  dem  Philosophen 
Kant  gelegen  ist.  Diese  aber  kommt  (^rst  dann  zustande,  wxMin 
auch  die  Entstehung  und  P]  n  t  w  i  c  k  e  1  u  n  g  einer  Erscheinung  dem 
Blick  des  Forschers  klar  vor  Augen  liegt.  ,, Wahre  Philosophie  ist 
es,  die  Verschiedenheit  und  Mannigfaltigkeit  einer  Sache  durch  alle 
Zeiten  zu  verfolgen"  (VIII.  157).  Wendet  man  diese  Betrachtungs- 
weise auf  die  Naturgegenstände  an,  so  ergiebt  sich  daraus  der  Be- 


44 


A.    Kant  als  Naturforacher. 


griff  einer  Naturgeschichte.  „Wir  nehmen",  sagt  Kant,  „die 
Benennungen :  Naturbesclireihung  und  Naturgescliichte  gemeiniglich 
in  einerlei  Sinne.  Allein  es  ist  klar,  dafs  die  Kenntnis  der  Natur- 
dinge, wie  sie  jetzt  sind,  immer  noch  die  Erkenntnis  vom  dem- 
jenigen wünschen  lasse,  was  sie  ehedem  gewesen  sind  und  durch 
welche  Reihe  von  Veränderungen  sie  durchgegangen,  um  an  jedem 
(3rte  in  ihren  gegenwärtigen  Zustand  zu  gelangen"  (II.  441).  „Den 
Zusammenhang  gewisser  jetziger  Beschaffenheiten  der  Naturdinge 
mit  ihren  Ursachen  in  der  älteren  Zeit  nach  Wirkungsgesetzen, 
die  wir  nicht  erdichten,  sondern  aus  den  Kräften  der  Natur,  wie 
sie  sich  uns  jetzt  darbietet,  ableiten,  nur  bluls  soweit  zurück- 
verfolgen, als  es  die  Analogie  erlaubt,  das  w^äre  Naturgeschichte, 
und  zwar  eine  solche,  die  nicht  allein  möglich,  sondern  auch, 
z.  B.  in  den  Ph-dtlieorieen ,  von  gründlichen  Naturforschern  häutig 
genug  versucht  worden  ist"  (IV.  474).  Freilich  verhehlt  sich 
Kant  di(^  Schwierigkeiten  nicht,  wodurch  eine  solche  Naturgeschichte 
hinter'  der  blofsen  Naturbeschreibung  zurücksteht.  Wenn  diese 
als  Wissenschaft  in  der  ganzen  Israelit  eines  grofsen  Systems 
erscheint,  so  kann  dagegen  jene  nur  F^ruchstücke  oder  wankende 
Hypothesen  aufzeigen.  Die  Naturgeschichte  ist  eine  für  jetzt  mehr 
im  Schattenrisse  als  im  Werke  ausführbare  AVissenschaft  (ebd.). 
Indessen  „man  nmfs,  so  sehr  man  auch,  und  zwar  mit  Recht, 
der  Frechheit  der  Meinungen  feind  ist,  eine  Geschichte  der 
Natur  wagen,  welche  eine  abgesonderte  Wissenschaft  ist,  die  wohl 
nach    und    nach    von   Meinungen    zu   Einsichten    fortrücken   könnte" 

(IL  4r)l). 

Wie  fruchtbar  der  Gesichtsi)unkt  der  Entwickelung  in  dei- 
Naturbetrachtung  ist,  und  mit  welcher  Meisterschaft  Kant  selbst 
ihn  zur  Anwendung  gebraclit  hat,  davon  liefern  uns  insbesondere 
seine  Untersuchungen  über  die  jVIenschenrassen  ein  bt^wunderungs- 
würdiges  Beispiel,  die  für  uns  ein  um  so  gröfseres  Interesse  haben, 
als  sich  in  ihnen  bereits  die  wesentlichsten  Gedanken  der  modernen 
Descendenztheorie  zum  mindesten  keimliaft  angedeutet  finden,  und 
zwar  in  einer  Weise,  die  Kant  zu  einem  unmittelbaren  Vorläufer 
Darwins  stempelt.*)  Kant  hat  jenen  Gegenstand  in  drei  Auf- 
sätzen behandelt,  in  dem  Programm  zur  Ankündigung  seiner  Vor- 
lesungen über  physische  Geographie  im  Sommerhalbjahr  1775: 
„Von  den  verschiedenen  Rassen  der  Menschen,"  unter 
dem  Titel  „Bestimmung  des  Begriffs  der  Menschen- 
rasse"  (liöo)   und  in  der  Abhandlung    „LMjer  den  Gebrauch 


*)  V<j;l.  Fr.  Schultz  e:   „Kant  und  Darwin"  (1875). 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


45 


teleologischer  Prinzipien  in  der  Philosophie"  vom 
Jahre  1788. 

Wenn  die  Naturgeschichte  uns  „die  Veränderung  der  Erdgestalt, 
imgleichen  die  der  Erdgeschöpfe  (PHanzen  und  Tiere),  die  sie  durch 
natürliche  Wanderung  erlitten  haben,  und  ihre  daraus  entsprungenen 
Abartungen  von  dem  Urbilde  der  Stammgattung"  lehrt,  so  würde 
sie  hierbei  vermutlich,  meint  Kant,  „eine  grofse  Menge  scheinbar 
verschiedener  Arten  zu  Rassen  ebenderselben  Gattung  zurück- 
führen und  das  jetzt  so  weitläufige  Schulsystem  der  Natur- 
beschreibung in  ein  physisches  System  für  den  Verstand  ver- 
wandeln" (II.  441).  Art  und  Gattung  sind  in  der  Natur- 
geschichte, in  der  es  nur  um  die  Erzeugung  und  die  Abstammung 
zu  tliun  ist,  an  sich  nicht  unterschieden  (Wolf.  Fuchs. 
Schakal.  Hyäne  und  Haushund  sind  also  alle  von  einem  und  dem- 
selben Stamm  entsprungen)  (IV.  226).  Ganz  ebenso  gehören  auch 
alle  Menschen,  unerachtet  ihrer  Verschiedenheit,  zu  einer  und  der- 
selben Gattung,  sowohl  weil  man  sonst  viele  Lokalschöpfungen  an- 
nehmen niüfste,  eine  Meinung,  welche  die  Zahl  der  Ursachen  ohne 
Not  vervielfältigt,  als  auch,  weil  sie  durchgängig  mit  einander  frucht- 
bare Kinder  zeugen  (II.  4)^;")  f.).  Hätte  es  ursprünglich  ver- 
schiedene Stämme  von  Menschen  gegeben,  ,.so  liefse  es  sich  gar  nicht 
erklären  und  begreifen,  warum  nur  in  der  wechselseitigen  Ver- 
mischung derselben  unter  einander  der  Charakter  ihrer  Verschieden- 
heit unausbleiblich  anarte."  Wenn  dies  geschieht,  wenn  die  beider- 
seitigen Eigentümlichkeiten  der  Eltern  in  den  Kindern  wiederum 
zum  Vorschein  kommen,  „so  wird  ein  jeder  eben  daraus,  dafs  eine 
solche  fruchtbare  Vermischung  stattfindet,  auf  die  Einheit  des 
Stammes  schliefsen,  wie  aus  der  Vermischung  der  Hunde  und 
Füchse  u.  s.  w."  (IV.  224.  228.  47()  f.  4SI). 

„Freilich  kann  man  nicht  hoffen,  jetzt  irgendwo  in  der  Welt 
die  ursprüngliche  menschliche  Gestalt  unverändert  anzutreffen" 
(II.  440;  IV.  231).  Jene  Stammgattung  der  Menschheit  müssen 
wir  iür  schon  erloschen  halten  und  können  höchstens  aus  den  vor- 
handenen Abartungen  diejenige  aussuchen,  mit  welcher  sie  sich  am 
meisten  vergleichen  läfst  (ebd.).  Nur  Vermutungen  lassen  sich  darüber 
aussprechen,  wie  jene  ursprüngliche  Gattung  beschaffen  gewesen  sein 
mufs.  „Der  Mensch  war  für  alle  Klimate  und  für  jede  Be- 
schaffenheit des  Bodens  bestimmt;  folglich  mufsten  in  ihm 
mancherlei  Keime  und  natürliche  Anlagen  bereit  liegen,  um  ge- 
legen tlicii  entweder  ausgewickelt  oder  zurückgehalten  zu  werden, 
damit  er  seinem  Platze  in  der  AV^elt  angemessen  würde  und  in  dem 
Fortgange  der  Zeugungen  demselben  gleichsam  angeboren  und  dafür 


46 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


gemacht  zu  sein  scliiene"  (II.  442).  „Die  Varietät  ist  zweckmäfsig 
in  dem  ursj)rünglicli(*n  Stamme  belegen  gewesen,  um  die  gröfste 
Mannigfaltigkeit  zum  Heliuf  unendlich  verschiedener  Zwecke  zu  be- 
gründen und  in  der  Folge  zu  entwickeln''  und  scheint  eine  an  neuen 
Charakteren  (äul'seren  sowohl,  als  inneren)  schier  ..unerschöpfliche 
Natur"  anzuzeigen  (IV.  4  7S).  Und  zwar  ist  der  Natur  daran  ge- 
legen, dal's  diese  Unterschiede  auch  in  die  Erscheinung  treten  :  ,.sie 
will  nicht,  dafs  immer  die  alten  Formen  wieder  reproduziert  werden, 
sondern  alle  Mannigfaltigkeit  soll  herausgebracht  werden,  die  sie  in 
die  urs])riingliclien  Keime  des  Menscbenstammes  gelegt  hatte"  (IV. 
479).  JJarum  scheint  sie  in  Ansehung  der  Varietäten  die  Zusammen- 
schmelzung zu  verhüten,  weil  sie  ihrem  Zweck,  nämlich  der  Mannig- 
faltigkeit der  Cluiraktere,   entgegen  ist  (IV.   47(S). 

Wie  kam  imn  diese  Differenzierung  des  ursprünglichen  Stamm- 
typus zustande  ?  Es  ist  die  ä  u  f  s  e  r  e  Beschaffenheit  der  Erde 
selbst,  welche  die  Auswickelung  ihrer  potentiellen  Unterschiede  bedingt 
hat,  indem  sie  die  Wesen  veranlafste,  sich  ihrer  jeweiligen  Um- 
gebung anzupassen.  ,.Aus  diesem  Hange  der  Natur,  dem  Boden 
allerwärts  in  langen  Zeugungen  anzuarten.  mufs  jetzt  die  Menschen- 
ijjestalt  allenthalben  mit  Lokalmodifikationen  behaftet  sein" 
(IL  449).  „Diese  Vorsorge  der  Natur,  ihr  Geschöpf  durch  ver- 
steckte innere  Vorkehrungen  auf  allerlei  künftige  Umstände  aus- 
zurüsten, damit  es  sich  erhalte  und  der  Verschiedenheit  des 
Klimas  oder  des  Bodens  angemessen  sei,  ist  bewunderungswürdig 
und  bringt  bei  der  Wanderung  und  Ver])flanzun  g  der  Tiere  und 
Gewächse  dem  Scheine  nach  neue  Arten  hervor,  welche  nichts  Anderes 
als  Abartungen  und  Kassen  von  derselben  (Tattung  sind,  deren 
Keime  und  natürliche  A  nlagen  sich  nur  gelegentlich  in  langen 
Zeitläufen  auf  verschiedent*  Weise  entwickelt  haben^*  (IL  440  f.). 
Luft,  Soinie  und  Nahrung  spiiden  hierbei  die  gröfste  Bolle,  indem 
sie  den  Körper  in  seinem  Wachstum  modifizieren  (ebd.  u.  f.  IL  437). 
So  bedurfte  es  m'cht  einer  besonderen  weisen  Fügung,  die  Wesen 
in  solche  Orter  zu  bringen,  wo  ihre  Anlagen  pafsten  ;  ,, sondern  wo 
sie  zufälliger  Weise  hiidvamen  und  lange  Zeit  ihre  Generation 
fortsetzten,  da  entwickelte  sich  der  für  diese  Erdgegend  in  ihrer 
Organisation  befindliche,  sie  einem  solchen  Klima  angemessen  machende 
Keim.  Die  Entwickelung  der  Anlagen  richtete  sich  nach  den  ( )i-tern, 
und  nicht  mufsten  etwa  die  Orter  nach  den  schon  entwickelten  An- 
lagen ausgesucht  werden"  (IV.  485). 

,,Der  Mensch,  in  die  Eiszone  versetzt,  mufste  nach  und  nach 
in  eine  kleinere  Statur  ausarten,  weil  bei  dieser,  wenn  die  Kraft  des 
Herzens  dieselbe  bleibt,  der  Jilutundauf  in  kürzerer  Zeit  geschieht, 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


47 


der  Pulsschlag  also  schneller  und  die  Blutwärme  grr)fser  wird.  Alle 
Auswickelung,  wodurch  der  Körper  seine  Säfte  nur  verschwendet, 
mufs  in  diesem  austrocknenden  Himmelsstriche  nach  und  nach  ge- 
hemmt werden.  Daher  werden  die  Keime  des  Haarwuchses  mit 
der  Zeit  unterdrückt,  so  dafs  nur  diejenigen  übrig  bleiben,  welche 
zur  notwendigen  Bedeckung  des  Hauptes  erforderlich  sind.  Verm()ge 
einer  natürlichen  Anlage  werden  auch  die  hervorragenden  Teile  des 
Gesichts,  welches  am  wenigsten  einer  Bedeckung  fähig  ist.  da  sie 
durch  die  Kälte  unaufhörlich  leiden,  vermittelst  einer  Vorsorge  der 
Natur  allmählich  flacher  werden,  um  sich  besser  zu  erhalten.  So 
entspringt  nach  und  nach  das  bartlose  Kinn,  die  geplätschte  Nase, 
dünne  Li])pen,  blinzende  Augen,  das  Hache  Gesicht,  die  rötlich  braune 
Farbe  mit  dem  schwarzen  Haare,  mit  einem  Worte :  die  kalmückische 
(xesichtsbildung,  welche  in  einer  langen  Beihe  von  Zeugungen  in 
demselben  Klima  sich  bis  zu  einer  dauei'baften  Basse  einwurzelt,  die 
sich  erhält,  wenn  ein  solches  Volk  gleich  nachher  in  milderen  Himmels- 
strichen neue  Sitze  gewinnt"  (IL  442  f.) 

Die  Bassenunterschiede  sind  also  das  Besultat  vieler  Zeu']:uinien, 
in  welchen  die  Natur  ungestört  (ohne  Verpflanzung  oder  fremde 
Vermischung)  hat  wirken  k()nnen  (IL  4H7).  und  diese  sind  dauer- 
hafter Art.  Insbesondere  vererbten  sich  nämlich  diejenigen  Eigen- 
schaften, die  zur  ]\Iöglichkeit  der  Existenz  der  AVesen,  mithin 
auch  zur  Mciglichkeit  der  Fort jj flau zung  der  Art  gehörten 
(IV.  225),  während  diejenigen,  denen  keine  Gelegenheit  zur  Ent- 
faltung geboten  wurde,  verkümmerten  und  schliefslich  überhaupt 
ganz  erloschen  (IL  442;  IV.  231).  Dafs  die  Entstehung  dauer- 
hafter Bassenunterschiede  aus  dem  allmählichen  sich  Befestigen 
liüssiger  Eigenschaften  keineswegs  undenkbar  ist,  beweist  die  That- 
sache,  dafs  Ehen,  die  immer  in  denselben  Familien  bleiben,  dasjenige 
mit  der  Zeit  hervorbringen,  was  man  den  Familienschlag  nennen 
kann,  wo  sich  etwas  Charakteristisches  endlich  so  tief  in  die  Zeugungs- 
kraft einwurzelt,  dafs  es  einer  Spielart  nahe  kommt  und  sich,  wie 
diese,  forterhält.  ,,Auf  der  Möglichkeit,  durch  sorgfältige  Aus- 
sonderung der  ausartenden  Geburten  von  den  einschlagenden 
endlich  einen  dauerhaften  Faniilienschlag  zu  errichten,  beruhte  die 
Meinung  des  Herrn  von  Maupertuis,  einen  von  Natur  edlen  Schlag 
Menschen  in  irgend  einer  Brovinz  zuziehen,  worin  Verstand,  Tüchtigkeit 
und  Bechtschafl'enheit  erblich  wären''  (IL  437).  Das  Gleiche  aber 
iindet  sich  auch  im  Tierreich:  ,,Wenn  man  unter  den  vielen  Küchlein, 
die  von  denselhen  Eltern  geboren  werden,  nur  die  aussucht,  die 
weifs  sind,  und  sie  zusammenthut,  bekommt  man  endlich  eine  weifse 
Basse,  die  nicht  leicht  anders  ausschlägt"  (VIII.  314).     Üherhaupt 


48 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


A.   Kant  als  Naturforscher. 


49 


,,\venii  man  luich  den  Ursachen  der  mancherlei  einem  Volke  an- 
gearteten Eildungen  und  Naturelle  fragt,  so  darf  man  nur  auf  die 
Ausartungen  der  Tiere,  sowold  in  ihrer  Gestalt,  als  ihrer  Be- 
nelimungsart  acht  liahen,  sohald  sie  in  ein  anderes  Klima  gebracht 
werden,  wo  andere  Luft,  Speise  u.  s.  w.  ihre  Nachkommenschaft 
ihnen  uniihnlich  machen.  Ein  Eichhiirnchen.  das  hier  braun  war, 
wird  in  Sibirien  grau.  Ein  europäischer  Hund  wird  in  Guinea  un- 
gestaltet und  kahl  samt  seiner  Nachkommenschaft.  Die  nordischen 
Völker,  die  nach  Spanien  übergegangen  sind,  haben  nicht  allein  eine 
Nachkommenschaft  von  Ki'h-pern.  die  lange  nicht  so  grofs  und  stark, 
als  sie  waren,  hinterlassen,  sondern  sie  sind  auch  in  ein  Temperament, 
das  dem  eines  Norwegers  oder  Dänen  sehr  unähnlich  ist,  aus- 
geartet'^  (VITT.  :^17). 

Man  sieht,  liier  spielt  überall  der  Gedanke  der  Entwickelung 
dieselbe  Holle,  wie  in  der  heutigen  Naturwissenschaft.  Die  charak- 
teristischen Eigentümlichkeiten  der  gegenwärtigen  Lebewesen  sind  nicht 
das  Produkt  eines  einmaligen  Sch(")pfnngsaktes,  sondern  sie  sind  durch 
Anpassung  und  Vererbung  im  Ijaui'e  vieler  Generaticmen  erworben. 
Die  Eeihe  der  Organismen  befindet  sich  in  einem  stetigen  Flufs, 
worin  den  scheinbar  so  festen  Unterschieden  der  Arten  und 
Gattungen  nur  (^ine  relative  und  sekundäre  Bedeutung  zukommt. 
Bis  auf  welche  Objekte  Kant  selbst  diese  entwickelungsgeschichtliche 
Betrachtung  ausgedehnt  hat,  dafür  liegt  uns  in  seiner  „Anthropcdogie'" 
ein  sehr  merkwürdiges  Beisjuel  vor.  Aus  der  Thatsache,  dafs  kein 
Tier  laut  seine  (Jeburt  ankündigt,  schliefst  er  nämlich,  auch  das  Ge- 
schrei, mit  welchem  das  kaum  geborene  Kind  des  Menschen  in  die  Welt 
tritt,  sei  ..in  der  frühen  Epoche  der  Natur  in  Ansehung  dieser  Tier- 
klasse (nändich  des  Zeitlaufs  der  llohigkeit)  noch  nicht*'  gewesen, 
sondern  es  sei  erst  in  einer  zweiten  Kpoche,  nachdem  beide  Eltern 
schon  zu  derjenigen  Kultur,  die  zum  liäusliehen  Leben  notwendig 
ist,  eingetreten,  ohne  dafs  wir  wissen,  wie  die  Natur  und  durch 
welche  mitwirkenden  Ursachen  sie  eine  solche  Entwickelung  ver- 
anstaltete. „Diese  Bemerkung,^'  meint  Kant,  ..führt  weit,  z.  B.  auf 
den  Gedanken:  ob  nicht  auf  dieselbe  zweite  Epoche  bei  grofsen 
Naturrevolutionen  noch  eine  dritte  folgen  dürfte,  da  ein  Orang-Utang 
oder  Schimpanse  die  Organe,  die  zum  Gehen,  zum  Befühlen  der 
Gegenstände  und  zuiu  S])rechen  dienen,  sich  zum  Gliederbau  eines 
Menschen  ausbildete,  deren  Innerstes  ein  Organ  für  den  Gebrauch 
des  Verstandes  enthielte  und  durch  gesellschaftliche  Kultur  sich  all- 
mählich entwickelte'*   (VIL   {)b2  f.).    — 

Wie    sehr    er    nun    auch    in  allen  diesen  Äufserungen  mit  der 
modernen  Descendenzlehre  übereinstimmt,  darin  unterscheidet  Kant  sich 


doch    in   vorteilhafter   Weise    von  den    meisten  heutigen   Vertretern 
dieser  Theorie,    dafs    er  nicht,  wie    diese,    glaubt,    ein  äufserliclier 
Mechanismus    oder  der  blinde  Zufall  sei  allein   imstande,    die  Ent- 
wickelung   und    Angepafstheit    der    Organismen    an  ihre  jeweiligen 
Existenzbedingungen    zu    erklären.      „Der    Zufall    oder    allgemeine 
mechanische  Gesetze  können  solche  Zusammenpassungen    nicht  her- 
vorbringen.    Daher  müssen  wir  dergleichen   gelegentliche  Ent- 
wickelungen    als    vorgebildet    ansehen.      Denn    äufsere    Dinge 
können  wohl    Gel  e  ge  nheits-,    aber  nicht   hervorbringende 
Ursachen    von   demjenigen  sein,  Avas  notwendig  anerbt  und  nach- 
artet.    So   wenig  als    der   Zufall   oder   phy  si  seh- m  echa- 
nische   Ursachen    einen    organischen   Körper   hervor- 
bringen   können,    so  wenig   werden  sie  zu  einer  Zeugungskraft 
etwas  hinzusetzen,  d.  i.  etwas  bewirken,   was  sich  selbst  fortpflanzt, 
wenn    es    eine    besondere    Gestalt    oder    Verhältnis    der   Teile   ist" 
(II.  441).    Man  darf  weder  einen  in  das  Zeugungsgeschäft  der  Natur 
pfuschenden  Einlhifs  der  Eiidnldungskraft  gelten  lassen,  wie  er  z.  B. 
durch  das  sog.   ,. Versehen  der  Schwangeren"   hervorgerufen  werden 
soll,    noch  auch  den  Zufall    zum  Hervorbringer  organischer  AVesen 
machen,     weil    eine    solche    Erklärungsart    im    Grunde    nur    ,.(lem 
schwärmerischen   Hange    zur    magischen   Kunst"    Vorschub    leistet, 
welchem    jede,    auch    die    kleinste,    Bemäntelung  erwünscht  kommt 
(IV.  223). 

Der  physische  erste  Ursprung  organischer  Wesen  Ideibt  uns 
immer  unvei-ständlieh;   schon   deshalb  kommen  Avir  um  die  Annahme 
teleologischer  Erklärungsgründe  nicht  herum  (IV.  481).    Indem 
wir  aber  die  Natur  als  eine  „von  selbst  zweckmäfsig  wirkende" 
betrachten  (IV^  48;")),  so  überschreiten  w4r  damit  zwar  die  Grenzen 
der  Naturwissenschaft,    aber  keineswegs  die  Grenzen  der  Wissen- 
schaft überhaupt.     Kant  ist  überzeugt,   „dafs  alles  in  einer  Natur- 
wissenschaft   natürlich    müsse  erklärt  werden,    w^eil    es    sonst 
zu    dieser    Wissenschaft    nicht    gehören    \vürde"    (IV.  4})()). 
Dieser  Grundsatz  also  bezeichnet  die  Grenzen  derselben.     „Denn 
man  ist  zu  ihrer  äufsersten  Grenze  gelangt,   wenn  man  den  letzten 
unter    allen     Firkläi'ungsgründen    braucht,     der    noch     durch     Er- 
lab rung  bewährt  werden  kann.     Wo  diese  aufhören  und  man  mit 
selbsterdachten  Kräften  der  Materie    nach    unerhörten    und    keiner 
Belege   fähigen    Gesetzen   es   anfangen    mufs,    da    ist    man    schon 
über    die    Naturwissenschaft    hinaus,    ob    man    gleich    noch 
immer  Naturdinge  als  Ursachen  n(^nnt,  zugleich  aber  ihnen  Kräfte 
beilegt ,    deren     Existenz    durch    nichts    bewiesen ,    ja    sogar    ihre 
Möglichkeit    mit    der   Vernunft    schwerlich    vereinigt    werden   kann, 

D  r  e  w  8  ,  Kants  Nuturphilosopliie.  4 


50 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


Weil    der    Re^i^riflP    eines    organisierten   Wesens    es    schon   bei  sich 
führt,  (lafs  es  ''eine  Materie  sei,  in  der  alles  wechselseitig  als  Zweck 
und  Mittel  auf  einander  in  Beziehung  steht,   und  dies  sogar  nur  als 
System    von    Endursachen    gedacht    werden    kann,    mithin    die 
M.-)glichkeit  desselben  nur  eine  teleologische,  keineswegs  aber  physisch- 
mechanische    Erklaiungsart,    wenigstens    der    menschlichen    Ver- 
uui.fl  übrig  Uifst,  so  kunn   in  der  Physik  nicht  nachgefragt  werden, 
wolier  d.Min  alle  Organisierung  selbst  ursprünglich  herkomme.     Die 
Beantwortung    dieser    Frage    würde,    wenn    sie    überhaupt    für    uns 
zuganglich   ist.  offenbar  aufser  der  Naturwissenschaft  in  der  M  eta- 
pl^ysi^k  liegen.     Ich  meinerseits,"  sagt  Kant,  „leite  alle  Organisation 
von  on^^auischen   Wesen    ((hirch   Zeugung)    ab    und  si)ätere   Formen 
(dieser  xVrt  Naturdinge)  nacli  (besetzen  der  alhnählichen   Entwicke- 
lung    von    ursprünglichen    Anlagen,    die    m    der    Organisation 
ihivs  Stammes  anzutreffen  waren.     Wie   dieser  Stamm    selbst   ent- 
stanchMi   sei,    diese  Aufgabe  liegt  gänzlich   über    den  Grenzen  aller 
dem   Menschen   möglichen   Physik  hinaus,    innerhalb  deren  ich   doch 
glaubte,   mich  halten  zu  müssen"  (IV.  491). 

lu    der  Naturwissenschaft    hat  man    sich  sorgfältig  vor  Hypo- 
thesen   zu    hüten,    die    abseits  von    der  Erfahrung    liegen,    und    zu 
welchen    die    Hilfe    der    Geometrie    nicht    zureicht.     I^Ian    soll  nur 
diesen   Satz  nicht  dahin  übertreiben,    als  dürfe  man  sich  überhaupt 
nicht  auf   das  M.-ei'   der  Spekulation    hinauswagen,    als    müsse  man 
der  griHscren  Sicherheit  wegen  sich  inmu'r  nur  an  den  Küsten  halten 
und  nichts  zulassen,    wa^  nicht  aus  der  Erfahrung  sich  unmitteU)ar 
ergiebt.      ,,Bei  einem    solchen  Verfahren  kann    man  zwar    die  Ge- 
setze   der    Natur,    aber    nicht    den    Ursprung    und    .lie    Ur- 
sachen   dieser  Gesetze    kennen    lernen.     Denn    wer  nur    hei    den 
Erscheinungen  der  Natur  als  solchen  stehen   bleibt,    dem  bleibt  die 
Erkenntnis  der  ersten  Ursachen  immer  verschlossen,  und   er  gelangt 
so  wenig  zur  p]rkenntnis  des  AVesens  der  Klirper.  wie  die,  welche 
den   Berg   immer  hidier  und    höher  hinansteigen,    doeh  niemals  den 
Himmel  "mit  ihren  Händen,   greifen  werden"   (1.  A')i)).    „Wenn  daher 
auch   die  Meisten   glauben,    bei   der  Naturforschun-  ihrer  entbehren 
'/u    können,    die  Helferin    hierbei,    welche    das  Licht  anzündet,    ist 
doch  allein  die  Metaphysik"'  (ebd.). 

Als  Kant  im  dahre  I7r>(l  diese  Worte  niederschrieb,  war  er  an 
demjenigen  Funkte  angelangt,  wo  das  blofse  Aufsuchen  der  Natur- 
gesetze und  die  Erklärung  der  JMscheinungen  aus  den  gegebenen 
Thatsachen  seinem  Geist  nicht  mehr  genügte.  Es  drängte  ihn.  dem 
hinter  ihnen  liegenden  Wesen  der  Erscheinungen  nachzusi)iiren,  sich 
Eechenschaft  über  die  Voraussetzungen  abzulegen,  deren  er  sich  bis 


A.    Kant  als  Naturforscher. 


51 


dahin    bei    seinen    Erklärungsversuchen    bedient    und    damit    seine 
Aufgabe  zu  Ende  zu  fiUiren,    die  er  sich  mit  so  kühner  Zuversicht 
in  seiner  Erstlingsschrift  gestellt  hatte.     Was  ihm  vorschwebte,  war 
nichts  Geringeres,    als  eine  vollständige  Umwälzung  in    der  Natur- 
anschauung   seiner  Zeit.     Die    alte    physikalische    Vorstellung,    die 
alle  Bewegungserscheinungen    aus  Druck    und  Stofs    eines   leblosen, 
ausgedehnten  Stoü'es    hergeleitet   liatte,    sollte  gestürzt    und  an  ilire 
Stelle    die    dynamische   Betrachtung    gesetzt    werden,    wie    sie    der 
Naturanschauung  Newtons  zu   Grunde  la<?.     Seine   Fruchtbarkeit 
in   praktischer  Beziehung    hatte    das  Prinzip  bewährt,    nachdem  es 
Kant  gelungen  war.  mit  seiner  Hilfe  die  Entstehung  des  Planeten- 
systems ohne  jeden  fremden  Eingrifl'  und  künstliche  Hilfshypothesen 
nach    rein    mechanischen  Gesetzen    zu   erklären.     Es  kam  nur  noch 
darauf  an,  zu  zeigen,  wie  dasselbe  auch  theoretisch  in  sich  gefestigt 
sei;  es  mufste   noch  erst    das  Fundament    gelegt  werden,    auf  dem 
sich    der  Bau   der    neuen  Anschauungsweise    erheben    konnte,    und 
dieses    lag    nicht    mehr    auf   i-ein    naturwissenschaftlichem    Gebiete, 
sondern  es  reichte  in  die  Tiefen  der  Metaphysik  hinab.    Den  Natur- 
forschern mufste  die  Berechtigung  entzogen  werden,  für  ihre  mecha- 
nische   Anschauungsweise   sich    noch    ferner   auf   die  Metaphysik  zu 
berufen,    dadurch    dafs  jene  Anschauung  von  dieser    nicht  gebilligt 
wurde.     Die  Metaphysiker    mufsten    gezwungen  werden,    von    ihrem 
Vorurteile   abzulassen,    als    ob  nur  eine  Körperlehre,    wie  diejenige 
des  Cartesius,  mit  den  Prinzipien  der  Naturwissenschaft  vereinbar 
sei.     Kant  sah  wohl  ein,    dafs  er  mit  seiner  eigenen  Ansicht    nicht 
würde  durchdringen  können,  wenn  er  sie  nicht  mit  dem  Küstzeug  der 
Metaj)hysik  ausstattete.    So  verliefs  er  den  festen  Boden  der  Natur- 
wissenschaft   und    begab    er   sich    auf  das  Gebiet    der  Spekulation, 
um    hier    die    Entscheidungsschlacht    gegen     die     Körperlehre    des 
Oartesius  und   Leibniz  zu  schlaijen. 


B. 


Kaut  als  Naturpliilosopli. 


I.  Die  Yorkritisclie  Natiirpliilosoplnc. 

Die  Metaphysik,  die  Kant  vorfand  und  mit  der  er  sich  aus- 
einanderzusetzen hatte ,  war  durchaus  rationalistischer  Natur. 
Cartesius  hatte  die  Vernunft,  die  ratio,  auf  (h-n  Thron  üher  alle 
anderen  Prinzipien  der  Erkenntnis  gesetzt;  er  liatte  an  dem  Beispiel 
seiner  mathematischen  Physik  das  Faktum  einer  Erkenntnis  aus  reiner 
Vernunft  bewiesen,  indem  er  mittels  hlol'ser  Analysis  und  Kliirung 
von  Bei^n-iffen  ein  Wissen  von  Thatsachen  geliefert  hatte.  Spinoza 
liatte  die  Möglichkeit  dieses  Faktums  begründet.  A  priori,  d.  h.  vor  ihr 
und  ohne  alle  Rücksicht  auf  die  Wirkliclikeit,  können,  wie  er  gezeigt 
hatte,  Urteile,  die  trotzdem  mit  der  Wirklichkeit  übereinstimmen, 
von  uns  nur  dann  gebildet  werden,  wenn  die  logische  Verknüj)fung 
der  Begriffe  und  die  kausale  Verknüpfung  der  Dinge  überall 
zusammi^ntrc^lfen,  wenn  mit  anderen  Worten  Denken  und  Sein 
identisch  sind.  Ordo  et  connexio  idearum  idem  est  ac  ordo  et 
connexio  rerum :  mit  diesem  Satz  war  die  Herrschaft  des  Ratio- 
nalismus besiegelt  und  die  Vernunft  nicht  blofs  für  die  Quelle  aller 
wissenschaftlichen  Erkenntnis,  sondern  zugleich  für  den  Gegenstand 
der  Erkenntnis,  für  das  Wesen  aller  erkennbaren  Dinge  erklärt. 
Diese  Anschauung  beruhti^  auf  der  völligen  Vermischung  des  Logischen 
mit  dem  Realen,  der  Vorstellung  mit  dem  wirklichen  Gegenstande. 
Der  rationaHstisclien  Metaphysik  galt  es  für  selbstverständlich,  dals 
jeder  Begriff,  sofern  er  nur  keinen  \Vidersj)ruch  enthielt,  zugleich 
ein  Ding  repräsentiere.  Sie  identifizierte  daher  aucli  unbekümmert 
das  logische  Subjekt  im  Urteil  mit  der  realen  Substanz,  das  Prädikat 
oder  das  blofse  Merkmal  an  einem  Begriff  mit  der  Eigenschaft  an 
einem  Gegenstande.  Sie  hatte  von  dem  Unterschiede  zwischen  Grund 
und  Ursache,  zwischen  Folge  und  Wirkung  sowenig  eine  Ahnung, 
dafs  wir  uns  heute  in  ihre  Art,  die  Dinge  zu  betrachten,  nur  noch 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


58 


mit  Mühe  hineinversetzen  können.  Der  Rationalismus  hatte  nur 
Eine  Methode  der  Erkenntnis:  die  Deduktion  oder  die  Ableitung  der 
Urteile  aus  allgemeinen  und  notwendigen  Prämissen  in  Form  des 
Syllogismus.  Er  hatte  nur  Ein  Kriterium  der  Wahrheit:  den  Satz 
des  Widerspruchs.  Durch  Vergleichung  ihrer  Inhalte  nach  dem 
Satz  des  Widerspruchs  und  Verknüpfung  der  Begriffe  nach  ihrer 
inneren  Zusammengehörigkeit  erwuchs  ihm  die  Erkenntnis  in  der 
Sphäre  des  Begriffs,  ohne  dafs  er  es  für  nötig  hielt,  hierbei  die  Er- 
fahrung zu  Rate  zu  ziehen.  Nur  die  Gesamtheit  aller  so  ge- 
wonnenen Urteile  in  ihrer  systematischen  Verknüi)fung  entsprach 
nach  seiner  Ansicht  dem  BegriÜ*  der  Wissenschaft.  Allgemeinheit 
und  Notwendigkeit,  wie  sie  aus  der  syllogistischen  Ableitung  ihrer 
Urteile  sich  ergaben,  waren  die  äufseren  Merkmale  dieser  Wissen- 
schaft. Die  Erfahrungserkenntnis  dagegen  hatte  in  den  Augen  des 
Rationalisten  nur  einen  untergeordneten  Wert,  weil  die  Erfahrung 
nicht  imstande  ist,  mehr  als  blofs  zufällige  und  hyj)othetisclie  Er- 
kenntnis darzubieten. 

Auch  Kant  war  in  dieser  allgemeinen  Anschauung  des  Ratio- 
nalismus aufgewachsen  und  mit  ihm  überzeugt,  dafs  nur  die  Not- 
wendigkeit oder  die  Unmciglichkeit  des  Gegenteils  die  Wahrheit 
eines  Urteils  verbürgen  könne.  „Jeder  wahre  Satz  zeigt  an.  dafs 
das  Subjekt  in  Beziehung  auf  das  Prädikat  bestimmt  ist,  d.  h.  dafs 
es  mit  Ausschlufs  des  Gegenteils  gesetzt  sei ;  in  jedem  \vahren  Satze 
nmfs  deshalb  das  Gegenteil  des  zugehörigen  Prädikats  ausgeschlossen 
sein.  Ein  Prädikat  ist  aber  ausgeschlossen,  wenn  ihm  die  Setzung 
eines  anderen  Begriffs  vermöge  des  Satzes  des  Widerspruchs  wider- 
streitet" (I.  H74).  Zwar  unterscheidet  Kant  mit  Grus  ins  den 
Erkenntnisgrund  vom  Realgrund  und  läl'st  die  Einsicht  durchschimmern, 
dafs  die  realen  Vorgänge  in  der  Wirklichkeit  durch  das  Gesetz  der 
Kausalität  ganz  anders  unter  einander  verknüpft  seien,  wie  die  Vor- 
stellungen in  unserm  Denken,  und  daher  durcli  blofses  Denken  über 
die  Wahrheit  ihrer  Verknüpfung  auch  nichts  auszumachen  sei.  Allein 
er  geht  diesem  Gedanken,  womit  der  Rationalismus  im  Grunde  auf- 
gehoben ist,  nicht  weiter  nach  und  ist  sich  über  die  fundamentale 
liedeutung  desselben  sowenig  klar,  dafs  sein  Denken  trotzdem  nicht  auf- 
hört, sich  ganz  und  gar  in  den  Bahnen  des  Rationalismus  zu  bewegen. 

Die  Habilitationsschrift  Principiorum  })rim()rum  Cog- 
nition i  s  m  e  t  a  j)  h  y  s  i c a e  n  o  v a  d  i  1  u  c i d  a t i o  vom  dahre  I ?:)'). 
in  welcher  Kant  eine  derartige  Anschauungsweise  bekundet,  ver- 
folgt auch  gar  nicht  eigentlich  den  Zw^eck ,  die  erkenntnistheore- 
tischen Prinzipien  des  Rationalismus  zu  begründen.  Sie  ist  vielmehr 
nur  ein  erster  Versuch,  mit  den  logischen  und  metaphysischen  Grund- 


54 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


lagen  seiner  naturphilosopliischen  Ideen  Fühlung  zu  gewinnen.  Man 
hat,  wie  oben  bemerkt  wurde,  die  naturphilosophische  Erstlingsschrift 
des  Pliilosophen  einer  viel  zu  geringen  Beachtung  gewürdigt,  weil 
sie  für  die  Entwickelung  der  erkenntnistheoretisclien  Ideen  Kants  keine 
Anhaltspunkte  bietet.  Man  sah  aber  in  Kant  nur  den  Erkenntnis- 
theoretiker und  war  zufrieden,  wenn  man  seine  Entwickelung  aus 
diesem  einen  Gesichtspunkte  rekonstruiert  zu  haben  glaubte.  Man  hat 
daher  auch  jene  erste  metaphysische  Schrift  in  der  Hegel  nur  vom 
erkenntnistheoretischen  Standpunkt  aus  betrachtet  und  darüber  ihre 
Beziehungen  zur  Natur|)hilosoj)he  so  gut  wie  gänzlich  übersehen.*) 
Und  doeh  stehen  die  erkenntnistheoretisclien  Ausführungen  dieser 
Schrift,  die  insl)esondere  das  Verhältnis  des  Satzes  vom  zureichenden 
Grunde  zu  demj(Miigen  des  Widerspruchs  oder  der  Llentität  be- 
treffen, schon  ihrem  äul'scren  Umfange  nach  bei  weitem  hinter  den- 
jenigen Erörterungen  zurück,  die  ihren  Grund  in  naturphilosophischen 
Erwägungen  haben,  und  der  Kern  der  ganzen  Schrift,  die  Unter- 
suchung über  den  Satz  vom  zureichenden  Grunde,  dient  wesentlich 
den  Interessen  der  Naturphilosophie. 

Was  Kant  veranlafste,  gerade  diesen  Satz  zum  Gegenstande 
seiner  Untersuchung  zu  machen,  w^ar  nichts  Anderes  als  die  innere 
Beziehung  desselben  zum  Prinzip  des  Dynamismus.  Dies  Prinzip, 
als  dessen  Anwalt  sich  Kant,  wie  wir  sahen,  betrachtete,  beruhte 
auf  der  Möglichkeit  der  wechselseitigen  Einwirkung  der  Substanzen 
auf  einander,  und  daher  nahm  jener  die  Veranlassung,  das  Ver- 
hältnis von  Ursache  und  Wirkung  überhaupt  einer  näheren  Prüfung 
zu  unterziehen,  welches  für  ihn  trotz  seiner  erwähnten  Abweichung 
vom  Kationalismus  mit  demjenigen  von  Grund  und  Folge  zusammen- 
tiel  und  seinen  Ausdruck  fand  im  Satze  des  zureichenden  oder,  wie 
Kant   ihn   lieher  nennen  will,   des   hestimnienden  Grundes. 

Wie  weit  reicht  die  Geltung  des  Satzes  vom  zureiclienden 
Grunde?  Das  ist  die  Frage,  die  Kant  vor  allem  interessiert.  Auf 
das  Absolute,  das  den  Grund  seines  Daseins  nur  in  sich  selber 
haben  könnte,  darf  der  Satz  jedenfalls  nicht  angewendet  werden: 
der  BegritV  der  causa  sui  ist  widersinnig.  „Wenn  man  in  der  Kette 
der  Gründe  zu  dem  ersten  gelangt  ist,  so  ist  S(4bstverständlich.  dafs 
dann  das  Fortschreiten  aufhört  und  dafs  die  Frage  durch  Ahschlufs 
der  Antwort  vollständig  aufgehohen  ist"  (375).    „Was  als  unbedingt 


*)  V'<i^l.  z.  11  Kiiiio  Fischer:  Gesch.  d.  neueren  Thilosophie.  III. 
(3.  AuH  h'^SJ).  Puulsen:  Versuch  einer  Entwickelungsfreschichte  d.  kantisclien 
Erkenntnistheorie  (  187f)j.  Eine  rühmliche  Ausnahme  macht  Ct.  Thiele:  Die 
Pliih)S(>i)hie  Im.  Kants  nach  iin-ein  System.  Zusammenhange  u.  ihrer  logisch- 
histor.   Entwickelung.     Bd.   l   (^1^82). 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


55 


notwendig  daseiend  dargelegt  wird,  das  besteht  nicht  wegen  eines 
Grundes,  sondern  weil  sein  Gegenteil  ganz  undenkbar  ist.  Diese 
Unmöglichkeit  des  Gegenteils  ist  der  Grund  für  die  Erkenntnis 
seines  Daseins ;  aber  an  einem  vorhergehenden  bestimmenden  Grunde 
fehlt  es  ihm.  Es  ist;  aber  dies  genügt,  von  ihm  alles  gesagt  und 
begriffen  zu  haben"  (ebd.).  Trotzdem  ist  Kant  nicht  der  Ansicht, 
durch  die  blofse  Aufzeigung  der  Widerspruchslosigkeit  seines  Begriffs 
das  Dasein  Gottes  beweisen  zu  können.  Er  bestreitet  die  Richtig- 
keit des  ontologischen  Beweises,  wie  ihn  Oartesius  verfochten 
hat,  weil,  wenn  man  in  den  Begriff  Gottes  das  Merkmal  der  Existenz 
hineinlegt,  das  letztere  von  jenem  zwar  ausgesagt  werden  könne, 
aber  damit  nur  ein  Akt  im  Denken  vollzogen,  keineswegs  jedoch 
über  das  wirkliche  Dasein  etwas  ausgemacht  werde.  Er  selbst 
zieht  die  Folgerung,  Gott  müsse  als  Grund  nicht  blofs  der  Wirk- 
lichkeit, sondern  zugleich  auch  der  Möglichkeit  der  Dinge  notwendig 
existieren,  weil  das  Mögliche  notwendig  ist,  ohne  daran  Anstol's  zu 
nehmen,  dafs  auch  dieser  Beweis  nicht  aus  der  Sphäre  des  blofsen 
Begriffs  herausfällt  und  selbst  nur  eine  Modifikation  jenes  ontologischen 

Beweises  darstellt. 

Worauf  es  ihm  aber  wesentlich  ankommt,  ist,  die  absolute  Geltung 
des  Satzes  vom  zureichenden  Grunde,  wenigstens  in  der  Welt  der  end 
liehen  Dinge  nachzuweisen.  0  r  u  s  i  u  s  hatte  dessen  Wahrheit  auf  dem 
Felde  der  Moral  bestritten  ;  der  Wille  des  Menschen  sollte  dem  Zwange 
der  Notwendigkeit  nicht  unterworfen  sein.  Dem  gegenüber  betont  Kant 
entschieden,  dafs  die  moralische  Freiheit  auch  bei  der  allgemeinen 
Geltung  jenes  Satzes  nicht  aufgehoben  werde.  Die  freien  moralischen 
Handlungen  des  Menschen  sind  von  den  physischen  mechanischen  Hand- 
lungen nur  insofern  unterschieden,  als  diese  blofs  äufsere  Antriebe  ohne 
alle  bewufste  Einsicht,  während  jene  die  Gesetze  seiner  eigenen 
Vernunft  zur  Ursache  haben.  Damit  ist  die  souveräne  Geltung 
jenes  Satzes  wiederhergestellt.  „Kein  zufälliges  Ding  kann  eines 
Grundes  entbehren,  welcher  vorhergehend  sein  Dasein  bestimmt''  (377). 

Ist  dies  der  Fall,  so  kann  auch  in  dem  Begründeten  nicht 
mehr  als  in  dem  Grunde  liegen,  weil  alles  in  jenem  durch  diesen 
bestimmt  sein  mufs.  Daraus  folgt,  dafs  die  Menge  der  Kealität 
sich  in  der  Welt  nicht  verändern  und  weder  zu-,  noch  abnehmen 
kann.  „Wenn  z.  B.  d(^r  Kr)rper  A  einen  andern  B  durch  einen 
Stofs  forttreibt,  so  tritt  eine  gewisse  Kraft,  folglich  Realität  zu 
diesem  hinzu.  Aber  eine  gleiche  Menge  Bewegung  ist  dem  stofsen- 
den  K()rper  entzogen  worden,  und  deshalb  ist  die  Summe  der  Kräfte 
in  der  Wirkung  gleich  den  Kräften  der  Ursache"  (389).  Dafs  bei 
dem    Anstofs     eines    kleineren     elastischen    Körpers    gegen    einen 


56 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


grofsereii  eine  gröisere  Summe  von  Kraft  herauskommt,  als  der 
anstofsende  hatte,  ist,  wie  Kant  zeigt,  nur  eine  scheinbare  Aus- 
nahme jener  Regel,  die  auch  durcli  die  Zerstörung  der  Bewegung 
durch  den  Widerstand  des  Stoffes  nicht  erschüttert  wird.  Ebenso- 
wenig S])richt  es  dagegen,  wenn  grofse  Wirkungen  oft  scheinbar  aus 
kleinen  Ursachen  entstehen.  ,,Eiß  ^^^  Schiefspulver  geworfener 
Funke  erzeugt  eine  ungeheure  ausdehnende  Ki*aft.  Oder  wenn 
ein  anderes  Nährmittel  ihn  begierig  aufnimmt,  welche  Brände, 
welche  Zerstörung  der  Städte  und  lange  Verwüstungen  ungeheurer 
W^älder  bringt  er  da  nicht  hervor?  Welche  grofse  Zusammen- 
fügung von  Körpern  löst  so  die  feine  Erregung  eines  einzigen 
Filnkchens!  Aber  hier  wird  durch  diese  feine  Erregung  die  wirk- 
same Ursache  ungeheurer  Kräfte,  welclie  in  dem  Innern  der 
Massen  verborgen  gehalten  ist,  nändich  der  elastische 
Stoff  der  Luft,  wie  bei  dem  Schiefspulver,  oder  der  feurigen  oVIaterie, 
wie  bei  jedem  brennbaren  Körper,  mehr  offenbart  als  her- 
vorgebracht*' (390).  Ja,  jenes  obige  Gesetz  gilt  sogar  aucli 
von  den  Kräften  der  Geister  und  ihrem  Fortschritt  zu  höherer 
Vollkommenheit.  Die  Entwickelung  des  menschlichen  Geistes  beruht 
nicht  nuf  einem  Zuwachs  an  Realität;  nicht  der  Stoff,  sondern  nui' 
die  Form  der  VorstellungcMi  verändert  sich,  indem  Vorstellungen 
ins  Bew^ufstsein  treten,  die  vorher  nur  als  unbewufste  in  der  Seele 
geschlummert  haben.  Aber  freilich  reicht  das  Gesetz  auch  nur 
soweit,  ,,als  alles  nach  der  Ordnung  der  Natur  vor  sich  geht."  Das 
Absolute  ist  über  der  Natur  erhaben  und  vermag  mit  der  letzteren 
auch   derlei   (Tcsetze   auizuheben   (ebd.   f.). 

Vi(d  wichtiger  als  dies  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft 
ist  die  andere  Folgerung,  die  Kant  aus  dem  Satze  des  zureichenden 
Grundes  zieht:  das  J*rinzip  der  Folge  (|)rinci])ium  successionis).  dafs 
nändich  die  Substanzen  eine  Veränderung  nur  treffen  kann,  wenn 
sie  mit  anderen  verbunden  sind,  und  dafs  ihre  gegenseitige  Ab- 
hängigkeit die  beiderseitige  Veränderung  ihres  Zustandes  bestimmt. 
Einer  einfachen  Substanz,  die  von  aller  äufseren  Verbindung  frei 
und  sich  allein  überlassen  ist,  fehlt  es  gänzlich  an  einem  bestimmen- 
den Grunde,  sich  zu  veiändern.  Sie  kann  aber  auch  dann  sich 
nicht  verändern,  wenn  sie  mit  anderen  zwar  in  Verbindung  steht, 
aber  das  Verhältnis  der  letzteren  sich  nicht  ändert.  Die  Erscheinung 
einer  soIcIhmi  veränderten  Verbindung  ist  die  Bewegung;  aus  ilir 
ents])ringt  dii;  Folge  und  die  Zeit,  Die  Kraft  dagegen  ist  nicht 
sowohl  der  (irund  der  Veränderung,  —  denn  dann  müfste  auch  die 
einzelne  Substanz,  als  Träger  der  Kraft,  sich  aus  sich  selbst  verändern 
können  —  sondern  sie  ist  vielmehr  als  Grund  der  Bestimmungen  an- 
zuseilen,  welche  die  Substanzen  sich  unter  einander  erteilen  (393  f.). 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


57 


Damit  ist  nun  das  wirkliche  Dasein  der  Körper,  „welche  eine 
«gesundere  Philosophie  gegen  die  Idealisten  nur  auf  dem  Wege  der 
Wahrscheinlichkeit  bis  jetzt  in  Schutz  nehmen  konnte,*'  zuerst  deut- 
lich bewiesen.  Die  inneren  Veränderungen  der  Seele  können  aus 
ihrer  Natur  allein  nicht  entstehen.  Sie  weisen  daher  auf  etwas 
Anderes  hin,  womit  die  Seele  in  gegenseitiger  Verbindung  steht, 
den  Körper,  dessen  äufsere  Bewegungen  dem  Wechsel  der  Vor- 
stellungen korrespondieren  müssen.  Alle  endlichen  Geister  sind  mit 
einem  Körper  versehen,  nur  der  absolute  Geist  ist  körperlos,  denn 
es  giebt  nichts,  wovon  er  äufserlich  bestimmt  w-erden  könnte :  seine 
Ünbestimmbarkeit  beweist  auch  seine  Unveränderlichkeit.  Kann 
aber  die  Seele,  herausgelöst  aus  der  Verbindung  mit  äufseren  Dingen, 
ihren  Zustand  nicht  veränder!).  so  wird  damit  zugleich  die  prä- 
stabilierte  Harmonie  des  Leihniz  gestürzt,  und  zwar  infolge  der 
iimeren  Unmöglichkeit  ihrer  sell)st.  Das  ist  die  logische  oder  meta- 
physische Begründung  jener  W^alirheit.  die  Newton  auf  natur- 
wissenschaftlichem Wegedargethan,  und  welche  Kant  durch  Knutzens 
Ermittelung  sich  selber  angeeignet  hatte.  Nicht  die  prästabilierte 
Harmonie,  sondern  der  inÜuxus  physicus  ist  das  Prinzip  der  Be- 
ziehuntren  der  Substanzen  unter  einander,  und  dieser  beruht  auf  dem 
Begriff  der  Kraft,  welche  die  wechselseitigen  Bestimmungen  derselben 
hervorbringt. 

Indessen  mufs  noch  eine  Bedingung  erfüllt  sein,  wenn  über- 
liaupt  irgendwelche  Beziehungen  unter  den  Substanzen  stattfinden 
sollen.  Die  einzelnen  Substanzen  nändich.  deren  keine  die  Ursache 
der  andern  ist,  haben  ein  abgesondertes  Dasein ;  sie  köimen  vor- 
gestellt werden,  ohne  dafs  es  hierzu  irgend  eines  Anderen  bedürfte, 
und  man  sieht  nicht,  wie  sie  zu  ihres  Gleichen  in  Beziehung  treten 
sollten.  Daher  lautet  das  Prinzip  des  gleichzeitigen  Da- 
seins (principium  coexistentiae) :  „Die  endlichen  Substanzen  stehen 
durch  ihr  blofses  Dasein  in  keinen  Beziehungen  zu  einander  und 
hahen  einen  Verkehr  mit  einander  nui*  von  dem  gemeinsamen  Prinzi]) 
ihres  Daseins,  nämlich  von  dem  gcittlichen  \'erstande,  soweit  als 
dieser  die  wechselseitigen  Beziehungen  entsprechend  erhält"'  (H9()).  Die 
Substanzen  lühren  also  gar  keine  von  einander  al)geson(lerte  Existenz. 
Der  Ursprung  ihrer  Existenz  ist  nicht  ein  einmaliges  Faktum,  sondern 
ein  dauernder  Akt,  die  Schöpfung  derselben  ist  zugleich  ihre  Er- 
haltung. Darum  bleiben  sie  in  der  Gemeinschaft  ihres  Ursj)rungs 
beschlossen  und  sind  sie  den  Bestimmungen  des  göttlichen  Ver- 
standes unterworfen.  Solche  Bestimmungen ,  wodurch  die  Sub- 
stanzen sich  wechselseitig  auf  einander  beziehen,  sind  der  Ort,  die 
Lage  und  der  Raum.     Da  diese  gänzlich  im  Belieben  Gottes  stehen, 


58 


ß.    Kant  als  Naturphilosoph. 


so  können  folglich  die  Substanzen  auch  so  bestehen,  dafs  sie  in  gar 
keinem  (^rte  sind  und  gar  keine  Beziehung  haben  zu  den  Dingen 
unserer  Welt.  Derartige  Substanzen  könnten  trotzdem  unter  sich 
durch  W'iknüpfung  ihrer  Bestimmungen  zu  Welten,  wie  die  unsrige, 
verbunden  sein  und  dennoch  nicht  selbst  zu  unsrer  Welt  gehören. 
„Deshalb  ist  es  keine  llnmr)glichkeit,  dal's  in  dieser  Weise  mehre 
Welten  auch  in  metaphysiscliem  Sinne  bestehen  könnten,  wenn  es 
Gott  so  beliebte"  (:iU8).  Wie  dem  auch  sei.  die  Notwendigkeit  eines 
gemeinschaftlichen  Prinzii)s,  ohne  welches  die  thatsächlich  gegebene 
Verknüpfung  der  Substanzen  nicht  verständlich  wäre,  ist  jedenfalls 
„das  offenbarste  Zeugnis  für  eine  hikdiste  Ursache  aller  Dinge,-'  d.  h. 
für  Gott,  und  zwar  für  einen  einzigen,  das  alle  Beweise  aus  der 
Zufälligkeit  des    Existierenden   bei  weitem   übertrifft  (ebd.). 

Durch  die  Gemeinsamkeit  ihres  Ursprungs  wirken  die  Sul)- 
stanzen  auf  einander  und  setzen  durch  diese  in  einander  greifenden 
Wirksamkeiten  zugleich  den  Raum.  Jeder  Wirkung  entspricht  aber 
zugleich  auch  eine  Gegenwirkung.  „Wenn  diese  allgemeine  Wirk- 
samkeit und  Gegenwirksamkeit  durch  den  ganzen  Umfang  des  Raumes, 
in  welchem  die  Körper  sich  auf  einander  beziehen,  äufserlich  in 
einer  gegenseitigen  Annäherung  sich  zeigt,  so  heifst  sie  An- 
ziehung. Sie  wird  durch  die  bh»t'se  Mitgegenwart  bewirkt,  wirkt 
deshalb  ni  jeder  Entfernung  und  ist  die  Anziehung  vcm  Newton 
oder  die  allgemeine  Schwere.  Sie  wird  daher  wahrscheinlich  durch 
dieselbe  Verbindung  der  Substanzen  bewirkt,  weiche  den  Raum  be- 
stimmen und  scheint  deshidb  das  ursprünglichste  Naturgesetz  zu 
sein,  dem  der  Stoff  unterworfen  ist,  und  was  nur  durch  Gott,  als 
den  unmittell)aren  Setzer,  olme  Unterlafs  dauert,  wie  dies  die  eigenen 
Anhänger  Newtons  annehmen"   (ebd.). 

Es  könnte  scheinen,  als  ob  die  Zurückführung  des  physischen 
Einflusses  auf  den  gemeinsamen  Urs})rung  der  Substanzen  keine 
Verbesserung  jener  Theorie,  sondern  nur  ein  Rückfall  auf  einen 
Stamlpunkt  sei,  der  gerade  durch  Knutzen  überwunden  worden. 
Der  letztere  hatte  ja  die  Krage  rein  innerhalb  der  Si)häie  des 
Natürlichen  entschieden;  wozu  also  die  Hereinziehung  jenes  deus 
ex  niachma,  womit  die  Theorien  des  Leil)niz  und  der  Occa- 
sionalisten  wieder  aufzuleben  scheinen?  Wer  so  urteilt,  hat  Kant 
nicht  verstanden.  Seine  Ansicht  hat  niehts  mit  der  prästabilierten 
Harmonie  gemein,  wonach  durch  eiiK^i  einmaligen  Akt  des  gött- 
lichen Wesens  nicht  sowohl  eine  gegenseitige  Abhängigkeit,  als 
vielmehr  eine  Übereinstimmung  der  Substanzen  gesetzt  ist.  Sie  unter- 
scheidet sich  auch  gänzlich  von  den  „gelegentlichen  Ursachen"  eines 
Malebranche,    indem    dieselbe    einzelne   Thätigkeit,    welche   die 


I.    Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


59 


Substanzen  schafft  und  erhält,  sie  auch  in  die  gegenseitige  und 
allgemeine  Abhängigkeit  versetzt,  so  dafs  sie  es  nicht  nötig  hat. 
sich  je  nach  den  Umständen  bald  so,  bald  anders  zu  bestimmen. 
Nach  Kant  besteht,  ebenso  wie  bei  Knutzen.  eine  wirkliche  Ein- 
wirkung oder  ein  Verkehr  der  Substanzen  unter  einander  durch 
wahrhaft  wirkende  Ursachen ;  die  Berufung  auf  das  göttliche  Wesen 
hat  eben  keinen  andern  Zweck,  als  die  Möglichkeit  einer  solchen 
Einwirkung  verständlich  zu  machen.  Das  äufsere  Geschehen  zwischen 
den  verschiedenen  Substanzen  wird  auf  ein  inneres  Geschehen  einer 
und  der  nämlichen  Substanz  zurückgeführt.  Diese  Auffassung  ist  so 
sehr  eine  Verbesserung  und  wirkliche  Vertiefung  der  knutzenschen 
Theorie,  dafs  Kant  sogar  Bedenken  trägt,  sie  mit  dem  Namen  des 
physischen  Einflusses  zu  belegen  und  sie  lieber  als  eine  „allgemeine 
Harmonie  der  Dinge''   bezeichnet  (i)!)!)). 

Mit  den  Prinzipien  der  Folge  und  des  gleichzeitigen  Daseins 
war  der  Grund  für  eine  neue  Metaphysik  gelegt,  die  als  Stütze  für 
die  kantische  Naturauffassung  dienen  konnte.  „Wenn  auf  diese 
Weise  diese  AV^issenschaft  eifrig  gepffegt  werden  sollte,  so  wird  ihr 
Boden  sich  nicht  so  unfruchtbar  zeigen,  und  der  Vorwurf  einer 
muL'sigen  und  dunklen  Spitzfindigkeit,  welcher  ihr  von  ihren  Ver- 
ächtern gemacht  wird,  kann  dann  durch  eine  reiche  Ernte  edlerer 
Erkenntnis  widerlegt  werden"  (ebd.).  Die  Habilitationsschrift  Kants 
hat  keine  tiefere  Bedeutung,  als  das  metaphysische  Fundament 
seiner  künftigen  Naturphilosophie  zu  sein.  Es  schien  jetzt  an  der 
Zeit  zu  sein,  die  letztere  selbst  in  Angriff  zu  nehmen  und  das 
Gebäude  der  Naturphilosoi^hie  auf  diesem  neuen  Boden  der  Er- 
kenntnis aufzurichten.  — 

Kant  entschlofs  sich,  die  Elemente  seines  Dynamismus  gleich 
so  fest  zu  fügen,  dafs  derselbe  gegen  alle  Angriffe  ein  für  allemal 
gesichert  sei.  Er  kleidete  aus  diesem  Grunde  seine  Anschauung  in 
die  Form  derjenigen  Wissenschaft,  die  der  höchsten  Gewifsheit 
fähig  ist,  der  ^lathematik.  Denn  wenn  die  Naturwissenschaft 
erst  in  dieser  Vereinigung  ihre  höchsten  Triumphe  feierte,  mufste 
alsdann  das  Gleiche  nicht  auch  bei  der  Natur  p  h  i  1  o  s  o  p  h  i  e  der 
Fall  sein,  welche  die  Prinzipien  jener  behandelt?  Es  schien  un- 
denkbar, dafs  die  jMathematik  nur  für  die  Erscheinung  der 
Natur  zureichen,  auf  ihr  Wesen  jedoch  nicht  anwendhar  sein 
sollte,  obwohl  sie  doch,  als  reine  Vernunftwissenschaft,  eben  den- 
selben Ursprung  hatte  und  dieselbe  Sphäre  einnahm,  wie  die  rein 
rationale  Untersuchung  über  die  metaphysischen  Prinzipien  der 
Natur. 

„Aber  wie  soll    hei    diesem    Geschäft    die  Metaphysik  sich  mit 


60 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


der  Geometrie  verbinden,  da  ein  (rreif  eher  mit  einem  Pferde,  als 
die  Transcendentalphilosophie  mit  der  Geometrie  sich  mciclite  zu- 
sammenspannen lassen?  Jene  leu<,niet  hartnäckig,  dal's  der  llaum 
ohne  Knde  teilbar  sei,  und  diese  behauptet  dies  mit  derselben  Ge- 
wifsheit,  wie  ihre  übrigen  Tjebrsätze.  Letztere  behauptet,  dafs  ein 
leerer  Kaum  zur  freien  Bewegung  nötig  sei;  jene  läfst  dies  nicht 
gelten.  Diese  zeigt,  dafs  eine  Anziehung  oder  eine  alfiremeine 
Gravitation,  die  aus  mechanischen  Ursachen  kaum  zu  erklären  ist, 
von  inneren,  den  ruliendeu  K(irpern  einwohnenden  und  in  die  Ferne 
wirkenden  Kräften  ausgeht,  und  jene  verweist  dergleichen  An- 
nahmen    unter    die    leeren  Spiele  der  Einbildungskraft"   (I.  4(jl)  f.). 

In  dei"  Thnt,  hier  waren  Gegensätze  vorlianih^i.  die  notwendig 
ilire  Ausgleichung  finden  niulsten,  wofern  überhaupt  von  einer 
Naturj)hilosophie  geredet  werden  sollte.  Es  mufste  Kants  wichtigstes 
Bestreben  sein,  seine  naturphilosophischen  Prinzipien  so  einzurichten, 
dafs  sie  weder  mit  den  x\nforderungen  der  Mathematik,  nocli  mit 
denjenigen  dvv  Metaphysik  in  Widerspruch  g(^rieten.  Nur  weim 
diese  Aufgabe  m  befriedigender  Weise  zu  lösen  war,  konnte  die 
geforderte  Verl)indung  jener  beiden  AVissenschaften  auch  wirklich 
vollzogen  und  damit  jeder  Zweifel  an  der  Ric^htigkeit  der  nu'ta- 
physischen  Prinzii)ien  sell>st  aufgehoben  werden.  So  lautete  denn 
der  ^Pitel  seiner  lateinisch  geschriebenen  Dissertation,  mit  welcher 
Kant  im  .lahre  Ir^Ö  eine  Anstellung  an  der  Universität  zu  erlanuren 
suchte^ :  ..  M  e  t  a  p  h  y  s  i  c  a  e  c  u  ni  l,^  e  o  m  e  t  r  i  a  i  u  n  c  t  a  (^  usus 
in  philo  Sophia  naturali.  euius  specimen  1  continet 
M  o  II  a  (1  o  1  o  '^  i  a  m     n  h  v  s  i  ca,  m.*' 

,,Keine  Meinung  hat  bei  Ermittelung  der  Elemente  die  Ver- 
bindung der  Geometrie  mit  der  Metaphysik  nudir  gehindert  als  jene 
vorgefafste,  aber  nicht  genügend  geprüfte  Annahme,  dafs  die  Teil- 
barkeit des  Paumes,  den  ein  Pilement  einninnut,  aucii  d'w  Teilbarkeit 
des  Klementes  selbst  in  substantielle  Teile  beweise.  Man  hat  dies 
bisher  Tür  so  unzweifelhaft  gehalten,  dals  di(^  Anhänger  der  unend- 
lichen Teilbarkeit  des  wirklichen  Paumes  von  den  i\lonaden  durchaus 
nichts  wissen  wollen,  und  dafs  umgekehrt  die  Verteidiger  der  Monaden 
es  für  nöti.i;-  gehalten  haben,  die  Eigenschaften  des  geometrischen 
Raumes  für  blofse  Einbildungen  zu  erklären"  (4()  i).  Die  Anhänger  von 
Leibniz  und  W'olif  statuuuten  einen  prinzipiellen  LIntersehied 
zwischen  dem  physischen  und  geometrisehen  Paum.  Sie  iiielten  den 
letzteren  lilr  eine  „verworrene  Vorstellung"'  oliiie  irgend  widche  objektive 
Realität  blofs  deshalb,   um   ihre  ]\Ionaden  nicht  aufgeben  zu   müssen. 

Darin  stimmt  Kant  ihnen  bei:  ein  jeder  Kr)ii)ei-  niufs  an- 
gesehen werden   als  zusammengesetzt  aus   einer   bestimmten   Anzahl 


l.   Die  vorkritischft  Naturphilosophie, 


61 


ursprünglicher,  d urchaus  einfacher  Teile,  S  u  b  s  t  a n z  e  n  oder  M o  n a d  e  n : 
und  ebenso  hat  der  Mathematiker  Recht,  die  unendliche  Teilbarkeit 
des  Raumes  zu  behaupten.  Aber  wer  sagt  denn,  dafs  diese  an  der 
Monade  ihn^  Grenze  finden  müsse  ?  Weil  er  ins  Unendliche  teilbar 
ist.  so  besteht  der  Paum  nicht  aus  einfachen  Teilen.  Aber  ebenso- 
wenig darf  die  Monade  als  selbst  räumlich  angesehen  werden.  Sie 
ist  zwar  im  Raum  und  erfüllt  den  Raum,  ohne  jedoch  hiermit  ihre 
eigene  Einfachheit  aufzugeben.  Dies  ist  aber  nur  möglieh,  wenn 
der  Grund  der  PaunKU'lullung  nicht  in  ihrer  blofsen  Setzung  als 
Substanz,  sondern  in  ihrer  Bez  i  eh  u  n  g  zuaufser  ihr  befind- 
lichen Substanzen  liegt,  oder  mit  anderen  Worten,  wenn  der 
Raum  ..keine  Substanz,  sondern  nur  die  besondere  Erscheinung 
der  äufseren  Beziehungen  der  Substanzen"  ist  (ebd.).  „Die  Monade 
bestimmt  den  Raum,  in  dem  sie  gegenwärtig  ist.  nicht  durch  eine 
]\lehrheit  ihrer  substantiellen  Teile,  sondern  durcli  den  Umfang 
ihrer  Wirksamkeit,  vermöge  deren  sie  die  neben  ihr  befind- 
lichen iMonaden  hindert,  sich  ihr  noch  weiter  zu  n.ähern"  (4()r)).  Mit 
dieser  Anschauun.ü:  kann  sich  der  Geometer  sow^ohl.  wie  der  Meta- 
physiker  zufrieden  gehen.  Denn  der  Raum  der  Substanz  ist  ..der 
Umfang  der  äufseren  Gegenwart  ihres  Elementes;  wer  also  den  Raum 
teilt,  teilt  nur  die  ausgedehnte  Gröfse  ihrer  Gegenwart.  Aber  neben 
dieser  ausgedehnten  Gegenwart,  d.  h.  neben  diesen  in  Beziehunc^c^n 
ausgedrückten  Bestimmungen  der  Substanz,  hat  sie  auch  innere,  ohne 
welche  für  jene  das  Subjekt  fehlen  würde,  dem  sie  anhafteten.  Diese 
inneren  sind  al)er  nicht  im  Räume,  weil  sie  eben  innere  sind:  sie 
werden  deshalb  auch  durch  die  Teilung  der  äufseren  Bestimmungen 
nicht  iiiiL  geteilt,  und  deshalb  kann  auch  das  Subjekt  selbst,  d.  h.  die 
Substanz,  dadurch  nicht  geteilt  werden,  ßs  ist  ebenso,  als  wenn 
man  sagt :  Gott  ist  durch  sein  thätiges  Krhalten  in  allen  erschaffenen 
Dingen  innerlicli  gegenwärtig;  wer  also  die  Masse  der  erschaffenen 
Dinge  teilt,  teilt  auch  Gott,  w^eil  er  den  Umfang  seiner  Gegenwart 
teilt;  obgleich  man  nichts  Verkehrteres  behaupten  kr>nnte'*  (ebd.  f.). 
Auch  nach  Leibniz  war  die  rein  intelligible  und  folglich  un- 
räumliche Monade  als  solche  früher  als  der  Raum,  und  dieser  erst 
ein  Produkt,  nämlich  die  Erscheinung  der  gegenseitigen  Beziehungen 
der  Substanzen  unter  einander.  Allein  bei  seiner  Grundanschauung 
der  prästabilierten  llarmouie.  wonach  es  keinen  wirklichen  Ein- 
flufs  der  .Monaden  auf  einander  geben  sollte,  hatte  Leibniz  das 
Wort  Krscheinun«,'  nur  in  rein  subjektivem  Sinne  oder  als  ..ver- 
worrene Vorstcdlungsarf  verstanden,  der  objektiv,  d.  h.  an  sich,  ganz 
andersartige,  rein  intelli<^nble  Beziehun^a'u  entsj)rechen  sollten  (vgl. 
Herbarts  ..intellii^nblen   Pauiii").      Kant    dagegen  nalini   das    Wort 


/ 


f    . 


62 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


1.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


63 


in  objektivem  Sinne  unrl  setzte  damit  den  Kaum  aus  der  unbestimmten 
S])biiic  der  blol's  subjektiven  Pbiinomeiialität  in  die  Kb^sse  der  an- 
sicbscienden  oder  ])bysiscben  Realitäten  binaus:  die  Monaden  wirken 
tbatsilcblicli  auf  einiuidcr  und  setzen  eben  dureb  ibre  Wirksamkeit 
den  Kaum.  Dieser  existiert  mitbin  iranz  unal)liiinc;iiL,'  davon,  ob  er 
von  iri^end  einem  anscbauendcn  Sul)jekt  ])erzipiert  wird. 

Eine  solcbe  Auffassung  des  Eaumes  war  aucii  Leibniz 
nicbt  fremd  gewesen,  o])wobl  sie  in  scbroffstem  Widerspi'ucli  zu  seiner 
Grun(bins(']iauung  stand.  Denn  diese  setzte  die  Unwirklicbkcit 
alles  räunilieli  Ausgedelmten,  der  i\ratei-ie  und  des  Kfirpi^rs.  voraus, 
die  nacb  ihr  bb)rs  subjeidive  Vorstellungen  innerbalb  der  ]\Ionaden 
w^aren ;  nacb  jener  dagegen  waren  die  Monaden  zwar  auch  UTU'äundicb. 
aber  ibr  Zusammensein  im  Räume  sollte  den  IJegrift'  des  Kr)rj)ers 
ausmacben,  und  dieser  somit  eine  objektive  und  meta])bysiscbe  Be- 
deutung haben.  Es  giobt  nichts,  was  das  Verständm's  der  leibnizscben 
Lehre  mehr  erscbwerte  als  diese  doj)j)elte  P)edeutung,  wie  er  die 
Monade  auft'afst.  Dieser  Umstand  miifste  notwendig  die  gröfste  Ver- 
wirrung anrichten,  sobald  die  zweite,  realistische  Auffassung  durch 
Wol  ff  in  die  8cbul))liiloso])bie  eingeführt  wurde,  bevor  man  nocb 
allL^emein  aufgcliiu-t  hatte,  die  ])rästabilierte  Harmonie  und  die  mit 
ihr  zusammenbiingende  strengere  Auffassung  der  Monadeidelire  zu 
vertreten.  Die  letztere  vertrug  sich  ganz  wohl  mit  (bnn  Priiizi])  des 
Mechanismus,  wofei-n  man  nur  mit  Ijeibniz  das  physikalische  Ge- 
scbeben  als  einen  blofs  subjektiven  i*i-ozefs  innerbalb  dei-  Monade 
auffafste  ;  aber  es  war  ein  olienbarer  \\'iders])ruch,  dei'  nur  aus  der 
Vermiscbung  der  beiden  entgegengesetzten  Auffassungen  hervorging, 
einen  inlbixus  physicus  von  Monade  zu  Monade  anzunehmen  und  trotz- 
dem diesen  Prozel's  nocb  für  einen  rein  mechaniscben  zu  halten. 
Es  w^ar  ein  unbestreitbares  Verdienst  von  Kant,  mit  dieser  Unklar- 
heit aufgeräumt  und  damit,  dal's  er  den  wechselseitigen  Einfluls  der 
Monaden  für  dynamisch  erklärte,  die  Konse(]uenzen  jener  Th(M)rie 
des  inÜuxus  ])bysicus  auch  auf  j)hysikaliscbem  Gebiete  gezogen  zu 
baben. 

Jener  Vermischunu  der  beiden  entgegengesetzten  Auffassungen 
der  ^lonade  entsprang  im  Grunde  auch  das  Vorurteil  gegen  die 
Anziehungskraft  der  Kr)r])er.  Bekanntlich  hatte  Leibniz  die  letztere 
bekämpft.  F]r  meinte,  sie  fehle  gegen  das  Prinzip  des  zureicbend(*n 
Grundes,  weil  man  nicbt  angeben  kiuine,  wie  sie  möglich  sei. 
Er  selbst  hatte  versucht,  die  Schwere  aus  dem  Stofse  einer  besonderen 
j\Iaterie  zu  ei'klären,  die.  im  Weltraum  verteilt,  durch  ihre  AX'irkuuij^s- 
art  zu.L^leicb  (h'r  Llrund  für  die  Bewegung  (h'r  Planeten  sein  sollte, 
eine  Ansiebt,  der  aucb  sein  Scbüler  Wol  ff  sieb  angeschlossen  hatte, 


ohne  zu  bemerken,  dafs  eine  derartige  schwermachende  Materie  noch 
viel  rätselhafter  als  die  Anziehungskraft  Newtons  wäre.  Wenn 
die  Monaden  „keine  Fenster"  baben  und  auf  einander  nicbt  sollten 
wirken  kr>nnen,  dann  konnte  ja  natürlicb  von  einer  gegenseitigen 
Anziehung  derselben  nicbt  die  Rede  sein  —  freilich  war  dann  ebenso 
gut  aucb  die  Al)stofsung  zu  verwerfen,  und  alle  Naturerklärung  schien 
überbaupt  unmiiglicb  zu  sein.  Aus  dieser  Scbwierigkeit  batte  Leib- 
niz sich  nur  dadurch  retten  können,  dafs  er,  wie  gesagt,  zwar  die 
mechanische  Anschauungsweise  des  D  e  s  c  a  r  t  e  s  beibehalten,  aber 
den  ganzen  Naturprozefs  in  die  Subjektivität  seiner  Monaden  binein- 
verlegt,  ihn  zu  einem  rein  immanenten  Gescbeben  herabgesetzt  und 
die  wirkliche  Abstofsung  der  Kiirper,  wüe  Descartes  sie  verstanden, 
in  eine  blofs  scheinbare  verwandelt  hatte.  Die  Annahme  einer  gegen- 
seitigen Abstofsung  schien  unbedenklich,  wofern  nuin  sich  nur  gegen- 
wärtig hielt,  dafs  sie  nicht  als  eine  solche  zwischen  den  Monaden 
aufzufassen,  sondern  eben  nur  in  ])bysikaliscbem  Sinne,  d.  b.  als 
verworrene  Vorstellung,  zu  verstehen  sei.  Die  Anziebungski-aft  da- 
gegen glich  zu  sehr  dem  inlluxus  j)hysicus,  als  dafs  man  sie  auch 
nur  als  eine  blofs  physische  hätte  gelten  lassen  können.  Die  Heftig- 
keit, womit  Leibniz  und  seine  Schule  sich  hierüber  mit  den 
Newtonianern  stritten,  bat  vielleicht  darin  ihi-en  tiefsten  Grund,  weil 
man  befürchtete,  mit  der  Annahme  einer  Kraft,  welche  dort  wirkt, 
wo  sie  selbst  nicbt  ist.  das  System  der  Monadologie  aus  den  Fugen 
zu  s])i'engen. 

Dieser  Grund  w^urde  natürlicb  hinfällig,  sobald  man  überbaui)t 
einmal  den  influxus  physicus  zugab.  Damit  war  die  Natur  von  den 
Fesseln  der  Subjektivität  befreit:  der  Naturprozefs  w'ar  wiederum 
ein  o  b j  e  k  t  i  v  e  r  Prozefs.  beruhend  auf  transcendenter  Wirksamkeit 
von  Monade  zu  Monade.  Die  Kraft,  womit  ein  jedes  Körperelement 
seinen  Raum  erfüllt,  ist  die  sogenannte  U  n  d  u  r  c  h  d  r  i  n  ^^  1  i  c  b - 
keit.  Die  Berührung,  die  man  fälschlicher  Weise  als  , .un- 
mittelbare Gegenwart"  definiert,  ist  nichts  Anderes  als  die  gegen- 
seitige Äufserung  der  Kraft  der  Undurchdringlichkeit  mehrer  Elemente 
auf  einander.  Gäbe  es  nun  aber  blofs  eine  Kraft  der  Undui'cb- 
drin^dicbkeit,  so  würde  es  keine  Kr)r])er  geben.  Denn  die  Undurch- 
(hin^lichkeit  ist  als  solche  eine  abstofsende  Kraft;  durch  sie  allein 
also  könnte  sich  der  Zusammenhang  der  Elemente  nur  l(»sen  :  es  wäre 
kein  bestimmter  Umfang  eines  Körpers  miiglicb.  Folglich  ergiebt  sich 
schon  aus  dem  blofsen  Begrilf  des  Körpers  die  Notwendigkeit  einer 
Anziehungskraft :  weit  entfernt,  dafs  die  letztere  nur  eine  überflüssige 
Zuthat,  eine  (pialitas  occulta  an  jeui^ni  wäi-e.  macht  vielmehr  erst 
sie    den    Begrilf    des    Körpers   möglich.     Die    Meta])iiysik    hat   also 


/ 


1 


64 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


I..:l 


keinen  Grund,  sich  gegen  ihre  Annahme  zu  verwahren.  Die  dyn^^J^^i^che 
Auffasi^ung  der  Materie  ist  das  metaphysische  Fundament  aller 
Naturerklärung  iihcriiaupt.  Man  niuls  annehmen,  dals  Anziehungs- 
und Al)stofsungskraft  in  einer  gewissen  Entfernung  sich  gegenseitig 
])aralysieren  und  dadurch  die  Grenzen  des  eingenommenen  Raumes 
l)estininien.  Fragt  man  aher  nach  den  Gesetzen,  welche  die 
heiden  Kräfte  hierhei  innehalten,  so  soll  die  Kraft  d(n-  Anziehung 
nach  Kant  sich  umgekehrt,  wie  die  Quadrate,  die  Abstofsungskraft 
dagegen,  sich  umgekehrt,  wie  die  Kuben  der  Kutfernung  vom  Mittel- 
])unkte  ilirer  Wirksamkeit  verhalten.  ..Wenn  daher  die  abstofsende 
Kraft  im  kubischen,  also  in  einem  viel  stärkeren  Verhältnis  abnimmt, 
so  nrüssen  an  einem  Punkt  des  Durchmessers  die  Anziehung  und 
die  Al)st()fsung  einander  die  Wage  halten.  Denn  dieser  Punkt  wird 
die  Grenze  der  Undurchdringlichkeit  bestimmen  und  den  Umfang 
oder  die  räundiche  Gnifse  für  die  äufsere  Berührung;  denn  wenn 
die  abstofsende  Kraft  durch  die  anziehende  besiegt  ist,  so  wiikt  sie 
nicht   mehr"   (4()S  f.). 

Aus  diesen  Voraussetzungen  folgert  Kant,  dafs  alle  Elemente 
den  gleichen  Umfang  (Volumen)  besitzen  und  deshalb  gleiche 
Räume  bei  ihrer  genauen  Ausfiülung  immer  die  gleiche  Anzahl  von 
Elementen  enthalten  müssen  und  dafs  die  verschiedene  Art  der 
Elemente  nur  auf  den  verschiedenen  Ötärkegraden  ihrer  Kräfte  be- 
ruh(\  Diese  bestimmte  Gröfse,  die  der  Kraft  eines  jeden  Ele- 
mentes zukommt,  ist  die  Trägheitskraft  des  Elementes,  „ver- 
möge welcher  es  in  dem  Zustande  d(>r  Bewegung  zu  beharren 
strebt"  (470).  Die  Summe  (h-r  Trägheitskräfte  aller  Elemente  aber, 
aus  denen  er  bestellt,  ist  <lie  Trägheitskraft  des  Körpers  oder  seine 
Masse.  Indem  also  der  Unterschied  in  (h'r  Masse  eines  Körj)ers 
nur  auf  der  si)ezitischen  Verschiedenheit  der  Trägheit  seiner  Ele- 
mente beruht,  so  können  folglich  die  einzelnen  Körper  bei  genauer 
Ausfüllung  desselben  Raumes  dennoch  sehr  verschiedene  Massen 
enthalten,  je  nachdem  die  Elemente  mit  (Muer  griU'seren  oder  ge- 
ringeren Trägheitskraft  versehen  sind.  Da  nun  auf  dem  Verhältnis 
der  Masse  zum  Volumen  die  spezifische  Dichtigkeit  der  Körper 
beruht,  so  kann  es  verschieden  dichte  Körper  geben,  ohne  dafs  man 
zu  ihrer  Erklärung  der  Annaluue  eines  leeren  Raumes  bedarf.  Man 
braucht  die  letztere  auch  nicht  zur  Frkläiung  der  Elastizität. 
Die  spezilische  Elastizität  eines  Körpers  ist  das  Resultat  der  Ver- 
bindung der  Elastizität  seiner  einzelnen  Elemente,  und  diese  ist 
selbst  nichts  Anderes  als  die  abstofsende  Kraft  der  Elemente,  so- 
fern dieselbe  bei  verschiedenen  verschieden  ist.  Hiernach  kann 
nämlich    einer   jeden  abstofsenden  Kraft    eine  andere  stiirkere  ent- 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


65 


gegenwirken,  welche  das  Element  mit  seiner  ursprünglichen  Kraft 
nicht  in  derselben  Entfernung  abzuhalten  vermag;  sie  kann  mithin 
in  dessen  Raum  eindringen,  ohne  dafs  jedoch  eine  noch  so  grofse 
Kraft  jemals  imstande  wäre,  ein  Element  vollkommen  zu  durch- 
dringen, weil  die  Abstofsung  eines  solchen  mit  abnehmender  Ent- 
fernung vom  Mittelpunkte  stetig  wächst  und  folglich  an  diesem 
Punkte  selbst  unendbch  grofs  ist. 

Der  leere  Raum  war  der  rationalistischen  Metaphysik  von  jeher 
ein  Stein  des  Anstofses  gewesen.     Er  erschien  ihr  gleichsam  als  das 
Irrationale,  das  dem  Denken  keinen  Anhalts])unkt  gab,  und  welchem 
daher  mit  der  Vernunft  auch  nicht  beizukommen  war.     Descartes, 
der    in    seinen    „Prinzipien    der  Philosophie*'    die  Grundlinien    der 
rationalistischen     Naturphilosophie     gezogen,     hatte     die     Annahme 
eines    leeren    Raumes    deshalb    von    der  Hand    gewiesen      weil    Aus- 
dehnung   (Körper)    und  Raum  für  iim  identisch  waren  und  er  aus 
dem  Gesichtspunkte  der  Naturphilosophie  nur  die  Ausdehnung  als 
Objekt  des  Denkens  gelten  lassen  wollte.     Ebenso  hatten  auch  L e  i  b n  i  z 
und  seine  Anhänger  jene  Annahme  verworfen,  weil  sie  der  lex  con- 
tinui    zu    widersprechen    schien.*)     Auch   für   sie  gehörte    der  leere 
Raum    zu    den    verworrenen  Vorstellungen,    er   galt  ihnen  für  eine 
hlofs  ])hysikalische   Anschauungsweise,   um  sich  die  Möglichkeit    der 
Kcirperbewegung  vorzustellen.    Kant,  der  diesen  Unterschied  zwischen 
dem   wirklichen  und  scheinbaren  Geschehen  beseitigt  und  die  physi- 
kalische Wirkung  der  Monaden  auf  einander  zu  einer  metaphysischen 
erhoben  hatte,    war  nicht  so  glücklich,    die    schwierifire    Vorstelluuir 
des    leeren    Raumes    einfach   dem   Subjekt    zuschreiben    zu    können. 
Auf  der  anderenSeite  war  er  jedoch  selbst  viel  zu  sehr  in  der  Ab- 
neigung gegen    den    leeren  Raum    befangen,    als  dafs  er  auch  ihm. 
sowie  der  AVirkungsweise  dei-  Monaden,  eine  Realität  aufserhalb  der 
subjektiven  Ansehauungsweise  hätte  zugestehen  mögen.     Er  meinte, 
bei  der  Annahme  eines  leeren  Raumes    müsse    man    zur   P^rkläruuir 
der    verschiedenen    Dichtigkeit    der    Körper    sich    mafslosen     Ver- 
mutungen   hingeben    und    den    Elementen   die   mannigfaltigsten  Ge- 
stalten   beilegen,    welche    durch    den  starken  Stofs  der  Ktirper  auf 
einander    und    durch  das  stete  Gereibe  derselben  sich  immer  mehr 
verkleinern  müfsten    (471).     Von    seinem    Standpunkte  aus  ghiubte 
er   jene   Annahme    auch   deshalb   abweisen   zu  müssen,     weil  ja  der 
Raum    durch    die  Aktivität   der  Monaden  gesetzt,    blofses   Accidenz 
an  den  Monaden,  als  Substanzen,  war.     Da  er  hiernach  nur   soweit 


*)   \'</l.   Leihniz:    Neue  Ahhandhmgen  üher  den  niensclih  Verstand,   hrsg-. 
v.  C.  Schaarschmidt  (Phil.  Bihliothek  Bd.  56).     17  f. 

D  r  0  w  s  ,  Kants  Naturphilosophie.  5 


J 


l    » 


66 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


67 


reichte,    wie    die    Sphäre   ihrer  Wirksamkeit,    und    nichts  war  ohne 
diese  Wirksamkeit,    so    hefürchtete  Kant,    ein  leerer  Raum  möchte 
ein   Accidcnz  ohne  Sul)stanz.   ein    Produkt  sein  olme  einen   dassolhe 
tragenden  Produzenten.     Er  bedachte  nicht,   dal's  aueh  die  Kraft  den 
Eaum  .ja  nicht  ei^^'ntlich  erfüllt,   dafs  sie  ihn  zwar  durchdringt 
und    auf   andere  Monaden   anziehend  oder  ahstofsend  einwirkt,  ohne 
dafs  jedoch  weder  sie  selbst,  noch  dieMonaden  einen  Kaum  einnehmen 
und  dafs  es  mithin    nur    ein    uneigentlicher  Ausdruck  sei,    wenn  er 
von   einer  Ausfüllung  des  Paumes  durch  die  Kraft  gesprochen  hatte. 
Auf  diesem   Standi)ünkt  hat   der  Gegensatz    des    vollen    und    leeren 
Kaumes  überhaupt  keinen  Sinn.     Der  Kaum,  der  von  den  Kräften 
umschrieben  wird,   erscheint  nur  dem  sinnlichen  Bewufstsein  als  ein 
ausgefüllter;    aber    der   ]\Ietai)liysiker    mufs   sich    darüber  klar  sein, 
dafs  der  kontinuierliche,  ausgedehnte  Stoff  eben  nur  eine  subjektive 
Anschauungsart    ist,    dem    an    sich    nur   ein  Syst(Mn    von    stofflosen 
Kräften  zu  Grunde  liegt.      Wenn  Kant  eine  dynamische  Auffassung 
der  Materie  vertritt  und  trotzdem   an   einem   den  Paum  auslullenden 
Stoff    festhält,    so    ist   das    nur   ein  Überrest    eben  derjenigen  An- 
schauungsweise,   auf  deren  Üherwindung    gerade   seine  Absicht  ge- 
richtet ist.      Es    wird  sieh    s])äter  zeigen,    wie  dieses  Steckenbleiben 
im    entgegengesetzten    Standpunkt     verhängnisvoll     für    die    ganze 
kantische   Theorie  der   Materie  geworden  ist:    darum   war   es  nötig, 
schon  hier   darauf  hinzuweisen,   dafs  seiner  Besorgnis  vor  dem  leeren 
Kaum  eine   i]erechtigung  nicht  zukommt.')  — 

Wir  wissen  nun.  welcher  Art  (ii»  Kräfte  sind,  auf  deren  Zu- 
sammenwirken nicht  blofs  die  mannigfaltigsten  Naturerscheinungen, 
sondern  auch  die  K()r])er  selbst  heruheii.  Wir  kennen  die  metaphysische 
Natur  des  Paumes,  m  dem  alle  diese  Erscheinungen  vor  sich  gehen, 
und  welcher  die  notwendige  Bedingung  ihres  Zustandekommens,  die 
allgemeine  Voraussetzung  der  Bewegung  bildet.  Was  ist  mm  die 
Bewegung  selbst,  und  welcher  Unterschied  besteht  zwischen  den 
Körpern,  wenn  sie  in  Puhc  und  wenn  sie  m  Bewegung  sich  befinden? 
Dies  war  die  nächste  Krage,  die  Kant  in  seiner  Abhandlung:  ,,Tm. 
Kants  neuer  Lehrbegriff  der  Bewegung  undPuhe  und 
der  damit  verknüpften  Folgerungen  m  den  ersten 
Gründen  der  Naturwissenschaft"  im  Jahre  I7ö8  erörtert 
hat.  nicht  ohne  sich  a))ermals  noch  weiter  von  der  allgemeinen  An- 
schauungsweise seiner  Zeitgenossen   zu  entfernen. 

Bewegung   ist   die  Veränderung   des  Ortes  eines  Körpers;    der 


*)   Vol.  hierzu  (r.  Simmel:   Das  Wesen  d.  .Materie  naeh  Kants  l'hysischer 
Monadologie.     Inaug.-Uissert.  Berlin  18^1. 


Ort  aber  wird  durch  die  Lage,  die  Stellung  oder  durch  die  äufsere 
Beziehung  desselben  gegen  andere  Körper,  die  um  ihn  sind,  be- 
stimmt. ,.Nun  kann  ich  einen  Kn-per  m  Beziehung  auf  gewisse 
äufsere  Gegenstände,  die  um  ihn  sind,  betrachten,  und  dann  werde 
ich,  wenn  er  diese  Bezielumg  nicht  ändert,  sagen,  er  ruhe.  Sobald 
ich  ihn  aber  im  Verhältnis  auf  eiiie  Sphäre  von  weiterem  Umfange 
ansehe,  so  ist  es  möglich,  dafs  eben  der  Körper  zusamt  seinen  nahen 
Gegenstäuden  seine  Stellung  in  Ansehung  jener  ändert,  und  ich 
werde  ihm  aus  diesem  Gesichtsjmnkte  eine  Bewegung  mitteilen.  Nun 
steht's  mir  frei,  meinen  Gesichtskreis  so  sehr  zu  erweitern,  als  ich 
will,  und  meinen  Körper  in  Beziehung  auf  immer  entferntere  Um- 
kreise zu  betrachten,  und  ich  begreife,  dafs  mein  Urteil  von  der 
Bewegung  und  Pulie  dieses  Kcörpers  niemals  beständig  sei,  sondern 
sich  bei  neuen  Aussichten  immer  verändern  könne''  (IL  1G).  Be- 
wegung und  Puhe  sind  also  blofs  relativ.  ..Ich  soll  nie- 
mals sagen:  ein  Körper  ruht,  ohne  dazu  zu  setzen,  in  Ansehung 
welcher  Dinge  er  ruhe,  und  niemals  sprechen:  er  bewege  sich,  olme 
zugleich  die  Gegenstände  zu  nennen,  in  Ansehuug  deren  er  seine 
Beziehung  ändert'^  (17).  Dasselbe  Resultat  ergiebt  sich  auch  bei 
der  Betrachtung  z  we  i  e  r  Körper,  von  denen  der  eine  in  Ansehung 
der  ihn  umgebenden  Dinge  ruht,  der  andere  aber  mit  einer  be- 
stimmten Geschwindiirkeit  gegen  ihn  anrückt.  Auch  hier  ist  es  ganz 
willkürlich,  zu  sagen,  dafs  einer  von  beiden  ruiie  und  blofs  der 
andere  sich  bewege,  und  welcher  von  ihnen  ruhe  oder  sich  bewege. 
Abstrahiert  man  nämlich  von  der  äufseren  Umgebung  und  betrachtet 
man  die  hier  vorgehende  Veränderung  lediglich  in  Ansehung  der 
beiden  Kcirper  seilest,  so  wird  man  die  Bewegung  beiden,  und  zwai- 
beiden  in  ganz  dem  gleichen  Mafse  beilegen  müssen:  .,Ein  jeder 
Körper,  in  Ansehung  dessen  sich  ein  anderer  hewegt,  ist  auch  selber 
in  Ansehung  jenes  in  Bewegung,  und  es  ist  also  unmöglich,  dafs  ein 
Körper  gegen  einen  andern  anlaufen  sollte,  der  in  absoluter  Puhe 
ist.  Wirkung  und  Gegenwirkung  ist  in  dem  Stofse  der  Körper 
immer  gleich'*  (U)). 

Man  hat  diese  Gleichheit  von  Wirkung  und  Gegenwirkung  bisher 
immer  aus  einer  besonderen  Naturkraft,  der  sogenannten  Trägheits- 
kraft, erklärt,  auf  Grund  deren  jeder  K()r])er  bestrebt  sein  sollte,  sich 
in  dem  jeweilig  von  ihm  angenommenen  Zustande  der  Puhe  oder  Be- 
wegung zu  erhalten.  Wenn  nun  das.  was  man  fälschlicher  Weise  für 
Puhe  111  Ansehung  des  stofsenden  Körpers  gehalten  hat,  in  derThat  be- 
ziehungssveise  auf  ilm  eine  Bewegung  ist,  so  leuchtet  ein,  ,.dafs 
diese  Trägheitskraft  ohne  Not  erdacht  sei"  und  dafs  es  eine 
besondere  Art   der  Naturkraft,  die  ein  ruhender  Körper  im  Augen- 

5* 


68 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


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blick  des  Stofses  einem  andern  entgegensetzt,  nicht  giebt,  und  zwar 
weil  die  Gleichheit  von  Wirkung  und  Gegenwirkung  sich  el)enso  gut 
aus  der  Rehitivität  der  Bewegung  erklärt  (lll  f.).  Di<^  Trägheits- 
kraft  hat  keine  andere  Bedeutung,  wie  die  Anziehungskraft  aller 
Materie  zur  Erklärung  der  grofsen  Bewegungen  des  Weltbaues  bei 
Newton:  sie  repräsentiert  nändich  blofs  „das  Gesetz  einer  durcli 
die  Erfahrung  erkannten  allgemeinen  Erscheinung,  wovon  man  die 
Ursache  nicht  weifs,  und  welclu'  folglich  man  sich  nicht  übereilen  mufs, 
sogleich  auf  eine  dahin  zielende  innere  Naturkraft  zu  schieben"  (20). 
Aber  auch  noch  „ein  anderes  willkürliches  Gesetz"  verschwindet, 
sobald  man  den  richtigen  Begriff  der  Ruhe  und  Bewegung  hat.  Die 
Verteidiger  des  gemeinen  Begriffes  der  Bewegung  müssen  als  „hilf- 
leistende Hypothese"  auch  noch  ein  Gesetz  der  Continuität  annehmen, 
ohne  welches  sie  den  Stofs  der  Kiirper  nicht  erklären  künnen.  Wohl- 
gemerkt handelt  es  sich  nicht  um  das  logische  Gesetz  der  Continuität. 
denn  dies  ist  gewifs  „eine  sehr  schöne  und  richtige  Regel  zum 
Urteilen."  Vielmehr  hat  Kant  nur  das  physische  Gesetz  im  Auge, 
dasLeibniz  zuerst  aufgestellt  iint,  und  welches  lautet:  ein  Kiu'per 
teilt  dem  andern  keine  Kraft  auf  einmal  mit,  sondern  so,  dafs  er 
durch  alle  unendlich  kleinen  Zwischengrade  von  der  Ruhe  an  bis 
zur  bestimmten  Geschwindigkeit  in  ihn  seine  Kraft  üherträgt.  Wenn 
z.  B.  ein  viiUig  harter  Körper  einen  anderen  gleichartigen  und  gleich 
grofsen  stöfst,  so  überträgt  er  ilnn,  wie  dies  aus  der  Statik  bekannt 
ist,  die  Hälfte  seiner  eigenen  Geschwindigkeit.  Warum  immer  nur 
die  halbe?  warum  nicht  die  ganze?  Die  Antwort  ist,  weil  der 
stofsende  Körper  so  lange  den  in  seinem  Wege  liegenden  drückt 
und  treiht,  bis  beide  gleiche  Geschwindii^keit,  und  wenn  beide  Massen 
gleich  sind,  bis  Jeder  die  Hälfte  von  der  Geschwindigkeit  des  stofsenden 
hat,  „denn  alsdann  ilieht  der  gestofsene  Körper  alle  fernere  Hand- 
lung des  stofsenden.''  Allein  dabei  setzt  mnn  doch  voraus,  alle 
Wirkung  des  stofsenden  auf  den  gestofsenen  Körper  geschehe  nach 
und  nach  vermittelst  einer  Folge  von  unendlich  vielen  kleinen  ^lo- 
menten  der  Drückung,  weil  jener  sonst  seine  ganze  Bewegung  diesem 
auf  einmal  erteilen  und  selbst  in  Ruhe  bleiben  würde.  Das  Schlimme 
ist  nur,  dafs  unter  dieser  Voraussetzung  eine  Wirkung  des  einen 
Körpers  auf  den  anderen  unmöglich  ist.  ,,Denn  es  mag  noch  so 
ein  unendlich  kleines  Moment  sein,  womit  er  in  einem  Augenblicke 
wirkt,  und  welches  sich  in  einem  bestimmten  Zeitteilchen  zu  einer 
gegebenen  Geschwindigkeit  häuft,  so  ist  dieses  Moment  immer  eine 
plötzliche  Wirkung,  die  nach  dem  Gesetze  der  Continuität  erstlich 
hätte  durch  alle  unendlichen  Grade  der  geringeren  Momente  durch- 
gehen sollen  und  auch  können ;  denn  es  läfst  sich  immer  von  einem 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


69 


gegebenen  Moment  ein  anderes  kleineres  denken,  aus  dessen  Sum- 
mierung jenes  erwachsen  ist.  Also  ist  seihst  das  Moment  der 
Wirkung  beim  Stofse  phJtzlicb  und  dem  Gesetze  der  Continuität 
zuwider"  ('22  f.).  Kein  Wunder  daher,  dafs  selbst  die  berühmtesten 
Naturkündiger,  obwohl  man  jenes  Gesetz  durchaus  aunehmen  mufs, 
..wenn  man  sich  nicht  des  gemeinen  Begriffes  von  Bewegung  und 
Ruhe  entladen  will.'*  trotzdem  dasselbe  nicht  einmal  als  eine  Hypothese 
v/ollten  gelten  lassen ;  denn  für  etwas  Besseres  kann  man  das  Gesetz 
der  Continuität  nicht  ausgeben,  ., welches  sich  niemals  beweisen,  wohl 
aher  widerlegen  läfst'*  (21).  — 

So    räumte    also    Kant    mit  alten    Vorurteilen    der   bisherigen 
Wissenschaft  auf,  indem  er  insbesondere  die  Trägheitskraft  aus  der 
.Metaphysik  fortschaffte.      Im  Grunde,  s])rach  er  damit  fn-ilich  mir  offen 
aus,   was  schon  die  stillschweigende  Voraussetzung  in  der  physischen 
Monadologie    gewesen    war.     Auch    hier    war   ja    die   Trägheitskraft 
mitder  Kraft  der  Anziehung  und  Abstofsungin  den  einzelnen  Elementen 
seihst   identisch   gewesen,    und  es  war  wohl   nur  aus  der  Anlehnung 
an   die   herrschende    wolftische    Metaphysik,   worin    die   vis    inertiae 
eine   grofse  Rolle    spielte,    zu    erklären,    wenn   Kant   hier   üherhaupt 
noch   von    einer   Trägheits  k  r  a  f  t    oder    von    einer    Anstrengung 
(,,annititur")  des  Körpers,  im  Zustande  der  Bewegung  zu  verharren, 
gesprochen  hatte   (I.  470).     Nunmehr  aber  war  er  es  satt,    innner 
blofs  Material  auf  die  ,.Zwan<,nnühle  des  wolffschen  oder  eines  andern 
berühmten  Lehrgebäudes*-  zu  liefern  (II.  IT)).     Hatte  er  in  der  all- 
gemeinen Naturlehre  so  Grofses  im  Widers])ruche  zu  der  herrschenden 
Anschauung    seiner   Zeit   erreicht    und    (muo   vfHlige   Revolution    auf 
diesem   Gebiete  hervorgerufen,    so  glauhte  er  nun   auch   in   den    rein 
metaphysischen  Fragen  sich  etwas  zutrauen  zu  kiinnen.     Kr  fing  an, 
die  lästigen  Fesseln   der  Schultradition  von   sich  abzuschütteln,   die 
ihm  immer  verdächtiger  erschien,  je  näher  er  sich  mit  ihr  hefafste, 
und  immer  deutlicher  begann    in  ihm  die  Erkenntnis   sich  Bahn  zu 
Ijrechen,  dafs  die  veränderte  Grundansicht   über  die   Pi-inzij)ien   der 
Naturlehre   auch    eine   v()llige  Umwälzung   in    der  Metaphysik   nach 
sich  ziehen  nüifste. 

Kants  Absicht  war,  seine  dynamische  Naturbetraclituug  meta- 
physisch  zu  begründen  und  ihr  damit  erst  dc^njenigen  Halt  zu  ver- 
schaff'en,  der  sie  fähig  machte,  den  Sieg  über  die  alte  Anschauungs- 
weise des  Cartesianismus  zu  gewinnen.  Aber  was  half  (li(^  Heran- 
ziehung der  Metaphysik,  wenn  diese  selbst  nicht  haltbar  war?  Eine 
unzweifelhaft  gewisse  und  unbestreitbare  Metaphysik  war  bei  den 
damaligen  Meta])hysikern  nicht  zu  finden,  und  d.irum  eben  hatte 
Kant  seihst  den  Versuch  gemacht,    die  Mathematik   mit  dei*  meta- 


N 


0 


ß.   Kant  als  Naturphilosoph. 


J.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


71 


.}h 


l)hysisclien  Betrachtung  zu  verbinden,  d.  h.  eine  solche  metaphysische 
Grundansicht  aufzustellen,  dafs  die  mathenuitisclien  Prinzipien  auf 
sie  anwendbar  seien,  um  so  der  Mctapliysik  eine  Sicherheit  und 
Exaktheit  zu  verschaffen,  wie  sie  jene  andere  Wissenschaft  schon 
längst  besafs.  Mathematisclie  Prinzipien  in  die  Philosophie  ein- 
zuführen war  ja  an  sich  keineswegs  (^twas  ^'eues,  man  denke  nur 
an  die  Ethik  des  Spinoza!  —  ja,  der  ganze  Rationalismus  seit 
Descartes  basierte  auf  einer  Verquickung  metaphysischer  mit 
mathematischen  Prinzij)ien,  insofern  sie  beide  aut  apriorischem  Wege 
ihre  Erkenntnisse  zu  gewinnen  strebten.  Indessen  hatte  der  Gebrauch, 
w(dchen  die  Philoso[)hie  von  der  Mathematik  zu  macheu  pllegte,  bis 
daliiii  docli  wesentlich  nur  in  der  Nachahmung  ihrer  Methode  be- 
standen, ohne  dafs  hiervon  ein  besonderer  Nutzen  zu  ersehen  war. 
In  der  Naturlehre  war  das  Gröfste  dadurch  ei-reicht  worden,  dafs 
man  angefangen  hatte,  die  Lehren  der  Mathematik  selbst  auf  die 
Gegenstände  anzuwenden;  aber  das  hatte  die  Metaphysiker  nicht  davon 
abgehalten,  an  jener  Wissenschaft  hochmütig  vor])eizugehen  und  überall, 
wo  ihre  abstrakten  Spekulationen  mit  den  Einsichten  jener  nicht 
übereinstimmen  wollten,  die  sicher  fu])di<'rten  Sätze  der  Mathematiker 
zu  ignorieren.  ,,Die  Meta])hysik,"  klagt  Kant,  ,, anstatt  sich  einige 
von  den  Begriffen  oder  Lehren  der  Mathematik  zu  Nutze  zu  machen, 
hat  vielmehr  sich  (".fters  wider  sie  bewaffnet,  und,  wo  sie  vielleicht 
sichere  ( inindlagen  hätte  entlehn(>n  kfhinen,  um  ihre  Betrachtuuf^en 
darauf  zu  gründen,  sielit  man  sie  bemüht,  aus  den  Begriffen  des 
Mathematikers  nichts  als  feine  Erdichtungen  zu  machen,  die  aufser 
seinem  Eelde  wenig  W^ahres  an  sich  haben.  Man  kann  leicht  er- 
raten, auf  welcher  Seite  der  Vorteil  sein  werde  in  dem  Streite  zweier 
Wissenschaften,  davon  die  eine  alle  insgesamt  an  Gewifsheit  und 
Deutlicldveit  ülieitrilft,  die  andere  aber  sich  allererst  bestrebt,  dazu 
zu  gelangen''  (IL   71). 

Da  ist  z.  B.  der  Begriff  des  unendlich  Kleinen,  den  Leibniz 
zuerst  in  die;  Matheujatik  eingeführt,  und  welcher  sich  hier  als  so 
besonders  fruchtbar  erwiesen  hat!  Die  Metaphysiker  verwerfen  ihn 
mit  einer  Dreistigkeit  als  Erdichtung,  dafs  man  annehmen  mufs,  sie 
verständen  überhau})t  nicht  genug  dav(m,  um  sich  ein  Urteil  darüber 
erlauben  zu  kiinnen.  Lud  doch  beweist  die  Natur  selbst  die  Wahr- 
heit dieses  Begriffes  und  läfst  ihn  dadurch  auch  für  die  Metaphysik 
als  höchst  bedeutungsvoll  erscheinen.  ,,i)enn  wenn  es  Kiätte  "-iebt, 
welche  eine  Zeit  hindurch  kontinuierlich  wirken,  um  Bewegungen 
hervorzubringen,  wie  allem  Ansehen  nach  die  Schwere  ist  so  mufs 
die  Kratt,  die  sie  im  Anfangsaugeniilicke  oder  in  Buhe  ausübt,  gegen 
die.   welche  sie   in   einer  Zeit  mitteilt,    unendlich  klein  sein'*  (IL  72). 


Offenbar  wirkt  auch  dies  Vorurteil  gegen  den  mathematischen  Be- 
griff des  unendlich  Kleinen  mit,  um  die  Anerkennung  des  Dyna- 
mismus  zu  verhindern.  Sollte  nicht  gerade  umgekehrt  die  Anwendbar- 
keit jenes  Begriffes  auf  die  Prinzipien  der  dynamischen  Natur- 
anschauung für  die  Wahrheit  dieser  letzteren  beweisend  sein?  In 
Anbetracht  solcher  dünkelhaften  Vorurteile,  wie  er  sie  bei  den  Meta- 
physikern  seiner  Zeit  erblickt,  beginnt  Kant  überhaupt  gegen  sie 
mifstrauisch  zu  werden  und  beschliefst  er.  auch  in  den  Fragen  der 
Metaphysik  seinen  eigenen  AVeg  zu  gehen:  ,.Denn  was  die  meta- 
physischen Intelligenzen  von  vollendeter  Einsicht  anlangt,  so  müfste 
man  sehr  unerfahren  sein,  wenn  man  sich  einbildete,  dafs  zu  ihrer 
Weisheit  noch  etwas  könnte  hinzugethan  oder  von  ihrem  Wahne 
etwas  könnte  hinweggenommen  werden*'   (IL    74). 

Zu  denjenigen  mathematischen  Begriffen,  gegen  deren  Aufnahme 
in  ihre  eigene  Wissenschaft  die  Metaphysiker  sich  sträuben,  gehört, 
wie  Kant  in  seiner  Schrift :   „Versuch,  den  B  egriff  der  nega- 
tiv e  n  G  r  ö  f  s  e  n    in    die   W  e  1 1  w  e  i  s  h  e  i  t   einzuführen"    vom 
Jahre  ITü:^  zeigt,  auch  der  Begriff^  der  negativen  Gröfse.     Die  Mathe- 
matik nennt   eine  Gröfse   in  Ansehung    einer  anderen  negativ^    ..in- 
sofern sie  mit  ihr  nicht  anders  als  durch  die  Entgegensetzung  kann 
zusammengenommen  werden,    nämlich  so,    dafs  eine  in  der  anderen, 
soviel  ihr  gleich  ist.  aufhebt."     In  dem  Verhältnis -f- Jt  inid  —  a  ist 
—  a  die  negative  Gröfse,    wobei   zu  beachten    ist,    ,.dafs   diese   Be- 
nennung nicht  eine  besondere  Art   Dinge  ihrer  inneren  Beschaffen- 
heit nach,  sondern  dieses  G  ege  n  v  e  r  h  äl  t  n  is  anzeigt,  mit  gewissen 
anderen  Dingen,    die  durch  -|-  a  bezeichnet   werden,    in    einer  Ent- 
gegensetzung  zusammengenommen   zu   werden"  (IL  77  f.).     ,.AVenn 
es  dem  berühmten  Herrn  D.  Crusius  beliebt  hätte,  sich  den  Sinn 
der  Mathematiker  bei  diesem  Begriffe  bekannt  zu  machen,  so  würde 
er  die  Vergleichung  des  Newton  nicht  bis  zur  Bewunderung  falsch 
gefunden  haben,    da  er   die  anzieliende  Kraft,    welche  nahe  bei  den 
Körpern  nach    und   nach    in  eine  zurückstofsende  ausartet,    mit   den 
Beihen  vergleicht,  in  denen  da,  wo  die  positiven  Gröfsen  aufhören, 
die  negativen  anfangen.     Denn  es  sind  die  negativen  Gröfsen  nicht 
Negationen  von  Gröfsen,  wie  die  Ähnlichkeit  des  Ausdrucks  ihn  hat 
vermuten  lassen,    sondern  etwas  an  sich    selbst  wahrhaft  Posi- 
tives,   nur  was    dem   andern  entgegengesetzt  ist.     Und   so   ist  die 
negative  Anziehung  nicht  die  Kühe,  wie  er  dafür  hält,  sondern  die 
wahre  Zurückstofsung"^  (^'0- 

Der  Grund  dieses  Mifsverständnisses  ist  darin  zu  suchen, 
<lafs  man  bisher  die  zwiefache  Natur  der  Entgegensetzung  nicht 
genügend  beachtet  hat.     Der  Kationalismus  kennt  nur  eine  logische 


72 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


■h'r  ' 


Opposition,  welche  darin  besteht,  dafs  von  ebendemselben  Dinge 
etwas  zugleich  bejaht  und  verneint  wird ;  ihre  P'olge  ist  das  reine 
Nichts  (nihil  negativuinj  nach  dem  Satz  des  Widerspruches,  z.  B. 
ein  Körper,  der  in  Bewegung  und  in  ebendemselben  Sinne  zugleich 
nicht  in  Bewegung  ist.  Es  giebt  aber  auch  noch  eine  reale 
Oi)position,  wo  zwei  Prädikate  eines  Dinges  entgegengesetzt  sind, 
aber  nicht  durch  den  Satz  des  Widerspruches;  ihre  Folge  ist  auch 
Nichts,  aber  in  einem  anderen  Sinne,  wie  vorher,  nämlich  niliil 
privativuni,  Zero  oder  0,  z.  B.  Bewegkraft  eines  Körpers  nach  einer 
Gegend  und  eine  gleiche  Bestrebung  ebendesselben  in  entgegen- 
gesetzter Richtung,  woraus  sich  als  Folge  die  Kühe  ergiebt  (Tö  f.). 
Kühe  ist  also  in  einem  Körper  entweder  blofs  tun  Mangel,  d.  i. 
eine  A'erneinung  der  l)ewegung,  insofern  keine  Bewegkrat't  da  ist ; 
oder  eine  Beraubung,  insofern  wohl  Bewegknift  anzutreffen,  aber  die 
Folge,  nändich  die  Bewegung,  durch  eine  entgegengesetzte  Kraft 
aufgehoben  ist.  Im  ersteren  Falle  handelt  es  sicli  bU^fs  um  eine 
logische  Ojjposition,  denn  diese  drückt  nichts  weiter  als  Abwesenheit 
aus:  sie  sagt,  dafs  etwas  nicht  vorhanden  ist.  iin  letzteren  Falle 
dagegen  liegt  eine  K e  a  1  r  e  p  u  g  n  a  n  z  vor:  die  Verneinung  ist  hier 
die  Folge  einer  an  sich  durchaus  positiven  Gröfse,  die  nur  in  l^e- 
ziehung  zu  einer  andern,  ihr  entgegengesetzten  negativ  heifst.  Nur 
wenn  es  l»lofs  eine  logische  Entgegensetzung  gäbe,  wäre  der  Begriff 
der  negativen  Gröfse  in  der  Metapliysik  unzulässig,  weil  bei  der 
rein  logischen  Verneinung  überhaupt  keine  Gröfse  mitspielt.  Da  es 
aber  auch  eine  Kealrepugnanz  giebt,  so  ist  jener  mathematische 
Ausdruck  ganz  wohl  anwendbar,  denn  hier  handelt  es  sich,  wie  in 
der  Mathematik,  um  das  Verhältnis  zweier  wirklichen  einander 
entgegengesetzten  Gnifsen.  „Die  Kealn  pugnanz  findet  nur  statt, 
insofern  zwei  Dinge,   als  ])Ositive  Gründi',   eins  die  Folge  des  andern 

aufhebt-'  (TD). 

Betrachtet  man  unter  diesem  Gesichts])unkte  die  Undurcli- 
dringlichkeit  des  K()rpers,  so  erscheint  sie  hiernach  als  eine  waiire 
Kraft  in  dessen  einzelnen  Teilen,  vermöge  welcher  er  einen  anderen 
K()rper  al)hält,  in  den  von  ihm  selbst  eingenommenen  Raum  einzu- 
dringen. J)ie  Undurchdringlichkeit  ist  nicht  die  Negation  der  An- 
ziehung, wie  (lei-  Kationalismus  auf  Grund  der  allein  von  ihm  ge- 
kannten blofs  logiselu^n  Opposition  behaupten  nnifs,  sondern,  sofern 
man  unter  Anziehuni^^  eine  Ursache  versteht,  vermiige  deren  ein 
Köri)er  andere  nötigt,  gegen  den  Baum,  den  er  einnimmt,  zu  drücken 
oder  sich  zu  bewegen,  ist  die  Undurchdriiiglichkeit  vielmehr  eine 
negative  Anziehung,  d.h.  ein  ebenso  j)  o  s  i  t  i  v  e  i*  Grund,  wie 
eine  jede  andere  Bewegkral't  in  der  Natur,  oder  eine  wahre  Zuriiek- 


I.  Die  vorkritische  Naturjjhilosophie. 


73 


stofsung  der  Körper  (82).  Auf  dieselbe  Weise  kann  man  auch  die 
verschiedenartige  Wirksamkeit  der  Pole  bei  der  Elektrizität  unter 
dem  Gesiclitspunkte  der  negativen  Gröfse  betrachten,  ja,  es  ist  zu 
vermuten  „dal's  die  Verschiedenheit  der  Pole  und  die  Entgegen- 
setzung der  positiven  und  negativen  Wirksamkeit  ebenso  w^ohl  bei 
den  Erscheinungen  der  Wärme  dürften  bemerkt  werden.  Die  schiefe 
Fläche  des  Galilei,  der  Perpendikel  des  Huygens,  die  Queck- 
silherröhre  des  Torr  icelli ,  die  Luftpumpe  des  Otto  Gu  er  icke 
und  das  gläserne  Prisma  des  Newton  haben  uns  den  Schlüssel 
zu  grofsen  Naturgeheimnissen  gegeben.  Die  negative  und  jiositive 
\\'irksamkeit  der  Materien,  vornehmlich  bei  der  Elektrizität  verbergen 
:dlem  Ansehen  nach  wichtige  Einsichten,  und  eine  glückliche  Nach- 
kommenschaft, in  deren  schöne  Tage  wir  hinaussehen,  wird  hoffent- 
lich davon  allgemeine  Gesetze  erkennen,  was  uns  für  jetzt  in  einer 
noch  zweideutigen  Zusanmienstimmung  erscheint*'   (90  f.). 

,.Ein  jedes  Vergehen  ist  ein  negatives  Entstehen,   d.  i.  es  wird, 
um  etwas  Positives,   was  da  ist,  aufzuheben,  ehenso  wohl  ein  wahrer 
liealgrund  erfordert,   als  um   es  hervorzubringen,   w^enn  es  nicht  ist" 
(Ü2).    So  hört  eine  Bewegung  niemals  gänzlich  oder  zum  Teil  auf,  ohne 
eine  Bewegungskraft,   die  derjenigen  gleich  ist,   welche  die  verlorene 
Bewegung  hiitte    hervorbringen   können.      Dasselbe    findet    auch    auf 
psychischem   Gebiete  statt.      „Man  empfindet  es  in  sich  selbst    sehr 
deutlich,  dafs,  um  einen  Gedanken  voll  Gram  bei  sich  vergehen  zu 
lassen  und  aufzuheben,    wahrhafte  und    gemeiniglich  gröfse  Thätig- 
keit   erfordert  wird.     Es    kostet    wirkliche  Anstrengung,    eine    zum 
Lachen    reizende  lustige  Vorstellung    zu  vertilgen,    wenn    man    sein 
Gemüt   zur  Ernsthaftigkeit    bringen  will*'    (ebd.).     Die  Abstraktion 
ist  eine    negative  Aufmerksamkeit,    d.    h.    ein  wahrhaftes  Thun  und 
Handeln,    welches    derjenigen    Handlung,    wodurch    die  Vorstellung 
klar  wird,  entgegengesetzt  ist;  es  wird  dazu  Anstrengung  einer  Kraft 
erfordert.      Und  wie  vermöchten    wir  wohl    eine  Begierde    zu    über- 
winden    ohne    einen    positiven     Grund    zur    Aufhebung    derselben? 
Dabei    ist  gar   nicht    nötig,    dafs  wir   uns    dieser  entgegengesetzten 
Tliätigkeit  zugleich  auch  immer  bewufst  seien.     ,.  Welche  bewunderns- 
würdige Geschäi'tigkeit  ist  nicht  in  den  Tiefen   unseres  Geistes  ver- 
borgen,   die    wir    mitten    in    der  Ausübung  nicht  bemerken,    darum 
weil  der  Handlungen    sehr  viele  sind,    jede  einzelne    aber    nur  sehr 
dunkel  vorgestellt   wird;   man  mag   unter  diesen  nur  die  Handlungen 
in    Erwägung    ziehen,    die    unbemerkt    in    uns    vorgehen,    wemi  wir 
lesen,    so    mufs    man    darüber    erstaunen.     Und  so   ist  zu  urteilen, 
dafs  das  Sj)iel   der  Vorstellungen    und   überhau])t  aller  Thätigkeiten 
der  Seele,  insofern  ihre  Folgen,  nachdem  sie  wirklich  waren,  wieder 


/ 


74 


B.    Kant  als  Naturj)hiloso[)h. 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosojjhie. 


75 


/ 


aufhören^  entgegengesetzte  Handlungen  voraussetzen,  davon  eine  die 
Negation  der  anderen  ist"  (93).  Der  Unterschied  /wischen  den 
geistigen  und  kih'perlichen  Erscheinungen  hetrifVt  in  dieser  Hinsieht 
nur  die  verschiedenen  Gesetze,  welchen  jene  heiden  Arten  von 
Wesen  untergeordnet  sind,  indem  der  Zustand  der  Materie  niemals 
anders  als  durch  äul'sere.  der  eines  Geistes  aber  auch  durch 
innere  Ursachen  verändert  werden  kann:  die  Notwendigkeit  der 
Kealentgegensetzung  dagegen  bleibt  bei  diesem  Unterschiede  immer 
dieselbe. 

Eine  Entgegensetzung  kann  ebenso  wohl  wirklich,  wie  nn'iglicli  sein. 
,.  Beide  sind  reale,  d.  i.  von  der  logischen  Opposition  unterschieden,  beide 
sind  in  der  Mathematik  beständig  im  Gebrauche  und  beide  verdienen  es 
auch  in  der  Phih)sophie  zu  sein"  (95).  Zwei  K()r])er,  die  auf  der- 
selben geraden  Linie  in  entgegenstehender  Richtung  sich  mit  gleichen 
Kräften  von  einander  entfernen,  stehen  nur  in  ])otentialer  Entgegen- 
setzung, weil  ein  jeder  ebenso  viel  Kraft,  wie  in  dem  andern  K()rj)er 
ist,  in  ihm  aufheben  würde,  falls  ei-  auf  ihn  stiel'se.  Die  Lust,  die 
ein  Mensch  hat,  und  die  Unlust,  die  ein  anderer  bat.  stehen  aucii 
nur  in  ])otentiah^r  Entgegensetzung  zu  einander,  wie  sie  denn  auch 
wirklich  geh\gentbch  eine  die  Folge  der  andern  aufheben,  indem 
bei  diesem  realen  Widerstreit  oftmals  eine  dasjenige  vernicbtet,  was 
(h  r  andere  seiner  Lust  gemäls  schafft  (9()j.  ,.ISo  liegt  der  Donner, 
<len  die  Kunst  zum  Verderben  erfind,  in  dem  Zeughause  eines 
Eürsten  auf  bebalten  zu  eniem  künftigen  Kriege  in  drohender  Stille, 
bis,  wenn  ein  verräteriscber  Zunder  ilm  berührt,  er  im  Blitze  auf- 
fährt und  um  sieb  In^r  alles  verwüstet.  Die  Spannfedern,  die 
unaut'h()rlich  bereit  waren,  aufzuspringen,  lagen  in  ibm  durch 
mächtige  Anziehung  gebunden  und  erwarteten  den  Eeiz  eines  Feuer- 
funkens,  um  sich  zu   befreien"  (IUI). 

Daraus  ergiebt  sich  nun  der  wichtige  Satz:  „In  allen  natürlichen 
Veränderungen  der  Welt  \vird  die  Summe  des  Positiven,  insofern 
sie  dadurch  geschätzt  wird,  dafs  einstimmige  Positionen  addiert  und 
real  entgegengesetzte  von  einander  abgezogen  werden,  weder  ver- 
mebrt,  noch  vermindert"  (9{)).  Und  ferner:  „Alle  Realgründe  des 
Universums,  wenn  man  dii^jenigen  summiert,  welche  einstimmig  sind, 
und  die  von  einander  al)zieht,  die  einander  entgegengesetzt  sind, 
geben   ein   Facit,  das  dorn  Zero  gleich  ist"   (99). 

Kant  gesteht,  diese  beiden  Sätze  seien  für  ihn  selbst  nicht 
licht  genug,  noch  mit  genügsamer  Augenscheinlicbkeit  aus  ihren 
Gründen  einzusehen,  um  sich  näber  mit  ihnen  zu  befassen.  „In- 
dessen'', meint  er,  „bin  ich  gar  sehr  überlülirt,  dafs  unvollendete 
Versuche,    im    abstrakten    Erkenntnisse    problematisch    vorgetragen.. 


¥i 


dem  Wachstum  der  höheren  Weltweisheit  sehr  zuträglich  sein 
können,  weil  ein  Anderer  sehr  oft  den  Aufschluls  in  einer  tief 
verborgenen  Frage  leichter  antrifft  als  derjenige,  der  ihm  dazu 
Anlafs  giebt.  und  dessen  Bestrebungen  vielleicht  nur  die  Hälfte  der 
Schwierigkeiten  haben  überwinden  können.  Der  Inhalt  dieser  Sätze 
scheint  mir  eine  gewisse  Würde  an  sich  zu  haben,  welche  wohl  zu 
einer  genauen  Prüfung  derselben  aufmuntern  kann"  (99).  Diese 
Ahnung  der  grofsen  Bedeutung,  die  jenen  beiden  Sätzen  zukommt, 
ist  in  höchstem  Mafse  in  Erfüllung  gegangen. 

Was  zunächst  den  zweiten  Satz  betrifft,   so  bildet  er  den  Aus- 
gang   zu    dem   „Indilferenzpunkt"    Schellings    und    spielt    er   als 
solcher    in    dessen   Identitätssystem    eine    hervorragende    Rolle.     An 
sich    l)etrachtet.    dürfte    er    allerdings    schwerlich    haltbar    und    nur 
in  einer    abstrakt    monistischen    AVeltanschauung,    w^e    es    diejenige 
Schellings    ist,    am    Platze    sein,    insofern    er    aussagt,    dafs    die 
Summen    aller  Realgründe    oder  die  Welt  während    ihres   Prozesses 
nicht  mehr  enthalte  als  vor  demselben,    und  daher  hat  Kant  selbst 
dm  später  auch  gänzlich  fallen  lassen.     Viel  wichtiger  ist  der  erste 
Satz,    der  nichts  Anderes  ist  als  eine   Formulierung    des    später    so 
berühmt  gewordenen  Ge  setzes  von  der  Erhaltung  der  Kraft. 
Bereits  Descartes  hatte  aus  der  Unwandelbarkeit  Gottes  gefolgert, 
es  müsse  stets  die  gleiche  Quantität  der  Bewegung  bei  der  Materie 
erhalten    sein,     und  Leibniz    hatte  sich    dahin    ausgesprochen,   die 
Summe    der    bewegenden  Kräfte    im    Weltall    sei    konstant.     Aber 
noch  fehlte  diesem  Satze  die  metaphysische  BegrÜJidung  (97),   denn 
aus  der  rationalistisch  gefafsten  Monadenlehre  war  er  ohne  Weiteres 
nicht    herzuleiten,    so    lange    man.    wie    Leibniz.    die  Möglichkeit 
«'inander    entgegengesetzter    realer    Kräfte    leugnete,    alle    Dinge, 
metaj)hysisch  betrachtet,  aus  Realität  und  Negation,    aus  Sein    und 
Nichtsein  zusammengesetzt  sein  liefs  und  den  Grund  einer  Negation 
nur    darin   setzte,    dafs    überhau])t    keine  Realität    vorhanden    sei.*) 
Wenn    es    wahr    ist,    dafs    im   Weltall    keine   Kraft    verloren    geht 
unbeschadet    des    beständigen   Wechsels    von  Bewegung    und    Ruhe, 
von  Thätigkeiten,  die  entstehen  und  sich  gegenseitig  wiederum  ver- 
nichten,   wenn  auch  keine  wirklich   neue  Kraft  zu  der  einmal  that- 
sächlich  vorhandenen   Summe    hinzutritt,    dann    ist    dies    nur  unter 
der  Voraussetzung  zu  erklären,  dafs  alles   Entstehen  und  Vergehen 
nur  scheinbar,  nur  eine  Entfesselung  vorher  gebundener,  eine  Bindung 
aktiver  Kräfte    ist,    dafs    die  Ruhe    nur    den  Gleichgewichtszustand 


*j    Vgl.    Kants    Abhandlung    über   die   Fortschritte    der   Metaphysik    seit 
beibniz  u.  Wolll  in  Deutschland.     Ww.   VIII.  544. 


/ 


76 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


I.  Die  vorkritische   Naturphilosophie. 


i  i 


dieser  letzteren,  die  Th;itigk(at  d:is  Übergewicht  einzelner  repräsentiert 
oder  mit  anderen  Worten,  d  u  1"  s  die  ganze  AV  i  r  k  1  i  c  li  k  e  i  t  nur 
auf  dem  Streite  entgegengesetzter  Kräfte,  auf  dem 
Widers})ie  l  unter  ei  nander  kon  f  ligierender  Kealgründe 
beruht  (lOO).  Eine  und  die  nämliche  konstante  Kräftesumme  läuft 
nach  einander  die  enti^^e^en^esetztesten  Krselieinungsformen  durch, 
tritt  hier  als  AVärnie  und  dort  zu  gleicher  Zeit  als  Kälte  auf,  be- 
tliätigt  sich  hier  in  den  wilden  Zuckungen  des  Schmerzes  und  bringt 
dort  den  Jubel  dei-  Tjust  heivdr.  Das  ist  die  nämliche  Anschauung, 
die  erst  viel  sjuiter  auf  (ürund  zahlreicher  P]x|)erimente  streng 
bewiesen  und  im  Zusannnenhange  mit  der  nu-chanischen  AN'ärme- 
theorie  näher  ausgehihh^t  worden  ist,  und  es  beweist  seinen  ahnungs- 
vollen Scharfblick,  wenn  Kant  gelegentlich  die  I)emerkung  aussj)richt : 
„Überhaupt  scheinen  die  magnetische  Jvraft,  die  Elektrizität  und 
die   Wärme  durch  einerlei  Mittehnaterie  zu  geschehen"   {[)()).  *) 

Mit  dieser  Unterscheidung  der  logischen  und  realen  Rntgegen- 
setzuni^-  und  der  Erkenntnis.  d;ifs  der  gesamte  Welt))rozei's  auf  dem 
KontÜkt  entgegengesetzt<'r  realer  Kräi'te  beruht,  ist  Kant  luui  von 
neuem  auf  das  nämliche  Problem  gestofsen,  das  er  sclatn  einmal  in 
der  Hervorhebung!:  des  Unterschiedes  zwischen  doin  Erkenntnis-  und 
Jlealgrund  in  seiner  Habilitationsschrift  anp^edeutet  hatte,  ohne  jedoch 
hier  zur  völligen  Klarheit  zu  gelangen.  Auch  Crusius  hatte 
diesen  Unterschied  bereits  geiuacht.  aber  nach  ihm  wai-  der  Abend- 
wind ein  Kealgrund  von  l\egen wölken  und  zui^deich  (un  Ideal^^rund. 
weil  man  sie  daraus  sollte  erkennen  und  vermuten  kiumen.  In 
Wahrheit  aber  ist  der  Kealgrund  niemals  ein  1  o  •:  i  s  c  h  e  r 
Grund,  nnd  durch  den  Wind  wird  der  liegen  nicht  zulblge  der 
Regel  der  Jdentitcät  gesetzt,  so  dafs  man  ihn  aus  jenem  rein  logisch 
erschliefsen  köinite  (lOö).  Was  ist  er  aber,  wenn  er  nicht  logisch, 
wenn  ihm  auf  rein  begriiflichem  Wege  nicht  beizukomnuMi  ist? 
,,Tcli  verstehe,"  sagt  Kant,  „sehr  wold.  wie  eini'  Folge  durch  einen 
Grund  nach  der  Kegel  der  Identität  gesetzt  wei'de,  darum  weil  sie 
durch  die  Zer^diederuni,^  der  lie.^riife  in  ihm  enthalten  befunden 
wird.  So  ist  die  iS'otwendigkeit  ein  Grund  der  Unveränderlichkeit, 
die  Zusammensetzung  ein  Grund  der  Tein)arkeit.  die  Unendlichkeit 
ein  Grund  der  Allwissenheit  u.  s.  w.,  und  diese  A\u-knüpfung  des 
Grundes  mit  der  Eolge  kann  ich  deutlich  einsehen.  w(m1  dii*  Folge 
wirklich  einerlei  ist  mit  einem  Tcdlbegritf  des  (i! rundes  und.  indem 
sie  schon  in   ihm    beläfst   wird,   durch   denselben   nach   der  Kegel  der 


I 


*)  Üher  die  P^rhaltuiiLT  d.  Kraft  bei    Kant    vi^l.    Stadh'i':    Kants  Theorie 
d.  3Iaterie  (lb«o)      2n7— 218 


• 


Einstimmung    gesetzt    wird.      Wie    aber    etwas    aus    etwas 
Anderem,    aber    nicht    nach    der   Hegel    der    [  d  e  n  t  i  t  ä  t 
fliefse,    das    ist    etwas,    welches   ich   mir  gern  möchte 
deutlich    machen    lassen"    (Hii).     Oder   wie   soll   ich  es  ver- 
stehen,  dafs,    weil    Etwas  ist,    etwas  Anderes  sei?     Ein  Körper  A 
ist  in  Bewegung,   ein  anderer  B  in  der  geraden  Linie  derselben  in 
l\uhe.     Die  Bewegung  von  A  ist  etwas:  die  von  B  ist  etwas  Anderes, 
und  doch   wii-d   durch  die  eine    die    andere    gesetzt.     „Ich  hegreife, 
wie,   wenn   ich   die  Unendlichkeit  Gottes  setze,   dadurch  das  Prädikat 
der   Sterblichkeit    aufgehoben    wird,    weil    es  nämlich   jener  wider- 
spricht.    Allein    wie    durch    die    Bewegung    eines  Körpers   die  Be- 
wegung eines  anderen  aufgehoben  werde,    da    diese   mit  jener  doch 
nicht  im   W^iderspruche  steht,   das  ist  eine  andere  Frage.     Man  vei-- 
suche,    ob    man    die    Kealentgegensetzung   überhau])t    erklären    und 
deutlich  köinie  zu   erkennen  geben,   wie  darum,   weil  etwas  ist,  etwas 
Anderes  aufgehoben   werde,    und  ob    man   etwas  mehr  sagen   kcuuie, 
als    dafs    es    nicht    durch    den    Satz     des    Widerspruchs    (oder    der 
Identität)  geschehe"   (10')).     Hier  ist  oh*enl)ar  die  Grenze  einer  r(Mn 
logisch    gearteten     Weltanschauung,    wie    es   der  Katifuialisnius  ist. 
„Ich  lasse,"    fügt  Kant  hinzu.    ..mich  auch  dundi  die   Wörter:   Ur- 
sache,   Wirkung.    Kraft,    Handlung   nicht  abspeisen.      Denn  wenn  ich 
etwas  schon  als  eine    Trstiche  wovon  ansidie,    oder   ihm   den    iiegrilf" 
einer   Kraft    lieilege.     so    habe    ich   in   ihm   schon   die    Beziehung  des 
Realgrundes   zur  Folge    gedacht,    und   dann  ist  es  leicht,   die  Position 
der   Folge   naidi   dem  Satz  (Um-    Identität  einzusehen"   (lOö).     W\uin 
von   zwei    Urteilen   das   eine  ein   Geschehen   aussagt,   welches  die  L'i- 
sache  vom  lidialt  des  and(  ren  bildet,   und  dieses  die  Wirkung  jenes 
Geschehens  zum  Inhalt  hat,  so  ist  damit  ktdne  Berechtigung  gegeben, 
hier  ein    Verhältnis   von    Grund   und   Folf^e  anzunehnum. 

Die  Scdii'il't  über  dii'  negativen  Grcifsen  bezeichnet  einen  Wende- 
puidvt  in  der  Entwickelung  Kants,  ja,  sie  ist  ein  Markstein  in  der 
philosophischen  (Tcdankenc^ntwickt  hing  iibei'haupt,  ein  Stofs  in  das 
Herz  des  Bationalismus,  an  dem  er  notwendig  verbluten  mufste. 
Was  bis  dahin  nur  (U'st  von  ganz  Wenigen  und  Kant  selbst  geahnt, 
aber  nicht  mit  di^m  vollen  Bewufstsein  seiner  Tragweite  ausgesprochen 
war,  das  bildet  das  Frgebnis  seiner  Untersuchung  über  die  negativen 
Gröfsen  :  „Aus  l  o  g  i  s  c  h  e  r  Entgegensetzung  oder  Identität  kann 
läber  reale  F]ntgegeiisetzung  (()j)|)osition.  welche  zur  Aufhebung 
führt)  oder  Position  keine  Finsiclit  gewonnen  werden.  Nun  ist 
die  reale  Opi)Osition  oder  Position  nichts  Anderes  als  Verur- 
sachung der  Nichtexistenz  oder  Existenz  eines  Seienden.  Und 
die    logische    0])position    oder    Position    ist    die    B  e  g  r  ü  n  d  u  n  g 


f 


78 


B.    Kant  als  Naturpliil()soj)li. 


der  Unmöglichkeit  oder  Notweiidi.i^keit  der  Bestiminuiig  eines  Be- 
ixriffs  dui'cli  vm  Prädikat.  Also  B  (\c^r  ii  ii  d  ii  ii  u:  ist  iiiebt 
dasselbe,  w  i  (^  V e  r  u  r  s a e h  u  ii  j]^ .  und  es  k  a  ii  1 1  d  a  1 1  c  i' 
reale  V^'rn  i-sa  eli  n  ni^  aus  logisc'her  Begründung  nicht 
er  ka  n  n  t  w  v  r  de  n.""';) 

Der  Unterschied  des  (xrundes  und  der  Ursac^he.  der  Folge  und 
der  Wirkuni;  ist  uns  heute  etwas  so  Geliiufiijcs.  dal's  wir  uns  nur 
schwer  in  die  Anschauungsweise  einer  Zeit  hineinversetzen  kiiunen, 
für  welche  seine  Fa-keinitnis  eine  epoclieinachemh»  Bedeutung  hatte. 
In  dei-  Atniospliire  (h'r  lationalistisclien  Denkungsart  war  diese 
p]insiclit  so  sehr  (mu  i^anz  Neues,  war  sie  in  der  Tiiat  eiiu^  wii'k- 
liclie  P]ntdeckung.  dafs  man  sich  veranLarst  gesehen  hat,  die  Krage 
aufzuwerfen,  wie  Kant  zu  ilii"  gtdvommen  sei.  Historiker  der  Bhilo- 
soj)hie,  ein  1\  u  n  o  I^' i  s  e  h  e  r  uud  ein  Zell  er.  haheu  sie  auf  den 
Eintlufs  H  u  ni  e  s  geschohen/^''-')  was  Baulse.  n  je(k)ch  mit  Hecht 
zurückgewiesen  hat.  Die  Annahme  jenes  Einthisses  im  Anfang 
der  sechziger  Jahre,  so  dais  namentlich  die  Schrift  über  die  nega- 
tiven Gr()fsen  eine  Frucht  derselben  wäre,  ist,  wie  der  letzteie  gezeigt 
hat.  nicht  nur  nicht  notwendig,  sondern  sie  ist  auch  unvc^rcinbai' 
mit  h'oian  und  Inhalt  dieser  sowie  der  nilchstiblgenden  Schriften 
Kants.'"'''''*)  Paulsen  s(dbst  glaubt  die  Losh'Jsuni,^  Kants  von  dem 
wolfüschen  Kationalisnins  auf  seine  Auffassung  und  BchainlhniL,^  des 
GottesbegrdTs  zurücktiihnui  zu  müssen,  sofern  Kant  bereits  in  seinei- 
Habilitationsschrift  den  (iledanken  ausgesprochen  hatte,  das  Dasein 
Gottes  könne  aus  seinem  Begriffe  nicht  bewiesen  werden,  worin  liegt, 
dafs  es  überhaupt  unim'vi^dich  ist.  durch  reim^  Vernunft  nhov  Wii-k- 
liches  etwas  auszumachen  odei'  auf  dian  W'cire  (h'r  rein  logischen 
Begi'ündung  zui'  Frkeiintnis  der  Hervorhringung  vom  J)asein  durch 
Verursachung  zu    g(dangen.-[-) 

Dieses  Auseinandergehen  der  Meinuuij^en  über  den  Fin<]jerzeig, 
wodurch  Kant  zu  seiner  berühmten  Fnterscheidunii:  des  Frk(Mintnis- 
grundes  vom  Bealgrund  gekomme:i  ist.  entspringt  nur  (hiher,  weil 
man  die  fundamentale  Bedeutung  dcv  Xaturphilosojjjiic  für  di(^  Fut- 
wickeluni;  des  Phil()so})hen  bisher  nicht  genügend  <,^ewürdigt  hat. 
Wer  den  treibenden  Stachel  jener  Fntwickeluni,'  in  der  Ausfidnamg 
und    Begründung   seiner   natur])hdoso])hischen    Ideen   sieht,    der   wird 


*)    l'iiulst'ii:     Versuch    einer    Kntvvickelun^sfjeseliielitc    d,    kaiitischeii    Er- 
kenntiusttieoiic.     1^9. 

**)  Fisclier:   Gesch.   d.    ncieT.'ii  Phil.    III.      17S,   'Jö  i.      Z.'llcr:   Gesch.   d. 
deutsch. Ml   l'hih)S()])hie  stdt   Leibui/  (l'^^T'^J.     4J 7. 
***j   l'iiulscn:   a.  a.  O.  47—53. 
t)  a.  a.  U.  a.'j  Jl. 


I.  Die  vorkritische  Naturphih)sophie. 


Tlj 


keinen  Augenblick  darülxa-  in)  Zweifel  sein,  dafs  auch  nur  hier  der 
Punkt  zu  suchen  sein  kann,  aus  dem  heraus  Kant  seine  Entdeckung 
gemacht  hat.  Wenn  die  rationalistische  Metaphysik  ihre  Tchaiti- 
fizierung  des  Logischen  und  Kealen,  der  Begründuiii^  und  \^'r- 
ursachung  aufrecht  erhalten  wollte,  so  mufste  sie  sich  der  Milts- 
konstruktion  einer  zeitlosen  P]xisteuz  dor  Dinge  bedienen.  Aus 
diesem  Grunde  hatte  8i)inoza  die  A'/irklichkeit  der  zeitlichen 
Auh'inanderfolge  im  Kausalprozefs  geleugnet  und  die  Zeitlichkeit 
(ebenso  wie  die  Bäumlichkeit )  für  ein  Objekt  der  blofsen  Imairination. 
für  eine  verworrene  Vorstellung^  ^uigeseben.  und  seitdem  war  es  die 
allgemein  herrschende  Vorstellung,  dafs  die  Weh  des  wahrhaft 
Seienden  oder  des  Realen  eine  durchaus  intelligihle  sei.  Mit  der 
Hei-aussetzu])g  des  j^iumes  aus  der  subjektiven  Sphäre  der  Monade 
in  das  objektive  Sein  und  der  x\nerkennung  des  iniiuxu^  ph}  sieus  als 
eines  zeitlichen  Prozesses  mufste  natürlicli  auch  jene  Annahme  fallen. 
Es  war  also  nui-  die  KonscMiuenz  seines  .Dvnamismus,  wenn  Kant 
die  S])h;ire  der  rcan  logisehen  Gedankenentwickelung  durch  (bejenige 
des  realen  Seins  beschränkt  sein  liefs.  Die  rationalistische  Identi- 
tizierung  von  Grund  und  Folge  bedingte  die  Annahme  einer  intelli- 
giblen  Welt:  die  Zerst()rung  dieser  Amiahme  hob  umgekehrt  jene 
Identifizierung  auf  und  zog  damit  dem  Bationalisnius  seinen  Boden 
unter  den  Füfsen  fort.  Erkenntnistheoretische  Gründe,  dir-  ihre 
letzte  (^)uelle  im  Cogito  eigo  sum  des  Carte  sius  gehabt  hatten, 
waren  es  gewesen,  wodurch  die  Metaphysik  bestimmt  war;  meta- 
l)hysische  Gründe  waren  es.  die  jetzt  die  Erk(Uintnistheorie  zu  einem 
neuen  Standpunkt  lührten. 

Die  Sehlift  über  die  negativen  Gröfsen  bezeichnet  aucli  insofern 
einen  AV^endejuinkt  in  der  Fntwiekelung  Kants,  als  seine  Beschäftigung 
mit  der  ^«'atur  nun  mehi'  und  mehr  dem  Interesse  für  erkenntnis- 
theoretische  Fragen  Fhttz  macht.  Kant  sagt  sich,  dafs  er  seine 
eigentliche  Absicht  nicht  werde  ausführen  und  die  metaj)hysischeii 
Prinzipien  seiner  neuen  Naturlehre  nicht  sicher  werde  begründen 
können,  ohne  vorher  ühw  die  Natur  des  nienschliehen  Denkens 
selbst  mit  sich  im  Klaren  zu  sein,  das  ihm  eben  zu  jenem  Ziel 
verhelfen  soll.  „Ich  habe,''  so  beschliefst  er  daher  seine  Schrift 
über  die  negativen  GWd'seii,  „über  die  Natur  unserer  Erkenntnis  in 
Ansehung  unserer  Urteile  von  Gründen  und  Folgen  nacht^edacht 
und  ich  werde  das  Kesultat  dieser  Betrachtungen  d(a-einst  ausführ- 
lich darlegen.  Bis  dahin  werden  diejenigen  .  deren  angemafste 
Einsicdit  keine  Schranken  kennt,  die  Methoden  ihrer  ]^hiloso])hie 
versuchen .  bis  wie  weit  sie  in  dergleichen  Fragen  gelangen 
können*'   (J05  L).   — 


/ 


f 


60 


13.    Kant  als  Naturphilosopli. 


Im  gleichen  Jülirc  \:(};l  in  welclieiii  dir  Versuch  über  die 
negativen  Gnifsen  erschienen  ist.  Imt  Kant  noch  (>ine  andere  um- 
fangreiche Schrift  lieransgcgehcn.  (h'n  ..  Kin/ig  niü  g  1  i  c  li  en  Be- 
wcisgr  u  nd  /ii  einer  Demo  nstra  t  io  n  des  Daseins  Gottes." 
Auf  Grund  seinc^r  erw-ihnten  Annahme,  dafs  Kant  zu  (hin  Inhalte 
der  Schritt  iiher  die  negativen  Gnifsen  dun-h  seine  Untersuchung 
üher  den  Gottesheweis  gekommen  sei,  ghiuht  Paulsen  die  Ah- 
fassungszeit  des  einzig  möghelien  Beweises  vor  diejenige  jener  ersten 
Schrift  ansetzen  zu  müssen/'^)  Ghne  auf  diese  Frage  näher  ein- 
zugelien.  deren  gei-inge  Bedeutung  liir  di(^  Kntwiekehnig  Kants  von 
Paulsen  selbst  zugestanden  wird,  mag  darauf  liingewiesen  werden, 
dai's  jener  innere  Grund  Paulsi^ns  für  oine  frfdifre  Konzeption  des 
einzig  m()glic}ien  Beweises  nicht  stichhaltig  ist,  sobald  man  das 
treibende  Klement  der  ktmtischen  Kntwickelung  nicht  in  seiner 
Untersuchung  iilier  den  Gottesbeweis,  sondern  in  seiner  >»"atur- 
philosophie  erkannt  hat.  Dann  konnte  der  Philosoph  ganz  eh>(uiso 
gut  von  dem  Gedankeninhalt  seiner  Schritt  ü1)er  die  negativen 
Gröfsen  zu  demjenigen  (h's  einzig  nniglichen  Beweisgrundes  fort- 
sclireiten,  wie  umgekehrt,  und  es  ist  gar  kein  zwingender  (4rund  vor- 
handen, die  Schritt  über  die  negativen  (TnU'sen  nur  für  „eine  durch 
die  Betrachtungen,  die  im  einzig  nir)gHchen  Beweisgrund  ausgeführt 
sind,  angeregte  Speziahmtersuchung"  anzusehen.')  Ks  spricht  aucli 
nicht  dagegen,  wenn  Kant  in  (hn*  späteren  Schrift  noch  an  die 
iVIiJgbehkeit  einer  „Demonstration  (h's  Daseins  Gottes"  ghiubt,  von 
der  man  nach  seiner  Schrift  über  die  negativen  Gröfsen  (h)cli 
eigentlich  annehmen  sollte,  auch  sie  sei  mit  der  Unterscheidung  des 
]\ealen  und   des   [jogisehen   hinfällig  gewMtrden. 

Wenn  es  überhaupt  unmöglich  ist.  mittels  logisclier  Sehlufs- 
folgerungen  zum  Ivealgrund  zu  gehingen,  w^ie  sollte  alsdann  der  (iiaind 
aller  Gründe,  der  absolute  Healgrund  dem  menschlichen  Denken  nicht 
unerreichbar  sein?  Allein  Kants  Vertrauen  in  die  i'ationalistisehe  Denk- 
art war  noch  nicht  im  (irund  erschüttert.  Kr  war  zu  sehr  ein  Kind  seiner 
Zeit,  zu  sehr  im  Banne  der  wolftischen  Metaphysik  befangen,  um  sich 
auf  einmal  von  einer  Ansicht  lossagen  zu  kömien,  die  er  gleichsam  mit 
der  Muttermilch  eingesogen  hatte.  Soviel  stand  fest:  die  ])isherige 
Method(\  mit  der  man  sich  des  Weltzusannneidianges  zu  bemächtigen 
versucht  hatte,  war  unzulänglich  und  keineswegs  so  einwaiulsfrei,  wie 
die  JVIetai)hysiker  im  Allgemeinen  ghtubten.  Was  sie  als  sichere  ilesul- 
tate  ausgaben,  blieb  hinter  der  Wirklichkeit  zurück;  ihre  stolzen  Ge- 
dankenbauwerke, in  denen  sie  die  Welt  meinten  abgel)ildet  zu  haben, 


^)  Paulsen:   a.  a.   ( >.   Gi  — Tii. 


Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


81 


stellten  sich  bei  näherem  Zusehen  wohl  gar  als  blofse  Luftschlösser 
heraus.  Aber  darum  brauchte  ihre  Methode  doch  nicht  gänzlich 
falsch  zu  sein.  Vielleicht  hatte  es  bisher  nur  an  einer  verkehrten 
Anwendung  derselben  gelegen,  dafs  man  nicht  weiter  gekommen  w^ar. 
Für  die  Wirklichkeit,  in  der  wir  stehen  und  leben,  mag  es  neben 
dem  reinen  Denken  noch  ein  anderes  Prinzip  der  Erkenntnis  geben, 
über  dessen  Beschaft'enheit  sich  aber  Kant  selbst  noch  nicht  klar 
ist;  der  Grund  der  Wirklichkeit  kann,  wenn  überhaupt,  nur  durch 
Denken  von  nns  erschlossen  werden.  Darum  unternimmt  es  Kant, 
zunächst  die  Brücke  zu  diesem  Objekt  zu  schlagen.  Durch  nichts 
hatte  sich  der  Rationalismus  von  jeher  insbesondere  dem  religiiisen 
Bewufstsein  mehr  empfohlen,  als  durch  seinen  Anspruch,  das  Da- 
sein Gottes  beweisen  zu  können.  Religiöse  Motive  und  Gemüts- 
interessen mögen  es  auch  gewesen  sein,  w^elche  die  völlige  Ab- 
wendung Kants  vom  Raticmalismus  zunächst  noch  aufgehalten  haben. 
Aber  freilich  war  der  Faden,  der  ihn  mit  dessen  Anschauungsweise 
noch  zusammenhielt,  schon  jetzt  dünn  genug,  um  nicht  zu  reifsen, 
sobald  jene  Stimme  des  Gemütes  zum  Scliweigen  gebraclit  war  und 
die  rein  gedanklichen  Erwägungen  die  Oberhand  behielten. 

Was  die  Habilitationsschrift  Kants  nur  erst  angedeutet  hatte, 
das  führt  die  Schrift  über  den  einzig  nniglichen  Bew^eisgrund  näher 
aus:  seine  Ansicht,  worauf  sich  der  Rationalismus  bisher  ganz  be- 
sonders gestützt  hat,  aus  dem  blofsen  Begrilfe  des  vollkommensten 
Wesens  die  Existenz  desselben    analytisch    erschliefsen    zu    können, 

oder  die  ontologische  Eorin   des  Gottesbeweises  ist  jedenfalls  nicht 
haltbar. 

Das  Dasein  ist    gar  kein  Prädikat  von    einem   Dinge,    sondern 
blofs  von  dem  Gedanken,    den  man  davon  hat.     In  einem  wirk- 
lichen  Dinge  ist   nicht  mehr  gesetzt  als  in    einem  bh)fs  möglichen; 
der  ganze  Unterschied  besteht  nur  in  der  Wirklichkeit  als  solchen, 
und  dieser  ist  nicht  begrifflicher  Natur.      Das  Dasein  ist  die  abso- 
lute Position  eines  Dinges  und  unterscheidet  sich  dadurch  auch 
von   jeglichem  Prädikate,    das   als   solches   immer  nur  beziehungs- 
weise auf  ein  anderes  Ding  gesetzt  wird.     „Wenn  ich   mir  vorstelle, 
Gott  spreche  über  eine  mögliche  Welt  sein  allmächtiges  Werde,  so 
erteilt  er  dem  in  seinem  Verstände  vorgestellten  Ganzen  keine  neuen 
Bestimmungen,  er  setzt  nicht  ein  neues  Prädikat  hinzu,  sondern  er 
setzt    diese    Reihe    der    Dinge    mit    allen  Prädikaten    absolut    oder 
schlechthin.     Die  Beziehungen    aller  Prädikate    zu    ihren  Subjekten 
bezeichnen    niemals    etwas  Existierendes,    das  Subjekt    müfste  denn 
schon    als    existierend   vorausgesetzt  werden.     Gott    ist    allmächtig, 
mufs  ein  wahrer  Satz  auch  in  dem  Urteil    desjenigen  bleiben,    der 

U  r  e  w  8  ,  Kants  Naturphilosophie.  6 


./ 


■AI 


82 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


83 


dessen  Dasein  nicht  erkennt,  wenn  er  niich  nur  wohl  versteht,  wie  ich 
den  Begriff  Gottes  nehme.  AHein  sein  Dasein  mufs  unniittell)ar  zu 
der  Art  gelK'iren,  wie  sein  Begriff  gesetzt  wird,  denn  in  den  Prädi- 
katen selber  wird  es  nicht  gefunden"   (IL  118). 

Offenbar  ist  dies  nur  eine  Anwendung  des  in  der  Schrift  über 
die  negativen  Grüfsen  gefundenen  Resultates  auf  den  Begriff  des 
absolutes  Realgrundes  oder  Gott.  Aus  diesem,  als  Begriff,  ist  sein 
Dasein  nicht  zu  erweisen :  die  logische  Operation  bringt  es  über  blofse 
Vorstellungen  nicht  hinaus;  die  Existenz  ist  nicht  logischer  Art 
und  mufs  auf  andere  Weise  uns  gegeben  sein.  Indessen  ist  aus  dem 
Begriffe  Gottes  selbst  sein  Dasein  auch  nicht  zu  folgern,  so  läfst 
sich  doch  aus  dem  Begriffe  von  etwas  Anderem  beweisen,  dafs  etwas 
existiert,  was  eben  nur  Gott  sein  kann.  Existierte  nämlich  nichts, 
so  könnte  auch  nichts  gedacht  werden,  so  wäre  mithin  auch  nicht 
einmal  etwas  möglicli.  Denn  alle  Möglichkeit  setzt  etwas  Wirk- 
liches voraus,  worin  und  wodurch  alles  Erdenkliche  gegeben  ist. 
Dasjenige  aber,  dessen  Aufhebung  oder  Verneinung  alle  Möglichkeit 
aufhebt,  ist  schlechterdings  notwendig.  Demnach  existiert  etwas 
absolut  notwendiger  Weise,  dessen  Begriffszergliederung  ergi(4)t, 
dafs  es,  als  der  letzte  l^ealgrund  aller  anderen  Möglichkeit,  seineni 
Wesen  nach  einig,  einfach,  unveränderlich,  ewig,  absolut  real  und 
geistig,  mithin  nichts  Anderes  ist  als  Gott.  Damit  ist  denn  aber 
auch  in  der  That  vollkommen  apriorisch,  aus  blofsen  Begriffen  ohne 
Zuhilfenahme  der  Erfahrung  ein  wirklicher  Beweis  für  dessen  Dasein 
geliefert,  und  der  Rationalismus  ist  in  seinem  wichtigsten  Punkte 
vor  der  Gefahr  gesichert,  die  ihm  aus  der  Einsicht  in  die  Natur 
der  negativen  Gröfse  zu  erwachsen  schien  (V2\  ff.). 

Freilich  ist  dieser  Rettungsversuch  eine  That  der  Verzweif- 
lung, die  sicherlich  mehr  dem  Wunsche,  die  rationalistische  An- 
schauung m()chte  eine  Wahrheit  sein,  als  aus  begründeter  Einsicht 
entspringt.  Es  ist  ja  von  vornherein  ganz  widersinnig,  das  Dasein 
des  absoluten  Realgrundes  aus  blofsen  Begriffen  erschliefsen  zu 
wollen,  wenn  man  die  UnnK'iglichkeit  eines  derartigen  Schlufs- 
verfahrens  bei  den  relativen  Realgründen  einmal  eingesehen  hat. 
Das  Denken,  unfähig  im  Bereich  der  endlichen  Dinge  die  Existenz 
auch  nur  des  unscheinbarsten  unter  diesen  Dingen  aus  sich  heraus- 
zuklauben, mufs  da  erst  recht  versagen,  wo  es  sich  um  das  ursäch- 
liche Prinzip  derselben  handelt  und  der  Grund  aller  Gründe  selbst 
als  existierend  nachgewiesen  werden  soll.  Das  Argument,  durch 
welches  Kant  die  ontologische  Beweisart  des  Descartes  zu  ver- 
bessern sucht,  beruht  daher  auch  nur,  wie  dieses,  auf  einem  Fehler 
im  Ansatz  selbst  und  kommt  nur  durch  einen  offenbaren  Trugschlufs 


zustande.  Kant  nimmt  an.  Aufhebung  aller  Möglichkeit  und  Un- 
möglichkeit oder  Notwendigkeit  seien  eines  und  dasselbe,  ohne  zu 
bedenken,  dafs  die  Aufhebung  wirklich  aller  Möghchkeit  auch  alle 
Notwendigkeit  zugleich  mit  aufhebt  und  folglich  nichts  weniger  als 
deren  Dasein  beweisen  kann.  Wenn  er  auf  diesen  Beweis  ein  so 
groises  Gewicht  legt,  wenn  er  nicht  müde  wird,  zu  versichern,  der- 
selbe leiste  wirklich,  was  er  versj)richt.  die  unmittelbare  Einsicht 
in  das  Dasein  des  absoluten  Wesens  aus  demjenigen,  was  seine  Not- 
wendigkeit ausmacht,  so  zeigt  dies  nur,  wie  tief  Kant  auch  jetzt 
noch  im  Rationalismus  steckte,  den  er  doch  durch  seine  Einsicht  in 
die  Natur  der  negativen  Gröfse  schon  prinzipiell  überwunden  zu  haben 
schien. 

So    sehr    nun  aber    auch  die  Form  dieses    kantischen  Beweises 
für  das  Dasein  Gottes  mit  derjenigen  in  der  Hal)ilitationsschrift  von 
ITf);')  übereinstimmt,    in    einem  Punkte    geht  Kant    docii    über    den 
damaligen  Beweis  hinaus,  insofern  er  sich  nämlich  jetzt  nicht  mehr 
mit  dessen  rein  logischen  Fassung  ))egnügt.  sondern  es  unternimmt, 
den  apriorisch  geführten  Beweis  auch  a  ])osteriori  durch  Rückschlufs 
aus  der  Erfahrung  zu  bestätigen  und  zu  ergänzen  (185).    Das  scheint 
uns    heute    selbstverständlich,    aber    es    ist  dies    keineswegs  für  den 
strengen  Rationalisten,  für  den  es  einer  solchen  nachträglichen  Be- 
stätigung aus  der  Erfahrung  eigentlich  nicht  bedürfen  sollte,  wofern 
er  sich  wirklich  aus  reiner  Vernunft  bereits  von  dem  zu  Beweisenden 
vollkommen  überzeugt  hat.      Für  Kant  lag  hierzu  aufserdem  um  so 
weniger  ein  Bedürfnis  vor,   als  ja  gerade  die  Einsicht  in  die  Unzu- 
länglichkeit der  gew()bnlichen  Erfahrungsbeweise  für  das  Dasein  Gottes 
eine   Veranlassung   mehr  für  ihn  gewesen  war,  nach    einer   besseren 
Argumentation    sich    umzusehen.     Der    physikotheologische   Beweis, 
der  von  der  Vollkommenheit,  Schönheit  und  Harmonie  der  Welt  auf 
einen  absolut  vollkommenen  und  weisen  Urheber  derselben  schliefst, 
so  einleuchtend  er  dem  unbefangenen  Denken   auch  erscheinen  und 
so  grofsen  Nutzen  er  in  dieser  Beziehung  auch  haben  mag.   verdient 
doch  nicht  eigentlich  den  Namen  eines  Beweises.     Er  kann  nur  dazu 
dienen,  einen  Urheber  der  Verknü])fungen  und  künstlichen  Zusammen- 
fügungen der  Welt,    aber  nicht  der  Materie  selbst,    auch  nicht  den 
Ursprung  der  Bestandteile  des  Universums  darzuthun  ;  er  führt  mit 
andern  Worten  nur  auf  einen   Werkmeister,    nicht   aber   auf   einen 
Schö])fer  der   Welt,    der  zwar  die  Materie    geordnet    und    geformt, 
aber    sie    niclit    selbst    hervorgebracht  hat,    erreicht  also    nicht  den 
wabren  Begriff  Gottes  (1  (>:')).     AVas    aber   den   sogenannten  kosmo- 
logischen  Beweis  betrifft,  der  vermittelst  des  Satzes  vom  zureichenden 
Grunde  vom  zufällig    gegebenen  Sein  aus  zu  einer  absolut  notwen- 


84 


B.    Kant  als  Naturpliilosoj^h. 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


85 


digen  Ursache  dieses  Seins  emporzusteigen  sucht,  so  ist  er  nur  ein 
verkappter  ontologischer  Beweis  und  daher  denselhen  Einwänden, 
wie  dieser,  unterworfen  (200  ff.)-  Trotzdem  scheut  Kant  sich  nicht, 
die  Erfahrung  zur  Bestätigung  dafür  heranzuziehen,  um  ein  ahsolut 
vollkommenes  Wesen  als  einheitlichen  Kealgrund  des  Weltganzen 
darzuthun ;  spricht  er  es  doch  geradezu  aus,  dafs  sein  Bestreben  auf 
nichts  Geringeres  gerichtet  sei,  als  „vermittelst  der  Natur- 
wissenschaft z  u  r  E  r  k  e  n  n  t  n  i  s  Gottes  hinaufzusteigen" 
(112).  Sollte  nicht  auch  diese  ungewöhnliche  Wertschätzung  der 
Erfahrung  nur  ein  Ausdruck  dafür  sein,  dafs  Kant  innerlich  schon 
nicht  mehr  auf  konsefjuent  rationalistischem  Boden,  sondern  auf  dem 
Punkte  stand,  ins  Lager  des  Empirismus  überzugehen,  für  welchen 
die  Erfahrung  Ausgangs))unkt  und  Norm  des   Denkens  ist? 

Noch  eine  andere  auf  das  Problem  des  Absoluten  bezügliche 
Erage  hatte  die  Habilitationsschrift  erwogen,  die  Krage  nach  dem 
Verhältnis  Gottes  zur  Welt,  und  auch  diese  wird  jetzt  in  der  Schrift 
über  den  einzig  möglichen  Beweisgrund  wieder  aufgenommen  und 
in  Verbindung  mit  dem  Problem  der  Teleologie  von  Kant  zum 
Gegenstande  seiner  Untersuchung  gemaclit.  Dafs  die  Elemente  der 
Welt  nicht  stoffliche  Atome,  sonch^rn  lebendige  Kräfte  seien,  hatte 
die  physische  Monachdogie  bewiesen.  Woher  der  Zusammenhang 
und  die  Einlieit  unter  diesen  Kräften,  infolge  wovon  die  letzteren 
nicht  bk)L's  überhau|)t  auf  einander  wirken.  o])wohl  doch  eine  jede 
von  ihnen  bei  ihrer  individuellen  Natur  eine  abgeschlossene  Spliäre 
für  sich  bildet,  sondern  auch  alle  zusammen  in  der  Weise  in  ein- 
ander greifen,  dafs  ihr  gemeinschaftliches  Resultat  einer  vernünftigen 
Überlegung    zu    entstammen    scheint? 

Die  einheitliche  Beziehung,  die  durch  alle  Mannigfaltigkeit  der 
Naturerscheinungen  hindurchgeht,  kann  ja  nicht  geleugnet  werden. 
Man  (lenke  z.  B.  nur  an  die  Formen  der  Geometrie;  welche 
wunderbare  Ordnung  und  Zusammenpassung  herrscht  nicht  schon 
hier  unter  den  verschiedenen  Bestimmungen  des  Eaunn-s!  Alle 
geraden  Linien,  die  einander  aus  einem  beliebigen  Punkte  innerhalb 
eines  Ki^eises  durchkreuzen,  schneiden  sich,  indem  sie  an  den  Um- 
kreis stofsen,  stets  in  geometrischer  Proportion.  Alle,  die  von  einem 
Punkte  aufserhalb  des  Kreises  diesen  durchschneiden,  werden  in 
solche  Stücke  zerlegt,  dafs  sic^  sich  umgekehrt  verhalten,  wie  ihre 
Ganzen.  Wenn  man  bedenkt,  wie  unendlich  viel  verschiedene  Lagen 
diese  Linien  annehmen  können,  und  wahrnimmt,  wie  sie  gleich- 
wohl unter  dem  nämlichen  Gesetze  stehen,  wovon  es  ihnen  nicht 
.möglich  ist,  abzuweichen,  dann  mufs  man  darü])er  erstaunen,  wie 
■die  Herstelluniif  dieser  <^anzen  Figur  so  einfach  und  dennoch  so  viel 


Ordnung    und    Einheit   in    ihr  herrscht,    und  das  Erstaunen  wächst 
noch    dadurch,    dafs    sich   jene  Harmonie   als  eine  notwendige  aus- 
weist (186  ff.).     Und  findet  nicht  das  Gleiche  auch  in  der  Mechanik 
statt?     Man  erinnere  sich,    wie  selbst  die  allgemeinsten   AVirkungs- 
gesetze  der  Materie,  sowohl  im  Gleichgewicht,    als  beim  Stofse,  so- 
wohl   der    elastischen,    als    unelastischen    Körper,    einem    und    dem 
nändichen  Prinzip  der  Sparsamkeit  unterworfen  sind  (141  f.).     Dies 
alles  ist  nicht  zu  erklären  ohne  die  Annahme  einer  in  den  Dinixen 
selbst    liegenden    Einheit,    von    welcher    diese   sämtlich  abhängig 
sind  (IHSff.).     „Denn  wer  wollte  dafür  halten,  dafs  in  einem  weit- 
läufigen Mannigfaltigen,    worin    jedes    Einzelne    seine    eigene    vr)llig 
unabhängige  Natur  hätte,  gleichwohl  durch  ein  befremdliches  Unge- 
fähr sich  sollte  alles  gerade  so  schicken,  dafs  es  wohl  mit  einander 
reimte  und  im  Ganzen  Einheit  sich  hervorfände"?  (142).     Die  Be- 
wegungsgesetze der  Materie  sind  logisch  notwendig,  aber  die  innere 
Möglichkeit    der  Materie  selbst,    das   Reale,    was  jener  Notwendig- 
keit   zu    Grunde    liegt,    ist   nicht   unabhängig    oder  für  sich  selbst 
gegeben,   sondern  durch  ein  Prinzij)  gesetzt,   worin  das  Mannigfaltige 
Einheit    und    das    Verschiedene  Verknüpfung  bekommt,    und   dieses 
allein  ist   es,   was  die  systematische   Verfassung  der  Natur  hervor- 
bringt (i4:o. 

Li  derselben  Weise  hatte  Kant  bereits  in  seiner  Naturgeschichte 
und  Theorie  des  Himmels  den   Ursj)rung  der  mechanischen  Gesetze 
auf    den    göttlichen    Willen    zurückgeführt    und    darin  zugleich  die 
Erklärung  für  ihre  teleolo^nsche  Bethätigungsart  gefunden.      Wenn 
er  sich  aber  damals  das  Verhältnis    zwischen  Gott  und  Welt  nach 
Art    des    Deismus    noch    wesentlich    dualistisch   gedacht   liatte,    in- 
sofern der  von  Gott  })räformierte  Keim  der  Welt  nur  dasjenige  in 
seiner    Entwickelung    zur    Erscheinung    bringen    sollte,    was  in  ihm 
ein  für  alle  Mal  angelegt  war,   ohne  des  göttlichen  Beistandes  weiter 
zu    bedürfen,    so    waren    die    Betrachtungen,    die    er    nunmehr    als 
„Kolgen  eines  langen   Nachdenkens-'    (IJO)   in   seiner   neuen  Schrift 
vortrug,    v(m    einem    ganz    anderen  Geist  beseelt.     Kant  hatte  sich 
von    der   Unhaltbarkeit    des   Dualismus   überzeugt.     Sein  Gott  war 
gleichsam  aus  der  unnahbaren   Kerne    der  deistischen   Transcendenz 
herabgestiegen    und  hatte  seinen  AV'ohnsitz  in   der   AV^'lt  selbst  auf- 
geschlagen.    Es    geht    ein    gewisser    spinozistisclier   Zug   durch  die 
Schrift  vom  Beweisgrund  Gottes.      ,.Gott  ist  allgeinigsam.      Was  da 
ist.    es   sei    möglich    oder   wirklich,    (bis    ist  nur  etwas,    insofern  es 
durch  ihn  gegeben  ist.     Eine   menschliche   Sprache    kann   den   Un- 
endlichen zu  sich  selbst  reden  lassen:    ich    bin    von    Ewigkeit 
zu    Ewigkeit,    aufs  er  mir   ist  nichts,   olme  insofern  es 


86 


13.    Kant  als  Naturphilosoph. 


I.    Die  vorkritisc'he  Naturphilosophie. 


87 


durch  mich  etwas  ist.  Dieser  Gedanke,  der  erhabenste  unter 
allen,  ist  noch  sehr  vernachlässigt  oder  melirenteils  gar  nicht  berührt 
worden/'  meint  Kant.  „Das,  was  sich  in  den  Möglichkeiten  der 
Dinge  zur  Vollkommenheit  und  Schönheit  darbietet,  ist  als  ein  für 
sich  notwendiger  Gegenstand  der  göttlichen  Weisheit,  aber  nicht 
selbst  als  eine  Folge  von  diesem  unbegreiflichen  Wesen  an- 
gesehen worden"  (194).  Man  hat  in  der  Regel  die  Abhängigkeit 
anderer  Dinge  blofs  auf  ihr  Dasein  eingeschränkt.  Das  Dasein  als 
solches  hängt  von  der  Willkür  der  ersten  Ursache  ab;  ,. allein 
was  die  Vereinbarung  so  vieler  Folgen,  die  alle  mit  den  Dingen  in 
der  Welt  in  so  grofser  Harmonie  stehen,  unter  einander  aidangt, 
so  würde  es  ungereimt  sein,  sie  wiederum  in  einem  W^illen  zu 
suchen"  (144).  Dafs  z.  B.  ilüssige  Materien  und  schwere  Kcirper 
da  sind,  kann  nur  dem  Begehren  eines  mächtigen  Urhebers  bei- 
gemessen werden ;  dafs  aber  ein  Weltkcirper  in  seinem  flüssigen 
Zustande  ganz  notwendiger  Weise  eine  Kugelgestalt,  d.  h.  eine  solche 
Gestalt  annimmt,  die  besser  als  irgend  eine  andere  mögliche  mit 
den  übrigen  Zwecken  des  Universums  zusammenstimmt,  das  Hegt 
in  dem  Wesen  der  Sache  selbst  (14;")),  oder  es  liegt  in  der 
Möglichkeit  der  Dinge;  „und  da  bier  das  Zufällige,  was  bei  jeder 
Wahl  vorausgesetzt  werden  mufs^  verschwindet,  so  kann  der  Grund 
dieser  Einheit  zwar  in  einem  weisen  AV  e  s  e  n  ,  a  b  e  r  nicht  ver- 
mittelst seiner  Weisheit  gesucht  werden"  (1 4(i).  Ein  Wille 
setzt  jederzeit  die  innere  Möglichkeit  der  Sache  selbst  voraus; 
folglich  wird  der  Grund  der  Möglichkeit  oder  das  AVesen  Gottes 
mit  seinem  Willen  in  der  gröfsten  Zusammenstimmung  sein,  „nicht 
als  wenn  Gott  durcb  seinen  Willen  der  Grund  der  inneren  Mög- 
lichkeit wäre,  sondern  weil  ebendieselbe  unendliche  Natur, 
die  die  Beziehung  eines  Grundes  auf  alle  Wesen  der  Dinge  hat, 
zugleich  die  Beziehung  der  höchsten  Begierde  auf  die  dadurch  ge- 
gebenen gröfsten  Folgen  bat.  Demnach  werden  die  Möglichkeiten  der 
Dinge  selbst,  die  durcli  die  göttliclie  Natur  gegeben  sind,  mit  seiner 
grofsen  Begierde  zusammenstimmen.  Und  weil  sie  mit  Eine  m 
übereinstimmen,  so  wird  selbst  in  den  Möglichkeiten  der  Dinge 
Einheit,   Harmonie  und  Ordnung  sein"  (135). 

Man  sieht,  hier  wird  ein  metaphysischer  Monismus  vorfetra^^en 
der  dadurch  besonders  interessant  ist,  weil  er  in  ähnlicher  Weise 
wie  derjenige  des  Spinoza,  die  teleologiscbe  Beschaffenheit  der 
Welt  nicht  aus  einer  besonderen  göttlichen  Weisheit,  sondern  aus 
der  Einheit  der  Substanz  zu  erklären  sucht.  „Es  liegen  offenbar 
selbst  in  dem  Wesen  der  Dinge  durchgängige  Beziehungen  zur  Ein- 
heit und  zum  Zusammenhange,  und  eine  allgemeine  Harmonie  breitet 


sich  über  das  Reich  der  M()glichkeit  selber  aus"  (139).  Dafs  hier- 
mit die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  gegenseitigen  Einwirkung 
der  Monaden  auf  einander  in  der  That  ihre  Lösung  gefunden  hat, 
kann  nicht  bezweifelt  werden.  Die  Monaden  sind  nicht,  wie  Leibniz 
behauptet  hatte,  für  sich  selbständige  Wesen,  zwischen  denen  folg- 
lich auch  ein  innerer  Zusammenhang  nicht  möglich  ist,  sondern  sie 
sind  die  „Wirkungen"  oder  Äufserungen  (Erscheinungen)  einer  und 
der  nämlichen  Substanz,  worin  sie  den  gemeinschaftlichen  Grund 
ihrer  Möglichkeit  besitzen.  Nach  Leibniz  ist  Gott  nur  eine 
Monade  unter  Monaden,  mit  diesen  auf  einer  und  derselben  Stufe  der 
Wesenheit  befindlich  und  nur  (quantitativ  von  ihnen  verschieden. 
Aller  Einilufs,  den  er  auf  die  Monaden  ausübt,  ist  daher  auch  blofs 
äufserlicher  Natur.  Sie  verhalten  sich  zu  ihm,  wie  die  Schaclitiguren 
zu  einem  Spieler,  und  um  nicht  beständig  in  ihre  Existenz  ein- 
greifen zu  müssen,  hat  Gott  ihnen  allen  das  Uhrwerk  der  prä- 
stabilierten  Harmonie  verliehen,  wonach  die  gleichen  Geschehnisse 
in  der  gleichen  Zeit  ablaufen.  Auf  Kants  nunmehrigem  Stand- 
punkt dagegen  ist  Gott,  als  absolute  Substanz,  den  einzelnen 
Monaden  übergeordnet.  Die  letzteren  haben  den  Charakter  der 
Substanz  verloren,  sie  sind  zu  blofsen  Accidenzen  herabgesetzt ;  alle 
ihre  scheinbare  Selbständigkeit  ist  nur  ein  Geschenk  „von  Gottes 
Gnaden."  Gott  ist  es,  der  die  Monaden  erhält  und  trägt.  Mit  seiner 
eigenen  Thätigkeit  wirkt  er  gleichsam  von  innen  in  sie  hinein; 
was  uns,  die  wir  selbst  auf  Seiten  der  Monaden  stehen,  als  äufsere 
Einwirkung  verschiedener  Wesen  auf  einander  erscheint,  ist  also  nur 
das  innerliche  Spiel  der  Einheit  mit  sich  selbst.  Accidenzen  können 
auf  einander  wirken,  Substanzen  nicht.  Triebe  und  Begehrungen 
streiten  in  einem  Subjekt  mit  einander,  weil  sie  von  der  Einheit 
der  Seele  umschlossen  sind;  verschiedene  Subjekte  aber  würden 
einander  ewig  beziehungslos  gegenüberstehen,  wenn  nicht  auch  hier 
ein  ähnliches  Verhältnis  stattfände,  wie  zwischen  der  Seele  und 
ihren  Äufserungsformen.  Es  bleibt  nichts  übrig,  als  entweder  die 
substantielle,  übergreifende  Einheit  zu  leugnen,  dann  aber  auch  den 
influxus  ])hysicus  als  eine  metaphysisch  unmögliche  Thatsache  zu 
bestreiten;  oder  aber  an  der  realen  Einwirkung  der  Monaden  fest- 
zuhalten, und  dann  ihnen  die  eigene  Substantialität  abzusprechen 
und  diese  in  die  absolute  Substanz  zu  setzen.  Die  erste  Seite  dieser 
Alternative  bis  in  ihre  Konse(iuenzen  verfolgt  und  damit  zugleich 
ein  für  allemal  ad  absurdum  geführt  zu  haben,  darin  besteht  das 
Hauptverdienst  von  Leibniz,  und  dies  ist  es,  was  ihm  seine 
eigentümliche  Stellung  im  Ganzen  der  philosophischen  Entwickelung 
anweist.     Ihm,  der  als  reiner    Metaphysik  er    das  W^eltproblem 


88 


B.    Kant  als  Naturphilosoidi. 


l.   Die  vorkritische  Naturi)liilosophie. 


89 


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in  Angriff  nahm,  kam  alles  darauf  an,  die  vSubstanzenlehre  des 
Spinoza  aus  den  Angeln  zu  heben;  daher  verfiel  er  in  das  ent- 
gegengesetzte Extrem,  die  absolute  Substanz  überhaupt  gänzlich 
aus  den  Händen  zu  verlieren.  Kant  jedoch  betrat  als  Natur- 
forscher das  Gebiet  der  Metai)hysik,  um  in  ihm  die  Begründung 
für  seine  dynamische  Körperlehre  zu  finden;  darum  mul'ste  er  auf 
die  Substanz  des  Spinoza  zurückgreifen,  weil  sie  die  Dynamik 
selbst  erst  möglich  machte.  „Denn  es  mülste,"  wie  gesagt,  „ein 
befremdliches  Ungefähr  sein,  dafs  die  Wesen  der  Dinge,  die, 
jegliches  für  sich,  ihre  abgesonderte  Notwendigkeit 
hätten,  sich  so  sollten  zusammenschicken.  dafs  selbst  die  höchste 
Weisheit  aus  ihnen  ein  gro  fse  s  Gan  zes  vereinbaren  kcumte" 
(105).  Man  mufs  sich  die  Gegensätzlichkeit  der  Ausgangspunkte 
beider  Denker  vergegenwärtigen,  um  eine  objektive  Logik  der  ])hilo- 
sophischen  Gedankenentwickelung  darin  zu  finden,  dafs  von  nun  an 
das  Bestreben  in  der  Philosophie  immer  mehr  sich  Bahn  brach  und 
mit  ßewufstsein  die  Frage  zum  Gegenstand  des  Nachdenkens  er- 
hoben ist,  wie  eine  Vereinigung  von  Leibniz  und  Spinoza,  von 
Pluralismus  und  Monismus  m()glich  sei,  olme  auf  der  einen  Seite 
die  Einheit  der  Substanz,  auf  der  andern  die  Kealität  der  vielen 
Monaden  einzubüfsen. 

Keichte  nun  die  Annahme  der  absoluten  Substanz  wirklich 
aus,  um  die  Vollkommenheit,  Schönlieit  und  Harmonie  der  Natur  zu 
erklären?  Offenbar  nimmt  Kant  dies  an  und  umgelit  er  mit  Ab- 
sicht die  naheliegende  Hypothese  der  göttlichen  Weisheit,  obwohl 
er  doch  Gott  als  unendlichen  Geist  hestimmt  hat.  Der  Grund  ist 
klar:  Kant  mufste  eben,  als  Naturforscher,  sehen,  die  teleologische 
Beschaffenheit  der  Welt  begreiflich  zu  inachen,  ohne  sich  theolo- 
gischer Annahmen  zu  bedienen.  Hatte  doch  auch  die  Xaturforschun«^ 
seiner  Zeit  schwer  genug  d;irin  gesündigt,  dafs  sie  sich  einfach  auf 
die  göttliche  Weisheit  zu  berufen  ptlegte,  wo  ihr  die  Gründe  für 
eine  wirkliche  Erklärung  ausgingen.  Die  gewöhnliche  sogenannte 
„Physikotheologie",  die  aus  der  Natur  Beweise  für  die  Grcifse  und 
Güte  des  G()ttschö])fers  zu  entnehmen  suchte,  hatte  sich  so  oft  und 
gründlich  blamiert,  dafs  schon  Voltaire  mit  Hecht  sich  über  sie 
lustig  gemacht  und  ihren  Vertretern  /ug(>rufen  hatte:  „Sehet  da, 
warum  wir  Nasen  haben,  ohne  Zweifel  damit  wir  Brillen  darauf 
setzen  könnten!''  Es  ist  sehr  be(|ueni.  überall  Zwecke  uiul  Absichten 
aufzuspüren,  wenn  man  damit  eine  Sache  sclion  zugleich  erklärt  zu 
haben  glaubt.  Aber  eine  solche  Methode  ist  ganz  un})hil()soj)hisch 
und  setzt  der  Naturforschung  unberechtigter  Weise  Grenzen.  „Die 
erniedrigte  Vernunft    steht  gerne  von    einer  weiteren  Untersuchung 


t 


ab,  weil  sie  solche  hier  als  Vorwitz  ansieht,  und  das  Vorurteil  ist 
desto  gefährlicher,  weil  es  dem  Faulen  einen  V^orzug  vor  dem  un- 
ermüdeten  Forscher  giebt  durch  den  Vorwurf  der  Andacht  und  der 
billigen  UnterweTfung  unter  den  grofsen  Urheber,  in  dessen  Er- 
kenntnis sich  alle  Weisheit  vereinbaren  mufs.  Man  erzählt  z.  E. 
den  Nutzen  der  Gebirge,  deren  es  unzählige  giebt.  und  sobald  man 
deren  recht  viele,  und  unter  diesen  solche,  die  das  menschliche  Ge- 
schlecht nicht  entbehren  kann,  zusammengebracht  hat.  so  glaubt 
man,  Ursache  zu  haben,  sie  als  eine  unmittelbare  giUtliche  Anstalt 
anzusehen*'  (IL  lÖ'J).  Sicherlich  haben  viele  Naturerscheiiningen, 
die  nach  den  allgemeinsten  Naturgesetzen  immer  noch  zufällig  sind. 
ihren  letzten  Grund  nirgendwo  anders  als  in  der  weisen  Absicht 
Gottes.  „Aber  man  kann  nicht  umgekehrt  schliefsen :  wo  eine 
natürliche  Verknüpfung  mit  demjenigen  übereinstimmt,  was  einer 
weisen  Wahl  gemäfs  ist,  da  ist  sie  auch  nach  den  allgemeinen 
Wiikungsgesetzcn  der  Natur  zufällig  und  durch  künstliche  Fügung 
aufserordentlich  festgesetzt  worden.  Es  kann  bei  dieser  Art  zu 
denken  sich  öfters  zutragen,  dafs  die  Zwecke  der  (jesetze.  die  man 
sich  einbildet,  unrichtig  sind,  und  dann  hat  man  aufser  diesem 
Irrtum  noch  den  Schaden,  dafs  man  die  wirkenden  Ursachen  vorbei- 
gegangen ist  und  sich  unmittelljar  an  eine  Absicht,  die  nur  erdichtet 
ist,  gehalten  haf   (1()4). 

Allen  derartigen  methodologischen  Fehlern  entgeht  man  nur. 
wenn  man  die  göttliche  Weisheit  bei  Seite  stellt,  wenn  man  sich 
durch  die  Schönheit  und  Vollkommenheit  der  Welt  nicht  abhalten 
läfst.  die  allgemeinen  und  einfachen  Wirkungsgesetze  der  Materie 
auch  dort  an/uwemh^n  und  eine  rein  naturwissenschaftliche,  d.  h. 
mechanische,  Erklärung  zu  vei'suchen.  wo  der  Gegenstand  unmittelbar 
aus  der  göttlichen  Absicht  herzustammen  scheint.  Nicht  als  ob 
damit  die  g(;ttliche  Weisheit  überhaupt  geleugnet  werden  sollte  —  auch 
bei  dieser  ]\lethode  wird  aus  der  Beschaffenheit  der  Natur  gleichwohl 
auf  jene  geschlossen,  „aber  nicht  so,  dafs  sie  von  der  weisen  Wahl  als 
ihrer  Ursache,  sondern  von  ein  m  solchen  Grunde  in  einem  obersten 
Wesen  hergeleitet  wird,  welcher  zugleich  ein  (^rund  einer  grofsen 
Weisheit  m  ihm  sein  mufs,  mithin  wohl  von  einem  weisen  Wesen, 
aber  nicht  durch  seine  Weisheit-'  (löl  f.).  Die  Eiidieit  des  Wesens 
also  ist  es,  woduirh  die  Einheit  und  Vollkommenheit  der  Natur 
verbürgt  wird.  „Die  Dinge  der  Natur  tragen  sogar  in  den  not- 
wendigsten Bestinnnungen  ihrer  inneren  Möglichkeit  das  Merkmai 
der  Abhäni,ngkeit  von  demjenigen  Wesen  an  sich,  in  welchem  alles 
mit  den  Eigenschaften  der  Weisheit  und  (lüte  zusammenstimmt. 
Man    kann    von    ihnen   Übereinstimmung    und    schöne  Verknüpfung 


m  I 


90 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


I.  Die  vorkritische  Naturphih)sophie. 


91 


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erwarten  und  eine  notwendige  Einheit  in  den  mancherlei  vorteil- 
haften Beziehungen,  die  ein  einziger  Grund  zu  viel  anständigen  Ge- 
setzen hat"  (ir)2).  Bei  dieser  Ansicht  kann  sich,  insofern  die  Folgen 
der  Natur  notwendig  sind,  nimmermehr  seihst  nach  den  allge- 
meinsten Gesetzen  etwas  ereignen,  was  Gott  mifsfällig  ist.  Alle 
Veränderungen  der  Welt,  die  mechanisch,  mithin  aus  den  Bewegungs- 
gesetzen notwendig  sind,  müssen  jederzeit  darum  gut  sein,  weil  sie 
natürlicher  Weise  notwendig  sind,  und  es  ist  zu  erwarten,  dafs  die 
Folge  unverhesserlich  sein  werde,  sohald  sie  nach  der  Ordnung  der 
Natur  unaushleihlich  ist  (1:");^). 

Die  Wichtigkeit  dieser  Anschauung  für  die  Naturwissenschaft 
liegt  auf  der  Hand.  Sind  Wille  und  Wesen  in  Gott  identisch  und  ist 
alle  Natur  ein  unmittelharer  AustluCs  seines  Wesens,  dann  wird  es 
nicht  niitig  sein,  „dafs  daselhst,  wo  die  Natur  nach  notwendigen 
Gesetzen  wirkt,  unmittelhare  göttliclie  Ausbesserungen  dazwischen 
kommen"  {\,)2).  Das  Wunder,  das  hisher  immer  als  ein  unbegreif- 
liches Kätsel  aufserhalb  der  Wissenschaft  gestanden  hat,  wird  über- 
flüssig. Es  giebt  aber  zugleich  auch  keinen  Widerstreit  mehr 
zwischer.  Teleologie  und  Mechanismus.  Alles,  was  schiin  und  zweck- 
mäfsig  erscheint,  ist  darum  nichtsdestoweniger  nach  mechanischen 
Gesetzen  entstanden.  Damit  wird  der  Theologie  das  Recht  entzogen, 
gegen  die  mechanische  Erklärungsweise  Einspruch  zu  erheben,  und 
der  naturwissenschaftlichen  Forschung  eine  Freiheit  erobert,  die  sie 
nur  allzu  lange  zu  ihrem  Nachteil  enthehrt  hat.  Um  selbst  an  einem 
Beispiel  zu  zeigen,  wie  die  Naturforschung  sich  in  dieser  Hinsicht 
zu  verhalten  habe,  wiederholt  Kant  in  kurzen  Zügen  seine  Kosmogonie 
in  der  Hoffnung,  die  unbegründete  Besorgnis  beseitigen  zu  können, 
als  ob  die  Erklärung  der  Welt  aus  allgemeinen  Naturgesetzen  den 
boshaften  Feinden  der  Keligion  eine  Lücke  öfl'ne,  in  ihre  Bollwerke 
einzudringen.  „Mein  Zweck",  sagt  Kant,  „insofern  er  diese  Schrift 
betrifft,  ist  erfüllt,  wenn  man  durch  das  Zutrauen  zu  der  llegel- 
mäfsigkeit  und  Ordnung,  die  aus  allgemeinen  Naturgesetzen  Hiei'sen 
kann,  vorbereitet,  nur  der  natürlichen  AV  eltwei  sh  ei  t  eia 
freieres  Feld  öffnet  und  eine  Erklärungsart,  wie  diese  (in  der 
Kosmogonie)  oder  eine  andere  als  möglich  und  mit  der  Erkenntnis 
eines  weisen  Gottes  wohl  zusammenstimmend  anzusehen  kann  bewogen 
werden"  (ÜJl). 

Aber  noch  mehr!  Die  Erkeinitnis  des  einheitlichen  W^elt- 
grundes  giebt  eine  Regel  an  die  Hand,  „die  Einheit  der  Natur  so 
sehr  wie  möglich  zu  erhalten,  d.  i.  vielerlei  Wirkungen  aus  einem 
einzigen  schon  bekannten  Grunde  herzuleiten,  und  nicht  zu  ver- 
schiedenen Wirkungen  wegen  einiger  scheinbaren  gröfseren  Unähn- 


lichkeit  sogleich  neue  und  verschiedene  wirkende  Ursachen  anzu- 
nehmen" (155  f.).  „Man  präsumiert  mit  grofsem  Grunde,  dafs  die 
Ausdehnung  der  Körper  durch  die  Wärme,  das  Licht,  die  elektrische 
Kraft,  die  Gewitter,  vielleicht  auch  die  magnetische  Kraft  vielerlei 
Erscheinungen  einer  und  ebenderselben  wirksamen  Materie,  die  in 
allen  Elementen  ausgebreitet,  nämlich  des  Äthers,  sei"  (lot))-  Die 
erste  Entstehung  eines  Organismus  bleibt  uns  freilich  unbegreiflich 
(157  f.);  indessen  „man  vermute  nicht  allein  in  der  unorganischen, 
sondern  auch  der  organisierten  Natur  eine  gröfsere  notwendige 
Einheit,  als  so  geradezu  in  die  Augen  fällt*'  (llili).  Ja,  sollte  nicht 
auch  in  den  freien  Handlungen  der  Menschen  jene  Einheit  und 
Gesetzmäfsigkeit  bemerkbar  sein,  die  sich  bei  ihrem  Getragensein 
von  einem  gemeinschaftlichem  Grunde  a  priori  auch  hier  vermuten 
läfst  ?  Li  der  That.  wenn  man  beobachtet,  wie  das  Verhältnis  der 
Ehen  zu  der  Zahl  der  Lebenden  ziemlich  beständig  ist,  und  wie  im 
Durchschnitt,  wenn  man  grofse  Zahlen  nimmt,  die  Zahl  der  Sterbenden 
gegen  die  Lebenden  sehr  genau  in  ebendemselben  Verhältnis  steht, 
dann  kann  man  sich  der  Einsicht  nicht  verschliefsen,  „dafs  selbst  die 
Gesetze  der  Freiheit  keine  solche  Ungebundenheit  in  Ansehung  der 
Regeln  einer  allgemeinen  Naturordimng  mit  sich  führen,  dafs  nicht 
ebenderselbe  Grund,  der  in  der  übrigen  Natur  schon  in  den  Wesen 
der  Dinge  selbst  eine  unausbleibliche  Beziehung  auf  Vollkommenheit 
und  Wohlgereimtheit  befestigt,  auch  in  dem  natürlichen  Laufe  des 
freien  Verhaltens  wenigstens  eine  gröfsere  Lenkung  auf  ehi  Wohl- 
gefallen des  höchsten  Wesens  ohne  vielfältige  Wunder  verursachen 
sollte"   (154). 

AVohin  man  blickt,  der  oben  geführte  apriorische  Beweis  für 
das  Dasein  Gottes  wird  auch  a  posteriori  durch  die  Betrachtung 
der  Natur  bestätigt.  Ist  nun  damit  jenes  Dasein  wirklich  bewiesen, 
und  kann  sich  der  Forscher  mit  diesem  Do})})elbeweis  zufrieden 
geben,  der  ihn  dasjenige  mit  dem  Verstand  begreifen  läfst,  was 
er  bisher  nur  als  religiöser  Mensch  geglaubt  hat?  Als  Kant  sich 
ernstlich  diese  Frage  vorlegte,  vermochte  er  sie  nicht  unbedingt  mit 
Ja  zu  beantworten.  Der  Beweis  aus  der  Natur  ist  gewifs  in  seiner 
Art  vortrefflich,  schon  deshalb  weil  er  so  allgemein  verständlich  ist. 
Aber  schliefslich  unterscheidet  er  sich  doch  nicht  wesentlich  von  dem 
sogenannten  physikotheologischen  Beweis,  dessen  Mangel  oben  dar- 
gelegt wurde.  Zur  Natur  eines  Beweises  im  eigentlichen  Sinne  fehlt 
es  ihm  gänzlich  an  geometrischer  Strenge  und  unbedingter  Folge- 
richtigkeit in  seinen  Schlüssen  (109.  202).  Er  ist  eben  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  als  höchstens  eine  nachträgliche  Bestätigung  eines 
auf  andere   Art   bereits   Bewiesenen;    bestenfalls   vermag   er    es  zu 


R* 


t,  '{ 


92 


B.    Kant  als   Naturphilosoph. 


einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit  zu  ])rinf^en,  iher  niemals  auch  zu 
einer  wirklichen  Gewil'sheit.  Um  diese  zu  erlanjjjen.  mul's  man  den 
Weg  der  Erfahrung  verlassen,  „mul's  man  sich  auf  den  bodenlosen 
Abgrund  der  Metaphysik  wagen,  ein  finsterer  Ozean  ohne  Ufer  und 
ohne  Leuchttürme,  wo  man  es,  wie  der  Seefahrer  auf  einem  un- 
beschilften Meere,  anfangen  mufs,  welcher,  sobald  er  irgendwo  Land 
betritt,  seine  Fahrt  prüft  und  untersucht,  ob  nicht  etwa  unbemerkte 
Seestrikne  seinen  Lauf  verwirrt  haben,  aller  Behutsamkeit  ungeaciitet. 
die  die  Kunst  zu  schiffen  nur  immer  gebieten  mag''  (lOMf.).  Hier 
allein  —  wenn  irgendwo  —  kann  überhaupt  ein  solcher  Beweis  ge-' 
funden  werden,  welcher  derjenigen  Schärfe  fähig  ist,  die  man  mit 
Recht  von  einer  Demonstration  erwartet.  Wenn  mir  nicht  blofs  die 
Wenigsten  imstande  wären,  dem  Denker  in  dieses  aufserordentlicii 
schwierige  Gebiet  zu  folgen!  Man  mufs  es  unter  solchen  Umständen 
als  ein  Glück  betrachten,  dafs  auch  nur  die  Wenigsten  ein  Bedürfnis 
haben,  über  ihren  Glauben  an  Gott  sich  Bechenschaft  zu  geben. 
„Die  Vorsehung  hat  nicht  gewollt,  dafs  unsere  zur  Glückseligkeit 
höchst  nötigen  Einsic^hten  auf  der  Spitzfindigkeit  feiner  Schlüsse 
beruhen  sollten,  sonih'rn  sie  dem  natürlichen  gemeinen  Verstand  un- 
mittelbar überliefert,  der,  wenn  man  ihn  nicht  durcli  falsche  Kunst 
verwirrt,  nicht  ermangelt,  uns  gerade  zum  Wahren  und  Nützlichen 
zu  führen,  insofern  wir  desselben  äufserst  bedürftig  sind"  (101)).  „Es 
ist  durchaus  nötig,  dafs  man  sich  vom  Dasein  Gottes  überzeuge; 
es  ist  aber  nicht  ebenso  nötig,  dafs  man  es  demonstriere*'  (205). 
„Gleichwohl  kann  man  sich  nicht  entbrechen,  diese  Demonstration 
zu  untersuchen,  ob  sie  sich  nicht  irgendwo  daibiite ;  ein  der  Nach- 
forschung gewohnter  Verstand  kann  sich  nicht  entschlagen,  in  einer 
so  wichtigen  Erkenntnis  etwas  Vollständiges  und  deutlich  Begriffenes 
zu  erreichen"  (lOf)).  Sollte  auch  dieser  Weg  nicht  zum  Ziele  führen, 
dann  freilich  ist  das  Dasein  Gottes  völlig  unbeweisbar,  und  es  bleibt 
nichts  übrig,  als  mit  der  unmittelbaren  (jiewifsheit  im  Gefühl  sich 
zu  begnügen,   wenn  uns  der   Verstand  im  Stiche  läfst. 

Dal's  er  nun  selbst  diesen  Beweis  gefunden  habe,  davon  seheint  Kant 
keineswegs  so  völlig  überzeugt,  wie  man  aus  manchen  Aufserungen 
seiner  Schrift  entnehmen  könnte.  In  der  Vorrede,  die  olfenbar  später 
geschrieben  ist  als  die  Abhandlung  selbst,  verwahrt  Kant  sich  aus- 
drücklich dagegen,  als  habe  er  mehr  als  „nur  die  ersten  Züge  eines 
Hauptrisses"  entwerfen  wollen,  wonach,  wie  er  meint,  ein  Ge- 
bäude v(m  nicht  geringer  Vortrefflichkeit  könnte  aufgeführt  werden, 
wenn  unter  geübteren  Händen  die  Zeichnung  in  den  Teih>n  mehr 
Bichtigkeit  und  im  Ganzen  eine  vollendete  Regelmälsigkeit  erhielte. 
„Was  ich  hier  liefere,"   sagt  er,   „ist  nur  der  Beweisgrund  zu  einer 


ß » 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


93 


Demonstration,  ein  mühsam  gesam  meltes  B  auger äte,  welches 
der  Prüfung  des  Kenners  vor  Augen  gelegt  ist,  um  aus  dessen 
brauchbaren  Stücken  nach  den  Regeln  der  Dauerhaftigkeit  und  der 
Wohlgereimtheit  das  Gebäude  zu  vollführen.  Ebensowenig,  wie  ich 
dasjenige,  was  ich  liefere,  für  die  Demonstration  selber  will  gehalten 
wissen,  sowenig  sind  die  Auflösungen  der  Begriffe,  deren  ich  mich 
bediene,  schon  Definitionen.  Sie  sind,  ^vie  mich  dünkt,  richtige 
Merkmale  der  Sachen,  wovon  ich  handle,  tüchtig,  um  daraus  zu  ab- 
gemessenen Erklärungen  zu  gelangen,  an  sich  selbst  um  der  Wahr- 
heit und  Deutlichkeit  willen  brauchbar,  aber  sie  erwarten  noch  die 
letzte  Hand  des  Künstlers,  um  den  Definitionen  beigezählt  zu 
werden"   (110). 

Das   klingt    nun   allerdings    viel   weniger    zuversichtlich   als  die 
Anpreisung  des  von  ihm  aufgestellten  Argumentes  als  des  „einzig 
m  ()  glichen"  Beweisgrundes  für  das  Dasein  Gottes  ( 1 1)8  ff'. ).     Kants 
Zutrauen  zur  a\Ietapliysik  ist  offe]d)ar  stark  erschüttert.     „Es  giebt 
eine  Zeit,   wo  man  in  einer  solchen  Wissenschaft,   wie  die  ^Metaphysik 
ist,   sich  getraut,  alles  zu  erklären  und  alles  zu  demonstrieren,    und 
wiederum    eine    andere,    \vo    man  sich    nur  mit   Furcht    und   Mifs- 
trauen  an  dergleichen  Unternehmungen  wagt"  (110).      Wie,  wenn 
nun  auch  jener  „einzig  mögliche"  Beweis  so  wenig  haltbar  ist,  wie 
die  übrigen  Schulbeweise  für  das  Dasein  Gottes .   wie  steht  es  dann 
um  diese  Wissenschaft  überhau])t,    die   den  Ansjirucli   erhebt,    alles 
auf  rein  logische   Weise   zu   entwickeln,    und  die  mit  ihrem  ganzen 
stolzen    A])parat    des  A priori    nicht    über    die    Schwelle    der    Denk- 
mciglichkeit  hinauskommt?     Die  Schrift  über  die  negativen  Gröfsen 
hatte  gezeigt,  dafs  den  endlichen  Bealgründen,  den  physischen  sowohl, 
wie  den  psychischen,   mit  dem  blofsen  Verstände  nicht  beizukommen 
wäre.  Damit  waren  diejenigen  Teile  der  Metaphysik  hinfällig  geworden, 
die  man  als   „rationale  Kosmologie"   und   „rationale  Psychologie"  zu 
bezeichnen  pflegte.     Aber  noch  schien  der  wichtigste  und  Hauptteil 
der    Metaphysik,    die    „rationale  Theologie."    nicht   erschüttert:    die 
Schrift  über  den  einzig  möglichen  Beweisgrund  hatte  ja  eben  keinen 
anderen   Zweck,    als    diesem   ein  neues    und  sicheres    Fundament    zu 
geben.      Wenn  nun  auch  dies  sich  als  trügerisch  erwies,    was  blieb 
dann    von  jener    ganzen    gepriesenen  Wissenschaft   noch   übrig    und 
welchen    Wert   konnte  sie   haben    für  die   Wissenschaft  der   Natur, 
die  sie  begründen  und    stützen    sollte,    wenn    sie    mit   ihren    eigenen 
Füfsen  in  der  Luft  stand?  — 

Das  Vorgeben  der  Metai)hysik,  aus  reiner  Vernunft,  a  ])riori 
das  W^eltgerüst  vor  den  Augen  des  Philosophen  erstehen  zu  lassen, 
war  als   eine   eitle  Prahlerei   durchschaut:   sie  vermochte   nicht   das 


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B.    Kant  als  Natur|)hilos<)ph. 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


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h.  ( 


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I  ^ 
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allgemeine  Grundgesetz  der  Wirklichkeit,  das  Gesetz  der  Kausali- 
tät, anders  als  rein  logisch  darzustellen,  ja,  nicht  einmal  die  hlol'se 
Existenz  konnte  hegrifflich  von  ihr  erkannt  werden.  Nun  beruhte 
aber  gerade  in  der  Erkenntnis  der  Wirklichkeit  aus  blofsen  Be- 
gritVen  das  Grundprinzip  des  Kationalismus.  Wenn  also  diese  Er- 
kenntnisart an  die  Wirklichkeit  nicht  heranreichte,  wenn  die  Grund- 
elemente des  realen  Daseins  im  Schmelztiegel  der  logischen  Idee  nicht 
auflösbar  waren,  dann  war  ja  der  Rationalismus  selbst  unhaltbar, 
dann  mul'ste  man  sich  mit  einer  Erkenntnis  durch  Erfahrung  be- 
gnügen, dann  hatte  folglich  jeder  seine  eigene  Erkenntnis,  je  nach 
den  Erfahrungen,  die  ihm  zu  Gebote  st^mden.  dann  gab  es  keine 
allgemeine  und  notwendige,  keine  objektive  Erkenntnis,  alles  löste 
sich  in  ein  subjektives  Fürwahrhalten  auf,  dann  —  Kant  fühlte, 
wie  ihm  der  Boden  unter  den  Füfsen  entscliwand,  wie  das  ganze 
Gebäude  seiner  bisherigen  Weltanschauung  zusammenstürzte,  sobald 
er  an  der  sch<)])ferischen  Kraft  des  Denkens  im  Sinne  des  Rationalis- 
mus zweifelte.  Hing  doch  an  ihr  auch  das  Schicksal  der  Meta- 
physik,  jener  Wissenschaft,  olme  welche  ilim  seine  naturwissen- 
schaftliche Weltanschauung  der  nötigen  Begründung  zu  entbehren 
schien.  Denn  wenn  die  Erfahrung  Ausgangspunkt  und  Norm  des 
Denkens  war,  dann  konnte  ja  natürlich  von  einem  AVissen  dessen, 
was  jenseits  derselben  ist,  nicht  die  Rede  sein,  man  blieb  auf  blofse 
Wahrscheinlichkeiten  angewiesen,  und  der  Skei)tizismus  behielt  das 
letzte  Wort.  Kein  Wunder,  dafs  Kant  zunächst  alles  daran  setzte, 
der  gefährdeten  jVIetaphysik  einen  neuen  Halt  zu  geben  und  mit 
Beiseitelassung  aller  inhaltlichen  Elemente  die  F  o  r  m  dieser  Wissen- 
schaft sicher  zu  stellen. 

Woran  lag  es,  dafs  die  i\Ieta])hysik  eine  so  ,.unsichere"  Er- 
kenntnis war,  dafs  hier  ebenso  viele  Meinungen  sich  gegenüberstanden, 
wie  Köpfe  da  waren,  die  mit  diesem  Gegenstande  sich  befafsten? 
Wenn  man  bedachte,  wie  die  Meta])hysiker  bestrebt  waren,  es  den 
Mathematikern  gleich  zu  thun  und  diese  sicherste  und  strengste  aller 
Wissenschaften  in  ihren  Dienst  zu  nehmen,  dann  konnte  man  sich 
über  jene  Erscheinung  wohl  verwundern,  und  es  L'ig  der  Verdacht 
nahe,  ob  nicht  vielleicht  gerade  in  dieser  Heranziehung  der  Mathe- 
matik der  Grundfehler  aller  bisherigen  Spekulation  zu  suclien  wäre. 
Bereits  in  seiner  Schrift  über  die  negativen  Gröfsen  hatte  Kant 
einen  doppelten  Gebrauch  unterschieden,  dtMi  man  in  der  Welt- 
weisheit von  der  Mathematik  machen  könnte,  den  einen,  der  in 
der  Nachahmung  ihrer  Methode,  den  andern,  der  in  der  wirk- 
lichen Anwendung  ihrer  Sätze  auf  die  Gegenstände  der  Philosophie 
bestände.     Bereits  hier  hatte  er  die  Bemerkung  ausgesprochen,  von 


dem  ersteren  sei  eigentlich  kein  Nutzen  zu  ersehen,  so  grofsen  Vorteil 
man  sich  auch  anfänglicli  davon  versprochen  habe  (II.  71).  Nun 
wandte  er  diesem  Punkte  seine  Aufmerksamkeit  besonders  zu  und 
fand  in  der  That  die  Nachahmung  des  Mathematikers,  der  auf  einer 
wohlgebahnten  Strafse  sicher  fortschreitet,  „auf  dem  schlüpfrigen 
Boden  der  Metaphysik"  als  den  Grund  einer  Menge  von  Fehl- 
tritten und  Irrtümern,  die  man  ganz  wolil  bei  einer  genaueren 
Kenntnis  des  Wesens  beider  Wissenschaften  hätte  vermeiden  können 
(II.   11  f)). 

Es  war  ilmi  daher  eine  willkommene  Gelegenheit,  sich  hierüber 
näher  auszulassen,  als  die  Berliner  Akademie  im  Jahre  i:(i;>  die  Preis- 
frage nach  der  Evidenz  in  den  metaphysischen  Wissenschaften  stellte. 
Kant  beantwortete  diese  Frage  in  seiner ,.  U  n  t  e  r  s  u  c  h  u  n  g  ü  b  e  r  d  i  e 
Deutliclikeit  der  Grundsätze  der  natürlichen  Theo- 
logie und  der  Moral"'  (17()4),  ,.in  welcher  der  Metaphysik  ilir 
wahrer  Grad  der  Gewifsheit  samt  dem  Wege,  auf  welchem  man 
dazu  gelangt,-'  bestimmt  ward  und  diejenigen  Gesichtspunkte  von  ihm 
aufgestellt  wurden,  Avoraus  nach  seiner  Ansicht  eine  Erneuerung 
dieser  AVissenschaft  von  Grund  aus  möglich  wäre.  „Wenn  erst 
die  Methode  feststeht,  nach  der  die  höchst  m()gHc]ie  Gewifsheit 
in  dieser  Art  der  Erkenntnis  kann  erlangt  werden,  und  die  Natur 
dieser  Überzeugung  wohl  eingesehen  wird,  so  mufs,  anstatt  des 
ewigen  Unbestandes  der  Meinungen  und  Schulsekten,  eine  unwandel- 
bare Vorschrift  der  Lehrart  die  denkenden  Kiipfe  zu  einerlei  Be- 
mühungen vereinbaren;  sowie  Newtons  Methode  in  der  Natur- 
wissenschaft die  Ungebundenheit  der  j)]iysischen  Hy])othesen  in  ein 
sicheres  Verfahren  nach  Erfahrung  und  Geometrie  veränderte*'  (II.  '2H3). 

Seit  Descartes  und  Spinoza,  diesen  beiden  grofsen  Be- 
gründern des  Rationalismus  in  der  neueren  Pliilos()])hie,  war  es 
üblich  geworden,  „niore  geometrico*'  rein  logisch  die  einzelnen  Sätze 
auseinander  abzuleiten,  ohne  sich  um  die  Erfahrung  zu  bekümmern, 
indem  man  von  der  Voraussetzung  ausging,  alles,  was  riclitig  ge- 
folgert, deutlich  eingesehen  und  für  das  Denken  ohne  Widerspruch 
sei,  müsse  eben  darum  auch  mit  der  Wirklichkeit  übereinstimmen. 
Wie  die  Mathematik  zuerst  Definitionen  aufstellt  und  diese  dann 
willkürlich  mit  einander  verknüpft,  um  daraus  neue  Wahrheiten 
hervorgehen  zu  lassen,  so  hatte  man  es  auch  in  der  Metaphysik 
gemacht.  M;in  hatte  mit  souveräner  AVillkür  sich  Vorstellungen 
gebildet,  subtile  Begriifsglieder  zu  Schlufsketten  an  einander  gereiht, 
und  wenn  man  diese  unter  einander  zu  einem  Svsteni  verbunden 
hatte,  dann  hatte  man  sich  unbesehen  geschmeichelt,  in  solchem 
Netze  aus  reinen  Begriffen  die  ganze  ungeheure  Wirklichkeit  selbst 


rei 


e:  t 


96 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


I.  Die  vorkritische  Naturplnlosoj)hie. 


13  t 


«II I 


«1 


P" 


ein^i^efan^en    zu    haben.     Nichts    thörichter    als    diese    Einbiklun.c; ! 
Zwischen  den  Objekten  der  Alatheinatik  und  denen  der  Metai)hysik 
besteht    ein    so    fundamentaler    Unterschied,    dal's,    wie   Kant  saj^^t, 
nichts  der  Philosophie  schädlicher  gewesen  sei  als  die  Mathematik, 
nämlich  die  Nachahmunp^  derselben  in  der  Methode  zu  denken  (II.^Dl). 
Die  Mathematik  schafft  sich    ihre  BegritVe  selbst,   und  zwar  in 
der  sinnlichen    Anschauunf]^.    sie  läfst  sie   durch    Konstruktion  ent- 
stehen,   z.    B.  d('n   Ke^j^el    aus  der  willkürlichen   Vorstellunij  eines 
rechtwinkligen    Dreiecks,    das    sich    um    eine  Seite   dreht.     So    hat 
sie    ein    Recht ,    mit    ihnen    willkürlich    zu    schalten ;    sie    braucht 
nicht  zu  besorgen,  es  m()chte  sich  etwa  in  ihnen  ein  Merkmal  finden, 
dessen  Nichtberücksichtigung  ihren  (Tedankengang  schädit^t,  weil  sie 
ja  vorher  selbst  in  der  Definition  alle  jMerkuiale  in  sie  hineingelegt 
hat.     Der  Meta]ihysik    werden    ihre  Objekte  von  anderswoher    ge- 
geben,   ihre    Begriffe    sind    dunkel.     unl)estinimt ;     daraus     folgt, 
dafs    man    hier    nicht    mit    F^rklärungen    den    Anfang     machen    darf. 
Vielmehr    suche    man    in    seinem   Gegenstande  zuerst  dasjenige   mit 
Sorgfalt  auf.    dessen    man    von    ilim    unmittelbar    gewifs    ist, 
auch    ehe    man    die   Definition   davon    hat.     Man   zeichne  diese   un- 
mittelbar gewissen  Urteile   über  den  Gegenstand  besonders  aus   und, 
wenn  man  sich  überzeugt  hat,    dafs  das  eine    in  dem  andern  nicht 
enthalten  sei,    so  schicke  man  sie,  wie  die  Axiome  der  Geometrie, 
als    die    Grundlage    zu    allen    andetai    Kolgeruni^^en    voran    ('J!!:;  f.). 
Hier    müssen    viele    Handlungen    der    Vergleichung,    Unteroi-dnung 
und  P]inschränkung  vor  sich  gehen  (21)2);  aber  schliel'slich  wii-d  man 
doch  auf  gewisse  letzte^  Elemente  der  Erkenntnis  stofsen,   die  einer 
weiteren  Auflösung  nicht  fähig  sind.    Diese  sind  die  „unerweislichen 
Grundwahrheiten-'     (28!)),    die    „ersten    materialen    Grundsätze    der 
menschlichen    Vernunft*'     (iU):)).    die    wii-    neben    den    Regeln    der 
formalen  Logik  besitzen ;  die  Metaphysik  ist  eigentlich  nichts  Anderes 
als  eine  Philosophie    über   diese    ersten  Gründe  unserer  Erkenntnis 
(29  0-      „Es    ist    das    Geschiil't    der  Weltweisheit,    BegrifTe,    die  als 
verworren  gegeben  sind,    zu   zergliedern,    ausfiihrlicli   und   bestimmt 
zu  machen;    der  Mathematik  aber,  gegebene  Begriffe  von  Gröfsen, 
die  klar  und  sicher  sind,   zu  verknüpfen  und  zu  vergleichen  und  zu 
sehen,   was  hieraus  gefolgert  werden  kiünie-'  (2SI{).    Die  Mathematik 
also    ist    scluipferisch,     konstruktiv,    deduktiv,    synthetisch;    die 
Metaphysik  dagegen  ist  induktiv    und    kann   einstweilen   nur    ana- 
lytisch  sein.      Erst   „wenn  die  Analysis   uns  wird  zu  deutlich  und 
ausführlich  verstandenen  Begriffen  verholfen  haben,  wird  die  Synthesis 
den    einfachsten    Erkenntnissen    die    zusammengesetzte,    wie   in  der 
Mathematik,   unterordnen  kiinnen"   (2!)<S). 


97 


„Die   echte   Methode   der   Metaphysik   ist   mit  der- 
jenigen im  Grunde  einerlei,  die  Newton  in  die  Natur- 
wissenschaft   einführte,    und   die    daselbst    von  so  nutzbaren 
holgen  war.     Man  soll,    heifst  es  daselbst,    durch    sichere    Er- 
fahrungen, allenfalls  mit  Hilfe  der  Geometrie  die  Regeln  auf- 
.    sucben.    nach  welcben    gewisse  Erscheinungen    der  Natur  vorgehen. 
Wenn   man  gleich   den  ersten   Grund    davon    in    den  Körpern   nicht 
einsieht,    so  ist  gleichwohl   gewifs,    dafs    sie    nach    diesem    Gesetze 
wirken,   und   man  erklärt  die  verwickelten  Naturbegebenheiten,   wenn 
man    deutlich    zeigt,    wie    sie    unter    diesen  wohlerwiesenen  Re-(dn 
enthalten  seien.     Ebenso  in  der  Metai)hysik :    suchet   durch  sichere 
innere  Erfahrung,  d.  i.  ein  umnittelbares  augenscheinliches  Bewufst- 
sein.    diejenigen  Merkmale  auf,    die   gewifs    im  Begriffe    von  irgend 
einer    allgemeinen    Beschaffenheit    liegen,    und    ob    ihr    gleich    das 
ganze   WY^sen  der  Sache  nicht  kennt,    so  ki'mut  ihr  (Mich  doch  der- 
selben   sicher    bedienen,    um    vieles    in    dem    Dinge    daraus    herzu- 
leiten"  (294). 

Wohin  man  gelangt,   wenn  man  mit  Begriffen  operiert,   die  man 
nicht  vollkommen  eingesehen   und  nicht  l)is  in  ihre  letzten  Bestand- 
teile zergliedert  hat.    davon  liefert  die    herrschende  Metaphysik  eni 
schlagendes   Beispiel,    indem    sie    die    unmittelbare   Anziehung    der 
Kr.rper   in    die   Ferne   leugnet.     Was    heifst   denn   das:   ein   Körper 
wirkt  in  einen  entfernten  unmittelbar?    Doch  offenbar:  er  wirkt  in 
ihn   unmittelbar,    aber    nicht    vermittelst    der  Undurchdringlichkeit, 
nicht  durch  Berülirung.      Die  unmittelbare    gegenseitige  Gegenwart 
zweier  Körper,   sagt  nun   die  Metaphysik,  ist  die  Berührung.    Wenn 
also  zwei  Körper  in  einander  unmittelbar  wirken,  so  berühren  sie  ein- 
ander, l'olglieh  sind  sie  nicht  entfernt,   folglich  wirken  zwei   Körper 
in  der  Entfernung  niemals  unmittelbar  in  einander.  Aber  die  Definition 
ist    erschlichen.     Niclit   jede    unmittelbare   Gegenwart    ist    eine  Be- 
rührung, sondern  nur  die  vermittelst  der  Undurchdringlichkeit.    Der 
ganze    Beweis    ist    also    in    den    Wind    .irebaut:     die    Meta])hysik 
hat  zum   wenigsten   gar  keinen   Grund,    sich  wider  die 
unmittelbare  Anziehung  in  die  Ferne  zu  empören  (2!)«)  f.). 
Unter    diesen    Umständen    ist  es    freilich   nicht    zu  verwundern, 
dafs    in   ihr    trotz    ihres  Pochens    auf    die    mathematische  Methode 
solche  Unsicherheit  und  Zerfahrenheit  herrscht.    ,.Die  philosophischen 
Erkenntnisse  haben    mehrenteils  das  Schicksal    der  Meinuu'Ten  und 
sind,   wie  die  Meteore,   deren  Glanz  nichts  für  ihre  Dauer  verspricht. 
Sie  verschwinden,    aber  die  Mathematik  bleibt.     Die  Metaphvsik 
ist    ohne   Zweifel  die    schwerste    unter    a  1 1  e  n    m  e  n  s  c  h  - 
liehen    Einsichten:    allein    es    ist    noch    niemals    eine 

D  r  e  w  b  ,  Kants  Naturphilosophie. 


;* 


98 


B.    Kant  als  Naturpliilosoph. 


i>  , 


.»  » 


II      V 


geschrieben  worden'^  (21)1).     Nur  durcli  eine  gründliche  Um- 
änderung der  Methode,  wie  sie  in  ihren  allgemeinen  Zügen  dargelegt 
ist,  darf  man  hoffen,   anch  hier  zu  einiger  Beständigkeit  zu  kommen. 
Allerdings  wird    man    bei    dieser    neuen  ^Wetluxb^  vor    allem  lernen 
müssen,  sich   zu  bescheiden.     Man  wird  dem   stolzen  Wahn   entsagen 
müssen,    durch    die  Kraft    des    reinen,    von    aller  Erfahrung  freien 
Denkens  iiiit  Einem  Griff  sich  m  den  liesitz  der  Liisung  des  AVelt- 
rätsels  setzen    zu    kihmen.     Jene  Methode  wird   einfach   und   be- 
hutsam seni  (;2^'V).     Eine  Probe  von  ihr  hatte  ja  Kant  bereits  in 
seiner    Schrift    über     den    einzig    nuiglichen    Beweisgrund    gegeben, 
indem   er   „aus  dem,  was  durch  Beobachtung  unmittelbar  gewifs  ist. 
zu   dem   jdlgemeineren   Urteil    langsam   hinaufzusteigen   suchte"     (II. 
14()).    Die  „N  a  c  h  r  i  c  h  t  v  o  n  d  e  r  E  i  n  r  i  c  h  t  u  n  g  seine  r  Y  o  r  - 
lesungen   in   d  e  m  W  i  n  t  e  r  h  a  1  b  j  a  h  i-e   von   1  TliT)      1  Tbl)"  zeigt, 
dafs  Kant  damals    auch   im   mündlichen   Vortrage    di(^  .Methode   der 
Induktion    befolgte.      Der    natürliche    Fortschritt    dei-   menschlichen 
Erkenntnis,   heilst  es  hier,   ist  dieser,    „dafs  sich  zuerst  der  Verstand 
ausbildet,    indem    er    durch    Erfahrung    zu    anschauenden 
Urteilen  und  durcli  diese  zu  Begriffen  gelangt"   (lI.HIo).     Dem- 
iremüfs    begann    Kant    damals  seinen    Vortrag   über    die   Metaphysik 
mit  der  emi)irischen  Psychologie,  „welche  eigentlich  die  metaphysische 
Erfahrungswissenschaft  vom  Menschen  ist",   stieg  von  da  zur  Kosmo- 
logie und  Ontologie  nebst  rationalen  Psychologie  em])or  und   endigte 
mit  der  rationalen  Theologie,   als  der  schwersten    und  abstraktesten 
unter  allen  philoso])hischen   Untersuchungen,    welche  den   Ahschlul's 
der  Pyramide  bildete,  zu  dem  alle  vorangehenden  Teile  der  Pliilosophie 
nur  den  Unterbau   und  das  Baumaterial  geliefert  hatten  (11.  iiUJf.). 
Wenn    nun    auch    eine    Einsicht    in    die    hetzten  Probleme    des 
Daseins    auf  diesem    Wege  ganz  wohl  erreichbar  schien  :   denjenigen 
Grad  von   Überzeugungskraft    und  Gewifsheit.    der    eine   Erkenntnis 
für  die  rationalistische  Denkungsart  jener  Zeit  erst  wertvoll  machte 
und  ihr  den  Charakter  des  Metaphysischen,   des  aller  gewr)hnlichen 
Erkenntnis    Grund    und    Halt    GebcMiden    aufdrückte,    konnte    jene 
neue  ]\lethode  doch   nicht  gewähren.     Man  mochte  noch  so  viel    Er- 
fahrungen sammeln,    die  Begriife  derselben  analysieren,    vergleichen 
und  bestimmen,    sobald   man   aus    ihnen  Schlüsse  zog    und  diese  zu 
einem    Gesamtbild    vereinigte,    so    verliefs    man    das  Eeld    der    un- 
mittelbaren Gewifsheit  und  trieb  sich  unter  lauter  AVahrscheinlicb- 
keiten   herum,   die  immer  mehr  an   Beweiskraft  einbürsten.   je  hiiher 
der  Flug  des    spekulierenden   Verstandes    über    die  Sj)häre    der  Er- 
fahrung hinausging.    Der  llationalismus,  der  mit  Beiseitelassung  der 
Erfahrung  sich  ganz  im  Äther  des  reinen  Gedankens  bewegte,  hatte 


p| 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


99 


in  (lieser  Hinsicht  nichts  zu  fürchten.  Er  hovief  sich  einfach  auf  die 
Einheit  der  Vernunft  in  allen  Menschen,  und  was  er  mittels  rein 
logischer  Deduktion  aus  diesem  Schachte  zu  Tage  förderte,  das 
mufste  folglich  auch  für  alle  vernünftigen  AVesen  in  gleicher  Weise 
gültig  und  notwendig  sein.  Eine  Metaj)hysik  dagegen,  wie  die- 
jenige, die  Kant  im  Auge  hatte,  eine  .Metaphysik,  welche  die 
Ertahrung  zum  Ausgangspunkt  nahm  oder  doch  wenigstens  mit 
Erfahrungselenienten  durchsetzt  war,  eine  solche  Metaphysik  hatte 
bei  der  Vieldeutigkeit  der  Erfahrung  keine  allgemeingültige  Picht- 
schnur  der  Erkenntnis  mehr,  sie  entbehrte  auch  der  zwingenden 
Notwendigkeit  in  demselben  Mafse,  wie  es  die  Flüchtigkeit  und 
Veränderlichkeit  den-  Erfahrungsobjekte  that.  und  hob  sich  in  dem 
nämlichen  Augenblicke  selber  auf,  wo  sie  dem  Kluge  ilin^r  (TcdankiMi 
sich  hingab.  Mit  anderen  Worten  :  die  Untersuchung  über  die  neue 
Methode  der  JVletaphysik  hatte  nur  das  Eine  klar  hewiesen  :  dafs 
Metaphysik,  als  Erkenntnis  desÜhersinnlichen  von  strenger  Allgemein- 
heit und  Notwendigkeit,   nicht  möglich  sei.   — 

Während    in    solcher   Weise    die    kantischen  Gedanken    durch- 
einander gährten  und  der  Philosoph  immer  mehr  auf  die  abschüssige 
Bahn  der  Ertahrungsphilos()|)hie    getrielx^n  wurde,    ohne    doch    mit 
dem   Kationalismus    schon     in     allen   Stücken    gebrochen    zu    liahen, 
verkündete  der  schwedische  Geisterseher  Swedenborg,  mit  jener 
übersinnlichen   Welt,    dem  Gegenstande    der  iMetaphysik.    selbst    in 
Verbindung    zu    stehen,    und    das   Wunderhare,    der    über    ihn    im 
Schwünge  gehenden  Erzählungen   hielt  damals  die  gei)ildete  W^lt   in 
Aufregung.     Auch  Kant  wurde  aufmerksam ;   und   wenn  seine  Aufse- 
rung    auch   wahr    sein  mag,    er  habe    hierbei    nur    der  „Nachfrage 
vorwitziger  und  müfsiger  Freunde",  die  seine  ^1  einung  über  diese  Dinge 
hören  wollten,  nachgegeben  (II.  :)7 ;")).='=)  so  steht  doch  zu  vermuten,  es 
habe  auch  noch  ein  tieferer  Grund  ihn  veranlal'st.  sich  eingehender 
mit  Swedenborg  zu  beschättigeii  und  nähere  Erkundigungen  üher 
ihn  einzuziehen.     Vielleicht  hoffte  er  geradezu,  bei  ihm  Aufschlüsse 
über  jene  Welt  zu  empfangen,   in  welche  einzudringen  die  Metaphysik 
sich  vergebens  abmühte,   und  dies  auf  einem  Wege,   der  seiner  gegen- 
wärtigen Denkungsart  entsi)rach,   nämlich  nicht  durch  reines  Denken, 
sondern    durch    Erfahrung,    unmittelbar.      Einen    Augenblick    mag 
damals  im  Geiste  Kants  die  Hoifnung  aufgeblitzt  haben,  Metaphysik 
und    Erfahrungswissenschaft  in  Eins  verschmolzen,   den   Himmel   für 
den    irdischen  Blick    oÜ'en    sehen  zu  können :    in    dieser   Erwartung 
mag  er  sich  an  Swedenborg  gewandt  haben  —  um  sich  enttäuscht 


.? 


')  Vgl.  Kants  liritle  an  Mendelssohn  (17ü6j.     Vlll.  (ITI  ii". 


l.  f 


100 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


I 

I 

« 


1;, 


F  = 


von  ihm  abzuwenden.  In  seiner  „Triiiini  c  eines  Geistersehers, 
e  r  1  ii  u  t  e  r  t  durch  T  r  ä  u  m  e  d  e r  M  e  t  a  ]:>  li  y  s  i  k "  ( I TGG)  betitelten 
Schrift  hat  Kant  vom  rein  wissenschaftlichen  Standpunkt  aus  aller 
Geisterseherei  ein  für  alle  Mal  den  i\bsa^^ebrief  geschrie})en.  aUer- 
din^T^s  —  wie  Windelband  feinsinnig  bemerkt  —  nicht  ohne  ein 
gewisses  wehmütiges  Bedauern  darüber  durcliblicken  zu  lassen,  dafs 
auch  seine  Hoffnung,  auf  diesem  AVege  der  geliel)ten  Meta})hysik  zu 
Hilfe  kommen  zu  können,  in  so  grausamer  Weise  zu  nichte  geworden 
sei.  *)  Wenn  Kant  gk'icliwohl  seiner  eigenen  Person  allen  Geister- 
erzählungen gegenüber  eine  gewisse  Zurückhaltung  auferlegen  möchte 
und  es  vorzieht,  bei  Anhörung  derselben  zum  wenigsten  sich  „ernst- 
haft und  unentschieden"  zu  verhalten  (II.  )\W,).  vgl.  auch  V^TII.  ()?.')). 
so  stellt  er  damit  seinem  Gerechtigkeitssinne  das  schönste  Zeugnis 
aus  und  erhebt  er  sich  auch  in  dieser  Beziehung  hoch  über  das  Gros 
der  heutigen  Forscher,  die  über  die  mystischen  Phänomene  einfach 
den  Stab  brechen,  ohne  ihnen  überhau))t  auch  nur  im  Geringsten 
näher  getreten  zu  sein.  Er  nimmt  in  dieser  Hinsicht  keinen  anderen 
Standi)unkt  ein,  als  wie  ihn  neuerdings  auch  Fechner  und 
v.  Hart  mann  vertreten  haben,  und  wie  er  allein  einem  Philosophen 
geziemend  ist,  solange  die  Flxperimentalwissenschaft  hierübi^r  ihr 
letztes  AVort  noch  nicht  gespi'ochen  hat.  Aus  seinem  Verhalten 
gegenüber  den  mystischen  Phänomenen  den  Philosophen  Kant  zu 
einem  Sj)iritisten  im  heutigen  Sinne  stempeln  zu  wollen,  dazu  gehört 
freilich  die  ganze  Horniertheit  und  TendtMizmacluTci  des  modernen 
Occultismus,  der  es  glücklich  fertig  gebracht  hat,  in  dieser  Absicht 
die  feine  Ironie  und  den  übermütigen  Spott  der  ,.Tr;iume  eines 
Geistersehers"   für   P]rnst  zu  nehmen. '•'•') 

Für  die  Wissenschaft,  die  Klarheit  und  allg(>meiue  Beweise 
verlangt,  denen  alle  vernünftigen  Menschen  sich  zu  beugen  haben, 
existieren  keine  Geister  im  Sinne  Swedenborgs,  schon  deshalb 
nicht,  weil  der  Begriff  des  Geistes  keineswegs  einfach  und  widers])ruchs- 
los  ist.  Die  Annahme  einer  geistigen  Welt,  die  mit  der  kiirperlichen 
in  unbewufster  Verbindung  steht,  ist  so  hyj)othetiseh  und  trägt  S(^ 
sehr  den  Stempel  der  Erdichtung  an  der  Stirn,  dafs  es  sich  nicht 
verlohnt,  in  ernsthafter  W<'ise  darauf  einzugehen.  Es  giebt  schon 
eine  schlimme  Vermutung,  und  die  Philosophie  setzt  sich  in  A'erdacht, 
die  sich  in  so  scldechter  Gesellschaft  betreffen  läl'st  (II.  :)r)r)f.).    Aber 


*)  Windolband:  Geschichte  der  neuen-ii  rhilosojdiie   Hd.  11(1880).    'J6. 
Vgl.   auch  Paulsen:  a.  a.  ( ).   iM  1. 

**)  Kants  Psychologie,  hrsjr.  v.  ('.  du  Frei:  Einleitunir.  Daji^epfen  P. 
V.  L  i  n  d  :  „Kants  mystische  Weltanschauung"  ein  Wahn  der  modernen 
Mystik  (1892). 


1.  Die  vorkritische  Natnri)hilosophie. 


101 


nicht  blofs  die  Geister  des  S  we  denborg  sind  für  die  wissenschaft- 
liche Erkenntnis  ohne  "Wert,   die  Metaphysik  hat  sich  ül)erhau])t  von 
allen  Theorien  einer  Geisterwelt  fern  zu  halten;   denn  diese  ist  nichts 
als  ein   blofses   ,,Schattenbild  der  Einsicht",   von  welchem   die  Philo- 
sophie uns  überzeugt,    ,.dafs  es  gänzlich    aufser    dem  Gesichtskreise 
der  Menschen    liegt/'     Die    geistigen    Wesen    sollen    Ursachen    der 
körperlichen  Erscheinungen  sein.     Nun  wissen  wir  aber  doch,    dafs 
die  Philosf)j)hie  bei    den   Verhältnissen   der   Ursache    und    \\']rkung, 
der  Substanz,  der  Handlung  u.  s.  w.  die  verwickelten  Erscheinungen 
auflöst  und  sie  auf  einfachere  Vorstellungen  zu  bringen  sucht:   ihi- 
Geschäft  ist  zu  Ende,    wenn   sie  hierbei    zu  den  Grundverh.-iltnissen 
gelangt  ist.     „Wie  aber  etwas  kr)nne    eine  Ursache  sein    oder  eine 
Kraft    haben,    ist    unmöglich,    jemals    durch    Vernunft    einzusehen, 
sondern   diese  Verhältnisse    müssen  lediglich    aus  der   Erfahrung 
hergenommen  werden.  Daher  dit^Grundbegrifft^  der  Dinge  als  Ursachen, 
die  der  Kräfte   und  HaiKllungen,   wenn   sie  nicht  aus  der  Erfahrung 
genommen  sind,   gänzlich  willkürlich  sind  und  weder  bewiesen,  noch 
widerlegt    werden    köuinen.      Ich    weifs  wohl,    dafs    das  Deida^n   und 
A\^)llen    meinen   Körper  bewege,    aber   ich  kann    diese  Erscheinung, 
als  eine  einlache   Erfahrung,   niemals  durch  Zergliederung   auf    eine 
andere   bringen    und  sie   daher  wohl  erkennen,    aber  nicht  einsehen. 
Dafs  mein   Wille  meinen   Arm  bewegt,  ist  mir  nicht  verständlicher, 
als   wenn    Jemand    sagte,    dafs   derselbe    auch    den   Mond    in   seinem 
Kreise  zurückhalten  könnte:     der  Unterschied    ist  nur    dieser,    dafs 
ich  jenes  erfahre,    dieses  aher    niemals   in    meine  Sinne    gekommen 

ist"  (:;7.s). 

Ich    erfahre    die    Undurchdiinglichkeit.    d.   h.    den  Widerstand 
eines  Objekts     in    dem   Eaunie    seiner    (Gegenwart,    und    abstrahiere 
daraus    den   allgemeinen   i^egrifi  der  Materie.     , .Dieser  Widerstand, 
der  etwas  in   dem  Eaunie    seiner   Gegenwart    leistet,    ist  auf  solche 
Weise  wohl   erkannt,    allein   darum  nicht    begriffen.      Denn  es 
ist  derselbe,    sowie  alles,    was  einer  Thätigkeit  entgegenwirkt,    eine 
wahre    Kraft,     und    da     ihi-e    Richtung    derjenigen    entgegensteht, 
wonach   die   fortgezogenen   Linien   der  Annäherung  zielen,   so  ist  sie 
eine  Kraft    der  Zurückstofsung.    welche    der   Materie    und    folglich 
auch  ihren   Elementen  mufs  h(Mg(degt  werden''  (:},■)( I).     Ebenso  lerne 
ich   durch    Beobachtung    die    Kraft    der  Anziehung    an   der  Materie 
kennen   und   schreibe  sie  dieser  als  eine  Grundkraft  zu.     „Dieieniüen 
welche  ohne  den   Beweis    aus  der   Erfahrung    in   Händen  zu   haben, 
vorher  sich  eine  solche  Eigenschaft  hätten   ersinnen  wollen,   würden, 
als  Thoren.  mit  Hecht  verdient  hahen,  ausgelacht  zu  werch^r'   (.'^79). 
Hier  aber  bin  ich  nun  auch  mit  meiner  Einsicht  zu  Ende.    ,.  Denn 


102 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II  ' 


nur  durch  die   Erfahrung    k;nni    man  inne  werden,    dal's  Dinu^e  der 
Welt,   welche  wir  materiell  nennen,   eine  solche  Kraft  hahen.    nie- 
mals a  her  d  i  e  M  ö  ^  1  i  c  h  k  e  i  t  d  e  r  s  e  1  b  e  n  b  e  jj^  r  e  i  f  e  n"  QVM)), 
Man  kann  noch   weiter  annehmen,    „ein  f]^cistii^es  Wesen   sei  nut  der 
Materie  innipjst  <^e,L?enwärtig,    mit  der  es  verbunden  ist,    und  wirke 
nicht     auf    diejenigen    Kriifte     der    Elemente,     womit    diese    unter 
einander  in  Verhilltnisseu  sind,    sondern  auf  das  innere  Principium 
ihres  Zustandes:   denn   eine  jede  Substanz,   selbst  ein   einfaches  Ele- 
ment der  Materie,    mufs  doch   irij^end  eine  innere  Thätii^dvcit.   als  den 
Grund  der  äufserlichen    Wirksamkeit  haben,    wenn   ich  gleich   nicht 
anzugeben    weifs.    worin    solche    bestehe"    OVM)).      Leil)niz    suclite 
diesen  Grund  in   einer  Vorstellun<i:skraft,  die  in  allen  einzelnen  Ele- 
menten der  Matei-ie  p^e.u^enwärtig    sein  sollte.     Indessen  sieht  jeder- 
mann  von  selbst,    „dafs,   wenn   man  auch   den   einfachen    P]lementar- 
teilen  der  Materie  ein  Vermögen    dunkhM-   Vorstellungen    zugesteht, 
daraus  noch  keine  Vorstellungskraft  der  jVIaterie  selbst  erfolge,   weil 
viel  Substanzen  von  solciicr  Art.   in  einem  Giiuzen  ver])unden.  doch 
niemals    eine    denkende    Einheit    ausmachen    können"    (:;:>T).     Man 
kann  hierüber  Vern)utungen  anfstellen.   aber  wissen  kann  man  es 
nicht,    weil    jene    geistige    Einheit,    der    letzte  Grund    der  Materie, 
niemals  in  der  Erfaiirung  gegeben  ist.  —  ,.I)is  auf  welclie  Glieder  der 
Natur    Leben     ausgebreitet    sei,     und    welche    dii^jenigen   Grade  der- 
selben  seien,    die  zunächst    an   die  V(>llige   Leblosigkeit  grenzen,    ist 
vielleicht     unm()glich,     jemals    mit    Sicherheit    auszumachen.      Der 
Hylozoismus    belel)t    alles,     der    Materialismus    dagegen,     wenn    er 
irenau    erwo^jen    wird,     tötet    alles.      Mau])ertuis    mafs   den   orga- 
nischen   Nahrungsteilchen    aller   Tiere    den  niedrigsten  Grad  Leben 
bei;    andere  riiilosophen  sehen   an   ihnen   nichts    als  tot(»  Klumi)en, 
welche  nur  dieiHMi.    das   Hebezeug  der  tierischen  ]\Iaschinen  zu  ver- 
gröfsern.      Das   ungezweifelte   Merkmal  des  Lebens  an   dem.    was  in 
unsere    äufseren    Sinne    fällt,     ist  wohl   die   freie    P>ewegung,     die  da 
blicken    läfst,    dafs    sie    aus    AVillkür    entsprungen    sei;    allein    der 
Schlufs  ist  nicht  sicher,  dafs,    wo  dieses  Merkmal   nicht  angetroffen 
wu'd,  aiudi  kein  Grad  des  Ijchens  betindlich  sei.      Ho  er  ha  ve  sagt 
an  einem  Orte:    Das  Tier  ist  eine  Pflanze,   die  ihre  Wurzeln  im  Magen 
(inwendig)  hat.      Vielleicht  könnte  ein  Anderer  ebensogut  mit  diesen 
Begriffen  si)ielen  und  sagen:    Die  Pflanze    ist  ein  Tier,    das  seinen 
Magen  in  der  Wurzel  (äufserlicli)  hat"    (Ho.S).     Alles  das  sind   un- 
erweisliche Vermutungen,   sie  haben  sogar,  als   „bestäubte,  veraltete 
Grillen,    den  Spott    der  Mode"    gegen  sich,    sind  aber  darum  doch 
niclit    ujigereimt,     „vornehndich   in    dem  Urteil  desjenigen,    der  das 
besondere   Leben    der    von    einigen   Tieren  abgetreiniten  Teile,    die 


I.   Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


103 


Irritabilität,   die  sowohl  erwiesene,    aber  auch  zugleich  so   unerklär- 
liche Eigenschaft  der  Fasern    eines  tierischen  Körpers    und  einiger 
Gewächse,  und    endlich    die   nahe  Verwandtschaft  der  Polypen  und 
anderer  Zoo])hyten    mit  den   Gewächsen   in   Betracht  ziehen   wollte" 
i'Söi)).      Kant    selbst    ist    überzeugt,    dafs    Stahl,    sofern    er    die 
tierisclien  Veränderungen  gern  organisch  erklärt,  oftmals  dei*  AVahr- 
heit  näher  sei  als  Boerhave  und  Andere,  welche  die  immateriellen 
Kräfte    aus    dem    Zusammenhange    lassen    und    sich    bh)l's    an    die 
mechanischen    Gründe   halten,     erklärt  aber    nichtsdestowein'ger  vom 
streng    wissenschaftlicln^n    Stand j)unkt    aus,    die    Berufung    auf  ini- 
nuiterielle  Prinzipien  sei  eine  blofse  ..Zullucht  der  faiden  Philosophie 
und  darum   auch  die  Erklärungsart  in  diesem  Gesclimack  nach  aller 
IVIöglichkeit    zu    vernu^iden,    damit    diejenigen    Gründe    der    Welt- 
erscheinungen ,     welche    aul"    den    Bewegungsgesetzen     der    blofsen 
]\Iaterie  beruhen  und  welche  auch   einzig  und  allein  der  Hegreiflich- 
keit    fähig    sind,    in  ihrem  ganzen   Umfang  erkannt  werden"  (ebd.). 
Alle  wirkliche  Wissenschaft  also  ist  Erfalirungswissenschaft  und 
führt    daher    über    die   Grenzen    der    Erfahrung    aiudi   nicht    hinaus. 
Die  Naturerscheinungen     „lassen   nur  eine    ])hysische     F^rklä'rung 
zu,    die    zugleich    mathematisch    ist    und    zusammen  nu'chaniscli   ge- 
nannt wii-d"   CA'u).     Der   Begriif    von    geistigen    Wesen    ist  wissen- 
schaftlich unzulässig.     „Er  kann  vollendet  sein,   aber   im   negativen 
Verstände,    indem    er    nändich    die   Grenzen    unserer   Einsicht   mit 
Sicherheit    festsetzt    und    uns    überzeugt,     dafs    die    verschiedeneu 
J^r  seh  e  i  n  u  ng  en    des    Lebens    in    der    Natur    u  Ji  d   deren 
Gesetze    alles    seien,    was    uns    zu    erkennen    vergiumt    ist.     das 
Principium    dieses    Lebens    aber,    die    geistige    Natur,    welche  man 
nicht  kennt,  sondern  vermutet,  niemals  positiv  könne  gedacht  werden, 
weil    keine    Data    hierzu    in    unseren   gesamten    Emj)tindungen    an- 
zutreffen sind,   und   dafs  man  sich  mit  Verneinungen  behelfen  müsse, 
um  etwas  von   allem  SinnliclaMi    so    sehr  Verschiedenes   zu    denken, 
dafs    aber    selbst   die    ^Möglichkeit    solcher  Verneinungen  weder  atif 
Erfahrungen,  noch  auf  Schlüssen  (?),   sondern  auf  einer  Erdichtung 
beruhe,    zu    denen    eine    von   allen  Hilfsmitteln  entblöifste  Vermmft 
ihre  Zullucht  nimmt"    (of)!!).      „Alle  solchen  Urteile,   wie   diejenigen 
von  der  Art.   wie  meine  Seele  den  Körper  bewegt   oder  mit  anderen 
AV^esen  ihrer  Art   jetzt    oder    kiniftig    im   \'erhältnis    steht,    köuinen 
niemals  etwas  mehr  als  Erdichtungen  sein,  und  zwar  bei  weitem 
nicht    einmal    von    demjenigen   Werte    als    die    in    der 
Naturwissenschaft,    welche    man   Hypothesen    nennt, 
bei    welchen    man    keine  Grundkräfte    ersinnt,    sondern    diejenigen, 
welche  man  durch  Erfahrung    schon    kennt,    nur   auf  eine  den   Er- 
scheinungen angemessene  Art  verbindet"  (378  f.j. 


r 


104 


B.    Kant  als  Naturphilosopli 


T.   Die  vorkritisehe  Naturphilosophie. 


105 


f:. 


m- 


Kant  war  davon  ausp;e^^ai)gen,  seiner  naturwissenschaftlichen 
Anschauung  durch  einen  metaphysischen  Unterbau  den  mutigen 
wissenschaftlichen  Halt  zu  geben.  Jetzt  zeigt  sich,  dafs  man  die 
Grenzen  der  Wissenschaft  überschreitet,  sobald  man  deu  Boden 
der  naturwissenschaftlichen  Erklärungsart  verläfst.  und  dal's,  wenn 
es  überhau])t  ein  Metaphysisches  hinter  dem  Physischen  giebt.  das- 
selbe für  uns  doch  unerkennbar  ist.  Er  hatte  seine  aus  der  Er- 
fahrung gewonnenen  naturwissenschaftlichen  Hypothesen  nachträglich 
auch  durch  die  Verimnft  begreifen,  d.  h.  a  priori  ableiten  wollen, 
um  sie  dadurch  in  den  Kang  allgemeingültiger  Wahrheiten  zu  er- 
heben. Jetzt  erkennt  er,  dafs  „die  Vernunftgriinde  in  dergleichen 
Fällen  weder  zur  Erfindung,  noch  zur  Bestätigung  der  ^Miiglichkeit 
oder  Unm(')glichkeit  von  der  mindesten  Erheblichkeit"  seien,  und 
dafs  es  nur  Einen  Weg  der  Erkenntnis  giebt,  nändich  den  Wvg 
a  posteriori  (;\1[)).  Genau  genommen,  sind  freilich  bei(k'  Wege 
gleich  unzulänglich.  „Man  mufs  wi^son,''  sagt  Kant,  „dafs  alle 
Erkenntnis  zwei  Enden  hal)e.  bei  denen  man  sie  fassen  kann:  das 
eine  a  priori,  das  andere  a  posteriori.  Zwar  haben  verschiedene 
Naturlehrer  neuerer  Zeit  vorgegeben,  man  müsse  es  bei  dem  letzteren 
anfangen,  und  glauben,  den  Aal  der  Wissenschaft  beim  Schwänze 
zu  erwischen,  indem  sie  sich  grausamer  Krfahrungserkenntnisse  ver- 
sichern und  dann  so  alhnählich  zu  allgemeinen  und  höheren  He- 
griffen hinaufrücken.  Allein  ob  dieses  zwar  nicht  unklug  gehandelt 
sein  möchte,  so  ist  es  doch  n  e i  weitem  nicht  g e  1  e h  r  t  u n d 
philosophisch  genug;  denn  man  ist  auf  diese  Art  bald  auf 
einem  Warum,  worauf  keine  Antwort  gegeben  werden  kann,  welches 
einem  Philosophen  gerade  so  viel  Ehre  macht  als  einem  Kaufmann, 
der  bei  einer  Wechselzahlung  freundlich  bittet,  ein  andermal  wieder 
anzusprechen.  IJaher  haben  scharfsinnige  Männer,  um  diese  Un- 
bequemlichkeit zu  vermeiden,  von  der  entgegengesetzten  äufsersten 
Grenze,  nändich  dem  obersten  Punkte  der  Metaphysik  angefangen. 
Es  findet  sich  aber  hierbei  eine  neue  Peschwerlichkeit,  nändich 
dafs  man  anfängt,  ich  weifs  nicht  wo,  und  kommt,  ich  weifs  nicht 
wohin,  und  dafs  der  Fortgang  der  Gründe  nicht  auf  die  Erfahrung 
treffen  will,  ja,  dafs  es  scheint,  die  Atome  des  Epikur  dürften  eher, 
nachdem  sie  von  Ewigkeit  her  immer  gefallen,  einmal  von  ungefähr 
zusammenstofsen,  um  eine  Welt  zu  bihlen  als  die  allgemeinsten 
und  abstraktesten  Begriffe,  um  sie  zu  erklären.  Da  also  der  Philo- 
soph wohl  sah,  dafs  seine  Vernunftgründe  einerseits  und  die  wirk- 
liche Erfahrung  oder  Erzählung  andrerseits,  wie  ein  paar  I^arallel- 
linien,  wohl  ins  Unendliche  neben  einander  fortlaufen  würden,  ohne 
jemals  zusammen  zu  treffen,    so  ist  er  mit  den  übrigen,    gleich  als 


« 


wenn  sie  darüber  Al)rede  genommen  hätten,  übereingekommen,  ein 
jeder  nach  seiner  Art  den  Ausgangspunkt  zu  nehmen  und  darauf 
nicht  in  gerader  Linie  der  Schlufsfolge.  sondern  mit  einem  un- 
merklichen Clinarnen  der  Beweisgründe,  dadurch  dafs  sie  nach  dem 
Ziele  gewisser  Erfahrungen  oder  Zeugnisse  verstohlen  hinschielten, 
die  Vernunft  so  zu  lenken,  dafs  sie  gerade  hintreffen  nuifste.  wo 
der  treuherzige  Schüler  sie  nicht  vermutet  hatte,  nämlich  dasjenige 
zu  beweisen,  wovon  man  schon  vorher  wufste,  dafs  es  sollte  be- 
wiesen werden.  Diesen  A\'eg  nannten  sie  alsdann  noch  den  Weg 
a  priori,  ob  er  gleich  wohl  unvermerkt  durch  ausgesteckte  Stäbe 
nach  dem  Punkte  a  posteriori  gezogen  war.  wobei  aber  billiger- 
mafsen,  der  so  die  Kunst  versteht,  den  Meister  nicht  verraten 
mufs-'  (:^lil)f.). 

Das  klingt  nun  so  sp()ttis(']i  und  widerspricht  so  sehr  seiner 
eigenen  neuen  Methode,  dafs  Kant  an  der  Möglichkeit  der  Er- 
kenntnis überhaui)t  einen  Au,uerd)lick  verzweifelt  zu  liaben  scheint. 
Kant  war  offenbar  von  jener  Methode  selbst  nicht  befriedigt  und  schaute 
sehnsüchtig  nach  einem  festeren  Boden  unter  seinen  h'iifsen  aus.  Er 
war  am  Ende  seiner  ursprünglichen  Bestrebungen  angelangt  und  be- 
fand sich  mitten  im  Fahrwasser  des  Skeptizismus,  von  dessen  Wogen 
er  sich  mit  forttreiben  liefs.  Die  Nichtigkeit  der  bisherigen  ^letaphysik 
hatte  sich  ihm  in  ihrer  ganzen  Nacktheit  «Mithüllt,  und  doch  konnte  er 
sie  nicht  so  schlechthin  verwerfen  :  behauptet  er  doch  selbst,  nun  ein- 
mal das  Schicksal  zu  haben,  in  sie  verliebt  zu  sein,  ob  er  sich  gleich 
von  ihr  nur  selten  einiger  Gunstbezeugun^en  rühmen  könne  (HTf)). 
Freilich  Wissenschaft  vom  Übersinnlichen  kann  sie  nicht  mehr 
sein,  wenn  anders  nur  eine  Wissenschaft  dcF  Erfahrung  möglich  ist. 
Aueh  kann  si(^  nicht  zur  Stütze  der  Reli^n'on  und  ^loral  mehr  diencMi 
und  Hüterin  des  Glaubens  sein,  wenn  (^in  und  dieselbe  Meta})hysik 
die  Sittlichkeit  ebenso  fördern,  wie  UnsitthChkeit.  Unsinn  und 
Schwärmerei  gebären  kann.  Soll  die  Metaj)hysik  überhaupt  noch 
eine  Stellung  innerhalb  der  Wissenschatt.  wie  früher.  behauj)ten,  so 
kann  sie  mithin  nur  Wissenschaft  des  Wissens  der  P]rl*ahrung, 
d.  h.  Erk  en  n  t  n  i  sl  e  hre,  sein.  Die  Metaphysik  mufs  ihr  Wesen 
darin  setzen,  „einzusehen,  ob  die  Aufgabe  aus  demjenigen,  was  man 
wissen  kann,  auch  bestimmt  sei.  und  welches  W'rhältnis  die  Frage 
zu  den  Erfahrungsbegriffen  habe,  (birauf  sich  alle  unsere  Urteile 
jederzeit  stützen  müssen.  Insofern  ist  die  Metai)hysik  eine  Wissen- 
schaft von  den  Grenzen  der  menschlichen  Vernunft" 
(ebd.).  Wenn  sie  diesen  Weg  der  Bethätigung  einschlägt,  so  wird 
sie  „die  Begleiterin  der  Wahrheit."  Eine  solche  Meta- 
physik betrachtet    nicht  die  Gegenstände   als  solche,    sondern  deren 


ms       n 

In 


106 


B.    Kant  aLs  Naturi)liil(»s()pli. 


ff  ' 


i.  JJie  vorkritische  Naturpliil()soi)hie. 


107 


1* 


l»  = 


Yei-lifiltiiis  zum  inensclilichen  V^erstande.  Damit  ziehen  zwar  ihre 
Grenzen  sich  en.c:er  zusammen,  aber  die  Marksteine  werden  f^elegt, 
welche  die  Nachforschung'  aus  ihrem  ei^^entinnlichen  Bezirke  niemals 
mehr  ausschweifen  hissen  (^»71).  In  diesem  Sinne  schi-eiht  Kant 
an  Mendelssohn  (im  A])ril  17()()):  ylch  hin  soweit  entfernt,  die 
Metaphysik  selbst,  objektiv  erwo^^en.  für  ^M'rini;  oder  entl)ehrlich  zu 
lialten,  dafs  ich  vornelimüch  seit  einii^^er  Zeit,  nachdem  ich  g]au})e, 
ihre  Natur  und  die  ihr  unter  den  menschliclien  Erkenntnissen  eigen- 
tümliche Stelle  einzusehen,  ül)erzeugt  l^n.  dal's  sogar  das  wahre 
und  dauerhafte  Wohl  des  menschlichen  Geschleclites  auf  sie  an- 
komme"  (VIIT.  ()7:i).   — 

Es  war  niitig,  (hifs  Kant  diese  letzten  Konse(iuenzen  des  Empiris- 
mus zog,  mit  denen  er  sich  am  w^eitesten  von  seinem  ursprünglichen 
Ausgangspunkt  entfernte,  um  gerade  durch  das  klai'e  Eewufstsein 
dieser  Konsequenzen  zur  Überwindung  aucli  seines  nunmehrigen 
skeptischen  Stand])uid<tes  veraiilalst  zu  werden.  Kant  mulste  erst 
an  sich  selbst  die  ganze  Herzensnot  des  auiVichtigen  AVahrlieits- 
forschers  durchkosten,  der  sich  auf  ein  Meer  von  Einwanden  und 
Schwierigkeiten  hinausgeschleudert  sieht,  er  mufste  erst,  wie  JJes- 
cartes,  an  aller  Wahrheit  sel])st  und  ihrer  Erkennbarkeit  für  den 
menschlichen  Geist  verzweifeln  lernen,  ehe  er  unter  dem  treil)enden 
Bewufstsein  der  Notwendigkeit  dieser  Aufgabe  sein  grol'ses  Werk 
in  Angriff  zu  nehmen  und  die  unstät  umlierirreiide  menschliche  Er- 
kenntnis auf  den  ri(^htigen  W\'g  zu  leit(Mi  vei-mochte.  Was  ihn  vor- 
erst (hizu  hewog,  dem  Skej)tizismus  den  Hucken  zu  wenden  und 
sich  wied(>rum  seinem  alten  Standpunkte  des  Kationalismus  an- 
zuniihei-n.  (Las  war  das  I^'oblem  der  Mathematik,  das  während 
der  ganzen  nächsten  Zeit  im  Vordergründe  seiner  Untersuchungen 
stand,  und  zu  w(dchem  er  letzten  Endes  auch  nur  wiederum  durch 
naturphilosoj)hische  Erwägungen  gel'ührt  wurde. 

Bereits  bei  der  ersten  metaphysischen  Grundh'gung  seiner  dyna- 
mischen Naturanschauung  in  der  Physischen  Monadologie  war  die 
Mathematik,  wie  wir  gesellen  h.aben,  mitbestimmend  für  die  be- 
sondere Ausgestaltung  dei"  kantischen  Monadeidehre  gewesen.  Das 
Hauptbestreben  K:nits.  den  Dynamismus  Newtons  mit  den  An- 
schauungen der  leibniz-wolfHschen  Schule  auszusöhnen,  schlofs  es  ja 
als  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  in  sich  ein.  den  Widerspruch  zu 
heben,  wie  er  inbetreff  des  Kaumes  zwischen  der  mathematischen 
Physik  und  der  Meta])hysik  best;ind.  Die  Meta])hysiker  aus  der 
Schule  von  Leibniz  schrieben  dem  Kaunie  und  damit  der  mathe- 
matischen Betrachtungsweise  blol's  ])hysische  Bedeutung  zu :  sie 
leugneten,   dafs  er  mehr  sei  als  eine  rein  subjektive  Erscheinun'^  weil 


I" 


die  Monade,  metaphysisch  betrachtet,  einfach,  der  Kaum  dagegen 
ins  Unendliche  teilbar  sei.  Unter  der  Voraussetzung  der  prä- 
stabiiierten  Harmonie  war  alles  Physische,  wie  die  Bewegung  der 
Atome  im  Kaume,  ihre  Einwirkung  auf  einander  u.  s.  w,,  nur 
subjektiv  bedingt,  eine  Yorstellungsart,  unter  der  blol's  wir  die  Dinge 
betrachten,  solange  wir  nicht  auf  ihr  eigentliches  AVes(^n  retiektieren. 
Nach  Kant  dagegen  war  der  Kaum  zwar  auch  Erscheinung,  a.ber 
nicht  blofs  subjektive,  sondern  obj  ekti  ve  Erscheinung,  bewufstseins- 
transcendentes  Produkt  der  wechselseitigen  Einwirkung  der  Alonaden 
auf  einander,  unendlich  teilbar,  wie  die  Mathematik  verlangt,  un- 
besclnidet  der  Einfachheit  der  ihn  ])roduzierenden  Monaden.  So 
nahm  er  eine  Art  Mittelstellung  zwischen  der  reinen  Monadenwelt 
als  solchen  und  ihrer  Erscheinung  im  Bewufstsein  ein.  Man  konnte 
ihn  mit  Leibniz  ein  „Verhältnis  der  Erscheinungen"  nennen,  wo- 
fern man  dies  nur  nicht  in  rein  subjektivem  Sinne  verstand.  ]\Ian 
konnte  ihn  aber  auch  unter  den  Dingen  an  sich  aufzählen,  insofern 
er  ein  Jenseits  des  Bewufstseins  darstellte,  welches  in  diesem 
gleichsam  abgespiegelt  wird.  Man  mulste  sich  nur  gegenwärtig  halten, 
dafs  der  Raum  nur  in  und  an  den  Dingen  (Monaden)  wirklich  ist 
und  vei'schwindet.  sobald  man  diese  letzteren  aufhebt.  Bei  dieser 
Anschauung  gewann  die  mathematische  Betrachtungsweise  zugleich 
objektive  Bedeutung:  das  Physische  ward  zum  J(Miseits  des  Be- 
wufstseins, es  trat  zu  seinem  Produzenten,  dem  Metaphysischen,  in 
Beziehung,  und  wenn  es  den  Kegeln  der  ]\lathematik  sich  fügte,  so 
bewies    es    damit    die   transcendente  (Gültigkeit    der  mathematischen 

Gesetze. 

Solange  Kant  noch  auf  rationalistisch-dogmatischem  Boden  stand 
und  es  für  selbstverständlich  hielt,  dal's  der  subjektive  ]\aum  im 
Bewufstsein  mit  dem  objektiven  Kaum  der  Dinge  draulsen  üherein- 
stimmte,  solange  schien  ihm  jene  Auffassung  keine  Schwierigkeiten  dar- 
zubieten. Als  er  nun  aber  von  seinen  natui'])hiloso])hisclien  Speku- 
lationen fort  und  immer  tiefer  in  das  Gebiet  der  Erkenntnistheorie 
hinein  geriet,  als  er  die  Frage,  wie  unsere  Erkeniitnis  zustande-  kommt, 
mit  dem  Empirismus  dahin  glaubte  beantworten  zu  müssen,  dal's  alle 
unsere  Vorstellungen  aus  der  Erhthrung  stammen,  da  sah  er  sich 
plötzlich  vor  die  Krage  gestellt,  ob  auch  unsere  Kaumanschauung 
ein  Produkt  der  Erfahrung  sei,  und  wie,  wenn  dies  der  Fall,  die  A  po- 
diktizität  der  Mathematik  bestehen  könne.  Dafs  die  Mathe- 
matik eine  AVissenschaft  von  strengster  Allgemeingültigkeit  und  Not- 
wendiLdveit  sei,  an  dieser  Grundüberzeugung  des  Kationalismus  hatte 
Kant  niemals  gezweifelt.  Übertraf  doch  jene  nach  seiner  Über- 
zeugung in  dieser  Beziehung  alle  anderen  Wissenschaften,  so  dafs  sie 


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108 


r^.    Kant  als  Naturphilosoph. 


ihnen  ^rcradezu  als  Muster  dienen  konnte.  Diese  Evidenz  der  Mathe- 
matik schien  unbe^^reiflich,  sohald  man  den  Raum  für  einen  hlofsen 
Erfahrun-sbegriti*  erklärte;  Hume  hatte  -anz  Hecht,  von  diesem 
Gesichtspunkt  aus  die  Allgeniein-Ülti^rkeit  der  mathematischen  Sätze 
für  die  Erfahrungs-egenstände  zu  bestreiten.  „Denn.-'  wie  Kant 
in  seiner  Dissertation  „De  m  u  n  d  i  sensibilis  atcjue  intelligi- 
bilis  forma  et  principiis"  vom  Jahre  1770  bemerkt,  „wenn 
alle  P]igenschaften  des  Raumes  nur  durch  die  Ei-fahrun^  von  äufseren 
Verhältnissen  abgeborgt  sind,  so  bleibt  den  geometrischen  Axiomen 
keine  andere  A  llge  m  ei  ng  ii  Itigkeit  übrig,  als  die  bh)fs  kompara- 
tiv ist.  wie  man  sie  durch  Steigerung  (Induktion)  erhält,  d.  h.  die 
so  weit  reicht  als  die  Wahrnehmung,  keine  andere  Notwendig- 
keit, als  wie  sie  nach  den  aufgestellten  Gesetzen  der  Natur  sein 
kann;  keine  andere  A  b  ge  m  es  s  en  h  ei  t  (praecisio),  als  wie  sie  die 
Willkür  erdichtet;  ja,  man  kann  wohl  noch  hoffen,  wie  es  im  Em- 
pirischen zu  geschehen  pHe,i,-t,  dafs  man  noch  einst  einen  Raum  ent- 
decken werde,  der  mit  ganz  anderen  ursprüngliclien  Eigenschaften 
versehen,   etwa  zweilinig  oder  geradelinig  sei"    (II.   411). 

AV^as    war    denn    ül)erhaupt    der    Raum    als    solcher,    ganz    ab- 
gesehen   davon,    wie    er    in    unser    Hewufstsein    hineinkommt?     Die 
grundle^^ende    Voraussetzung    des   Leibniz    war  es    gewesen,    dafs 
die  Thätigkeit  der  Moiuide  in  ihrer  Vorstellungskraft  be^rründet  und 
folglich  auch  der  Raum,  als  gesetzt  durch    die  vorstellende  Thätig- 
keit der  Monaden,   in  logische  oder   begritfliche  Elemente   auflösbar 
sei.     Nun    war   aber,     wie    Kant    in    seiner    Untersuchung    über    die 
Deutlichkeit    der    Grundsätze    gezeigt    hatte,    die    Mathematik    eine 
synthetische    Wissenschaft    und    unterschied    sich    eben   dadurch 
von   der  Metai)hysik.   dafs  sie  ihre  Objekte  aus  der  Anschauung 
entnimmt  und  sie  dabei  mit  souveräner  Willkür  unter  einander  ver- 
bindet.     Kr  hatte  auch  eben   dort  den  Raum,    ebenso  wie  die  Zeit, 
unter   den  nicht    weiter  analysierbaren   „Grundbegriffen"    aufgezählt 
(II.  L^SS),   und  bereits  in  seiner  Schrift  über  die;  negativen  Gröfsen 
es  der  Metaphysik  zum   Vorwurf  gemacht,   dafs  sie  den  Raum   „auf 
eine  ganz  abstrakte  Art  denkt,"  anstatt  sich  an  die  Mathematik  zu 
halten  und  sich  von  ihr  belehren    zu  lassen,    wenn  es  sich   um   „die 
Natur  des  Raumes"  handelt,   „und  den  ersten  Grundsatz,   daraus  sich 
dessen  Müglichkeit  verstehen  lälst"   (II.  7'J).     Mit  anderen  Worten: 
der    Raum,    worin    sich    die    (3bjekte    der  Geometrie    befinden    und 
aus  dem  sie  durch  die  Anschauung  entnommen  werden,  schien  über- 
haupt nicht  begrifflicher  Natur  zu  sein;  denn   unter  dieser  Voraus- 
setzung blieb  nicht  blofs  der  synthetische  Charakter  der  Mathematik, 
sondern    auch    die    Thatsache    unerklärlich,    dafs    sich    die    Raum- 


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I.   Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


J09 


Vorstellungen  nicht  begriiYlich  analysieren  liefsen.  obwohl  sie  doch 
bei  ihrer  sinnlichen  und  anschaulichen  Natur  noch  keineswegs  reine 
Begriffe  waren.  Dies  brachte  Kant  dazu,  dem  eigentlichen  Wesen 
des  Raumes  nachzuspüren.  Die  Resultate  seiner  Untersuchung 
hat  er  uns  in  einer  kleinen,  aber  hfichst  wichtigen  Abhandlung 
,.Von  dem  ersten  Grunde  des  Unterschiedes  der 
Gegenden  im  Räume"  (17()S)  mitgeteilt,  womit  er  bereits  an 
die  Thüre  der  kritischen  Philoso))hie  anklopfte. 

Kongruente  Figuren  und  (gegenstände  decken  sich  nicht  immer. 
Ein  Schraubengewinde.  wx4clies  um  seine  Spindel  von  der  Jiinken 
zur  Rechten  läuft,  wird  in  eine  solche  Mutter,  deren  Gänge  von  der 
Rechten  gegen  die  Linke  laufen,  selbst  dann  nicht  ])assen,  wenn  die 
Dicke  der  Spindel  und  die  Zahl  der  Sclii-aubengänge  in  .i^^leicher 
Höhe  einstimmig  wären.  Die  sphärischen  Dn^ecke.  die  rechte  und 
die  linke  Hand.  überhauj)t  die  symmetrischen  Gliedmafsen  des  Kcu'pers, 
die  Hand  und  ihr  Bild  im  Spiegel  u.  s.  w..  sie  alle  kr>nnen  (>iiiander 
völliir  gleich  und  ähnlich  sein,  und  doch  sind  die  Grenzen  der  einen 
nicht  auch  zugleich  die  Grenzen  der  anderen.  Die  GnUse  der  Gegen- 
stände und  die  Laf^en  ihrer  einzelnen  Teile  gegen  einander  stimmen 
völlig  überein.  so  dafs  die  Beschreibung  des  einen'  ganz  ebenso  auch 
auf  den  anderen  pafst,  und  doch  besteht  zwischen  ihnen  eine  Ver- 
schiedenheit, die  sich  der  Bestimmuiii,^  des  begrifflichen  Denkens 
ganz  und  gar  entzieht  und  mithin  nur  „auf  einem  inneren  (Grunde" 
beruhen  kann.  Man  mufs  A  nscha  u  u  n  i,m' n  zu  Hilfe  nehmen.  Be- 
stimmungen, wie  rechts  und  links,  oben  und  unten,  vorne  und 
hinten  u.  s.  w.,  d.  h.  man  mufs  sich  auf  einen  absoluten  Raum 
beziehen,  wenn  man  solche  Gegenstände  von  einander  unterscheiden 
will.  „Denn  die  La^^en  der  Teile  des  l^aumes  in  Hezii^hung  auf 
einander  setzen  die  Gegend  voi-aus.  nach  welcher  sie  in  solcli<'m  Ver- 
hältnis geordnet  seien,  und  im  abf^^ezogensten  Verstände  besteht  die 
(Dregend  nicht  in  (]vv  Beziehung  eines  Dinges  im  Räume  auf  das 
andere,  welches  eigentlich  der  Hegriff  der  Lage  ist,  sondern  in  ilem 
Verhältnisse  des  Systems  dieser  La^en  zu  dem  absoluten  AVeltraume. 
Bei  allem  Ausgedehnten  ist  die  Lage  seiner  Teile  gegen  einander 
aus  ihm  selbst  hinreichend  zu  ei-k(Mnien :  die  Gegend  aber,  wohin 
diese  Ordnun^^  der  Teile  gerichtet  ist.  !)ezieht  sich  auf  den  Raum 
aufser  demselben,  und  zwar  auf  den  allgemeinen  Raum  als 
eine  Einheit,  w  o  v o  n  j  e d  e  A  u  s  d e  h  n  u  n  g  wie  ei  n  T  e  i  1  a  n  - 
gesehen  weiden  mufs"  (IL  385  f.).  Ist  dies  richtig,  dann 
kann  nicht,  wie  Kant  es  bis  dahin  selbst  angenommen  hatte,  der 
Raum  das  Produkt  der  wirklichen  Dinge  sein  und  „nur  in  dem 
äufseren  Verhältnis  der  neben  einander  belindlichen  Teile  der  Materie" 


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110 


B.    Kant  als  Naturpbilosoph. 


I.  Die  vorkritisclie  Natnrphilosopliie. 


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bestehen.  Dann  ist  es  klar,  ..dafs  niclit  die  Restininiuni^^en  des 
Kainnes  Fol^^en  von  den  La^^en  der  Teile  der  Materie  gegen  ein- 
ander, sondern  diese  Folgen  von  jener  sind,  nnd  dafs  also  in  der 
Bescliaffenlieit  der  Körper  Unterscliiedi^  angetrolfen  werden  können, 
und  zwar  wahre  Unterschiede,  die  sich  lediglich  auf  den  absoluten 
und  ursprünglichen  Raum  beziehen,  weil  nur  durch  ilni  das 
Yerhiiltnis  körperlicher  Dinge  möglich  ist"  fi^DI). 

Der  Kanni  ist  „kein  Gegenstand  einer  äufseren  Empfindung" 
(.-^91),  wäe  Hu  nie  annimmt.  Er  ist  auch  nicht,  wie  Tieihniz  be- 
hauptet, ein  „Begriff,  der  aus  der  Abstraktion  von  dem  Verhältnis 
wirklicher  Dinge  entspringt"  (i^SB).  Der  llaum  ist  ein  „Grund- 
begriff," der  alle  P]mplindungen  und  Gegenstände  überhaupt  erst 
nifiglich  macht  (:>!)!).  Er  ist  eine  ,, Realität,  welche  d(Mn  inneren 
Sinne  anschauend  ist'*  (ehd.).  Wir  sind  ,, durch  eine  klare  Em- 
pfindung" in  den  Stand  gesetzt,  die  verschiedtMKMi  Richtungen  der 
Lagen  eines  Körpers,  ungeachtet  ihrer  grolsen  äufseren  Ahidichkeit, 
unmittelbar  zu  unterscheiden  (8(SJ)). 

Damit  hat  Kant  seine  frühere  Anschauung  aufgegeben  und 
sich  aucli  in  diesem  Punkte  ganz  auf  die  Seite  von  Newton  und 
Clark  e  gestellt.  „Ein  nachsinnender  Leser  wir<l  den  Begriff  des 
Raumes,  so  wie  ihn  der  iMel'skiinsth'r  denkt,  und  auch  Scharf- 
sinn i  g  e  P  h  i  1  o  s  oph  e  n  ihn  in  den  Le  hr  b  egr  i  f  f  der  N  atur- 
w  i  s  s  e  n  s  c  h  a  f  t  a  u  f  g  e  n  o  m  m  e  n  h  a  h  e  n  ,  nicht  für  ein  blofses 
Gedankending  ansehen"  (.'>})  1).  Kant  will  —  im  Gegensatze  zur 
Metaphysik  —  „den  JVIelskiinsthu'u  einen  übei'zeugcMiden  Grund  an 
die  Hand  geben,  mit  der  ihnen  gewöhnlichen  Evidenz  die  Wirklich- 
keit ihres  absoluten  Raumes  hehaupten  zu  köuinen."  Er  will  aus 
„den  anschaueuden  Urteilen  der  Ausdehmmg.  dei'gleichen  die 
Mefskunst  enth.ält" ,  einen  „evidenten  Beweis"  dafür  liefern, 
„dafs  der  absolute  Raum  uriahhängig  von  dem  Da- 
sein aller  Materie  und  selbst  als  der  erste  Grund 
der  Möglichkeit  ihrer  Zusammensetzung  eine  eigene  Reali- 
tät habe"   (:;8(i). 

Befindet  sich  somit  alles  Seiende  im  Räume  und  ist  es  eben 
deshalb  selbst  räundicher  Natur,  so  gieht  es  foli^dich  keine  unräum- 
liche, intelligibele  Welt,  wie  sie  die  Voraussetzung  aller  bisherigen 
Metaphysik  gebildet  hatte,  so  ist  die  Metaphysik,  als  Wissenschaft 
vom  Übersinnlichen,  ein  leeres  Spiel  der  Einbildungskraft,  und  die 
Wissenschaft  der  Natur,  von  welcher  Kant  ursprünglich  ausgegangen 
war,  und  der  er  nur  einen  metaphysischen  Untergrund  verschaffen  wollte, 
zur  Wissenschaft  schlechthin  erklärt.  Zugleich  findet  damit  auch 
der  synthetische  Charaktei*  der  Mathematik  seine  metaphysische  Be- 


; 


; 


gründung.  Wenn  der  anschauliche  Raum  gleichsam  die  ontologische 
Bedingung  der  mathematischen  Objekte  bildet,  so  reicht  natürlich 
auf  diesem  Felde  das  rein  begriffliche  Denken  nicht  aus,  so  mufs 
man  sich  an  die  konkrete  Anschauung  wendi'U.  um  die  verschieden- 
artigen Kombinationen  jener  Objekte  zu  verstehen.  Und  wiMter  fällt 
auch  die  Besorgnis  fort,  es  möchten  uns  einmal  Gegenstände  vor- 
kommen, die  mit  den  Gesetzen  des  Raumes  etwa  nicht  üherein- 
stimmen.  Ist  der  Raum  ein  unendlicher  Behälter,  der  alles  umfafst, 
und  aufser  welchem  nichts  vorhanden  ist,  dann  müssen  aucli  ,tlle 
Dinge  seinen  Gesetzen  unterworfen  sein,  und  es  kaini  keine  Er- 
scheinungen im  Räume  geben,  denen  mit  der  mathematischen  Be- 
trachtuii'isweise  nicht  beizukommen  wäre.  W\{  anderen  Worten: 
die  Annahme  des  absoluten  Raums  löst  alle  Schwierigkeiten,  die 
der  früheren  Ansicht  Kants  über  den  Raum  anhafteten :  sie  hält 
die  Apodiktizität  der  Mathematik  gegenüber  den  Angriifen  des 
Empirismus  aufrecht,  ohne  doch  prinzipiell  einen  anderen  Standpunkt 
einzunehmen  ;  sie  erklärt  ihre  Sonderstellung,  welche  sie  inb)lge  ihres 
synthetischen  Charakters  allen  andern  Wissenschaften,  insbesondere 
der  Metaphysik  gegenüber  inne  hat.  und  dies  alles,  indem  sie  sich 
auf  die  Anschaulichkeit  stützt,  von  der  es  feststeht,  dafs  sie  allein 
jene  synthetische  Natur  erm()glicht. 

Dennoch  verhehlt  sich  Kant  nicht,  dafs  es  auch  dieser  Annahme 
des  absoluten  Raumes  „nicht  an  Schwierigkeiten  fehlt"  f.")!)  1).  Kant 
hätte  nicht  se]l)st  Rationalist  sein  müssen,  l'iir  welchen  das  sich 
AVidersprechende  auch  nicht  real  sein  konnte,  um  sich  In'i  (h-m 
logischen  Widersinne  einer  vollendeten  oder  gegebenen  Unendbclikeit 
zu  beruhigen,  wie  ihn  jene  Annahme  in  sich  schlofs.  Es  ist  wahr, 
er  selbst  hatte  früher  in  seiner  Kosmogonie  die  Ausdehiunig  der 
Welt  und  ihre  zeitliche  Dauer  für  eine  unbegrenzte  ausgegeben 
und  in  seiner  Schi'ift  über  die  negativen  Gröfsen  hatte  er  den 
mathematischen  Begriff  des  unendlich  Kleinen  denjein"gen  Philos()j)hen 
seirenüber  verteidi*j:t.  die  denselben  nur  so  einfach  als  einen  er- 
dichteten  verwarfen.  Indessen  hatte  es  sich  dort  doch  nur  um 
eine  ganz  allgemeine  Behauptung  vom  Stan(l))unkte  der  Natur- 
wissenschaft aus  gehandelt,  deren  meta])hysische  Berechtigung  er 
damals  noch  garnicht  hatte  prüfen  wollen,  und  hier  hatte  er  jenen 
Begriff  des  unendlich  Kleinen  nur  als  eine  AVafb'  d(^r  Polemik  ge- 
braucht, um  mit  ihm  die  unbegründeten  Anmafsungen  der  Meta- 
physiker  zurückzuweisen.  Nun  aber  sollte  dieser  Begriff  des  Unend- 
lichen selbst  eine  metaphysische  Wahrheit  sein,  und  das  vermochte 
Kant  niemals  zuzugeben,  weil  es  seiner  im  Grunde  doch  immer 
rationalistischen  Denkart  widersprach. 


112 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


113 


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Der  anschauliclie  Kaum,  als  die  reale  Bedingung  und  gleichsam 
das  Gefäfs.  welches  alle  Dinge  in  sich  hefafst,  mufs  als  unendlich 
vorgestellt  werden  und  verlangt,  dafs  auch  die  Welt  unendlich  sei 
und    aus    unendlich   vielen   Teilen   bestehe,     von   denen    ein   iei^dicher 

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seihst  wiederum  unendlich  klein  sein  muls.   weil  er,  als  ein  im  Kaum 
befindlicher  und  daher  selbst  räumlicher,  unendlich  teilhar  sein  mufs. 
Es  giebt  also  unter  jener  \'()raussetzung  im  Universum  keine  (iren/en, 
weder    nach    oben,    noch     nach     unten.       Es    giebt    kein    Einlaches, 
woraus    die  Welt   zusammengesetzt    wäre,    kein  Zusammengesetztes, 
das   kein   Teil    mehr  ist   und   das   man   d  tlier   mit  dem    Namen    Welt 
bezeichnen  kiinnte.    Auf  (h^-  aiidei-en  Seite  mul's  die  Welt,  als  der  reale 
Inbegriff  aller  (einzelnen  Dinge,   beschränkt   und.   als  ein  Zusammen- 
gesetztes, aus  einlachen  Teilen  l)estehend  sein.      Es  ist  denknotwendig, 
dafs    ein  Zusammengesetztes,    wie    die   Welt,    endlich   ist.     und   dafs 
die    Teile,    die    irgend    ein    Zusammengesetztes    bilden,    auch    eine 
bestimmte    Gnifse    hnben    (TT.     'MH.     rJ'J).     Nach    der    Phvsischen 
Monadologie   bestand   der    Iviirjx^r  aus    einer    bestimmten   Anzahl 
einfacher    Teile    (ein    Satz,    der    freilich    auffälliger    Weise    in    der 
Dissertation  von  Kant  verwm-fen   wird   |I1.    rj'J|):  di(^  Kraft    seiner 
Elemente  sollte  eine  bestimmte  sein,   und  demgemäfs  hiefs  es  in  dem 
neuen   Lehrbegrilf  der    IJewegunj:  und    Ivuiie:   ,.  Ks  mag  ein   noch   so 
unendlich    kleines  iVIoment    sein,    womit    er    (der  Körper)    in   einem 
Augenblicke  wirkt,  und  wcdches  sich  in  einem  bestimmten  Zeitteilchen 
zu  einer    gegebenen   G (^schwind ii^dveit    hiiuft.     so    ist    dieses  ]\b)ment 
immer    eine    ]>  1  (i  t  z  1  i  c  h  e    Wirkung"    (II.    'i'J).    d.   h.    es    besitzt 
einen  ganz   bestimmten  (irad   von  Kraft,   ohne  welclien  jene  Wirkung 
überhaupt   nicht  in   (h'e  Erscheinung  treten  würde.     Es   mufste   Kant 
alles  daran  gelegen  sein,   die  Endlichkeit  des  Universums,   wenigstens 
was  seine  letzten  Bestandteile  anbetrifft,   die  Einfachheit  (Unteilhar- 
keit)   seiner   Elemente    und    die   Bestimmtheit  seiner   Kräfte,    sowohl 
im  Ganzen,  als  auch  im  Einzelnen,   festzuhalten,   weil  sie  die  (Tirund- 
lage  seiner  N  aturans  c  h  au  ung  Avar.   weil   nur  unter  der  \'oraus- 
setzung  einer  durchgängigen    Bestimmtheit  in    der   Welt  die   Natur- 
erscheinungen   sich     dem    iVTafs     und     der     Berechnung    unterwerfen 
liefsen.      ,.S()11  das  Quantum  des    in  der  AVeit  vorhandenen  Kräfte- 
vorrats zufolge  dem  Gesetz  der   Erhaltung  der  Jvraft  eine   konstante 
Gröfse   bilden,    so  mufs   es    ein  bestimmtes  Mafs    besitzen,    das 
sich    in    irgend    einem  Zahlenwerte  ausdiäicken    läfst.     Das  Gleiche 
gilt  von  den    kleinsten  Teilen    des   Universums,    deren    jeder    seinen 
konstanten  Beitrag  zu    dem  Kräftevorrat  des  (janzen  liefert.      Wie 
kann  aber  die   Welt  eine  nicht    alles   Mafs  und  jede  denkbare  Zahl 
überschreitende   Quantität    von  Kraft    besitzen,    wenn    sie    sich    im 


Räume  ins  Unendliche  ausbreitet?  Wie  kann  ein  Atom  noch  eine 
endliche  Masse  haben,  wenn  es  doch  einen  unendlich  kleinen  Raum 
einnimmt?"  *) 

Auf  diese  Frage  gab  es  nur  Eine  Antwort:  wenn  der  Kaum 
wirklich  die  absolute  Voraussetzung  alles  Seienden  bilden  sollte, 
dann  mufste  die  gesamte  Naturanschauung  Kants  unrichtig  sein. 
Dieselbe  Annahme,  die,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  die  Natur- 
wissenschaft auf  den  Thron  über  alle  anderen  Wissenschaften  setzte, 
hob  ihren  wissenschaftlichen  Charakter  auf  und  brachte  sie  mit  sich 
selbst  in  Verwirrung.  Dieselbe  xlnnahme.  welche  die  Anwendbarkeit 
der  Mathematik  auf  sie  metaphysisch  begründen  sollte,  schlug  aller 
metaphysischen  AVahrheit  ins  Gesicht  und  vermochte  nur  dadurch 
einen  Bund  zwischen  Metaphysik  und  Mathematik  zu  schliefsen.  dafs 
sie  auf  die  Widerspruchslosigkeit  des  Seienden  verzichtete.  Kant 
sah  sich  vor  die  Alternative  gestellt,  entweder  an  seiner  Auffassung 
der  Mathematik  als  einer  synthetischen  und  apodiktischen  AVissen- 
schaft  festzuhalten,  daim  aber  auch  seine  Naturanscliauung  aufzu- 
gel)en.  die  ihm  vor  allem  am  Herzen  lag;  oder  die  letztere  als 
Wahrheit  anzusehen,  und  dann  auf  seine  Ansicht  über  das  Wesen 
der  Mathematik  Verzicht  zu  leisten,  sie  wenigstens  als  ein  irrationales 
Eaktum  hinzunehmen,  da  sie  doch  aus  der  Erfahrung  nicht  strenge 
zu  beweisen,  aus  blofsen  Begriffen  nicht  zu  verstehen  war.  Das 
Letztere  widersprach  seiner  rationalistischen  Denkart,  für  welche 
ein  derartiges  Faktum  gleichbedeutend  mit  Aufgebung  ihrer  selbst 
gewesen  wäre;  das  Erstere  wäre  ein  Strich  durch  seine  gesamte 
Lebensarbeit  überhaupt  gewesen  und  hätte  ihn  nur  der  Verzweiflung 
des  absoluten  Skeptizismus  überlassen. 

Soviel  war  sicher:  bei  der  newtonschen  Auflassung  des  Raumes 
konnte  er  nicht  stehen  bleiben;  sie  erklärte  zwar  den  synthetisch- 
apodiktischen Charakter  der  Mathematik,  aber  nur  auf  Kosten  seiner 
naturwissenschaftlichen  Weltanschauung.  Zu  seiner  eigenen  Raum- 
auffassung in  der  Physischen  Monadologie  aber  konnte  er  auch 
nicht  zurück;  sie  rettete  zwar  seine  Grundanschauung  der  Natur, 
aber  vermochte  jenes  Wesen  der  Mathematik  nicht  zu  erklären. 
Vor  diesem  Abgrund,  über  welchem  er  sich  schweben  sah.  rettete 
sich  Kant  imr  durch  einen  kühnen  Sprung,  indem  er  noch  weiter, 
nändich  auf  die  ursprüngliche  Anschauung  des  Leibniz  zurück- 
griff.  Inwieweit  hierzu  die  ,.Nouveaux  Essais",  die  im  Jahre  ITGf) 
zur  Ausgal>e   gelangten,    eine  äufsere  Veranlassung  gegeben  haben, 


*)  Dieter  ich:   a.  a.  (,).   lO'J. 
P  r  e  w  s,  Kants  Naturphilosophie. 


8 


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114 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


I.,  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


115 


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wird  immer  mehr  oder  minder  dunkel  bleiben.*)  Tliatsacbe  ist,  dafs 
jene  leibnizscbe  Tlieorie  des  liaumes  i)ei  der  Verlegenheit,  in  welche 
sich  Kant  nunmehr  durch  den  Unendlichkeitsbegriff  gesetzt  sah, 
unmittelbar  nahe  lag  und  als  der  einzige  Ausweg  aus  dem  Dilemma 
geradezu  erscheinen  mufste.  JJenn  auchLeibniz  hatte  ja  eben 
darum  den  Raum  für  eine  blofse  Erscheinung,  die  lediglich  im  und 
am  Subjekt  ist,  erklärt,  weil  er  nur  so  eine  Möglichkeit  gesehen  hatte, 
die  unendliche  Teill)arkeit  des  Kaumes,  wie  sie  unter  dem  Gesichts- 
punkte der  Mathematik  erschien,  mit  der  von  der  Metaphysik  be- 
haupteten Einfachheit  der  letzten  Bestandteile  der  Materie  zu  ver- 
einigen. Die  Sätze  der  Geometrie  über  die  unendliche  Teilbarkeit 
des  Raumes  schienen  nur  dann  auf  die  Objekte  im  Räume  anwendbar, 
wenn  diese  lediglich  Erscheinungen,  subjektive  Auffassungen  von 
Gegenständen  waren,  welche  dem  Gesetz  des  Raumes  selbst  nicht 
unterlagen. 

Indessen  wenn  Kant  sich  auch  damit  wie(U,'rum  auf  die  Seite 
von  Leibniz  stellte,  dafs  er  den  Raum  ins  Subjekt  verlegte: 
nicht  als  ein  verlorener  Sohn  kehrte  er  zu  ihm  zurück,  der  eingesteht, 
gefehlt  zu  haben  und  nutzlos  auf  falschen  Wegen  umhergeirrt  zu 
sein,  sondern  bereichert  mit  der  Einsicht,  die  er  inzwischen  über 
die  Katur  der  Mathematik  gewonnen  hatte,  und  die  ihn  zwang, 
die  leibnizscbe  Theorie  in  ihrem  Grunde  unrzu))ilden.  Kach  Leibniz 
war  der  Raum,  wie  gesagt,  blofs  insofern  etwas  Subjektives,  als  er 
eine  „Abstraktion  aus  der  Erfahrung,-'  ein  reines  ,,Gesch()pf  der 
Einbildungskraft",  eine  blofs  emi)irisclie  und  verworrene  Vorstellung 
des  ISebeneinanderseins  eines  Mannigfaltigen  war,  von  dem  man 
nicht  wufste,  welche  Beziehungen  ihm  eigentlich  zu  Grunde  lagen. 
Bei  dieser  Anschauung  war  nicht  einzusehen,  warum  die  auf  solche 
Weise  rein  erdachten  Raumbegriffe  auch  von  den  k  o  n  k  r  e  t  e  n 
Erscheinungen  gelten  sollten;  die  objektive  Gültigkeit  der  Mathe- 
matik blieb  zweifelhaft.  Die  Mathematik  aber  ist  eine  apodik- 
tische Wissenschaft;  als  solche  mufs  sie  auf  a])  r  iorisch  en 
Formen  beruhen,  wie  alles,  was  Anspruch  auf  Allgemeingültig- 
keit und  Notwendigkeit  erhebt.  Sind  diese  Formen  nicht  draufsen 
zu  suchen,  wie  die  Unmöglichkeit  der  Annahme  des  absohiten 
AV'eltraums  zeigt,  so  können  sie  also  nur  Formen  im  Subjekt 
sein.  Die  Formen  der  Mathematik  aber  sind  Raum  und  Zeit, 
der    erstere    als    Form    der    Geometrie,    die    letztere    als    Form   der 


p  «;*; 


*)  Vgl.  \Vi  ndc  1  1)  a  ml:  Vierteljahrsschrift  f.  Wissenschaft!.  Pliih)sophie  T. 
(1876).  233  — 23;i.  Ders.:  ticsch.  d.  neueren  Phil.  IL  .U)  ft.  Vaihinger: 
Comnientar  zu  Kunts  Kritik  d.  reinen  Vernunft  (18*.IJ).     II.  428  ii". 


Arithmetik,  insofern  ihr  Gegenstand,  die  Zahl,  aus  der  successiven 
Hinzufügung  einer  Einheit  zu  einer  anderen  entsteht.  Mithin  sind 
Raum  und  Zeit  apriorische  Formen  im  Subjekt,  denen 
aufserlialb  des  letzteren  gar  keine  wirkliche  Geltung  zukommt.  Nach 
Leibniz  war  ferner  der  Raum  ein  Verstandesbegriff,  aus  welchem 
analytisch  die  Mathematik  ablbefsen  sollte.  Die  Matlieniatik  aber 
ist  eine  synthetische  AVissenschaft;  da  Synthesis  jedoch  nur  in 
der  Anschauung  möglich  ist.  so  müssen  folglich  ihre  Formen  selbst 
anschaulich  sein.  Raum  und  Zeit  sind  also  a])r  i  or  i  seh  e  an- 
schauliche Formen  im  Subjekt,  Formen  der  An- 
schauung oder  reine  (von  allem  Inhalt  freie  und  ihm 
vorhergehe n  de)  A  n  s c h a u  u  n g e n. 

Mit  dieser  Ansicht  legte  Kant  in  seiner  Dissertation  :  De  mundi 
sensibilis    u.    s.    w.    den    Gi'und    zu    seiner    tr  an  scen  d  e  n  tal  en 
Ästhetik.      ,.  Der  Raum    ist    nicht    etwas    Objektives    und 
Reales,    keine  Substanz,   kein  Accidenz,  kein   Verhältnis,   sondern 
etwas  S  u  b  j  e  k  t  i  v  e  s  u  11  d  Ideales  und  tliut  sich  aus  der  Natur  des 
Gemütes    nach    einem    unwandelbaren  (jesetz   hervor:    er  ist  gleich- 
sam    das    Schema    der    Beuu-dnung    alles    äufscrlich    EnipfuiKh'nen'' 
(II.  410).    „Die  Zeit  ist  ni  eilt  etwas  ()  hj  ekti  v  e  s  und  Reales, 
keine  Substanz,   kein  Accidenz,  kein   Verliilltiiis,  sondern  eine  sub- 
jektive durch  die  Natur  des  Gemüts  notwendige  Bedingung,   alles 
Sinnliche  nach   einem  gewissen  Gesetze   einanrler   beizuordnen,    und 
eine  reine  Anschauung"  (407).     Den  Raum  sich  als  einen  an 
sich   seienden  absoluten  und   unermefslichen   Behälter  der  mr)glichen 
Dinge  vorzustellen,   wie  es  „nächst  den  Engländern  vielen  (leonieteni 
gefällt",   das  erscheint  Kant  nunmehr  als  „ein  leeres  Gespinnst  der 
Vernünftelei''   und  wird,   da  es  wahre  unendliche   V'erliältnisse  ohne 
i  rgendwelche  sich  zu  einander  verhaltende  Dinge  erdichtet,   von  ihm 
zur    Fabelwelt    gerechnet    (411).     Und    ebenso    nennt    er    es   einen 
„albernen  Einfall"    (commentum    absurdissimum),    die  Zeit  sich  als 
ein  stetiges  VerHiefsen  im  Dasein  ohne  irgend   ein  daseiendes  Ding 
vorzustellen     (4()<S).        Aber     auch     seine     eigene     frühere     Ansicht 
wird    von    ihm    bekänii)ft,    wonach    der    Kaum    das    Verhältnis  der 
wirklichen    Dinge    bildete,     das    ganz    verschwinden    sollte,     wenn 
man  die   Dinge  aufhebt,   wonach    er  folglich  auch   nur  in  wirklichen 
Dingen    zu    finden    und    die    Zeit    eine   von    der  Folge  innerer  Zu 
stände  abgezogene   Vorstellung  sein  sollte. 

Raum  und  Zeit  sind  reine  Anschauungen.  Ihre  Reinheit,  als 
Fulge  ihrer  Apriorität,  macht,  dafs  die  mathematischen  Urteile 
apodiktisch  sind,  d.  h.  unbedingte  Notwendigkeit  und  Allgemein- 
gültigkeit haben.     Ihre  Anschaulichkeit  macht,   dafs  sie  synthetisch 


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B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


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sind  und  niemals  aus  blofsen  Begriffen  heraus  analytisch  erschlossen 
werden  können.  Beides  macht  die  Möglichkeit  der  reinen  Mathe- 
matik aus.  und  zwar  der  Raum  die  Möglichkeit  der  reinen 
Geometrie,  die  Zeit  dagegen  die  Möglichkeit  der  reinen 
Mechanik.  Dal's  aber  Kaum  und  Zeit  blolse  Formen  des  mensch- 
lichen Erkenntnisvermögens  sind,  die  aufserhalb  des  Sul)jekts  keine 
Geltung  haben,  dies  ist  es,  was  die  Anwendung  der  mathematischen 
Sätze  auf  die  Gegenstände  der  Erlahrung  möglich  macht,  was 
macht,  dal's  es  keine  Erfahrung  geben  kann,  die  nicht  mit  den 
Gesetzen  der  Mathematik  übereinstimmt,  oder  mit  andern  Worten: 
was  auch  die  angewandte  M  a  t  h  e  m  a  t  i  k  ,  die  von  der  reinen  wohl 
zu  unterscheiden  ist.  zur  Wissenschaft  erhebt.  „Denn  die  Gegen- 
stände können  den  Sinnen  unter  irgend  einer  Gestalt  nur  viu'mittelst 
derjenigen  Kraft  des  (Temütes  erscheinen,  wodurch  es  die  Empfin- 
dungen nach  einem  unwandelbaren  und  seiner  Natur  eingepflanzten 
Gesetze  einander  beiordnet.  Wenn  nun  also  durchaus  kein  Objekt 
den  Sinnen  gegeben  werden  kann  aufser  in  Gemäfsheit  mit  den 
ursprünglichen  Axiomen  des  Raumes,  so  mag  das  Prinzij)  derscdben 
immerhin  blofs  subjektiv  sein:  jenes  Objekt  wird  doch  mit  diesen 
(Axiomen)  notwendig  übereinstimmen,  w^eil  es  nur  dadurch  mit  sich 
selbst  zusammenstimmt*'  (411).  Und  ebenso  werden  ..alle  in  der 
Welt  wahrnehmbaren  Begebenheit(*n.  alle  Bewegungen  und  alle 
inneren  Veränderungen  notwendigerweise  mit  den  von  der  Zeit  zu 
erkennenden  Axiomen  zusammenstimmen,  weil  sie  nur  unter  dieser 
Bedingung  Objekt  der  Sinne  sein  und  einander  beigeordnet  wenden 
können"   (40S  f.). 

„Die  Natur  ist  also  den  Grundsätzen  der  Geometrie  in  Ansehung 
aller  Eigenschaften  des  Raumes,  die  sie  darlegt,  aufs  Genaueste  unter- 
worfen, und  zwar  nicht  nach  einer  erdichteten,  sondern  anschaulich  ge- 
gebenen Voraussetzung,  als  einer  subjektiven  Bedingung  aller  Er- 
scheinungen, durch  welche  sich  je  die  Natur  den  Sinnen  ofl'enbaren 
kann"  411).  Nur  weil  etwas  blofs  dadurch  Gegenstand  unserer  Kr- 
fahrung  werden  kann,  dafs  es  uns  in  den  Formen  des  Raumes  und  der 
Zeit  erscheint,  nur  darum  können  wir  a  j)riori  sicher  sein,  dafs  die  ge- 
samte Natur,  als  der  Inbegritf  aller  Erscheinungen  in  Raum  und  Zeit, 
den  Gesetzen  dieser  letzteren  sich  fügen  mufs  und  dafs  wir  nicht  Eine 
Erfahrung  machen  werden,  ^uf  welche  die  Gesetze  der  Mathematik  nicht 
zuträfen.  Vorher  wufsten  wir  nur,  dafs  die  Natur  den  Gesetzen  der 
Mathematik  unterworfen  sei  und  dafs  unsere  Erkenntnis  derselben  erst 
dann  ihre  höchsten  Triumphe  feiere,  wenn  wir  die  Mathematik  auf 
die  Erfahrung  anwenden.  Jetzt  wissen  wir  auch,  warum  dies  so 
ist:    weil  beide  untrennbar  zusammengehciren,    weil  Natur  dies  nur 


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I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie, 


117 


ist  als  Erscheinung  in  Raum  und  Zeit  und  Mathematik  nur  als 
Wissenschaft  dieser  beiden  Formen.  Die  Erkeimtnis  der  Natur- 
erscheinungen ist  also  selbst  Wissenschaft  der  Natur,  und 
wenn  uns  jemand  das  Recht  bestreiten  wollte,  die  Mathematik  auf 
jene  Erscheinungen  anzuwenden,  so  weisen  wir  ihn  einfacli  darauf 
hin,  dafs  etwas  nur  darum  zur  Natur  gehört,  weil  es  sich  unter 
jenen   Formen  darstellt. 

Wenn  nun  Raum  und  Zeit  subjektive  Bedingungen  oder  Formen 
sind,  unter  denen  blofs  wir  die  Gegenstände  wahrnehmen,  aufser- 
halb unserer  Subjektivität  ihnen  jedoch  gar  keine  reale  Be- 
deutung zukommt,  so  ist  alles,  was  uns  in  Raum  und  Zeit  gegeben 
ist,  nicht  der  Gegenstand,  so  wie  er  an  s  i c h  oder  al)gesehen  von 
den  subjektiven  Bedingungen  unserer  Erkenntnis  existiert,  sondern 
nur  Erscheinung  (phaenomenon).  deren  wahres  Wesen  (noumenon) 
uns  unmittelbar  verborgen  bleibt.  Und  wenn  Raum  und  Zeit 
Formen  der  Anschauung  oder  anschauliche  (nicht  begriffliche) 
Formen  sind,  so  müssen  sie,  da  Anschaulichkeit  nur  in  der  Sinn- 
lichkeit zu  finden.  Formen  der  Sinnlichkeit  (nicht  des 
Verstandes)  sein.  Folglich  ist  alles,  was  uns  in  der  Sinnlichkeit 
gegeben  ist.  weit  entfernt,  irgendwie  ein  Ding  an  sich  zu  sein, 
nichts  als  Erscheinung  von  blofs  suljjektiver  Bedeutung. 

Auch  Leibniz  hatte  angenommen,  die  Sinnlichkeit  liefere  uns 
nur  Erscheinungen.     Die    Sinnesvorstellungen    sollten    dasjenige  nur 
in  verworrener,   unbewufster  Weise  enthalten,   was  der  Verstand  sich 
klar    und    deutlich    zum  Bewufstsein   bringt.     Verstand   man   untei- 
Sinnlichkeit  eben  nur  die  Art   und  Weise    der    Erkenntnis,    soweit 
sie    den    sinnlichen    Stof^'    zum  Gegenstande    hat.    so  waren  foli^dich 
nach   jener   Auffassung    des    Leibniz    Sinnlichkeit    und    Verstand 
nur  (juantitativ   verschieden;   es  bestand  zwisclien   ilnuMi  nui- ein 
gradueller  Unterschied.     Auch  die  Sinnlichkeit  enthielt  ja  den- 
selben   Inhalt.    wi(»  der  Verstand,     nur  in   verworrener.    undeutliclHM* 
Form.      Das  ganze  Geschält    des   Verstandes    bestand    alsdann    nui- 
darin,     diesen    Inhalt    von    seinen    sinidichen   Schlacken   zu   befreien. 
ihn  aus  seinem  wahren,   rein   l)egrifflichen  Kern  herauszuschälen  und 
ihn  damit  zugleich  auf  eine  höhere  Stufe  der  Erkenntnis  zu  erheben. 
Die   Sinnlichkeit    gii^bt    nach    Leibniz    den    Inhalt,   der   A'erstand 
verdeutlicht  ihn.     Dort  erscheint  er  als  ein  blofs  zufälliirer  un-l 
besonderer,   weil   er  ein  Abbild    der  l)esonder(Mi    Rrfihrung  ]st:  hier 
dagegen   trägt   er  den   Charakter  der  Allgemeinheit  und  Notwendig- 
keit,  weil  er  durch  den  Läuterungsprozefs  der  allgemeinen  \'ei  nunft 
hindurchgegangen  ist      Die  Sinnlichkeit  liefert  nur  insof -rn  hh.fs  Er- 
scheinungen,   als    sie    die    Dinge    in   die  sinnliche  Foi-m  <Mnkh'idet. 


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B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


1.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


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Der  Verstand    läCst    die     Din^e,    wie    sie    an    sich    sind,    erkennen 
und  klärt  uns  über  ihr  eigentliches  Wesen  auf. 

Dieser  Formulierung  des  Unterschiedes  zwischen  Sinnlichkeit 
und  Verstand  vermochte  Kant  auf  seinem  jetzigen  Standpunkt  nicht 
beizustimmen,  weil  sie  seiner  Ansicht  über  die  Mathematik  wider- 
sprach. Die  Mathematik  ist  eine  anschauliche  Wissenschaft  der 
Sinnlichkeit.  Es  giebt  also  sinnliche  Erkenntnis,  wie  die  mathe- 
matische, die  an  Klarheit  und  Deutlichkeit  nichts  zu  wünschen 
übrig  liifst.  Und  es  giebt  auf  der  andern  Seite  Verstandeserkenntnis, 
die  höchst  verworren  und  nichts  weniger  als  deutlich  ist,  man  denke 
nur  an  die  metaphysischen  Systeme  !  (IL  402.)  Die  sinnliche  Er- 
kenntnis ist  auch  nicht  blofs  zufälliger  Art,  denn  die  Sätze  der 
Mathematik  sind  so  allgemeingültig  uml  notwendig,  dafs  sie  in  der 
Hinsicht  sogar  alle  anderen  Wissenschaften  übertrifft.  Wenn  dieser 
eigentündiche  Charakter  der  Mathematik  nur  dadurch  zu  erklären 
ist,  dafs  llaum  und  Zeit  reine  Anschauungen  sind,  wenn  sie  als 
solche  nur  Formen  der  Sinnlichkeit  sein  können  und  diese  mithin 
ihre  eigenen  Formen  hat,  die  sich  durch  ihre  anschauliche  Natur 
von  den  begrifflichen  Formen  des  Verstandes  unterscheiden,  dann 
sind  diese  nicht  ([uantitativ,  wie  Leibniz  will,  sondern  (}uali- 
tativ,  spezifisch  verschieden,  dann  wandelt  sich  also  der  Grad- 
unterschied zwischen  Sinnlichkeit  und  Verstand  um  in  einen 
Gegensatz,  und  es  tritt  damit  die  Nötigung  hervor,  eine  neue 
Bestimmung  für  die  Natur  dieser  beiden  verschiedenartigen  Erkenntnis- 
vermögen aufzustellen. 

Die  Sinnlichkeit  hat  ihre  eigenen  Formen.  Sie  kann  also  nicht 
lediglich  Unterlage  oder  Stoff  für  die  Verstandeserkenntnis  sein,  die 
aus  diesem  nur  ihre  (be^a-ifflichen)  Formen  herausschälte.  Der 
Gegensatz  von  Stoff  und  Form  mufs  schon  in  der  sinidichen  Er- 
kenntnis liegen.  Dieser  Stoff  aber  kann  nur  der  Aufsenwelt 
entstammen,  sofern  sie  mit  dem  Subjekt  in  Berührung  tritt.  Die 
Sinnlichkeit  ist  selbst  nichts  Anderes  als  „die  Em])fänglic'hkeit  des 
Subjekts,  durch  welche  es  möglich  ist,  dafs  sein  Vorstellungszustand 
durch  irgend  ein  vorhandenes  Objekt  auf  ii-gend  eine  Weise  gerührt 
werde"  (400).  Indem  die  Dinge  an  sich  auf  das  Subjekt  wirken, 
verursachen  sie  in  ihm  unmittelbar  die  Empfindung;  diese  ist  als- 
dann der  Stoff  oder  d  a  s  M  a  t  e  r  i  a  1  der  Sinnlichkeit,  welche  das 
Mannigfaltige  der  Empfindung  in  die  ihr  eigentiindichen  Formen 
des  Eaumes  und  der  Zeit  einordnet.  Nur  durch  solche  Einordnung 
erbiilt  jenes  Mannigfaltige  den  Charakter  des  Sinnlichen;  aber 
eben  damit  hört  es  auch  auf,  irgendwie  ein  Abbild  der  Wirklichkeit 
zu  sein  und  sinkt  zur  blofsen  Erscheinung  herab,   deren  eigent- 


liches AVesen  den  Sinnen  selbst  verborgen  bleibt.  Die  Sinnlichkeit 
spiegelt  also  nicht,  wie  bei  Leibniz,  die  Dinge  an  sich,  wenn 
auch  in  undeutlicher  Weise,  ab.  Sie  ist  überliaupt  nicht  einem 
Spiegel  zu  vergleichen,  weil  sie  den  Dingen  Formen  überzieht, 
welche  nur  in  und  am  Subjekt  sich  finden.  Nichtsdestoweniger  ist 
die  sinnliche  Erkenntnis  eine  durchaus  wahre  und  keineswegs  ein 
Produkt  blofs  der  Einbildungskraft  oder  der  su])jektiven  Willkür. 
Die  einzelnen  Empfindungen  als  solche  kcinnen  zwar  in  verschiedenen 
Subjekten  verschieden  sein  und  dadurch  den  Charakter  des  Zufälligen 
erhalten  (400):  aber  die  Erscheinungswelt  in  ihrer  Gesamtheit  ist 
doch  in  allen  Menschen  immer  eine  und  diesell)e,  schon  deshalb  weil 
sie  unter  den  Gesetzen  der  Zeit  und  des  lUumes  steht  und  diesen 
eine  über  die  Grenzen  der  Individualität  hinausgehende  allgemeine 
und  notwendige  Bedeutung  zukommt  (404). 

Die  Verstandeserkenntnis  kann  sich  zwar  auf  die  Sinnlichkeit 
stützen,  indem  sie  deren  anschauliche  Erkenntnissse  unter  ein- 
ander vergleicht,  sie  andern  anschaulichen  Erkenntnissen  oder  Be- 
griffen unterordnet  u.  s.  w. ;  indessen  in  dieser  blofs  logischen  Be- 
thätigung  besteht  doch  nicht  das  Wesen  des  Verstandes.  Der 
eigentliche  Gebrauch  des  letzteren  ist  vielmehr  ein  realer,  d.  h. 
ein  solcher,  welcher  ganz  neue  Erkenntnisse  schafft.  Der  Verstand 
ist  „das  Vermögen  des  Subjekts,  sich  dasjenige,  was  seiner  Be- 
schaffenheit nach  nicht  in  die  Sinne  fallen  kann,  vorzustellen" 
(400).  Er  ist  somit  das  gerade  Gegenteil  der  Sinnlichkeit  und 
daher  auch  nicht,  wie  sie,  an  äufsere  Bedingungen  gebunden.  Wenn 
der  Sinnlichkeit  ihr  Stoff  von  aufsen  gegeben  werden  mufs,  so  schafft 
der  Verstand  sich  seinen  Inhalt  selbst.  Die  Begriffe,  sowohl  der 
Objekte,  als  der  Verhältnisse,  die  er  sich  orieht,  sind  von  keinem 
Gebrauch  der  Sinne  abgezogen  und  enthalten  keine  Form  der  an- 
schaulichen Erkenntnis  als  einer  solchen  (402,  417).  Sie  sind  dem- 
nach auch  nicht  Begriffe  im  eigentlichen  Sinne,  nicht  Abstraktionen 
aus  dem  Anschaulichen,  sondern  reine  Ideen,  die  in  der  Natur 
des  Verstandes  ebenso  a  priori  bereit  liegen,  wie  die  Formen  der 
Anschauung  in  der  Sinnlichkeit,  zwar  nicht  als  angeborene,  aber 
doch  ,.als  solche,  die  aus  den  dem  Gemüte  angestammten  Gesetzen 
(durch  Aufmerksamkeit  auf  die  Handlungen  desselben  bei  Ge- 
legenheit der  Erfahrung)  abgezogen  sind",  insofern  also  als 
„erworbene  Begriffe"  (403,  4i:0.  ^^^''^  ^^i«  Verstandesbegriffe  rein, 
d.  h.  von  allen  sinnlichen  Bedingungen  frei,  sind,  die  Sinnenwelt 
aber  eine  Welt  blofs  der  Erscheinungen  ist.  darum  eben  gehen  sie 
auf  die  Welt  der  Dinge  an  sich.  Weil  sie  a  priori  sind, 
darum  erheben  sie  die  Erkenntnis  der  Dinge  an  sich  oder  die  meta- 


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B.    Kant  als  Naturphilosoi3h. 


physische  Erkenntnis  zur  w  i  s  s  e  n  s  c  li  a  f  1 1  i  c  h  e  n  Erkenntnis.  Wie 
die  Mathematik  die  apriorische  AVissenschaft  (h^r  Sinnenvvelt  auf 
Grund  der  reinen  Anschauungen  darstellt,  so  die  Metaphysik  die 
apriorische  AVissenschaft  der  intelligiheln  Welt  auf  Grund  der  reinen 
Verstandesbegriffe  (402).  Damit  ist  der  Metaphysik  von  neuem 
ihr  ursprünglicher  Charakter  als  einer  Wissenschaft  vom  (über- 
sinnlichen gewahrt  und  die  Rückkehr  zum  dogmatischen  Standpunkt 
eines  Leibniz  im  Prinzip  vollzogen,  den  Kant  schon  vrdlig  über- 
wunden zu  haben  schien. 

Mit  dieser  Unterscheidung  zwischen  der  sinidichen  und  Ver- 
standeserkenntnis lösten  sich  nun  auch  die  Schwierigkeiten  im  Begriffe 
des  UnendHchen,  welche  die  Veranlassung  zu  der  ganzen  Gedanken- 
reihe gaben.  Jener  Widerspruch  nämlich,  dafs  die  ]\I:itiiematik  die 
unendliche  Teilbarkeit  des  Raumes,  die  Metaj)hysik  dagegen  das 
Gegenteil  behauptet,  ist  nicht  ein  solcher  in  der  Wirklichkeit, 
sondern  nur  ein  Widerspruch  zwischen  den  beiden  verschiedenen 
Erkenntnisvermögen  des  Menschen.  ,.Ein  Anderes  ist  es,  sich  bei 
gegebenen  Teilen  die  Zusammensetzung  des  Ganzen  durch  einen 
abstrakten  Verstandesbegriff  d  en  ken :  ein  Anderes,  diesen  allge- 
meinen Begriff  durch  das  sinnliche  Erkenntnisvermögen  ausführen, 
d.  h.  ihn  durch  deutliche  Anschauung  in  der  Anwendung  (in  concreto) 
darstellen"  (i^Jjf)).  Jenes  geschieht  durch  den  Be^M'i  ff  der  Zu- 
sammensetzung überhaupt;  dieses  beruht  auf  Bedingungen  der  Zeit, 
indem  ich  nach  und  nach  einen  Teil  zum  andern  hinzuthue,  und 
dazu  habe  ich  Anschauung  nötig.  Ebenso  gelange  ich  zum 
Begriffe  des  Einfachen  durch  Abstraktion;  um  mir  aber  eine 
Anschauung  davon  zu  machen,  dazu  mul's  ich  das  Zusammengesetzte 
in  der  Zeit  analysieren.  Da  nun  das  unendlich  Grofse  eben  das- 
jenige ist,  dessen  Zusammensetzung  in  der  Zeit  niemals  vollendet 
ist,  das  unendlich  Kleine  aber  dasjenige,  zu  welchem  ich  niemals 
durch  Analysis  in  einer  endlichen  Zeit  gelange,  so  habe  ich  vom 
Standpunkte  der  anschauli('lien  oder  sinnlichen  Erkenntnis  aus  ganz 
Recht,  die  Möglichkeit  oder  Wirklichkeit  dieser  Begriffe  zu  be- 
streiten. Aber  ich  habe  nicht  Recht,  was  hier  unmöglich  ist,  damit 
überhaupt  für  unmöglich  zu  erklären.  „Denn  was  den  Gesetzen 
des  Verstandes  und  der  Vernunft  widerstreitet,  ist  freilich  unmöglich, 
nicht  aber  dasjenige,  was,  weil  es  Objekt  der  reinen  Vernunft  ist, 
nur  nicht  unter  (h^n  Gesetzen  der  sinnlichen  Erkenntnis  steht.  Denn 
diese  ^^Nichtübereinstimmung  des  sinnlichen  und  intellektuellen  Er- 
kenntnisvermögens zeigt  weiter  nichts  an,  als  dafs  das  Gemüt  die 
vom  Verstände  erhaltenen  allgemeinen  Begriffe  (iiters  nicht  im 
Konkreten  ausführen  und  in  Anschauungen  verwandeln  könne"  (.iJJüf.). 


I.  Die  vorkritische  Naturi^hilosophie. 


121 


Auf  dem  Standpunkte  der  Verstandeserkenntnis  bleibt  es  also  gleich- 
wohl wahr:  die  K(')r])er  sind  aus  einfachen  Teilen  (Substanzen)  zu- 
sammengesetzt und  die  Gesamtheit  derselben  oder  die  Welt  ist 
endlich.*)  Aber  auch  die  Frage  nach  der  Entstehung  der  Welt, 
welche  das  Verhältnis  der  letzteren  zur  Zeit  ins  Auge  fafst,  findet 
ihre  einfache  Antwort  darin,  dafs  nach  den  Gesetzen  des  reinen 
Verstandes  eine  jede  Reihe  von  Wirkungen  ihr  Prinzip  hat.  wodurch 
sie  ist,  d.  h.  es  giebt  keinen  grenzenlosen  Rückgang  in  der  Ver- 
kettung von  Ursache  und  Wirkung  (:)97,  398  f.,  42 J  f.). 

In  seinem  ,.Xeuen  Lehrbegriff  der  Bewegung  und  Ruhe-  hatte 
Kant  das  (physische)  Gesetz  der  Kontinuität  aus  demselben  Grunde 
verworfen,  aus  welchem  der  Eleate  Zeno  einst  die  Bewegung  ge- 
leugnet hatte,  weil  es  nämlich  bei  der  kontinuierlichen  Wirksamkeit 
der  Kraft  durch  eine  unendliche  Zahl  von  Zwischenmomenten  niemals 
zu  einer  wirklichen  Einwirkung  zweier  K()r])er  auf  einander  kommen 
könnte.  Dieser  Einwand  wurde  hinfällig,  sobald  Kant  eingesehen 
hatte,  dafs  der  Begriff  der  Unendlichkeit  überhaupt  nur  ein  blofs 
subjektiver,  nur  ein  methodologischer  HiHs])egriff  zur  Betrachtung 
des  Verliältnisses  der  Gnifsen  sei,  der  aus  den  Formen  unserer 
Sinnlichkeit  entspringt,  ohne  darum  die  wirklichen  Dinge  als  solche 
zu  berühren.  Dann  war  kein  Grund,  den  Begriff  des  Stetigen  zu 
leugnen,  waren  doch  Raum  und  Zeit  nur  als  stetig  aufzufassen,  und 
war  doch  die  Zeit  seihst  nichts  Anderes  als  das  ,. Prinzip  der  Gesetze 
des  Stetigen  in  den  Veränderungen  der  Welt-  (400).  So  lautete 
denn  ,.das  metaphysische  Gesetz  der  Stetigkeit" :  Alle  Verände- 
rungen sind  stetig  oder  tliefsen.  d.  h.  entgegengesetzte  Zustände 
folgen  auf  einander  nur  durch  die  Vermittelung  einer  Reihe  ver- 
schiedener Zwischenzustände.  Weil  nämlich  die  beiden  entgegen- 
gesetzten Zustände  in  verschiedenen  Zeitpunkten  liegen,  von  zwei 
Zeitpunkten  aber  stets  eine  bestimmte  Zeit  abgegrenzt  wird,  in 
deren  unendlicher  Reihe  von  Momenten  die  Substanz  weder  den 
einen  der   gegebenen  Zustände,    noch  den  anderen    und   doch    auch 


*)  V^l.  jedoch  die  Worte  Kants:  „Cum  omne  quantum  at(iue  series 
«luaelibet  non  cofrnoscatur  distincte  nisi  per  coordiriationpiii  successivam,  concoptus 
intellectualis  quanti  et  multitudinis  opitulante  tantuin  hoc  conceptu  t<'mporis 
oritur  et  iiuiKiuam  pertin^rit  ad  coni])letudinem  nisi  synthesis  absolvi  possit 
tempore  finito.  Inde  est,  (piod  infinita  series  coordinatoruni  secundum  intellectus 
nostri  liniites  distincte  comi)rehendi  non  possit,  adeoquo  per  vitiuiu  subrei)tionis 
videnlur  impossibihs"  ( 42).  Hiernach  sollte  man  annelimen.  dafs  selbst  auf  dem 
Standpunkte  der  Verstandeserkenntnis  eine  infinita  series  coordinatoruni  weni«2:stens 
nicht  unmögHch  sei,  wonach  denn  Kant  inbetrelV  dieses  Problems  es  noch  nicht 
zu  einer  festen  Ansicht  gebracht  hätte. 


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ß.    Kant  als  Naturphilosoph. 


nicht  gar  keinen  haben  kann,  so  wird  sie  sich  in  verschiedenen  Zu- 
ständen befinden,  und  so  weiter  ins  Unendliclie"  (407). 

Die  Gesetze  des  Verstandes  reiclien  weiter  als  die  Gesetze  des 
Anschauens ;  eben  darauf  beruhte  ja,  wie  wir  sahen,  die  Möglichkeit 
der  Metaphysik,  als  einer  Wissenschaft  vom  Übersinnlichem,  von  dem, 
was  selbst  nicht  mehr  anschaubar  ist.  Freilich  trägt  die  Meta- 
physik, die  Kant  hiermit  auf  seiner  neuen  methodologischen  Grundlage 
errichtet,  keineswegs  die  Kühnheit  und  Selbstgewifsheit  zur  Schau, 
mit  welcher  andere  metaphysische  Baumeister  auf  Grund  ähnlicher 
Prinzipien  ihre  Systeme  in  den  Himmel  emporzutiirmen  strebten. 
Ihre  Dürftigkeit  zeigt,  dafs  der  Philosoph  nur  gerade  soviel 
metaphysisches  Material  zusammenbrachte,  um  seiner  naturwissen- 
schaftlichen Weltanschauung  einen  letzten  Halt  zu  geben,  und  darum 
gehen  auch  seine  Andeutungen  über  diejenigen  Grenzen  nicht  hinaus, 
innerhalb  deren  seine  metaphysischen  Grundlehren  sich  bereits  früher 
bewegt  hatten.  Da  nichts  seiner  Einführung  der  dynamischen 
Naturanschauung  Newtons  mehr  im  Wege  stand  als  das  alte 
leibnizsche  Vorurteil  gegen  den  intluxus  pliysicus  oder  die  physische 
Einwirkung  der  Monaden  auf  einander,  ein  Vorurteil,  das  er  bereits 
in  früheren  Schriften  durch  seinen  Monismus  zu  überwinden  ge- 
trachtet hatte,  so  riclitet  er  auch  jetzt  wieder  auf  diesen  Punkt  vor 
allem  sein  Augenmerk,  indem  er  die  Frage  aufstellt,  ,,wi(»  meliren 
wirklichen  Dingen  eine  gewisse  ursprüngliche  Beziehung  als  ursj)rüng- 
liche  Bedingung  der  mögliclien  P^inllüsse  und  Prinzip  der  wesent- 
lichen Form  des  Weltalls  zukommen  könne"  (4K^).  Es  genügt 
nicht,  einfach  darauf  hinzuweisen,  dafs  alle  Din^^e  ja  in  einem  und 
demselben  Räume  seien,  und  dieser,  ebenso  wie  die  Zeit,  gleichsam 
ein  reales  und  absolut  notwendiges  Band  aller  möglichen  Substanzen 
und  Zustände  bilde.  Denn  einerseits  sind  Raum  und  Z(üt  blofse 
Anschauungsformen  des  Subjekts  und  betreffen  gar  nicht  die 
Bedingungen  der  Objekte  selbst,  und  andererseits  fragt  es  sich  doch 
immer  noch :  auf  welchem  Grunde  dieses  Verhältnis  aller  Substanzen 
beruhe,  das,  anscliaulich  erwogen,  der  Raum  heifst.  „Dies  ist  also 
der  Angel,  um  welchen  sich  die  Frage  wegen  des  Prinzips  der  Form 
der  Verstandeswelt  dreht,  um  nämlich  klar  zu  machen,  wie  es 
möglich  sei,  dafs  wahre  Substanzen  in  einer  wechselseitigen  Gemein- 
scliaft  stehen  und  auf  diese  Art  zu  einem  und  demselben  Ganzen 
geh()ren,  das  man    \V\dt  nennt''   (414). 

In  der  blofsen  F^xistenz  kann  das  Prinzip  der  unter  ihnen 
möglichen  Wechselwirkung  nicht  bestehen.  „Denn  wegen  der  Sub- 
sistenz  selbst  beziehen  sie  sich  nicht  notwendig  auf  etwas  Anderes 
als  etwa  auf  die  Ursache  von  ihnen ;  aber  das  Verhältnis  der  Wirkung 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


123 


zur  Ursache  ist  keine  Wechselwirkung,  sondern  blofse  Abhängigkeit" 
(ebd.).  Es  mufs  also  überdies  noch  ein  besonderer  Grund  vorhanden 
sein,  woraus  man  die  wechselseitigen  Verhältnisse  begreifen  könne. 
Das  ganze  Vorurteil  gegen  die  Theorie  des  physischen  Einflusses 
schreibt  sich  nur  daher,  dafs  man  unrichtiger  Weise  annimmt,  die 
Wechselwirkung  der  Substanzen  und  die  übergehenden  Kräfte  könnten 
durch  ihre  blofse  Existenz  hiidänglich  erkannt  werden.  Aus  not- 
wendigen Substanzen  kann  das  Ganze  der  Welt  aber  auch  ni(*ht 
bestehen,  .,weil  einer  jeden  ihre  eigene  Existenz  völlig  genügt  ohne 
alle  Abhängigkeit  von  irgend  einer  andern,  die  auf  notwendii^e  Dinjxe 
gar  nicht  pafst"  (ebd.).  Keine  notwendige  Substanz  steht  in  Ver- 
knüpfung mit  der  Welt  aufser  als  Ursache  mit  der  AVirkunc:.  folg- 
lich nicht  als  Teil  mit  seinen  P^rgänzungsstücken  zum  Ganzen.  Die 
Welt  oder  das  Ganze  der  Substanzen  i)esteht  also  jedenfalls  aus 
zufälligen  Dingen,  d.  h.  die  Substanzen,  welche  die  Welt  zu- 
sammensetzen, müssen  ihrem  Wesen  nach  zul'ällig  sein,  (liebt  es 
eine  notwendige  Substanz  als  Ursache  der  Welt,  so  ist  sie  mithin 
ein  aufserweltliches  Wesen  (ens  extramundanum)  in  dem  Sinne,  dafs 
sie  über  alle  zufälligen  Sul)stanzen  übergreift,  und  ihre  Gegenwart 
in  der  Welt  ist  nicht  eine  örtliche,  sondern  eine  v  i  r  t  uale  (ebd.  f.), 
,,d.  h.  auf  einem  thätigen  Verhältnisse  derselben  zur  Welt  beruhende, 
wodurch  sie  der  (irrund  der  Wirklichkeit  des  Raumes  selbst  und 
aller  Ortlichkeit  in  demselben  ist."*)  Die  w^eltlichen  Substanzen 
sind  also  gar  keine  selbständigen  Wesen,  sondern  Wesen  von  einem 
Andern,  und  zwar  alle  von  Einem,  weil  sie  nur  daduich  zu  ein- 
ander in  wechselseitige  Verhältnisse  treten  kömnen.  So  erklärt  sich 
auch  die  Einheit  in  der  Verbindung  der  Substanzen  des  Weltalls: 
sie  ist  nur  eine  Folge  der  Al)hängigkeit  aller  von  Einem.  ..Die 
Form  des  Universums  weist  also  auf  eine  Ursache  der  Materie  hin; 
die  Ursache  der  Allheit  ist  auch  die  einzige  Ursache  aller,  und  der 
Baumeister  der  Welt  mufs  auch  zugleich  ihr  Sclxipfer  sein"  (41")). 
Der  menschliche  Geist  aber  vermag  darum  die  Grenzen  der  un- 
mittelbaren F]rscheinungswelt  zu  überschreifen  und  mittels  der  reinen 
Verstandesbegriffe  die  I)ing(%  befreit  von  ihrer  sinnlichen  Hülle,  zu 
erblicken,  w^eil  er  nur  insofern  von  dem  AufsiM-en  afliziert  wird  und 
die  Welt  sich  seinem  Blick  erschliefst,  ,,als  er  selbst  mit  allen 
Andern  von  einer  und  derselben  unendlichen  Kraft  eines  Einzigen 
erhalten  wird"  (41()).  So  liat  also  Malebranche  Recht,  zu  sagen: 
„wir  schauten  Alles  in  Gott."  Da  nun  der  Raum  die  anschaulich 
erkannte    allgemeine    und    notwendige   Bedingung    der  Mitgegenwart 


*)  Tieftrnnk    in    seiner   (anonymen)  Ausgabe   v.   ,,i.   Kants  vermischten 
Schriften"   (1799).     541. 


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B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


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Aller,  die  Zeit  dagegen  das  einzige  Unendliche  und  Unveränderliche 
ist,  worin  alle  Dinge  sind  und  beharren,  so  kann  man  jenen 
die  ,.  Allgegenwart  der  Erscheinung  (omnipraesentia  i)haenomenon)," 
diese  die  „Ewigkeit  als  Ersclieinung  der  allgemeineren  Ursache 
(aeternitas  phaenomenon)^'  nennen.  Indessen  scheint  es  Kant  rät- 
licher zu  sein,  „sich  am  Ufer  der  uns  durcli  die  Mittelmälsigkeit 
unseres  Verstandes  vergönnten  Erkenntnisse  zu  halten,  als  sich  in 
das  Meer  der  mystischen  Untersuchungen  dieser  Art  zu  wagen,-' 
wo  uns  nur  allzu  leicht  der  orientierende  Kompals  verloren  geht(4l7). 

Offenbar  hat  Kant  selbst  nicht  recht  daran  geglaubt,  in  diesen 
8ätzen  wirklich  eine  unumstoi'sliche  metaphysische  Erkenntnis  zu 
besitzen.  Oder  wie  hätte  er  sonst  in  seinem  Briet'  an  Lambert 
(vom  2.  September  1770)  den  Abschnitt,  der  seine  metaphysischen 
Grundleliren  entliält,  als  „unerheblich"  bezeichnen  können?  (VIII. 
Güo.)  Wie  weit  entfernt  er  war,  sie  selbst  für  apodiktisch  zu 
halten,  geht  auch  daraus  hervor,  dafs  er  am  Schlüsse  seiner 
Dissertation  die  metapliysischen  Lehren  von  einem  allgemeinen  Kausal- 
zusammenhange der  Weltbegebenheiten,  von  der  Konstanz  der  Materie 
und  der  Einheit  in  der  Welt  nicht  für  reale  Thatsachen  und  Natur- 
gesetze, sondern  für  blofs  formale  Eegeln  des  su})jektiven  Ver- 
standes angesehen  haben  will,  dafs  er  sie  lediglich  als  Maximen  der 
Forschung  ohne  objektiven  Sinn  betrachtet,  die  sich  „nur  durch 
Anbe(iueraung  zur  besonderen  Natur  des  Verstandes  in  seinem  freien 
und  weiten  Gebrauch  empfehlen"  (424).  Was  z.  B.  den  Satz  be- 
trifft, dafs  im  Weltall  alles  nach  der  Naturordnung,  d.  h.  mechanisch, 
geschehe,  so  nehmen  wir  ihn  nicht  deshalb  an,  „weil  wir  etwa  im 
Besitz  einer  so  weitunifassenden  Erkenntnis  der  Weltbe^n'l)enheiten 
nach  allgemeinen  Naturgesetzen  wären,  oder  weil  wir  entweder  die 
Unmöglichkeit  oder  die  geringste  hypothetische  Möglichkeit  des  Ül)er- 
natürlichen  einsehen,  sondern  weil,  wenn  man  von  der  Onlnun-^  der 
Natur  abgeht,  dem  Verstände  fast  gar  kein  (xebrauch  übri^  bleibt 
und  weil  die  grundlose  Berufung  auf  das  fbernatürliche  ein  Polster 
der  faulen  Vernunft  ist''  (ebd.).  Und  ebenso  stimmen  wir  dem 
Grundsatz,  man  müsse  ohne  Not  die  Pi'inziinen  nic^ht  vervielfältigen, 
nicht  deswegen  bei,  „weil  wir  d'i^.  ursacliliche  Einheit  in  der  Welt 
entweder  durch  Vernunft  (!)  oder  durch  Erfalirung  einsehen, 
sondern  eben  sie  ist  es.  der  wir  auf  Antrieb  unseres  Verstr.ndes 
nachforschen;  denn  dieser  denkt  ebenso  weit  in  der  Erklärung  der 
Erscheinungen  vorgerückt  zu  sein,  als  es  ihm  von  einem  und  dem- 
selben Prinzip  zu  sehr  vielen  Bedingten  herabzusteigen  vergönnt 
ist-'   (ebd.). 

Warum  sollten  denn  auch  die  Grenzen  des  Verstandes  so  viel 


weiter  gesteckt  sein  als  diejenigen  der  Sinnlichkeit,  da  sie  doch  beide 
])lofs  subjektive  Vermögen  waren  ?  Auch  die  Anschauungsformen 
waren  ja  ganz  ebenso,  wie  die  Formen  des  Verstandes,  ursprüngliche 
Besitztümer  unseres  Geistes,  deren  wir  uns  erst  bei  Cielegenheit 
der  Erfahrung  bewufst  werden,  standen  also  in  dieser  Hinsicht  hinter 
jenen  nicht  nach;  wie  kommt  es,  dafs  sie  trotzdem  nur  auf  Er- 
scheinungen sich  beziehen,  die  Verstandesfornien  dagegen  sich  un- 
mittelbar mit  dem  Ding  an  sich  ])efassen? 

„Ich  hatte  mich,"  sagt  Kant  in  seinem  berühmten  Brief  an 
Marcus  Herz  vom  21.  Februar  1772.  „in  der  Dissertation  damit 
begnügt,  die  Natur  der  rntellektual- Vorstellungen  blofs  negativ  aus- 
zudrücken :  dafs  sie  nämlich  nicht  Modifikationen  der  Seele  durch 
den  Gegenstand  wären.  Wie  aber  denn  sonst  eine  Vorstellung,  die 
sieh  auf  einen  Gegenstand  bezieht,  ohne  von  ihm  auf  einiire  Weise 
affiziert  zu  sein,  möglich,  überging  ich  mit  Stillschweigen.  Ich  hatte 
gesagt:  die  sinnlichen  Vorstellungen  stellen  die  Dinge  dar,  wie  sie 
erscheinen,  die  intellektualen,  wie  sie  sind.  Wodurch  werden  uns 
denn  diese  Dinge  gegeben,  w^enn  sie  es  nicht  durch  die  Art  werden, 
womit  sie  uns  aftizieren;  und  wenn  solche  intellektualen  Vorstellungen 
auf  unserer  inneren  Thätigkeit  beruhen,  w  oh  e  r  k  o  m  m  t  d  i  e  U  b  e  r- 
e  i  n  s  t  i  m  m  u  n  g  ,  die  sie  m  i  t  G  e  g  e  n  s  t  ä  n  d  e  n  h  a  b  e  n  sollen, 
die  doch  dadurch  nicht  etwa  hervorgebracht  werden:  und  die  Axiomata 
der  reinen  Vernunft  ül)er  diese  Gegenstände,  woher  stimmen  sie  mit 
diesen  überein.  o  h  n  e  d  a  f  s  diese  Ü  b  e  r  e  i  n  s  t  i  m  m  u  n  g  v  o  n  d  e  r 
Erfahrung  hat  dürfen  Hilfe  entlehnen?  In  der  Mathe- 
matik geht  dieses  an.  weil  die  ( )bjekte  für  uns  nur  dadurch  Gröfsen 
sind  und  als  GrÖfsen  können  vorgestellt  werden,  dafs  wir  ihre  Vor- 
stellungen erzeugen  kiumen.  Daher  die  Begriffe  der  Gröfsen  selbst- 
thätig  sind  und  ihre  Grundsätze  a  priori  können  ausgemacht  werden. 
Allein  im  Verhältnis  der  (Qualitäten,  wie  mein  Verstand  gänzlich 
a  j)riori  sich  seilest  Begriffe  von  Dingen  bilden  soll,  mit  denen  not- 
wendig die  Sachen  übereinstimmen  sollen,  wie  er  reale  Grundsätze 
über  ihre  Möglichkeit  entwerfen  soll,  mit  denen  die  Ei-fahrung  ge- 
treu übereinstimmen  mufs.  und  die  doch  von  ihr  unabhängig  sind, 
diese  Frage  hinterläfst  immer  eine  Dunkelheit  in  Ansehung  unseres 
Verstandesvermögens,  wolier  ihm  diese  Übereinstimmung  mit  den 
Dingen  selbst  komme"   (VIII.  (ihlJ  f ). 

Zweierlei  schien  mr)glich,  um  die  V'erschiedenartigkeit  in  der 
Anwendung  der  Denk-  und  Anschauungsformen  auszugleichen :  ent- 
weder die  Anschauungsformen  bezogen  sich,  wie  die  Verstandes- 
fornien, auf  Dinge  an  sich,  oder  die  Verstandesformen  bezogen  sich, 
wie  die  Formen  der  Anschauung,    blofs   auf  Erscheinungen.     Jenes 


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B.    Kant  als  Naturi)hil()soph. 


I.  Die  vorkritische  Naturphilosophie. 


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war   die    Ansicht   des  naiven    Realismus,    wie    er    urs])rün^licli 
auch  der  früheren  rationalistischen  Denkweise  Kants  zu  Grunde  ge- 
legen hatte,  dieses  die  Meinung  des  8  k  e  p  t  i  z  i  s  in  u  s .  zwei  erkenntnis- 
theoretische   Standpunkte,     die     beide    Kant   ja    gerade     zu     über- 
winden bestrel)t   war.      Der    naive    Realismus    ineint,    die   Ding(^    der 
Aufsenwelt  spazierten  gleichsam    von   sell)st    ins   Bewui'stsein  hinein, 
drückten    sich  in   ihm.    wie   auf   einer  Platte    von  weichem  Wachse, 
ab  oder  würden  von   uns  gar   unmitteH)ar  wahrgenommen.      Da   war 
es  denn  freilich  kein  Problem,   weshalb  die  Vorstellung,  wie  sie  im 
Subjekt    ist,    mit    dem   Gegenstande   aufserhalb   des   Subjekts   über- 
einstimmt,   oder  wie  Kant    in  jenem  Briefe    sich  ausdrückt :    es  be- 
reitete  keine  Schwierigkeiten,    auf  welchem    Grunde  die    Beziehung 
desjenigen,   was  man  in   uns  Vorstellung  nennt,   auf  den  Gegenstand 
beruht.     „Enthält  die  Vorstellung  nur  die  Art,  wie  das  Subjekt  von 
dem   (Tegenstande   affiziert   wird,    so    ist's   leicht    einzusehen,    wie  er 
diesem,  als  eine  Wirkung  seiner  Ursache,  gemüfs  sei.  und   wie  diese 
Bestimmung  unseres  Gemüts  etwas   vorstellen,   d.  i.  einen  Gegen- 
stand   haben    kiinne-'    (VIII.    ()S}>).      Indessen     wenn     hiernach    alle 
unsere    Vorstellungen    a   ])osteriori    aus    der    P]rfalirung    entnommen 
sind,  so  kann  von  einem  Apriori    nicht   die  Rede    sein,    so  kann  es 
also  auch   keine  notwendige  und  allgemeingültige    P]rkenntnis  geben, 
nicht    einmal    in    der    Mathematik,    und    weit    entfernt,    dal's    man 
das  Jenseits  der  Erfahrung    zu  ergründen   veriiKichte,    ist    auf  naiv 
realistischem  Standpunkt  nicht  einmal  eine  eigentliche  Wissenschaft 
der    Erfahrung    möglich,    wofern    man    mit    dem   Rationalismus    der 
Ansicht    huldigt,    dafs    eine   Wissenschaft    diesen    Namen    nur    dann 
verdient,    wenn    ihre    Erkenntnisse    allgemein    und    notwendig    sind. 
Überdies  schien  der  naive  Realismus  auch  noch  aus  anderen  Gründen 
nicht  haltbar.     Seit  Descartes  Hobbes  und  den  La-undlej^enden 
Untersuchungen  Dockes  stand  die  Thatsache  aufser  allem  Zweifel, 
(lafs   unsere   Vorstellungswelt    ein    getreues  Abbild    der    Aulsenwelt 
nicht  ist,    dafs  zum  mindesten    die  sogenannten    „sekundären  Quali- 
täten,*' wie  Farben,  Töne,  Gerüche  u.  s.  w.,  blofs  subjektiver  Natur, 
bewuftseinsimmanentes    Produkt    uns    unbekannter    Reaktionen    der 
Psyche  auf  Einwirkung  von   äufseren   Vorgängen   sind;  ja,   der  eng- 
lische Denker  Hu  nie    hatte   sogar  gezeigt,    dal's,    selbst    unter    der 
Voraussetzung,  die  einzelnen  Erfahrungen  als  soh'he  spiegelten  wirk- 
lich   die   äufseren  Dinge    wieder,    die  inneren   Beziehungen   zwischen 
ihnen,  wie  die  Kausalität,  doch  jedenfalls  keine  Abbilder  sein  könnten. 
Damit  war  der  naive  Realismus  völlig  in  Skeptizismus  umgeschlagen, 
und  alles  schien  den  jeweiligen  Erfahrungen    des  Subjekts    anheini- 
gestellt.      Der  naive  Realismus  liefs  doch   wenigstens  die  Erfahrun« 


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als  solche  bestehen  und  zweifelte  nicht  daran,  unsere  Erkenntnis, 
soweit  sie  eben  reicht,  stimme  auch  mit  der  Wirklichkeit  und 
ihren  Gesetzen  überein.  Der  Skeptizismus  zerstiule  nicht  blofs  alle 
notwendige  und  allgemeingültige  Erkenntnis,  hob  damit  nicht  blofs 
den  Begriff  der  AVissenschaft  im  rationalistischen  Sinne  auf.  sondern 
er  zerschnitt  auch  noch  das  Band  zwischen  der  Vorstellung  im  Be- 
wufstsein  und  den  Dingen  in  der  Aufsenwelt  und  machte  den  Begriff 
der  AVissenschaft  in  jedem  Sinn  zu  Schanden,  indem  er  dem  Denken 
die  ]\löglichkeit  raubte,  seine  Übereinstimmung  mit  dem  realen  Sein 
konstatieren  zu  können. 

Jetzt  zum   ersten  Male    scheint  Kant    die    volle  Bedeutung  der 
humeschen  Zweifel    an  der  Übereinstimmung    des  Denkens  mit  der 
AVirklichkeit   an  sich  erfahren    zu  haben,  —  nicht    als  ob  ihm  die- 
selben  bisher    unbekannt  geblieben   wären,    sondern   sie  hatten  nur 
keinen  wesentlichen  EinHufs  auf  ihn  ausgeübt.    Bereits  im  dahre  1  AVd 
hatte  Kant  in  seiner  Schrift  über  die  negativen  Gröfsen  die  Ai)ri()rität 
des  Kausalgesetzes  in  Zweifel  gezogen;  er  hatte  bestritten,  dal's  es 
möglich  sei,    mittels    reiner  Vernunft    den  Zusammenhang    zwischen 
Ursache  und  AVirkung  einzusehen.     Allein    er  hatte  doch  das  that- 
sächliche    A'orhandensein    eines    solchen   Zusammenhanges   niclit   be- 
zweifelt:  es   war  ihm  nicht  in   den  Sinn  gekommen,   zu  leugnen,   dafs 
wirklich  die  Thätigkeit  der  an  sich  existierenden  Monaden  am  Leit- 
faden einer  durchgehenden  Kausalität  sich  abs])ielt.    Jetzt  wird  auch 
diese  Ansicht  durch  den  F]inwand  Humes  erschüttert,  sie  erscheint 
ihm  als  ein  dogmatisches  Vorurteil,    und    er,    der    schon    am    Ziele 
seiner   AVanderung    zu   stehen   glaubt,    sieht  sich  nun  abermals  vor 
einen  Abgrund  gestellt,  der  die  gesamten  Resultate  seiner  liisherigen 
Lebensarbeit  auf  einmal  zu  verschlingen  droht.     Man  l)edenke,  was 
für  Kant   auf   dem    Spiele    stand,    wenn  das  Kausalgesetz  wirklich, 
wie    Hume    behauj)tet  hatte,    nur  eine  subjektive  Abstraktion  aus 
der  Erfahrung    und    noch    dazu    von    sehr    hypothetischer  Art    war. 
insofern  die  Erfahrung  uns  niemals  einen  wirklichen  ZusammenliMUg 
der  Erscheinungen,    sondern    nur  eine  wiederkehrende  Aufeinander- 
folge   gleicher    oder    ähnlicher    Erscheinungen    aul'weist.      War    die 
Kausalität  nur  ein  subjektives  Produkt  der  Assoziation,   entsprungen 
aus    bh)fser    Gewohnheit    unseres    Denkens,    dann    hatte    es  ja  gar 
keinen  Zweck,    nach  einer  metaphysischen   Begründung    der  Natur- 
erscheinungen zu   suchen,   dann  gab  es  ja  nicht  einmal   eine  Natur- 
wiss  enschaf  t,    denn  diese  basierte  ja  einzig   und  allein  auf  der 
l'berzeugung  von  einem  objektiven  Zusammenhange  der  Erscheinungen. 
Die  am  Schlüsse  seiner  Dissertation  ausgesprochene  Ansicht.   Kausali- 
tät und  Konstanz  der  Materie  seien   blofs  subjektive,   formale  Regeln 


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12.^ 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


I.  Die  vorkritische  Natiir])hilosophie. 


129 


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der  Forscliiing,  aber  nicht  ein^entlich  reale  Weltgesetze,  diese  An- 
sicht war  für  den  liationalisten  Kant  nur  die  offenbare  Bankerott- 
erkläning  seiner  metaphysischen  Spekulationen,  sie  war  nur  das 
klare  Eingestiindnis,  dals  er  sich  grundsätzlich  auf  einem  Irrweg 
befand,  und  damit  sah  er  sich  auf  denselben  Standpunkt  zurück- 
geworfen, auf  dem  er  vor  Abfassung  seiner  Dissertation  gestanden 
hatte. 

Damals  hatte  er  den  synthetisch-apriorischen  Charakter  der 
Mathematik  dadurch  gerettet,  dafs  er  Kaum  und  Zeit,  die  Formen, 
innerhalb  deren  sich  alle  mathematische  Erkenntnis  bewegt,  als  reine 
Formen  der  Anschauung  ins  Subjekt  zurückgenommen  und  sie 
für  die  notwendigen  Bedingungen  erklärt  hatte,  durch  welche  das 
Objekt  der  Mathematik  selbst  erst  möglich  wird.  Was  hinderte  ihn, 
in  derselben  Weise  auch  die  Formen  des  Denkens  als  Produzenten 
der  Erfahrung  aufzufassen,  die  zwar  als  solche  nur  subjektiv  sind, 
aber  ein  objektives,  für  Alle  gültiges  AVeltbild  liefern,  weil  sie 
a  priori  überall  vorhanden  sind?  Bei  den  Anschauungsformen  war 
es  immerhin  ein  kühner  Schritt  gewesen,  Raum  und  Zeit,  diese 
notwendigen  Bedingungen  aller  äul'seren  Wirklichkeit,  als  apriorische 
Besitztümer  ganz  und  gar  ins  Subjekt  zu  verbogen,  ihnen  jegliche 
Geltung  aufserhalb  desselben  abzusi)rechen.  Bei  den  Formen  des 
Denkens  stand  es  von  vornherein  fest,  dafs  sie  im  Subjekt  ihre 
Wurzel  hatten,  und  ihre  apriorische  Katar  war  von  jeher  ein  Grund- 
dogma  der  rationalistischen  Philosophie.  Was  aber  ihren  Charakter 
als  formende  Bedingungen  der  Erfahrung  betraf,  so  brauchte  man 
sich  ja  nur  darauf  zu  besinnen,  dafs  die  Erfahrungswelt  sich  wirklicli 
nur  durch  ihren  f  o  r  m  a  1 1  o  g  i  s  c  h  e  n  G  e  h  a  1 1  von  der  Welt  rein 
subjektiver  Phantasieen  und  blofser  Träume  unterscheidet,  dafs 
z.  B.  ohne  kausalen  Zusammenliang  die  Welt  nur  ein  regelloses 
Durcheinander  von  einzelnen  Erscheinungen  bilden  würde,  in  welcher 
wir  gar  keine  vernünftigen  Erfahrungen  würden  nuichen  können, 
und  es  schien  in  der  That  nichts  näher  zu  liegen,  als  auch  die 
Yerstandesformen  ganz  ebenso,  wie  die  Formen  der  Anschauung, 
für  apriorische  Bildner  der  Erfahrung  zu  erkhiren. 

AVie  eine  apriorische  Erkenntnis  der  Gesetze  von  Baum  und 
Zeit,  die  mit  den  Gegenständen  übereinstimmt,  möglich  ist,  weil 
beide  als  Formen  der  Anscliauung  a  priori  und  aul'serhalb  (k's 
Subjekts  ohne  Geltung  sind,  ganz  ebenso  auch  bei  den  Formen  des 
Denkens.  Ihre  subjektiv-apriorische  Natur  und  die  Thatsache,  dafs 
sie  Formen  der  Erfahrung  sind,  ermöglicht  es  dem  Subjekt,  a  priori 
etwas  über  die  Erfahrung  auszumaclien.  Ihr  exklusiv  subjektiver 
Charakter  bewirkt,  dafs  die  Erfahrung  mit  dessen  apriorischen  Vor- 


Stellungen  und  Grundsätzen  übereinstimmt.    Wie  unsere  Vorstellungen 
den  Gegenständen  entsprechen  müssen,  falls,    wie  dies    die  Ansicht 
des  naiven   Realismus  ist,    jene    nur  Abbilder    der   Erfahrung    sind, 
in    derselben   Weise    mufs    natürlich    eine    solche    Übereinstimmung 
auch  stattiinden,    falls  die   Erfahrung    erst  durch  die  Vorstellungen 
möglich  ist.     „Wenn  das",    sagt  Kant    in    seinem    oben    erwähnten 
Briefe,     „was    in   uns  Vorstellung  lieifst.    in  Ansehung    des  Objekts 
actio  wäre,    d.  i.    wenn    dadurch    selbst    der   Gegenstand 
hervorgebracht  würde,  wie  man  sicli  die  göttlichen  Erkennt- 
nisse   als    die  Urbilder    der  Sachen    vorstellt,    so    würde    auch    die 
Konformität  dei-selben  mit  den  Objekten  verstanden  wenhn  können. 
Allein  unser  Verstand  ist  durch  seine  Vorstelhingen  weder  die  Ur- 
sache   des    Gegenstandes,    noch    der    Gegenstand    die    Ursache    der 
Verstandesvorstellungen.    Die  reinen  Verstandesbegrifte  müssen  also 
nicht    von    d(^r  Emi)tin(lun,ir    der    Sinne    abstrahiert    sein,    noch  die 
Emj)tänglichkeit  der  Vorstellungen  durch  Sinne  ausdrücken,  sondern 
in  der  Natur   der  Seele    zwar  ihre  Quelle  haben,    aber  doch  weder 
insofern  sie  vom  Objekt  gewirkt  werden,  noch  das  Objekt  selbst 
hervorbringen"  (VIII.  m)).     Die  Verstandesformen  sind  an  sich 
nicht    produktiv,    sie    sind    es    so    wenig,    wie  die  Formen    der  An- 
schauung, wofern  ihnen  nicht  der  Stoff  von  anderswoher  gegeben  wird, 
an  dem  sie  sich  betliätigen  kiumen.     Nun  bildeten  die  Emi)tindungen, 
als  A\'irkungen  der   Dinge   an  sich,  das    Material  der  Anschauungs- 
lornien,  und  weil   jene  Formen   blofs  subjektiv  waren,  so  konnte  das 
Produkt    aus   Emptindun;]^    und   Anschauungsform,    das  Objekt    der 
Sinnlichkeit,    auch    blols    Erscheinung    sein.     Besteht    nun    die  Er- 
fahrung selbst  aus  den  sinidichen  Vorstellungen   und  ihren  logischen 
Bezielmngen,  ist  somit  das  Objekt  der  Sinnlichkeit  das  Material  der 
Verstandesthiiti^keit,  dann   ])e ziehen  sich  folglicli  auch  die 
Formen  des  Denkens   blo  f  s  a  u  f  Erschei  n  un  ge  n  ,  und   wij- 
erfabren   durch  den    Verstand   über  die   Dinge  an  sich   sow(^ni^.  wie 
dun^h   die   Sinnlichkeit. 

So  trifft  also  Kant  im  J^esidtat  mit  II  u  m  e  zusammen,  obwohl 
ihre  beiderseitigen  (Gründe  die  gerade  entgegengesetzten  sind.  Kant 
ist  P  hä  n  om  en  al  i  s  t .  wie  Hume.  d.  h.  für  beide  ist  die  Welt 
blofs  Erscheinung:  al)er  er  ist  dies  nicht  aus  Gründen  des  Empirismus, 
sondern  gerade  umgekelii-t,  um  den  ]\ationalismus  gegenüber  den 
Einwänden  des  Em])irismus  zu  behaupten.  Hume  leugnet  die 
M(»glichkeit  einer  Erkenntnis  dessen,  was  jenseits  der  Erfahrung 
liegt,  weil  alle  unsere  Erkenntnis  überhaupt  nur  aus  der  Erfahrung 
herstammt,  weil  sie.  mit  Kant  zu  reden,  nur  a  posteriori  ist;  Kant 
schränkt    die  Erkenntnis    auf  Erfahrung  ein,    weil    nur.    w^enn    das 

D  r  e  w  s  ,  Kants  Naturphilosophie.  9 


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130 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


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iJeiiken  in  die  Grenzen  des  Bewufstseins  eingesi)errt,  wenn  aucli  die 
Erfaliruntr  bloi's  unser  eigenes  Produkt  ist.  eine  apriorische  Er- 
kenntnis der  Erfalirung  möglich  ist.  Nach  H  u  ni  e  ist  die  Annahme 
nicht  ausgeschlossen,  dafs  die  Gesetze  der  P>fahrung  mit  denen 
unseres  Denkens  einmal  nicht  ül)ereinstimmen,  es  fehlt  uns  jedes  Mittel, 
um  eine  solche  lU)ereinstimmung  aucli  nur  zu  konstatieren,  weil 
Alles  hier  nur  von  der  jeweiligen  Erfahrung  abhängt  und  (his  Denken 
nicht  über  sich  selbst  hinaus  kann :  nach  Kant  können  beide  gar  nicht 
auseinandergehen,  weil  die  Gesetze  der  Erfahrung  nichts  Anderes 
als  die  Gesetze  unseres  Denkens  sind. 

Die  Denkformen  beziehen  sicli,  wiu  die  Foi-men  der  iVnschauung, 
auf  Erscheinungen.  Der  Augenbhck,  in  welchem  in  Kant  diese 
Erkenntnis  aufging,  ist  der  Ge))urtsmoment  der  ,.Kritik  der 
reinen  V  e  r  n  u  n  f  t"'.  ]\Iit  ihr  war  der  Grund  gelegt  zur  t  r  a  n  s  - 
c  e  n  d  e  n  t  a  1  e  n  Logik,  der  Lehre  von  den  reinen  Verstandes- 
begrift'en.  die  neben  dei-  transcendentalen  Ästhetik,  als  der  Lehre 
von  den  reinen  Anschauungsformen,  den  wichtigsten  I^cstandteil 
jenes  Ej)Oclie  machenden  Werkes  bilden  sollte.  Einmal  durch  Hume 
aus  seinem  ,.dogmatisclien  Schlummer"  aufgeweckt,  worin  er  sich 
befunden .  solange  ihm  die  Verstand(!sbegriffe  unmittelbar  auch 
für  Elemente  der  äufseren  AVirklichkcit  gegolten  hatten,  rastete 
Kant  nicht,  bis  er  sich  ihrer  Zahl,  ebenso  wie  vorher  hei  den  An- 
schauungsformen, versichert  hatte,  um  dann  vom  Giunde  aus  das 
Gebäude  der  Vernunl'tkritik  zu  errichten,  das  vor  allem  auch  seiner 
Natur})hilosoj)hie  eine  sichere  Heimstätte  bieten  sollte.  Die  Vollen- 
dung dieses  AV^erkes  nahm  zwai*  noch  viele  Jahre  der  angestrengtesten 
Gedankenarbeit  Kants  in  Ans])i'uch  :  als  es  dann  aber  endlich  im 
Jahre  1781  erschien,  da  glaubte  er  auch  seine  Absicliten.  soweit 
sie  die  oSaturphilosophii!  betrafen,  erreicht  und  seiner  dynamischen 
Naturanschauung  eine  Grundlage  gegeben  zu  haben,  auf  der  sie  für 
alle  Z(äten  sicher  stehen  kiumte. 


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II.  Die  kritisclie  Natuipliilosopliie. 

1,  Die  Grundlegung  der  Naturphilosophie. 

a)  Die  reine  .NaturAvissenscliaft. 

Die   Philosophie  hat  die  Aufirabe.   in  das   Aggre^rat  der  Rinzel- 
erkenntnisse  und  die  Vielheit  der  Sonderwissenschaften  Einheit  und 
systematischen    Zusammenhang    zu     bringen.       Philosophie    ist    die 
einzige  Wissenschaft,  die  systematischen  Zusammeidianir.   Zusammen- 
hang verschiedener  Erk(Mintnisse  in  einer  Idee,  besitzt  und  eben 
damit  auch  alle  andern   Wissenschaften  systematisch,    d.  h.   erst  zu 
Wissenschat'ten    im    eifrentlichen  Sinne   macht    (111.   r)4.S).     „Mathe- 
matik, Naturwissenschaft,  selbst  die  em])irische  Kenntnis  der  ]\Ienschen 
haben  einen  Indien   Wert  als  Mittel  gnUstenteils  zu  zufälligen,    am 
Ende    aber    doch    zu    notwendigen    und    wesentlichen    Zweck(>n    der 
]\Ienschheit,    aber  alsdann    nur  durch    A'ermittelung  einer   X'ernunt't- 
erkenntnis  aus    blofsen  Eegrilfen.    die,   man    mag   sie  benemien.   wie 
man   will,   eigentlich  nichts  als   Metaphysik  ist"   (r);")!)).      In   der  Ge- 
stalt   der    Metaphysik    geht    die    Philosophie    über    d(Mi    Iidialt  der 
vielen   Einzelwissenschaften  hinaus    und   zeigt,    wie   ihrc^   sämtlichen 
Ergebnisse    in    einem   letzten   Grunde  aller  Dinge  zusammenhängen, 
aus  dem   sie  auch  notwendig  abfliefsen    müssen.     Natürlich    k(»nnen 
diese    Bedingungen,     die    vor    und    jenseits    aller    Erfahrun^^    Hegen, 
nicht  selbst  von  der  F]i'fahrung  abhangig  sein.     Denn  das  empirisch 
oder  a   ])ostei-iori   auf  dem   Wege  der  Erfahrung  Gewonnene  ist  als 
solches   ein  Zufälliges   und  Besonderes;    das    Fundament    aller    Er- 
fahrungswissenschaften al)er  mufs  seinerseits  allen  Zulalligkeiten  und 
Besonderheiten  eines  der  Erfahruni^  abcrcnvonnenen  Erkeinitnismaterials 
enthoben  sein.     Allgemein  und  notw^endig  ist  nui-  die  apriorische 
Erkenntnis,  die  unmittelbar  aus  dem  AVesen  der   allgemeinen    Ver- 
nunft   hervorgeht.      Soll     es    fol^dich    eine    meta])liysische     I]e«j^riin- 
dung    der    dynamischen  Naturansciiauung    aeben,    so    mul's  (X'w  von 
Newton    übernommene  und   in   der   Erfahrung  ei'])i-obte   Wahrheit 
unabhängig  von   der  Erfahrung   oder  a   pi'iori.   aus  reinen   Vernunft- 
begriffen abfi^eleitet  werden. 

Das  war  die  Aufgabe,  die  Kant  in  seiner  Physischen  Monado- 


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132 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


lü<,ne  bereits  ^^oXö^t  zu  liaben   jjjlaubte,    als  ihm  die  Frage  aufstiefs. 
ob   es  deini   überhaupt  n)()glich  sei.     vor    alhir  Erfahrung  und    uu- 
abhiingi^'    von    ihr    eine  Erkenntnis    zu    gewinnen,    die    trotzdem 
mit    der    Erfahrung    übereinstimmt.     Die    Meta])hysik    enthält 
Einsichten,   wie   diejenige   von   dem  notwendigen  Zusammenhange  der 
^aturbegebenheiten   nach   (hmi   Gesetz   der  Kausalität,    die    für    die 
Erfahrung  gelten  und  dennoch  ganz  ohne  sie  gefunden    sein  sollen 
—   wer  sagt  (k-nn.  dafs  beide  restlos  in  einantk^-  aufgehen  müssen, 
der   Inhalt   der  Vernunft  und   das   Gesetz   in   der  Krfabi-ung?    I>ilden 
Erfahrung  und    Venuinft  zwei  verschiedene  (Tr(d)i(»te,   woher  alsdann 
der   I*arallelismus  zwiscben   beiden?    Wie  kommt  die  Vernunft  dazu, 
die    Erfahrung    abzuspiegeln,    auf  die    sie  doch  keinerlei  Jxücksicht 
nehmen  soll?      Was   macht,   dafs  die  Ph-fahruni^^  dem  Vernunftgesetz 
sich   unterwirft,   zu   (hMii   sie  doch  aul'ser  Beziehung  stehen  soll  ?    Die 
bisherige   Phih)sophie   hatte  die  Übereinstimmung   beider  <Mnfach   für 
selbstverständlich    angesehen;    es    war    ilir    gar    nicht    in    den   Sinn 
gekommen,   die   widerspruchslos  «j^ebildete  Vcrnunfterkenntnis   kcüinte 
sich  nicht   mit  der   Wirklichkeit  (hn-ken.      Aber   sie    hielt    auch    mit 
Spinoza    an  der  stillschweigenden    \'orausset/ung  fest,   die  eigent- 
liche   Wirklichkeit,    (his   Objekt  der  j\Ieta})hysik    müsse   unräundich, 
unzeitlich,    rein    intelli^ibel     und    foft;bch   auch    in   h)fj:isclie    Forimdn 
auflösbar  sein.     Kant,  der  aus  der  Annahme  des   inlhixus  ])hysi(;us 
die  richtige   Konsecpienz  gezogen   hatte,    dafs    Raum    und  Zeit   aucii 
aufserhalb   des  Sul)jekts  (leltung  hal)en  müfsten.   teilte   diese  Voraus- 
setzung nicht:    darum   mufste    ihm   notwendig  (he   Übereinstimmung 
von   Denken   und   Sein  zui    Frage    werden,   welche  den   Aiuhu'eu   für 
S(dbstverstän(Uich  galt  (vgl.  oben  S.  I.S  f.).      Darf  die  ^Fetiiphvsik  eine 
solche   rhereinstimmuu^r    noch   behaupten,   wenn   sie   (hirch    ihre    all- 
gemeine Annahme  des  inthixus  j)hysieus  die  Voraussetzung  ni<'ht  mehr 
teilt,   worauf  jene  begrünch't   ist?      Woher  überhau])t  das  Zusammen- 
fallen (k'r  apriorischen  mit  der  aposteriorischen  Erkenntnis?    So  htutete 
das  Problem,  von  welchem  Kant  aU(Mi  (»rund  hatte,  in  seinem  erwähnten 
Brief    an    Marcus     Herz    zu    sagen,    dafs    es    ..in    der  That  den 
Schlüssel   zu   dem  ganzen  (Teheimnisse  der   bis  dahin   sich  selbst  ver- 
borgenen  Metaphysik   ausmache"   (VIH.   (iS!)). 

Der  Rationalismus  beruhte  auf  der  Grundannahnie.  es  sei  najg- 
lich,  den  ganzen  Inhalt  der  Erkenntnis  analytisch  aus  blofsen  Be- 
griffen abzuleiten.  Dabei  kam  also  gar  kein  anderes  Prinzij)  in 
Frage  als  der  Satz  der  Identität  und  der  Satz  des  Widerspruches. 
Nun  ist  zwar  ebendeshalb  das  analytische  Urteil  a  j>riori, 
aber  es  ist  auch  rein  logisch  ,  ein  l)lorses  Erläuteiaingsurteil ;  es  klärt 
uns  zwar  über  den  Inhalt  des  Begriffes  auf,  aber  es  fügt  ihm  kein 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


133 


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neues  Prädikat  hinzu,  das  nicht  schon  im  Subjcdxt  selbst  enthalten 
wäre.  Der  Satz :  „alle  Kör])er  sind  ausgedehnt"  erweitert  unsere 
Erkenntnis  nicht,  denn  die  Ausdehnung  geJK'irt  so  notwendig  zum 
Begriff  des  Kcirpers,  dafs  er  ohne  sie  nicht  denkb.n-  ist.  Das 
synthetische  Urteil  dagegen  ist  zwar  ein  Erweiteiaingsurt^Ml, 
fügt  dem  Subjekt  thatsächlich  einen  neuen  Begrift"  hinzu,  wie  in  dem 
Satze:  ,.alle  Kiü'per  sind  schwer:''  aber  es  ist,  wie  Hu  nie  gezeigt 
hat,  auch  gänzlich  a  ])osteriori  und  real  im  Sinne  einer  Iberein- 
stimmung  mit  der  Erfahrung  nur  deshalb,  weil  es  aus  der  Er- 
fahrung gewonnen  ist.  Das  analytische  Urteil  ist  nicht  das  Urteil 
der  Metaj)hysik.  denn  „ihr  ist  es  gar  nicht  darum  zu  thun,  iJegriife, 
die  wir  uns  a  j)riori  von  Dingen  machen,  blofs  zu  ziiij^lii'dern  und 
dadurch  analytiscli  zu  erläutern,  sondern  wir  wollen  unsere  P]r- 
kenntnis  a  priori  erweitern,  wozu  wir  uns  solcher  Grundsätze  be- 
dienen müssen,  die  über  den  gegeheneji  Hegriif  etwas  liinzutliun" 
(IIL  40).  Das  synthetische  Urteil  al)er  geliiü't  auch  nicht  in  die 
Metaphysik,   denn  diese  ist  eine  Vernunfterkenntnis  a   })riori. 

Giebt  es  überhaupt  synthc^tische  Urt(^ile  a  ])riori?  Wenn  es 
keine  giebt,  diinn  giebt  es  folglich  auch  keine  Metaphysik,  keine 
Naturphilosophie  im  Sinne  einer  apriorischen  Erkenntnis,  dann 
müssen  wir  uns  mit  dem  Aggregat  von  Einzelerkenntnissen  be- 
gnügcMi,  das  bei  seiner  blofs  synthetischen  Natur  nicht  einmal 
Wissenschaft  heifsen  kami.  Nun  bestand  aboT  für  den  I^ationalisten 
Kant  gar  kein  Zweifel,  dafs  wenigstens  der  Mathematik  dies.'  Khren- 
bezeichnung  in  höchstem  Mafse  zukomme,  und  das  Beis])iel  dt^- 
M;ithematik  hatte  ihn,  wie  wir  gesehcui  haben,  (hizu  geführt,  die 
A])odiktizität  auch  gewisse^-  allgenu^iner  Sätze  der  Naturwissenschaft 
gegenüber  den  Einwänden  des  Empirismus  zu  retten.  Beine  Mathe- 
matik und  reine  Naturwissenschaft,  wie  Kant  sie  nennt, 
enthalten  beide  Sätze,  „die  teils  apodiktisch  gewil's  durch  hlofse 
Vernunft,  teils  durch  die  allgemeine  Einstimmung  aus  der  Hilah- 
rung,  und  dennoch  als  von  Erfahrun,i(  unal)hängig  (hrrcligängig 
erkannt  werden.  Wir  haben  also.*'  sa^^t  Kant  in  den  „  I^rolegomena" 
(iTcS;;),  „einige  wenigstens  unbestrittene  synthetische  Erkenntms 
a  priori  und  dürfen  nicht  fragen,  ob  sie  ni(),G:lich  sei  (denn  sie  ist 
wirklich),  sondern  nur:  wie  sie  moghcli  sei.  um  aus  dem  Prni/ip 
der  Möglichkeit  der  gegebenen  auch  die  Mögliclikeit  aller  übrigen 
ableiten  zu  können*'  (IV.  L>:|).  So  verwandelt  sich  die  Frage  nacli 
der  Übereinstimmung  (h'r  ai)riorischen  und  der  aposteriorischen 
Erkenntnis  m  die  andere.  (He  das  Grundproblem  der  ge- 
samten Vernunftkritik  ausmacht:  „Wie  sind  synthe- 
tische   Urteile   a   priori    möglich?*' 


134 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilüsoi)hie. 


135 


Die  Antwort  liaben  wir  früher  schon  vorweg  genommen.    „Es 
sind,"    lieil'st    es    in    der    Kritik    der   reinen  Vernunft,    „überhaupt 
nur    zwei    Fälle    möglich,    unter    denen   synthetische    Vorstellung 
und    ihre    Gegenstände    zusammentrellfen,     sich    auf    einander    not- 
wendigerweise beziehen    und    gleichsam   einander  begegnen  können: 
entweder    wenn     der    Gegenstand    die    Vorstellung    oder    diese    den 
Gegenstand  allein  möglich  macht.     Ist  das  Erstere,  so  ist  diese  Be- 
ziehung   nur    em])irisch,    und    die  Vorstellung   ist    niemals  a  priori 
möglich.     Ist  aber  das  Zweite,  so  ist  die  Vorstellung  in  Ansehung 
des    Gegenstandes    alsdann    a    priori   bestinmiend,    wenn    durch    sie 
allein    es    möglich    ist,    etwas    als    einen    Gegenstand   zu  erkenneii" 
(III.    111).     Oder   wie    es   an  einer  andern  Stelle  heilst:    „Es  sind 
nur  zwei   Wege,   auf  welciien   eine  notwendige  Übereinstimmung  der 
Erfahrung  mit  den  Begriffen  von  ihren  Gegenstiinden  gedacht  werden 
kann  :    entweder  die   Erfahrung   macht  die  Begriffe    oder  diese   Be- 
grilfe  machen  die  Erfahrung  möglich.     Das  Erstere  tindet  nicht  in 
Ansehung  der  Kategorieen    (auch    nicht    der  reinen  sinnlichen   An- 
schauung) statt;   denn  sie  sind  Begriffe  a  priori,   mithin  unabhängig 
von  der  p]rfahrung.      Folglich    bleibt    nur    das    Zweite    übrig,    dafs 
nämlich  die  Kategorieen  von  Seiten   des  Verstandes  die  Gründe  der 
Möglichkeit  aller   Erfahrung  überhauj»t  enthalten*'  (13;")).     Alle  Er- 
fahrung,   so  wie  sie  im  Bewufstsein  vorhanden  ist,    „enthält  aufser 
der  Anschauung  der  Sinne,   wodurch  etwas  gegeben   wird,   noch 
einen    Begriff    von    einem  Gegenstande,    der  in  der  Anschauung 
gegeben  wird  oder  erscheint.     Demnach  werden  Begriffe  von  Gegen- 
ständen    überhaupt     als    Bedingungen    a    priori    aller    Erfahrungs- 
erkenntnis zum  Grunde  liegen  ;  folglich  wird  die  objektive  Gültigkeit 
der  Kategorieen,  als  Begritfen  a  })riori,  darauf  beruhen,  dai's  durch 
sie    allein    Erfahrung    (der   Form    des   Denkens  nach)    möglich    sei. 
Denn  alsdann  beziehen  sie  sich    notwendigerweise^    und  a  priori  auf 
Gegenstände   der    Erfahrung,    weil   nur   vermittelst   ihrer  ül)erliaupt 
irgend  ein  Gegenstand  der  Erfahrung  gedacht  werden  kann"   (112). 
Sind    die    reinen    Anschauungen,    Kaum   und    Zeit,    als 
Formen  der  Sinnlichkeit,   die  notwendigen  Bedingungen,   unter  denen 
allein  uns  Gegenstände  erscheinen,    d.   h.  empirisch  angeschaut  und 
gegeben    w^erden    kchinen,    und    mit    welchen   sie  dalier  auch  not- 
wendig übereinstimmen  müssen,    so  sind  die    Kategorieen    oder 
die    reinen   Formen   des    Denkens    die    B  e  d  i  n  g  u  n  g  e  n    a    p  r  i  o  r  i 
der    Möglichkeit    der    E  r  f  a  h  r  u  n  g ,    „  weil    Erfahrung  selbst 
eine  Erkenntnisart  ist,   die   Verstand  erfordert,   dessen   Kegel   ich  in 
mir,    noch    ehe    mir  Gegenstände   gegeben    wei'den.    mithin  a  i)riori 
voraussetzen    mufs,    welche    in  Begriilen  a  priori  ausgedrückt  wird. 


nach    denen    sich    also    alle   Gegenstände  der  Erfahrung  notwendig 
richten    und    mit    ihnen    übereinstimmen    müssen"    (IS).     Auf  den 
reinen    Anschauungen     beruht     die    Möglichkeit    der    synthetischen 
Urteile  a  priori    in    der  Mathematik.     Auf  den   reinen  Formen  des 
Denkens  beruht  es,  dafs  wir  synthetische  Urteile  a  priori  über  die 
Gegenstände    der    Erfahrung    machen    kcuinen.     Der  Inbegriff  aller 
Gegenstünde  der  Erfahrung  aber  heilst  N  a  t  u  r  (III.  1 9.  IV.  44  ).    Folg- 
lich  machen  die  Kategorieen  jene  reine  Naturwissenschaft  m()glich, 
„die  a  priori    und    mit    aller    derjenigen  Notwendigkeit,    welche  zu 
apodiktischen   Sätzen  erforderlich  ist.   Gesetze  vorträgt,  unter  denen 
die    Natur    steht"    (IV.   44).     Weit  entfernt,  dafs  wir    alle    Natur- 
gesetze   nur    aus    der   Erfahrung   entnehmen   kihmten   und  uns  mit 
ihrer  hypothetischen  Geltung  begnüi^^Mi   müfsten.   mufs  die  Natur 
sich    vielmehr    nach    dem    Verstände   richten,    und  die 
Kategorieen   sind   Begriffe,     welche    den    Erscheinungen,     iiiitliin  der 
Natur,  als  dem  Inbegriffe  aller  Erscheinungen.  Gesetze  a  jjriori  vor- 
schreiben,"   ohne   welche   diese   selbst   nicht  m()glich  ist    (III.    133). 
„Es  ist  um  nichts  befremdlicher,  wie  die  Gesetze  der  Erschei- 
nungen in  der  Natur  mit  dem  Verstände  und  seiner  Form  a   priori, 
d.   h.    seinem  Vermr)gen,    das  Mannigfaltige  überhaupt    (gemäfs  den 
Kategorieen)  zu  verbinden,  als  wie  die  Erscheinungen  selbst  mit  der 
Form  der    sinnlichen  Anschauung    a  priori  ühereinstimnien  müssen. 
Denn  Gesetze  existieren  ebenso  wenig  in  den  Erscheinungen,   sondern 
nur    relativ    auf    das  Subjekt,    dem    die   Erscheinungen    inhfirieren, 
sofern  es  Verstand  hat.  als   Erscheinungen  nicht  an  sich  existieren, 
sondern    nur    relativ    auf    dasselbe    Wesen,    sofern    es    Smne    hat" 
(ebd.   f.).      „Wären    die  (Gegenstände,    womit  unsere   Erkenntnis    zu 
thun  hat,    Dinge  an  sich  seihst,   so  würden  wir  von  diesen  gar  keine 
Begriffe  a  priori  haben   können.    Denn  woher  sollten  wir  sie  nehmen? 
Nehmen  wir  sie  vom  Oi)jekt,   so  wären  unsere  Begriffe  blols  empirisch 
und  keine  Begriffe  a  priori.     Nehmen  wir  sie  aus  uns  selbst,  so  kann 
das,   was   ))lofs  in   uns  ist,   die  Beschaffenheit  eines  von   unseren    Vor- 
stellungen  unterschiedenen  (gegenständes   nicht   bestimmen,   d.   h.   ein 
Grund  sein,  warum  es  ein  Ding  geben  solle,  dem  so  etwas,  als  wir 
in  G(Klanken  haben,    zukomme,    und  nicht  vielmehr  alle  diese  Vor- 
stellung leer  sei.     Dagegen,   wenn   wir  es  überall  mit  Erscheinungen 
zu  thun  haben,    so  ist  es    nicht    allein  möglich,    sondern    auch  not- 
wendig, dafs  gewisse  Begriffe  a  priori  vor  der  em])irischen  Erkenntnis 
der  G'l'genstände  vorhergehen.     Denn  als  Erscheinungen   machen  sie 
einen  Gegenstand  aus,    der  blofs  m  uns  ist.    weil  eine  blofse  .Modi- 
fikation  unserer  Sinnlichkeit  aufser  uns  gar  nicht  angetroffen  wird" 
(564).    „Erscheinungen  sind  nur  Vorstellungen  von  Dingen,  die  nach 


136 


B.    Kant  als  Xat,uri)hilosoph. 


dem,  was  sie  an  sich  sein  nKigen,  unerkannt  sind.  Als  blofse  Vor- 
stellungen aber  stehen  sie  unter  gar  keinem  Gesetze  der  Verknüpfung, 
als  demjenigen,  welches  das  verknüpfende  Vermögen  vorschreibt" 
(lo4).  „So  übertrieben,  so  widersinnig  es  also  auch  lautet,  zu 
sagen:  der  Verstand  ist  selbst  der  Quell  der  Gesetze 
der  Natur  und  mithin  der  f  ormalen  K  i  nh  ei  t  der  Natur, 
so  richtig  und  dem  Gegenstande,  nämlich  der  Erfahi'ung,  angemessen 
ist  gleichwohl  eine  solche  Behauptung"  {~)^'A).  ,.Der  reiue  Verstand 
ist  in  den  Kategorieen  das  Gesetz  der  synthetischen  Feinheit  der  Er- 
scheinungen und  macht  dadurch  Erfalirung  ihrer  Form  nach  allererst 
und  ursj)rünglich  möglich"  (r)S4).  Eben  deshalb  ist  er  nicht  blofs 
ein  Vermögen,  durch  Vergleichung  der  Erscheiiiun,i,^en  sich  Regel  zu 
machen,  sondern.  ,,er  ist  selbst  die  Gesetzgebung  der  Xatur.  d.  li. 
ohne  Verstand  würde  es  überall  nicht  Natur,  d.  h.  synthetische 
Einheit  des  j\Ianiii«,^faltigen  der  Erscheinungen  nach  Eegeln,  ge])en" 

(58;)  vgl.  57(i). 

Das  ist  die  ,. veränderte  Methode  der  Denkart",  die  fundamentale 
Umkehrung  unserer  .c^esamten  bisherigen  Auffassung  der  Welt,  die 
gewaltigste  Kevolution,  die  jemals  ein  Denker  vollbracht  hat,  welche 
Kant  selbst  mit  der  That  des  Copernicus  vergleicht.  „Bisher 
nahm  man  an,  alle  unsere  Erkenntnis  müsse  sich  nach  den  Gegen- 
ständen richten;  aber  alle  Versuche,  über  sie  etwas  durch  Begriffe 
auszumachen,  wodurch  unsere  Erkenntnisse  erweitert  würden,  gingen 
unter  dieser  Voraussetzung  zu  Nichte.  j\Ian  versuche  es  daher 
einmal,  ob  wir  nicht  in  den  Aufgaben  der  Metaphysik  damit  besser 
fortkonnnen,  dafs  wir  annehmen,  die  Gegenstünde  müssen  sich  nach 
unserer  Erkenntnis  richten,  welches  so  schon  besser  mit  der  ver- 
langten Möglichkeit  einer  B]rkenntnis  derselben  a  priori  zusannnen- 
stimmt,  die  über  Gegenstände,  ehe  sie  uns  gegeben  werden,  etwas 
festsetzen  soll.  Es  ist  hiermit  ebenso  als  mit  den  ersten  Gedanken 
des  Copernicus  bewandt,  der,  luichdem  es  mit  der  Erklärung 
der  Himmelskörper  nieht  gut  fort  wollte,  wenn  er  annahm,  das  ganze 
Sternenheer  drehe  sich  um  den  Zuschauer,  versuchte,  ob  es  nicht 
besser  gelingen  mik'.hte,  wenn  er  den  Zuschauer  sich  drehen  und 
dagegen  die  Sterne  in  Buhe  liefs"  (I I  f.).  Diese  Anschauung  scheint 
insbesondere  den  Naturforschern  Schwierigkeiten  zu  bereiten,  insofern 
sie  gewohnt  sind,  die  Natur  für  ein  an  sich  existierendes  Keich 
von  Gegenständen  und  Begebenheiten  anzusehen,  welchen  sie  ])assiv 
zuzuschauen  und  deren  Gesetze  sie  demütig  zu  em])fangen  haben, 
ohne  von  ihrer  Seite  etwas  hinzuzuthun.  Und  doch  beruht  jene 
Denkart  auf  dem  nämlichen  Prinzip,  das  auch  der  Naturforscher 
den  Objekten  seiner  Wissenschaft  gegenüber  anwendet.    „Als  G  alilei 


II.   Die  kritische  Naturphilosophie. 


13  i 


seine  Kugeln  die  schiefe  Fläche  mit  einer  von  ihm  selbst  gewählten 
Schwere  herabrollen,  oder  Torricelli  die  Luft  ein  Gewieht,  was 
er  sich  zum  voraus  dem  einer  ihm  bekannten  Wassersäule  gleich 
gedacht  hatte,  tragen  liefs.  oder  in  noch  sj)äterer  Zeit  Stahl  Metalle 
in  Kalk  und  diesen  wiederum  in  Metall  verwandelte,  ind(Mi.  er  ihm 
etwas  entzog  und  wiedergab,  so  ging  allen  Naturforschern  ein  Licht 
auf.  Sie  begriffen,  dafs  die  Vernunft  nur  das  einsieht,  was  sie 
selbst  nach  ilirem  Entwürfe  hervorbringet,  dafs  sie  mit  Brin/i])ic'ii 
ihrer  Urteile  nach  beständigen  Gesetzen  vorangehen  und  die  Natur 
niJtigen  müsse,  auf  ihre  Fragen  zu  antworten,  nicht  aber  sich  allein 
gleichsam  am  Leitbande  gängeln  lassen  müsse;  denn  sonst  hängen 
zufällige,  nach  keinem  vorher  entworfenen  Plane  gemachte  Beobach- 
tungen gar  nicht  in  einem  notwendigen  Gesetze  zusammen,  welches 
doch  die  Vernunft  sucht  und  bedarf.  Die  Vernunft  nuifs  mit  ihren 
Prinzi])ien.  nach  denen  allein  übereinkommende  Erscheimmgen  für 
Gesetze  gelten  können,  in  einer  Hand,  und  mit  dem  Exp(M'ini(Mit. 
das  sie  nach  jenem  ausdachte,  in  der  anderen  an  die  Natur  gehen. 
zwar  um  von  ihr  belehrt  zu  werden,  aber  nicht  in  der  (^)u:ilität 
eines  Schülers,  der  sich  alles  vorsagen  läfst.  was  der  Lehrer  will, 
sondern  eines  bestallten  Richters,  der  die  Zeugen  nötigt,  auf  die 
Fragen  zu  antworten,  die  er  ihnen  vorle.c^t.  Und  so  hat  Physd<  die 
so  vorteilhafte  Kevolution  ihrer  Denkart  lediglich  dem  Einfalle  zu 
verdanken,  demjt^nigen,  was  die  Vernunft  sell)st  in  die  Nalur  hmeni- 
legt,  gemäfs  dasjenige  zu  suchen  (nicht  ihr  anzudichten),  was  sie 
von  dieser  lernen  mufs.  und  wovon  sie  für  sich  selbst  nichts  wissen 
würde.  Hierdurch  ist  die  Naturwissenschaft  allererst  in  den  sicluTeu 
Gang  einer  Wissenschaft  .i^^ebracht  worden,  da  sie  so  viel  .hihr- 
hun(Lrte  durch  nichts   weiter   als  ein  hlofses   Herumtappen  gewesen 

war"   (H>)* 

Nur  dasjenige  vermögen  wir  an  den  Dingen  a  ])rioi-i  zu  er- 
kennen, was  wir  vorher  selbst  in  sie  legen  (1!)).  ..Die  Ordnung  und 
Kegelmäfsigkeit  an  den  Erscheinun-en.  dir  wir  Natur  nennen,  hringen 
wir  selbst  (unbewufst)  hinein,  und  würden  sie  auch  nicht  (bewulster- 
nuifsen)  darin  Ünden  kihinen.  hätten  wir  sie  nicht  oder  die  Natur 
unseres  Gemüts  ursprünglich  hineingelegt"  (r)S2).  Wir  bildeten  uns 
ein.  unser  Geist  sei  eine  leere  Fläche,  auf  welche  die  Zauberlaterne 
der  aufser  uns  befindlichen  Natur  ihre  Bilder  wirlt :  jetzt  zeigt  sich, 
dafs  unser  (^eist  vielmehr  der  Sonne  gleicht,  die  aus  unerschöpi- 
licher  hülle  ihr  Licht  m  den  unendlichen  Wedtraum  hmansstrahlt 
und  Leben.  Bewegung  und  bunte  Farbenpracht  hervorzaubert.  Die 
ganze  Natur  ist  unser  Werk,  sowohl  die  ,Natur  m  materieller 
Bedeutung,    nämlich    der  Anschauung   nach,    als    der  Inbegrilt   der 


18^ 


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B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


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Erscheinungen"  überhaupt,  als  auch  die  „Natur  in  formell  er  Be- 
deutung als  der  Inbegriff  der  Regeln,  unter  denen  alle  Ersclieinungen 
stehen  müssen,  wenn  sie  in  einer   P^i-fahrung    als  verknüpft   gedacht 
werden  sollen"   (IV.  1)1)  vgl.  44  f.).     ,. Wir  müssen  aber  empirische 
Gesetze  der  Natur,    die  jederzeit  besondere  Wahrnehmungen 
voraussetzen,   von  den  reinen  oder  allgemeinen  Naturgesetzen, 
welche,  ohne  dafs  besondere  Wahrnehmungen  zu  Grunde  liegen,   blofs 
die   Bedingungen  ihrer  notwendigen  Vereinigung  in  einer  Erfahrung 
enthalten,  unterscheiden;  in  Ansehung  der  letzteren  ist  Natur  und 
mögliche    Erfahrung    ganz    und    gar    (4nerlei-'    (IV.    (kS).      r^^'C 
M()glichkeit  der  Erfahrung  überhaupt  ist  also  zugleich   das  allge- 
meine Gesetz  der  Natur,  und  die  Grundsätze  der  ersteren  sind 
selbst  die  Gesetze  der  letzteren;  denn  wir  kennen   (wie  gesagt)  Natur 
nicht    anders    als    den   Inbegriff   der   Erscheinungen,    d.   h.  der  Vor- 
stellungen  in   uns,   und   können   daher  das  (Jesctz   ihrer  Verknüpfung 
nirg<'nd  anders  als  von  den  (Trundsätzen  der  X'erknüpfung  derselben 
in  uns,   d.  h.  den  Bedingungen  der  notwendigen  Vereinigung  in  einem 
Bewufstsein,  welches  die  Möglichkeit  der   Erfahrung  ausnuicht,    her- 
nehmen" (IV.  i)7).     ,:^n(  mehre  (iresetze  aber  als  die.  auf  denen  eine 
Natur  überhaupt,    als  Gesetzmiifsigkeit    der   Klrsclieinungen    in 
Kaum  und  Zeit,  beruht,  reicht  das  reine  Verstandesvermögen  nicht  zu, 
durch   blofse  Kategorieen  den    Erscheinungen  a  priori  Gesetze  vorzu- 
schreiben.   Beso  n  dere  Gesetze,  weil  sie  empirisch  bestimmte  Erschei- 
nungen betreffen,  können  davon  nicht  vollständig  abgeleitet  werden,  ob 
sie  gleich   alh^  insgesamt  unter  jenen  stehen.    Es   mufs    F]rfahrung 
dazu    kommen,    um    die  letzteren    überhaupt    kennen  zu  lernen; 
von    P]rfahrung    aber  überhau})t  und  dem.    was  als    ein  Gegenstand 
derselben   erkannt   werden   kann,   geben  allein    jene  Gesetze  a  priori 
die    Belehrung"   (III.    KU).    —    Nur  auf  Erfahrung  überhau])t  also 
bezieht  sich  die  reine  Naturwissenschaft,   und  ihren  Iidialt  bilden  die 
allgemeinen  Gesetze  der  Natur,    die   durch  keine  Erfahrung   kennen 
zu  lernen  sind,    weil    Erfahrung  selbst    solcher  Gesetze  bedarf,    die 
ihrer  Möglichkeit  a,  ))riori   zu  Grunde  liegen.    Die  Naturwissenschaft 
im  weiteren  Sinne  dagegen  sehliefst  auch  die  empirisch(Mi  (besetze  in 
sich  ein,   und  diese  ist  somit  durchaus  auf  die  P]rfahrung  angewiesen. 
„Zwar  kihmen   empirische  (jesetze  als  solche  ihren  Ursprung  keines- 
wegs vom   reinen  Verstände   herleiten,   sowenig  als   die  unermefsliche 
iVIannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  aus   der  reinen   Form  der  sinn- 
lichen  Anschauung   hinlänglich    begriffen   werden   kann.      iVber  alle 
em])iri  sehen    (besetze    sind     doch     nur    besondeVe    Be- 
stimmungen der  r  (M  n  e  n  G  e  s  e  t  z  e  d  e  s  Verstandes,  unter 
welchen  und  nach  deren  Norm  jene   allererst  möglich  sind  und  die 


Erscheinungen  eine  gesetzliche  Form  aimehnien,  sowie  auch  alle 
Erscheinungen,  unerachtet  der  Verschiedenlieit  ihrer  empirischen 
Form,  dennoch  jederzeit  den  Ikulingungen  der  reinen  Sinnlichkeit 
gemäfs  sein  müssen"  (III.  583  f.).  ,.Ohne  Unterschied  stehen  alle 
Gesetze  der  Natur  unter  höheren  (Trundsätzen  des  Verstandes.  ind(^m 
sie  diese  nur  auf  besondere  Fälle  der  P^rscheinung  anwenden.  Diese 
allein  geben  also  den  Begriff,  der  die  Bedingung  und  gleichsam  den 
Exponenten  zu  einer  Regel  überhaupt  enthält:  Erfahrung  aber  gieht 
den   Fall,  der  unter  der  Kegel  steht"  (IIU  ![);)). 

So  gieht   es  also  eine   Wissenschaft  der  Natur,    eine  not- 
wendige und  vollständige   Erkenntnis  ihrer  Gesetze.      „Selbst 
Naturgesetze,  wenn  sie  als  Grundsätze  des  empirischen  Verstandes- 
gebrauchs  betrachtet  werden,    führen    zugleich    einen  Ausdruck    der 
Notwendigkeit,   mithin  wenigstens  die  Vermutung  einer  i^e- 
stimmung  aus  Gründen,   die  a  })riori   und  vor  aller  Erfahrung  gültig 
seien,    bei  sich"    (ebd.).      Denn    „der  Verstand  schöi)ft  seine 
Gesetze  a  priori  nicht  aus  der  Natur,  sond  er  n  schreibt 
sie  dieser  vor"   (IV.   Ö(S).     Die  Grundsätze  imiglicher   Erfahrung 
sind    zugleich     die    allgemeinen    Gesetze    der    Natur,    die    a    ])ri(>ri 
erkannt  werden  kiüjuen.     Die  Vollständigkeit    der    Erkenntnis   aber 
schreibt  sich   daher,   dafs  die.  Grundsätze  des  reinen  Verstandes  ;iuf 
den   reinen  VerstandesbegrifFen  oder  Kategorieen   beruhen   und   diese 
es    hi/.iou    Endes    sind,    deren   Beziehung    auf    mr.gliche   Erfahrung 
alle  reine  Verstandeserkenntnis    a  ])riori  ausmacht.    Kant    aber    die 
Kategorieen.  die  er,  an  der  Hand  der  lV)rmalen  Logik  aus  den  Urteds- 
formen  entwickelt,    in  seiner  berühmten  „Tafel"  so  vollständig    bei- 
sammen zu   haben  glaubt,  dafs  man   nur  alle  ührige  apriorische  Er- 
kenntnis  davon  abzuleiten   braucht,    um   auch    in    BezuiJ^    auf  sie  zur 
Vollständigkeit    zu  gelangen.      Da   „gedachte  Tafel    alle   Elementar- 
begriife  des  Verstandes  vollständig,  ja,  selbst  die  Forni  eines  Systems 
derselbiMi    im    menschlichen     Verstände    enthält,     folglich    auf    alle 
Momente    einer    vorhabenden    siiekulativen    Wissenschal't.    ja,    sogar 
ihre  Ordnung   Anweisung    gieht",     so    wird    es    also    durch    sie  erst 
möglich,   „den   Plan  zum  Ganzen  einer  Wissenschaft,  sofern 
sie  auf  Begriffen  a  priori   beruht,    vollständig  zu    entwerten   und  sie 
mathematisch    nach    bestimmten   Prinzipien    abzuleiten"   (Hl^j. 
Das   „System   der  Kategorieen    macht    alle    Behandlung    (Miies  jeden 
Gegenstandes  der  reinen  Vernunft  selbst  wiederum  systematisch   und 
giebt    eine    ungezweifelte  Anweisung    o(hr   Leitfaden    ab.     wie    und 
durch    welche    Punkte    der   Untersuchung    j«  <le    inelaphysischc    P>e- 
trachtung,   wenn  sie  vollständig  werden  soll,   müsse  geführt  werden; 
denn  es  erschöpft  alle  Momente  des  Verstandes,   unter  welche  jeder 
andere  Begrilf  gebracht  werden  mufs"  (IV.  73). 


140 


B.    Kant  als  Naturphiloso})!!. 


II.    l)'\v  kritisclie  Naturpliilosophie. 


141 


vi 

4 


1» 


Es  giebt  also  eine  reine  Naturwissenschaft.  „Das  Systematische, 
was  zur  Form  einer  AV^issenschaft  erfordert  wird,  ist  hier  vollkommen 
anzutreffen,  weil  über  die  .c^enannteri  formalen  Bedingungen  aller 
Urteile  überhaui)t,  mithin  aller  liegein  überhaupt,  die  die  Logik  dar- 
bietet, keine  mehr  m(>glich  sind  und  diese  ein  logisches  System,  die 
darauf  gegründeten  Begriffe  aber,  welche  die  Bedingungen  a  priori 
zu  allen  synthetischen  und  notwendigen  Urteilen  enthalten,  eben 
darum  ein  transcendentales  (d.  h.  auf  Erfahrung  gehendes  und  sie 
ermöglichendes),  endlich  die  Grundsätze,  vermittelst  deren  alle  Er- 
scheinungen unter  diese  Begriffe  subsumiert  werden,  ein  j)hysiolo- 
gisches,  d.  h.  ein  Natursystem,  ausmachen,  Avelches  vor  aller 
empirischen  Naturkenntnis  vorhergeht,  diese  zuerst  m()glich  macht 
und  daher  die  eigentliche  allgemeine  und  reine  Natur- 
wissenschaft genannt  werden  kann"   (IV.   r)4  f.).   — 

Die  ,.physiologischen  Grundsätze"  des  reinen  Verstandes,  als 
Inhalt  der  reinen  Naturwissenschaft,  drücken  diejenigen  allgemeinen 
Bedingungen  aus,  unter  denen  alle  Gegenstände  stehen  müssen,  um 
für  uns  Inhalt  der  Erfahrung  zu  werden.  Kant  hat  sie  unter 
dem  Titel  „Analytik  der  (Jl  ru  n  d  sä  t  z(^"  vorgetragen,  die  den 
bei  weitem  wichtigsten  Teil  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  aus- 
macht. Dafs  sie  sy  n  t  lie  t  i  s  che  Urteile  sein  müssen,  ist  selbst- 
verständlich, denn  nur  nut  solclien  liat  es  die  Vernunftkritik  zu 
thun.  Grundsätze  aber  heifsen  jene  allgemeinstfMi  Naturgesetze 
nicht  blofs  deshalb,  weil  sie  die  (t runde  anderer  Urteile  in  sich 
enthalten,  sondern  weil  sie  selbst  nicht  in  höheren  und  allgemeineren 
Erkenntnissen  gegründet  sind    (TIT.    147). 

Die  Kategorieentafel,  in  welcher  gerade  dieser  Begriff  voran- 
steht, leitet  dazu  an,  die  Erscl Meinungen  zunächst  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte der  Quantität  zu  betrachten.  Dies  führt  uns  auf  die 
reinen  Anschauungen  Kaum  und  Zeit.  Wir  erinnern  uns.  dafs  alle 
Erscheinungen  insgesamt  durch  diese  Formen  gleichsam  hin(hirch- 
gegangen  sein  müssen,  um  überhau])t  Inhalt  unseres  Bewufstseins 
sein  zu  können,  dafs  sie  diese  Formen  an  sich  tragen,  selbst  räum- 
licher und  zeitliclier  Natur  sein  müssen.  Darum  lautet  din'  erste 
Grundstitz  in  derjenigen  Fassung,  die  ihm  Kant  in  der  zweiten 
Auflage  der  Vernunftkritik  vom  Jahre  17S7  gegeben  hat:  „Alle 
A  n  s  c  h  a  u  ii  n  g  e  n  s  i  n  d  e  x  t  e  n  s  i  v  e  G  r  ö  f  s  e  n"  oder,  wie  es  in 
der  ersten  Auflage  hiefs:  „Alle  Ersclieinungen  sind  ihrer  An- 
schauung nach  extensive  Gröfsen." 

Nur  dadurch  also  empfängt  der  Inhalt  unseres  Bewufstseins 
überhaupt  den  (Jharakter  der  P^rscheinung,  dafs  er  uns  in  den 
Formen  des  Raumes  und  der  Zeit  sich  darstellt.     Unsere  Sinnlich- 


keit zerrt  gleichsam  das  Material  der  Eui])in)duni]:('ii  räumlicli  und 
zeitlich  auseinanch^r  und  bietet  es  so  dem  Verstände  zur  weiteren 
Bearbeitung  dar.  Ist  aber  dies  der  Fall,  dann  ist  es  selbst- 
verständlich, dafs  alle  Erscheiiuingen  extensive  Gröfsen  sind,  denn 
dieser  letztere  Ausdruck  bedeutet  ja  gar  nichts  Anderes,  als  was 
auch  schon  in  dem  Begrilf  „Erscheinung"  enthalten  ist.  Es  mufs 
dalier  billig  Wundei'  nehmen,  den  obigen  Satz  unter  den  Grund- 
sätzen des  reinen  Verstandes  aufgeführt  zu  sehen,  ja,  es  klingt  bei- 
nahe ironisch,  wenn  Kant  ausdrücklich  l)eteuert.  deiNclbe  gäbe 
unserer  Erkenntnis  a  ])ri()ri  „grol'se  Erweiterung"  (l")iS).  Jener 
Satz  ist  nichts  weniger  als  ein  synthetisches  Urteil  a  ])riori,  er  ist 
einfach  ein  analytisches  Urteil,  eine  leere  Tautologie.  Was  Kant 
veranlai'st  hat,  ihn  trotzdem  unter  seine  Grundsätze  aufzunehmen, 
das  ist  die  Bedeutung,  die  er  für  die  mathematische  Methode  in 
der  Naturwissenschaft  l)esitzt.  „Denn  er  ist  es  allein,  welcher  die 
reine  jVIathematik  in  ihrer  ganzen  iVäzision  auf  Gegenstände  der 
Erfahrung  anwend]>ar  macht,  welches  ohne  diesen  Grundsatz  nicht 
so  von  selbst  erhellen  möchte,  ja.  auch  manchen  Widerspruch  ver- 
anlafst  hat"  (ebd.).  Aus  diesem  Grunde  heilst  er  das  Prinzip 
der  Axiome  der  Anschauung,  insofern  (hirch  ihn  die  un- 
mittelhar  gewissen  (3rrun(lsät/(^  oder  Axiome,  wiunit  die  Matlie- 
matik  operiert,  erst  m()glic)i  wiiden.  „Die  em])irische  xVnschauung 
ist  nur  durch  die  reine  möglich;  was  also  die  Geometrie  von 
dieser  sagt,  gilt  auch  ohne  Widerrede  von  jener,  und  die  Aus- 
flüchte, als  wenn  Gegenstände  dei"  Sinne  nicht  dn\  Hegehi  (hn* 
Konstruktion  im  Baume  (z.  B.  der  unendlichen  Teilbarkeit  der 
Linien  oder  Winkel)  gemäfs  sein  dürfen,  mufs  we.^falh'U.  Denn 
dadurch  s])richt  man  dem  Ilaumc  und  init  ilim  zugleich  aller  Mathe- 
matik objektive  Gültigkeit  ;d)  und  weifs  nicht  mehr,  wai-um  und 
wie  weit   sie  auf   P]rscheinungen   anzuwenden  sei*'    (ebd.). 

Der  obige  Grundsatz  wiederliolt  offenbar  nur  in  anderer 
Form  die  Lehre,  die  schon  in  der  transcendentalen  Ästhetik 
ihren  Ausch'uck  gefunden  hatte,  (hifs  nämlich  von  einer  uneinge- 
schränkten Anwendbarkeit  der  Mathematik  auf  Gegenstände  der 
Erfahrung  nui'  dann  che  Bede  sein  könne,  wenn  diese  seihst  nur 
Erscheinungen  seien.  AlsJModilikationen  unseres  Bewufstseins.  müssen 
sie  notwendig  unter  den  formah-n  Bedingungen  des  letzteren  stehen, 
die  zugleich  die  Formen  aller  mathematischen  Erkenntnis  hildeii. 
„Alle  Einwürfe  dawider  siml  nur  Ghik.-inen  einer  falsch  belehilen 
Vernunft,  die  irrigerweise  die  (legenstände  der  Sinne  von  der 
formalen  Bedingung  unserer  Sinidichkeit  loszumachen  gedenkt  und 
sie,  ol)gleich  sie  blofs   Erscheinungen  sind,  als  Gegenstände  an  sich 


J42 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturpliiloso])hie. 


143 


selbst,  (lein  Verstände  gegeben,  vorstellt,  in  welchem  Falle  freilich 
von  ihnen  n  priori  gar  nichts,  mithin  auch  nicht  durch  reine  Be- 
grifi'e  vom  Raum  synthetisch  erkannt  wenlen  könnte,  und  die 
Wissenschaft,  die  diese  bestimmt,  niindich  die  (iconu^trie,  selbst 
nicht  möglich  sein  wüi-de"  (ebd.).  ,.Es  wird."  sagt  Kant  in  den 
Prolegcmiena,  „allemal  ein  bemerkungswiirdiges  Phänomen  in  der 
Gescliichte  der  Philosophie  bleiben,  dafs  es  eine  Zeit  gegeben  hat, 
da  selbst  Mathematiker,  die  zugleich  Philosophen  waren,  zwar  nicht 
an  der  liichtigkeit  ihrer  geonu'trischen  8iitze,  sofern  sie  l)lofs  den 
llauni  beträfen,  aber  an  der  objektiven  Gültigkeit  und  Anwen- 
dung d  i  eses  P)  e  gri  ff  es  selbst  und  a  1 1  c  i-  geometrischen 
B  e  s  t  i  m  m  u  n  g  e  n  d  e  r  s  e  1  b  e  n  auf  N  a  t  u  r  zu  zweifeln  anfingen, 
da  sie  besorgten,  eine  Linie  in  der  Natur  möchte  doch  wold  aus 
])hysischen  Punkten,  mitbin  der  wahre  Kaum  im  Objekte  aus  ein- 
fachen Teilen  bestehen,  obgleich  der  Baum,  den  der  (Tcometer  in 
Gedanken  hat,  daraus  keineswegs  bestellen  kann.  Sie  ei'kannten 
nicht,  dafs  dieser  Kaum  in  Gedanken  den  i)hysischen.  d.  h.  die 
Aus(h>hnung  der  Materie  selbst  mötglich  mache:  dafs  dieser  gar 
keine  Beschaffenheit  der  Dinge  an  sich  selbst,  sondern  nui"  eine 
Form  unserer  sinnlichen  Vorstellungskraft  sei;  dafs  alle  Geg(4i- 
stilnde  im  Baume  blofs  Erscheinungen,  d.  h.  nicht  Dinge  an  sich 
selbst,  sondern  Vorstellungen  unser(>r  sinnlichen  Anschauung  seien, 
und,  da  der  K.aum.  wie  ibn  sich  der  Geometer  deidd,  ganz  genau 
die  Form  der  sinnlichen  Anschauung  ist,  die  wir  a  priori  in  uns 
finden,  und  die  den  Grund  der  Möglichkeit  aller  äufseren  Krschei- 
nungen  (üirer  Form  mich)  enthält,  diese  notwendig  und  auf  das 
Präziseste  mit  den  Sätzen  des  Geometers,  die  er  aus  keinem  er- 
dicbteten  Begrilf.  sondern  aus  der  subjektiven  Grundlage  aller 
äul'seren  Erscheinungen,  nändicli  der  Sinnlichkeit  selbst  zitdit.  zu- 
sammenstimmen müssen.  Auf  solche  und  keine  andere  Art  kami 
der  Geometer  wider  alle  Ohikanen  einer  seicliten  Metai)hysik  wegen 
der  ungezweifelten  objektiven  Bealität  seiner  Sätze  gesichei't  werden, 
so  befremdend  sie  auch  dieser,  weil  sie  nicht  bis  zu  den  (Quellen 
ihrer  Begriffe   zurückgeht,   scdieinen   müssen"   (TV.    'U)  f.). 

Worauf  es  Kant  wesentlicb  ankommt,  ist,  die  Natur,  als  den 
Inbegriff  aller  Erscheinungen  im  Baume,  den  Gesetzen  der  räum- 
lichen Anscliauungsart  unterworfen  zu  s(dien.  Es  ist  aber  klar,  dafs 
die  matbematische  Behandlung  der  Naturerscheinungen  nicht  blofs 
das  äufsere  Verhältnis  der  (liegenstände  im  Kaume,  sondern  auch 
ihr  Auftreten  in  der  Zeit  mit  einschliefst;  so  drückt  ja  z.  B.  das 
wichtige  ]\Ionient  der  Geschwindigkeit  iiicbts  Anderes  aus  als  das 
Verhältnis  des  Weges  zur  Zeit.      Wenn  Kant  trotzdem   nur  von  der 


Eaumanschauung  spricht  und  damit  dem  Kaum  ein(>n  Vorzug  vor 
der  Zeit  giebt,  obwohl  doch  beide,  als  Anschauungsformen,  einander 
koordiniert  sein  sollen,  so  ist  der  Grund,  dafs  wold  eine  reine  Wissen- 
schaft des  Kaunies,  aber  nicht  in  dem  gleichen  Sinne  auch  eine 
Wissenschaft  der  Zeit  m()glich  ist.  Es  ist  dies  einer  von  denjenigen 
Purikten.  welcher  gerechte  Bedenken  gegen  die  kantische  Gleich- 
stellung der  Zeit  mit  dem  Kaum  hervorruft,  und  es  ist  kein  Zufall, 
dafs  Kant  in  seiner  transcendentalen  xVsthetik  die  Parallele  in  der  Be- 
handlungsweise  des  Baumes  und  der  Zeit  mvht  in  der  irleichen 
Weise  durchgeführt  hat.  So  fehlt  z.  B.  aulfälliger  W(dse  in  der 
ersten  Auflage  der  Vernunftkritik  die  ..transcendentale  P]rörterung 
des  Begriffs  der  Zeit,"  worin  Kant,  eljenso  wie  er  vorher  auf 
die  reine  Anschauung  des  Baumes  ,,die  Möglichkeit  der  Geometrie 
als  einer  synthetischen  Erkenntnis  a  priori*'  gegründet,  nun  auch, 
gezeigt  hätte,  welche  Wissenschaft  auf  der  reinen  Anschauungsform 
der  Zeit  beruht.  Es  ist  zwar  nachher  insbesondere  dundi  Schoj)en- 
hauer  und  Kuno  Fischers  Darstellung  der  kantischen  Phihtsophie*) 
üblich  geworden,  die  Arithmetik  als  reine  Wissenschaft  dei-  Zeit 
zur  Geometrie  in  Parallele  zu  setzen,  und  K;int  selbst  hat  diese 
Parallele  mehrfach  gestreift  (z.  B.  Proleg.  S'ij.  nulessen  scheint  er 
sich  hierüber  doch  nicht  völlig  klar  gewesen  zu  sein,  und  keines- 
wegs s])ielt  bei  ihm  die  Aiäthmetik  dieselbe  grofse  Bolle,  wie  er  sie 
von  jeher  der  Geometrie  zuerteilt  hat.**)  Krst  später  nach  Ab- 
fassungseiner,. Metaphysischen  Aid'aiigsgründeiler  Naturwissenschaft." 
die  seine  ,.Phoronomie"  enthielt,  hat  Kant  auch  eine  ,.transcenden- 
tale  Erörterung  des  Begriffs  der  Zeit*'  als  besonderen  i*aragraplien 
in  seine  transcendentale  Ästhetik  eingefügt,  und  hier  heilst  es  nach 
der  Bemei'kung.  dafs  der  Begriff  der  Veränderung  inid  nnt  ihm  der 
Begriff  der  Bewegung  (als  Verändeiung  des  Ortes)  nur  durch  und 
in  der  Zeitvorstellung  möglich  sei  :  ..Also  erklärt  unsei-  Zeitbegrilf 
die  ]\I()glichkeit  so  vieler  synthetischen  Frkenntnis  a  i)riori,  als  die 
allgemeine  Bewegungslehre  darlegt"  (III.  (JÖ).  Dafs  Ka^it 
in  solcher  AVeise  die  Gelegeidieit  benutzte,  um  seiner  Phoionomie 
schon  in  der  Vernunftkritik  eine  Unterlage  zu  verschallen  und  da- 
mit zugleich  die  offenbare  Lücke  in  seiner  transcendentalen  Ästhetik 
auszufüllen,  dies  ist  ebenso  begreiflich,  wie  es  leicht  ist,  einzusehen, 
dafs   jene    Gleichstellung    der    allgemeinen   Bewegungslehre    mit   der 


*j  Scho])eiihauor:  l"'l)t'i-  die  4  fache  Wurzel  des  Satzes  vorn  zureicheiideu 
GruiKh'  i<  :\H.  Die  Welt  als  Will<'  uiul  Vorstellunir  Bd.  1.  !)0.  JI.  .V.«  i\  K. 
Fisclier:  (lesch.  d.  neueren  Phil.  Hd.  Hl-  :^  Aull.  MA.  337.  V<rl.  dagegen 
J^'inio  Erdnianii:    JjOi^ik  (  hSl»2).      1.    1"'^  f. 

**J  C.   Th.  Michaelis:  Üb(>r  Kants  ZahlheirrilV  (lö84j. 


144 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


ifiiiii 


reinen  Geometrie  nicht  lialtbiir  ist.  Denn  von  der  Eewe.crun,c^. 
welche  Raum  und  Zeit  in  sich  vereini^^t,  l)emerkt  Kant 
selbst  ausdrücklich,  dafs  sie  die  Wahrnehmung  von  etwas  Beweg- 
lichem voraussetze:  ., Im  Raum,  an  sich  seihst  ])etrachtet.  ist  nichts 
Bewegliches;  daher  das  Bewegliche  etwas  sein  mufs,  was  im  J\  a  u  m  e 
nur  durch  Erfahrung  geliinden  wird,  mithin  ein  e  m  j)  i  r  i  s  c  li  es 
Datum-  (III.  il).  Weder  also  ist  die  allgemeine  Bewegungslehre 
eine  Wissenschaft  hlofs  der  Zeit,  sondern  zugh4ch  eine  solche  des 
Raumes,  noch  ist  sie  ,,reine"  Wissenschaft,  wie  die  reine  Geo- 
metrie, und  damit  büfst  sie  den  Anspruch  ein.  mit  dieser  auf  eine 
und  dieselbe  Stufe  gestellt  zu  werden.    — 

Der  erste  Grundsatz  ilriickte  die  allgemeinste  Bedingung  aus, 
unter  der  überhaupt  etwas  Gegenstand  unseres  Bewufstseins  sein 
kann.  Ei-scheinungen,  als  Gegenstände  der  Wahrnehmung,  sind  aber 
niciit  l)lofs  reine  (Idofs  formale)  Anschauungen,  sondern  sie  enthalten 
aulser  dieser  Anschauung  noch  ,.die  ^Materien  zu  irgend  einem  Ob- 
jekt überhaupt  (wodurch  etwas  M\isti(Tendes  im  ]\aume  oder  drr 
Zeit  vorgestellt  wird),  d.  i.  das  Reale  der  Empfindung,  also  hlofs 
subjektive  Vorstellung,  von  der  man  sich  nur  bewulst  werden  kann, 
dafs  das  Subjekt  afhziert  sei.  und  die  man  auf  ein  Objekt  überhaupt 
bezieht,  in  sich*'  (M)^)).  Ks  müssen  Emptindungen  als  Inhalt  zui* 
Form  der  reinen  Anschauung  hinzukommen,  damit  in  unserem  Ue- 
wufstsein  ein  Inhalt  entsteht.  Nun  ist  eine  jede  Emptiudung  einer 
Verringerung  fähig,  so  dal's  sie  abnchnuMi  und  so  allmählich  ver- 
schwinden kann.  Die  Emj)iindung  in  einem  Augenblick  entsteht 
nicht  durch  successive  Svnthesis  vieler  Emj)findungen.  sie  ist  nicht 
blofse  Zusammensetzung  eines  Gleichartigen,  wie  die  extensive  Gröfse, 
sondern  sie  wird  als  Kinheit  apprehendiert.  und  die  Vielheit  oder 
Verschiedenheit  entsteht  nur  durch  Annäherung  zur  Negation  -=  0; 
d.  h.  es  wird  ihr  ,,zwar  keine  extensive,  aber  doch  eine  Gröfse, 
also  eine  intensive  (4röfse  zukommen,  welcher  korres])ouilierend 
allen  Ol)jekt(Mi  der  Wahrnehmung,  sofern  diese  Emplindung  enthält, 
intensive  Grbfse.  d.  i.  (unGrad  des  p]influsses  auf  den  Sinn 
beigelegt  werden  mufs"  (ebd.).  „In  allen  K  r  s  c  h  e  i  n  u  n  ge  n  hat 
das  Reale,  was  ein  Gegenstand  der  Rmi)findung  ist, 
intensive  GriU'se,  d.  i.  einen  (irad."  In  der  ersten  Auflage 
hiefs  es:  ,,In  allen  Erscheinungen  hat  die  p]mptindung  und  das  ixeale, 
welches  ihr  an  dem  Gegenstande  entspricht  frealitas  jdiaenomenon) 
eine  inttuisive  (iriU'se.  d.  i.  einen  Grad*'   (  l^S). 

Hat  der  erste  Grundsatz  alle  Gegenstände  der  äufseren  An- 
schauung oder  die  räumliche  Natur  der  mathematischen  Bestimm- 
barkeit zugänglich  gemacht,   so  scheint  es.  als  ob  nun  dieser  zweite 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


145 


Satz,  indem  er  die  inneren  Erscheinungen,  die  lediglich  in  der 
zeitlichen  Aufeinanderfolge  gegeben  sind,  als  der  ^Messung  fähige 
Gröfsen  darzustellen  sucht,  die  Anwendung  der  Arithmetik  auf  die 
Emptindungen  gestatte  und  damit  vielhäclit  auch  eine  mathematische 
Psychologie  (mathesis  intensorum)  möglich  madie.  Kant  führt 
ihn  auf  die  Kategorie  der  Qualität  zurück,  obwohl  es  sich  auch 
hier  um  Grbfsen  handelt.  Er  stützt  sich  dabei  auf  die  rein  zu- 
fällige Beziehung  der  Ausdrücke  Realität  und  Negation,  die  in  der 
Kategorieentafel  unter  den  Begriff  der  (Qualität  befafst  wercU^n. 

Realität  ist  dasjenige,  was  in  der  em])irischen  Anschauung  der 
Empfindung  korres})ondiert;  Negation  dasjenige,  was  dem  Mangel 
derselben  entspricht  (l(jO).  Demnach  besteht  zwischen  Realität 
(Emj)findungsvorstellung)  und  der  Null,  d.  h.  dem  gänzlich  Leeren 
der  Anschauung  in  der  Zeit,  ein  Unterschied,  der  eine  GnUse  hat. 
,,da  nämlich  zwischen  einem  jeden  Grade  Licht  und  der  Eiiibteruis, 
zwischen  einem  jeden  Grade  Wärme  und  der  gänzlichen  Kälte,  jedem 
Grade  der  Schwere  und  der  absoluten  Leichtigkeit,  jedem  Grade 
der  Erfüllung  des  Raumes  und  dem  viillig  leeren  Räume  immer 
noch  kleinere  Grade  gedacht  werden  kr>nnen.  so  wie  selbst  zwischen 
einem  Bewufstsein  und  dem  völligen  Unbewufstsein  (psychologischer 
Dunkelheit)  immer  noch  kleinere  stattfinden;  dabei-  keine  W^ahr- 
nehmung  möglich  ist,  welche  einen  absoluten  Mangel  bewiese,  z.  B. 
keine  ])sychologische  Dunkelheit,  die  nicht  als  ein  Bewufstsein  be- 
trachtet werden  könnte,  welches  nur  von  anderem  stärkeren  über- 
wogen wird,  und  so  in  allen  Fällen  d(^r  Em])lln(lung.  weswegen  der 
Verstand  sog^ar  Kni])findungen,  welche  die  eigentliche  Qualität  der 
empirischen  Vorstellung  ausmachen,  antizipieren  kann  vermittelst 
des  Grundsatzes,  dafs  sie  alle  insgesamt,  mithin  das  Reale  aller 
Erscheinungen  Grade  habe,  welches  die  zweite  Anwendung  der 
Mathematik  (mathesis  intensorum)  auf  Naturwissenschaft  ist'"  (IV.  of). 
vgl.  r)(S).  .,So  werde  ich  z.  B.  den  Grad  der  Emi)iinduugen  des 
Sonnenlichts  aus  etwa  LH)ü,()0()  Erleuchtungen  durch  den  Mond  zu- 
sammensetzen   und    a    priori    bestimmt    geben,    d.    li.    konstruieren 

köniRur^  (III.   167). 

Es  ist  sehr  eigentündich,  wenn  Kant  uns  einzureden  sucht, 
dieser  Grundsatz  sei  a  priori  gefunden.  Er  bezeichnet  ihn  im  Unter- 
schiede von  dem  Axiome  der  Anschauung  als  Prinzip  der  Anti- 
zipationen der  Wahrnehmung,  insofern  ,.alle  Erkenntnis,  wodurch 
ich  dasjenige,  was  zur  empirischen  Erkenntnis  gehört,  a  priori  er- 
kennen und  bestimmen  kann,  eine  Antizipation"  genannt  werden  k.lnne. 
Indessen  mufs  er  selbst  zugeben  :  „Da  an  den  Erscheinungen  etwas  ist, 
was  niemals  a  priori  erkannt  werden  kann  und  welches  daher  auch 

D  r  e  w  s  ,   Kuntt  Naturphilosophie.  ^^ 


^1 ' 


146 


B.    Kant  als  Jsaturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosoi^hie. 


147 


den  eigentlichen   ITnterschied    des  Empirischen   von    der  Erkenntnis 
a  priori  ausmaclit.   nändieh   die  Enipfindun-  (als  Materie  der  AVahr- 
nehniun.i.^),  so  folgt,  dai's  diese  es  eigentlich  sei,  was  gar  nicht  antizipiert 
werden  kann.     Gesetzt  aher,  es  finde  sich  doch  etwas,  was  sich  an 
jener  Empfindung   als  Empfindung  überliau])t     (ohne    dafs  eine 
besondere  gegeben  sein  mag),  a  priori  erkennen  läfst,   so  würde  dieses 
im  ausnehmenden  Verstände    Antizipation   genannt    zu   werden  ver- 
dienen,   weil    es  befremdlich  scheint,    der  p]rfahrung  in  demjenigen 
vorzugreifen,  was  gerade  die  Materie  derselhen  angeht,   die  man  nur 
aus  ihr  schiipfen   kann''    (111.   ir)llf.).      ^'un    hat   aber  Kant    selbst 
an   ein  solches  Etwas  nicht  geglaubt,   denn  er  vermag  die  Bemerkung 
nicht    zu     unterdrücken:     ,,Es    hat     gleichwohl    diese    Antizipation 
der  AVahrnehmung   liir  einen  der  transcendentalen  Betrachtung  ge- 
wohnten   und    dadurch  behutsam    gewordenen   Naturforscher  immer 
etwas  Auffallendes    an    sich    und    erregt  darin)er    einiges   Be- 
denken,   dafs  der  Verstand  einen    dergleichen    synthetischen  Satz, 
als  der  von    dem  Grade  alles  Ixealen    in    der   Erscheinung  ist.    und 
mithin    d(^r   Möglichkeit   des    ir.neren   Unterschiedes   der   Emplindung 
selbst,    wenn  man   von  ihrer  empirischen  (^)ualität  abstrahiert,    anti- 
zi])iert"   (1()4).    Ein  sehr  gerechtfertigtes  Bedenken,   da.  dei' in  Krage 
kommende  Satz   durchaus  nicht  a  juiori  ist.      Dal's  die    Kmplindung 
einen  veränderlichen  Grad   besitzt,   der  bis  zui  Null  herabgehen   und 
von  ihr  wiederum  em])orsteigen  kann,  ist  offenbar  ein  (hircli  und  chirch 
aposteriorisches    l'rteil ;    es   beruht   nur  unfeiner   Vergleichung  der 
verschiedenen   Em])findungen   unter  einander.      Oh  der    Eni])llndung. 
die  als  solche   doch  nur   subjektiv    ist.   ein    lleales    im    Gegenstände 
korresixtndiert,  das  ist  aus  apriorischen  Gründen  erst  recht  nicht  einzu- 
sehen,  es   kann   nur   durch   die  Erfahrung  erkannt  werden   und  bhabt 
daher  stets  blofs  Hypothese.    Es  ist  daher  nicht  richtig,   wenn  Kant 
sagt:    „Alle   Empfindungen  werden  als  solche  zwar  nui-  a   ])osteriori 
gegeben,  aber  die  Eigenschaft  derselben,  dals  sie  einen  (^rad  haheii. 
kann  a  priori   erkannt  werden"    (K);")).    Sie   kami  so  wenig  a  p^riori, 
d.   h.   in   diesem   Falle   abgesehen   von   aller    und  jeden    i'ealen    Basis. 
(>rkannt  werden,   wie  es  überhaupt  möglich   ist.   eine  Abstraktion   zu 
machen,    ohne    etwas    zu    haben,    von  dem    man    abstrahiert.      Der 
zweite    sogenannte   Grundsatz   Kants    ist    also    zwar    allenfalls    syn- 
thetisch,  aber  er  ist  durcJi   und  durch   (mii)irischer  Natur. 

,.[n  allen  Erscheinungen  hat  das  Beah«,  was  ein  Gegenstand 
der  Empfindung  ist.  intensive  GWH'se.  d.  i.  einen  Grad."  Ist  es 
nicht  auffällig,  dafs  Kant  die  intensive  Gri.lse  der  Empfindung 
unmittelbar  auch  auf  das  ihr  korresi)ondierende  lleale  überträgt? 
Die  intensive  Gröfse  ist  doch  ilirer  Definition  nach  nur  ein  Moment  in 


der  nlealen  Sphäre  des  Bewufstseins ;  es  scheint  keineswegs  gerecht- 
fertiirt  zu  sein,  sie  ohne  Weiteres  auch  dem  Ohiekt.  dem  Gejien- 
Stande  der  äufseren  Sinne.  zuzuschriMben.  Selbst  ein  so  eifriger 
Apcdoget  der  kantischen  Philosophie,  wie  Stadler,  kann  sich  nicht 
verhehlen,  dafs  Kant  ,.einer  verhänfrnisvollen  Unkhirheit  Vorschub 
geleistet"  habe,  wenn  er  das  reale  Koi-relat  der  Emplindung  einfach 
als  intensive  Gröfse  bezeichnet.*)  Das  Reale  ist  docdi  nicht  uii- 
niittelhar  auch  die  Empfindung,  sondern  deren  Korndat,  genauer 
die  ITrsaclie  derselhen.  Kant  gesteht  ja  seihst:  ..Wenn  man  diese 
Kealität  als  Ursache  (es  sei  der  Emplindung  oder  anderer  Idealität 
in  der  Erscheinung,  z.  B.  einer  \eränderung)  betrachtet,  so  nennt 
man  den  Grad  der  Kealität  als  Ursache  ein  ^Moment,  z.  B.  dns 
Monient  der  Schwere"  (ll>(n.  Damit  ist  also  zugi^geben :  die  Km- 
l>tindung  und  das  ihr  korresj)ondierende  Reale  sind  zum  mindesten 
so  verschieden,  wie  Ursache  und  Wirkung,  womit,  wenn  es  wahr 
ist,  dafs  dei-  Schlafs  von  dw  AVirkung  auf  die  Ursache  immer 
unsicher  bU'ibt,  es  doch  wohl  ausgeschlossen  scheint,  der  realen 
Ursaclie  der  Em])hndung  die  Eigenschaft  der  unmittdhar  ucgehenen 
EmpHndung  beizulegen.  Indessen  wird  sicli  zeigen.  d;ifs  für  Kunt 
das  ]\eale  thatsächlich  mit  der  F]mptindung  zusammenfiillt.  und 
daher  ist  es  auch  nicht  ein  blofser  Zufall,  wenn  er  schon  in  der 
Eormuliei'ung  jinies  Grundsatzes  don  Unterscdiied  zwischen  der 
Em])iindung  und  ihrem  realen  Korrelate  verwischt. 

Indem  niindich  Kant  d;\s  l^^ale  mit  (h^r  Fhn])ilnduiig  identifiziert, 
kehrt  sich  für  ihn  das  ganze  Verhältnis  um.  wie  es  bis  dahin  zwischen 
jenen  beiden  (.Tcgensätzen  bestanden  hatte,  und  die  Be.dität  tritt  in 
nnmittelbare  Abhängigkeit  vom  Suhj<dvt.  Friihei-  war  sie  die 
ursprünglichste»  Bestimmung  der  (Tegenstiinde  als  Dingen  an  sich 
selbst  gewesen,  es  hatte  an  den  (legenständen,  als  aulserhalh  des 
Subjekts  befindlichen,  gelegen,  ob  sie  uns  warm  oder  kalt,  hell  oder 
dunkel  u.  s.  w.  erscheinen.  Nunmehr  sind  alle  diese  scheiidiaren 
Unterschi(^dc  der  Realität  blofs  noch  im  und  am  Suhjekt  vorhanden  : 
nur  deshalh  ist  d'ws  imstamle.  jene  Unterschiede  zu  aiitizipiei'en. 
weil  die  Realität  üherhaujit  nur  sein  eigenes  l^rodukt  ist.  ,.  Das 
Reale  dvv  Empfindung  ist  blofs  subjektive  \'orstellung.  von  der 
man  sidi  nur  bewufst  wei'den  kann,  dals  das  Subjekt  afti/iert  sei, 
und  die  man  auf  ein  Objekt  überhaupt  bezieht"  (If)!!).  Wenn  wir 
also  von  verschiedenen  Graden  dvs  idealen  reden,  so  sprechen  wir 
damit  nicht  von  Dingen  an  sich  selbst  —  denn  von  diesen  wissen 
wir  nichts  und  keinnen  sie  also  auch  nicht  nu'inen,   —  sondern  wir 


')  Stadler:  Kants  Theorie  der  3Iaterie.     59. 


10^ 


4    J' 


148 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


149 


konstatieren  nur,  daCs  unsere  unbewufste  Vorstellun^stluitigkeit  die 
Erscheinungen  in  v(»rschiedenen  Abstufungen  der  Intensität  in  unser 
Bewufstsein  projiziert,  während  die  extensive  GriW'se  der  Anschauung 
bei  allen    äufseren  Erscheinungen  immer    eine  und    dieselbe  bleibt. 

In  seiner  Schrift  über  die  negativen  GniCsen  hatte  Kant  aus- 
einandergesetzt, dafs  die  negative  GrcU'se  keinen  oVIangel  an  Realität, 
sondern  eine  entgegengesetzte  Kealität  bezeichne.  Jetzt  wird  aus 
der  Thatsache,  dafs  alle  Realität  in  der  Wahrnehmung  einen  Grad 
hat,  zwischen  dem  und  der  Negation  eine  unendliche  Stufenfolge 
immer  minderer  Grade  stattfindet  und  gleichwohl  jeder  Sinn  einen 
bestimmten  Grad  der  Rcv.eptivität  der  Rmplindiingcn  haben  mufs, 
geschlossen,  es  sei  keine  Wahrnehmung  und  mithin  auch  keine 
Erfahrung  möglich,  die  einen  gänzlichen  ]\I;ingel  alles  Realen  in  der 
Erscheinung,  es  sei  mittelbar  oder  unmittelbar  bewiese.  In  beiden 
Fällen  handelt  es  sich  darum.  Vorgängen,  sowohl  physischer,  wie 
psychischer  Natur,  welche  der  Rationalismus  in  blofs  logische  Be- 
ziehungen glaubte,  verlUichtigen  zu  kiHinen.  den  Charakter  der 
vollsten  Realität  zu  wahren,  auch  dann  noch,  wenn  sie  dem  unmittel- 
baren Bewulstsein  mit  einem  jVIangel  an  Realität  behaftet  oder 
überhaupt  nicht  zu  existieren  scheinen.  Der  obige  Grundsatz  drückt 
also  nur  die  ins  Subjektive  verkehrte  Wahrheit  der  Schrift  über  die 
negativen  Gröfsen  aus.  dals  es  keinen  absoluten  Mangel  an  Realität, 
kein  absolutes  Aufiir»ren  der  Thätigkeit  im  Dasein  giel)t,  worauf 
und  deren  IVloditikatioiu-n  eben  dieses  Sein  beruht.  Es  kann  einen 
solchen  absoluten  IVlangel  einfach  deshalb  nicht  geben,  weil  jene 
Thätigkeit.  welche  das  Dasein  erzeugt,  die  Thätigkeit  des  vorstellenden 
Subjekts  ist,  und  dtis  Vernu)gen  der  Vorstellungen  oder  der  Verstand 
sich  selbst  aufgäbe,  wenn  er  sein  Funktionieren  gänzlich  einstellen 
würde.  Solange  es  einen  funktionierenden  Verstand  giebt,  solange 
giebt  es  auch  Dasein,  Realität.  W^is  auf  rati(»nalistischein  Stand- 
punkt, wie  die  Ruhe,  als  ein  Mangel  an  Realität  erscheint,  ist  also 
nur  eine  subjektive  Auffassung  unseres  Bewufstseins,  wie  sich  dies 
sofort  uns  offenbaren  würde,  wenn  unser  Bewufstsein  für  höhere 
Grade  der  Intensität  emplanglich  wäre. 

Ist  nun  der  Grundsatz  richtig,  dann  ,.kann  aus  der  Erfahrung 
niemals  ein  Beweis  vom  leeren  Räume  oder  einer  leeren  Zeit  gezogen 
werden.  Denn  der  gänzliche  Mangel  des  Realen  in  der  sinnlichen 
Anschauung  kann  erstlich  seihst  nicht  wahrgenommen  werden  (weil 
die  reine  Anschauung  nur  in  und  an  der  empirischen  möglich  ist), 
zweitens  kann  er  aus  keiner  einzigen  Erscheinung  und  dem  Unter- 
schiede des  Grades  ihrer  Realität  gefolgert,  oder  darf  auch  zur  Kr- 
klärung  desselben  niemals  angenommen  werden.    Beinahe  alle  Natur- 


lehrer, da  sie  einen  grofsen  Unterschied  der  (^)ualität  der  Materie 
von  verschiedener  Art  unter  gleichem  Volumen  (teils  durch  das 
Moment  der  Schwere  oder  des  GeW'ichts,  teils  durch  das  Moment  des 
AV'iderstandes  gegen  andere  bewegte  Materien  wahrnehmen,  schliefsen 
daraus  einstimmig:  dieses  Volumen  (extensive  Gn'H'se  der  Erscheinung) 
müsse  in  allen  Materien,  obzwar  in  verschiedenem  Mafse,  leer  sein. 
Wer  hätte  aber  von  diesen  gröfstentheils  mathematischen  und  mecha- 
nischen Naturforschern  sich  wohl  jemals  einfallen  lassen,  dafs  sie 
diesen  ihren  Schlufs  lediglich  auf  eine  metaphysische  Voraussetzung, 
welche  sie  doch  so  sehr  zu  vermeiden  vorgeben,  griiiidelen.  indem 
sie  annahmen,  dafs  das  Reale  im  Räume  allerwärts  einerlei  sei  und 
sich  nur  der  extensiven  Gr()fse.  d.  h.  der  ]\Ienge  nach,  unterscheiden 
krmne?  Dieser  Voraussetzung,"  sagt  Kant,  „dazu  sie  keinen  Grund 
in  der  Erfahrung  haben  konnten,  und  die  also  blofs  metaphysisch 
ist.  setze  ich  einen  transcendentalen  Beweis  entgegen,  der  zwar  den 
Unterschied  in  der  Erfüllung  der  Räunu^  nicht  erklären  soll,  aber 
doch  die  vermeinte  Notwendigkeit  jener  Voraussetzung,  gedachten 
Unterschied  nicht  anders  als  durch  anzunehmende  leere  Räume 
erklären  zu  können,  völlig  aufbebt  und  das  Verdienst  hat.  den 
Verstand  wenigstens  in  F  rei  he  it  z  u  versetze  n  .  sich 
diese  Verschiedenhoit  auch  auf  andere  Art  zu  denken, 
wenn  die  Xaturerklärung  hierzu  irgend  eine  Hypothese  notwendig 
machen  sollte^'  (HVM.).  Hat  nämlich  jedes  Reale,  das  zu  einem 
bestimmten  (^)uantum  von  Materie  gehört,  seinen  Grad,  der  ohne 
Verminderung  der  extensiven  Gröfse  oder  Menge  unendlich  klein 
sein  kann,  so  kann  eine  Ausspannung,  die  einen  Raum  erfüllt, 
z.  B.  Wärme,  ohne  im  mindesten  den  kleinsten  Teil  dieses  Raumes 
leer  zu  lassen,  in  ihren  Graden  ins  Unendliche  abnehnnni  und  nichts 
desto  weniger  d(ui  Raum  mit  diesen  kleineren  Graden  el)enso  wohl 
erfüllen,  als  eine  andere  Ersclieinung  mit  gröfseren  :  oder  mit  anderen 
Worten:  der  Unterschied  im  Gewicht  u.  s.  w.  zweier  gleidi  grofsen 
Körper  beruht  dann  nicht  mehr  auf  ihrem  verschiedenen  Gehalt  von 
Materie  (Realem),  sondern  auf  der  Verschiedenheit  der  Intensität, 
womit  sich  diese  an  der  Konstituierung  der  betretfenden  Kr,r|.er 
beteiligt.  ,.Meine  A])sicht-',  fügt  Kant  ausdrückhch  binzu,  „ist  bi-r 
keineswegs,  zu  behaupten,  dafs  dieses  wirklich  mit  der  Verschiedenheit 
der  ]yraterie  ihrer  spezifischen  S('hwere  nach  so  bewandt  sei.  son^lern 
nur  aus  einem  Grundsatze  des  reinen  Verstandes  darzutbun,  dals 
die  Natur  unserer  Wahrnehmungen  eine  solche  Erklärungsart  möglich 
mache,  und  dafs  man  fidschlich  das  Reale  der  Erscheinung  dem 
Grade  nach  als  gleich  und  nur  der  Aggregation  und  deren  extensiven 
Grr)fse  nach  als  verschieden  annehme,  und  dieses  sogar  vorgeblicher- 
mafsen  durch  einen  Grundsatz  des  Verstandes  a  priori  behaupte''  (U>4). 


H\ 


150 


B.    Kant   als  Naturphilosopli. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


151 


l 


Die  Ei^^eii Schaft  der  Grörsni,  wonach  an  ihnen  kein  Teil  der 
kleinstni()f]^liche  (kein  Teil  cintach)  ist,  heilst  die  K  o  n  t  i  n  u  i  t  iit  der- 
selhen.  J^inm  und  Zeit  sind  solche  qnanta  continua.  weil  kein  Teil 
von  ihnen  «i^egehen  werden  kann,  ohne  zwischen  Grenzen  (Punkten 
und  Augenhlicken)  eingeschlossen  zu  sein,  mithin  nur  so.  dafs 
dieser  Teil  selbst  wiederum  ein  liaum  oder  eine  Zeit  ist.  Bedenkt 
man,  dafs  Raum  und  Zeit  die  notwendigen  Formen  aller  Erschei- 
nungen sind,  so  sind  demnach  alle  Erscheinungen  überhaupt 
kontinuierliche  (iriWsen,  sowohl  ihrer  Anschauung  nach  als 
extensive,  als  auch  der  inneren  Wahrnehmung  (Empfindung  und 
mithin  Kealitiit)  nach  als  intensive  GiiUsen  (Mil).  und  nur  weil  sie 
dies  sind,  ist  die  gesamte  Natur  (h'i-  Mathematik  /ug.'inglich.  und 
dürfen  wir  der  B(^sorgnis  enthoben  sein,  es  kTuinte  uns  jemals  eine 
p]rscheinung  aufstofsen,  die  sich  in  das  einmal  gewonnene  Weltbild 
nicht  einlügen   liefsc.   — 

Weil  die  obigen  beiden  Grundsätze  die  Gesamtheit  aller  Er- 
scheinungen der  Messung  und  Bereclinung  zugänglich  machen,  so 
werden  sie  von  Kant  auch  als  „Grundsätze  der  Anwendung  der 
JVlathematik  auf  Naturwissenschaft"  (IV.  r)S)  oder  kurzweg  als 
„mathematische  (Trundsätze"  hczeii'hnet.  Sie  gehen  auf  Er- 
scheinungen i  h  r  e  r  b  1  o  f  s  e  n  M  ö  g  1  i  c  h  k  e  i  t  n  a  c  ii  und  lehren,  wie 
dieselben,  sowohl  ihrer  Anschauung,  als  dem  Realen  ilirer  Wahrnehmung 
nach,  gemäfs  den  Reg(dn  einer  mathematischen  Synthesis  erzeugt 
werden  kTtiinen,  d.  h.  sie  sind  konstitutive  (iliundsätze  des 
reinen  Verstandes.  I)i<'  nun  folgendt  n  Grundsätze  machen  nicht 
sell)st  gleichsam  die  Erscheinuiiu:en  erst  mijglich.  sondern  sie  bringen 
nur  ihr  Dasein  a  priori  unter  Regeln.  Da  sie  also  nur 
auf  das  V  (m- h  ä  1 1  n  i  s  dt's  Daseins  sich  beziehen,  so  kiunien  sie 
folglich  blol's  regulative  l*rinzipien  sein.  Kant  bezeichnet  sie 
im  Unterschiede  von  den  mathematischen  atich  als  ..dynamische" 
Grundsätze,  nicht  als  ob  hei  ihnen  irgendwie  ;in  eine  (physische) 
Dynamik  zu  denken  sei,  sondern  weil  sie  ilie  Ver-bindum;-  des 
Daseins  des  JVIanni/^faltigen  betreffen  (IT).')),  und  zwar  indem  sie 
einer  jeden  Erscheinung  ihre  Stelle  in  der  Zeil  und  ihr  Verhältnis 
zu  diestn'  bestimmen. 

,.Da  Erfahrung  eine  Erkenntnis  der  O  1)  j  e  k  t  e  durch  Wahr- 
nehmungen ist,  folglich  das  Verhältnis  im  Dasein  des  Mannigi'altigen, 
nicht  wie  es  in  der  Zeit  zusammengestellt  wiril,  sondern  wie  es  ob- 
j  e  k  t  i  V  i  n  d  e  r  Z  e  i  t  ist,  in  ihr  vorgestellt  werden  soll,  die  Zeit  selbst 
aber  nicht  wahrgenommen  werden  kann,  so  kann  die  Bestimmung  der 
Existenz  der  Objekte  in  der  Zeit  nur  durcdi  (he  Verbindung  in  (h'r  Zeit 
überhaupt^  mithin  nur  durch  a  priori  verknüpfende  Begritfe  geschehen'' 


(1()5f.).  Es  mufs  gewisse  Regeln  gelten,  die  nicht  sowohl  die  An- 
schauungen als  solche  erst  erzeugen,  sondern  die  Verknüpfung 
ihres  Daseins  in  einer  Erfahrun,c^  betreffen :  diese  können  nichts 
Anderes  als  die  Bestimmung  d  e  r  E  x  i  s  t  e  n  z  i  n  d  er  Zeit  n  a  c  h 
notwendigen  Gesetze  n  sein,  unter  denen  sie  allein  objektiv 
'Miltiüf  sind,  mithin  Erfahrung  bilden.  Jene  allgemeinen  (Tcsetze 
enthalten  also  die  N  o  t  w  e  n  d  i  g  k  e  i  t  d  e  r  B  e  s  t  i  m  m  u  n  g  d  (^  s  Da- 
seins in  der  Zeit  ül)erhaupt,  wenn  die  empirische  Be- 
stimmung in  der  relativen  Zeit  objektiv  gültig,  mithin  Eifahrung 
sein  soll  (IV.  r)S).  Kant  nennt  sie  ,.Analogieen  der  Erfah- 
rung." „In  der  Philosophie  bedeuten  Analogieen  etwas  sehr  Ver- 
schiedenes von  demjenigen,  was  sie  in  der  ^Mathematik  vorstellen. 
In  dieser  sind  es  Formeln,  welche  die  Gleichheit  zweier  Grr)fsen- 
verhiiltnisse  aussagen  und  jederzeit  konstitutiv,  so  dafs.  wenn  zwei 
Glieder  der  Proportir)n  gegeben  sind,  auch  das  dritte  dadiu\'h  gc- 
'reben  wird.  d.  h.  konstruiert  werden  kann.  In  der  Bhilosojdiie 
aber  ist  die  Analo^de  nicht  die  (ileichheit  zweier  (luantitativen. 
sondern  (lualitativen  Verhältnisse,  wo  ich  aus  drei  geg.'benen 
Gliedern  nur  das  Verhältnis  zu  einem  vierten,  niclit  aber  dieses 
vierte  Glied  selbst  erkennen  und  a  ])riori  gtben  kann,  wohl  aber 
eine  Regel  habe,  es  in  der  Erfahrung  zu  suchen,  und  ein  Meik- 
mal,  es  in  derselben  aulzufinden.  Eine  Analogie  der  Ertahrung 
wird  also  nur  eine  Regel  sein,  nach  welcher  aus  AValirnelmiungen 
Einheit  der  Erlahrung  (nicht  wie  Wahrnehmung  selbst  als  em- 
pirische Anschauung  überhaupt)  entsju-ingen  soll,  und  als  (Truudsatz 
von  den  Gegenständen  (der  Erscheinungen)  nicht  konstitutiv,  sondern 

blofs  regulativ  gelten''   (IGT  f.). 

„Erfahrung  ist  nur  durch  die  Vorstellung  einer 
notwendigen  Verknüptung  der  Wahrnehmungen  mög- 
lich'' oder,  wie  es  in  der  ersten  Auflage  der  Vernunltkritik  heifst: 
„alle  Erscheinungen  stehen  ihrmi  Dasein  nach 
a  priori  unter  Re-eln  der  Bestimmung  ihres  Ver- 
hältnisses unter  einander  in  einer  Zeit"  —  das  ist  der 
allgemeine  Grundsatz,  der  lür  samthehe  An;dn,meen  der 
Erfahrun-  gilt.  Nun  sind  die  nindi  der  Zeit  Beharrlichkeit.  Folge 
undZuoleichsein;  fcdglich  wird  es  drei  Regeln  alUn«  Zeitverhitltnisse 
der  Erscheinungen  geben,  die  aller  Erfahrung  vorangehen  und, 
indem  sie  einer  jeden  Erscheinung  ihr  DascMU  in  der  Zeit  be- 
stimmen,  selb.t  die  Erfahrung,  d.  h.  einen  vernünttigen  Zu- 
sammenhang aller   Erscheinungen  in  der  Zeit,  er.t^mr^ghch  machen 

''\)er    ersten  Analogie   <ler   Erfahrung    oder   dem    Grundsatz 


Il 


152 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


1 5;^ 


der  Beharrlichkeit  der  Substanz,  der  sich  aus  der  Kate- 
gorie der  Substantialität  ergeben  soll,  ist  von  Kant  die  verschieden- 
artigste Fassung  gegeben  worden.  In  der  ersten  Auflage  lautet 
er :  ,.  A  1 1  e  E  r  s  c  h  e  i  n  u  n  gen  e  n  t  h  [i  1 1  e  n  das  Beharrliche 
(Substanz)  als  den  Gegenstand  selbst  und  das  Wän- 
de 1  b  a  i'  e  als  dessen  b  1  o  f  s  e  Bestimmung,  d .  h .  eine  Art, 
wie  der  Gegenstand  existiert."  In  der  zweiten  Aui  läge 
heilst  es  :  ,, B  e  i  alle  m  Wechsel  der  E)  r  s  c  h  e  i  n  u  n  g  e  n  b  e  - 
harrt  die  Substanz,  und  das  Quantum  derselben 
wird  in  der  K a  t u r  w e d e r  v e  r m ehrt,  n  o c; h  v e r  m  i  n  d  e r t" 
(!(){)).  Aber  auch  diese  Fassung  genügt  Kant  nicht,  und  er  S])richt 
densel})en  Grundsatz  ,, bestimmter"  dahin  aus:  ..Bei  allen  Ver- 
ä  n  d  e  r  u  n  gen  i  n  d  e  r  W  e  1 1  bleibt  d  i  e'  S  u  b  s  t  a  n  z  .  und  n  u  r 
die  A  c  c  i  d  e  n  z  e  n  Wechsel  n"  (1 T  1 ),  insofern  unter  den  letzteren 
die  Bestimmungen  einer  Substanz  verstanden  werden  müssen,  die 
nichts  Anderes  als  besondere  Arten  derselben  zu  existieren  sind  (172). 
Der  Grund  dieser  verschiedenen  Fassungen  ist  klar:  Kant  will 
den  Satz  als  ein  synthetisches  Urteil  a  j)riori  hinstellen,  weil  luir 
darin  seine  Bedeutung  als  eines  Grundsatzes  des  reinen  Verstandes 
beruhen  soll;  der  Grundsatz  der  Beharrlichkeit  der  Substanz  aber 
ist  analytisch,  ja,  sogar  eine  blofse  Tautologie.  Es  ist  ja  selbst- 
verstiindlich.  dafs,  wenn  man  das  Beharrliche  in  allem  AVechsel  der 
Erscheinungen  oder  das  lleale  in  der  Erscheinung,  was  als  Substrat 
alles  \V\H*.hsels  innner  dasselbe  l)leibt.  als  Substanz  bezeichnet,  dafs 
dann  die  Substanz,  als  der  ,.(Tegenstand  selbst,"  auch  in  allem 
AVechsel  beharren  und  folglich  das  Wandelbare  als  seine  blofse 
,,Bestimmung"  existieren  mufs.  ,. Wir  können."  sagt  Kant,  „einer 
Erscheinung  nur  dabei-  den  Namen  Substanz  geben,  weil  wir  ihr 
Dasein  zu  aller  Zeit  voraussetzen"  (171):  und  an  einer  andern  Stelle 
wird  ausdrücklich  die  Beharrlichkeit  als  ein  „wesentliches  und  eigen- 
tündiches  Kennzeichen  dei*  Substanz"  bezeichnet  (1<^4).  Was  Ideibt 
dann  von  "diesem  „so  synthetischen"  Satz  noch  übrig,  wenn  er 
sich  hiermit  als  eine  blofse  Definition  enti)uj)|)t  hat?  „In  der 
That,"  gesteht  Kant  selbst,  „ist  der  Satz:  dal's  die  Substanz  be- 
harrlich sei,  t  a  u  t  o  l  o  g  i  s  c  h.  (!)  Denn  blofs  die  Beharrlichkeit  ist 
der  Grund, ;^.  warum  wir  auf  die  Erscheinung  die  Kategorie  der 
Substanz  anwenden"  (171).  Warum  aber  dann  den  Satz  an  die 
„Spitze  der  reinen  und  völlig  a  i)riori  bestehenden  Gesetze  der 
Natur"  stellen,  die  Natur  seihst  erst  möglich  machen?  man 
müfste  denn  etwa  behaujjten.  „dafs  in  allen  Erscheinungen  etwas 
Beharrliches  sei  (nändich  die  Materie  resj).  das  Ich),  an  welchem 
das  Wandelbare    nichts   als  Bestimmung  seines  Daseins  ist*'   (171). 


;\ 


Dies  ist  aber  wiederum  nicht,  wie  Kant  will,  durch  einen  ..trans- 
cendentalen  Beweis"  a  priori  zu  erhiirteri.  sondern  nur  a  posteriori 
aus  der  Erfahrung  zu  entnehmen,  worin  allein  uns  die  Materie  und 
das  Ich  gegeben  sind. 

„Ich  finde."  sagt  Kant,  „dafs  zu  allen  Zeiten  nicht  blofs  der 
Philosoph,  sondern  selbst  der  gemeine  Verstnnd  die  Beharrlichkeit 
als  ein  Substrat  alles  Wechsels  der  Erscheinungen  vorausgesetzt 
haben  und  auch  jederzeit  als  ungezweifelt  annehmen  werden.  P]in 
Philosoph  wurde  gefragt:  wie  viel  wiegt  der  Hauch?  Er  antwortete: 
ziehe  von  dem  Gewicht  des  verbrannten  Holzes  das  Gewicht  der 
übrigbhnbenden  Asche  ab,  so  hast  du  das  (Trewicht  des  Hauches. 
Er  setzte  also  unwidersprechlich  voraus,  dafs  selbst  im  Feuer  die 
Materie  (Substanz)  nicht  vergehe,  sondei'u  nur  die  F'orni  derselben 
eine  Ahiind(^rung  erleide.  Ehenso  war  der  Satz:  aus  nichts  wii-d 
nichts,  nur  ein  anderei-  Folgesatz  aus  dem  Grundsätze^  der  Beharr- 
lichkeit oder  viehnehr  des  immerwiUirenden  Daseins  des  eigentlichen 
Subjektes  an  den  Erscheinungen"  (17nf.).  Schon  diese  allgemeine 
Übereinstimmung  ist  für  Kant  ein  (irund.  den  a])riorischen  Urspiaing 
jenes  Satzes  zu  beliau])ten.  Denn  aus  der  F^rfalirung  kann  er 
„nimmermehr"  gezogen  werden,  „teils  weil  sie  die  ]\laterien  (Sub- 
stanzen) bei  allen  ihren  Veränderungen  und  Aufhisungen  nicht 
so  weit  verfolgen  kann,  um  den  Stofi"  immer  unvermindeit  anzu- 
treffen, teils  weil  der  (^rundsatz  Notwendigkeit  enthält,  die  jeder- 
zeit das  Zeichen  eines  Prinzi])s  a  prioi-i  ist"  (IV.  (S4).  HierlxM 
wird  sich  nun  freilich  ein  Enipii'ist  schwei'lich  beruhigen.  Er  wird 
mit  Laas  sagen,  ein  Anderes  sei  es,  die  Notwendigkeit  nicht  nach- 
weisen zu  kchnien,  ein  Anderes  zu  behaupten,  dal's  sie  in  der  Natur 
nicht  liege.*)  Für  den  Rationalisten  Kant  fällt  beides  zusammen, 
und  weil  sie  nicht  anders  nachgewiesen  werden  kann,  als  wenn  jener 
Grundsatz  der  Beharrlichkeit  auch  a  ])riori  und  seihst  eine  Be- 
dingung der  i\lr)glichkeit  der  Erfahrung  ist.  so  leugnet  er,  dafs 
jener  aus  der  Erfahrung  abstrahiert  sei.  Thatsiichlicli  liat  ja 
der  Satz  von  der  Konstanz  der  Mat(>rie  den  Charakter  eines  all- 
gemeinen Naturgesetzes  erst  erhalten,  seitdem  er  in  unserm  dahr- 
hund(>rt  durch  das  Experiment  bestätigt  worden:  er  ist  mithin 
nur  das  Ergebnis  methodisch  njesammeltei-  Erfahrungen.  Kant  da- 
gegen hatte  ein  besonderes  Interesse  daran,  diesen  ii'w  <h'e  ganze 
Naturerkenntnis  so  bedeutsamen  Satz  duicli  einen  transcendentalen 
Beweis  sicher  zu  stellen  und  daber  konnte  er  sich  so  vrdlig  gegen 
die  Unmöglichkeit  dieser  Absicht  verblenden. 


*)  Laas:  Kants  Analogieen  der  Erfalirung  (187G).     133. 


tri 


154 


B.    Kaut  als  Naturphilosoph. 


II.   Die  kritische  Naturphilosophie. 


lof) 


Ks  lie^^t  ja  nämlich  auf  der  Hand,  da  ('s  di<'  .Alaterie,  deren 
absolute  Unvernielirbarkeit  und  Unvennind('r])jirkeit  Kant  aus  dem 
Begriffe  der  Substanz  beweisen  will,  die  als  beharrlich  angenommene 
Substanz  nicht  ist  und  daher  an  den  Prädikaten  auch  keinen  An- 
teil haben  kann,  welche  sieh  aus  der  liehai'rlichkeit  ergeben.  Sub- 
stanz soll  das  absolut  Beharrliche  sein,  das  sich  im  Wechsel 
seiner  Zustünde  erbiilt,  unentsta.nden  und  unvergänglich  ist.  Die 
Materie  aber  ist  blofs  relativ  l)eharrlich.  denn  was  wir  an  ihr 
kennen,  sind  lauter  V  e  r  b  äl  t  n  i  s  s  e.  ,.  FreiHch  macht  es  stutzig, 
zu  hören,  dal's  ein  Ding  ganz  und  gar  aus  Verhiiltnissen  bestehen  solle; 
aber  ein  solches  Ding  ist  auch  blol's  I^]  r  schei  n  un  g  und  kann 
g  a  r  n  i  c  h  t  d  u  r  c  h  r  e  ine  K  a  t  e  g  o  v i  e  e  n  g  e  d  a  c  h  t  w  e  r  d  e  n : 
es  besteht  selbst  in  dem  bloi'sen  Verhältnisse  von  etwas  über- 
haupt zu  den  Sinnen''  (III.  '2:\U).  Wo  bleibt  hier  die  Beharrlicli- 
keit?  Sie  rückt  aus  dei-  immanenten  Welt  der  Erscheinung  in  die 
ihr  zu  (Irunde  liegende  transcendente  Welt  hinaus;  von  der  blois 
sul)jektiven  Erscheinung  der  Materie  mufs  sie  übertragen  werden 
auf  das  Ding  an  sich  dieser  Erscheinung:  denn,  wie  Kant  seU)st  von 
den  Verhältnissen  bemerkt:  ,,Es  sind  darunter  auch  selbständige 
und  beharrUche,  dadurch  uns  ein  bestimmter  Gegenstand  gegeben 
wird"  ((d)d.).  Mit  andern  Worten:  nicht  die  Materie  ist  Substanz 
—  Materie  ist  ))lors  subjektiver  RA-[)räsentant  der  Substanz  für 
unser  IJewulstsein.  sie  ist  nur  ,.Substanz  in  der  Ersehcinung"  (Mül). 
])hänomenale  Substanz  (substantia  pliaenomenon).  Ehen  diesen  (Cha- 
rakter erhält  sie  erst  durch  ihre  Bezogenheit  zur  eigentlichen  Sub- 
stanz. Die  eigentliche  und  wahi'c  Substanz  jedoch  liegt  jenseits  des 
Bewulstsems:   (bis  aber  ist  die  inteUigible  Substanz. 

So  drängt  also  gerade  die  Betrachtung  des  Substanzbegriffes 
das  Denk(>n  über  die  Sphäre  der  Subjektivität  hinaus  und  zwingt 
es,  in  der  Welt  des  Intelliiiiblen  den  (irund  dafür  zu  sueheii.  dals 
es  in  der  P^.rscheinungswelt  ein  relativ  Beharrliches  giebt.  Kant 
dagegen  sucht  umgekehrt  die  inteUigible  Substanz  in  das  Subjekt 
hereinzuziehen,  w(m1  er  nur  so  ihre  Bestimmungen  für  die  Erschei- 
nungswelt ausbeuten  kann.  Er  si-tzt  die  relativ  beharrliche  Materie 
auf  den  Thron  der  eigentlichen  absolut  beharrlichen  Sul)stanz 
und  schmückt  sie  unherechtigter  Weise  mit  den  Prädikaten  der 
letzteren,  obwohl  doch  diese  Prädikate  für  sie  ganz  und  gar  nicht 
passen,  weil  sie  dazu  als  Erscheinung  viel  zu  luftig  ist.  Kant  hat 
ganz  recht:  die  zeitliche  Reihenfolge  der  Erscheinungen  kihinte 
nicht  wahrgenommen  werden,  und  folglich  würde  Erfahrung  auch 
nicht  mi »glich  sein,  wenn  es  nicht  ein  J>eharrliches  im  Weichsel  gäbe. 
Aber  er  kommt  nur  dadurch  dazu,   dieses  Beharrliche  für  ein  blofs 


Subjektives  zu  halten  und  es  innerhalb  der  subjektiven  Sphäre  zu 
einem  absoluten  aul'zubauschen,  weil  er  jene  apriorische  Erwägung 
sofort  auf  die  subjektive  Ei'scheinung  r1(  r  doch  blofs  relativ  kon- 
stanten ]\Iaterie  beziidit.  Damit  versperrt  er  sich  jedoch  die  Ein- 
sicht, dafs  das  eigentlich  oder  absolut  JJeharrliche  hinter  der  Ei- 
scheinungsgrenze  liegen  müsse.  Ist  tiie  Materie  das  IJehariliche  im 
Wechsel,  welches  Erfahrung  erst  m( »glich  macht,  und  ist  die  Materie 
blofs  subjektiv,  dann  ist  auch  das  Beharrliche  ])lofs  subji'ktiv.  dann 
ist  die  Materie  absolut  beharrlich  oder  Substanz,  weil  es  ein  anderes 
Beharrliches  hinter  dem  subjektiven  nicht  ij^iebt.  dann  ist  aber  auch 
diese  Beharrlichkeit  tler  Materie  ajxuliktisch  gewifs.  weil  sie  ein 
apriorisches  Gesetz  unseres  Verstandes  ist.  Ist  da^e,L!;en  niclit  die 
Materie  das  eigentlich  Beharrliche,  sondern  blofs  die  sui)jektive 
Erscheinung  desselben  und  empfängt  sie  alle  ihre  (relative)  Beharr- 
lichkeit nui-  von  biei".  dann  ist  auch  die  Beharrlichkeit  mehr  als 
nur  „die  Art,  uns  das  Dasein  der  1  )inge  (in  der  Erscheinung)  vor- 
zustellen" (IT'J).  die  Materie  ist  nicht  Substanz,  und  wenn  wir 
trotzd«  in  ihre  Unvernielirbarkeit  und  Unverminderbarkeit  behauj)ten. 
so  fol,::t  dies  nicht  unmittelbar  aus  dem  Begriffe  der  Substanz,  ist 
nicht  ein  a])rioriscli-a])odiktisches  Gesetz  unseres  Verstandes,  sondern 
es  ist  nur  eine  Abstraktion  aus  der  Erfahrung,  welche  niclit  weiter 
als  die  letztere  reichen  kann.  In  diesi  ni  Falle  können  wir  freilich 
a  priori  auch  nicht  wissen,  ob  die  Erhihrung  nicht  doch  vidleicht 
einmal  unseren  Erwartungen,  soweit  sie  jene  Abstraktion  betreuen, 
widerspricht.  Indessen  bemerkt  hiergegen  Ijaas  mit  Hecht,  ..dafs 
die  Natur  durch  den  Jahrtausenden  langen  Umgang  der  Menschen 
mit  ihr  ein  gewisses  Anrecht  erworben  habe,  ihrer  Uniformität 
und  Stabilität  und  Gesetzmäfsigkeit  zu  vei-trauen:  dafs  jedenfalls 
der  Verdacht  und  das  Mifstrauen.  sie  könne  die  empirisch,  soweit 
Auge  und  Versuch  reichen,  konstatierte  Konstanz  der  Wcltstotfe 
und  AVeltenergien.  so  lange  wir  seihst  sind,  wie  wir  sind,  fiihig, 
Erhihrungeii  zu  verknüpteii,  einmal  nicht  mehr  bestätigen,  dafs  ein 
solcher  Verdacht  für  jetzt  duvvh  keine  Erfahrung  veraiilafst,  dem 
sonstigen  —  sagen  wir  rationalen,  mensehciiangemessenen  (^ha- 
rakter  der  Natur  zuwidi^daufend,  auf  windige,  leere  ]\I()glichkeiten 
gegründet  und  zu  gar  nichts  Fruchtbarem   verwertbar  sei."''^j 

Der  Grundsatz  der  Beharrlichkeit  der  S!il)stanz  ist  nacdi  Kant 
ein  synthetisches  Urteil  a  priori,  weil  er  Erfahrung  erst  niiiglich 
macht,  woraus  folgen  soll,  <lafs  Erfalirun.i;  blofs  subjektive  Ei-<(diei- 
nuna-  und  nur  eine  Moilitikation  in  unserem  Bewulstsem  ist.  Nun 
hab 


eu  wir  a 


her  gesehen,   dafs  jener  Grundsatz,  soweit  er  apriorisch 


*J  Laas:  a.  a.   O.   l.J>  f. 


I1* 


15G 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


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ist,  blol's  analytisch,  ja,  nur  eine  leere  Tautologie,  soweit  er  da- 
gegen synthetisch  ist  und  uns  ül)er  das  thatsächliche  Vorhanden- 
sein eines  Beharrlichen  im  Wechsel  der  Erscheinun.i^en  belehrt, 
dafs  er  soweit  aucli  aposteriorisch  ist,  d.  \\.  seine  Bestätigung  aus 
der  Erfahrung  eni])t'aTigen  mufs.  Damit  wird  die  Folgerung  hin- 
fällig, dal's  die  Erfahrung  blol's  aus  dem  Subjekt  stammt,  weil  die 
notwendige  Bedingung  der  p]rfahrung  (dafs  es  njimlich  etwas  Be- 
harrliches giebt)  dem  Subjekt  ja  selbst  erst  durch  die  Erfahrung 
übermittelt  wird  und  folglich  schon  hinter  und  jenseits  derselben 
wirklich  sein  mul's.  Demnach  scheint  einer  transsul)jektiven  Wirk- 
licld<cit  doch  ein  noch  griilserer  Anteil  am  Zustandekommen  des- 
jenigen, was  wir  in  uns  Erfahrung  nennen,  zugeschrieben  werden 
zu   müssen,   als  dies  mit   den   Prinzi])ien  Kants  vereinbar  ist.  — 

Wenn  die  Substanz  behairt  und  aller  Wechsel  nur  ihre  Bestim- 
mungen angeht,  so  ist  er  folglich  nicht  eigentlich  ein  P^ntstehen 
oder  Vergehen  von  Substanzen,  somh  rn  er  ist  nur  V  erän  d  erung, 
insofern  Veränderung  als  „Verbindung  kontradiktorisch  entgegen- 
gesetzter Prä(lik:ite  in  einem  und  demselb*^^n  Objekt''  (()(>)  nichts 
Anderes  ist  als  „eine  Art  zu  existunen,  welche  auf  eine  andere  Art 
zu  existieren  eben  desselben  Gegenstandes  erfolgt."  „Veränderung 
kann  nur  an  Sul)stanzen  wahrgenommen  wei'den,  und  das  P]ntstehen 
und  Vergehen  schlechtiiin,  ohne  dafs  es  bh)fs  eine  Bestimmung  des 
Beharrlichen  betreffe,  kann  gar  keine  mögliche  AVahrnehmung  sein, 
weil  eben  dieses  Beharrliche  die  Vorstellung  von  dem  übergange 
aus  einem  Zustande  in  den  anderen  und  vom  Nichtsein  /um  Sein 
möglich  macht,  die  also  nur  als  wechselnde  Bestimmungen  dessen, 
was  bleibt.  emi)irisch  erkannt  werden  können-'  (IT.'O-  Auf  diesen 
Begi'iif  der  Veränderung  bezieht  sich  die  zweite  Analogie  der  Er- 
fahrung, der  „Grundsatz  der  Erzeugung"  oder,  wie  er  in  der  zweiten 
Auflage  genannt  wird,  der  „Grundsatz  der  Z(Mt  folge  nach 
dem  Gesetze  der  Kausalität."  Derselbe  lautet  in  der  ersten 
Auflage:  „Alles,  was  geschieht  (anhebt,  zu  sein),  setzt 
etwas  voraus,  w  o  r  a  u  f  e  s  n  a  c  h  e  i  n  e  r  iv  e  g  e  1  folge;"  in 
der  zweiten  Auflage  der  Vernunftkiätik  dageg<'ii  formuliert  Kant 
ihn  dahin:  „A  1 1  e  Vera  n  der  un  gen  gesch  eh  vn  na  c  h  dem  Ge- 
setze d  e  r  V  e  r  k  n  ü  p  f  u  n  g  d  e  r  U  r  s a  c h  e   und  W  i  r  k  u  n  g •'  (ebd.). 

„Man  setze,  es  gehe  vor  quwy  Begebenheit  nichts  vorher, 
worauf  dieselbe  nach  einer  Kegel  folgen  mülste,  so  wäre  alle  P'olge 
der  W^ihrnehmung  bloi's  subjektiv,  aber  dadurch  gar  nicht 
objektiv  bestimmt,  welches  eigentlich  das  Vorhergehende  uiul 
welches  das  Kachfolgende  der  Wahrm^hmungen  sein  niüfste.  W'ii' 
würden  auf  solche   Weise   nur    ein  Spiel    der  Vorstellungen    haben, 


das  sich  auf  gar  kein  (3bjekt  bezöge,  d.  h.  es  würde  durch  unsere 
Wahrnehmungen  eine  Erscheinung  von  jeder  anderen  dem  Zeit- 
verhältnisse nach  gar  nicht  unterschieden  werden"  (Wl  f.).  Im 
Traume  z.  B.  folgen  zwar  die  einzelnen  Wahrnehmungen  auf  ein- 
ander, aber  es  besteht  keine  feste  Hegel,  die  sie  unter  einander 
verknüpft,  und  daher  beziehe  ich  meine  Vorstellungen  in  diesem 
Falle  nicht  auf  einen  Gegenstand  und  bin  überzeugt,  es  nicht 
mit  wirklichen  Begebenheiten,  sondern  blol's  mit  den  rein  subjektiven 
Gebilden  meiner  Einbildungskraft  zu  tliun  zu  haben.  ,.Wie  kommen 
wir  dazu,  dafs  wir  unsern  Vorstellungen  ein  Objekt  setzen  oder 
über  ihre  subjektive  Realität,  als  Moditikationen,  ihnen  noch,  ich 
weifs  nicht  was  für  eine  objektive  beilegen?  Wenn  wir  untersuchen, 
was  denn  die  Beziehung  auf  einen  Gegenstand  unseren  Vorstellungen 
für  eine  neue  Beschält (^idieit  gebe,  und  welches  die  Dignität  sei. 
die  sie  dadurch  erhalten,  so  finden  wir,  dafs  sie  nichts  weiter  thue, 
als  die  Verbindung  der  Vorstellungen  auf  eine  gewisse  Art 
notwendig  zu  machen  und  sie  einer  Regel  zu  unter- 
werfen; dafs  umgekehrt  nur  da<lurcli,  dafs  eine  gewisse  Ordnung 
in  dem  Zeitverhältnisse  unserer  Vorstellungen  notwendig  ist,  ihnen 
objektive  Bedeutung  erteilet  wird"  (179).  „Der  Begriff  aber,  der 
eine  Notwendigkeit  der  synthetischen  Einheit  bei  sich  führt,  kann 
nur  ein  reiner  Verstandesbegriff  sein,  und  das  ist  hier  der  Begriff 
des  Verhältnisses  der  Ursache  und  der  AV  i  r  k  u  n  g,  wovon 
die  erstere  die  letztere  in  der  Zeit  als  die  Folge  und  nicht  als 
etwas,  was  blofs  in  d(>r  Einbildung  vorhergehen  k(>nnte,  bestimmt" 
(i;4f.).  „Dadurch  geschieht  es,  dafs  eine  Ordnung  unter  unsern 
Vorstellungen  wird,  in  welcher  das  Gegenwärtige  (sofern  es  ge- 
worden), auf  einen  vorhergehenden  Zustand  Anweisung  giebt  als 
ein,  obzwar  noch  unbestimmtes  Korrelat  dieses  Ereignisses,  das 
gegeben  ist.  welches  sich  aber  auf  dieses  als  seine  Folge  bestimmend 
bezieht  und  es  notwendig  mit  sich  in  der  Zeitreihe  verknü|)ft"  (ISO). 
„Also  ist  nur  dadurch,  dafs  wir  die  Folge  der  Krscheinungen. 
mithin  alle  Veränderung  dem  Gesetze  der  Kausalität  unterwerfen, 
selbst  Erfahrung,  d.  h.  emi)irische  Erkenntnis,  von  denselben  möglich" 
(l?:)).  „Also  ist  der  Satz  vom  zureichenden  Grunde  der  Grund 
möglicher  Erfahrung,  nämlich  der  objektiven  Erkenntnis  der  Er- 
scheinungen in  Ansehung  des  Verhältnisses  dersell)en  in  der  Reihen- 
folge der  Zeit"   (].S1). 

Ist  hiermit  also  die  Kausalverknüpfung  unter  den  Erscheinungen 
auf  deren  Reihenfolge  eingeschränkt,  so  könnte  man  eine  Gegen- 
instanz darin  erblicken,  dafs  Ursache  und  Wirkung  auch  zu- 
gleich    sein    können.       „P^s    ist   z.    B.    AVärme    im    Zimmer,    die 


108 


JB.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


159 


^  k 


iiiclit  in  freier  Luft  aiic^etrofff^i  wird,  leb  sehe  mich  nach  der  Ur- 
sache um  und  linde  einen  geheizten  Oten.  ^s'un  ist  dieser  als  Ur- 
sache mit  seiner  Wirkung,  dt'r  Stuhenwärme,  zugleich;  also  ist  hier 
keine  Keihenfolge  der  Zeit  nnch  zwischen  Ursache  und  \\  irkung. 
sondern  sie  sind  zugleich,  und  das  G  »setz  gilt  doch.  Der  gnifste 
Teil  der  wirkenden  Ursachen  ist  mit  ihren  A\'irkungen  zugleich,  und 
die  Zeitfolge  der  letzteren  wird  nur  dadurch  veranlafst.  dafs  die 
Ursache  ihre  ganze  AV^irkunir  nicht  in  ein(^m  AugenV)licke  verrichten 
kann.  Aber  in  dem  Augenblicke,  da  sie  zuerst  entsteht,  ist  sie  mit 
der  Kausalität  ihnu*  Ursache  jederzeit  zugleich,  weil,  wenn  jene 
einen  Augenblick  vorher  aufgehört  hätte,  zu  sein,  diese  gar  nicht 
entstanden  wäre"  ( bS.2  f.).  Rs  kommt  jedoch  auf  die  (Ordnung 
der  Zeit,  nicht  aber  auf  ihren  Ablauf  an.  „Die  Zeit  zwischen 
der  Kausalität  der  Ursache  un  i  deren  unmittelbaren  Wirkung  k mn 
verschwindend  (sie  also  zugleich)  sein;  aber  das  Verhältnis  der  einen 
zur  andern  bleibt  doch  immer  der  Zeit  nach  besti!nnd)ar.  Wenn  ich 
eine  Kugel,  die  auf  einem  ausgestopften  Kissen  liegt  und  ein  Grübchen 
(hirin  drückt,  als  Ursache  betrachte,  so  ist  sie  mit  der  Wii-kung  zu- 
gleich. Allein  ich  unterscheide  doch  beide  durch  die  Zeitverliältnisse 
der  dynamisch(^n  Verknüj)fung  beider.  Denn  wenn  ich  die  Kugel 
aul"  das  Kissen  lege,  so  folgt  auf  die  vorige  glatte  Gestalt  desselben 
das  Grübchen:  hat  aber  das  Kissen  (ich  weifs  nicht  woher)  ein 
Grübchen,  so   folgt  darauf  nicht  eine   bh^erne  Kugel"  (IS.i). 

Dafs  alle  unsere  Vorstellungen,  nuigen  sie  nun,  als  blofse  Produkte 
der  Eiiibiblungskral't,  als  '^ri'aumvorstellungen  u.  s.  w.,  aus  uns  selber 
stammen  oder  durch  äulsere  F^indrücke  in  uns  hervorgerufen  sein, 
eben  als  Vorstellungen  blofs  subjektiv  sind  und  gänzlich  der  Be- 
ziehung auf  einen  wirklichen  Gegenstand  ermangeln,  dafs  mithin 
noch  ein  besonderes  Etwas  hinzukommen  mufs.  um  ihnen  objektive 
Bedeutung  zu  erteilen,  darin  hat  K.ant  ganz  recdit.  Die  Frage  ist,  ob 
die  vom  \  erstände  hinzugefügte  Regel  der  Verknüpfung  genügt,  um 
sie  üher  den  Rang  bloi's  subjektiver  Modifikationen  in  unsert^m  Be- 
wufstsein  hinauszuhel)en.  Das  ,,Pi'inzij)  der  Aftinität"  ist  sicherlich 
objektiv,  es  ist  ein  objektives  Element  in  der  Gesamtheit  der  äufseren 
und  inneren  Erscheinungen,  insofern  es,  über  alle  Zufälligkeiten  und 
Launen  der  beschränkten  Subjektivität  erhaben,  als  ein  allgemeines 
(jesetz  durch  alle  Kin/.(dheiten  hindurchgreift.  Allein  in  diesem  Sinne 
ist  auch  das  ..(besetz  der  Assoziation,"  zu  dem  Hume  die  Kausalität 
gemacht  hat.  ist  au(di  die  Tiiatsache,  dafs  alle  unsere  Vorstidlun.^en 
in  einem  verwandtscdiaftlicben  A'erliältnis  zu  einander  stehen  und 
sich  dem  Giade  diesei-  Verwandtschaft  g<'mäfs  von  s(db>t  bervorrut'en, 
ganz  ebenso  objektiv,  und  es  erscheint  ungerechtfertigt,  wie  Kant  dies 


will,  hieraus  eine  Bestimmung  für  den  Unterschied  des  Subjektiven 
und  Objektiven  in  unserni  Bewufstsein  herleiten  zu  wollen  (vgl.  508  f.). 

Kant  beruft  sich  auf  die  Wahrnehmung  eines  Hauses,  die 
beliebig  von  dessen  Spitze  anfangen  un<l  beim  Boden  endigen 
oder  von  unten  anfangen  und  oben  endigen  oder  auch,  von  rechts 
oder  links  beginnend,  das  Mannigfiltige  zu  einem  Gesamtbilde  ver- 
einigen kann,  und  stellt  ihr  die  Wahrnehmung  eines  den  Strom 
hinabtreibenden  Schiffes  entgegen ,  um  daran  jenen  Unterschied 
in  der  Auffassungsart  zu  illustrieren.  Dort  ist  in  der  Ixeihen- 
folge  der  Wahrnehmungen  keine  Ordnung  vorhanden,  die  eine  be- 
stimmte Zusammenfassung  des  Mannigfaltigen  notwendig  bedingte; 
hier  dagegen  folgt  meine  AVahrnehnmng  der  Stelle  des  Schiffes  unter- 
halb auf  die  Wahrnehmung  der  Stelle  desselben  oberhalb  dem  Lauf 
des  Flusses,  und  es  ist  unmöglich,  diese  Reihenfolge  umzukehren  ; 
ich  bin  an  die  Ordnung  in  der  Eolge  der  Wahrnehmungen  gebunden. 
Im  ersteren  Falle  erfahre  ich  nichts  von  der  A'erknü])fung  des  Mannig- 
faltigen im  Objekt,  weil  diese  hier  ganz  beliebig  ist.  Im  letzteren 
Falle  ist  die  subjektive  Folge  der  Api)rehension  von  der  objektiven 
Folge  der  Erscheinungen  abhängig,  die  eben  deshalb  von  Kant 
als  „Begebenheit^'  bezeichnet  wird.  ISur  deshalb,  weil  hier  eine 
bestimmte  Ordnung  gegeben  ist,  wonach  die  Apprehension  des 
Einen  (was  geschieht)  auf  die  des  Andern  (das  vorhergeht)  nach 
einer  Hegel  folgt,  die  ich  nicht  willkürlich  zu  ändern  imstande  bin, 
nur  deshalb  bin  ich  überzeugt,  in  diesem  Falle  es  nicht  Ijlofs  mit 
einer  subjektiven  Folge  meiner  Wahrnehmungen,  sondern  mit  einem 
objektiven  Vorgang  zu  thun  zu  haben,  welcher  der  Willküi-  meiner 
subjektiven   \'erknü])fungsart  entrückt  ist  (17b  f.)- 

Auf  das  Unzutreffende  dieser  Beispiele  hat  bereits  Sc  h  op  en - 
hau  er  hingewiesen.'')  Die  Wahrnehmung  des  Schiffes,  das  den 
Stroni  hinabtreibt,  hat  gar  nichts  vor  der  successiven  Wahrncdimung 
der  Teile  des  Hauses  voraus:  beides  sind  Begebenheiten,  deren  Er- 
kenntnis objektiv  ist.  d.  h.  eine  Erkenntnis  von  A'eränderungen  realer 
Objekte,  wcdche  als  solche  vom  Subjekt  erkannt  werden.  Mag  die 
Veränderung  eine  Lageveränderung  des  Schiffes  gegen  den  Strom 
oder  eine  Veränderung  der  Lage  des  perzi])ieren(len  Organes  sein, 
wie  bei  der  A\'ahrnehmung  des  Hauses,  in  beiden  Fällen  ist  die 
subjektive  Folge  der  A])prehension  durch  die  objektive  Folge  der 
Erscheinungen  bedingt.  Es  liegt  nur  daran,  dafs  im  letzteren 
Falle  die   BcLrebenheit  in   einem  engeren  Konnex  zu  meinem  Wilh^i 


*)  Schupeuhuuer:  4  fache  Wurzel  §  'SA. 


I  * 


160 


B.    Kant  als  Xaturphilosopb. 


II.  Die  kritische  ^>aturphilosophie. 


161 


steht,  wenn  ich  ihr  gegenüber  eine  gröfsere  Freiheit  zu  besitzen 
ghiiihe.  Wäre  das  von  Kant  angegebene  Moment  wirklich  Ausschlag 
gebend,  so  niüfste  sich  mir  auch  die  Wahrnehmung^  der  Bewegung 
des  Schiffes  als  eine  blofs  subjektive  darstelh^n,  sobald  ich  nur  be- 
wurste rmafsen  die  Krai't  besäfse,  das  Schill  auch  beliebig  strom- 
aufwärts ziehen  zu  kfuinen. 

Das  Bewufstsein  der  Notwendigkeit  in  der  Reihenfolge  der  Wahr- 
nehmungen ist  es  also  nicht,  was  mich  eine  Erscheinung  als  objektiv  er- 
kennen läfst.  Es  giebt  objektive  Erscheinungen,  bei  welchen  jenes 
Bewui'stsein  fehlt,  und  es  giebt  auf  der  andern  Seite  Erscheinungen,  wo- 
bei ich  jenen  Zwang  ganz  deutlich  empthide.  und  welche  nichts  desto- 
weniger  blofs  subjektiv  sind,  man  denke  nur  an  die  Phantasieen  eines 
Fieberkranken  oder  an  die  Aufeinanderfolge  der  Erscheinungen  im 
Traume,  denen  das  Subjekt  ohnmächtig  gegenübersteht.  Wir  zweifeln 
nicht,  dafs  aucli  in  diesen  Fällen  das  Kausalgesetz  es  macht,  dafs 
diese  Erscheinung  n.ach  jener  mit  Notwendigkeit  eintritt,  und  trotz- 
dem würden  wir  uns  irren,  wenn  wir  in  solchen  Erscheinungen  mehr 
als  ein  subjektives  S])iel  unserei"  Einbihlungskraft  zu  haben  glaubten. 
Damit  widerlegt  sicli  die  Meinung  Kants,  als  ob  das  Kausalgesetz 
nur  für  die  obj  e  k  t  i  \  e  Welt  in  Geltung  stände  und  Erscheinungen 
schon  deshalb  das  Prädikat  der  Objektivität  erhalten  müfsten,  weil 
sie  durch  eine  Regel  notwendig  bedingt  sind.  „Es  will  uns  bedünken/' 
sagt  Ijaas,  „als  müfste  dadurcli  ein  Bewufstseinszustand  entstehen, 
wie  wir  ihn  empiiäsch  nieht  antreffen;  ein  Zustand,  in  welchem  über 
die  zum  Stehen  gekommene,  Verstandesgesetzen  unter worl'ene  „ob- 
jektive Welt"  ein  wirres,  luftiges  Gewölk  von  blofs  subjektiven  und 
noch  successiven  Erscheinungen,  wie  die  Dam])fatni()S])häre  über  den 
festen  Sonnenkern,  fortwährend  hinhuschte.  Nun  sind  aber  auch  die 
willkürlichsten  und  logisch-chaotischesten  JMiantasieen  gesetzmäfsig 
erklärbare  Begebenheiten;  es  steigt  in  keinem  Pewufstsein  jemals 
etwas  auf,  wovon  \\ii'  nicht  ebenso,  wie  von  jedem  Inhalt  der  so- 
genannten „objektiven  Welt",  a  priori  überzeugt  wären,  dafs  es  dem 
Kausalgesetz  gemäfs  mit  irgend  einer  gesetzmäfsigen  Summe  von 
Bedin<^un,«j^en  notwendig  verknüpft  ist.  Und  die  successiven  Ap- 
prehensionen  insbesondere  sind,  wenn  wir  die  jedesmalige  Stellung 
unseres  Leibes,  die  Stellung  der  einzelnen  perzipierenden  Elemente 
in  ihm  mit  in  Anschlag  bringen,  so  gesetzmäfsig  ausdeutbar,  wie 
nur  immej-  die  Simultaneitäten  der  „objektiven  Welt,*'  die  wir  danach 
voraussetzen  und  durch  Reduktionen  gewinnen,  unter  sich.  \ov 
lauter  Kürsorge,  die  Gesetzmäfsigkeit  der  obiektiven  Welt  zu 
retten  und  gegen  alle  Skepsis  für  immer  zu  stabilieren,  hat  Kant 
die    Gesetzmäfsigkeit,    die,    wie    w^ir   voraussetzen,    auch    den    sub- 


jektiven,   den  psychischen  Erscheinungen   inne  wohnt,    mehr   als 
billig  und  nützlich  war,  aufser  Acht  gelassen. "'•^=) 

Aber   es   ist  ja   gar  nicht    einmal   richtig,    dafs    selbst  die  Er- 
scheinungen   der    objektiven    AV'elt    sich    überall    wie    Ursache    und 
Wirkung  verhalten    und   durch   das  Kausalgesetz   zu   einer  Reihen- 
folge verknüpft  werden,   der  gegenüber  jede  andere  Folge  blofs  sub- 
jektive Willkür  ist.     Nach  dieser  Anschauung  müfste  das  Haus,  das 
icli    wahrnehme,    nur   in   meinem  ßewufstsein   vorhanden   sein,    weil 
meine  Wahrnehmung  seines  Daches    nicht  die  Wirkung   davon   ist, 
dafs    ich    im    Augenblick    vorher   den    Keller    wahrgenommen    habe. 
Aber   ebenso   wenig    könnte   hiernach    die  Erscheinung    des  Schilfes 
eine  objektive  sein,   denn  seine  Wahrnehmung  an  einer  bestimmten 
Stelle  des  Flusses   ist  nicht  die  Ursache   davon,    dafs    ich    es  gleich 
darauf  weiter  unten  im  Strom  erblicke;  das  Beispiel  ist  also  schon 
deshalb  schlecht  gewählt.     Die  Töne  eines  Musikstückes  folgen  ein- 
ander,   und   es   wäre    ein   absurder  Gedanke,    ihre  Reihenfolge    um- 
kehren zu  wollen;    und  doch  s|)richt  hier  kein  vernünftiger  Mensch 
von   Ursache  und  Wirkung,   und  doch  ist  das  Erklingen  des  Musik- 
stückes ein  objektiver  Vorgang,  nicht  eine  blofs  subjektive  Gehörs- 
halluzination   nur   im   Bewufstsein.     Schopenhauer    erinnert  mit 
Recht  an  die  Thatsache  der  Aufeinanderfolge  von  Tag  und  Nacht, 
um  die  Behauptung  Humes  zu  widerlegen,   dafs  das  Kausalgesetz 
nur  eine  subjektive  Idee,    entstanden    durch   die  gewohnheitsmäfsige 
Verknüpfung    zweier    Vorstellungen    im    Bewufstsein    sei.      Dasselbe 
Beispiel   widerlegt    auch    die    Meinung    Kants,    als   ob    nur    da    Er- 
fahrung, d.  h.  ()l)jektive  Erkenntnis,  gegeben  sei.  wo  eine  kausale  Ver- 
knü])fung    zweier    Vorstellungen    im    Bewufstsein    vorliegt.      „Alle 
Wahrnehmungen  folgen  sich  in  einer  nicht  willkürlich  umzukehrenden 
Reihenfolge  (mit  Ausnahme  derer   von    den   wirklichen  Dingen,    auf 
welche  die  Macht   unseres   Willens   sich  unmittelbar  erstreckt),    und 
wie    wenige    unter    unmittelbar    auf    einander    foli^endeii     Wahr- 
nehmungen bezeiclmet  der  Mensch  als  Ursache  und  Wirkung  I     \'on 
wie    vielen    gestehen   wir    nicht,    die  Ursachen  gar  nicht   zu  kennen, 
von  wie  vielen  entziehen  sie  sich  für  immer  unserer  direkten  Wahr- 
nehmung und  sind   uns  nur  durch   kom])lizierte  Schlüsse  zugänglich, 
vermittelst    derer   sie  uns   zu    einer  ganz  anderen  Zeit,    wie 
iln-e    Wirkung,    und    nur    in    abstrakter    Form    ins    Bewufstsein 
treten  !""*J     Die  Welt  unserer  Vorstellungen  ist  keineswegs,  wie  dies 


*)  Laas:  a.  a.  O.  188. 

**)  V.  Hartinanii:    Kritische    Grundlegung    des    transcendentalen    Kealis- 
nius  (3.  AuH.   1S85).     74. 

D  r  e  w  ö  ,  Kantä  Naturphilosophie.  11 


162 


B.    Kant  als  Naturpliilosoph. 


IL  Die  kritische  Natur})bilosophie. 


J63 


ii; 


li 


nach  der  kantischen  Annahme  der  Fall  sein  niülste,   an  dem  Faden 
einer    durchgehenden   Kausalität    aufgereiht.     Vielmehr  ist    nur  auf 
franz   kurze  Reihen   die  Katecjoric   der  Kausahtät  anzuwenden,  und 
immer  wieder    reifst  dieser    Faden    plötzlich    ah.    und    die    in    eine]- 
Riclitung  sich  abfolgenden  Erscheinungen  werden   unterbrochen  von 
solchen,  die  aus  einer  ganz  anderen  Richtung  zu  kommen  scheinen, 
und  welche  einem  ganz  verschiedenen  Kausalzusammenhang  ents])rossen 
sind.     Unsere  Yorstellungswelt  ist  kein  einzehier  Faden,  sondern  ein 
Gewebe  aus  Fäden  der  verschiedensten  Kausalität,  ein  buntes  Durch- 
einander   und    in    einander  Verschlungensein    von   Fäden,    bei    denen 
ein    lückenloser    Zusammenhang    zwischen    den    verscliiedenen    V'or- 
stellungen  nicht  herzustellen  ist.     Im  Hlickfelde  unseres  Bewufstsoins 
marschieren  die  Vorstellungen  nicht,  wie  Soldaten,  im  Gänsemarsche 
hinter  einander  auf,   gleichsam   nach  Einem  Ivommandoworte,   das  sie 
alle  leitet,  sondern  die  Gesamtheit  unserer  Vorstellungen  gleicht  in 
jedem  Zeitausschnitte    dem  Gewühl   auf  einem  Marktplatz,    wo    die 
verschiedensten    Zwecke     die    Menschen     aus     den     verscliiedensten 
Gegenden   zusammengeführt  haben  und  bei  dem  unaufliörliclien  Hin 
und   Her    von    allen    Seiten    keine    Richtung    vor    der   andci-n    einen 
Vorzug  hat.     Dabei  kann  von  einer  Kausalität  im  kantischen  Sinne 
natürlich  nicht  die  Rede  sein.      Diese  Kausalität,    die  als  eine  rein 
subjektive  Funktion  unseres  Verstandes  blofs  Erscheinungen  im  Be- 
wufstsein    mit    einander    verknüpft    und    daher    als    ,.i  m  m  a n  en  t  e 
Kausalität-^   bezeichnet  werden  kann,    ist    einfach    deslialb  aufser 
Stande,    als  Prinzip  der  Objektivität    der  Erscheinungen   dienen   zu 
können,    weil   eine   solche    kausale    Verknüpfung    von  Vorstellungen 
überhaupt  nur    in    den  allerseltensten   Fällen    nachweisbar    ist.     Sie 
soll  eine  apriorische  R>edingung  m(")glicher  Erfahrung  sein :   aber  die 
Erfahrung    entzieht    sich    ihrer    Botmäisigkeit    und    zeigt    uns    eine 
Mannigfaltigkeit  von  Verkniipfiingsarten.  die  ein  ganz  anderes  Gesetz 
als   die   immanente   Kausalität  vermuten   läfst. 

Nur  in  Einem  Falle  könnte  man  hoffen,  mit  einer  blofs  imma- 
nenten Kausalität  auszukommen,  die  idjer  das  Geltungsgebiet  des 
rein  Vorstellungsmäfsigen  nicht  hinausreicht:  wenn  nämlich  eine 
Vorstellung  noch  als  Ursache  gcdten  könnte,  deren  AV'irkung  erst 
in  einer  viel  späteren  Znt  erfolgt,  nachdem  inzwischen  ganz  andere 
Vorstellungsreihen  sich  abgespielt  liätten.  wenn  mit  andern  Worten 
die  Beziehung  zwischen  Ursache  und  Wirkung  k<^ine  unmittell)are, 
sondern  eine  über  die  verschiedensten  Vorstellungskomplexe  hinüber- 
greifende wäre.  Aber  gerade  diese  Annahme  wird  durcli  Kant 
selbst  ausgeschlossen,  weil  sie  dem  ,.Gesetz  der  Kontinuität 
aller    Veränderung"    widerspricht,    nach    welchem    jede    Ver- 


änderung nur  durch  eine  kontinuierliche  Handlung  der  Kausalität 
möglich  ist.  Die  Ursache  l)ringt  ihre  Veränderung  nicht  plötzlich 
(auf  einmal  oder  in  einem  Augenblick),  sondern  in  einer  Zeit  her- 
vor, „sodafs,  wie  die  Zeit  vom  Anfangsaugenblicke  a  bis  zu  ihrer 
Vollendung  in  b  wächst,  auch  die  Gröfse  der  Realität  (b — a) 
durch  alle  kleineren  Grade,  die  zwischen  dem  ersten  und  letzten 
enthalten  sind,  erzeugt  w^ird"  (bSG).  Der  Grund  dieses  Gesetzes 
ist  der,  „dafs  weder  die  Zeit,  noch  auch  die  Erscheinung  in  der 
Zeit  aus  Teilen  besteht,  die  die  kleinsten  sind,  und  dafs  doch  der 
Zustand  des  Dinges  bei  seiner  Veränderung  durch  alle  diese  Teile 
als  Elemente  zu  seinem  zweiten  Zustande  übergehe.  Es  ist  kein 
Unterschied  des  Realen  in  der  Erscheinung,  sowie  kein  Unterschied 
in  der  Gröfse  der  Zeiten,  der  kleinste,  und  so  erwächst  der  neue 
Zustand  der  Realität  (=  a)  von  dem  ersten  an,  darin  diese  nicht 
^var  (^^  o)  durcli  alle  unendliciien  Grade  derselben,  deren  Unter- 
schiede von  einander  insgesamt  kleiner  sind  als  der  zwischen  o  und  a*' 
(1(S()).  In  der  subjektiven  Welt  unserer  Vorstellungen  ist  uns  nicht 
ein  kontinuierlicher  Zusammen) lang  von  Kausalverliältnissen  gegeben, 
—  eine  neue  Bestätigung  dafür,  dafs  die  Abfolge  unserer  V^or- 
stellungen  nicht  durch  die  immanente  Kausalität  bedingt  ist. 

Es  giebt  objektive  Vorstellungen,  die  sich  nicht  unmittelbar  wie 
Ursaclie  und  Wirkung  zu  einander  verhalten:  mit  dieser  Einsicht  wird 
dem  kantischen  Prinzi])  das  Urteil  gesprochen.  Magdasselbe  iminer- 
liin.  formell  genommen,  ein  synthetisches  Urteil  a  priori  sein:  in  dem 
Sinne,  in  welchem  es  Kant  gebrauclit,  ist  es  nicht  zu  verwenden; 
erweist  es  sich  doch  völlig  unfähig,  den  Unterschied  des  Objektiven 
vom  Subjektiven  zu  bestimmen.  Die  letzte  Unterscheidung  hat  auf 
dem  kantischen  Standpunkt  überhaupt  keinen  Sinn,  hier  ist  alles 
nur  rein  subjektiv,  ja,  letzten  Endes  blofse  Willkür,  denn  das 
Kausalgesetz  kann  nach  Kant  nichts  weiter  tliun,  als  die  Ab- 
folge zweier  Vorstellungen  zu  einer  notwendigen  machen,  aber 
es  kann  a  ])ri()ri  gar  nichts  darüber  bestimmen,  welche  von  beiden 
Vorstellungen  folgt,  und  w  e  i cii e  vorangeht I  Dies  ist  nur  a  posteriori 
aus  der  Erfahrung  zu  entnehmen,  welche  die  rein  abstrakte,  formale 
^'atur  jenes  Gesetzes  trst  mit  einem  konkreten  Inhalt  erfüllt.  Ist 
doch  schon  der  Begriff  dei-  Verämh'rung  seihst  nur  ein  em])irischer  und 
liegt  eben  deshalb  aufseriialh  der  Grenzen  einer  Transcend  e  n  tal- 
p  h  i  1  o  s  o  !>  h  i  e ,  d.  h.  einer  solchen  Philoso])hie,  die  es  lediglich  mit 
den  apriorischen  Bedingungen  der  Erfahrung  zu  thun  hat.  ,.Denn 
dafs  eine  Ursache  möglich  sei,  welche  den  Zustand  der  Dinge  ver- 
ändere d.  h.  sie  zum  Gegenteil  eines  gewissen  gegebenen  Zustandes 
bestimme,  davon  giebt  uns  der  Verstand  a  priori  gar  keine  Eröffnung. 

11* 


it« 


164 


B,    Kant  als  Naturphilosopli. 


11,  Die  kritische  Naturphilosophie. 


1G5 


■k 


'■■'* 


nicht  blofs  deswegen,  weil  er  die  M()^^lic!ikeit  davon  «^ar  niclit  ein- 
sieht, sondern  weil  die  Veränderlichkeit  nur  i^^ewisse  Bestimmnngen 
der  Erscheinungen  trifft,  wclclie  die  Krfahning  allein  lehren  kann" 
(J()2).  ,.Wie  nun  üht-rliaupt  etwas  verändert  werden  krmnc.  wie  es 
möglich  sei,  dafs  auf  einen  Zustand  in  einem  Zeitpunkte  ein  ent- 
gegensetzter im  andern  folgen  könne,  davon  haben  wir  a  priori  nicht 
den  mindesten  Begrifl.  Hierzu  wird  die  Kenntnis  wirklicher  Kräfte 
erfordert,  welche  nur  empirisch  gegeben  werden  kann.  z.  I>.  der  })e- 
wegenden  Kräfte  oder,  welches  einerlei  ist,  gewisser  successiven  Er- 
scheinungen (als  Bewegungen),  welche  solche  Kräfte  anzeigen.  Aber 
die  Form  einer  jed(Mi  Veränderung,  die  Bedingung,  unttn*  w(4clier 
sie  nls  ein  Entstehen  eines  andern  Zustandes  allein  vorgehen  kann, 
(der  Inhalt  derselben.  <1.  i.  der  Zustand,  der  verändert  wird,  mag 
sein,  welcher  er  wolle),  mithin  <lie  Succession  der  Zustände  selbst 
(das  Gescheliene)  kann  doch  nach  dem  Gesetze  der  Knusalität  und 
den  Bedingungen   der  Zeit  a   ])ri()ii  erwogen   werden"  (l.^f)). 

Hier  betinden  wir  uns  nun  in  einem  offenbaren  Zirkel :  das 
Kausalgesetz  soll  die  Km[»findungen,  als  (bis  Materini  unserer  Er- 
kenntnis, nach  einer  Begel  ordnen,  genüifs  welcher  die  Erscheinungen 
in  unserm  Bewufstsein  sich  abtnlg(MK  anderseits  müssen  die  F]m- 
pfindungen  selbst  irgendwie  auf  die  Kausalt'uidvtion  unseies  \  er- 
stnndes  einwirken.  wcMin  jene  Ordnung  eine  ])estimmte  sein  soll,  oder 
icli  mülste  denn  schon  imstande  sein,  a  ])riori  auch  (Um  Inhalt 
der  Kausalveikuii]){'ung  zu  bestinimen.  Findet  eine  solche  Mit- 
beteihgung  der  Em))tindungen  beim  Krkenntnisprozefs  nicht  statt, 
verhalten  sich  diese  der  V^erstandesfunktion  gegenüber  ])assiv,  kommt 
ihi'  nllein  ein  sjxditanes  Wirken  zu.  welche  Garantie  hahe  icli 
dann,  dafs  die  Kausalfunktion  in  ihrer  Souveränität  nicht  einmal 
die  gewöhnliche  Ordnung  der  Erscheinungen  umkehrt,  was  bürgt  mir 
dafür,  dal's  niciit  doch  einmal  eine  bleierne  Kug(4  auf  das  Grübchen 
im  Kissen  folgt,  da  jene  Funktion  ja  gar  keine  Veranlassung:  hat. 
die  Erscheinungen  immer  in  dtT  gleicdien  Rf'iiienlblge  zu  verknüpfen, 
wofern  sie  dieselhen  nur  überhaupt  in  ein  Kausalverhältnis  setzt? 
Kant  bat  diese  ganze  Theorie  nur  zu  dem  einen  Zweck  erl'unden. 
um  die  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit  in  der  Abfolge  der 
Erscheinungen  zu  verbürgen.  Mit  der  nunmehr  dargelegten  Kon- 
seipienz  gehen  diese  beiden  Postulate  des  rationalistischen  Denkens 
völlig  in  die    Brüche. 

Die  zweite  Analogie  der  Krt'ahrung  ist  jedenfalls  nicht  imstande, 
der  Erscheinung  den  Stempel  des  Objektiven  auCziulrücken.  AV^ir 
können  uns  danach  ein  näheres  Eingehen  auf  das  kantische  Prinzip 
ersparen.      In   seiner   ..Kritischen  Grundlegung    des  trans- 


cendentalen  Realismus"  hat  v.  Hart  mann  die  immanente 
Kausalität  so  schlagend  widerlegt,  dal's  man  sie  damit  wohl  als 
abgethan  betrachten  kann.*) 

Was  macht  nun  in  Wahrheit  die  Objektivität  der  Vorstellungen 
aus,  sodafs  sie  eine  gewisse  Selbständigkeit  im  Gegensatz  zu  den 
subj<'ktiven  Vorstellungen  erhalten,  von  denen  es  feststeht,  dafs  sie 
blofs  im  Bewufstsein  sind,  und  die  wir  unserer  eigenen  Maclits])häre 
unterworfen  wissen?  Oft'eidjar  spielt  die  Kausalität  dabei  eine  wesent- 
liche Rolle;  denn  w^enn  ich  jetzt  ein  Haus  und  gleich  darauf  einen  Baum 
wahrnehme,  so  habe  ich  die  ganz  deutliche  Kmpfindung,  es  hier  mit 
einem  Kausalzusammenhang  zu  thun  zu  haben.  Nur  das  ist  falsch, 
die  Ursache  mit  Kant  in  der  eben  vorhergehenden  Wahr- 
nehmung und  gleichsam  in  der  Fläch  e  n  d  i  m  ension  zu  suchen, 
als  ob  z.  B.  in  dem  angeführten  Falle  die  Wahrnehmung  des 
Hauses  die  Ursache  der  Wahrnehmung  des  Baumes  sei.  Vielmehr 
weist  eine  jede  Wahrnehmung  in  die  T  ief  e  ndi  m  e  n  s  i  on  zurück, 
auf  ein  Etwas,  das  selbst  nicht  Wahrnehmung  ist  und  welches  sich 
doch  m  der  AVahrnehmung  mit  einer  Evidenz  ankündigt,  dafs  ich 
an  seiner  Existenz  nicht  zweifeln  kann.  Betrachtet  man  mit  Kant 
die  f]mpfindungen  als  das  notwendige  Material  und  gleichsam  als  die 
primitivsten  Bausteine  unserer  P]rkenntnis.  woraus  unsere  Verstandes- 
l'unktion  erst  ein  Gesamtbild  zusammenfügt,  so  mufs  folglich 
schon  in  der  Empfindung  selbst  ein  Hinweis  auf  jenes  Etwas  ent- 
halten sein,  und  dies  eben  ist  es,  was  die  Em))findung  zu  einer 
bestimmten,  von  ieder  andern  verschiedenen  macht.  Damit  ist  aus- 
geschlossen,  dafs  irgend  eine  Funktion  in  uns  willkürlich  oder 
spontan  mit  (h'in  Em])tindungsmateriale  schaltet.  Die  Thätigkeit 
unseres  Verstandes  ist  selbst  durch  den  Inhalt  der  Em])tindungen 
bedingt,  die.ser  aber  i>t  auch  seinca^seits  niclit  spontan  i'izeugt.  sondern 
er  ist  das  Produkt  einei-  Einwirkung  von  aufsen,  das  dem 
Bewufstsein  aufgedrängt  ist.  Nach  der  immanenten  Kausalität 
Kants  verhielten  sich  die  einzelnen  Emi)tindun^en  als  solche  wie 
Ursache  und  Wirkung  zu  einander.  Jetzt  erkennen  wir,  dafs  die 
Emplindungen  selbst  l)h)fs  Wirkungen  sind,  deren  Ursache  hinter 
ihnen  in  einer  Sphäre  aufserhalb  des  Bewufstseins  liegt. 
Die  wahre  Kausalität  also  ist  nicht  (Mue  blofs  immanente  Beziehung 
zwischen  verschiedenen  Inhalten  des  Bewufstseins,  welche  daher  auch 
keinen  Aufschlufs  giebt  über  das.  was  jenseits  des  Bewufstseins 
liegt;    sie    greift   vielmehr    selbst    in    ein   Gebiet  hinüber,     das    dem 


'■^)V<r]    auch  V.    HartinaMii:   Kants  Erkenntnistheorie  und  Metaj)hysik   in 
den  4  Perioden  ihrer  Entwickelunn^  (lö9ij.      IGSth 


166 


ii.    Kant  als  Naturphilosoi)li. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


16^ 


Eewufstsein  transcendent  erscheint.  Diese  ist  folglich  ,.tr.'iiis- 
cendeiite  Kausalität",  und  ihre  Beziehung  heilst  „trans- 
cendent al",  weil  sie  den  immanenten  Inhalt  des  Bewufstseins  mit 
seiner  transcendenten  Ursache  verbindet. 

Niemand  hat  bekanntlich  verächtlicher  über  den  sogenannten 
gesunden  Menschenverstand  geurteilt  als  Kant,  indem  er  ihm  alles 
und  jedes  Urteil  in  meta])hysischen  Dingen  abspricht  (IV.  7  f.). 
Niemand  hat  aber  auch  eine  gnil'sere  Zumutung  an  ihn  gestellt  als 
er,  wenn  er  ihm  einzureden  sucht,  der  Zusammeidiang  und  die  Ab- 
folge der  Erscheinungen,  die  seine  „Welt"  ausmachen,  sei  ledig- 
lich eine  Verknüpfung  seiner  Vorstellungen  blofs  im  Bcwufstsein. 
Zu  welch  abenteuerlichen  Konsecpuinzen  diese  Annahme  führt, 
liat  v.  Hartmann  an  einem  drastischen  Heis])iel  bewiesen,  das 
allein  schon  genügend  ist,  um  jene  Theorie  zu  widerlegen/-^)  Der 
naive  Mensch,  der  noch  nicht  unter  dem  Einflufs  einer  sophistischen 
Spekulation  an  der  tiigliclien  Erfahrung  irre  geworden  ist,  zweifelt 
keinen  Augenblick  daran,  es  in  seinen  Vorstellungen  mit  wirkliclien 
Dingen  zu  thun  zu  haben.  Er  bezieht  seine  Vorstellungen  uinuittclbar 
auf  Gegenstände  aufserhalb  seines  Bewufstseins  und  glaubt  an  ihnen 
Dinge  an  sich  zu  besitzen,  die  er  gleichsam  in  sein  ßewufstsein  nur 
hereingezogen  hat.  Darin  hat  er  freilich  Unrecht,  und  es  ist  eben 
der  erste  Schritt  zur  Philosophie,  zu  erkennen,  dafs  die  Welt  un- 
mittell)ar  nur  in  der  Vorstellung  existiert  und  dafs  der  Inlialt  des 
Bewufstseins,  als  immanenter,  mit  der  transcendenten  Wirklichkeit 
nicht  zu  verwechseln  ist.  Aber  lleclit  hat  er  darin,  seine  Vorst(dlung 
auf  einen  Gegenstand  zu  beziehen,  der  als  solcher  auch  ganz  unab- 
hängig von  seinem  Vorstellen  existiert,  wiewohl  er  in  dieser  seiner 
ihm  eigentümlichen  b]xistenzform  eine  ganz  andere  BeschatVrnlieit 
besitzen  mag,  als  diejenige,  mit  welcher  er  sich  ihm  als  Objekt  im 
Bcwufstsein  darstellt.  Der  naive  Mensch  wird  nicht  schwer  davon 
zu  überzeugen  sein,  dafs  sein  Objekt  oder  die  Vorstellung,  als  Inhalt 
seines  Bewufstseins,  nicht  der  (TCgenstand  selbst,  m'cht  das  Ding  an 
sicli,  das  als  solches  eben  niemals  Objekt  werden  kann,  sondern  nur 
eine  E  r  s  c  h  in  n  u  n  g  ,  ein  s  u  b  j  e  k  t  i  v  e  r  II  e  p  r  ä  s  e  n  t  a  n  t  jenes 
Dinges  im  Bcwufstsein  ist.  Al)er  er  wird  sich  mit  Becht  gegen 
die  Annahme  sträuben,  ein  solcher  Gegenstand  sei  überhauj)t  nicht 
vorhanden;  es  wird  ihm  dies  nicht  weniger  al)surd  voikommen, 
als  wenn  man  ihm  einreden  wollte,  das  Bild  im  Spiegel  sei  da  auch 
ohne  einen  Gegenstand,  welcher  sich  spiegelt.  Vor  allem  aber  wird 
der  Naturforscher  alle  Ursache  hal)en,  eine  solche  Beliaui)tung  von 


'J  v.  HartiiiaTin:  Krit.  Grundlegung  u.  s.  w.  TS  iX. 


der  Hand  zu  weisen,  denn  dieser  hat  es  allein  mit  jener  bewufstseins- 
transcendenten  Wirklichkeit  und  ihren  kausalen  Beziehungen  zu 
thun,  deren  Existenz  Kant  leugnet,  oder  die  er  doch  jedenfalls 
dadurch  aufserhalb  des  Bereiches  aller  Erfahrung  rückt,  dafs  er  die 
einzige  zu  ihm  führende  Brücke,  die  transcendente  Kausalität,  nicht 
anerkennt.  Der  Naturforscher  ist  überzeugt,  die  von  ihm  gefundenen 
Gesetze  existierten  an  wirkliclien  Gegenständen.  Wenn  er  die  Welt 
in  Atome  und  deren  Bewegungsarten  auflöst,  so  zweifelt  er  nicht 
daran,  in  diesen  Begriffen  einen  wenigstens  einigermafsen  adäquaten 
Ausdruck  für  dasjenige  zu  besitzen,  was  in  der  Wirklichkeit  vor- 
handen ist.  Jenen  Begriffen  die  Beziehung  auf  ihr  transcendentes 
Korrelat  abstreifen,  sie  für  blofse  Abstraktionen  von  Vorstellungen 
ausgeben,  die  selbst  wieder  nur  im  Bcwufstsein  sind,  heifst  ihm  den 
Boden  untergraben,  auf  dem  er  steht,  heifst  ihm  die  Luft  ent- 
ziehen, in  der  er  lebt  und  atmet,  heifst  mit  einem  Worte  den 
Naturforscher  zum  Narren  halten  und  seine  fundamentalsten  Voraus- 
setzungen für  eitel  Wind  erklären,  ohne  die  er  auch  nicht  den  kleinsten 
Schritt  vorwärts  thun  kann.  Die  transcendente  Kausabtät  ist  also 
keine  neue  Hypothese,  wie  die  Annahme  einer  immanenten  Kausalität, 
die  alle  Naturwissenschaft  unmöglich  und  alle  instinktiven  Aussagen 
des  gesunden  ]\Ienschenverstandes  zu  einer  unbegreiflichen  Prellerei 
des  Intellektes  macht ;  sie  ist  nur  der  abstrakte  Ausdruck  für  eine 
Beziehung,  die  jeder  Einzelne  auch  ohne  philosophische  Einsicht  als 
eine  real  existierende  anerkennt,  und  von  deren  thatsächlichen  Be- 
stände auch  der  Philosoph  die  Annahme  der  Objektivität  seiner 
Vorstellungswelt  selbst  dann  abhängig  macht,  wenn  er  durch  ab- 
strakte Spekulation  zu  einer  ganz  anderen  x\nsicht  gelangt  ist  und 
die  Überzeugung  gewonnen  hat,  dafs  eine  solche  Beziehung  zwischen 
seiner  immanenten  Welt  des  Bewufstseins  und  einer  transcendenten 
Aufsenwelt  nicht  möglich  sei. 

Das  i^rinzip.  das  unsere  Vorstellungen  erst  zu  objektiven  macht, 
kann  selbst  nicht  blofs  subjektiver  Natur  sein,  weil  die  subjektive 
Zuthat  einer  bestimmten  Verknüpfungsart  der  Vorstellungen  doch 
niemals  aus  dem  Zirkeltanz  der  Subjektivität  hinausführt.^  Es  kann 
aber  auch  nicht  rein  transcendenter  Natur  sein  in  dem  Sinne,  dafs 
es  gar  keine  Beziehung  zu  dem  Inhalt  des  Bewufstseins  hätte,  weil 
das  Objektive  eben  ein  Bewufstseinsimmanentes  ist  und  als  solches 
den  inhaltlichen  Gegenpol  zu  dem  rem  Subjektiven  bildet.  Das 
Prinzip  der  Objektivität  unserer  Vorstellungen  kann  also  nur  ein 
solches  sein,  das  die  transcendente  Aufsenwelt  mit  der  immanenten 
Welt  des  Bewufstseins  verbindet,  und  dieses  thut  allein  die  trans- 
cendente Kausalität,  indem  sie  mit  ihrem  einen  Ende  an  das  Sub- 


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168 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


1G9 


-I 


jektive   (die    Eni])fii)(luiig)    aiin;ekiuij)l't  ist,    mit  ihrem  andern  Ende 
dagegen    in    das  Gebiet    der  Dinge   an    sich  liinaiisreieht.      Dafs  die 
transcendente    Kausalität     von    dem    Ding    an    sich     ausgeht    und 
gleichsam   eine  Kunde  von  jenci-    Welt  in   das    IJ.nvulstsein   h'M'üher- 
sendet,    dies  ist  es,    was  die  objektive  Vorstellung  von  der  subjek- 
tiven unterscheidet,    bei    welcher    eine  solche  reale  Beziehung  nicht 
vorhanden    ist.     Dafs    sie    die    Emi)findung    als     He  wu  l's  t  sei  n  s- 
moment  hervorruft,   dies  macht,  dafs  das  Objektive  doch  blol's  Vor- 
stellung ist,   dals  es  als  solche   von  dem  Gegenstande  wesentlich 
verschieden    und   dafs  der  Eealismus.    der   sich  auf  dieser  An- 
schauungsweise  aufbaut,    nicht   der   naive    des    gesunden  Menschen- 
verstandes,    sondern     der     t  r  a  n  s  ce  n  d  e  n  t  a  1  e    Eealismus    ist. 
Weil  einer  jeden  Empfindun-     die   unsere  Seele   als    Haustein    zum 
Zustandekommen    des    bewufstseinsimmanenten     iM-kenntnisbildes   be- 
nutzt,  eine  reale  Heziehung  im  transcendenten  Gegenstand  entspricht, 
darum  ist  die  objektive  Vorstellung  bei  aHer  Subjektivität  dennoch 
ein  Abbild  oder  ein  adäcpiater  Eepräsentant  dessen,  was  aufserhalb 
der  Grenzen   unseres  Bewulstseins  vor  sich   gelit    und  sind  wir  l)is 
zu  einem  gewissen  Grade  selbst  imstande,   die  wahre  EeschatlVnheit 
des    Bewufstseinstranscendenten    durch    Ausscheidung    aller    b  1  o  f  s 
subjektiven    Zuthaten    zu    erschliefsen.      Weil    diese   Bezieliung  eine 
gesetzmäfsige  ist  und  abhängig  ist  von  der  Beschalfenheit  der 
transcendenten    Gegenstände,    (hirum    ist    die   objektive  Vorstellung 
aller  AVillkür   enthoben    und    haben  wir  die   unzweifelhafte   Euiplin- 
dung.    nicht   selbst    die  unmittelbare  Ursache  unserer  Vorstelhings- 
welt    zu    sein.      Weil    endlich    die    Kausalität    auch    insofern    eine 
transcendente  ist,  als  sie  die  Bezieliungen   der  verschiedenen  (trans- 
cendenten) Gegenstände  unter  einander  regelt,    wehdie   dann    selbst 
wiederum    im    Bewufstsein   reth'ktiert  werden,    und   weil  das   Wahr- 
nehmungsvermögen des  Einzelnen  bei  seiner  Beschränktheit  es  immer 
nur   mit    einem    sehr  kleinen    und  oft  wechsehiden   Teile    der    Welt 
der  Dinge  an  sich  zu  tbun  hat.   darum  spiegelt  die  Succession  seiner 
Wahrnehmungsobjekte    nur    zusammenhangslose    EetU'xe    von    ganz 
verschiedenen  Bruchstücken  des  unabhängig  von  seinem  Bewufstsein 
sich  abspielenden  kausalen  Prozesses  in  der  W^'lt  der  realen  Gegen- 
stände   wieder,   darum   bleibt   auch   ebenso   die   Objektivität   der  Vor- 
stellungen,  wi(?  die   Universalität  des  Kausalgesetzes  gewahrt,    trotz 
des  abrui)ten  Charakters  unserer  Vorstellungswelt  und  trotzdem  wir 
jene  Universalität  unmittelbar  nicht  wahrnehmen.    Die  transcendente 
Kausalität  löst  somit  aHe  Schwierigkeiten,  in   die  uns  die  Annahme 
einer    immanenten   Kausalität    verwickelt.      Sie    und    mir   sie    allein 
beantwortet  die  Frage,  wie  wir  dazu  kommen,  unsere  Vorsteliun^'-en 


i^j 


für  objektiv  zu  halten;  aber  freilicli  hat  sie  nur  den  Wert  einer 
Hyj^othese.  weil  sie  nur  mit  ihrem  einen  Ende  an  die  Bewufst- 
seinswelt  geknüpft  ist,  mit  dtun  andern  dagegen  über  die  Grenzen 
des  Bewufstseins  hinausragt.  Daher  kann  sie  auch  nur  auf  einem 
solchen  Standpunkt  anerkannt  werden,  der  nicht,  wie  der  kantische; 
nur  das  Apodiktische  für  einen  der  Philosophie  würdigen  Gegen- 
stand ansieht.   — 

Wäre  die  immanente  Kausalität  das  einzige  J-'rinzij).  das  die 
Abfolge  und  den  Zusammenhang  unserer  Vorstellungen  regelt,  so 
würde  in  einem  Augenblick  nur  je  eine  Vorstellung  in  unserem 
Bewufstsein  sein,  ein  Zugleichsein  verschiedener  Vorstellungen  wäre 
dann  unmöglich,  weil  alle  unsere  Wahrnehmungen,  sofern  sie  ein 
Kausalverhältnis  darstellen,  successiv  sind.  Wenn  die  Vorstellung  A 
mit  der  V'orstellung  B  zugleich  ist,  so  ist  dies  nur  dadurch  zu  er- 
klären, dafs  nicht  blofs  A  durch  sein  Kausalverhältnis  zu  B  das 
letztere  hervorrul't,  sondern  dafs  umgekeiirt  auch  B  wiederum  auf  A 
zurückwirkt,  so  dafs  mithin  die  AVahrnehmung  des  einen  auf  die- 
jenige des  andern  wechselseitig  folgen  kann.  „Folglich  wird  ein 
Verstandesbegriff  von  der  wechselseitigen  Folge  der  Bestimmungen 
dieser  aufser  einander  zugleich  existierenden  Dinge  erfordert,  um 
zu  sagen,  dafs  die  wechselseitige  Folge  der  A\'ahrnehmungen  im 
Oi>jekt  begründet  sei  und  das  Zugleichsein  dadui'ch  als  objektiv 
vorzustellen."  Der  „Grundsatz  des  Z  ug  1  ei  c  h  sei  n  s  nach 
d  e  m  G  e  s  e  t  z  d  e  r  Wechsel  w  i  r  k  u  n  g  oder  Gemeinschaft" 
ist  also  selbst  eine  a  priori  im  Verstände  enthaltene  Bedingung  der 
Möglichkeit  der  Erfahrung,  ohne  welche  uns  diese  niemals  ein  Zu- 
gleichsein verschiedener  Dinge  zeigen  würde.  Daraus  entspringt  die 
dritte  Analogie  der  Frfahrunir:  „Alle  Substanzen,  sofern 
sie  im  Eaume  als  zugleich  wa  h  rgen  oni  in  e  n  wcimDmi 
können,  sind  in  durchgängiger  Wechselwirkung" 
H87  f^'.). 

Kant  bedurfte  Inü  seiner  Fassung  des  Kausalgesetzes  ein  be- 
sonderes ]*rinzi]).  um  das  Zugleichsein  verschiedener  A\^lhrnehmungen 
verständlich  zu  machen.  Aber  er  täuschte  sich  offenbar,  wenn  er 
meinte,  der  Grund  des  ZugliMchseins  liege  in  der  Wechselwirkung. 
Oder  wi(^  kann  man  behaupten,  dafs  wir  nur  dasjenige  als  zugleich 
seiend  wahrnähmen,  was  in  Wechselwirkung  steht?  AVie  vieles  von 
dem,  das  wir  zugleich  wahrnehmen,  besitzt  eine  solche  wechselseitige 
Beziehung  gar  nicht!  Der  wahre  Grund  liegt  auch  hier  nicht 
in  der  tlächenhaften  Beziehung  der  Vorstellungen  zu  einander,  sondern 
er  liegt  in  der  Tiefendimension,  in  jenem  transcendenten  Gebiete,  das 
auf  uns  wirken,    uns   afhzieren   mufs,    damit  wir  überhaupt    irgend 


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B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


171 


eine  Emptinduiig  haben.  In  Wahrheit  also  ist  die  Wechselwirkung 
von  der  Kausalität  nicht  verschieden.  Sie  ist  nurMer  allgemeinere, 
umfassendere  Ausdruck  üiv  jene,  sofern  sie  das  Weltgeschehen 
überhaupt  nach  allen  seinen  Richtungen  zugleich  umspannt,  während 
die  Kausalität  nur  einen  abstrakten  Ausschnitt  unseres  Denkens, 
gleichsam  nur  den  Ausdruck  für  den  Zusammenhang  der  Welt- 
begebenheiten nach  Einer  Richtung  im  Gegensatz  [ym  dem  nach 
allen  Richtungen  sich  erstreckenden  einheitlichen  System  von  kausalen 
Beziehungen  darstellt. 

Die  Erhebung  der  Wechsel\virkun,2^  zu  einem  besonderen  Ver- 
standesprinzip ist  daher  auch  von  jeher  bei  Anhängern  und'Gegnern 
Kants  ein  Stein  des  Anstofses  gewesen.  Der  äufserliche  Urs])rung 
der  dritten  Analogie  der  Erfahrung  liegt  ja  offenbar  in  der  Kate- 
gorieentafel,  wo  die  W^echselwirkung  unter  den  Kategorieen  der 
Relation  ihren  Platz  neben  der  Kausalität  behauptet.  Aber  dafs 
Kant  überhau])t  der  Wechselwirkung  eine  solche  Bedeutung  zu- 
gestehen konnte,  o])wohl  doch  auch  er  sich  hätte  sagen  müssen, 
dafs  sie  ihrem  Wesen  nacli  der  K;iusalität  nicht  koordiniert  sein 
kann,  das  hat  doch  noch  einen  tieferen  Grund  als  das  blofse 
„architektonische  Bedürfnis"  Kants,  aus  dem  man  in  der  Regel 
seine  eigentümliche  Stc^hmg  zu  jenem  Begrilf  erkläi't  hat.  ]\Ian 
hat  eben  zu  wenig  im  Auge  gehabt,  wie  sehr  (bis  ganze  kantische 
System  in  seinen  wesentlichsten  Punkten  bewufst  oder  unbewufst 
durch  die  Rücksiclitnahme  auf  die  Naturj)hiloso})hie  bestimmt  ist. 
Kant  strebte  vor  allem  darnach,  seine  natur})hilosophische  Welt- 
anschauung a])riorisch  zu  begründen,  und  die  Wechselwirkung  oder 
das  commercium  war  ja  das  Prinzi]).  auf  welcliem  sein  Dynamismus 
beruhte.  War  dieses  sicher  gestellt,  so  katte  er  gewonnen  Sj)iel. 
Erst  wenn  ihm  gelungen  war,  der  Annahme  eines  wechselseitigen 
Einflusses  der  Substanzen  auf  einander  den  Charakter  des  Hypo- 
thetischen al)zustreifen.  der  ilir  })is  dahin  noch  immer  angehaftet 
hatte,  erst  dann  war  der  Sieg  des  inÜuxus  ])hysicus  üIxt  die  prä- 
stabilierte  Harmonie  viillig  entschieden,  erst  dann  einer  Auii'assung 
des  jSaturgeschehens  Thor  und  Tln'ir  gecjffnet.  die  eine  Versöhnung 
zwischen  K  e  w  t  o  n  und  L  e  i  b  n  i  z  h(^rstellte.  Wie  anders  aber  konnte 
die  Apodiktizität  jener  Annahme  fester  begründet  werden,  als  wenn 
das  Prinzip  der  Wechselwirkung  selbst  ein(^  Bedingung  der  Mög- 
lichkeit der  Erfahrung  war?  »Nur  dasjenige  l)estimmt  dem  Andern 
seine  Stelle  in  der  Zeit,  was  die  Ursache  von  ihm  oder  seinen 
Bestimmungen  ist.  Also  mufs  jede  Substanz  (da  sie  nur  in  An- 
sehung ihrer  Bestimmungen  Folge  sein  kann),  die  Kausalität  ge- 
wisser Bestimmungen   in   der   andern    und   zugleich  die  Wirkungen 


von  der  Kausalität  der  andern  in  sich  enthalten,  denn  sie  müssen 
in  d  V  n  a  m  i  s  c  h  e  r  Gemeinschaft  (unmittelbar  oder  mittelbar) 
stehen,  wenn  das  Zugleichsein  in  irgend  einer  möglichen  Erfahrung 
erkannt  werden  soll.  Nun  ist  al)er  alles  dasjenige  in  Ansehung 
der  Gegenstände  der  Erfahrung  notwendig,  ohne  welches  die  Er- 
fahrung von  diesen  Gegenständen  selbst  unmöglich  sein  würde. 
Also  ist  es  in  allen  Substanzen  in  der  Erscheinung,  sofern  sie  zu- 
gleich sind  notwendig,  in  durchgängiger  Gemeinschaft  der 
Wechselwirkung  unter  einander  zu  stehen"  (189).  Das  commercium, 
die  dynamische  Gemeinschaft,  ist  es,  „ohne  welche  selbst  die  lokale 
(communio  spatii)  niemals  emi)irisch  erkannt  werden  könnte*'  (ebd.). 
Ohne  Gemeinschaft  ist  jede  Wahrnehmung  (der  Erscheinung  im 
Räume)  von  der  anderen  abgebrochen,  und  die  Kette  empirischer 
Vorstellungen,  d.  i.  Erfahrung,  würde  bei  einem  neuen  (3bjekt  ganz 
von  vorne  anfangen,  ohne  dafs  die  vorige  damit  im  Geringsten  zu- 
sammenhängen   oder   im   Zeitverhältnisse   stehen  könnte"   (lüO).   — 

Substantialität.  Kausalität  und  Wechselwirkung,  das  sind  die 
drei  Grundpfeiler  der  kantischen  Naturphilosophie.  Neben  diesem 
Kern  der  reinen  Naturwissenschaft,  wie  er  in  den  Analogieen  der 
Erfahrung  enthalten  ist.  kommt  den  drei  aus  den  Kategorieen  der 
Modalität  abgeleiteten  Gesetzen  nur  eine  mehr  untergeordnete 
Bedeutung  zu.  Dieselben  lauton:  ,.Was  mit  den  formalen 
Bedingungen  der  Erfahrung  (der  Anschauung  und 
den  Begriffen  nach)  übereinkommt,  ist  möglich:  was 
mit  den  materialen  Bedingungen  der  Erfahrung  (der 
E  m  ])  f  i  n  d  u  n  g)  z  u  s  a  m  m  e  n  h  ä  n  g  t .  ist  wirklich;  dessen 
Zusammenhang  mit  dem  Wirklichen  nach  allge- 
meinen Bedingungen  der  Erfahrung  bestimmt  ist, 
ist   (existiert)   notwendig"    (192  f.\ 

Wenn  die  übrigen  sogenannten  reinen  oder  transcendentalen 
Naturgesetze  Bedingungen  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  waren, 
so  handeln  diese  drei  Gesetze  blofs  von  dem  Verhältnis  der  (legen- 
stände  zum  Erkenntnisvermögen.  „Die  Grundsätze  der  Modalität 
sind  nicht  objektiv  synthetisch,  weil  die  Prädikate  der  Möglichkeit, 
Wirklichkeit  und  Notwendigkeit  den  Begriff.  v(m  dem  si.^  aus- 
gesagt werden,  nicht  im  mindesten  vermehren,  dadurch  dafs  sie 
der  Vorstellung  des  Gegenstandes  noch  etwas  hinzufügen.  Da  sie 
aber  gleichwohl  doch  immer  synthetisch  sind,  so  sind  sie  es  nur 
subjektiv,  d.  h.  sie  fügen  zu  dem  Begriffe  eines  Dinges  (Realen), 
von  dem  sie  sonst  nichts  sagen,  die  Erkenntniskraft  hinzu,  worin  er 
entsi)ringt  und  seinen  Sitz  hat.  Die  Grundsätze  der  Modalität  also 
sagen  von  ehiem  Begriffe  nichts  Anderes  als  die  Handlung  des  Er- 


!nM- 


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172 


B.   Kant  als  Naturphilosoph 


IL  Die  kritisclie  Naturphilosophie. 


178 


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pp  % 


keiintnisvermögeiis.    dadurch    er    erzeiijG^t    wird''    (L>04).      P]s    bleibt 
unverständlich,    mit    welchem    Recht    sie    dann    noch    ,. Grundsätze" 
heilsen  und  für  reine  Xatur^^esetze,  d.  h.  für  apriorische  BediuiTunrren 
möglicher    Erfahrung,    ausgegeben  werden    können;    gehen  sie  doch 
letzterer    nicht    voran,    sondern   sind    erst   nachträglich  —  und  wer 
weifs   wie  spät  —  aus  der  Erfahrung  abstrahiert       Kant  seihst  trägt 
daher  auch   Hedenken,    sie   „Grundsätze"   zu   nennen    un<l   bezeichnet 
sie  als  ,.  F  o  s  t  u  1  a  t  e  des  e  m  p  i  r  i  s  c  h  e  n  1)  e  n  k  v  n  s  ii  b  e  r  h  a  u  p  t" 
mit  Kücksicht  darauf,    dafs    „ein   Postulat   in    dw  M:itiieniatik    der 
praktische  8atz"   heifst,     „der  nichts  als  die  8ynthesis  enthält,    wo- 
durch   wir   einen    Gegenstand   uns  zuerst  geben    und  dessen  Begriff 
erzeugen,    z.  B.  mit   einer   gegebenen    Ijinie    aus    einem    gegebenen 
Punkte  auf  einei-  Ebene  einen  Zirkel  zu  beschreiben"  (ebd.  f.)  —  eine 
ganz    erzwungene    Analogie,     die    den    eigentlichen  Ursprung    jener 
Sätze  nicht  verdecken  kann,   indem  sich  nämlich  Kant  in  AVahrheit 
nur  durch  die  Anordnung  in  seiner  Kategorieentafel  veraidafst  sah. 
auch   die    Korni   der  Modalität  mit   einem    Inhalt  zu   bedenken.*) 

Eine  besondere  Betrachtung  verdient  nur  das  zweite  Postulat. 
das  die  Wirklichki^'t  dessen,  was  von  uns  (M'k,tniit  wird,  von  seiner 
Beziehung  zur  Emplindung  abhängig  macht.  Hisher  handelte  es 
sich  darum,  mit  welchem  Rechte  wir  überhaupt  unsere  Vorstellun^^en 
aut  Gegenstände  beziehen,  die  als  solche  doch  unserm  unmittel- 
baren Einflufs  entrückt  zu  sein  scheinen.  .letzt  fragt  es  sich,  mit 
welchem  Rechte  wir  sie  auf  wirkliche  Gegenstände  beziehen  und 
sie  dadurch  von  den  idealen  Gebilden  unserer  Phantasie  unter- 
scheiden. Bisher  betrachteten  wir  unsere  Vorstcdlungen,  sofern  sie 
einer  vom  Subjekt  unabhängigen  G  e  se  t  z  m  ä  fs  i  gk  ei  t  unterworfen 
sind.  Jetzt  liegt  der  Schwerpunkt  der  Betrachtung  darin,  inwieweit 
das  Subjekt  an  ihrer  Entstehung  mit  beteiligt  ist.  Dort  also 
handelte  es  sich  um  die  Objektivität,  hier  um  die  Realität 
unserer  Vorstellungen;  beides  zusammen  oder  die  objektive 
Realität  macht  den  Charakter  der  Erfahrung  aus,  und  diese 
eben  soll  in  den  reinen  A'aturgesetzen  ihre  Erklärung  finden. 

Es  ist  die  Kundamentalvoraussetzung  der  Vernunftkritik,  dafs 
zum  Zustandekommen  unserer  Erkenntnis  Sinnlichkeit  und 
Verstand  gleich  notwendig  seien.  ,. Unsere  Erkenntnis  entspringt 
aus  zwei  Grumhiuellen  des  Gemüts,  deren  die  erste  ist,  die  Vor- 
stellungt^n  zu  emi)fangen  (die  Rezeptivität  der  Eindiiicke).  die  zweite 
das   Vermögen,    durch  jene  Vorstellungen   einen  Gegenstand  zu  er- 

*J  A  dickes:  Kants  Systematik  als  systemhihleiider  Faktor  (I«87).  54  f. 
Ders.:  Im.  Kants  Kritik  d.  r.  V.  mit  einer  Erläuterung  u  Anmerkungen  hrso-. 
ri889).     233. 


kennen  (Spontaneität  der  Begrifte) ;  durch  die  erstere  wird  uns  ein 
Gegenstand  gegeben,   durch  die  zweite  wird  dieser  im  Veriiältnis 
auf   diese  Vorstellung    (als    bhd'se    Bestimmung    des    Gemüts)    ge- 
dacht.    Anschauungen    und    Begriffe    machen    also   die   Elemente 
aller  unserer  Erkenntnis  aus,  so  dafs  weder  Begriffe  ohne  ihnen  auf 
einige  Art  korrespondierende  Anschauung,    noch  Anschauung  ohne 
Begriffe  eine   Erkenntnis   abgeben   können"  (81).     „Gedanken  ohne 
Inhalt   sind   leer.    Anschauungen   ohne  Begriffe   sind  blind.     Daher 
ist  es  ebenso  notwendig,    seine  Begriffe   sinnlich  zu   machen    (d.  h. 
ihnen    den   Gegenstand    in    der  Anschauung    l)eizufügen),    als    seine 
Anschauungen  sich  verständlich  zu   machen   (d.  h.  sie  unter  Begriffe 
zu    bringen)"    (82).       „Wenn    also    eine     Erkenntnis     objektive 
Realität    haben,    d.  h.   sich   auf  einen  Gegenstand  beziehen    und 
in  demselben   Bedeutung  und  Sinn  haben  soll,  so  mufs  der  Gegen- 
stand auf  irgend    eine  Art    gegeben    werden    können.     Ohne  das 
sind  die  Begrifte  leer,  und  man  hat  dadurch  zwar  gedacht,   in  der 
That  aber  durch  dieses  Denken  nichts  erkannt,    sondern    blofs  mit 
Vorstellungen  gesj)ielt.     Einen  Gegenstand  geben,   wenn  dieses  nicht 
wiederum  nur  mittelbar  gemeint  sein  soll,    sondern    unmittelbar   in 
der   Anschauung    darstellen,    ist   nichts    Anderes,    als   dessen    Vor- 
stellung   auf     Erfahrung    beziehen.       Die     Möglichkeit    der 
Erfahrung  ist  also  das,  was  allen  unseren  Erkenntnissen  objektive 
Realität  giebt"   (151).     „Da  keine  Vorstellung  unmittelbar  auf  den 
Gegenstand    geht    als    blofs    die    Anschauung,     so    wird  ein   Begriff 
niemals    auf    einen    Gegenstand    unmittel])ar .     sondern    auf    irgend 
eine  andere  Vorstellung    von  demselben    (sie  sei  Anscbauung  oder 
selbst  schon    Begriff')   bezogen"    (98).      „Also  beziehen   sich   alle    Be- 
grifte   und    mit    ihnen    alle    Grundsätze,    so  sehr  sie   auch  a  priori 
möglich  sein  mögen,  dennoch  auf  empirische  A  n  s  c  h  a  u  u  n  g  e  n , 
d.  h.    auf    data    zur    möglichen    Erfahrung.     Ohne  das   haben  sie 
gar  keine  objektive  Gültigkeit,    sondern    sind    ein    blofses  Spiel,    es 
sei  der  P]inbil(lungskraft  oder  des   V^erstandes.    respektive  mit  ihren 
V^orstellungen."     Selbst    die    reine  Anschauung,    wiewohl   sie   noch 
vor  dem  Gegenstande  a  priori  möglich  ist,   „kann  doch  ihren  Gegen- 
stand,  mithin  die  objektive  Gültigkeit  nur  durch  die  empirische  An- 
schauung  bekommen"   ('-211). 

An  der  Anschauung  und  somit  letzten  Endes  an  dem  Materiale 
der  Empfindung  liegt  es  also,  dafs  unseren  Vorstellungen  Realität 
zukommt.  „In  dem  blofsen  Begriff  eines  Dinges  kann  gar  kein 
Charakter  seines  Daseins  angetroffen  werden.  Denn  dafs  der 
Begriff'  vor  der  Wahrnehmung  vorhergeht,  bedeutet  dessen  blofse 
M<>gliehkeit ;  die  Wah  r  n  e  h  m  ung  aber,   die  den  Stoff'  zum   Begriff* 


II-. 


..,'« 


174 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


f'^    % 


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liei'fi^iebt,    ist    der  einzige  Charakter    der   Wirklichkeit." 
Man  vermag  aber  auch  vor  der  Wahrneliminij^^  des  Dinges,   und  also 
komparativ    ji    priori    dessen    Dasein    zu    erkeinien ,    wenn    es    nur 
mit  einigen  AVahrnehmungen  nach  den  Grundsätzen  der  empirischen 
Verknüpfung  derselben  (nach  Analogie)  zusammenhängt,  z.  B.   „das 
Dasein  einer  alle  K<Jrper  durchdringenden  Materie    aus  der  Wahr- 
nehmung   des    angezogenen    Eisenfeiligs,    obzwar    eine    nnmittell)are 
AValirnehmung  dieses  Stoffes  nach  der  BeschafYenheit  unserer  Organe 
unmöglich  ist.     Denn  überhaupt  würden  wir  nach  Gesetzen  der  Sinn- 
lichkeit   und    dem    Kontext    unserer  AVahrnebmungeu    in    einer   Er- 
fahrung auch  auf  die  unmittelbar  emi)irische  Anschauung  derselben 
stofsen.  wenn   unsere  Sinne  feiner  wären,   deren  Grobheit  die  Form 
m()glicher    Erfahrung    überhaupt    nichts    angeht.      Wo    also    Wahr- 
nehmung und  deren  Anhang   nach   empirischen  (Tcsetzen  liinreicht, 
dahin  reicht  auch  unsere  Erkenntnis  vom  Dasein  der  Dinge*'  (lij()f.). 
Wenn  nur  die  Empfindung,   die  der  Wahrnehmung  zu   Grunde 
liegt,  nicht  selbst  etwas  blofs  Subjektives  und  Ideales  wäre!     Weil 
sie  dies  ist,    so    ist  nicht    einzusehen,    was    sie    zur   Realität  unserer 
Vorstellungen  beitragen  sollte.     iVlag  immerhin  in  dem  Baumateriale 
unserer  Vorstellungswelt  ein   Element  enthalten  sein,  das  nicht  aus 
der  Spontaneität  des  Verstandes  entsprungen  und  daher  dem  letzteren 
als    „gegeben"   erscheint:  insofern  es  nur  ein    i'rodukt  des  Subjekts 
ist  und   in  rlen  Inhalt  der  subjektiven  Elemente  sich  eingliedert,  in- 
sofern ist    und   bleibt  es  doch    rein  idealer  Natur   und  führt   uns   in 
das  Gebiet  des  AV'jrklichen  unmittelbar  nicht   hinüber.      ..Denn   man 
kann  doch  aufser  sich    nicht  empfinden,   sondern  nur  i  n   sich   selbst, 
und    das   ganze  Selbstbewufstsein    liefert    daher   nichts    als  lediglich 
unsere  eigenen  Bestimmungen"  (604).      „  Das  Reale  äufserer 
Erscheinungen   ist   also    wirklich  nur  in   der   Wahrnehmung 
und  kann  auf  keine  andere  Weise  wirklich  sein"  (1)02).     „Das  Reale 
der   Emplindung    ist    blofs    subjektive  Vorstellung"    (ir)9), 
„Veränderung  unseres  Subjekts,  die  sogar  bei  verschiedenen  Menschen 
verschieden    sein    kann"   (()4),    und    durch    deren  Zergliederung    und 
Untersuchung    wir  „auf   allen  Fall    doch    nur    unsere  Art  der  An- 
schauung,   (1.  h.    unsere  Sinnlichkeit,    vollständig    erkennen"   würden 
(72).     Die  Wahrnehmung    als    solche    verbüfgt  noch   keineswegs  die 
Realität,    denn    „da   können  allen^ings  trügliche   Vorstellungen  ent- 
s])ringen,  denen  die  Gegenstände  nicht   entsprechen,    und  wobei  die 
Täuschung    bald    einem   Blendwerke    der    Einbildung    (im    Traume), 
bald  einem  Fehltritte   der  Urteilskraft    (beim    sogenannten    Betrüge 
der  Sinne)   beizumessen  ist"    (()()2.  vgl.  20f)).     „Welchen  gegebenen 
Anschauungen  wirklich  Objekte  aufser  mir  korrespondieren,   und  die 


also  zum  äufseren  Sinne  gehören,  welchem  sie  und  nicht  der  Ein- 
bildungskraft zuzuschreiben  sind,  mufs  nach  den  Regeln,  nach  welchen 
Erfahrung  überhaupt  von  Einluldung  unterschieden  wird,  in  jedem 
besondern  Falle  ausgemacht  werden"  (:^(j).  Das  blofse  Ge- 
gebensein der  Empfindung  also  genügt  für  sich  allein  noch  nicht, 
um  unsern  Vorstellungen  Realität  zu  verleihen,  denn  jene  kcmnte 
ebenso  gut  „durch  innere  Ursachen  gewirkt"  (öGT)  und  also  ein 
blofses  Produkt  unserer  Einbildungskraft  sein.  Hält  es  doch  Kant 
selbst  nicht  für  ausgeschlossen,  dafs  es  das  Subjekt  der  Gedanken 
sei.  welches  unseren  äufseren  Sinn  so  affiziere,  dafs  er  die  Vor- 
stellungen von  Raum.  ]\Iaterie,  Gestalt  u.  s.  w.  bekommt  (092). 
Damit  wäre  denn  freilich  alles  rein  subjektiv-ideal  und  es  wäre 
ganz  unm()glich,  eine  Unterscheidung  zwischen  realen  und  idealen 
Vorstellungen  zu  trelfen. 

Wir  sahen  oben,  dafs  der  Verstand  nicht,  wie  Kant  annimmt, 
rein  spontan  funktioniert,  sondern  selbi^t  bedingt  ist  durch  den  In- 
halt der  Empfindungen,  die  erst  die  Anwendung  der  besonderen 
Funktionc^n  hervorrufen.  Hier  zeigt  sich,  dafs  auch  die  Sinnlichkeit 
nicht  rein  passiv,  blofse  „Rezeptivität  der  Eindrücke"  ist,  sondern 
die  Empfindungen  selbst  erst  aus  sich  gestaltet.  Die  Empfindung 
ist  nicht  ein  unmittelbares  Erzeugnis  der  Siinilichkeit  in  dem 
Sinne,  dafs  sie  auf  der  spontanc^i  Bethätigung  ihrer  Funktion  be- 
ruhte; sie  ist  vielmehr  nur  als  eine  Reaktion  der  Sinnlichkeit 
auf  ein])fangene  Eindrücke  zu  betrachten,  die  aber  als  solche  doch 
aus  der  Natur  der  Seele  selbst  entspringt  und  dieser  allein  ihre 
Existenzform  als  Empfindung  zu  verdanken  hat.  Spontan  also 
ist  die  Entstehung  der  Empfindung  nur  in  demselben  Sinne,  wie  es 
die  Anwendung  der  Verstandesfunktionen  ist,  und  rezeptiv  oder 
passiv  ist  die  letztere  nicht  anders,  wie  es  die  Entstehung  der  Em- 
pfindung ist.  Daraus  ergiebt  sich  die  Haltlosigkeit  der  kantischen 
Unterscheidung  zwischen  der  Sinnlichkeit  und  dem  Verstände.  Kant 
bildet  sich  ein,  durch  Addierung  zweier  idealen  Faktoren,  den 
Verstandesfunktionen  und  den  Empfindungen,  einen  realen  Faktor 
erhalten  zu  können.  Aber  dies  mufs  notwendig  ebenso  fehlschlagen, 
wie  es  nach  unserer  obigen  Darstellung  unnn'iglich  ist,  aus  zwei 
subjektiven  Faktoren,  den  Vorstellungen  und  der  hinzugefügten 
Regel  der  Verknüpfung,  einen  objektiven  Faktor  herauszubringen. 
Wie  die  Objektivität  unserer  Vorstellungen  nur  dadurch  gewähr- 
leistet wurde,  dafs  sie,  obzwar  an  sich  immanente  Modifikationen 
unseres  Bewufstseins,  dennoch  auf  transcendente  Gegenstände  sich 
bezogen,  so  kann  auch  die  Realität  derselben  nur  in  ihrer  Beziehung 
auf  wirkliche  Gegenstände  begründet  sein.     Kant  hat   ganz  Recht, 


176 


B.    Kant  als  Naturphilosopli. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


A  f** 


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die  Ecnlität  unserer  Vorstellungen     iii    der   Sinnliclikeit   zu    suchen, 
aber  liier  doch   nur  iius  dem  (irrunde,   weil   in   dem  Inhalte  der  Sinn- 
lichkeit,   in    der   Empfindunij^.    die    Wirklichkeit    und   die  Welt    des 
Bewufstseins    sich    gleichsam    uri mittelbar    berühren.      Nur    weil   die 
Emj)Hndun;,^  durch  Einwirkung  der  realen  Uinge  an  sich  entstanden 
ist,   weil  sie  gleichsam  die  Pfoi-tt»  bildet,  durch  welche  die  letzteren 
ins  Bewufstsein  eintreten,    nur   darum    erscheint   sie   realer    als  die 
Vorstellung,    die    erst    aus    ihr    entsteht.      Es  ist  aber  nicht  zu   ver- 
gessen,  dafs   sie,   als    Empliiidung,  selbst  schon   zum   idealen    Inhalte 
unseres  Bewnl'stseins    gehört    und    daher  nur  durch  ihre  Beziehung 
anf  das   Ding  an  sich   der   Vorstellung    den  Charakter  der  Kealität 
verleihen   kann.      Dieselbe  transcendente  Kausalität  also,  welche  die 
Vorst(dlungen  unserer  subjektiven   AVillkiir    entrückt,   hebt  sie  auch 
über  die  Sphäre  der  blol'sen  Idealität  hinaus.       1  m    Ding  an  sich, 
von    dem    allein    jene    reale    Einwiikung   auf   das    8ubj(dvt    ausgeht, 
liegt  ni(;ht  blol's  der  Grund   l'ür   die  Objektivität,    sondern  auch   für 
die    Kealität   unserer  Vorstellungen    im  Bewufstsein;    die    ,.objektive 
Realität-'  der  Erfahrung  ist  nur  deshalb   kein   leeres  Wort,   weil  die 
Erfahrung,  als  Inhalt  unseres  Bewufstseins,  ihr  traiiseendentes Korrelat 
am    Ding  an  sich  besitzt. 

So  ist  es  also  nur  Ein  Problem,  ob  ich  nach  der  Realität  oder 
nach  der  Objektivität  meiner  Vorstellungeu  frage,  und  daher  ist 
hierauf  auch  nur  Eine  Antwort  möglich.  Kant  hat  das  Problem 
gewaltsam  in  zwei  Hälften  auseinandergerissen,  weil  er  die  Sinn- 
lichkeit s])eziflsch  vom  Verstände  unterschieden  hatte.  Mit  der 
Einsiclit  in  die  Unhaltbarkeit  dieses  Dualismus  unserer  Vorstellungs- 
vermögen wird  auch  jene  Einheit  wieder  hergestellt;  es  handelt  sich 
alsdann  nicht  sowohl  mehr  darum,  worauf  die  Objektivität  und  worauf 
die  Realität  unserer  Vorstellungen  sich  gründet,  sondern  darum, 
wodurch   ül)erhaupt  objektive  Vorstellungen  möglich  werden.   — 

Die  reine  Naturwissenschaft  begründet  die  Gesetze  a  priori, 
welche  zum  \\'(  sen  der  Natur  gehören.  Auf  diesem  Standpunkt  ist  ein 
Zwt'ifel  an  den  Grundgesetzen  der  letzteren  nic-ht  möglich,  weil  die 
objektiven  Gesetze  der  Erfahrung  nichts  Anderes  als  die  subjektiven 
Bedingungen  ihres  Daseins  im  BewuCstsein  sind  und  folglich  ein 
Zweifel  an  ihrer  Realität  die  Realität  des  Denkens  seihst  betreffen 
würde.  Das  ist  eine  Anschauung,  derjenigen  gerade  entgegengesetzt, 
welche  D  e  s  car  t es  zuerst  aufgestellt  hat.  Der  pi-oblematische  oder 
skeptische  Idealismus  des  Descartes,  wie  Kant  ihm  nennt,  be- 
hauptet nur  die  eigene  Existenz  sei  (TCgenstand  einer  unmittelbaren 
Wahrnehmung,  das  Dasein  eines  wirklichen  Gegenstandes  aufser  mir 
dagegen  sei  niemals  geradezu  in  der  \\^ihrnehmung  gegeben,  sondern 


nur  zu  dieser,  die  eine  Modifikation  des  inneren  Sinnes  ist,  als 
äufsere  Ursache  hinzugedacht  und  mithin  nur  erschlossen. 
„Nun  ist  aber  ein  Schlufs  von  einer  gegebenen  Wirkung  auf  eine 
bestimmte  Ursache  jederzeit  unsicher,  weil  die  Wirkung  aus  mehr 
als  einer  Ursache  entsprungen  sein  kann.  Demnach  bleibt  es  in  der 
Beziehung  der  AVahrnehmung  auf  ihre  Ursache  jederzeit  zweifelhaft, 
ob  diese  innerlich  oder  äufserlich  sei,  ob  also  alle  sogenannten 
äufseren  AVahrnehmungen  nicht  ein  blofses  Spiel  unseres  inneren 
Sinnes  seien,  oder  ob  sie  sich  auf  äufsere  wirkliche  Gegenstände  als 
ihre  Ursache  beziehen"  (;)98).  Wäre  die  Natur  oder  die  Materie, 
als  Gegenstand  der  äufseren  Wahrnehmung,  blofs  erschlossen,  wäre 
sie  selbst  nur  (^ne  Vorstellung  a  posteriori,  dann  wäre  es  freilich 
unuK'iglich,  a  priori  synthetische  Urteile  über  sie  zu  fallen,  dann 
gäbe  es  keine  Naturphilosophie.  „Denn  in  der  That,  wenn  man 
äufsere  Erscheinungen  als  Vorstellungen  ansieht,  die  von  ihren 
Gegenständen,  als  an  sich  aufser  uns  befindlichen  Dingen,  in  uns 
gewirkt  werden,  so  ist  nicht  abzusehen,  wie  man  dieser  ihr  Dasein 
anders  als  durch  den  Schlufs  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache 
erkennen  könne,  bei  welchem  es  immer  zweifelhaft  bleiben  mufs,  ob 
die  letztere  in  uns  oder  aufser  uns  sei"  (600).  ,,Wenn  wir  äufsere 
Gegenstände  für  Dinge  an  sich  gelten  lassen,  so  ist  schlechthin 
unmöglich,  zu  begreifen,  wie  wir  zur  Erkenntnis  ihrer  Wirklichkeit 
aufser  uns  kommen  sollen,  indem  wir  uns  blofs  auf  die  Vorstellung 
stützen,  die  in  uns  ist"  (004).  „Nun  kann  man  zwar  einräumen, 
dafs  von  unseren  äufseren  Anschauungen  etwas,  was  im  trans- 
cendentalen  Verstände  aufser  uns  sein  mag,  die  Ursache  sei;  aber 
dieses  ist  nicht  der  Gegenstand,  den  wir  unter  den  Vorstellungen 
der  Materie  und  körperlicher  Dinge  verstehen;  denn  diese  sind 
lediglich  Erscheinungen,  d.  i.  blofse  Vorstellungsarten,  die 
sich  jederzeit  nur  in  uns  befinden  und  deren  Wirklichkeit  auf  dem 
unmittelbaren  Bewufstsein  ebenso ,  wie  das  Bewufstsein 
meiner  eigenen  Gedanken  beruht"  (600).  Wir  wissen  ja.  dafs  die 
Realität  blofs  in  der  Empfhidung  ist,  dafs  wirklich  nur  ist,  was  mit 
dieser  letzteren  zusammenhängt;  was  kümmert  uns  die  transcendente 
Ursache  unserer  Em])findung,  da  die  Materie,  mit  welcher  es  die 
Naturwissenschaft  zu  tliun  hat,  uns  vollständig  in  der  äufseren 
Wahrnehmung  gegeben  ist? 

„Der  transcendentale  Idealist  kann  die  Existenz  der  Materie 
einräumen,  ohne  aus  dem  blol'sen  Selbstbewufstsein  hinauszugehen  und 
etwas  mehr  als  die  Gewifsheit  der  Vorstellungen  in  mir,  mithin 
das  cogito  ergo  suin  anzunehmen.  Denn  weil  er  diese  Materie  und 
sogar  deren   innere  Möglichkeit   blofs    für  Erscheinung  gelten  läfst, 

D  r  e  w  s,  Kants  Naturphilosophie.  12 


It  '■ 


,1,* 


178 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


179 


die,  von  unserer  Sinnlichkeit  abgetrennt,  nichts  ist,  so  ist  sie  bei 
ihm  mir  eine  Art  Vorstellungen  (Anschauung),  welche  äufserlich 
heifsen,  nicht  als  oh  sie  sich  auf  an  sich  selbst  äulsere  Gegenstände 
bezögen,  sondern  weil  sie  Walirnehnuingen  auf  den  Kaum  be- 
ziehen, er  selbst,  der  Raum,  aber  in  uns  ist"  (oUD).  Da  ist  es 
denn  gar  nicht  mehr  bedenklich,  das  Dasein  der  Materie  ebenso  auf 
das  Zeugnis  unseres  blolsen  Selbstbewul'stseins  anzunehmen  und 
dadurch  lür  bewiesen  zu  erklären,  wie  das  Dasein  meiner  selbst  als 
eines  denkenden  Wesens.  „Denn  ich  bin  mir  doch  meiner  Vor- 
stellungen bewufst;  also  existieren  diese  und  ich  selbst,  der  ich  diese 
Vorstellungen  habe.  Kun  sind  aber  äul'sere  Gegenstände  ( Kr)rj)erj 
blol's  Erscheinungen,  nritliin  aucli  nichts  Anderes  als  eine  Art  meiner 
Vorstellungen,  deren  Gegenstände  nur  durcli  diese  Vorstellungen 
etwas  sind,  von  ibnen  abgesondert  aber  nichts  sind.  Also  existieren 
ebensowohl  äulsere  Dinge,  als  ich  selbst  existiere,  und  zw^ar  beide 
auf  das  u  n  m  i  tt  e  ]  b  n  r  e  Zeugnis  meines  Selbstbewul'stseins  ;  nui- 
mit  dem  Unterscbiede,  dafs  die  Vorstellung  meiner  selbst,  als  des 
denkenden  Subjekts,  blol's  nuf  der  inneren,  die  Vorstellungen  aber,  welcbe 
ausgedelmte  Wesen  bezeiclmen.  auch  aul'  den  äul'seren  Sinn  bezogen 
werden,  leb  habe  in  Absicht  auf  die  Wirklicbkeit  äul'serer  Gegen- 
stände ebensowenig  nötig,  zu  schliel'sen.  als  in  Ansehung  der  Wirk- 
lichkeit des  Gegenstandes  meines  inneren  Shmes  (meiner  Gedanken): 
denn  sie  sind  beiderseitig  nichts  als  Vorstellunc^en,  deren  unmittel- 
bare AVahrnehmung  (l^ewulstsein)  zugleicli  ein  genügsamer  Beweis 
ihrer  Wirklichkeit  ist*'  (ebd.).  „Alle  äulsere  AVahrnebmung  also 
])eweiset  u  n  mittel  b  a  r  etwas  W^irkliches  im  Ixaume,  oder  i  s  t 
vielmehr  das  Wirkliche  selbst,  und  insofern  korres])ondiert 
unseren  äufseren  Anschauungen  etwas  Wirkliches  im  llaunn^  Freilich 
ist  der  Kaum  selbst  mit  allen  seinen  P^rscheiinini^en,  als  Vorstellungen, 
nur  in  n)ir  ;  aber  in  diesem  Eaume  ist  doch  .i^deichwobl  das  Reale 
oder  der  Stoff  aller  Gegenstände  äul'serer  Anschauung  wirklich  und 
unabhängig  von  aller  P^rdicbtung  gegeben,  und  es  ist  auch  unuKiglicb, 
dafs  in  diese  m  R  a  u  m  e  irgend  etwas  a  u  f  s  e  r  u  n  s  im  trans- 
cendentalen  (mufs  beifsen  „transcendenten")  Sinne  gegeben  werden 
sollte,  weü  der  Raum  selbst  aul'ser  unserer  Sinnlichkeit  nichts 
ist"   (liirj). 

Diese  unmittelbare  AVirklicbkeit  der  Gegenstände  im  Rewulst- 
sein  nennt  Kant  die  ,,em  })  i  r  i  s  c  b  e  Realität"  derselben.  ,,Also 
ist  der  transcendentale  Idealist  ein  emj)irischer  Realist  und  gestellt 
deriVIaterie,  als  Erscbeinung,  eine  Wirklicbkeit  zu,  die  nicht  gescblossen 
werden  darf,  sondern  unmittelbar  wahrgenommen  wird.  Dagegen 
kommt    der  transcendentale  Realist    notwendig  in  Verlegenheit  und 


sieht  sich  genötigt,  dem  empirischen  Idealismus  Platz  einzuräumen, 
weil  er  die  Gegenstände    äufserer  Sinne  für  etwas    von   den  Sinnen 
selbst  Unterschiedenes    und    blofse  Erscheinungen    für    selbständige 
Wesen  ansieht,    die  sich    aufser  uns  befinden,    da   denn  freilich  bei 
unserem  besten  Bewufstsein  unserer  V^u'stellung  von  diesen  Dingen 
noch   lange    nicht    gew^ifs  ist,    dafs.    Avenn    die  Vorstellung  existiert, 
auch  der  ihr  korrespondierende  Gegenstand  existiere"  (599  f.).     Man 
sieht,    hier  wird  der  transcendentale  Realismus,    der  die    eigentliche 
Realität  in   die  Dinge  an  sich   und  in  die  Empfindung  nur  insoweit 
verlegt,    als    sie    dui'ch  jene  hervorgerufen  ist    und  sich    auf  sie  be- 
zieht,   nur    desbalb  von   Kant  verworfen,    weil   nacli    ilim   die  Wirk- 
licbkeit   der  Dinge    blofs    hypotlietisch  und    niemals  unmittelbar  zu 
l)eweisen    ist.      Es    fragt    sich    alier.    ob    die    Materie,    wie   Kant  es 
annimmt,    so    restlos  in  ibrer  unmittelbaren    Wahrnehmung  aufdreht. 
Darüber    kann  ja    kein  Zweifel  bestdien,    dafs  der   Begi'ilf  der 
empirischen   Realität,    wie   Kant    ilir,   aufstellt,    etwas  ganz   Anderes 
bedeutet,  als  was  man  gewölmlich  im  Sinne  hat.   wenn  man  von  der 
\\  irklicdikeit  seiner  Vorstellungen  redet.    Offenbar  nämlich   ist  doch 
hiermit   gemeint,   die  Vorstellung   sei  das  subjektive  Abbihl   einer  an 
sich    vorhandenen    Wirklichkeit.      Wir    glauben    an    das  J)asein  des 
Dinges    unabhängig  von    dem  x\kte    des  Vorgestelltwerdens  und 
sind  überzeugt,    es  existiere  als  ein  und  dasselbe  Ding,    auch  wenn 
es    in    den    verschiedensten   Zeiten    zum   Gbiekt    der   Wahruelnnunj]: 
und    in    den   verschiedensten    Subjekten    zum    Gegenstande    des  Be- 
wufstseins    wird.      „Nui-    diese  Realität    ist    es.    die    den    Menschen 
praktisch  etwas  angeht,   nur  diese,   deren  er  sich  durch  die  P]rfahrung 
zu  ver^^ewissern  sucht,   um  sein  i)raktisches  Verhalten  ihr  anzupassen ; 
nur  diese  eine  ist  die  „empirische  Realität"  in  dem  Sinne,  in  welcliem 
allein    Empirie    und    Realität     ein    unmittelbares    und    instinktives 
Interesse  für    den   Menschen   haben.      Jede  Anwendung    des    Wortes 
.,em])irische    Realität"     auf    eine    blofs    subjektive     Fh'seheinungswelt 
ohne  unmittelbare  Identität    mit  der  Welt    der   Dinge    an  sich   und 
ohne  transcendentale  Beziehung  auf  eine  soldie  ist  ein   ungehöriger 
Wortniilsbrauch,   do])pelt  unj^^ehörig,   weil   seine   Falschmünzerei    zur 
Verwijrung  und  Irreleitung  bestimmt  ist."*)     Kant   thut  so.   als  ob 
der    von    ihm    aufg(^stellte    Begriff    der    empirischen    Realität    allein 
schon  ausreiche,   um   den  subjektiven    Idealismus  abzuweisen.     „Den 
emjiirischen  Idealismus."    behauptet  er.    „als  eine  falsche  Hedenklich- 
keit  wegen  der  objektiven  Realität  unserer  äufseren  Wahiiiehinungen, 
zu   widerlegen,     ist   schon    hinreichend,    dafs    äulsere    Wahrnehmung 


*j  V.  Hartman  11 :  Krit.  Gruudleg.   J9. 


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180 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


181 


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eine  Wirklichkeit  im  Räume  unmittelbar  beweise,  welcher  Raum, 
ob  er  zwar  an  sich  nur  blolse  Form  der  Vorstellungen  ist,  dennoch 
in  Ansehung  aller  äul'seren  Erscheinungen  (die  auch  nichts  Anderes 
als  blolse  Vorstellungen  sind)  objektive  Realität  hat;  imgleichen. 
dal's  ohne  AVahrnehmung  selbst  die  Erdichtung  und  der  Traum  nicht 
mciglich  seien,  unsere  ilufseren  Sinne  also  den  Datis  nach,  woraus 
Erfahrung  entspringcMi  kann ,  ihre  wirklichen  korrespondierenden 
Gegenstände  im  Räume  haben"  iar.y).  Als  ob  an  dieser  blol's  sub- 
jektiven Realität  der  äufseren  Gegenstände,  als  Inhalten  des  Be- 
wui'stseins,  jemals  selbst  der  radikalste  subjektive  Idealist  und  Skej)- 
tiker  gezweifelt  hätte!  Als  ob  nicht  auch  unseren  Bildern  im  Traume 
und  in  der  Einbildung  eben  die  nämliche  Re^dität  anhaftete!  Als  ob 
wir  überhaupt  auch  nur  von  Dingen  reden  kr)nnten,  wenn  ihnen 
nicht  in  diesem  Sinne  Realität  zukäme!  An  der  Existenz  seiner 
Vorstellungen  als  Vorstellungen  zweifelt  ja  kein  vernünftiger  Mensch, 
von  ihr  besitzen  wir  allerdings  ein  unmittelbares  Bewufstsein.  Aber 
um  diese  Realität  handelt  es  sich  ja  gar  nicht  in  der  Erkenntnis- 
theorie, sondern  darum,  über  diese  unmittelbar  verbürgte  Realität 
unsen^r  Vorstellungen  hinauszukommen,  zu  ergründen,  ob  ihnen  auch 
noch  eine  andere  Bedeutung  zukommt.  abgeseh(Mi  davon,  dafs  sie  in 
unserem  Bewufstsein  wirklich  sind.  Kant  selbst  bemerkt  von  <l<'n 
Vorstellungen  des  äufseren  Sinnes,  „dafs  sie  dieses  Täuschende 
an  sich  haben,  dafs,  da  sie  Gegenstände  im  Räume  vorstellen,  sie 
sich  gleiclisam  von  der  Seele  ablösen  und  aufser  ihr  zu  schweben 
scheinen*'  (liOS).  Wenn  dies  nicht  irgendwie  in  den  Gegenständen 
selbst  begründet,  sondern  nur  eine  Prellerei  unseres  Verstandes  ist. 
dann  sind  also  doch  in  dieser  Beziehung  di(^  äufseren  Wahrnehmungen 
vor  unsern  inneren  Vorstellungc^n  in  einem  ungeheuren  Nachteil; 
denn  diese  werden  wir  immer  nur  für  blofs  subjektiv  halten,  bei 
jenen  dagegen  kiinnen  wir  niemals  sicher  sein,  (^s  mit  der  wirklichen 
Materie  und  nicht  vielmehr  mit  einer  blofsen  Traum-  oder  Phantasie- 
vorstellung zu  thun  zu  haben,  da  ja  zwischen  beiden  gar  kein  Unter- 
schied besteht. 

Das  scheint  denn  auch  Kant  seihst  zu  fühlen,  und  aus  diesem 
Bewufstsein  heraus  erklärt  es  sich,  wenn  er  an  Stelle  der  fort- 
gefallenen obigen  P^rörterungen  der  ersten  Auflage  in  der  zweiten 
Auflage  der  Vernunftkritik  eine  besondere  ..  W  i  d  c  i'leg  u  ng  des 
Ideali  smus"'  eingeschaltet  hat.  Die  äufsere  V'eranlassung  gab 
bekanntlich  die  F  e  d  e  r-G  a  r  v  e  s  c  h  e  Rezension  in  den  ,,G öttingisclien 
gelehrten  Anzeigen"  (Januar  \]^2),  die  seinen  Standpunkt  für  Perke- 
leyismus  erklärt  hatte.  Kant  will  dem  problematischen  Idealismus 
des  Descartes    gegenüber    darthun,    dafs   innere  Erfahrung,    weit 


entfernt,  unmittelbarer  uiul  ursi)rünglicher  als  äufsere  Erfahrung  zu 
sein,  vielmehr  allein  durch  diese  möglich  sei.  ..Alle  Zeitbestimmung 
setzt  etwas  Beharrliches  voraus.  Dieses  Beharrliche  aber  kann 
nicht  etwas  in  mir  sein ;  weil  eben  mein  Dasein  in  der  Zeit  durch 
dieses  Beharrliche  allererst  bestimmt  werden  kann.  Also  ist  die 
Wahrnehmung  dieses  Beharrlichen  nur  durch  ein  Ding  aufser  mir 
und  nicht  durch  die  blofse  Vorstellung  eines  Dinges  aufser  mir 
niiiglich-   (1!)8). 

Der    Beweis    ist    ein    charakteristisches    Beispiel    für    das   Un- 
bestimmte   und    Schillernde,    das  einem   Verständnis   der  kantischen 
Darstellung  so  sehr  entgegen  steht,    und    hat  daher  auch  von  jeher 
zu  vielen  Mifsverständnissen  Anlafs  gegeben.     Was  soll  denn  eigent- 
lich mit  ihm  bewiesen  werden?     Nimmt   man    das  „aufser  mir''    in 
immanentem  Sinne  (als  sul)jektive  Vorstellung  des  äufseren  Sinnes). 
wie  man  dies  nach  dem  Zusammenhange  der  Stelle  mit  den  obigen 
Auseinandersetzungen  der  ersten  xAuflage  notwendig  thun  mufs,    so 
ist  der  Beweis  eine  pure  Selbstverständlichkeit:   denn  er  demonstriert 
etwas    mit   umständlichen    Gründen,    woran    noch    kein    Mensch    ge- 
zweifelt hat.    und  widerlegt  etwas,    wo  überhaupt    nichts   zu    wider- 
legen ist  —  oder   wer   brauchte   es   noch   bewiesen   zu    haben,    dafs 
seine  Vorstcdlungen  äufserer  Gegenstände  äufsere  Gegenstände  vor- 
stellen?    Nimmt  man  jenes  ..aufser  mir'"  in  transcendentem  Sinne, 
verstellt  man  es  so.    als  habe  Kant  das  Dasein    von   aufserhalb  dor 
Spliäre  unseres  Bewufstseins   befindlichen  Dingen   an   sich   beweisen 
wollen,   dann  könnte  man  darin  zwai*  eine  ..Widerlegung  des  Idealis- 
mus"  sehen,  aber  es  bleibt  unverständlich,   wie  Kant  seinen  Beweis 
auf  die  Kategorie  der  Substantialität  gründen  konnte,  die  nach  seiner 
ausdrücklichen  Lehre  nur    eine  subjektive  Denkform    und  gar  nicht 
imstande   ist,   über   die   Existenz    von  transcendenten    Dingen    etwas 
auszumachen.     Und  doch  hat  es  den  Anscdiein,   als  ob  gerade  dieses 
seine   eigentliche  Meinung    sei.      Naclnh^m    ihm   nämlich   Jacob  i    in 
seinen  Briefen  über  die  Lehre  des   Si)inoza  (li«"^ö),  sowie  vor  alh'm 
in   seiner  Schrift   „David   Hume  über  den  Glauhen  oder  Idealismus 
uiul   Realismus"   (  ITS?)  entgegengehalten,    dafs  wir  das   Dasein   von 
Dingen  aufser  uns  niemals  beweisen,   sondern  nur  auf  (-Jlauben   an- 
nehmen könnten,  kommt  er  in  der  Vorrede  zui'  zweiten  Auflage  der 
Vernunftkritik    auf   seinen   Beweis   zui"ück  und   erklärt  es  für  einen 
„Skandal    der    Philosophie    und    allgemeinen   Menschenvernunft,    das 
Dasein    von    Dingen    aufser   uns    (von    denen    wir  doch    den    ganzen 
Stoff  zu  Erkenntnissen  selbst  für  unseren  inner(Mi  Sinn   her  haben), 
blofs    auf  Glauben    annehmen    zu    müssen    und,    weim    es  jemand 
einfällt,    es    zu    bezweifeln,    ihm    keinen  genugthuenden   Beweis    ent- 


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182 


B.    Kant   als   Naturphilosopli. 


IT.  Die  kritische  Naturphilosophie, 


183 


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gegenstellen  zu  können-'  (29).  „Weil  sich  in  den  Ausdrücken  des 
(obij^^en)  Beweises  einige  Dunkelheit  findet,"  so  formt  liier  Kant  den- 
selben um.  ohne  jedoch  eigentlich  etwas  Neues  hin/tiziitii.uen.  Es^ 
m'lit  aber  aus  der  Anreguni,^  durch  dacobi  hervor,  dai's  es  sich 
hierbei  um  die  Existenz  von  transcendenten  Dingen  handelt,  denn 
nur  diese  konnte  d  acobi  meinen,  als  er  einen  Beweis  für  die  Aufsen- 
dinge auf  rein  logischem  Wege  für  unmöglich  hielt.  Dann  aber 
ist  es  ein  })lum])er  Rückfall  Kants  in  den  Standpunkt  des  naiven 
Realismus^  zu  dessen  Überwindung  ja  gerade  seine  ganze  Kritik 
bestimmt  ist,  wenn  er  das  Dasein  von  Dingen  nn  sich  glaubt  auf 
das   unniittelbjire    Hewufstsein   von   ihnen   stützen   zu   können. 

Olfeid)ar  befand  sich  Kant  in  einem  fatalen  Dilemma.  Er 
mufste  bestrebt  sein,  um  jeden  Preis  (be  Realitiit  der  materiellen 
Aufsendinge  aufre(dit  zu  erhalten,  weil  daran  nicht  blofs  das  Schicksal 
der  Kthik,  sondern  vor  allem  auch  seiner  Xaturphilosopliie  bing ; 
diese  Absicht  schien  die  Annahme  eines  transcendenten  Daseins  der 
Materie  zu  fordern.  Aber  gerade  aus  naturphilosophischen  Gründen 
mufste  er  zugleich  die  Immanenz  der  Materie  behaupten,  weil  nur 
so  eine  apriorische  Erkenntnis  von  ihr  möglieb  war.  In  der 
„Widerlegung  des  Idealismus-'  laufen  beide  Annahmen  durcheinander, 
und  so  schillert  sie  gleichmiifsig  nach  beiden  Seiten  hin.  Bei  seiner 
wunderlichen  Auffassung  des  Begriffs  der  empirischen  Realität  mochte 
sicii  Kant  wohl  selbst  darüber  täuschen,  dafs  die  beiden  Annahmen  mit 
einander  unvereinbar  seien.  Er  hatte  nur  Ein  Interesse:  die  Grund- 
lagen der  Naturwissenschaft  festzulegen,  und  darum  bekümmerte  es 
ihn  nicht,  dafs  er  in  demselben  Beweise,  mit  dem  er  der  äufseren 
Materie  den  Cbarakter  einer  unmittelbaren  Erkennttiis  siciierte,  dem 
Gegenstande  des  inneren  Sinnes  oder  der  Seele  eine  Zurücksetzung 
angededien  liefs,  die  aller  bisherigen  Anschauungsweise  schnurstracks 
entgegenlief. 

Bisher  hatte  man  die  Seelenlehre  oder  die  „Physiologie  des 
inneren  Sinnes*'  für  wiclitiger  als  die  Körperlehre  oder  die  „Physi()h>gie 
der  Gegenstiinde  äufserer  Sinne*'  angesehen,  schon  deshalb,  weil  ihre 
Erkenntnis  eine  grrU'sere  Sicherheit  zu  haben  schien.  Kant  dagegen 
kehrt  dies  Verhältnis  um  und  meint,  es  bestehe  zwischen  ihnen  der 
„merkwürdige  Unterschied,  dafs  in  der  letzteren  Wissenschalt  (h)cli 
vieles  a  priori  aus  dem  blofsen  Begritl'e  eines  ausgedehnten  un- 
durclidringlichen  Wesens,  m  der  ersteren  aber  aus  dem  Begriife 
eines  denkenden  Wesens  gar  nichts  a  })riori  synthetisch  erkannt 
werden  kann.  Die  Ursache  ist  diese :  Obgleich  beides  Erscheinungen 
sind,  so  hat  doch  die  Erscheinung  vor  dem  äufseren  Sinne  etwas 
Stehendes    oder  P)leibendes.    welches    ein    den    wandelbaren    Bestim- 


munfjen  zum  Grunde  liegendes  Substratum  und  mithin  einen  syn- 
thetischen l^egriif.  nämlicli  den  vom  Paume  und  einer  Erscheinung 
in  demselben  an  die  Hand  giebt.  anstatt  dafs  die  Zeit,  welche  die 
einzige  Form  unserer  inneren  Anschauung  ist.  nichts  Bleibendes  hat, 
mithin  nur  den  Wechsel  der  Bestimmungen,  nicht  aber  den  be- 
stimmbaren Gegenstand  zu  erkennen  giebt*'  fbOf)).  In  der  Natur- 
philosophie erkennen  wir  nicht  blofs  dessen  Bestimmungen,  sondern 
zugleich  den  Gegenstand  selbst.  Darum  gewinnt  die  äul'sere  An- 
schauung für  Kant  eine  solche  Wichtigkeit,  weil  sie  den  Gegen- 
stand der  Naturwissenschaft  ausmacht,  und  betont  er,  „dafs  wir, 
um  die  Mötglichkeit  der  Dinge  zufolge  der  Kategorieen  zu  vc^rstehen 
und  also  die  objektive  Pealität  der  letzteren  darzuthun.  nicht  Idofs 
Anschauungen,  sondern  sogar  immer  äufsere  Anschauungen  be- 
dürfen" (207).  So  ist  z.  P).  das  Beharrliche,  das  wir  den  wandel- 
baren Bestimmungen  in  der  Natur,  als  dem  Begriffe  der  Substanz 
korrespondierend,  zu  Grunde  legen,  die  äufsere  Anschauung  der 
Materie,  und  ebenso  müssen  wir,  ,,uni  V^eränderung,  als  die  dem 
Begriffe  der  Kausalität  korrespondierende  Anschauung  darzustellen, 
Bewegung  als  Veränderung  im  Räume  zum  Beispiel  nehmen.*'  Denn, 
„wie  es  m()glich  ist,  dafs  aus  einein  gegebenen  Zustand(^  ein  ihm 
entgegengesetzter  desselben  Dinges  folge,  kann  nicht  allein  keine 
Vernunft  sich  ohne  Beispiel  begreiflich,  sondern  nicht  einmal  ohne 
Anschauung  verständlich  machen,  und  diese  Anschauung  ist  die 
Bewegung  eines  Punktes  im  Räume,  dessen  Dasein  in  verschiedenen 
( )rtern  (als  eine  Folge  entgegengesetzter  Bestimmungen)  zuerst  uns 
allein   Veränderung  anschaulich  macht"   (ebd.).   — 

An  das  dritte  Postulat  des  empirischen  Denkens,  das  von  der 
Notwendigkeit  der  Erscheinungen  geniäfs  ihrt^r  Abfolge  nach  dem 
Kausalgesetze  handelt,  schliefsen  sich  als  Folgerungen  noch  einige 
,,Naturgesetze"  an.  die  ihre  Stellung  offenbar  nur  hier  gefunden 
haben,  weil  Kant  sie  anderswo  nicht  gut  unterzubringen  gewufst 
hat.  Dieselben  lauten:  „in  mundo  non  datur  hiatus,  non  datur 
saltus.  non  datur  casus,  non  datur  fatum."  „Diese  vier  Sätze," 
meint  Kant,  „köjiniten  wir  leicht,  sowie  alle  Grundsätze  trans- 
cendentalen  Ursprungs,  nach  ihrer  Ordnung  gemäl's  der  Ordnung 
der  Kategorieen  vorstellig  machen  und  jedem  seine  Stelle  anweisen; 
allein  der  schon  geübte  Leser  wird  dieses  von  selbst  thun  oder  den 
Leitfaden  dazu  leicht  entdecken"  (2()'2).  Leider  hat  Kant  auch 
nicht  den  leisesten  Wink  darüber  gegeben,  in  welchem  Verhältnis 
der  hiatus  zur  Quantität  und  der  saltus  zur  (Qualität  der  Kate- 
gorieentafel  stehen  s(dl,  und  so  dürfte  es  selbst  dem  geübtesten 
Logiker    und    Transcendentalphilosophen    schwer    fallen,    eine    ver- 


II.    , 


184 


B.    Kant   als  Natur]ihilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


185 


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iiüiifti^e  Beziehung  hier  hfrauszufnuhMi.  Ein  })t'sonclerer  Wert 
kommt  jenen  „Naturgesetzen*'  auch  nicht  zu.  ,.Sie  vereinigen  sich 
alle  ledi^dich  daliin.  um  in  der  empirischen  Synthesis  nichts  zu- 
zulassen, was  dem  Verstände  und  dem  kontinuierlichen  Zusammen- 
han f,'e  aller  Erscheinungen,  d.  i.  der  Einheit  seiner  Begriffe,  Ah- 
hruch  oder  Eintrag  thun  könnte.  Denn  er  ist  es  allein,  worin  die 
Einheit  der  Erfahrungen,  in  der  alle  Wahrnelimungen  ihre  Stelle 
haben  müssen,  möglich  wird"   (ebd.).   — 

Damit  ist  der  Inhalt  der  reinen  Naturwissenschaft  ersch()pft. 
Fafst  man  zum  Schlufs  noch  einmal  das  Gesamtresidtat  ins  Auge, 
so  lautet  freilich  das  Urteil  dieser  sogenannten  „reinen*'  Wissen- 
schaft nicht  günstig.  Die  Ableitung  ihrer  Sätze  aus  der  Kategorieen- 
tafel  ist  gesucht,  ja,  Kant  scheint  selbst  nicht  recht  an  eine  wirklicli 
inn(^re  Beziehung  der  Grundsätze  zu  den  vier  Haupttitehi  seiner 
Kategorieentafel  geglaubt  und  dalier  ihnen  eigene  Namen  gegeben 
zu  haben;  seine  Aussage,  er  iiaue  jene  Benennungen  „mit  Vorsicht 
gewählt,  um  die  Unterschiede  in  Ansehung  der  Evidenz  und  der 
Ausül)ung  dieser  (iSrundsätze  nicht  unbemerkt  zu  lassen"  (104  f.), 
ist  wohl  nicht  mehr  als  eiiu^  Veidegenheitsaustlucht.  um  die  *j:ar  zu 
grofse  Beziehungslosigkeit  zwischen  dem  Inhalt  seiner  Grundsätze 
und  der  ihnen  aufgeklebten  Kategorieenetiketten  zu  verdecken. 
Dazu  kommt,  dafs  eben  die  Kategorieentafel  ihn  verleitet  hat.  Sätze 
in  den  Inhalt  seiner  reinen  Naturwissenschaft  aufzunehmen,  die  teils 
keine  Grundsätze,  teils  überflüssig  sind  und  daher  in  diesen  Zu- 
sammenliang  am  allerwenigsten  hineingelniren.  Als  Grundsätze,  die 
Erfahrung  selbst  erst  schaifen,  sollen  die  von  Kant  aufgestellten 
Gesetze  „rein",  d.  h.  apriorisch,  sein  und  gar  nichts  Empirisches 
in  sich  enthalten:  zugleich  aber  sollen  sie  synthetisch  sein,  in- 
dem sie  die  Elemente  der  Erkenntnis  zu  einer  Erfahrung  vereinigen. 
Nun  sind  aber  jene  Grundsätze  teils,  so  weit  sie  a))riorisch  sind, 
nicht  synthetisch,  so  weit  sie  synthetisch  sind,  nicht  ajjriorisch.  teils, 
so  weit  sie  jener  Anforderung  ents2)rechen,  sind  sie,  wie  der  Grund- 
satz der  Kausalität,  einfach  falsch.  Die  reine  Naturwissenschaft  ist 
nicht  imstande,  das  Zustandekommen  unserer  E;'kenntnis  und  damit 
die  Erfahrung  zu  (^'klären.  Sie  scheitert  daran,  die  objektive 
Realität  unserer  Vorstellungen  begreiflich  zu  machen  umi  s])errt 
uns  in  den  Kiifig  unserer  subjid^tiven  Vorstellungswelt  ein.  aus  dem 
wir  niemals  hinauskommen  kiumen,  und  wo  uns  zu  unserer  Be- 
ruhigung nur  die  unzerstörbare  Illusion  gegeben  ist,  es  mit  wirk- 
lichen DingcMi  zu  thun  zu  halxMi.  während  wir  doch  immer  und  in 
alle  Ewigkeit  nur  tms  selbst  und  die  ^Jotlifikationeii  unseres  Ge- 
müts anschauen.     Damit   beiriebt   sich    die   reine   Naturwissenschaft 


des  Anspruchs,  als  Grundlage  der  allgemeinen  Naturwissenschaft 
dienen  zu  wollen.  Denn  diese  hat  es  gar  nicht  mit  dem  blofs 
Subjektiven  zu  thun;  die  Vorstellungen  haben  ^\\v  sie  nur  in- 
soweit Bedeutung,  als  sie  ein  transcendentes  Sein  rej)räsentieren. 
Erst  wo  die  Welt  der  Dinge  an  sich  beginnt,  da  beginnt  auch 
zugleich  das  Feld  ihrer  Untersuchungen.  Erst  wo  die  Atome  und 
^loleküle  eine  selbständige  Existenz  aufserhalb  der  Grenzen  des 
Bewufstseins  haben,  geht  der  Naturforscher  auf  Entdeckungen  aus. 
Die  Gesetze,  die  er  auf  diesem  Gebiete  findet,  sind  ihm  ein  Aus- 
druck für  reale  Beziehungen  der  Dinge  unter  einander,  nicht  blofs 
für  ideale  Beziehungen  unserer  Vorstellungen  von  d(Mi  Dingen, 
Fallen  diese  Dinge  aus  dem  Bereiche  der  reinen  Naturwissen- 
schaft heraus,  weil  ihre  Erkenntnis  nicht  rein,  sondern  empirisch, 
ihre  Annahme  nicht  apodiktisch,  sondern  hypothetisch  ist,  so  giebt 
es  eben  gar  keine  reine  Naturwissenschaft,  denn  die 
Gesetze,  die  Kant  ihr  zuschreibt,  reichen  iÜjer  die  Grenzen  des 
Bewufstseins  nicht  hinaus  und  berühren  daher  gar  nicht  das  Gebiet 
derjenigen  Ding(\  die  den  Begriff  der  Natur  ausmachen. 

b)  Die  transcendenten  Prinzipien  der  Xatur])hilosophie. 

«.  Die  kosmologischen  Ideen. 

Mit  der  Einsicht,  dafs  alle  unsere  apriorische  Erkenntnis  sich 
nur  auf  mögliche  Erfahrung  bezieht,  waren  auch  der  Naturphilo- 
sophie ihre  Grenzen  gesteckt  und  war  eine  Reihe  von  Problemen  von 
ihr  ausgeschlossen,  die  Kant  früher  im  natur])hilos()]>hischen  Inter- 
esse behandelt  hatte.  So  lange  Kant  noch  der  Ansicht  war.  mit 
dem  reinen  Denken  die  Beschaffenheit  des  intelligibeln  Seins  er- 
gründen zu  können  und  die  Welt  als  Dinge  an  sich  betrachtet 
hatte,  so  lange  hatte  es  noch  einen  guten  Sinn,  zu  fragen,  oh  die 
AVeit  einen  Anfang  habe  in  der  Zeit  und  dem  llaume  nach  in 
Grenzen  eingeschlossen  sei  oder  nicht,  ob  der  Körper  aus  einfachen 
Substanzen  bestehe,  oder  ob  er  ins  Unendliche  teilbar  sei.  u.  s.  w. 
Die  Absicht,  hierüber  zu  einer  sicheren  Eikenntnis  zu  gelangen, 
hörte  dagegen  auf.  vernünftig  zu  sein,  sobald  man  überzeugt  war, 
dafs  die  Grenzen  einer  apodiktischen  Erkenntnis  keine  andern  als 
die  Grenzen  der  Erfahrung  seien.  Der  Sache  wäre  Genüge  getlian, 
wenn  Kant  allen  derartigen  Scheineinsichten  nun  einfach  die  Thür 
orewiesen  hätte.  Allein  diese  über  die  Erfahrung  hinausgcdienden 
Erkenntnisse,  die  alle  unter  dem  Namen  des  Unendlichkeitsproblems 
zusammengefafst  werden  können,  hatten  nicht  blofs  an  sich  eine 
hohe  Bedeutung,  so  dafs  sie  unmöglich  ganz  umgangen  werden  konnten, 


|!^'I(K 


18G 


ß.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


187 


*  I 


V 


sie  hatten  auch  Kants  Nachdenken  zu  sehr  beschäftigt  und  gerade 
auch  auf  die  Ausbildung  seiner  naturphik)S()i)hischen  Ideen  einen 
zu  })edeutenden  Einthifs  gehabt,  als  dafs  er  sie  nicht  einer  näheren 
Untersuchung  hätte  unterziehen  müssen.  ^lan  erinnere  sich,  wie 
der  Widerstreit  zwischen  (k'r  matheniatischen  Ainiahnie  der  unend- 
lichen Teilbarkeit  des  Raumes  und  dei'  metaphysischen  Annalnne 
der  Einfachheit  der  Substanzen  seiner  Physischen  .Monadologie  ihre 
besondere  Gestalt  verliehen  und  ihm  die  Unterscheidung  der  un- 
räumlichen Substanz  und  ihrer  räundichen  AVirkunir^^veise  an  die 
Hand  gegeben,  und  wie  dann  später  die  Unvereinbarkeit  (h'r  An- 
nahme eines  seienden  unendlichen  Kaumes  mit  seiner  rationalistischen 
Denkart  ihn  dazu  bewogen  hatte,  den  Kaum  Cnv  eine  blofs  subjek- 
tive Form  der  Anschauung  zu  erklären.  Gerade  die  Antinomie 
also  zwischen  Mathematdv  und  Xaturpliilosophie  liatte  ihn  auf  den 
Weg  zun)  Kritizismus  gebracht.  Daraus  ging  jedenfalls  hervor,  dafs 
jene  Fragen,  die  sich  an  den  Begriff  des  Unendlichen  schlössen, 
doch   nicht  so  gänzlich  ohne   Wert  sein   konnten. 

Zwar  einen  positiven  Wert  konnte  ihnen  Kant  auf  seinem 
jetzigen  Stand})unkt  nicht  mehr  zugestehen.  Eine  dogmatische 
L()sung  der  Antinomie  war  ausgeschlossen.  Der  Unterschied  zwischen 
mathematischer  und  naturphilosophischer  Anschauungsweise  konnte 
nicht  mehr  in  den  Dingen  selbst  begründet  sein;  er  konnte  aber 
auch  nicht  aus  der  verschiedenartigen  Natur  der  Sinnlichkeit 
und  des  Verstandes  abgeleitet  werden,  wie  Kant  dies  zuletzt  noch 
in  seiner  Dissertation  versucht  hatte,  denn  alle  diese  Lösungen 
setzten  voraus,  dafs  es  uns  möglich  sei,  die  Dinge  zu  erkennen  und 
nicht  blofs  ihre  Elrscheinungen.  Nach  der  Dissertation  bezogen 
sich  nur  die  Anschauungsformen  auf  Erscheinungen,  die  Verstandes- 
formen dagegen  auf  Dinge  an  sich.  Infolgedessen  hatte  der  Ver- 
stand hier  ebenso  Hecht  gehabt,  die  Anwendung  des  Unendlichkeits- 
begritfes  auf  die  intelligible  Welt  zu  leugnen,  wie  die  Sinnlichkeit, 
wenn  sie  dieselbe  für  die  Erscheinungswelt  behau])tet  hatte.  Nach 
der  Vernunftkritik  bezogen  sich  auch  die  Verstandesbegriffe  nur 
auf  Erscheinungen,  und  daher  erschien  hier  das  Unendlichkeits- 
problem als  eine  falsch  gestellte  Frage.  Nach  der  Dissertation 
waren  das  Urteil  der  Sinnlichkeit  und  des  Verstandes  beide  wahr, 
nur  von  verschiedenen  Standpunkten  aus  gesprochen.  Nach  der 
Kritik  mufsten  beide  als  gleicli  falsch  erscheinen,  weil  sie  über 
Dinge  handelten,  von  denen  wir  nichts  wissen  k(Hinen.  In  der 
Dissertation,  wie  in  der  Vernunftkritik,  beruhte  die  Antinomie 
auf  einer  Verwechselung  des  Subjektiven  mit  dem  Objektiven.  Allein 
dort  war  das  Objektive  ein   Erkennbares,  nur  dafs  es  nicht  für  die 


Sinnlichkeit  erkennbar  war;  die  Verwechselung  beruhte  mithin 
darauf,  dafs  die  Sinnlichkeit  ihre  Grenzen  überschritten  hatte.  Hier 
dagegen  war  auch  das  Objektive  in  jeder  ^\'eise  unerkennbar,  und 
die  Verwechselung  kam  zustande,  indem  überhaupt  der  Mensch  die 
notwendigen  Grenzen  seiner  Erkenntnis  aufser  Acht  liefs. 

So    wurde    die    Antinomie,    wi'e   sie   ihm   vorher    zur    scharfen 
Unterscheidung    der    sinnlichen    und    der   Verstandeswelt    verholten 
hatte,    nunmehr    zum   charakteristischen  Ausdruck   dafür,    dafs  wir 
die  Grenzen  der  Erscheinungswelt  nicht  überschreiten  kcinnen,    und 
darin    eben    beruhte    ihr   hoher   negativer   Wert.     Der   Widerstreit 
entgegengesetzter    l)ehauptungen    über   die  AVeit,    die   beide   gleich- 
berechtigt, aber  auch  beide  gleich  bedeutungslos  erschienen,  bewies, 
w^enn   irgend   etwas,  die  Unmöglichkeit,  in  dieser  Hinsicht  objektive 
Aussagen  machen  zu  können.     Die   Erörterung   der  kosnujlogischen 
Fragen    diente  nicht   mehr   dazu,    die   Naturphilosophie   mit   neuem 
Inhalt  zu  bereichern ;   sie  hatte  vielmehr  keinen  andern  Zweck,   als 
die  Einschränkung  der  Erkenntnis  auf  das  Erfahrungsgebiet  durch 
Aufzeigung    ihres   eigenen  AVhlersinnes   zu  bestätigen.     Die  falsche 
Naturphilosophie  war    nur   der   dunkle  Hintergrund,    um   die  wahre 
dafür    in    einem    um    so    helleren   Licht   erscheinen  zu  lassen.     Sie 
wurde    gleichsain    zu    einer    Art    von    getreuem    Eckart,    der    dem 
menschlichen    Erkenntnisdrang  entgegentritt,   wenn  er  in  Gefahr  ist, 
ins    J-Jodenlose    abzuirren.      „Die    Antinomie    ist   bei  unserer  einge- 
schränkten   Weisheit  der  beste  Prüfungsversuch  der  Nomothetik  um 
die  Vernunft,    die    m    abstrakter  Spekulation    ihre   Fehltritte    nicht 
leicht  gewahr  wird,  dadurch  auf  die  Momente  in  Bestimmung  ihrer 
Grundsätze    aufmerksam    zu    machen"    {'60'6).      Beruhte  aber   jener 
ganze   ^\'iderstreit  nur  auf  einem  ßlendw^erk  des  Verstandes,   waren 
die  kosmologischen  Betrachtungen  hinfällig,  \vie  sie  bis  dahin  üblich 
gewesen  waren,  dann  mufste  auch  die  rationale  Psychologie  und  die 
rationale  Theologie  demselben  Urteilsspruch   verfallen.     Auch  sie,  die 
im   W'rein    mit  der  Kosmologie    das   System   der   alten    Metaphysik 
ausmachten,   konnten  nur  aus  derselben  trüben  (Quelle  stammen,  oder 
mit  andein   Worten:  der  falsche  Schein  der  Antinomie  n^ufste  sich 
auch  auf  die  übrigen  Teile    der  Metaphysik    übertragen    und    diese 
selbst  nur  ein  Irrtum  sein. 

Dafs  die  Antinomienlehre  wenigstens  im  Geiste  Kants  schon 
feststand,  noch  ehe  er  die  Paralogismen  der  reinen  Vernunft  und 
die  Lehre  vom  transcendentalen  Ideal  ins  Auge  gefafst  hatte,  unter- 
liegt keinem  Zweifel  und  erklärt  sich  aus  dem  naturj)hilosophischen 
Grundzug  seines  Denkens,  der  selbst  erst  die  erkenntnistheoretischen 
Untersuchungen  aus  sich  hervortrieb.     Die  Antinomien  waren  es,  die 


I 


188 


ß.   Kant  als  Naturphilosoph 


..   ,:      I 


Vs 


in  Kant  erst  die  Idee  der  Dialektik  als  einer  „Logik  des  Scheins" 
hervorgerufen  haben.  ,.01ine  Antinomien  wäre  die  Dialektik 
überhaupt  unmöglicli  gewesen."*)  Mit  ilmen  konnte  sie  nur 
eitel  Blendwerk  enthalten,  und  ihre  Sätze  mufsten  so  illusorisch 
sein,  wie  jene,  weil  sie  von  dorther  ihren  Ursprung  hatten:  „Es 
sind  S()])liistikationen  nicht  der  Menschen,  sondern  der  reinen 
Vernunft  selbst,  von  denen  selbst  der  Weiseste  unter  allen 
Menschen  sich  nicht  losmachen  und  vielleicht  zwar  nach  vieler  Be- 
mühung den  Irrtum  verhüten,  den  Schein  aber,  der  ihn  unaufhörlich 
zwackt  und  äfi't,  niemals  los  werden  kann"  (III.  'JT2  f.).  „Der 
transcendentale  Schein  hört  gkMchwolil  nicht  auf,  ob  man  ihn  schon 
aufgedeckt  und  seine  xsichtigkeit  duich  die  transcendentale  Kritik 
deutlich  eingesehen  hat  (z.  B.  der  Schein  in  dem  Satze:  die  Welt 
mufs  der  Zeit  nach  einen  Anfang  haben).  Die  Ursache  hiervon  ist 
diese,  dafs  in  unserer  Vernunft  (subjektiv  nls  ein  mensclib'ches  Er- 
kenntnisvermögen betrachtet)  Grundregeln  und  Maximen  ihres  Ge- 
brauchs liegen,  welche  gänzlich  das  Ansehen  objektiver  Grundsätze 
hahen,  und  wodurch  es  geschieht,  dafs  die  subjc^ktive  Notwendigkeit 
einer  gewissen  Verknüpfung  unserer  Eegrilfe  zu  Gunsten  des  Ver- 
standes für  eine  objektive  Notwendigkeit  der  Bestimmuni]^  der  Dinge 
an  sich  selbst  gehalten  wird.  Eine  flbision.  die  '^ur  nicht  zu  ver- 
mei(k^n  ist,  so  wenig,  als  wir  es  vermeiden  können,  dafs  uns  das 
Meer  in  der  Mitte  nicht  höher  sclieine.  wie  an  dem  Ufer,  weil  wii* 
jene  durch  hiUiere  Lichtstrahlen  als  diese  sehen,  oder  noch  mehr, 
so  wenig  selbst  der  Astronom  VfM'hindern  kann,  dafs  ihm  dei'  ^lond 
im  Aufgange  nicht  grr)l'ser  scheine,  ob  er  gleich  durch  diesen  Schein 
nicht  betrogen  wird*'  ('Jil)).  „Es  gi(d)t  also  eine  natürliche  und 
unvermeidliche  Dialektik  der  reinen  Vernunft,  nicht  eine,  in 
die  sich  etwa  ein  Stümper  aus  Mangel  an  Kenntnissen  selbst  ver- 
wickelt, oder  die  irgend  ein  So])hist.  um  vernünftige  Leute  zu  ver- 
wirren, künstlich  ersonnen  liat,  sondern  die  der  menschliidien  Ver- 
nunft unbintertreiblich  anhängt"  ("■^MT).  Die  ti'auscendentale  Dialektik, 
als  Lehre  von  dieser  dialektischen  Natur  unseres  Erkenntnisvermögens, 
wird  sich  also  damit  begnügen  müssen,  ..den  Schein  transcendenter 
Urteile  aufzudecken  und  zugleich  zu  verhüten,  d;ifs  er  nicht  betrüge; 
dafs  er  aber  auch  sogar  versciiwinde  und  ein  Schein  zu  sein  auf- 
höre,  das   kann   sie   niemals   bewerkstelligen"   ((dxl. ). 

Da  die  Sätze,  die  den  Inhalt  der  Dialektik  ausmachen,  zwar 
den  Charakter  der  Notwendigkeit  an  sich  tragen,  ganz  ebenso  wie 
die  imnuiuenten  Grundsätze  der  Erfahrung,    und  dennoch  von  diesen 


«,   ''^ 


^J  A  dickes:  a.  a.  ().   GO. 


li  j  ♦ 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


189 


wesentlich  verschieden  sind,  sofern  sie  transcendent  sind,  d.  h. 
die  Erfahrung  überfliegen,  so  müssen  auch  sie  zwar  in  dem  Erkenntnis- 
vermögen des  Menschen  selbst  begründet  sein,  aber  doch  nicht  im 
Verstände  ihren  Ursprung  haben,  als  welcher  nichts  thut,  als  blofs 
„Erscheinungen  nach  synthetischer  Einheit  buchstabieren,  um  sie 
als  Erfahrung  lesen  zu  können"  {2\ü).  Dieses  besondere  Erkenntnis- 
vermögen ist  die  Vernunft.  ..Alle  unsere  Erkenntnis  hebt  von 
den  Sinnen  an,  geht  von  da  zum  Verstände  und  endigt  bei  der 
Vernunft,  über  welche  nichts  Höheres  in  uns  angetroifen  wird,  den 
Stoö'  der  Anschauungen  zu  bearbeiten  und  unter  die  höchste  Einheit 
des  Denkens  zu  bringen"  (247).  Wenn  der  Verstand  sich  auf  jenen 
Stoff  der  Anschauung  direkt  bezieht  und  aus  diesem  die  Einheit 
der  Erfahrung  herstellt,  so  behält  sich  die  Vernunft  allein  die 
absolute  Totalität  im  Gehrauche  der  Verstandesbegriffe  vor  und 
sucht  die  synthetische  Einheit,  die  in  der  Kategorie  gedacht  wird, 
bis  zum  Schlech  tili  n-Un  bedingten  hinaufzuführen.  Sie  be- 
zieht sich  also  nur  auf  den  Verstandesgebrauch,  ,.und  zwar  nicht 
sofern  dieser  den  Grund  möglicher  Erfahrung  enthält  (denn  die 
absolute  Totalität  der  Bedingungen  ist  kein  in  einer  Erfahrung 
brauchbarer  Begriff,  weil  keine  Ki'fahrung  unbedingt  ist),  sondern 
um  liim  die  J\*iclitung  auf  eine  gewisse  Einheit  vorzusciireiben.  von 
der  der  Verstand  keinen  Begrilf  hat,  und  die  darauf  hinausgeht, 
alle  Verstandeshandiungen  in  Ansehung  eines  jeden  Gegenstandes 
in   ein  absolutes  Ganze  zusammenzufassen"   (204  f.  J. 

Zur  bedingten  Erkenntnis  des  Verstanden  das  Unbedingte  zu 
bilden,  womit  deren  Einheit  vollendet  wird,  das  also  ist  der  Grund- 
satz oder  das  Prinzip,  in  dessen  Befolgung  die  Thätigkeit  der  \'er- 
nunft  besteht  (252).  Sie  stützt  sich  aber  hierbei  ebenso  auf  gewisse 
Begriffe,  die  ihr  als  Bichlschnur  bei  ihrem  Aulstieg  zum  [unbe- 
dingten dienen,  wie  der  Verstand  das  Mannigfaltige  der  Anschauung 
nur  gemäls  der  Einheit  der  Kategorieen  zusammenläfst.  Diese  not- 
wendigen Vernunftbegrilfe,  die  alle  Erfahrungserkenntnis  als  bestimmt 
durch  eine  absolute  Totalität  der  Bedingungen  betrachten,  sind  die 
t  ran  ce  iid  en  t  a  1  e  n  Ideen.  Soweit  sie  die  absolute  Totalität 
in  der  Svnthesis  der  Erscheinungen  betreifen,  nur  auf  das  Un- 
liedmgte  unter  den  Erscheinungen,  d.  h.  auf  die  Welt,  als  Inbegriff 
alier  Erscheinungen,  gerichtet  sind,  werden  sie  von  Kant  als  A\'elt- 
begriffe  ofler  k  o  s  m  o  1  ogi  s  c  he  Ideen  bezeichnet  und  stellen 
so  „die  transcendentaleii  Grundsätze  einer  vermeinten  reinen  (ratio- 
nalenj  Kosmologie  vor  Augen,  nicht  um  sie  gültig  zu  linden  und 
sich  anzueignen,  sondern  um  sie  als  eine  Idee,  die  sich  mit  Er- 
scheinungen nicht  vereinbaren  liifst,  in  ihrem  blendenden,  aber 
falschen  Scheine  darzustellen"   (2Ü3  f.,  oUOj. 


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190 


13.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


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Es  ist  wertlos,  näher  dMraiif  tMiizugeheii.  wie  Kant  aus  ])iirer 
Liel)hal)erei  zur  Systematik  die  Vernunft  zum  logischen  Schlufs- 
verfahren  in  Beziehunt,^  setzt  und  die  kosmoh^gisch.en  Tihn^n  aus  der 
Form  des  hypotlietischen  Schlusses  ableitet.''')  Da  er  eine  Mehrheit 
von  Ideen  vortlndet,  so  liat  er  natürlich  niclits  Fülitjeres  zu  thnn.  als 
sie  in  das  ,.Prokrustesl)ett"  seiner  Katef]jorieentatel  hineinzuzwängen, 
wobei  es  denn  wiederum  ohne  die  grr>rsten  W'underlickeiton  nicht  ab- 
geht und  die  Kategori(Huitat'el  ebenso,  wie  voidier  bei  den  (inindsät/en 
des  reinen  Verstandes,  zui* .,  Entdeckung"  neuer  Ideen  mil'sbraucbt  wird, 
deren  B(^reclitigung  an  sich  nicht  einzusehen  ist.  In  der  Dissertation 
waren  es  drei  Pi'obleme  gewesen,  die  sich  mit  dem  Begriit"  d(^s  Unend- 
lichen verknüpften.  Von  ilnuMi  hatte  sich  das  erste  auf  die  Zusammen- 
setzung oder  die  Elementai'bestandteile  der  AVeit,  das  zweite  auf 
die  Ausbreitung  der  letzteren  im  Ilaumc  das  dritt«^  endlich  auf  die 
Entstehung  der  AV(dt  bezogen.  In  dem  letzteren  wai-en  selbst 
wiederum  zwei  verschiedene  Probleme  vereinigt  gewesen.  di(^  Frage 
nach  dem  Anfang  der  Welt,  als  einem  zeitliidien.  und  die  Frage 
nach  ihrem  Anhing,  sol'crn  darunter  ein  besonderes  Prinzip  ver- 
standen wird.**)  Als  Kant  diese  beiden  Probleme  von  ein;mder 
unterschied,  sah  er  sich  durch  seine  Gleichst(dlung  des  Kaumes  mit 
der  Zeit  genötigt,  das  erste  von  ihnen  der  Frage  nach  dvv  räum- 
lichen Ausbreitung  der  Widt  an  die  Seite  zu  stellen  und  beide 
unter  dem  Begriff  des  Weltanfanges  zusammenzufassen.  Eigentlich 
hätte  er  nun  das  zweite,  die  Krage  nach  ihun  Welt])rinzip  oder  der 
ersten  Ursache,  aus  dem  System  der  kosmologischen  Ideen  überhaupt 
ausschalten  und  (^s  dei-  Lehre  vom  transcendentalen  Fdeal  zuivchnen 
sollen,  da  er  ja  dieser  (üne  abgesonderte  Behandlung  zu  Teil  werden 
liefs.  Allein  Kant  brauchte  seiner  Kategorieentafel  gemäfs  gerade 
vier  Ideen,  und  so  mufste  er  j'Mie  Frage  beibehalten,  ti'otzdem  sie 
eigentlich  gar  nicht  in  die  K(>smologie  hin<'ingehörte.  Wo  aber  sollte 
er  nun  die  vierte  Idee  hernebnu^n.  ohne  welclie  di(^  Pieziehung  auf  die 
Kategorieentafel  docli  uneingesehen  bbeb  V  Kant  half  sich  damit,  dafser 
in  der  Idee  der  ersten  Ursache  eine  absolut  erste  Ursache  oder  ein  not- 
wendiges Wesen,  als  (ilrund  (h-r  Welt,  und  eine  erste  Ursache  jeder  ein- 
zelnen Erscheinung,  die  selbst  nicht  wiederum  bedingt  ist.  d.  b.  eine 
,.transcendentale  Freiheit'',  unterschied,  womit  cv  nicht  blofs  seiner 
eigenen  Neigung  zur  Systematik  (icaiüge  that.  sondern  obendrein  noch 
Begriffe  gewann,  die  er  sich  für  den  späteren   Aufbau  seiner  Elthik 


*)  X'^].   liicriiher  A.lic,  kes:   a,   a.  O.  s\)  \\, 
**)   V^l.     P).    Erdina  im:     Kants     Reflexionen    O-^'^-Uj     '^<>-     142G— 1435, 
1505—1500,  1427. 


und  E.eligions]diiloso])hie  einstweilen  vorbehalten  konnte.  Dem  gegen- 
über fiel  es  nicht  in  die  Wagschale,  dafs  die  Willensfreiheit  eigent- 
lich gleichfalls  mit  der  Kosmologie  nichts  zu  thun  hat.  Die  Ge- 
legenheit, auch  für  sie  eine  tranccndentale  Begründung  zu  gidan. 
w\'ir  zu  günstig,  und  was  ihrer  Stellung  in  diesem  Zusammenhange 
an  innerer  Berechtigung  abging,  das  erhielt  sie  von  aufsen  durch 
den  I^eitfaden  der  Kategorieentafel,  deren  vier  Fehler  nun  einmal 
nicht  leer  bleiben  durfte]].  Angesichts  solcher  Willkürliehkeiten 
berülirt  es  freilich  seltsam,  wenn  Kant  auch  bei  dieser  Gelegeidieit 
seine  Kategorieentafel  mit  den  Worten  anj)reist :  ..Zuerst  zeigt  sich 
hiei-  dvv  Nutzen  eines  Systems  der  Kategorieen  so  deutlich  und 
unverkeiinbai".  (hifs.  wenn  es  auch  nicht  mehre  Beweistümer  der- 
selben gäbe,  dieser  allein  dire  Unentbehrlichkeit  im  System  dei- 
reinen  Vernunft  hinreichend  darthun  würde.  Es  sind  solcher  trans- 
cendenten  Ideen  nicht  mehr  als  vier,  soviel  als  KLassen  der  Kate- 
gorieen" (IV.  Sf)).  Ein  wirklicher  Nutzen  der  Kategoi-ieentafel  ist 
nicht  einzusehen:  auch  die  ihr  gemäfse  Einteilung  der  Ideen  in 
mathematis(die  (..^^^dtbegriffe  im  engeren  Sinne*')  und  dynamische 
(„transcendente  NaturbegrifPe")  ist  sacblieh  ohne  Wert  (III.  :]0()  f.). 
Wenn  Kant  den  letzteren  gegenüber  eine  andere  Stellung  einnimmt, 
wie  gegenüber  den  mathematischen  Ideen,  so  schöpft  er  die  Be- 
rechtigung hierzu  nicht,  wie  er  vorgiebt,  aus  der  Kategoi-ieen- 
tafel, sondern  er  thut  dies  einfach  der  ^Foral  und  Beligion  zu  Liebe, 
die  von  nun  an  einen  immer  gnifseren  Einiiufs  auf  sein  Denken 
gewinnen  und  ihm  bald  über  die  Grenzen  der  blofsen  Naturphilo- 
so])hie  hinaus  die  Aussicht  zu  ganz  neuen  Problemen  eWifthen 
sollten  (:\{]X  ff.). 

iVIan  könnte  fragen,  warum  Kant,  da  er  doch  das  Problem  des 
zeitlichen  Weltanfanges  behandelt,  die  Frage  nach  dem  Auih<>ren 
des  Weltprozesses  unerörtert  gelassen  hat.  In  seinen  Voi-- 
lesungen  übcM'  ]\l  e  ta])h  ysik .  die  er  gleichzeitig  mit  der 
Abfassung  der  Vernunftki'itik  gehalten  hat,  scheint  Kant  sich  noch 
für  d(Mi  })r()gressus  in  intinitum  zu  entscheiden.*)  In  dei"  Kritik 
dagegen  wird  das  Problem,  ob  auch  die  absteigende  jjinie  der  Kolgen 
zu  einem  gegebenen  Grunde  endb(di  oder  unendlich  sei,  mit  den 
Worten  beiseite  geschoben,  „dafs,  da  die  Folgen  ihre  Bedingungen 
nicht  möglich  machen,  sondern  vielmtdir  voraussetzen,  man  im  F'ort- 
gange  zu  den  Folgen  (oder  im  Absteigen  von  tler  gegebenen  Be- 
dingung zu  dem  Bedingten)  unbekinnmert  sein  kann,  ob  die  ]{eihe 
aufhche  oder  nicht  und  überbau])!  die  Frage   wegen  ihrer  'rotalität 


*J  Kants  Vorlesungen  üher  die  iMetaijij}\sik,  hrsg.  v.  P  ü  1  i  t  z  ( JöJl  j.    ö4  11. 


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192 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


193 


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gar  keine  Voraussetzung  der  Vernunft  ist"  (29r)).  „Die  kosnio- 
lo-ischen  Ideen  beschäftigen  sich  mit  der  Totalität  der  regressiven 
Synthesis  und  g(4ien  in  antecedentia,  nicht  in  consequentia.  Wenn 
dieses  letztere  geschieht,  so  ist  es  ein  wiUkih-liches  und  nicht  not- 
wendiges Problem  der  reinen  Vernunft,  weil  wir  zur  vollständigen 
Begreiflichkeit  dessen,  was  in  der  Erscheinung  gegeben  ist,  wohl 
der  Gründe,  nicht  aber  der  Folgen  bedürfen"  (ebd.  f.).  Das  ist 
freilich  eine  sehr  eigentümliche  Abweisung  einer  Frage,  die  sich 
dem  unbefangenen  Betrachter  der  Welt  mit  derselben  Entschieden- 
heit, wie  die  Frage  nach  der  aufsti'igenden  Eeihe  der  BcHlingungen 
zu  dem  gegebenen  Bedingten  aufdriingt.  und  die  keineswegs  erst  von 
der  Naturforschung  unserer  Tage  zum  Gegenstände  ihrer  En'h'te- 
rungen  erhoben  ist.  A  dickes  macht  denn  auch  mit  Hecht  darauf 
aufmerksam,  wie  der  Aufnahme  dieses  Problems  nur  cMitgegensteht. 
„dafs  die  ganze  Dialektik  von  der  Vernunft  ausgehen  soll,  deren 
S])ezitikum  nach  Kant  ist.  zu  dem  P,edingten  das  Unbedingte  zu 
suchen,  wovon  freilich  hei  dem  Fortgänge  von  den  Gründen  zu 
den  Folgen  nicht  die  Kede  sein  kann."*)  Kant  sagt  einmal :  ..Wie 
Gegenstände  an  sich  seihst,  wie  die  Natur  der  Dinge  unter  Prinzipien 
stehe  und  nach  blofsen  Begrüben  bestimmt  werden  soll,  ist,  wo  nicht 
etwas  Unm()gliches,  wenigstens  doch  sehr  AVidersinniges  in  seiner 
Forderung-'  (249).  Wenn  man  sieht,  mit  welcher  souveränen  Will- 
kür er  seihst  seinem  einmal  gewählten  Schema  zuliebe  mit  den 
Problemen  der  Naturforschung  umspringt,  dann  ist  damit  freilich 
auch  seine  eigene  IVIethode  gericiitet,  und  es  ändert  hieran  nichts, 
dafs  für  ihn  die  Natur  niclit  eine  Welt  von  Dingen  an  sich,  sondern 
nur  den   Inhegritf  von   subjektiven   Vorstellungen   bedeutet.   — 

Betrachten  wir  nun  (he  Antinomien  seihst,  so  bemüht  sich  Kant, 
den  antinomischen  C>harakter  der  kosmologischen  Ideen  dadurch 
noch  einleuchtender  zu  machen,  d;ifs  er  für  Thesis  und  Antithesis 
je  einen  ausführlichen  Beweis  giebt  und  hierauf  den  gn)l'sten  Nach- 
druck legt.  ,.  Kür  die  Bichtigkeit  aller  dieser  Beweise  verbürge  ich 
mich."  heifst  es  in  den  Prolegomenen  (IV.  ST),  und  in  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft  sagt  Kant:  ,.lch  habe  Ijei  diesen  einander 
widerstreitenden  Argument(Mi  nicht  Blendwerke  gesucht,  um  etwa 
(wie  man  sagt)  einen  Advokatenbeweis  zu  führen,  welcher  sich  der 
Unhehutsandveit  des  Gegners  zu  seinem  \'orteil  bedient  und  seine 
Berufung  auf  ein  mifsverstandenes  Gesetz  gerne  gelten  läl'st.  um 
seine  eigenen  unrechtmäfsigen  Ansprüche  auf  die  Widerlegung  des- 
selben zu   bauen.     Jeder  dieser  Beweise  ist  aus  der  Natur  der  Sache 


*)  Ad  ick  es:  a.  a.    O.    lO'J. 


gezogen  und  der  Vorteil  bei  Seite  gesetzt  worden,  den  uns  die 
Fehlschlüsse  der  Dogmatiker  von  beiden  Teilen  geben  künnten" 
(III.  :K)6).  Aber  gerade  diese  Beweise  und  deren  ..Anmerkungen" 
lassen  erkennen,  dafs  es  sich  in  Thesis  und  xVntithesis  um  ganz 
verschiedene  Dinge  handelt  und  dafs  folglich  eine  Antinomie 
überhaupt  nicht  vorliegt. 

Die  These  der  ersten  Antinomie  hat  Recht:    „Die  Welt  hat 
einen  Anfang  in  der  Zeit  und  ist  dem  Räume  nach  auch  in  Grenzen 
eingeschlossen.      Eine    Ewigkeit,    d.    h.    eine    unendliche  Reihe    auf 
einander    fol^render    Zustände    der    Dinge   in   der    Welt,    kann    bis 
zu  jedem    gegebenen    Zeiti)unkte    in    dieser     nicht    abgelaufen    sein, 
denn  die  Unendliciikeit  einer  Reihe  besteht  ja  eben  darin,  dafs  sie 
durch    successive    Synthesis    niemals    vollendet    sein    kann.       Eben- 
sowenig kann  die   Welt  ein  unendliches   gegebenes   Ganzes   von  zu- 
gleich existierenden  Dingen  sein,    weil   alsdann   die   successive  Syn- 
thesis  der   Teile    einer   unendlichen  Reihe  als  vollendet,    d.  h.  eine 
unendliche  Zeit    in  der   Durchzählung    aller    koexistierenden    Dinge 
als  abgelaufen  angesehen  werden  müfste.     Das   logisch   Unmögliche 
kann  nicht  real  existieren;  dieser  Beweis,  auf  den  sich  Kant  bereits 
in  der  Dissertation  gestützt  hatte,   läfst  erkennen,   dafs  in  der  These 
von  der  Welt  des   Realen  oder  der  intelligiheln  Welt  die  Rede  ist. 
Aber    gerade    deshalb    kann    auch   die  Antithese    behaupten:    ..Die 
Welt  hat  keinen   Anfang    und    keine  Grenzen   im   Räume,    sondern 
ist  sowohl  in  Ansehung  der  Zeit  als  des  Raumes  unendlich."     Kant 
hat  ganz  Recht,    dafs   in    einer   leeren   Zeit    kein   Entstehen   irgend 
eines  Dinges  möglich    ist,     „weil    kein    Teil    einer   solchen  Zeit  vor 
einem  anderen    irgend  eine  unterscheidende  Bedingung  des   Daseins 
für  die   des  Nichtseins  an   sich   hat:"    und    ebenso    würde   das   Ver- 
hältnis der  AV^elt    zum    leeren   Raum    „ein  Verhältnis    derselben  zu 
keinem   Gegenstande"   sein  QU)').   'MYl).     Aber  wer  sagt    denn,    dafs 
jenseits    von  Zeit   und   Raum    selbst   wiederum   Zeiten    und    Räume 
sein  müssen?     Wo  das   Physische   aufhört,    da    beginnt    das    Meta- 
physische.    Dieser  „Ausweg"    besteht   allerdings    „nur    darin,    dafs 
man    statt    einer    Sinnen  weit    sich  wer  weifs    welche  intelligible 
Welt  denkt  und  statt  des  ersten  Anfanges  (ein  Dasein,  vor  welchem 
eine   Zeit    des   Nichtseins   vorhergeht)    sich    überhaupt    ein     Dasein 
denkt,    welches    keine    andere    Bedingung    in   der   Welt   v  o  r  - 
aussetzt,    statt  der  Grenzen  der  Ausdehnung   Schranke n   des 
Weltganzen  denkt  und  dadurch  der  Zeit  und  dem  Räume  aus  dem 
VVege  geht"  QM)i) ).     Aber   was   hindert    uns,    deren  Gebiet   zu  ver- 
lassen?    Doch  offenbar  nur  die  Vorliebe  für  die  anschauliche  Vor- 
stellung   überhaupt,    das    Vorurteil,    als   ob   es    keine   andere  Welt 

D  r  e  w  s  ,  Kants  Naturphilosophie.  13 


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194 


B.   Kant  als  Naturpliilosoph. 


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als  nur  die  sinnliche  in  der  Zeit  und  im  Räume  gäbe  und  jenseits 
derselben  nur  das  Nichts  sein  kCrnnte.  Kant  selbst  gesteht  naiv: 
„Es  ist  hier  (in  der  Antithese)  nur  von  dem  mundus  phaenomenon 
die  Rede  und  von  dessen  Gröfse,  bei  dem  man  von  gedachten  Be- 
dingungen der  Sinnlichkeit  keineswegs  abstraliieren  kann,  ohne  das 
Wesen  desselben  aufzuheben''  (311).  Dann  aber  existiert  gar  kein 
Gegensatz  zur  These,  denn  in  dieser  handelte  es  sich,  wie  gesagt. 
um  die  intelligible  Welt,  und  These  und  Antithese  bestehen  ruhig 
neben  einander,  vorausgesetzt,  dafs  es  neben  der  sinnlichen  über- 
haupt noch  eine  intelligible  Welt  giebt.  — 

Die  zweite  Antinomie  behauptet  in  der  These:  ,.Eine  jede 
zusammengesetzte  Substanz  in  der  Welt  besteht  aus  einfachen  Teilen, 
und  es  existiert  überall  nichts  als  das  Einfache  oder  das,  was  aus 
diesem  zusammengesetzt  ist."  Der  Beweis  für  diesen  Satz  ist  über- 
flüssig, denn  er  ist  eine  blofse  Tautologie.  Als  zusammen- 
gesetzte Substanz  mufs  natürlich  die  Materie  aus  einfachen  Teilen 
bestehen,  weil  sonst,  wenn  alle  Zusammensetzung  in  Gedanken  auf- 
gehoben würde,  überhaupt  nichts  übrig  bleiben  würde.  Dagegen 
behauptet  die  Antitliese:  ,.Kein  zusammengesetztes  Ding  in  der 
Welt  besteht  aus  einfachen  Teilen,  und  es  existiert  überall  nichts 
Einfaches  in  derselben."  Da  Kant  hier  ebenfjdls  von  „zusammen- 
gesetzten" Dingen  spricht,  so  geht  es  selbstverständlich  nicht  ohne 
Sophisma  im  Beweise  ab.  Kant  vertauscht  einfach  den  Begrilf 
„zusammengesetzt"  mit  „ausgedehnt"  (einen  Raum  einnehmend) 
und  „beweist"  nun  natürlich  mit  Leichtigkeit  den  tautologischen 
Satz,  dafs  es  keine  einfachen,  d.  h.  unausgedehnten,  Elemente  geben 
könne,  weil  diese,  als  räundiche ,  ausgedeimt  sind:  „Da  alles 
Reale,  was  einen  Raum  einnimmt,  ein  aufserhalh  einander  befind- 
liches Mannigfaltiges  in  sich  fafst,  mithin  zusannncngesetzt  ist,  und 
zwar,  als  ein  reales  Zusammengesetztes,  nicht  aus  Accidenzen  (denn 
die  können  nicht  ohne  Substanz  aufser  einander  sein),  mithin  aus 
Substanzen,  so  würde  das  Einfache  ein  substantielles  Zusammen- 
gesetztes sein;  welches  sich  widerspricht"  (i)ll).  Aber  das  ist  ja 
eine  ganz  andere  Bedeutung  des  Wortes  „einfach",  als  wie  sie  die 
These  angenommen  hatte  I  Diese  verstand  darunter  die  letzten  Bestand- 
teile, die  übrig  bleiben,  wenn  man  die  Zusammensetzung  der  Materie 
aufhebt;  sie  fragte  nicht,  ob  dieselben  räundich  seien  oder  nicht. 
Die  Antithese  dagegen  versteht  darunter  das  Unteilbare,  und  dies 
ist  natürlich  im  Raum  nicht  anzutreffen. 

IJnzusammengesetzt  und  unteilbar  sind  nicht  identische  Begriffe. 
Man  kann  sich  ein  „Einfaches"  im  ersten  Sinne  denken,  welches  blofs 
deshalb    nicht    teilbar    ist,    weil    es    überhaupt    nicht   räundich   ist. 


I 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


195 


Hatte    doch    Kant    selbst    in     seiner    Physischen    Monadologie    den 
Streit  zwischen   den  Mathematikern    und  Xaturi,hilosophen  chidurch 
zu  schlichten  gesuclit,    dafs  er  die    einfachen    Elemente  der  Materie 
für  Monaden,   d.  h.  für  an  sich  unräumliche  AVesen.  erklärt  hatte, 
die    durch    ihre   Beziehungen  unter  einander  den   Raum   und   damit 
die  Teilharkeit  selbst  erst  i)roduzieren.     Wie   darf  er   jetzt   in  der 
Antitliese  sich  ganz  und  gar  auf  die  Seite  der  Mathematikerstellen, 
nachdem  er  die   höhere  Synthese    der   beiden    widerstreitenden  An- 
sichten bereits  selbst  gefunden  hatte,  und  die  Annahme  von  Monaden 
einfach  als  eine  „Ungereimtheit"  verwerfen?    Die  Antithese  hat  ja 
ganz  Recht,    das  Einfache    zu    leugnen,    denn  sie    betrachtet  es  nur 
als  „Objekt  einer  möglichen  Erfahrung":   „Hier  ist  es  nicht  genug, 
zum    reinen    V  ers  tan  d  esbegrif  f  e    des   Zusammengesetzten  de'ii 
Begriff  des  Einfachen,  sondern  zur  Anschauung  des  Zusammen- 
gesetzten (der  Materie)  die    Anschauung    des    Einfachen    zu 
finden,    und  dieses  ist  nach  Gesetzen  der  Sinnlichkeit,    mithin  auch 
bei  Gegenständen  der  Sinne  gänzlich   unmfighch.     Es    mag    also 
von     einem     Ganzen     aus    Substanzen,     welches     durch 
den    reinen    Verstand    gedacht    wird,    immer    gelten, 
dals  wir  vor  aller  Zusammensetzung  desselhen    das  Einfache  haben 
müssen:    so   gilt   dieses   doch   nicht   von  dem   toten  sub- 
stantiale    phaenomenon.  welches,   als  empirische  Anschauung 
im  Räume,  die   notwendige    Eigenschaft    bei  sich    führt,    dafs    kein 
Teil  derselben  einfach  ist,   darum  weil  kein  Teil  des  Raumes  einfach 
ist^'    (815).     Die    Antithese    handelt    also    nur    von   Erscheinungen, 
und  da    ist   allerdings    zuzugehen:    angeschaut    wird    das    Einfache 
nicht.     „Wir  haben  von  K()r))ern  nur  als  Erscheinungen  einen  Be- 
grifl",  als    solche   aber   setzen    sie  den  Raum,  als  die  Bedingung  der 
Möglichkeit  aller  äufseren  Erscheinung,   notwendig    voraus,   und  die 
(ol)ige)  Ausflucht  (der  Monadisten)  ist  also  vergeblich,   wie  sie  denn 
auch  in  der  transcendentalen  Ästhetik  hinreichend  ist  abgeschnitten 
worden."     Indessen,   fügt  Kant  hinzu,   „wären  sie  (die  Kör})er) 
Dinge  an  sich  selbst,  so  würde  der  Beweis  der  Mona- 
disten allerdings  gelten"   (aif)).     Aber  gerade  dies  ist  ja  die 
Behauptung  der  These.     „Unser    Schlufs    vom    Zusammengesetzten 
auf    das    Einfache,"    heifst    es    hier,    „gilt    nur    von    für    sich 
selbst  bestehenden  Dingen"  (814).     Wo  bleibt  demnach  die 
Antinomie?     Von    einem    Widers])ruch    kann    gar   nicht   die   Bede 
sein,  denn  auch  hier  werden  ebenso,  wie  bei  der  ersten  Antinomie, 
die    entgegengesetzten   Behauptungen    über    die    Beschaffenheit    der 
Materie    in    ganz    verschiedenen    Beziehungen    ausgesagt.     Es  kann 
nicht  die  Rede  davon  sein,    wie  Kant  behauptet,    dafs   „die  Philo- 

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B.    Kant  als   Naturphilosoph. 


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Sophie  hier  mit  der  Mathematik  eliikaniert,  weil  sie  vergifst. 
dafs  es  in  dieser  Fra^^e  mir  um  Ersc  h  e  i  n  n  ii  ge  n  und  deren  Ke- 
din^jnn^^  zu  tlnin  sei"  {'MW).  Das  letztere  L,nlt  höchstens  von  der 
Aiititlieso.  es  «j^ilt  iiherhaujjt  nur  unter  der  Voraussetzung,  dal's  wir 
es  ledi^dieli  mit  ErscheinuniJ^en  zu  thun  hal)en  :  al)er  dies  mul's  schon 
hewiesen  sein  und  kann  nicht  als  Fol.^e  (hivon  an.c^esehen  werden, 
dais  sonst  eine  Antinomie  herauskommt.   — 

Die  dritte  Antinomie  gehört,  wie  sclion  bemerkt  wurde,  nicht 
in  die  Kosmologie  hinein.  Sie  spielt  das  Problem  der  KausaUtät. 
das  in  der  reinen  Naturwissenschaft  bereits  seine  Abfertigung  ge- 
funden hatte,  auf  das  Gel)iet  des  Ethischen  hinüber  und  ist  nur 
der  Systematik  zu  Liebe  ei'funden.  Trotzdem  darf  sie  nicht  über- 
gangen werden,  nicht  bh)fs  weil  die  Antithese  in  der  That  den 
Standpunkt  der  iSaturerkenntnis  vertritt,  sondern  aucli  weil  sie  auf 
ein  Gebiet  hinausweist,  mit  dem  es  zwar  niclit  die  Naturwissenseliaft, 
wohl  aber  die  Naturj)hilosophie ,  als  L(>hre  von  den  Prinzipien 
der  Natur,  zu  thun  hat.  Die  Tiiesis  nämlich  behau])tet :  ,.Die 
Kausalität  nach  Gesetzen  der  Natur  ist  nicht  die  einzige,  aus 
welcher  die  Erscheinungen  der  Welt  insgesamt  abgeleitet  werden 
können.  Es  ist  noch  eine  Kausalität  durcli  Freiheit  zur  Erklärung 
derstdben  anzunehmen  notwendig;"  wohingegen  die  Antithese  lautet: 
„Es  ist  keine  EVeiheit,  sondern  alles  in  der  Welt  geschicdit  hdiglich 
nach  Gesetzen  der  Natur." 

Die  Antithese  spricht  von  dem  Kausalzusammenhänge  der  Er- 
eignisse „in  der  Welt";  die  These  dagegen  von  einer  Kausalität, 
„aus  welcher  die  Erscheinungen  der  Welt  insgesamt  ab- 
geleitet werden  kcumen."  Sie  läi'st  es  in  ihrem  Wortlaut  offen,  ob 
sie  hierunter  eine  innerweltliche  oder  eine  aufserweltliche  Kausalität 
versteht;  ihr  Beweis  aber  geht  offenbar  nur  auf  die  letztere:  ..Wenn 
alles  nach  blofsen  Gesetzen  der  Natur  geschieht,  so  giebt  es  jeder- 
zeit nur  einen  subalternen,  nicmials  aber  einen  ersten  Anfang  und 
also  überhaupt  keine  Vollstäntligkeit  der  Reihe  auf  der  Seite  der 
von  einander  abstammenden  Ursachen.  Nun  besteht  aber  eben 
darin  das  Gesetz  der  Natur,  dafs  ohne  hinreichend  a  priori  be- 
stimmte Ursache  nichts  geschehe.  Also  wi(lers])ric]it  der  Satz,  als 
wenn  alle  Kausalität  nur  nach  Naturgesetzen  nu>glich  sei,  sich  selbst 
in  seiner  unbeschränkten  Allgemeinheit,  und  diese  kann  also  nicht 
als  die  einzige  angenommen  werden.  Diesemnach  mufs  eine  Kau- 
salität angenommen  werden,  durch  welche  etwas  gescbielit,  oime  dafs 
die  Ursache  davon  noch  weiter  durch  eine  andere  vorhergehende 
Ursache  nach  notwendigen  Gesetzen  bestimmt  sei,  d.  i.  eine  ab- 
solute  Spontaneität    der    Ursachen,    eine   Reihe    von    Er- 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


197 


schein  ungen.    die    nach    Naturgesetzen    läuft,  von    selbst    an- 
zufangen,   mithin    transcendentale   Freiheit,    ohne    welche    selbst    im 
Ijaufe  der  Natur  die  Reihenfolge  der  Ersclieinungen    auf  der  Seite 
der   Ursachen    niemals  vollständig   ist"  (:;18).     Das    alles    kann    die 
Antithese  ruhig  zugeben,  ohne  sich  damit  zur  These  in  einen  Wider- 
s])ruch  zu  setzen.     Sie    steht   auf  dem  StandpuidU   der   Erfahrungs- 
erkenntnis,   indem   sie    „den  Zusammenhang    und   die  Ordnung    der 
Weltbegebenheiten"   betrachtet,   die  wir  allgemein  unter   dem 
Begriff'   „Natur"    zusammenfassen,    und    da  ist  es    auch    nur  wieder 
eine    bh)fse  Tautologie,    dafs   hier   irgendwelche  Freiheit,    d.   h.    Un- 
abhängigkeit von  den  Gesetzen  der  Natur,   nicht  stattfindet.     „Wenn 
auch    allenfalls    ein    transcendentales   Vermögen    der    Freiheit    nach- 
gegeben  wird,    um    die  Weltveränderungen  anzufangen,    so  würde 
d  i  e  s  e  s  V  e  r  m  ö  g  e  n  doch  wenigstens  nur  a  u  f  s  e  r  h  a  1  b  der 
Welt    sein  müssen    (wiewohl   es   immer    eine    kühne  Aninafsung 
bleibt,  aufserhalb  dem  Inbegriffe  aller  UKiglichen  Anschauungen  noch 
einen     Gegenstand    anzunehmen,    der    in    keiner    nK'igliclien    Wahr- 
nehmung   gegeben    werden    kann).     Allein    in    der   W\'lt    selbst 
den  Substanzen   ein    solches  Vernuigen    beizumessen,    kann  nimmer- 
mehr erlaubt  sein,  weil  alsdann  der  Zusammenhang  nacli  allgemeinen 
Gesetzen  sich  einander  notw^endig  l)estimmender  Erscheinungen,  den 
man  Natur  nennt,  und  mit  ihm  das  Merkmal  empirischer  AVahrlieit. 
welches     Erfahrung     vom    Traum     unterscheidet,    gröfstenteils    ver- 
schwinden würde.     Denn    es  läfst  sich    neben  einem  solchen  gesetz- 
losen Vermögen    der  Freiheit  kaum    mehr  Natur  denken,    weil    die 
Gesetze  der  letzteren  durch  die  Einflüsse  der  ersteren  unaufhörlich 
abgeändert    und    das    Spiel    der  Erscheinungen,    welches    nach    der 
blofsen  Natur  regelmäfsig  und  gleichförmig  sein  würde,   dadurch  ver- 
wirrt und  unzusammenhängend  gemacht   wird"   (',V2\.  iVJ."^). 

Insoweit  besteht  zwischen  These  und  Antithese  gar  kein  Wider- 
spruch :   die  eine  beliaui)tet  eine  transcendentale  Freiheit  als  aufser- 
halb der  Welt  funktionierendes  Prinzip  der  Welt,   die   andere  besteht 
darauf,  dafs   in  der  Welt  alle  Begebenheiten  an   dem  Leitfaden  der 
Kausalität    verlaufen.     Nun    aber    begeht  Kant,    um    einen    solchen 
AV^iderspruch  herauszubringen,    eine  offenbare  ignoratio   elenchi.    in- 
dem er  dem  Begriff  der  transcendentalen  Freiheit,  als  aufserweltliciien 
Prinzi])s,  ganz  unvermittelt  eine  völlig  andere  l^edeutung  unterschiebt. 
In  der  iVnmerkung    zur  These  nämlich    sagt   er:     „Nun    haben  wir 
diese    Notwendigkeit    eines    ersten    Anfangs    einer  Reihe    von    Er- 
scheinungen   aus    Freiheit    zwar    nur    eigentlich    insofern    dargetlian^ 
als  zur  B  e g r  e i  f  1  i  c  h k  e  i  t  e i  n  e s  U r  s [)  r  u  n g s  d e r  W  e  1 1  er- 
forderlich   ist,    indessen  dafs  man   alle  nachfolgenden  Zustände 


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198 


ß.    Kant  als  Naturpliilosoph. 


für  eine  Abfolge  nach  blofsen  Naturgesetzen  nehmen  kann.  AV'eil 
aber",  so  fügt  er  hinzu,  ,.da(]urch  doch  einmal  das  Vermögen,  eine 
Reihe  in  der  Zeit  ganz  von  selbst  anzufangen.  l)e\viesen  (ol)zvvar 
nicht  eingesehen)  ist,  so  ist  es  uns  nunmehr  auch  erlaubt  (!),  mitten 
im  Laufe  der  Welt  verschiedene  Eeilien  der  Kausahtät  nach  von 
selbst  anzufangen  zu  lassen  und  den  Substanzen  derselben  ein  Ver- 
mögen beizulegen,  aus  Freiheit  zu  handeln"  (ilL^O).  Das  ist  un- 
gefähr so,  als  wenn  man  sagen  wollte:  AVeil  es  unter  Umständen 
(in  der  Notwehr)  erlaubt  ist.  zu  lügen,  so  ist  die  Lüge  überhaupt 
kein  Unrecht.  Ja,  Kant  glaubt  sogar  eine  solche  innerweltliche 
transcendentale  Freiheit  in  der  Erfahrung  nachweisen  zu  können  und 
entblödet  sich  dabei  nicht,  das  ph'itzliche  Aufstehen  von  einem  Stuhle 
als  Akt  der  transcendentalen  Freiheit  auszugeben.  ,.Wenn  ich," 
sagt  er,  „viUlig  frei  und  ohne  den  notwendig  bestimmenden  EinHuls 
der  Naturursachen  (?!)  von  meinem  Stuhle  aufstehe,  so  fängt  in 
dieser  Begebenheit  samt  deren  natürlichen  Folgen  ins  Unendliche 
eine  neue  lieihe  schlechthin  an  (!).  obgleich  der  Zeit  nach  diese 
Begebenheit  nur  die  Fortsetzung  einer  vorhergehenden  lieihe  ist.  Denn 
diese  Entschliefsung  und  That  liegt  gar  nicht  in  der  Al)folge  blofser 
Naturwirkung,  ist  nicht  eine  blofse  Fortsetzung  derselben  (!),  sondern 
die  bestimmenden  Naturursachen  hören  oberhalb  derselben  in  An- 
sehung dieses  Ereignisses  ganz  auf  (?!),  das  zwar  auf  jene  folgt,  abi&r 
daraus  nicht  erfolgt  und  daher  zwar  nicht  der  Zeit  nach,  aber  doch 
in  Ansehung  der  Kausalität  ein  schlechthin  erster  Anfang  einer 
Reihe  von  Erscheinungen  genannt  werden  mufs"  (:ViO.  ;V22).  An- 
gesichts derartiger  Behauptungen  mufs  man  sich  allerdings  fragen, 
ob  man  hier  den  Philosophen  überhaupt  ernst  nehmen  soll.  Und 
das  alles  blofs,  weil  die  Kategorieentafel  eine  dritte  Antinomie  er- 
forderte !  Diese  sophistische  Verdrehung  der  Wahrheit  ist  ohne 
Zweifel  eines  der  abschreckendsten  Beispiele  dafür,  zu  welchen  Ge- 
waltsamkeiten und  Verrenkungen  sich  Kant  durch  seinen  Hang  zur 
Systematik  oft  hat  fortreifsen  lassen.  Man  kann  ihm  wahr- 
haftig keinen  besseren  Dienst  erweisen,  als  wenn  man,  anstatt  den 
Lobrednern  der  transcendentalen  Freiheit  beizustimmen,  diese  An- 
nahme lieber  mit  Stillschweigen  übergeht. 

Wenn  es  eine  transcendentale  Freiheit  giebt,  so  kann  sie  erst- 
lich nur  eine  aufserweltliche  sein,  weil  in  der  Welt  alle  Be- 
gebenheiten nachweislich  unter  dem  Kausalgesetze  stehen,  und  zweitens 
kann  sie  nicht  selbst  wiederum  ,.Gesetz-',  d.  h.  der  Vernunft  oder 
dem  Zwange  der  Motivation  unterworfen,  sein.  ,.Denn  man  kann 
nicht  sagen,  dafs  anstatt  der  Gesetze  der  Natur  Gesetze  der  Frei- 
heit in  die  Kausalität  des  AVeltlaufs  eintreten,  weil  wenn  diese  nach 


I 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


199 


Gesetzen  bestimmt  wäre,  sie  nicht  Freiheit,  sondern  selbst  nichts 
Anderes  als  Natur  wäre.  Natur  also  und  transcendentnle  Freiheit 
unterscheiden  sich  wie  Gesetzmäfsigkeit  und  Gesetzlosigkeit"  (:>19). 
Die  transcendentale  Freiheit  ist  ,.sel})st  blind"  (ebd.);  man  kann 
für  sie  nicht  wieder  einen  Grund  angeben,  weil  sie,  als  der  absolute 
Grund  aller  Gründe,  selbst  nicht  wieder  aus  einem  Grund  ent- 
springt. Insofern  ist  ihre  absolute  Spontaneität  gleich  dem  absoluten 
Zufall  und  daher  „der  eigentliche  Stein  des  Anstofses  für  die 
Philosophie"  (320).  als  welche  überall  den  Gründen  der  Begeben- 
heiten nachgeht.  In  ihr  kommt  eben  die  Frage  nach  dem  Grund 
zur  Ruhe,  der  Leitfaden  der  Regeln,  an  welchem  allein  eine  durch- 
gängig zusammenhängende  Erfahrung  möglicli  ist,  reifst  mit  ihr  ab, 
und  „ob  wir  gleich  die  Möglichkeit,  wie  durch  ein  gewisses  Dasein 
das  Dasein  eines  andern  gesetzt  werde,  auf  keine  Weise  begreifen 
und  uns  desfalls  lediglich  an  die  Erfahrung  halten  müssen."  so 
kommen  wir  doch  um  die  Annahme  eines  solchen  absolut  ersten 
Grundes  nicht  herum,  „weil  die  Möglichkeit  einer  unendlichen  Ab- 
stammung  ohne  ein  erstes  Glied,  in  Ansehung  dessen  alles  Ul)rige 
blofs  nachfolgend  ist.  sich  nicht  begreiflich  machen  läfst"  (320.  ?)2\).  — 
Der  Begriff  der  Ursache  ist  ohne  den  eines  verursachenden 
Wesens  nicht  denkbar.  So  schliefst  sich  die  vierte  Antinomie, 
welche  die  Idee  des  schlechthin  notwendigen  AV^esens,  als  Substrats 
der  absolut  ersten  Ursache,  erörtert,  unmittelbar  an  die  dritte  an. 
„Zu  der  Welt  gehört  etwas,  das  entweder  als  ihr  Teil  oder  ihre 
Ursache  ein  schlechthin  notwendiges  AVesen  ist";  und  „es  existiert 
überall  kein  schlechthin  notwendiges  Wesen  weder  in  der  Welt, 
noch  aufser  der  Welt  als  ihre  Ursache."  Der  Beweis  der  These 
schliefst,  ganz  wie  bei  der  dritten  Antinomie:  „Ein  jedes  Bedingte,  das 
gegeben  ist,  setzt  in  Ansehung  seiner  Existenz  eine  vollständige 
Reihe  von  Bedingungen  bis  zum  schlechthin  Unbedingten  voraus, 
welches  allein  absolut  notwendig  ist.  Also  mufs  etwas  absolut 
Notwendiges  existieren,  wenn  eine  Veränderung  als  seine  Folge 
existiert"  (/)24).  Wenn  aber  dort  behau])tet  wurde,  die  erste 
absolute  Ursache  sei  nur  aufserhajb  der  Welt,  so  heifst  es  hier  auf 
ein  Mal :  „Dieses  Notwendige  gehört  sell)er  zur  Sinnen welt'^,  weil 
,.der  Anfang  einer  Zeitreihe  nur  durch  dasjenige,  was  der  Zeit 
noch  vorhergeht,  bestimmt  werden  kann'*,  die  Zeit  aber  die 
Form  eben  der  Erscheinungswelt  bildet  (ebd.).  Es  ist  indessen 
eine  völlig  aus  der  Luft  gegriffene  Behauptung,  worauf  schon  oben 
bei  der  ersten  Antinomie  hingewiesen  wurde,  dafs  vor  dem  Anfang 
der  Zeit  selbst  wiederum  eine  Zeit  sein  müsse.  Mag  man  nun 
unter  der    ersten    Ursache    den  Akt,    wodurch    die   Welt    zustande 


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200 


B.    Kant  als  Naturphiloso})!!. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


201 


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11 V; 


kommt,  oder  das  sich  in  jenem  Akte  betliätigende  Wesen   verstehen^ 
in  keinem  Falle  bleibt    man  innerhalb  der    zeitlicher  Erscheinungs- 
welt stehen  :    im  ersteren   Falle  nicht,    weil  hier    die  erste  Ursache, 
wie  gesagt,    Freiheit    (blind,    gesetzlos,    zufällig)  ist,   die  Keihenfolge 
der  Erscheinungen  dagegen  am    Leitfaden    der  Kausalität  verläuft; 
im   letzteren   Falle  nicht,    weil    das  funktionierende    absolute   Wesen 
eben  durch  seine  Funktion  die  Zeit  erst    setzt.     Nur  die   Funktion 
ist  eine    zeitliche,    das  Wesen  dagegen    ist  aufser    der  Zeit,    schon 
deshalb,  weil  es,  als  das  in  allen  verschiedenen  Momenten  der  Funktion 
mit  sich  Identische,   in  den  Strom  des  Geschehens    sell)st  nicht  mit 
eingeht.    Sofern  jene  verschiedenen  Momente  in  einem  gesetzmäfsigen 
Zusammenhange  stehen,  der  sich  dem  Standpunkt  des  endlichen  Be- 
schauers als  Kausalverhältnis  darstellt,    insofern   hat  also  die   Anti- 
these ganz   Recht,    dafs  alle   Kausalität  in    die  Zeit  gehr>rt.      Wenn 
sie  aber  hieraus  schliefst,   es  müsse  also  aucii  die  absolut  erste  Ur- 
sache eine  zeitliche  und  mithin  in  den  Inbegriff  der  Erscheinungen, 
d.  h.  die  Welt,  verilochten  sein  (iVJf)),  so  vergil'st  sie,  dafs  es  Ursachen 
eigentlich  nur  in  einer  Reihe  von  koordinierten  Erscheinungen  giebt^ 
dafs  aber  das  schlechthin  notwendige  Wesen  der  endliclaMi  Reihe  von 
Ursachen    und  AVirkungen    übergeordnet   und   folglich    auch   nur  in 
uneigentlichem    oder     übertragenem    Sinne    als    „Ursache*'    zu    be- 
zeichnen ist.    Es  bleibt  also  dabei,  dafs  es  ein  absolut  notwendiges 
Wesen  giebt.      Aber  weder  ist  dasselbe  in  der  Welt,   noch  ist  es  die 
Welt  selbst,  weil  diese,  als  der  lidjegrilf  aller  Ursachen  und  AVirkungen 
von  gleichem  Daseinswert,  dem  Begriff  der  absolut  ersten  Ursache  wider- 
S])richt.     Scheidet  man  die  unrichtigen  Annahmen   auf  beiden  Seiten 
aus,    so  besteht  also    auch    hier    zwischen  These  und   Antithese  gar 
kein  Widers])ruch.     Der  vierte  Widerstreit  der  kosmologischen  Ideen 
ist  so  wenig  eine  wirkliche  Antinomie,  dafs  Kant  sich  dadurch  auch 
nicht  hat  abhalten  lassen,  die  Annahme  eines  absolut  notwenden  W(\sens, 
die  andernfalls    doch  hiermit    eigentlich  abgethan  gewesen  wäre,    in 
seiner  Lehre  vom  transcendentalen  Ideal  einer  Ijesonderen  und  voraus- 
setzungslosen Erörterung  zu  unterziehen.   — 

Fassen  wir  die  Resultate  der  Antinomien  zusammen,  so  ist 
hier  also  ein  Widerspruch  nirgends  vorhanden,  weil  die  entgegen- 
gesetzten Behaui)tungen  von  den  gleichen  Gegenständen  überall  in  ver- 
schiedenen Beziehungen  ausgesagt  werden:  in  den  Thesen  handelt 
es  sich  um  Dinge  an  sich,  in  den  Antithesen  um  Erscheinungen. 
In  der  ersten  Antin(miie  hat  die  These  recht,  dafs  die  Welt  aktuell 
(als  Ding  an  sich),  sowohl  dem  Räume,  wie  der  Zeit  nach  endlich, 
die  Antithese,  dafs  sie  i)otentiell  (als  Gedankending.  Erscheinungj 
unendlich  ist.     In  der  zweiten  hat  ebenso  die  These  recht,   dafs  die 


Materie,  aktuell  genommen,  aus  einfaclien  Teilen  (Monaden)  besteht, 
die  Antithese,  dafs  sie  potentiell  oder  in  Gedanken  ins  Unendliche 
teilbar  ist.  In  der  dritten  hat  die  These  recht,  dafs  es  eine  Kau- 
salität durch  Freiheit  giebt.  aber  unrecht  darin,  diese  Freiheit  i  n 
den  Weltprozefs  zu  setzen,  während  sie  doch  nur  im  Anfangsgliede 
liegen  kann,  das  selbst  noch  nicht  zur  Welt  gehört:  die  Antithese 
hat  daher  recht,  die  Freiheit  innerhalb  der  Welt  zu  leugnen,  aber 
unrecht,  sie  auch  im  Anfangsgliede  auszuschliefsen.  In  der  vierten 
Antinomie  endlich  hat  die  These  recht,  dafs  es  ein  schlechthin  not- 
wendiges Wesen  giebt.  aber  unrecht  darin,  es  i  n  die  AVeit  zu  setzen; 
die  Antithese  hat  recht,  dafs  es  in  der  Welt  kein  solches  Wesen 
giebt,  aber  unrecht,  zu  behaupten,  dafs  es  auch  aufserhalb  kein 
solches  ^iiUe.  In  den  zwei  ersten  Antinomien  sind  also  These  und 
Antithese  beide  wahr.  In  den  zwei  letzten  haben  These  und  Anti- 
these nur  zur  Hälfte  recht,  zur  anderen  Hälfte  aber  unrecht,  so 
zwar,  dafs  die  übrig  bleibenden  Behauptungen  auf  beiden  Seiten  erst 
in   ihrer   Vereinigung   die  ganze    Wahrheit   ergeben. 

Das  ist  nun  freilich  ein  ganz  anderes  Ergebnis,  als  wie  es  Kant 
aus  den  Antinomien  zieht.  Die  KonsiMpienz  seiner  subjektivistischen 
Prinzipien  hätte  es  erfordert,  These  und  Antithese  für  gleich  falsch 
anzusehen,  allein  er  selbst  hleibt  nicht  einmal  hierbei  stehen.  Nur  die 
beiden  ersten  ,. mathematischen"  Antinomien,  so  genannt,  „weil  sie 
sich  mit  der  Hinzusetzung  oder  Teilung  des  (Tleichartig(^n  (Räum- 
lichen und  Zeitlichen)  befassen",  fallen  jenem  absprechenden  Urteil 
zum  Opfer:  These  und  Antithese,  behauptet  hier  Kant,  seien  beide 
falsch,  weil  sie  die  subjektiven  Anschauungsformen  des  Raumes 
und  der  Zeit  wie  Dinge  an  sich  behandeln  (IX.  89  f.).  Was  dagegen 
die  beiden  ,.dynamischen"  Antinomi(>n  anbetrifft,  bei  denen  das  Be- 
dingte, als  Erscheinung,  von  der  Bedingung,  als  Ding  an  sich,  ver- 
schieden ist.  so  erklärt  hier  Kant  These  und  Antithese  für  gleich 
wahr,  insofern  sich  jene  auf  Dinge  an  sich,  diese  dagegen  auf  Er- 
scheinungen bezeige  (ebd.  <I0  ff.  III.  :U]f)  f.).  ohne  natürlich  für  diese 
Inkonsequenz  einen  anderen  Grund  zu  haben  als  ein  vermeintliches 
Interesse  der  Moral. 

Das  Bestreben  Kants,  in  den  AntiiKtinieii  eine  natürliche  Dialektik 
des  menschlichen  Verstandes  nachzuweisen,  hat  ihn  zu  so  seltsamen 
^lifsgriffen  und  So])hismen  verführt,  dafs  der  weitläuiige  Abschnitt 
über  „die  Antinomie  der  reinen  Vernunft"  zu  den  wunderlichsten 
Bestandteilen  der  Vernunftkritik  gehTut.  Vorgefafste  Meinungen, 
die  ihre  Bestätigung  erhalten  sollten,  Anforderui)g(4i  des  religi()sen 
und  ethischen  Bewufstseins,  die  sich  ganz  unberechtiger  Weise  in 
die  kosmologischen  Fragen   mit  eindrängen,   und  nicht  zum  wenigsten 


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I 


202 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


JI.  Die  kritische  Naturphilosophie, 


203 


n-  rH 


Beweggründe  der  Systematik  vereinigen  sicli  hier,  um  ein  Gebilde  zu- 
stande zubringen,  das  man  höchstens  als  eini^hilosophisches  Kuriosum 
bestaunen  würde,  wenn  es  nicht  Kant  zum  Verfasser  hätte.  Bedenkt 
man,  in  welcher  Hochachtung  gerade  dieser  Abschnitt  der  Vernunft- 
kritik lange  gestanden  hat,  welches  Ansehen  er  noch  heute  vielfach 
geniefst,  wie  er  nicht  selten  über  die  Auffassung  der  kantischen 
Prinzipienlehre  entschieden  und  vielen  ein  untrügliches  Zeugnis  dafür 
ist,  dafs  wir  die  Grenzen  des  in  der  Erfahrung  Gegebenen  nicht 
überschreiten  können,  dann  erscheint  kaum  ein  Ausdruck  zu  stark, 
um  die  Antinomienlehre  in  ihrer  Nichtigkeit  zu  brandmarken.  Weit 
entfernt,  eine  notwendige,  ja  „natürliche"  Illusion  der  menschlichen 
Vernunft  zu  sein,  sind  die  kantischen  Antinomien  nur  ein  am  grünen 
Tische  ausgeklügeltes,  auf  lauter  Sophistikationen  aufgebautes  Bäsonne- 
ment  einer  l^hilosophie,  der  die  Unerkennbarkeit  des  i'berempirischen 
von  vornherein  feststeht,  und  die  nun  jeden  Blick  in  das  einmal 
abgeleugnete  Gebiet  sich  dadurch  zu  versperren  sucht,  dafs  sie  ein 
künstliches  Gewebe  von  Trugschlüssen  davorliängt.  Ob  die  Welt 
einen  Anfang  und  eine  Grenze  ihrer  Ausdehnung  im  Baume  habe, 
ob  die  Materie,  die  uns  riiumlich  erscheint,  letzten  Phides  aus  un- 
räumlichen Monaden  besteht,  ob  es  eine  Kausalität  durch  Freiheit 
oder  blofs  eine  solche  durch  Naturgesetze,  ob  es  endlich  eine  oberste 
Weltursache  giebt,  oder  die  Naturdinge  und  deren  Ordnung  den 
letzten  Gegenstand  ausmachen,  bei  dem  wir  in  allen  unseren  Be- 
trachtungen stehen  ])leiben  müssen:  das  sind  Fragen,  die  einer  ganz 
anderen  Lösung  bedürfen,  als  einer  rein  erkenntnistheoretischen,  wie 
Kant  sie  giebt,  Fragen,  mit  denen  sich  vor  allem  auch  die  Natur- 
philosophie zu  befassen  hat,  und  die  man  nicht  einfach  dadurch  hei 
Seite  schieben  kann,  dafs  man  ihnen  einen  antinomischen  Charakter 
andichtet. 

Überhaupt  ist  es  eine  sonderbare  Ansicht,  nh  oh  es  eine  „natür- 
liche'' Antinomie  geben  kcüme,  die  nicht  blofs  auf  einem  Mangel  an 
synthetischer  Verstandeskraft  beruht.  Kant  führt  die  kritische  Ent- 
scheidung des  kosmologischen  Streites  dadurch  herbei,  dafs  er  zeigt, 
die  Antinomie  sei  „blofs  dialektisch  und  ein  Widerstreit  eines 
Scheins,  der  daher  entspringt,  dafs  man  die  Idee  der  absoluten 
Totalität,  welche  nur  als  eine  Bedingung  der  Dinge  an  sich  selbst 
gilt,  auf  Erscheinungen  angewandt  hat,  die  nur  in  der  Vorstellung 
und,  wenn  sie  eine  Beihe  ausmachen,  im  successiven  Begressus,  sonst 
aber  gar  nicht  existieren'*  (.'k')")  f.).  Als  ob  die  Vernunft  sich  hierbei 
beruhigen  könnte  und  diese  sogenannte  „Aufhebung'*  des  Wider- 
spruchs für  sie  nicht  schlimmer  wäre  als  der  Widers])ruch  selbst, 
sofern  man  denselben    für  objektiv  ansieht!      Ist  es  doch  die  eigen- 


tümliche Natur  der  Vernunft    (vielmehr  als  zu  dem  Bedingten  das 
Unbedingte  zu  suchen,  worin  Kant  ihr  Wesen  sieht),  dafs  sie  bestrebt 
ist,  die  Widersprüche  aufzulösen  und  nicht  eher  sich  zufrieden  giebt,  als 
bis  sie  hiermit  völlig  zustande  gekommen  ist.    Darin  besteht  ja  eben 
die  grofse  Wahrheit  der  hegelschen  Dialektik,  dafs  der  Widers])ruch 
das  innerste  Brinzip    und  die  treibende  Kraft  des  geistigen   Lebens 
ist,   der  sich    ewig  neu  erzeugt,    um   ewig  wieder    durch  die  Arl)eit 
der    Idee    zermalmt    zu    werden .    und    dafs    die    ganze     Entwicke- 
lung  der  Vernunft  nur  in  einem  fortwährenden  Auflösen  von  AVider- 
sprüchen    sich  vollzieht.     Gesetzt,    es  gäbe    eine  Bealdialektik.   d.  h. 
das  reale   Dasein  wäre  selbst  widerspruchsvoll,    so  müfste  die  Ver- 
nunft sich  mit   dieser  Thatsache    einfach  zufrieden  geben,    es  bliebe 
ihr  nichts  übrig,  als  mit  ihrer  subjektiven  Funktion   dem  Gange  der 
objektiven   W^idersprüche  nachzugehen,   um  ihn  gleich  einem  S])iegel 
in    sich    aufzufangen ;     alles    müfste     sich     in    ihr    ruhig    und    ohne 
Kampf    vollziehen,    da    alsdann    der  Widers])ruch    ihr    niclit    mehr 
lästig  sein  könnte.     Nur  darum,  weil  die  reale  Welt  keinen  \\'ider- 
sprucli  enthält,   dieser  vielmehr  erst  durch  das  subjektive  Denken  in 
sie  hineingetragen  wird,  weil  also  der  Widerspruch  nichts  Objektives, 
sondern  nur  einen  blofs   su])jektiven  Faktor  darstellt,  der  eben  des- 
halb vom    Denken  fortwährend  zu  überwinden   ist.   iiui-  darum  giebt 
es    einen   Widerstreit    verschiedener  Frinzipien,    nur   darum    ist  der 
Kampf,  wie  im  realen  Leben  der  Objekte,  so  auch  im  idealen  Beiche 
der  Vernunft,    die    Bcnlingung    des  Fortschritts,    und  wird  eine  Er- 
kenntnis so  lange  von  der  Vernunft  noch  als  eine  unvollendete  empfunden, 
als  sie  noch  irgend  einen  Widerspruch  birgt.     Wäre  der  subjektive 
Widersj)ruch  im  Denken  zugleich  ein  objektiver,  dem  auf  keine  Weise 
zu  entrinnen,  und  welcher  von  der  Natur  des  menschlichen  Denkens 
selbst    gegeben    ist,    welche  Veranlassung    hätte    der  Mensch    dann 
noch,  den  Widerspruch  als  treibendes  Brinzip  seiner  Gedankenarbi'it 
anzusehen,   wie  könnte  er  in  ihm  einen   Hinweis    darauf  sehen,  dafs 
sein  subjektives  Abbild  dem  Urbild    der  Welt  noch  nicht    adäquat 
ist?     Denn  darüber  mufs  man  sich   nur  klar  sein,   dafs  ein   solcher 
AVidersj)ruch  im  Denken,  so  subjektiv  er  auch  unmittelhar  uns  selbst 
erscheint,   von  anderem  Staiidj)U]dvt  aus  gesehen,  doch  ein  objektiver 
ist,   und  dafs,  wenn  es  einen  objektiven  Widersj)ruch  nicht  geben  soll. 
es  auch  keine  natürliche  und  unvermeidliche  Antinomie  im   mensch- 
lichen  Verstände    geben    darf.     ,, Alles,    was  in    der  Natur    unserer 
Kräfte  gegründet  ist.  mufs  zweckmäfsig  und  mit  dem  richtigen  Ge- 
brauche derselben  einstimmig  sein"  (4',)^).  288).    A\'as  kCtnnte  es  aber 
Unzweckmäfsigeres  geben,  als  wenn  die  Vernunft,   die  uns  doch  zur 
Erkenntnis  der  Welt  und  zur  Auflösung  der  Widersprüche  gegeben 


«^  't. 


204 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


ist,  selbst  mit  einem  unauslüschlichen  Widersprucli  behaftet  wäre? 
„Die  Ideen  der  Vernunft  kihnien  nimmermehr  an  sich  selbst  dialektisch 
sein,  sondern  ihr  hhifser  Mifsbrauch  mufs  es  allein  machen,  dafs  uns 
von  ihnen  ein  trüglicher  Schein  entspringt;  denn  sie  sind  uns 
durch  die  Natur  unserer  Vernunft  Jiufgegeben,  und  diesei-  oberste 
Gerichtshof  unserer  8])ckulation  kann  unmr»*,^lich  selbst  ursj)rüngliche 
Täuschungen  und  Blendwerke  enthalten*'   (450  f).*J 

<J.  Die  Idee  der  Einheit. 
Die  Entwickelung  seiner  naturphilosophischen  Ideen  h;itte  Kant 
ganz  von  selbst  dahin  geführt,  für  die  vielheitliche  Welt  seiner 
physischen  Monaden  den  Abschlufs  in  einem  einheitlichen  Grunde 
dieser  AVeit  zu  suchen.  Die  Theorie  des  wechselseitigen  Rintiusses 
der  Substanzen  auf  einander  verhmgte  notwendig  ein  vermittelndes 
Prinzij).  um  diesen  intluxus  verständlich  zu  machen.  Aber  auch  die 
wahrgenommene  Einheit,  Harmonie  und  Zweckmäfsigkeit  der  Natur 
schien  unbegrihen  ohne  die  Annahme  einer  wesenhaften  Hinlieit  in 
und  über  jener  Vielheit  von  Naturgestalten.  Es  war  nicht  so  sehr 
ein  ethisches  oder  religi()ses  Interesse  gewesen,  das  Kant  veranlafst 
hatte,  das  Dasein  Gottes  zu  beweisen  —  die  Naturphilosopliic  ver- 
langte diesen  Beweis;  aber  freilich  verlangte  sie  ihn  auch  nur  so- 
lange, als  der  Hegrifl'  der  Natur  noch  o])jektiver  Art  war,  als  er 
noch  ein  Ding  an  sich  bedeutete.  Nachdem  Kant  seinen  Stand- 
punkt des  transcendentalen  Idealismus  sich  erobert  und  die  ganze 
Natur  im  Netz  der  Erscheinungen  eingefangen  hatte,  hei  auch  dieses 
Interesse  am  Dasein  Gottes,  soweit  es  rem  naturphiloso])hischer 
Art  war.  hinweg.  Denn  die  dynamische  (Temeinschaft  der  SuV)stanzen 
wurde  ja  nun  durch  das  apriorische  Prinzip  der  Wechselwirkung 
verbürgt,  und  die  Einheit,  die  Kant  früher  als  eine  objektive  ver- 
standen hatte,  war  nun  keine  andere  als  die  subjektive  Einheit  des 
Bewufstseins.  Vom  Standpunkt  der  Vernunftkritik  angesehen, 
mufste  sich  auch  der  absolute  Weltgrund  zu  liner  blofsen  „Idee" 
verflüchtigen.  Wenn  Kant  sich  trotzdem  auf  eine  umständliche 
Widerle^uiii^  der  Beweise  vom  Dasein  Gottes  einliefs,  so  vertol<^te 
er  dabei  theoretisch  keinen  andern  Zweck,  als  auch  äurseilich  zu 
zeigen,  „dafs  alle  Versuche  eines  blofs  spekiilativcMi  Gei>i'au(^hs  der 
Vernunft  in  iVnsehung  der  Theolo^^ie  gänzlich  truchtlos  und  ihn^r 
inneren  Beschaffenheit  nach  null  und  nichtig  sind  :  dafs  aber  die 
Prinzipien    ihres  N  a  t  u  r  g  e  b  r  a  u  c  h  s    ganz    und    g  a  r    a  u  f 


*)  Vf<l.  hierzu:    v.    Hart  mann:    Kants   Erkenntnistheorie  u.    Metapliysik. 
[\}7-~jib.     Schopenhauer:    Die  Welt    als   WiUe  u     X'orstellung.     I.  i)«3  ff. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


205 


keine  Theologie  führen,  folglich,  wenn  man  nicht  moralische 
Gesetze  zu  Grunde  legt  oder  zum  Leitfaden  braucht,  es  überall 
keine  Theologie  der  Vernunft  geben  könne.  Denn  alle  synthetischen 
Grundsätze  des  reinen  Verstandes  sind  von  immanentem  Gehrauch; 
zu  der  Erkenntnis  des  lu')clisten  Wesens  aber  wird  ein  transcendenter 
Gebrauch    erfordert,    wozu    unser   Verstand    gar    nicht   ausgerüstet 

ist"  (4:n). 

Aber,  konnte  man  vom  Standi)unkt  der  Naturi)hilosophie  aus 
einwenden:  ist  nicht  am  Ende  die  sinnenfällige  Materie  selbst  das 
ursprüngliclie  und  notwendige  Prinzip,  das  die  Vernunft  in  ihren 
Beweisen  vom  Dasein  Gottes  anstrebt?  Diesen  Einwand  weist  Kant 
mit  Beeilt  zurück.  „Denn  es  ist  nichts,  was  die  Vernunft  an  dieses 
Dasein  schlechthin  bindet,  sondern  sie  kann  solches  jederzeit  und 
ohne  Widerstreit  in  Gedanken  aufheben;  in  Gedanken  aber  lag  auch 
allein  die  absolute  Notwendigkeit'^  (420).  Jede  Bestimmung  der 
Materie,  welche  das  Reale  an  ihr  ausmacht,  insbesondere  also 
die  Ausdehnung  und  Undurchdringhchkeit,  ist  eine  Wiikung  (Hand- 
lung), die  ihre  Ursache  haben  mufs.  und  ist  daher  immer  noch 
abgeleitet. 

Es  ist  unm(),silich.  für  den  absoluten  Weltgrund  eine  ihm  kor- 
respondierende Ansch:uiuiig  zu  hnden ;  er  ist  nur  eine  Idee  der  Ver- 
nunft. ^^u  haben  es  oben  als  den  Grundsatz  der  Vernunft 
bezeichnet,  das  Mannigfaltige  der  vom  Verstände  gelieferten  Er- 
fahrungsgegenstände unter  Einen  Begriff  zusammenzuschauen  und 
damit  alle  unsere  Erkenntnis  erst  systematisch  zu  machen. 
Darin  sind  eigenthch  zwei  besondere  Reg  e  1  n  vereinigt:  zu  jedem 
Bedingten  das  Unbedingte  zu  suchen  oder,  wenn  es  sich  um  das  not- 
wendige Wesen  handelt:  „zu  allem,  was  als  existierend  gegeben 
ist,  etwas  zu  suchen,  das  notwendig  ist,  d.  i.  niemals  anderswo,  als 
bei  einer  a  priori  vollendeten  Ei-klärung  aufzuhih-en,  sodann  aber 
auch  diese  Vollendung  niemals  zu  lioffen,  d.  i.  nichts  Empirisches 
als  unbedin^^t  anzunehmen  und  sich  dadurch  fernerer  Ableitung  zu 
überheben-'   (41lJ). 

Die  erste  dieser  Regeln  findet  in  der  Praxis  ihren  Ausdruck 
in  dem  Prinzip  der  Hom  ogen  ei  tä  t .  wodurch  wir  uns  ver- 
anlafst sehen,  die  Unsumme  der  verschiedenen  Erscheinungen  da- 
durch möglichst  einzuschränken,  dafs  wir  durch  Vergleichung  die 
versteckte  Identität  entdecken  und  sie  auf  diese  Weise  nur  als 
verschiedene  Äufserungen  einer  und  derselben  Grundkral t  erkennen. 
Entia  praeter  necessitatem  non  esse  multii)licanda :  das  ist  eine  alte 
Schulregel,  die  besagt,  „dafs  alle  Mannigfaltigkeiten  einzelner  Dinge 
die  Identität   der    Arten    nicht   ausschliefsen,    dafs    die    mancher- 


206 


B.   Kant  als  Naturphilosoph 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


207 


W- 


lei    Arten    nur    als    verschiedentliche    Bestimmungen    von    wenigen 
Gattungen,    diese    aber    von    noch    höheren    Geschlechtern 
u.  s.  w.  behandelt  werden  müssen,  da(s  also  eine  gewisse  systematische 
Einlieit  aller  möglichen  empirischen  Begriffe,  sofern  sie  von  höheren 
und  allgemeineren  abgeleitet  werden  können,  gesucht  werden  müsse" 
(440  f.).      „Es   war   schon    viel,    dafs  die  Scheidekünstler   alle  Salze 
auf    zwei    Hauptgattungen,    saure    und    laugenhafte,    zurückführen 
konnten;  sie  versuchen  sogar  auch  diesen  Unterschied  blofs  als  eine 
Varietät   oder    verschiedene  Äufserung   eines  und  desselben  Grund- 
stoffs anzusehen.     Die  mancherlei  Arten  von  Erzen    (den   Stoff   der 
Steine  und  sogar  der  Metalle)    hat    man   nach    und   nach   auf  drei, 
endlich  auf  zwei  zu  bringen  gesucht;    allein    damit   noch    niclit    zu- 
frieden,    kcuinen    sie    sich    des    Gedankens    nicht  entschlagen,    hinter 
diesen   Varietäten    dennoch    eine   einzige  Gattung,    ja,    wohl  gar  zu 
diesen  und  den  Salzen  ein  gemeinschaftliches  Prinzip  zu  vermuten" 
(441).     :Nichts    Anderes    also    als    die   Idee   der   Einheit  ist  es,    die 
den  Eorscliergeist    nach    immer  neuen  Grundkräften  zu  suchen  an- 
treibt: nicht  als  ob  diese  Idee  aus  der  Natur  geschöpft  wäre,  viel- 
nu'hr  befragen  wir  die  Natur  nach  ihr  und  halten  unsere  Erkenntnis 
für  mangelhaft,    so  lange  sie  ihr  nicht  adäc^uat  ist.      ,.Man  gesteht, 
dafs  sich  schwerlich  reine  Erde,  reines  Wasser,  reine  Luft  u.  s.  w. 
linde.     Gleichwohl    hat    man    diese   Begriffe   davon  doch  nötig  (die 
also,  was  die  völlige^  Eeinigkeit  betriff^    nur  in  der   Vernunft  ihren 
Ursprung    haben),    um    den  Anteil,    den  jede  dieser  Njiturursachen 
an  der  Erscheinung   hat,  gehörig  zu  bestimmen;   und   so  bringt  man 
alle  iVIaterien  auf  die  Erch'u  (gleichsam  die  hlofse  Last),  Salze  und 
brennliche  Wesen  (als  die  Kraft),   endlich   auf  Wasser  und  Luft  als 
Vehikel  (gleichsam  Maschinen,  vermittelst  deren  di*^  vorigen  wirken), 
um  nach  der  Idee    eines  ]\lechanismus    die    chemischen    Wirkungen 
der  Materien  unter  einander  zu   erklären.      Denn  wiewohl   man  sich 
nicht   so   ausdrückt,    so    ist    doch  ein  solcher  Eintiufs  der   Vernunft 
auf  die  Einteilungen  der  Naturforscher  sehr  leicht  zu  entdecken"  (4." Vi). 
Der  zweiten  jener  genannten  Kegeln  entspricht  das   Prinzip 
der   Spezifikation,   „welches  Mannigfaltigkeit  und  Verschieden- 
heit der  Dinge,    unerachtet  ihrer  Übereinstimmung  unter  derselben 
Gattung,    bedarf  und  es  dem  Verstände  zui-   Vorschrift  macht,    auf 
diese  nicht  weniger  als  auf  jene  aufmerksam  zu  sein'^  (442).    Pentium 
varietates  non  temere  esse  minuendas.     Aus  dieser  Hegel  entspiüngt 
die  systematische  Vollständigkeit  unserer  Erkenntnis,  indem  sie  uns, 
von  den  Gattungen  anhebend,   zu  dem  JMannigfaltigen,  das  darunter 
enthalten  ist,  den  Arten  und  Unterarten  herabzusteigen  heilst;  ihr 
Ziel  ist  nicht  Einheit,    sondern  Ausbreitung    der   Erkenntnis.     „Da 


aber  auf  solche  Weise  in  dem  ganzen  Umfange  aller  möglichen 
Begriffe  nichts  Leeres  ist  und  aufser  demselben  nichts  angetroffen 
werden  kann,  so  entspringt  aus  der  Voraussetzung  jenes  allgemeinen 
Gesichtskreises  und  der  durchgängigen  Einteilung  desselben  (mithin 
aus  der  Vereinigung  jener  beiden  Prinzijiien)  der  Grundsatz:  non 
datur  vacuum  formarum,  d.  i.  es  giebt  nicht  verschiedene  ursprüng- 
liche und  erste  Gattungen,  die  gleichsam  isoliert  und  von  einander 
(durch  einen  leeren  Zwischenraum)  getrennt  wären,  sondern  alle 
mannigfaltigen  Gattungen  sind  nur  Abteilungen  einer  einzigen  obersten 
und  allgemeinen  Gattung ;  und  aus  diesem  Grundsatze  dessen  un- 
mittelbare Folge:  datur  continuum  formarum.  d.  i.  alle  Verschieden- 
heiten der  Arten  grenzen  an  einander  und  erlauben  keinen  Über- 
gang zu  einander  durch  einen  Sprung,  sondern  nur  durch  alle 
kleineren  Grade  des  Unterschiedes,  dadurch  man  von  einer  zu  der 
anderen  gelangen  kann ;  mit  einem  Worte :  es  giebt  keine  Arten 
oder  Unterarten,  die  einander  (im  Begriffe  der  Vernunft)  die 
nächsten  wären,  sondern  es  sind  noch  immer  Zwisclienarten  mciglich, 
deren  Unterschied  von  der  ersten  und  zweiten  kleiner  ist  als  dieser 
ihr  Unterschied  von  einander"  (440).  Dieser  „Grundsatz  der  Af- 
finität" oder  dies  „Prinzip  d  er  Kont  i  nu  i  tä  t  der  Formen", 
wie  Kant  es  auch  bezeichnet,  verpflichtet  uns  also,  bei  allen  Er- 
scheinungen den  verwandtschaftlichen  Beziehungen  derselben  nach- 
zuspüren. 

Es  braucht  kaum  ausdrücklich  hervorgehoben  zu  werden,  dafs  alle 
diese  Siitze  nicht  konstitutiv  sind.  d.  h.  dafs  sie  nichts  über  die  wirk- 
liche Beschaffenheit  der  Dinge  aussagen.  sf>ndern  dafs  sie  alle  blofs 
regulative  r  Art,  blofs  „subjektive  Grundsätze"  sind,  „die  nicht  von 
der  Beschaffenheit  des  Objekts,  sondern  dem  Interesse  der  Vernunft  in 
Ansehung  einer  gewissen  möglichen  V^fflkommenheit  der  Erkenntnis 
dieses  Objekts  hergenommen  worden"  (449).  Aus  diesem  Grunde  nennt 
Kant  sie  auch  „Maximen  der  Vernunft"  (ebd.).  „Li  der  That  ist 
Mannigfaltigkeit  der  Hegeln  und  Einheit  der  Prinzipien  eine  Forde- 
rung der  Vernunft,  um  den  Verstand  mit  sich  selbst  in  durch- 
gängigen Zusammenhang  zu  bringen,  sowie  der  Verstand  das 
Mannigfaltige  der  Anschauung  unter  Begriffe  und  dadurch  jene  in 
Verknü])fung  bringt.  Aber  ein  solcher  Grundsatz  schreibt  den 
Objekten  kein  Gesetz  vor  und  enthält  nicht  den  Grund  der  Mög- 
lichkeit, sie  als  solche  überhaupt  zu  erkennen  und  zu  bestimmen, 
sondern  ist  l)lofs  ein  subjektives  Gesetz  der  Haushaltung  mit  dem 
Vorrat  unseres  Verstandes,  „durch  Vergleichung  seiner  Be.^riffe  den 
allgemeinen  Gebrauch  derselben  auf  die  klemstmögliclie  Zahl  der- 
selben zu  bringen,  ohne  dafs  man  deswegen  von  den  Gegenständen 


i 


208 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


209 


selbst  eine  solche  Eiiilielli<,^keit,  die  der  GewiJhnliclikeit  und  Aiis- 
breitunpf  unseres  Verstandes  Vorsclini)  thue,zu  fordern  und  jener  Maxime 
zugleich  objektive  Gülti,i]^keit  zu  geben  berechtiget  wäre"  (201  f.). 
So  begreift  sich,  wie  bei  diesem  Forscher  das  Interesse  der 
Mannigfaltigkeit  (nach  dem  l^nnzip  der  Spezilikation),  bei  jenem 
das  Interesse  der  Riidieit  (njicli  dem  Prinzip  der  Homogeneität  oder 
Aggregation)  überwiegen  kann.  Ein  jeder  glaubt  sein  Urteil  aus 
der  Einsicht  des  Objekts  zu  haben  und  gründet  es  doch  lediglich 
auf  der  gröfseren  oder  kleineren  Anhänglichkeit  an  (M'nen  von  beiden 
Grundsätzen,  die  eine  Eigentümlichkeit  seiner  besonderen  Natur 
ausmachen.  ..Wenn  i(di,"  sagt  daher  Kant,  „einsehende  Männer 
mit  einander  wegen  der  Charakteristik  der  Menschen,  der  Tiere 
oder  Ptlanzen,  ja,  selbst  der  Kih-per  des  Mineralreichs  im  Streite 
sehe,  da  die  einen  z.  B.  besondere  und  in  der  Abstammung  ge- 
gründete Volkscharaktere  oder  auch  entschiedene  und  erbliche 
Unterschiede  der  Familien,  Kassen  u.  s.  w.  annehmen,  andere  da- 
gegen ihren  Sinn  darauf  setzen,  dafs  die  Natur  in  diesem  Stück 
ganz  und  gar  einerlei  Anlagen  gemacht  habe  und  aller  Unterscdiied 
nur  auf  äufseren  Zufälligkeiten  beruhe,  so  darf  ich  nur  die  Be- 
schaffenheit des  Gegenstandes  in  Betrachtung  zielu^n.  um  zu  begreifen, 
dafs  er  für  beide  viel  zu  tief  verborgen  liege,  als  dafs  sie  aus  Ein- 
sicht in  die  Natur  des  Objekts  sprechen  könnten.  Es  ist  nichts 
Anderes  als  das  zwiefache  Interesse  der  Vernunft,  davon  dieser  Teil 
das  eine,  jener  das  amlere  zu  Herzen  nimmt  oder  auch  affektiert, 
mithin  die  Verschiedeidieit  der  Maximen  der  Naturmannigfaltigkeit 
oder  der  Natureiidieit,  welche  sieb  gar  wohl  vereinigen  lassen,  aber 
so  lange  sie  für  objektive  Einsichten  gehalten  w^erden,  nicht  allein 
Streit,  sondern  auch  Hindernisse  veranlassen,  widche  die  Wabrheit 
lange  aufhalten,  bis  ein  Mitt(d  gefunden  wird,  das  streitige  Inter- 
esse zu   vereinigen   und  die   Vernunft  hierüber  zufrieden    zu  stellen" 

(44!)   f.). 

Was  nun  freilieb  eine  „Eegel"  nützen  soll,  die  gar  keine  andere 
als  eine  blofs  subjektive  Bedeutung  hat,  davon  kann  man  sich  schwer 
eine  Vorstellung  machen.  Alle  unsere  Erkenntnis  gipfelt  darin,  ein 
möglichst  adä([uates  Abbild  der  Wirklichkeit  zu  ij^ewinnen.  Wir 
streben  nach  Feinheit  der  Erkenntnis  und  gehen  den  Unterschieden 
der  Gattungen  und  Arten  nach  in  der  festen  Überzeugung,  dafs  die 
Natur  diese  Unterschiede  auch  wirklich  (uithalte  und  selbst  in  ihrem 
innersten  Gefüge  systematisch  sei.  Wenn  wir  damit  unserm  Abbild 
der  Welt  etwas  hinzufügen,  von  dem  es  ungewil's  ])leibt,  ob  es  in 
dem  Urbild  auch  wirklich  enthalten  ibt,  wäre  es  da  nicht  viel 
richtiger,  die   Welt  der  Erfahrung  einfach  hinzunehmen,   wie  sie  ist, 


anstatt  uns  ihr  Bild  am  Ende  mit  Bewufstsein  zu  verfälschen  ? 
Man  sagt  uns,  die  Vernunft  gebiete  das.  Aber  welche  Garantie 
haben  wir,  dafs  eben  diese  sogenannte  Vernunft  nicht  vielmehr  die 
gröfste  Unvernunft  ist?  Wir  befinden  uns  mit  unserm  Verimnft- 
inhalt  in  einem  Zwiespalt  der  Erkenntnis,  der  alles  Andere,  nur 
nicht  vernünftig  ist.  Entweder  haben  die  Ideen  und  liegein  einen 
Wert :  dann  müssen  sie  mehr  als  blofs  subjektiv,  nicht  blofs  von 
regulativem,  sondern  auch  von  konstitutivem  Gebrauche  sein.  Oder 
sie  sind  von  blofs  regulativem  Gebrauch :  dann  haben  sie  für  die 
Erkenntnis  keinen  AVert.  Es  ist  nicht  wahr,  dafs  der  systematische 
Zusammenhang,  den  die  Vernunft  dem  emjiirischen  Verstandes- 
gebrauche  geben  kann,  nicht  allein  dessen  Ausbreitung  befcirdere, 
sondern  zugleich  auch  dessen  Richtigkeit  bewähre  (4;")7).  Wenn  die 
Vernunft  nur  mit  sich  selbst  beschäftigt  ist,  so  hat  sie  eben  auf 
das  Zustandekommen  unserer  Erkenntnis  keinen  Einflufs  und  folglich 
auch  kein  Recht,  über  diese  mitzusprechen.  Es  kann  nicht  zu- 
gegeben werden,  dafs  aus  der  Idee  „nichts  Anderes  als  Vorteil*' 
entsi)ringe,  dafs  sie  „jederzeit  der  Vernunft  blofs  nützen  und  dabei 
doch  niemals  schaden  könne*'  (458.  4()1).  Wenn  sie  aufserhalb  alles 
objektiven  Daseins  steht,  so  kann  ihre  Stinune  nur  Verwirrung 
hervorrufen,  Tind  man  mufs  sie  im  Interesse  der  Objektivität  unserer 
Erkenntnis  schon  bitten,  nicht  mit  dreinzureden.  Daher  ist  es  bei 
aller  Naivetät  dieses  Ausspruchs  doch  ganz  richtig,  wenn  Kant  in 
den  Prolegomenen  bemerkt,  es  sei  „merkwürdig,  dafs  die  Vernunft- 
ideen nicht  etwa  so,  wie  die  Kategorieen,  uns  zum  Gel)rauche  des  Ver- 
standes in  Ansehung  dei"  Erfahrung  irgend  etwas  nützen,  sondern 
in  Ansehung  derselben  völlig  entbehrlich,  ja.  wohl  gar  den 
Maximen  der  Verstandeserkeimtnis  der  Natur  entgegen  und 
hinderlich  sind*'  (!)  (IV.  79). 

Dieser  Zwiespalt  zwischen  unserem  Verstände  und  der  Ver- 
nunft hat  seinen  Grund  offen])ar  nur  darin,  dafs  die  Begriffe  der 
einen,  ganz  ebenso  wie  diejenigen  des  anderen,  zwar  apriorisch  sind 
und  dennoch  eine  ganz  verschiedenartige  Geltung  haben.  Dafs  die 
Begriffe  des  Verstandes  eine  objektive  Geltung  haben,  kaim  schon 
darum  nicht  bezweifelt  werden,  weil  sie  ja  selbst  die  Bcnlingungen 
des  Objekts  sind.  Wohl  aber  liegt  die  Frage  nahe,  ob  nicht  auch 
die  Begriffe  der  Vernunft  (die  Ideen)  am  Ende  ganz  ebenso  auf  ein 
Objekt  sich  beziehen,  dann  freilich  bei  der  übersinnlichen  Natur 
ihres  Objektes  auch  nicht  mehr  apriorisch  und  daher  allgemein  und 
notwendig,  sondern  blofs  hypothetisch  sind.  Kant  selbst  wittert 
hinter  dieser  Annahme  freilich  eine  „selbstsüchtige  Absicht"  und 
hält    es    für  unter    der  AVHirde    der  Idee,    sie  als  einen    „blofs  öko- 

D  r  e  w  B  ,  K;ints  Naturphilosophie.  1'» 


210 


B.    Kant  als  Natiirjihilosoj)h. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


211 


I 


nomisclien    Handgriff-'    /ai  beiiutzoii.    mit    dem  man    sich   hlofs    eine 
Anzahl    von   Prinzi])ien    erspart   (440.   441).     Der  Würde    der  Idee 
soll  es  nur  entsprechen,    wenn  diese  ein   „inneres  Gesetz  der  Natur" 
ist,   und  dies    ist   sie  wiederum  nur.    wenn   sie  a})ri()risch    ist,    wenn 
sie    niclit    auf   empirischen,    sondern    auf   transcendentalen   Gründen 
beruht  (440.  44()).     Allein  damit  ist.  wie  gesagt,  die  Einheit  unserer 
Erkenntnis  selbst  zerrissen,  und  wir  kommen  aus  dem  Dilemma  nicht 
heraus,  dafs,   als  apriorisch,  die  Ideen   blofs  subjektiv,   als   blofs  sub- 
jektiv,  aber  ohne  Wert  für  die  Erkenntnis  sind.      Kant  seihst  gieht 
zu:   „Nun  ist  nicht  das  Mindeste,  was  uns  liindert,  diese  Ideen  als 
auch  ol)jektiv    und  hypostatisch    anzunehmen,    aufser   alh^n  die 
kosmologische,   wo  die  Vernunft  auf  eine  Antinomie  stufst,   wenn  sie 
solche  zustande  l)ringen    wilL     Denn    ein  Widerspruch   ist  in  ilmen 
nicht;  wie  sollte  uns  (hdier  jemand  ihre  objektive  Realität  ])estreiten 
können,  da  er  von  ihrer  Möglichkeit  ebenso  wenig  weifs,   um  sie  zu 
verneinen,  als  wir,   um  sie  zul)ejahen?     Gleichwohl  ist's,   um  etwas 
anzunelimen.    noch   nicht    genug,    dafs    kein   positives  Hindernis  da- 
wider ist,  und  es  kann  uns  nicht  erlaubt  sein,  Gedankenwesen,  welche 
alle  unsere  Begriffe  übersteigen,   obgleich  keinem  widersprechen,   auf 
den  blofsen  Kredit  der  ihr  (ileschäft  gern  vollendenden  spekulativen 
Vernunft    als    wirkliche    und    bestimmte    Gegenstände    einzuführen" 
(4r)">).    Hiernach  mufs  angenommen  werden,  dafs,  wenn  ])ositive  Gründe 
hinzutreten,    die    für    die   Realität    der    Ideen   sprechen,    wir    dann 
auch  diese  Realität  nicht  mehr  bestreiten  können. 

Nun  langt  alle  unsere  Erkenntnis,  von  dem  em])irisclHMi  Materiale 
der  Thatsachen  emporsteigend,  schliefslich  mit  Notwendigkeit  bei 
den  Ideen  an:  von  ihnen  wiederum  herniedersteigend,  gelingt  es  ihr, 
neue  Thatsachen  und  neue  (besetze  in  der  Ei-fahrungswelt  zu  finden. 
Der  physikothecdogische  Beweis  ..bringt  Zwecke  und  Absichten  dahin, 
wo  sie  unsere  Beobachtung  nicht  selbst  entdeckt  hätte,  und  erweitert 
unsere  Naturkenntnisse  durch  den  Leitfaden  einer  besonderen  Fein- 
heit, deren  Prinzi])  aufser  der  Natur  ist.  Diese  Kenntnisse  wirken 
aber  wieder  auf  ihre  Ursache,  nämlich  die  veranlassende  Idee,  zurück 
und  vermehren  den  Glauben  an  einen  höchsten  Urheber  bis  zu 
einer  unwiderstehlichen  Ü  b  e r  z  e u  g u n  g ''  (424).  Vor- 
nehmlich ist  es  gerade  diese  Idee  der  Einheit,  die  uns  für  unsere 
Erkenntnis  unentbehrlich  ist.  „Denn  das  Gesetz,  sie  zu  suchen,  ist 
notwendig,  w^eil  wir  ohne  dasselbe  gar  keine  Vernunft,  ohne  diese 
aber  keinen  zusammenhängenden  Verstandesgehrauch  und  in  dessen 
Ermangelung  kein  z  u  r  e  i  c  h  e  n  d  e  s  Merk  m  a  l  e  m  p  i  r  i  s  c  h  e  r 
Wahrheit  haben  würden  und  wir  also  in  Ansehung  des  letzteren 
die    systematische    Einheit    der  Natur    durchaus    als    objektiv 


"«, 


g  ü  1 1  i  g  u  n  d  n  o  t  w  e  n  d  i  g  v  o  r  a  u  s  s  e  t  z  e  n  m  ü  s  s  e  n"  (440).  Daher 
nennt  Kant  seihst  „die  Voraussetzung  eines  AVesens,  welches,  ob- 
zwar  nicht  in  der  Erfahrungsreihe,  dennoch  zum  Behuf  der  Er- 
fahrung um  der  Begreiflichkeit,  Ordnung  und  Einheit  der  letzteren 
willen  gedacht  wird,  eine  notwendige  Hypothese  zur  Be- 
friedigung unserer  Vernunft*'  (IV.  9i)).  Er  verhehlt  sich 
auch  nicht,  dafs  der  Zusammenhang  der  Dinge  „einen  mächtigen 
Grund  abgiebt,  die  hypothetisch  ausgedachte  Einheit  für  nre- 
gründet  zu  halten"  (III.  446).  ja,  er  läfst  es  sogar  gelegentlich 
dahingestellt  sein,  ob  nicht  am  Ende  auch  Erfahrung  „mittelbar 
unter  der  Gesetzgebung  der  Vernunft  stehe*'  (IV.  112).  Es  ist 
aber  klar,  dafs  die  Annahme  eines  einheitlichen  höchsten  Wesens 
nur  dann  zur  Erklärung  der  Thatsachen  etwas  beitragen  und  ein 
„zureichendes  Merkmal  emjnrischer  Wahrheit*'  sein  kann,  wenn  sie 
nicht  eine  hlofs  subjektive  Idee,  sondern  ein  wirkliches  Sein  be- 
deutet, wenn  sie  mit  andern  Worten  von  konstitutiver  Bedeutung 
ist.  Sonach  erscheint  es  beinahe  wie  F^igensinn,  wenn  Kant  trotz- 
dem dabei  bleibt,  die  Idee  sei  „wirkHch  nur  ein  Schema,  dem  direkt 
kein  Gegenstand,  auch  nicht  einmal  hy})othetisch  zugegeben  wird, 
sondern  welches  nur  dazu  dient,  um  andere  Gegenstande  vermittelst 
der  Beziehung  auf  diese  Idee  nach  ihrer  systematischen  Einheit, 
mithin  indirekt  uns  vorzustellen*'  (4r)l).  Alle  Gründe  sprechen  gegen 
die  blofs  subjektive  Natur  der  Idee,  und  es  scheint  keineswegs  logisch 
zu  sein,  ihre  hypothetische  Geltung  als  eines  konstitutiven  Prinzips 
durch  die  Berufung  auf  die  Unerkennbarkeit  der  Dinge  an  sich 
widerlegen  zu  wollen,  während  doch  umgekehrt  gerade  dieses  Dogma 
durch  die  Notwendigkeit  der  Annahme  ihrer  objektiven  Realität 
aufgehoben   wird  (T)!)). 

Aber  freilich  „der  hypothetische  Gebrauch  der  Vernunft  aus 
zum  Grunde  gelegten  Ideen,  als  ])rol)lematischer  Begriffe,  ist  nicht 
so  beschaffen,  dafs  dadurch,  wenn  man  nach  aller  Strenge 
urteilen  wmII,  die  AVahrheit  der  allgemeinen  Regel,  die  als 
Hypothese  angenommen  worden,  folge;  denn  wie  will  man  alle 
mr)glichen  Fälle  wissen,  die,  indem  sie  aus  demselben  angenommenen 
Grundsatze  folgen,  seine  A  1 1  g  e  m  e  i  n  h  e  i  t  beweisen  ?"  (4' >S).  I  )er 
physikotheologische  Beweis  ist  in  seiner  Art  vortretflich,  und 
es  fehlt  nicht  viel,  dafs  er  seine  Absicht  auch  erreicht.  Er  verdient 
daher  auch  „jederzeit  mit  Achtung  genannt  zu  \verden*'.  „Es 
würde  nicht  allein  trostlos,  sondern  auch  ganz  umsonst  sein,  dem 
Ansehen  dieses  Bew^eises  etwas  entziehen  zu  wollen.  Die  V^ernunft. 
die  durch  so  mächtige  und  unter  ihrenj^Händen  immer  wachsende, 
obzwar  nur  empirische  Beweisgründe  unablässig  gehoben  wird,  kann 

14* 


212 


B.    Kant  als  Natinphilosoph. 


durch  keinen  Zweifel  subtiler  abgezogener  Spekulation  so  nieder- 
gedrückt werden,  dafs  sie  nicht  aus  jeder  grüblerischen  IJnentschlossen- 
heit,  gleich  als  aus  einem  Traume,  durch  einen  Blick,  den  sie  auf 
die  AX'uiider  der  Natur  und  der  Majestät  des  Weltbaues  wirft,  ge- 
rissen werden  sollte,  um  sich  von  Gröfse  zu  Gröfse  bis  zur  aller- 
höchsten, vom  Bedingten  zur  Bedingung  bis  zum  obersten  und  un- 
bedingten Urhebei-  zu  erheben.  Ob  wir.  aber  gleich  wider  die 
Vernünftigkeit  und  Nützlichkeit  dieses  Verfahrens  nichts  einzu- 
wenden, sondern  es  vielmehr  zu  empfehlen  und  aufzumuntern  haben, 
so  können  wir  darum  doch  die  Ansprüche  nicht  billigen,  welche 
diese  Beweisart  auf  ap  od  i  k  t  i  sc  li  e  Gewifsheit  und  auf  einen 
gar  keiner  Gunst  oder  fremden  Unterstützung  IxMJiirftigen  Beifall 
machen  möchte-'  (424).  Die  Zui-iickführung  des  vielheitlichen  Welt- 
geschehens auf  einen  einheitlichen  Urheber  ist  also  nur  „ein  hypothe- 
tischer Versuch",  der.  als  gelungen,  „dem  vorausges(4zten  Krklärungs- 
grunde  eben  durch  diese  Einheit  Wahrscheinlichkeit  giebt'' 
(441);  nur  apodiktische  (S^ewifsheit  kommt  ihr  nicht  zu.  und  daher 
glaubt  sich  Kant  berechtigt,  der  Idee  überhaupt  alle  objektive 
Realität  abzusprechen.  — 

Es  ist    also    wirklich    nur    das  Streben  nach   apodiktischer  Ge- 
wifsheit,    woraus    die    widersi)ruchsv(.lle    Stellungnahme     Kants     zu 
den  Ideen  hervorgeht.     Nur   darum  opfert   er  ihre  Objektivität  der 
Apriorität,   weil  ihm  nur  an  dieser  aUein  wirklich  etwas  gelegen  ist. 
„Alles,   was  a  i)riori    erkannt  werden    soll,    wird    (d.en  dadurch    für 
apodiktisch    gewifs    ausgegeben    und    muls    also    auch  so     be- 
wiesen werden"  (IV.   117).     ,.Denn  das  kündigt  eine  jede  Erkenntnis, 
die  a  priori    feststehen  soll,    selbst  an,    dafs  sie   fiir  schlechthin 
notwendig  gebalten  werden  will  und  eine  Bestimmung  aller  reinen 
Erkenntnisse  a  priori  noch  vielmehr,  die  das  Kichtmafs.  mithin  sidbst 
das   Beispiel    aller    apodiktischen    (philosophischen)    Gewifsheit    sein 
soll"   (III.   !)).      Wenn  es  sich  daher  um  das  Dasein   eines  hiudisten 
Wesens    oder    überhaupt    um  Ideen  handelt,    so    „sehe  man   sich  ja 
vor,  dafs  der  Beweis  die  ai)()diktische  Gewifsheit  einer  Demonstration 
habe.     Denn  die  Wirklichkeit  solcher  Ideen  blofs  wahrscheinlich 
machen  zu  wollen,    ist    ein    ungereimter  Vorsatz,    ebenso  als    wenn 
man    einen  Satz    der  (jeometrie    blofs  wahrscheinlich    zu    beweisen 
gedächte.      Die    von    aller  P^rfahrung    abgesonderte   Vernunft    kann 
alles  nur  a  priori  und  als  notwendig  oder  gar  nicht  erkennen ; 
daher  ist  ihr  Urteil  niemals  Meinung,  sondern  entweder  Enthaltung 
von  allem  Urteile  oder  apodiktische  Gewifsheit.   Meinungen  und  wahr- 
scheinliche Urteüe  von  dem,   was   Dinnjen  zukommt,   können  nur  als 
Erfahrungsgründe    dessen,    was    wirklich    gegeben   ist,    oder  Folgen 


II.   Die  kritische  Naturphilosophie. 


213 


nach  empirischen  Gesetzen  von  dem,  was  als  wirklich  zum  Grunde 
liegt,  mithin  nur  in  der  Beihe  der  Gegenstände  der  Erfahrung  vor- 
kommen. Aufser  diesem  Felde  ist  meinen  so  viel  als  mit  Ge- 
danken spielen,  es  müfste  denn  sein,  dafs  man  von  einem  unsicheren 
Wege  des  Urteils  blofs  die  Meinung  hätte,  vielleicht  auf  ihm  die 
W^ahrheit  zu  finden"  (5l.'>f).  „Nur  in  der  empirischen  Natur- 
wissenschaft kihmen  Mutmafsungen  (vermittelst  der  Induktion  und 
Analogie)  gelitten  werden,  doch  so,  dafs  wenigstens  die  Mitglichkeit 
dessen,  was  ich  annehme,  völlig  gewifs  sein  mufs"  (IV.  117).  ,.So 
ist  z.  B.  der  Äther  der  neueren  Physiker  eine  blofse  Meinungssache. 
Denn  von  dieser,  sowie  von  jeder  Meinung  überhaupt,  welche  sie 
auch  immer  sein  möge,  sehe  icli  ein.  dafs  das  Gegenteil  doch  viel- 
leicht könne  bewiesen  werden.  Mein  F'ürwahrhalten  ist  also  hier 
objektiv  sowohl,  als  subjektiv  unzureichend,  obgleich  es,  an  sich  be- 
trachtet, vollständig  werden  kann"  (VIII.  ÖT).  ,. In  Urteilen  aus 
reiner  Vernunft  dagegen  ist  es  gar  nicht  erlaubt,  zu  meinen.  Denn 
weil  sie  nicht  auf  Erfahrungsgründe  gestützt  werden,  sondern  alles 
a  priori  erkannt  werden  soll,  wo  alles  notwendig  ist,  so  erfordert 
das  Prinzip  der  Verknüj)fung  Allgemeinheit  und  Notwendig- 
keit, mithin  v  ö  1 1  i  g  e  G  e  w  i  f  s  h  e  i  t ,  widrigenfalls  gar  keine  Leitung 
auf  A\'ahrheit  angetroffen  wird"  (IIl  {)')'2,  VIII.  (ili— 72).  Daher 
,,kann  wohl  nichts  Ungereimter(^s  gefunden  werden,  als  in  einer 
Metaphysik,  einer  Philosophie  a  u  s  reiner  V  e  r  n  u  n  f  t .  seine 
Urteile  auf  Wahrscheinlichkeit  und  Mutmafsung  griuiden  zu  wollen'- 
(IV.  117).  ,,W^as  die  Gewifsheit  anbetrifft",  sagt  Kant  in  der 
Vorrede  zur  ersten  Auflage  der  Vernunftkritik,  ,,so  habe  ich  mir 
selbst  das  Urteil  ges])rochen.  dafs  es  in  dieser  Art  von  Betrach- 
tungen auf  keine  Vv^eise  erlaubt  sei.  zu  meinen,  und  dafs  alles, 
was  darin  einer  Hy})Othese  nur  ähnlich  sieht,  ver- 
botene W  aar  e  sei,  die  auch  nicht  lÜr  den  geringsten  Preis  feil 
stehen  darf,  sondern,  sobald  sie  entdeckt  wird,  beschlagen  werden 
mufs"  (III.  9.  017).  ..Metaphysik  mufs  Wissenschaft  sein,  nicdit 
allein  im  Ganzen,  sondern  auch  in  allen  ihren  Teilen,  sonst  ist  sie 
gar  nichts,  weil  sie,  als  Spekulation  der  reinen  Vernunft,  sonst  nirgends 
Halt  hat  als  in  allgemeinen  Einsichten"  (IV.  IUI).  Sie  ist  aber  nur 
daduich  Wissenschaft,  dafs  ihre  Sätze  apodiktische  Gewifsheit  haben, 
und  diese  haben  sie  wiederum  nur  dadurch,  dafs  sie  nicht  aus  der 
Erfahrung  entnommen,  sondern  a  priori,  im  AVesen  des  menschlichen 
Erkenntnisvermcigens   selbst   begründet  sind   (IV.    TiG.   'Jb). 

Auch  die  bisherige  Metaphysik  hatte  ihre  Sätze  a  priori  ab- 
geleitet: wie  kam  es,  dafs  es  trotzdem  ihrer  Erkenntnis  gerade  am 
meisten  an   der  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit  gebrach?    Sie  hatte 


214 


ß.    Kant   als  Naturphilosoph. 


■*  i 


sich  eben  eingebildet,  ihre  Sätze  niiii'sten,  weil  sie  a  priori  seien,  eben 
deshalb  auch  objektiv  sein,  d.  h.  mit  der  Wirklichkeit  übereinstimmen. 
Sie  hatte  gar  nicht  daran  gedacht,  es  könne  am  Ende  auch  eine  blofs 
subjektive  Allgemeinheit  geben,  ihre  synthetischen  Frinzii»ien  könnten 
bloi's  regulative  Geltung  für  das  Subjekt  haben.  Dal's  den  Ideen  üljer- 
haupt  irgendwelche  Allgemeinheit  zukam,  darin  bestand  für  (\vu 
Rationalisten  Kant  kein  Zweifel;  die  Frage  war  nur.  ob  ihre 
Allgemeinheit  und  ISotwendigkeit  auch  objektiv  sei.  d.  h.  ob  sie 
das  Objekt  als  solches  bestimmte.  Kant  selbst  hatte,  wie  gesagt. 
nur  zwei  Möglichkeiten  gesellen,  um  überhaupt  eine  Überein- 
stimmung unserer  Vorstellung  mit  der  AX'irklichkeit  zu  erklären : 
entweder  unsere  Erkenntnisiunktionen,  aus  denen  die  Vorstellung 
entsteht,  richten  sich  nach  den  Gegenständen,  oder  die  Gegenstände 
richten  sich  nach  unseren  Erkenntnisfunktionen  und  werdi^i  von 
ihnen  erst  hervorgebracht.  Der  erste  Fall  kam  nicht  in  Frage,  wo 
es  sich,  wie  in  der  Metaphysik,  um  apriorische  Erkenntnis  handelte^ 
weil  nach  ihm  die  Vorstellungen  nur  a  posteriori  entstanden.  Der 
zweite  Fall  machte  eine  apriorische  Erkenntnis  inr>gli('h,  [iber  er  zog 
den  Gegenstand  mit  Haut  und  Haaren  ins  Subjekt  hinein  und  ver- 
tiüchtigte  ihn  zu  einer  i)loi'sen  Vorstellung  im  erkennenden  He- 
wulstsein. 

Bereits  zu  Kants  Lebzeiten  haben  die  Anhänger  von  Leibniz 
und  unter  ihnen  insbesondere  der  scharfsinnige  Fi  stör  ins.  als 
Rezensent  in  Nicolais  Allgemeiner  Deutschen  Bibliotiiek.  zur 
Widerlegung  des  kantischen  Idealismus  sich  auf  die  ..dritte  Möglich- 
keit" berufen,  die  in  den  sechziger  Jahren  unseres  dahrliunderts 
eine  so  bedeutsame  Rolle  in  dem  berühmten  Streite  zwischen 
Trendelenburg  und  Kuno  Fischer  über  die  ..Lücke*'  bei 
Kant  gespielt  hat.*)  Jene  Einwände  seiner  Rezensenten  haben  die 
Veranlassung  dazu  gegeben,  dafs  Kant  in  der  zweiten  Auflairc  der 
Vernunltkritik  die  dritte  Möglichkeit  wenigstens  mit  einigen  Worten 
berührt  hat:  ,,  Wollte  Jemand'',  sagt  er  hier,  .^.zwischen  den  zwei  ge- 
nannten einzigen  Wegen  noch  einen  ]\Iitttelweg  vorschlagen^ 
nämlich  dafs  sie  (die  Kategorieen)  weder  selbstgedachte  erste  Priii- 
zij)ien  a  priori  unserer  Erkenntnis,  noch  auch  aus  der  p]rfahruiig 
geschöpft,  sondern  subjektive,  uns  mit  unserer  Existenz  zugleich 
eingepflanzte  Anlagen  zum  Denken  wären,  die  von  unserem  Urheber 
so  eingerichtet  worden,  d  a  f  s  ihr  G  e  b  r  a  u  c  h  mit  d  en  G  e  set z  en 
d  e  r  N  a  t  u  r ,  a  n  w  eichen  die  F  r  f  a  li  r  u  n  g  fortläuft,  genau 
stimmte  (eine  Art   von  Fräformationssystem  der  reinen  Vernunft). 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


215 


=)  Vaihinger:   Cominentar  II.    1  i2  tV.   ,'.11  IV. 


so  würde  (aufser  dem,  dafs  bei  einer  solchen  Hypothese  kein 
Ende  abzusehen  ist,  wie  weit  man  die  Voraussetzung:  vorbestimmter 
Anlagen  zu  künftigen  Urteilen  treiben  möchte)  das  wider  gedachten 
3[ittelweg  entscheidend  sein:  dafs  in  solchem  Falle  den  Kategorieen 
die  Notwendigkeit  mangeln  würde,  die  ihrem  Begriffe  wesent- 
lich angehört-'  (135  f.)-  Es  kommt  nämlich,  wie  Kant  dies  auch 
später  seinen  Rezensenten  in  den  „^tetaphysischen  Anfangsgründen 
der  Naturwissenschaft"  entgegengehalten  hat,  bei  der  Aniudune  einer 
prästabilierten  Harmonie  ,,jene  objektive  Notwendigkeit 
nicht  heraus,  welche  die  reinen  Verstandesbegrifle  (und  die  Grund- 
sätze ihrer  Anwendung  auf  Erscheinungen)  charakterisiert,  sondern 
alles  bleibt  blofs  subjektiv  notwendig,  objektiv  aber  blofs  zufällige 
Zusammenstimmung,  gerade  wie  es  Hume  will,  wenn  er  sie  blofse 
Täuschung  aus  Gewohnheit  nennt"  (W .  HG")  f.).  Ganz  ähnlich  heifst 
es  in  den  Frolegomenen :  „Grus  ins  allein  wufste  einen  .Mittel- 
weg: dafs  nämlich  ein  Geist,  der  nicht  irren,  noch  ])et'rügen  kann, 
uns  die  Naturgesetze  ursj)rünglich  einge[)tlanzt  habe.  zVllein  da  sich 
doch  oft  auch  trü-^liche  Grundsätze  einmischen,  wovon  das  Svstem 
dieses  ]\Iaiines  selbst  nicht  wenig  Beispiele  giebt,  so  sieht  es  bei  dem 
Mangel  sicherer  Kriterien,  den  echten  Urs])rimg  von  dem  unechten 
zu  unterscheiden,  mit  dem  (jebrauche  eines  solchen  Grundsatzes  sehr 
mifslich  aus,  indem  man  niemals  sicher  wissen  kann,  was  der  Geist 
der  Wahrheit  oder  der  Vater  der  Lügen  uns  eingetlöl'st  haben 
möge"  {l\ .  ()M).  Aber  schon  viel  früher  im  Jahre  ITT'J  hatte  Kant 
in  seinem  Brief  an  Marcus  Herz  vom  21.  Februar  die  ..harmonia 
praestabilita  intellectualis"'  abgewiesen.  „Der  deus  ex  machina  ist 
in  der  Bestimmung  des  Ursprungs  und  der  Gültigkeit  unserer  Er- 
kenntnisse das  F  n  g  e  r  e  i  ni  t  e  s  t  e ,  was  m  a  n  ii  u  r  w  ä  h  1  e  n  k a  n n , 
und  hat  aufser  dem  betrüglichen  Zirkel  in  der  Schlufsreihe  unserer 
Erkenntnisse  noch  das  Nachteilige,  dafs  er  in  der  Grille  (niul's  wohl 
heifsen:  Stille)  dem  andächtigen  oder  grüblerischen  Hirngespinst 
Vorschub  leistet"  (Vlll.  (iUO). 

So  tritt  auch  hier  wiederum  Kants  Al)üeigung  gegen  die 
prästabilierte  H^irmonie  zu  Tage,  wie  sie  ihm  von  seinem  Lehrer 
Knutzen  früher  eingeplianzt  w^ar.  Es  widerstrebte  ihm,  zur  Fr- 
klärung  des  Erkenntnisvorganges  einen  übernatürlich  eingreifenden 
Gott  zu  bemühen,  so  wie  sein  ganzes  IJestreben  in  der  Natur- 
philosophie darauf  gerichtet  war,  die  Annahme  der  prästa})ilierten 
Harmonie  aus  der  Welt  zu  schatfen.  Was  ihm  bei  den  Monaden 
unter  einander  unmöglich  schien,  das  konnte  er  auch  l)ei  dem  Ver- 
hältnis des  Subjekts  zu  seinem  Gegenstand  nicht  gelten  lassen. 
Ohne    uns    weiter    dabei    aufzuhalten,    dafs    Kant    selbst    in    einem 


216 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


21' 


|i4 


anderen  Brief  an  Herz  vom  2i).  Mai  ITSfl  den  „deus  ex  machina" 
heranzieht,  uni  die  Zusanunenstinmiunf]^  von  Sinidichkeit  und  Ver- 
stand zu  einer  Erfahrungskenntnis  hegreiflich  zu  machen,  indem 
er  sagt,  wir  konnten  hiervon  „weiter  keinen  Grund  als  den  gi">tt- 
lichen  Urheher  von  uns  seihst  angehen"  (VIII.  71^).  läfst  sich 
gegen  jenen  Einwand  Kants  hemerken,  dafs  wir  den  Paralhdismus 
zwischen  unsern  Vorstellungen  und  den  Dingen  keineswegs  gerade 
als  prästabilierte  Harmonie,  d.  h.  als  künstliche,  willkürliche  Ein- 
richtung eines  traiiscendenten  Gottes,  aulzufassen  brauchen,  die  von 
nun  an  einfacli  fortl)esteht.  Wie  aber,  wenn  man  sich  jene  Über- 
einstimmung der  Vorstellung  mit  ihrem  Gegenstande  im  8inne  des 
Monismus  durch  die  einheitliche  Entwickelung  eines  in  aller  JVIannig- 
faltigkeit  mit  sich  seihst  identischen  Uri)rinzi})s  erklärt,  das  sich 
im  Sein  und  Bewul'stsein  in  den  gleichen  Foi'inen  offenbart?  Diese 
Annahme  liegt  selbst  dem  8tand])unkt  der  Vernunftkritik  nicht 
fern,  wenn  Kant  bemerkt,  wie  dasjenige,  was  der  F^rsclieinung  der 
Materie  als  Ding  an  sich  selbst  zu  Grunde  liegt,  dem  vorstellenden 
Subjekt  „vielleicht  so  ungleichartig  nicht  sein  dürfte-  ('^«^O),  und 
meint,  jenes  Ding  an  sich  oder  das  Xoumenon  „könnte  doch 
auch  zugleich  das  Subjekt  der  G  e  danken  sein"  ([)i)2). 
Aber  auch  wenn  man  die  prästabilierte  Harmonie  als  solche  zu- 
giebt,  sind  die  Einwände,  die  Kant  ihr  macht,  unberechtigt. 
Den  Kategorieen  soll  in  diesem  Falle  die  Notwendigkeit  mangeln; 
als  ob  sie  weniger  notwendig  wären,  wenn  Gott  sie  gemäfs  den 
existierenden  Gegenständen  uns  gleichsam  einpflanzt,  als  wenn  sie 
selbst  diese  Gegenstände  erst  hervorbringen !  Der  echte  Ursprung 
der  Naturgesetze  soll  von  dem  unechten  nicht  zu  unterscheiden  sein: 
man  sieht  nicht,  was  Kant  hiermit  sagen  will,  da  ein  in  die  Irre 
Gehen  der  Erkenntnis  ja  auch  auf  seinem  eigenen  Stand] )unkt  nicht 
ausgeschlossen  und  das  einzige  Kriterium,  um  die  Wahrheit  zu 
ergründen,  ja  schliefslich   auch  bei  ihm  nur  die   Erfahrung  ist. 

In  der  That  l)eweisen  diese  Einwände  Kants  gegen  jenen  erst 
nachträglich  von  ihm  in  Betracht  gezogenen  ]\Iittelweg,  dafs  es  ihm 
damit  kaum  Fernst  gewesen  und  dafs  er  iU)erhaupt  nur  notgedrungen 
„mit  einer  Mischung  von  Argerlichkeit  und  Verachtung"  darauf 
eingegangen  ist.*)  Der  wahre  Grund,  warum  Kant  ihn  ursprüng- 
lich aufser  Acht  gelassen,  und  warum  er  auch  dann  noch,  als  ihn 
seine  Rezensenten  mit  Gewalt  darauf  gebracht  hatten,  nur  so  neben- 
bei und  in  völlig  unzulänglicher  Weise  sich  mit  ihm  beschäftigt  hat. 
dieser  Grund  liegt  darin,  dafs  die  Annahme  einer  Übereinstimmung 


zwischen  den  Formen  des  Seins  und  denen  des  Denkens,  so  viel 
Wahrscheinlichkeit  sie  auch  besitzen  mochte,  dennoch  blofs  eine 
Hypothese  war.  und  dafs  er.  als  Philosoph,  es  unter  seiner  Würde 
hielt,  auf  Hypothesen  sich  einzulassen.  Darum  war  er  auch  in 
seiner  Dissertation,  wo  er  dasselbe  Problem  bereits  gestreut  hatte, 
an  den  ,.indagationes  mysticas"  eines  Malebranche  und  Sweden- 
borg vorbeigegangen:  sie  Vxiders])rachen  seinem  rationalistischen  Be- 
wufstsein  und  waren  in  seinen  Augen  nichts  weiter  als  ein  „S})iel- 
werk  von  AVahrseheinliclduMt  und  ^lutmafsung."  Wenn  hierüber 
nc>ch  irgend  ein  Zweifel  bestand,  so  hat  ihn  Kants  Schüler  dacob 
in  seiner  „Prüfung  der  Mendelssohnscheii  Morgenstunden"  jedenfalls 
beseitigt.  Hier  fordert  im  Gespräche  ein  Mitunterredner,  um  die 
Korrespondenz  zwischen  unseren  Vorstellungen  und  den  (legen- 
ständen  zu  erklären,  die  Annahme  der  traiiscendenten  (lültigkeit 
der  Anschauuiigsformen .  und  was  erwidert  man  ihm?  „Diese 
Hypotliese  macht  Ihrem  Scharfsinn  alle  Ehre,  lieber  L.  Aber  wir 
krmnen  hier  schon  deshalb  keine  Bücksicht  darauf  nehmen,  weil 
es    eine   Hypothese    ist."''') 

Es  ist  gut.  auf  diese  und  ähnliche  Stellen  wieder  und  immer 
wieder  hinzuweisen  im  Angesicht  der  Thatsache,  dafs  über  keinen 
Punkt  von  seiten  der  modernen  Anhänger  Kants  ein  solches  Still- 
schweigen beobachtet  zu  werden  pilegt.  wie  über  den  rationalistischen 
Grundcharakter  der  kantischen  Philosophie.  Man  i)tlegt  dieselbe 
als  „Kritizismus"  mit  hochtihienden  Worten  allen  andern  philo- 
sophischen Systemen  gegenüber  anzupreisen  und  stellt  sie  als  Muster 
eines  „wissenschaftlichen"  Philosophierens  hin;  aber  dafs  die  ganze 
Wissenschaftlichkeit  dieser  Philosophie  letzten  Endes  nur  auf  einem 
Begriff  von  Wissenschaft  beruht,  an  welchen  die  Kantianer  von 
heute  selbst  nicht  glauben,  das  halten  sie  uns,  wie  auf  Verabn^lung. 
vor,  wofern  sie  nicht  gar  so  weit  gehen,  es  einfach  abzuleugnen. 
Wir  sollen  in  der  Vernunftkritik  den  objektiven  Beweis  dafür  er- 
blicken, dafs  unsere  Erkenntnis  über  die  Grenzen  der  Erfahrung 
nicht  hinausreicht.  Und  doch  hat  Kant  seihst  von  seinem  trans- 
cendentalen  Idealismus  gesagt,  er  sei  „lediglich  dazu,  um  die  Mög- 
lichkeit unserer  Erkenntnis  a  priori  von  Gegenständen  der  Erfah- 
rung zu  begreifen,  welches  ein  Problem  ist,  das  bisher  noch  nicht 
aufgelöset,  ja,  nicht  einmal  aufgeworfen  worden"  (I\'.  \2:\).  Nur 
die  Möglichkeit  der  synthetischen  Erkenntnis  a  priori  (d.  h.  der 
apodikt'ischen   Erkenntnis)   war  „die  eigentliche  Aulgabe,   auf  deren 


*)   V  a  i  h  i  11  «j:  e  r :   Commentar  308. 


*)    .lacoh:     a.    a.    O.    '-'<;.     Vgl.    hierül)er    Vai  hinger:    Cominentar    II. 
J4o.  ;]18 


I»; 


218 


B.    Kant  als   Naturphilosoph. 


Auflösun*,'  das  Scliicksul  der  iMetjipliysik   i^änzlicli    beruht,   uml   wo- 
rauf  meine    Kritik    ^uiiz    und    ^^ir    hinauslief.      Der  Idealismus  war 
nur  das    einzifje  Mittel,  jene  Auf<,^al)e  aul/uKisen"   (ebd.    l'^f)). 
Wie    getalirlicb    freilich    dieser  Standpunkt  sei,    der  die  Dinge 
für    l)l()rsf'    Erscheinun^^en,    die    Welt    fiii-    ein    ,.Spiel    unserer  Vor- 
stellun^^en*'   erklärte,     „die   am    Knde    blofs    auf  Hestimmun,i,'en    des 
inner»Mi  Sinnes   auslaufen.-'    darüber   seheint   sieh   Kant  selbst  nieht 
von  Anfang  an  völlig  klar  gewesen   zu  sein.     Zwar  hatte  vv  bereits 
in   der  ersten   Auflage  der  Vernunftkritik  gesagt:    „Es  folgt  natür- 
licher   Weise  aus  dem    Hegriffe    eiiHM-    F^rseheinung    überhaupt,    dafs 
ihr  etwas  entsprechen  müsse,   was  an   sich  n  i  c  h  t  E  r  s  che  i  n  u  ng 
ist.    weil    Erscheinung    nichts   für   sich    selbst    und  aufser  unserer 
Vorstellung    sein    kami,    mithin    wo    nicht    ein    beständiger    Zirkel 
herauskommen    soll,    das   \V^)rt   Erscheinung   sclion    eine    Beziehung 
auf  etwas  anzeigt,   dessen   unmittelbare  \^)rstellung  zwar  sinrdich  ist. 
was  aber  an  sich  selbst  auch  ohne  die  Heschatfenheit  unserer  Sinn- 
lichkeit etwas,  (1.  i.  ein   von  d  er  S  i  n  n  1  i  ch  kei  t  unabhängiger 
Gegenstand  sein  mufs"   (IIL  LMS).      „Die  nichtsinnliche  Ursache 
unserer  Vorstellungen  ist  uns   fränzlich  unbekannt,   und  diese  können 
w^ir   daher   nicht  als  Objekt  anschauen  ;   denn  dei'gleichen  Gegenstand 
würde  weder  im  Räume,  noch  der  Zeit  (als  blofsen  Bedingungen  der 
sinnlichen    Vorstellung)  vorgestellt  werden   müssen,  ohne   welche  Be- 
dingungen  wir  uns  gar  keine  Anschauung  denken  können.     Indessen 
kiumen  wir  die  blofs  intelligible    Ursache  der   F^rscheinungen 
überhaupt  das  transcendentale  Objekt  nennen,   blofs  damit  wir  etwas 
haben,    was  der  Sinnlichkeit,    als  einer  Reze})tivität,   korrespondiert. 
Diesem  transcendentalen   Objekt  kiinnen   wir  allen   Umfang  und  Zu- 
sammenhang  unserer   Wahrnehmungen  zuschreiben   und  sagen:   dafs 
es  vor  aller   Erfahrung  an    sich   seihst  gegeben  sei.     Die 
Erscheinungen  al)er  sind   ihm   gemäfs  nicht  an  sich,   sondern   nur  in 
dieser   Erfahrung  gegeben,    weil    sie    blofse  Vorstellungen    sind,    die 
nur    als    Wahrnehmung(^n    einen    wirklichen    Gegenstand    bedeuten, 
wenn     nämlich     diese     Wiihrnehmung     mit    allen     andern     nach    den 
Regfdn    der    Erfahrungseinheit   zusammenhängt"    (.'MM).     Mit  dieser 
oti'enbaren    Anerkennung    des     Dinges    an    sich    als   transcendenten 
Hintergrundes    der     Erscheinungen     hatte  Kant    also    schon    in    der 
ersten  iVuflage  den   nihilistischen  K()nse([uenzen   seines  Standj)unktes 
vorzubeugen  gesucht       Kr  hatte  es  sich   nicht  einfadlen  lassen,    dafs 
man   ihn   trotzdem  des    Berkeleyanismus   beschuldigen   k()nnte.     A'ach 
Berkeley    waren    die    Vorstellungen    mit    den    wirklichen  Dnigen 
identisch,  und   es  gab  nichts  hinter  den  Vorstellungen.      Diese  iVn- 
schauungs weise   ihm   in   die  Schuhe  zu  schieben,   war  für  Kant  schon 


f)   i 


IL  Die  kritische  Xatur])hilosophie. 


219 


deshalb  ein  besonders  unangenehmer  Vorwurf,  weil  er  die  Unter- 
stellung des  Skeptizisnms  in  sich  schlofs.  dem  Kant  durch  seinen 
ganzen  kritischen  Standpunkt  ja  gerade  hatte  entgehen  wollen. 
Hätte  die  Annahme  von  Dingen  an  sich  hinter  den  Erscheinungen, 
worauf  eben  der  grofse  Unterschied  zwischen  ihm  und  R(>rkeley 
beruhte,  nicht  gar  so  schlecht  in  sein  eigenes  System  hinein- 
gepafst,  so  hätte  er  sich  gegen  jenen  Vorwurf  wohl  am  besten 
dadurch  schützen  köumen,  dafs  er  sie  noch  energischer  heraus- 
gearbeitet und  sie  mit  Nachdruck  gegen  Berkeley  hervorgehoben 
hätte.  Aber  Kant  mochte  wohl  selbst  von  der  Empfindung  nicht 
ganz  frei  sein,  wie  wenig  das  Ding  an  sich  mit  den  rationalistischen 
Grundvoraussetzungen  seines  Idealismus  harmonierte,  und  dafs  er 
allen  Grund  habe,  gegen  dasselbe  mifstrauisch  zu  sein,  wofern  es 
nicht  sein  ganzes  System  aus  den  Eugen  sprengen  sollte.  So  half 
er  sich  damit,  zunächst  in  den  Prolegomen  gegen  den  Vorwurf 
eines  Idealismus,  wie  des  berkeleyschen,  sich  ganz  entschieden  zu 
verwahren. 

„Der  Idealismus,"  sagt  er  hier,  „besteht  in  der  Behauptung, 
dafs  es  keine  anderen  als  denkende  Wesen  gebe,  die  übriiren  Dinge, 
die  wir  in  der  Anschauuni;  wahrzunehmen  glauben,  wären  nur  Vor- 
Stellungen  in  den  denkenden  Wesen,  denen  in  der  That  kein  aufser- 
halb  diesen  belindlicher  Gegenstand  korrespondierte.  Ich  dagegen 
sage:  es  sind  uns  Dinge,  als  aufser  uns  befindliche 
Gegenstände  un  s  er  er  Sinne  .  gegeben,  allein  von  dem,  was 
sie  an  sich  selbst  sein  nn'igen,  wissen  wir  nichts,  sondern  kennen 
nur  ihre  Erscheinungen,  d.  i.  Vorstellungen,  die  sie  in  uns  wirken, 
indem  sie  unsere  Sinne  afhzieren.  Demnach  gestehe  ich 
allerdings,  dafs  es  aufser  uns  Körper  gebe,  d.  i.  Dinge, 
die,  ol)zwar  nach  dem.  was  sie  an  sich  selbst  sein  möiren.  ims  gänz- 
lich unbekannt,  wir  durch  die  Vorstellungen  kennen,  welche  ihi- 
Einilufs  auf  unsere  Sinnlichkeit  uns  verschalt.  mn\  denen  wir  die 
Benennung  eines  Köipers  geben,  welches  Wort  also  blofs  die  Er- 
scheinung jenes  uns  unbekannten,  aber  nichts  desto  weniq-er 
wirklichen  Gegenstandes  bedeutet.  Kann  man  dieses  wohl 
Idealismus  nennen?  Es  ist  ja  gerade  das  Gegenteil  davon"  (1\'.  o7). 
„So  wenig,  wie  der,  so  die  Farben  nicht  als  Eigenschaften,  die  dem 
Objekt  an  sich  selbst,  sondern  nui-  dem  Sinn  des  Sehens  als  Modi- 
tikationen  anhängen,  will  gelten  lassen,  darum  ein  Idealist  heiisen 
kann,  so  wenig  kann  mein  Lehrbegriff  idealistisch  heifsen.  blofs 
deshalb,  weil  ich  finde,  dafs  noch  mehr,  ja,  alle  Eigenschalten,  die 
die  Anschauung  eines  Körpers  ausmachen,  blols  zu  seiner  Erschei- 
nung   gehören;    denn    die     Existenz     des    Dinges,     was    er- 


i  - 

Nf 


9')() 


ß.    Kant  als   Xaturj)hilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


221 


!1 


scheint,  wird  dadurch  nicht,  wie  heim  wirklichen 
Idealismus,  Ji  u  f  f]^eh  oh  e  n  .  sondern  nur  i^^ezeigt.  dal's  wir  es, 
wie  es  an  sich  seihst  sei,  durch  Sinne  gar  nicht  erkennen  können" 
(38).  Daher  fährt  Kant  seine  Rezensenten  hart  an  und  fügt  er  dem 
Anhange  zu  seinen  Prolegomenen  sogar  die  „Prohe"  eines  Urteils 
von  Seiten  eines  solchen  hei.  der  ihm  den  Vorwurf  des  Idealismus 
gemacht  hat,  ohne  den  eigentlichen  Sinn  seiner  Lehre  verst:inden 
zu  hahen.  „Denn  dafs  ich  seihst  dieser  meiner  Theorie  den  Namen 
eines  transcendentalen  Idealismus  gegehen  hal)e.  kann  keinen  be- 
rechtigen, ihn  mit  dem  empirischen  Idealismus  des  Gart  es  oder 
mit  (hun  mystischen  und  schwärmerischen  des  Berkeley  (wowider 
und  andere  ähnliclie  Hirngespinnste  unsere  Kritik  vielmelir  das 
eigentliclie  Gegenmittel  enthält)  zu  verwechseln.  Denn  dieser 
von  mir  sogenannte  Idealismus  betraf  nicht  die  Pl\istenz  der  Sachen 
(die  Bezweiflung  derselben  aber  macht  eigentlich  den  Idealismus  in 
rezipierter  Bedeutung  aus),  d  e  n  n  d  i  e  z  u  h  e  zweifeln  ist  mir 
niemals  in  den  Sinn  gekommen,  sondern  hh)fs  die  sinnliche 
Vorstellung  der  Sachen"  (41  f.).  So  ungereimt  es  nändich  ist,  ein 
Ding  nach  seiner  Beschaffenheit,  wie  es  an  sich  selbst  ist.  erkennen 
zu  wollen,  so  würde  es  doch  ,.eine  noch  gröfsere  Ungereimtheit 
sein,  wenn  wir  gar  keine  Dinge  an  sich  sell)st  einräumen  wollten" 
(98).  „Der  Verstand,  eben  dadurch,  dafs  er  Erscheinungen  an- 
nimmt, gesteht  auch  das  Dasein  von  Dingen  an  sich  selbst  zu,  und 
sofern  können  wir  sagtMi.  dafs  die  Vorstellung  solclier  Wesen,  die 
den  Erscheinungen  zu  (irunde  liegen,  nicht  allein  zulässig, 
sondern  auch  unvermeidlich  sei"  (()^^).  flener  Idealismus, 
der  wirkliche  Sachen  (nicht  Erscheinungen)  in  blofse  Vorstellungen 
verwandelt,  ist  „ein  in  der  That  verwerflicher  Idealismus"  :  man 
könnte  ihn  den  träumenden  Idealismus  nennen,  im  Gegensatz  zu 
welchem  Kant  seinen  sonst  sogenannten  transcendentalen  Irh^alismus 
„hesser"  als  kritischen  Idealismus  bezeichnet  haben  will  (4'2). 
Nach  diesen  und  ähnlichen  Aufserungen  in  den  Piolegomenen, 
auf  die  er  sich  nun  fortan  l)erufen  konnte,  glaubte  Kant  von  einer 
stärkeren  Betonung  des  Dinges  an  sich  in  der  zweiten  x^uflage  der 
Verimnftkritik  um  so  lieher  absehen  zu  dürfen,  als  ja  diese  An- 
nahme, aus  dem  Mittelpunkte  des  Systems  lieraus  betrachtet,  eigent- 
lich als  störendes  Beiwerk  erschien.  So  begnügte  er  sich  damit, 
in  der  Vorrede  zur  zweiten  Auflage  ein  für  allemal  darauf  hin- 
zuweisen, dafs,  wenn  auch  unsere  ganze  Erkenntnis  sich  nur  auf 
Gegenstände  möglicher  Erfahrung  hezöge,  gleichwohl  dabei  doch 
immer  vorbehalten  bliebe:  „dafs  wir  ebendieselben  Gegenstände  auch 
als    Dinge    an    sich    seihst,    wenngleich    nicht    erkennen,    doch 


1^    ■ 


wenigstens  müssen  denken  können.  Denn  sonst  würde  der  un- 
gereimte Satz  daraus  folgen,  dafs  Erscheinung  ohne  etwas  wäre, 
was  da  erscheint"  (III.  2.)).  d.  h.  es  wäre  die  ganze  Welt  nicht 
Erscheinung,  sondern  l)lofser  S  c  h  e  i  n.  Damit  hatte  er  denn 
freie  Hand  bekommen,  im  Übrigen  das  Ding  an  sich  mehr  zurück- 
treten zu  lassen,  um  so  wenigstens  die  allzu  groben  AVidersprüche 
der  ersten  Aullage  zu  verschleiern,  wofern  man  nicht  etwa  in  der 
neu  hinzugekommenen  „Widerlegung  des  Idealismus"  einen  weiteren 
Schritt  Kants  zum  Realismus  erblicken  will,  der  aber,  wie  wir  dies 
bereits  früher  gesehen  haben,  in  seiner  schillernden  Zweideutigkeit 
so  wunderlicli  ausgefallen  ist,  dafs  er  ganz  ebenso  gut  auch  von 
den   Idealisten  in  ihrem  Interesse  ausgebeutet  w^erden  kann. 

Thatsächlicli  spielt  das  Ding  an  sich  bei  Kant  eine  hr)chst 
unglückliche  Rolle:  es  darf  nach  den  Voraussetzungen  der  Kritik 
nicht  existieren,  schon  deshalb  nicht,  weil  es  die  uns  affizierende 
Ursache  der  Sinnlichkeit  sein  soll,  das  Kausalverhältnis  aber  nur 
Geltung  im  Hewufstsein  hat.  und  ist  doch  auf  der  andern  Seite 
wiederum  ganz  unentbehrlich,  um  überhaupt  den  Erkenntnisprozefs 
verstäiullich  zu  machen.  So  taucht  es  immer  nur  sporadisch  dort 
auf,  wo  der  Idealismus  zu  Mifsverständnissen  führen  kiinnte.  um 
aber  sofort  wieder,  wie  in  einer  Versenkung,  zu  verschwiiulen,  so- 
bald die  logisclie  Gedankenentwickelung  auf  die  Bühne  tritt. 

Der  Grund,  warum  das  Ding  an  sich  zu  einer  so  schattenhaften 
Existenz  verdammt  ist,  liegt  darin,  dafs  es  eben  auch  nur  Hypo- 
these ist.  Apodiktisch  gewifs  ist  nur,  was  unmittelbar  in 
unserer  Erkenntnis  ist,  die  Anschauungsformen,  Kategorieen,  Grund- 
sätze u.  s.  w.,  das  ganze  auf  unserer  eigenen  subjektiven  Seite  be- 
lindliche  Material  der  Erkenntnis,  mittels  dessen  wir  diese  zustande 
bringen,  und  welches  wir,  indem  wir  mit  ihm  operieren,  zugleich 
besitzen.  Das  Ding  an  sich  jedoch  soll  ja  gerade  das  aufserhalb 
unserer  Subjektivität  Betindliche,  das  nicht  p]rkenntnismäfsige  sein, 
das  den  Prozefs  der  Erkenntnis  nur  anregt,  ohne  jedoch  in  den 
Inhalt  des  Bewufstseins  selbst  mit  einzugehen.  Eben  deshalb  steht 
es  auch  nicht  einmal  auf  einer  Stufe  mit  den  Ideen,  denen  doch 
w^enigstens  regulative  Bedeutung  zugeschrieben  wurde,  weil  es  dem 
Inhalt  der  F^rkenntnis  unmittelbar  nichts  hinzufügt.  Zwar  räumt 
Kant  ein,  die  Wahrscheiidichkeit  einer  Hypothese  könne  wachsen 
und  zu  einem  Analogon  der  Gewifsheit  werden,  „weim  nändich 
alle  Kolgen,  die  uns  bis  jetzt  vorgekommen  sind,  aus  dem  voraus- 
gesetzten Grunde  sich  erklären  lassen.  Denn  in  einem  solchen  Falle 
ist  kein  Grund  da,  warum  wir  nicht  annehmen  sollten,  dafs  sich 
daraus  alle  möglichen  Folgen  werden  erklären  lassen.  .:AVir  ergeben 


I 


M 


222 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


Ulis  also  in  diesem  Falle  der  Hypothese,  als  wäre  sie  völlig  gewiis, 
obgleich  sie  es  nur  durch  Induktion  ist"  fVITT.  85).  Er  findet, 
,.dafs  unser  Gedanke  von  der  Beziehung  aller  Erkenntnis  auf  ihren 
Gegenstand  etwas  von  Notwendigkeit  hei  sich  1" ü  h  r  e . 
da  nämlich  dieser  als  dasjenige  angesehen  wird,  was  dawider  ist. 
dai's  unsere  Erkenntnisse  nicht  aufs  Geradewohl  oder  heliehig.  sondca^n 
a  priori  a  u  f  g  e  w  i  s  s  e  Weise  bestimmt  seien,  weil,  indem  sie  sich 
auf  einen  Gegenstand  beziehen  sollen,  sie  auch  notwendiger  Weise 
in  Beziehung  auf  diesen  unter  einander  übereinstimmen,  d.  i.  die- 
jenige Einheit  haben  müssen,  welche  den  Begriff  von  einem  (TCgen- 
stande  ausmacht"  (III.  oTO).  Dabei  kann  er  uiiter  dem  ..Gegen- 
stande*' nur  das  Ding  an  sich  verstehen,  wofern  m;in  nicht  Kant  die 
alberne  Tautologie  zuschreiben  will,  die  bestimmte  \\)rstellun,i(  des 
Gegenstandes  mache,  dafs  ebtMi  die  Vorstellung  desselben  bestimmt 
sei.*J     Die  Annalime  von  Dingen  an  sich  ist  also  eine  solche  not- 


*)  13ieit'iii<j:eii  Kriritianer,  wolche  diese  Stelle  so  interpretieren,  krhinen  sich 
zwar  mit  Recht  darauf  herufen,  diils  Kant  das  Wort  Geij^enstand  im  alljjfemeinen  in 
immanentem  Sinne  als  Gefjenstand  in  der  Erscheinung-  ( V%irstellung)  versteht 
(340).  Sie  übersehen  jedoch,  wie  derselbe  bei  seinem  schwankenden  Sprach- 
gebrauche  nicht  selten  das  Wort  auch  in  transcendentem  Sinne  anwendet  fvj^l. 
seine  hiiuli<^e  Identitizierutif^  von  Gepfenstand  und  Objekt,  Objekt  und  Oino;-  an 
sich,  transcendent  und  transcendental  u.  s.  w  ).  Oder  wie  ander.s  konnte  Kant 
l)ehaupten,  es  sei  der  „Cre^enstand",  welclier  das  (iremüt  auf"  «gewisse  Weis»» 
affizierey  (öf)).  Soll  liier  mit  dem  „Geji^enstande"  das  Vorstellunj^fsobjekt  fje- 
meint  sein?  Aber  dies  ist  ja  nach  der  pranzen  Lehre  der  Vernunft i<ritik  ein 
Produkt,  eine  Kombination,  eine  Synthese^  aus  der  ^laterie  der  Anschauunjj:  und 
der  fornnerenden  Thäti*j^keit  des  Verstandes,  die  auf  die  Anregunji;'  des  Gemüts 
hin  erst  ins  Spiel  tritt,  kann  also  nitdit  selbst  wiederum  die  Ursache  dieser 
Anrey:un<jf  sein.  Ist  es  doch  nach  Kants  eiji^enen  Worten  <x:\n/.  selbstverstiindliidi. 
„dafs  die  Vorstellunj^fcn  äufserer  Gej^enstände  (die  Erscheinune^en)  nicht  äufsere 
IJ^rsachen  der  Vorstellungen  in  unserm  Gemüte  sein  kclnnen";  ein  solcher  Ge- 
danke ist  „tr^inz  sinnenleer,"  „weil  es  niemandem  einfaHen  wird,  das,  was  er 
einmal  als  blofse  Vorstellung  anerkannt  hat,  für  eine  äufsere  Ursache  zu  halten" 
(t>10)-  Er  konnte  freilich  niclit  ahnen,  dafs  eingetleischte  Aidiiinger  seiner  Lehre» 
ihm  diese  Ingereimtlnut  noch  einmal  als  seine  eiorentliche  i^Ieinunnf  andichten 
würden,  blofs  um  der  Annahme  von  Dingen  an  sich  zu  entgelien.  Er  glaubte 
sich  vor  dieser  , gänzlichen  Verkennung  des  wahren  Sinnes  der  Kritik''  ge- 
nügend sicher,  nachdem  er  zu  guter  letzt  noch  in  seiner  Abhandlung  ,,  L  b  e  r 
eine  Entdeckung,  nach  der  alle  neue  Kritik  der  reinen  Vernunft 
durch  eine  ältere  en  t  b  eh  rl  ich  g  em  ac  ht  w  erd  e  n  sol  1"  (  l79o)  auf  E  b  e  r- 
hards  Einwürfe  mit  den  Worten  geantwortet  hatte:  „Nachdem  er  (E  be  rh  a  ril  i 
gesagt  hat:  „Wer  (was)  giebt  d(»r  Sinnlichkeit  ihren  Stoft,  nämlich  die  Em- 
pfindungen?" so  glaubt  er  wider  die  Kritik  abgesi)rochen  zu  haben,  indem  er 
sagt:  „wir  mcigen  wählen,  w^elches  wir  wollen,  so  kommen  wir  auf  Dinge  au 
sich."  Nun  ist  ja  das  eben  die  beständige  Behauptung  der  Kritik;  nur 
dafs  sie  diesen  Grund  des  Stoffes  sinnlicher  Vorstellungen  nicht  selbst  wiederum 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


22S 


in  Dingen,  als  Gegenständen  der  Sinne,  sondern  in  etwas  Übersinidichem  setzt, 
was  jenen  zu  Grunde  liegt,  und  wovon  wir  keine  Erkenntnis  haben  können! 
Sie  sagt:   die  Gegenstände  als  Dinge  an   sicli  geben    den  Stoff  zu  emi^irischen 
Anschauungen  (sie  enthalten  den  Grund,  das  Vorstellungsvermögen  seiner  Sinn- 
lichkeit gemäfs  zu  bestimmen),  aber  sie  sind  nicht  der  Stoff  dieselben  (VL.Sll. 
Angesiclits  dieser  und  der  übrigen  oben  angeführten  Äufserungen  Kants,  die 
gar  nicht   mifszuverstehen    sind,    ist    es  mir   einfach    unverständlich,    wie  Albr. 
Krause  in  seiner  „Poi)ulären  Darstellungr  von  Im.  Kants  Kritik  d. 
r.    Vernunft"   (KS81)  leugnen  kann,  dnfs  Kant  Dinge  an  sich,  als  reale  trans- 
cendente  Ursachen  unserer  Vorstellungen,   angenommen  habe.     Für  Krause  ist 
das   Ding  an   t;ich  nur  ein  „Gedankengebilde"  von  uns,  noch  dazu  ein  blofs  ver- 
neinendes (a.  a  O:i05).    Es  ist  blofs  mein  „Gedanke  von  einer  Ursache,  welcher 
den  roten  Schrank   einen  roten  Schrank   sein  läfst,   sodafs   dieser    rote  Schrank 
mich  bestimmt,  rot  und  nicht  gell).    Schrank  und  nicht  Stuhl   zu    sehen"  (JOb). 
„Nicht    das    Ding    an    sich    ist    die  Ursache,    dafs    ich    diesen   (Gegenstand    sehe, 
sondern  der  wahrgenommene  Gegenstand    ist    es.     Die   Dinge    an    sich    machen 
nicht,    dafs  Etwas  rot  und  leuchtend  ist,   sondern   die  Gegenstände,    die  Sonne 
oder  das  Gold  z.   B.  bewirken    dies"   (ebd.).     „Die  gedachte  Ursache    ist  das 
Ding  an  sich,  die  wahrgenommene  Ursache  der  Gegenstand.     Der  Gedanke(!) 
eines  Tisches  an  sich  wäre  die   Ursache  (?),  dafs  ich   an  <lieser  Stelle,  wenn   ich 
sehe,  einen  Tisch   und  keinen  Stein   sehe.     Der  w  a  h  rge  n  ommene  Gegenstand 
„Tisch"  ist  die  Ursache,  dafs  ich  hier  etwas  Haites,  Viereckiges,  Rotes  u.  s   w. 
sehe.     Wenn  man  diesen  Unterschied,"   sacrt  Krause,   „erst  begriflen  hat.   wird 
man  den  Gedanken  eines  Dinges  an  sich  nie  melir  in  der  Wissenschaft  der  Er- 
fahrung verwerten   und  auch  niclit  mein-  zweifeln,  dafs  wir  die  Gecrenstände 
an   sich   se  1 1)  st  e  r  ke  n  n  e  n  k  ö  n  nen  ,  sowie  sie  sind,  a  1  s  Gegenstände  , 
auch     wenn    sie    uns    im    Augenldicke    nicht   gegenüberstehen    und 
Emi)findung  erregen"   (111  f.).     Das  ist  ofi'enbar  ein  Kealisnms.  d<"r  daiuuk 
nicht   weniger  naiV   ist,    weil    er   in  ein  scheinljiir  idealistisches  Gewand   gehüllt 
ist.     Es    ist   die    i)hilosophische  Sanktion  jener    unreflektierten   Weltanschauung, 
die  den   sinnlichen  Stoff,   so  wie  sie  ihn  wahrnimnit.   für  real   hält,   weil   sie  sich 
mit    den)   Koj)f   an   ihm    stöfst.     Als    ob   es    nicht    gerade    die  Aufgabe    der  Er- 
kenntnistheorie  wäre,   diesen   Irrtum   zu    heben    und    das   naive   Denken    über  den 
Unterschied  des  Gegenstandes  und  seiner  N'orstellung  im  Bewufstsein,  des  wirk- 
lichen und   des  wahrgenommenen  Gegenstandes  aufzuklären!      Als  ob  m"cht   schon 
Locke  und  Descartes  gelehrt  und  die  moiierne  Bhysik  u!ui  Sinnes])hysiologie 
seit  .lohannes   ]\lüller    es  ex})eriment(>ll   bewiesen  hätte,    dafs  wenigstens  die 
sinnlichen   (Qualitäten   (Kaiben,   Tr»ne,  Gerüche  u.  s.  w.)  blofs  subjektive  Zuthaten 
zu    dem    Erkeniitnisstofte    sind,     welche     den     (Tcgenständen    selbst    nicht     an- 
haftenl      Hat   Kant    nichts  Andei'es  als  einen   derartigt-n    ins   Idealistische   ,.uni- 
j?ekrem])elten  naiven  Realismus"  o-('](>]nt.  Wdiün  l)esteht  dann  noch  sein  j)iin/,ipi(dler 
Fortschritt  über  Ber  keley  hinaus ;  oder  ist   seine  höchst  anfechtbare  Darlegunir 
des  Erkenntnisprozesses  als  solche  schon  eine  so  ungeheure  'l'hat.  dafs  sie    ihni 
allein    den    Vorrang   vor    allen    andern    Philosophen    sichert?     Jene    Aiih;tn;ier 
Kants,    die  noch  sogar  Ans])ruch    darauf    erheben,    allein    di(^    echte  Lehre  des 
Königsberger  Weisen   zu   vertreten,   und  dabei   in  ihrem  transcendentah'ii  Idealis- 
mus so  weit   gehen,  dafs  sie  sogar  seinetwegen   in  den  naiven  Realismus  zurück- 
fallen,  bemerken  gar  nicht,  wit^  sehr  sie  damit   niemand  anders  herabsetzen   als 
gerade    Kant.     Könnte  er  es,  er  würde  ihnen   mit  Recht  zurufen  :   ,.G(»tt  schütze 
mich  vor  meinen  Freunden!" 


901 


ß.    Kant  als  Xaturj^hilosoitli. 


IL  Die  kritische  Naturi)hilosophie. 


005 


I 


wen  d  i  g  e  Hypotliesc,  ohnr  welche  die  iiiilieiv  Bestimmtheit  der  Er- 
scheinungswelt ein  Rätsel  bleil)t.  Trotzdem  kann  sich  Kant  nicht  ent- 
schliel'sen.  dem  Ding  nn  sich  mehr  als  ein  bescheidenes  Plätzchen 
aulserhalh  der  Schranken  des  Systems  einzur.äiimen.  hlofs  weil  es  nicht 
a  priori  und  folglich  nicht  nnt  apodiktischer  Gewifsheit,  sondern 
nur  a  posteriori  durch  Induktion  gewonnen  und  damit  ancli  nicht 
würdig  ist.  in  das  geweihte  Heiligtum  der  Metaphysik  aufgenommen 
zu  werden.  Diesen  Hochmut  (h^s  Kationalismus  allen  Annahmen 
von  hlofs  hypothetischem  Werte  gegenüber  und  gleichsam  rliesen 
aristokratischen  Zug  gegenüber  dem  ,.  Pöbel  der  gemeinen  Erfahrung-' 
und  der  Induktion,  welcher  durch  die  ganze  rationalistische  Plnlo- 
sophie  hindurchgeht,  mufste  Kant  teuer  genug  durch  den  fort- 
währenden Ärger  bezahlen,  den  ihm  der  Vorwurf  des  Skeptizismus 
bereitet  hat.  Er  hat  ihm  eigentlich  nichts  entgegen  zu  setzen,  denn 
die  Prinzii)ien  seines  Kritizismus  versagen  diesem  Einwand  gegen- 
über, und  doch  kann  er  ihn  keim^sfalls  gelten  lassen,  ohne  di'n 
Boden  aufzugeben,  worin  sein  ganzes  System  doch  schliefslich 
wurzelt.  Daher  der  heftige,  beinahe  lei(hMischaftliche  Zug.  der 
fast  in  allen  seinen  Äufserungen  über  das  Ding  an  sich  hervortritt: 
man  glaubt  iormlicii  die  Erbitterung  Kants  herauszuln'iren.  den  In- 
grimm eines  Löwen,  den  eine  gaffende  Menge  foi)pt.  und  welcher 
doch  aufser  stände  ist,  sich  auf  sie  zu  stürzen,  weil  ihn  die  Eisenstäbe 
seines  Käfigs  daran  hind(Mn.   — 

Wie  steht  es  denn  nun  um  die  Gewifsheit  derjenigen  Erkenntnis, 
die  Kant  für  würdig  gehalten  hat.  metaphysisch  genannt  zu  werden? 
Dafs  die  sogenannten  Grundsiitze  des  reinen  Verstandes  keineswegs 
sämtlich  synthetische  Urteile  a  priori,  sondern  zum  Teil  analytisch 
und  daher  zwar  unmittelbar  gewifs,  aber  auch  .jr-inzlich  nichtssagend 
sind,  zum  Teil,  wie  das  Prinzip  der  Antizii)ationen  der  Wahrneh- 
mung, aposteriorisch  und  also  blofs  hypothetisch  sind,  dies  haben 
wir  früher  bereits  gesehen.  Aber  dafs  auch  die  Anschauungsformen, 
was  ihren  logischen  Geltungswert  betrifft,  auf  apodiktische  Gewifs- 
heit keinen  Anspruch  machen  kihmen.  darauf  hat  schon  Pistorius 
in  seiner  Entgegnung  auf  die  oben  erwähnte  Zurückweisung  aller 
Hypothesen  von  seiten  Jacobs  hingewiesen:  ,,Wenii  Jacob  (gegen 
die  Annahme  der  Konformität  von  Sein  und  Denken)  sagt,  dafs  er 
schon  darum  keine  Rücksicht  darauf  nehmen  klmne,  weil  es  eine 
Hyi)0these  sei,  so  kömmt  es  mir  sehr  sonderbar  vor,  wie  er  sich 
überreden  könne,  dafs  seines  Lehrers  Gedanken  über  Kaum  und 
Zeit  e  t  w  as  m  e  h  r  a  1  s  H  y  p  0 1  h  e  s  e  s  e  i  e  n."*)    Kant  selbst  freilich 


*)   Vaihingen  a.  a.  0.  3lÖ. 


leugnet,    dafs    seine  Lehre  blofs    eine    „scheinbare  Hypothese^'    sei, 
die    „einige  Gunst  erwerl)e",   und  hält  sie    für    „so  gewifs    und  un- 
zweifelhaft",   als  jemals  von  einer  Theorie  gefordert  werden    könne, 
welche    zum  Organon    dienen    soll    (74.    10.  21).     Indessen  beweist 
schon  die   ganze  Art  und  Weise,    wie  er   zu  seiner  Lehre  von   den 
Anschauungsformen  gekomnnui  ist,   sein  anfangs  so  unsicheres  Hin- 
und  Hertasten  und  Probieren,   dafs  es  sich  nur  um  eine  hypothetische 
Annahme  handelt,  um  insbesondere  die  ]\Iögliclikeit  der  reinen  und 
angewandten  Mathematik  zu  erklären.     Wäre  die  ai)ri()rische  Natur 
von  Kaum  und  Zeit,  als  blofs  subjektiver  Anschauungsformen,  wirklich 
eine  Theorie  von  so  zweifelloser  Gewifsheit,   wie  Kant  es  darzustellen 
sucht,  hätte  sie  dann  nicht  unmittelbar  so  allgemeine  Geltung  sich 
er\verben  müssen,    wie    etwa   die  mathematischen  Axiome    oder   der 
Satz  des   Widerspruchs,  an  deren  AVahrheit  ein  normal  veranlagter 
Mensch    nicht    zweifeln  kann,    sobald    er  sie    sich    nur   einmal    zum 
Bewufstsein  gebracht  hat?     Bekanntlich  steht  es  aber  schlimm   um 
die    Aufnahme,    welche    eben    diese    Theorie    gefunden    hat;    bildet 
doch  die  transcendentale  Ästhetik  gerade  einen  der  am  meisten  und 
am   heftigsten  angefeindeten  Bestandteile  des   kantischen  Systems.*) 
Aber  auch  die  transcendentale  iVnalytik  Kants  wird  schwerlich 
wohl  Anspruch  auf  apodiktische  Gewifsheit  machen  können.     Es  ist 
bekanntlich  eine  alte  Streitfrage,  ob  Kant  überhaupt  den  apriorischen 
Bestandteil  unserer  Erkenntnis  auf  induktivem  Wege  durch  psycho- 
logische Selbstbeobachtung    und  lieilexion,   d.    h.    a   posteriori,    oder 
selbst  wiederum  a  pi'iori  gefunden  luibe,  eine  Präge,  die   unter  den 
Neueren    am    Eingehendsten    von    J.    B.    Meyer    behandelt   ist.*) 
Wenn  Kant  seinen  Anspruch   auf  a])0(liktische   Erkenntnis  aufrecht 
erhalten  wollte,    so  mufste    er  natürlich    auch    bei    den  Kategorieen 
darauf  bestehen,    dafs    sie  nicht  a  posteriori,    in  welchem    Falle    sie 
blofs    hypothetische  Geltung    gehabt    hätten,    sondern    a  ])riori  von 
ihm  gew^onnen   seien.      Nicht    ids  ob  eine  aposteriorische  Erkenntnis 
von  ihnen  ganz  unmöglich    wäre:   im  Gegentiul !    ,.  Ein  solches  Nach- 
spüren   der    ersten    Bestrebungen    unserer   Erkenntniskraft,    um  von 
einzelnen  Wahrnehmungen  zu  allgemeinen    Hcgrilfen  zu  steigen,   hat 
ohne  Zweifel  seinen  grofsen  Nutzen,   und  man  hat  es  dem  berühmten 
Locke  zu  verdanken,    dafs  er  dazu    zuerst   den  AVeg  eniffnet  hat. 
Allein  eine   Deduktion  der  reinen  Begriffe  a  ])riori  kommt  dadurch 
niemals    zustande,    denn    sie    liegt  ganz    und  gar    nicht  auf  diesem 


*)  Vj?].    meine   Dissertation:    Die  Lehre   von  Raiini    u.  Zcif    in    der   nach- 
kantisehen   ]'hil()S(.})liie  (Halle   18ö9). 

**)  J.  B.  Meyer:  Kants  Psychologie  (lö79j. 

Drew.s,  Knuts  Xatiiriiliilosophie.  15 


•a-. 


226 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


227 


hl 


l'l 


AVege,  weil  in  Ansehung  ihres  künftigen  Gehniudis.  der  von  der 
Erfalirung  giinzlich  unabliiingig  sein  solL  sie  einen  ganz  anderen 
Geburtsbrief  als  den  d(>r  Abstanmning  von  Erfahrungen  müssen 
aufzuzeigen  hal)en.  Es  ist  also  klar,  dafs  von  diesen  allein  es  eine 
transcendentale  Deduk  tion  und  keineswegs  eine  empirische 
geben  kiinne,  und  dafs  letztere  in  Ansehung  der  reinen  Bei]:riife 
a  priori  nichts  als  eitle  Versuche  sind,  womit  sich  nur  derjenige 
beschäftigen  kann,  welcher  die  ganz  eigentündiche  >.'atur  dieser 
Erkenntnisse  nicht  l)t'griffen   hat*'   (IIl.    107  f.)- 

Diese    J^ehauptung,    die    Kategorieen    selbst    auf    a])rii)risciiem 
A\'ege  gewonnen  zu  haben,  kontrastiert  nun  freilich  ebenfalls  in  der 
eigentümlichsten   Weise    mit    der  ganzen    P^ntstehung    der  Yernunft- 
kritik.    Man  bedenke  (h)c]i.   wie  spät  Kant  erst  zu  seiner  Hntdeckung 
der  apriorischen  Natur  der  Kategorieen  gekommen  ist,   wie  hinge  er 
über  ihre  Zahl    und  ihre    nähere  Bedeutung  mit    sich    im   Unklaren 
gewesen    und  wie  vielerh'i   Versuche    er   angestellt  hat,    ehe  es  ihm 
gelang,    unter    der    grol'sen   Anzahl  von    mr)glichen  Kategorieen  die 
riclitigen   herauszufinden   und    das  wurzelhafte  Trinzip  seinei-  reinen 
Verstandesbegriffe    zu    entdecken.*)     Und    wenn    vv   schliefslich    zur 
Ableitung  seiner  Kategorieentafcl   sich  auf  die  UrtcMlsformen  stützte, 
wie  sie  die  dannüige  Logik  vorzutragen  i)lh'gte,  war  das  etwa   keine 
Ableitung  aus  der  Erfahrung,  un<l  konnte  man  eine  scdcla^  p]rkenntnis 
apri(»riseh  nennen?     Hat  doch  Kant  selbst  m   der  Vorrede  zu  seinen 
Prolegomenen,  die  durch  ihre  induktive  (analytische)  DarsteHungsart 
das  Verstiindnis  der  Vernunftkritik    erleichtcin   s(dlten,    sich  in  der 
unzweideutigsten     Weise    darüber    ausges])rochen,    wie    er    nur    auf 
induktivem   Wege  zu  seinem   liesultat  gekomm(ai  ist.     ,.Ich  gestehe 
frei:  die  Erinnerung  des  David   Hume  war  eben  dasjenigen,  was 
mir    vor  vielen  Jahren    zuerst    den  dogmatischen  Schlummer  unter- 
l)rach     und     meinen     Untersuchungen     im     Vi'ldc     der     s])ekulativen 
]*hiloso])hie  eine  ganz  andere  Kichtung  gab.     Ich   versuchte  zu- 
erst,   ob    sich  nicht  Humes  Einwurf   allgemein   vorstellen    liefse, 
und  fand   bald,   dafs  der  Begriif  der  Verknüpfung  von  Ursache  und 
Wirkung  bei  weitem  nicht  der  einzige  sei.  durch  den  der  Verst;ind 
a  priori  sich  Verknüpfungen  der  Dinge  denkt,   vielmehr  dafs  .Aleta- 
})liysik  ganz  und  gar  daraus  bestehe.     Ich   suchte  mich   ihrer  Zahl 
zu   versichern,   und  (hi  dieses  mir  nach  Wunsch,   näiidich  aus  einem 
einzigen  Prinzip,  gelungen  war,  so  ging  icii  an  die  Deduktion 
dieser  Begriffe,    von    denen    ich    nunmehr  versichert  war.    dafs 
sie  nicht,   wie  Hume  besorgt  hatte,    von  der   Erfahrung  abgeleitet. 


sondern  aus  dem  reinen  Verstände  ents] »rangen  seien-'  (TV.  S).  Also 
zunächst  Auffindung  und  dann  erst  Ableitung  der  Kategorieen,  erst 
Induktion  und  dann  Deduktion!  Danach  sieht  es  um  den  aj)odik- 
tischen  Charakter  der  Kategorieenlehre  denn  freilich  nur  recht 
mifslich  aus.  Vermag  doch  auch  J.  B.  Meyer,  obwohl  er  mit 
Kant  in  den  Prinzi])ienfragen  ül)ereinstinimt,  an  die  apriorische 
>,'atur  ihrer  Erkenntnis  nicht  zu  glau])en.*) 

Und  wie  steht  es  nun  mit  der  api-iorischen  Ableitung  der 
Kategorieen  oder  der  ,.tr anscenden talen  Deduktion''  der 
letzteren  selbst?  Nach  seiner  ausdi'ückliclien  Definition  in  den 
J*rolegomenen,  wodurch  Kant  das  Wort  vor  Mil'sdeutungen  seiner 
]{ezensenten  schützen  will,  bedeutet  transcendental  ,,nicht  etwas, 
das  über  alle  Rrfahrung  hinausgeht  fwie  das  Wort:  transcendent, 
das  er  leider  stdhst  oft  genug  mit  ihm  verwechselt),  sondeiii  was 
vor  ihr  (a  jtriori)  zwar  vorhergeht,  aber  doch  zu  nichts  Mehreni 
bestimmt  ist,  als  lediglich  Krfahrungserkenntnis  möglich  zu  machen" 
(TV.  121).  Transcendental  ist  also  eine  Erkenntnis  insofern,  als  sie 
an  sich  zwar  subjektiv  oder  immanent  ist,  aljer  sich  gleichwohl  auf 
ein  Transcendentes  bezieht  und  <ladurch  den  Begriif  des  „trans- 
cendentalen  Objekts"  ermöglicht  (TTT.  217).  Tm  Hinblick  darauf, 
dafs  eben  dieses  transcendentale  (3l)jekt  ein  Tmmanentes.  blofse 
\  orstellung  ist  und  nur  den  subjektiven  liepräsentanteu  od'-r  (his 
vorstellungsmäfsige  Ivorrelat  des  transcendenten  Dini^es  an  sich  be- 
deutet, sagt  ]\ant  auch  mit  einer  allerdings  haeht  mifszuversteh*'iiden 
A\'endung,  das  A\'ort:  transcendental  zeige  bei  ihm  niemals  eine 
Beziehung  unserer  Ei'kenntnis  auf  Dinge,  sondern  nui'  aufs  Er- 
kenntnisvermög(m  an  (IV.  42).  A\'orauf  es  ankommt,  ist.  daf^  nicht 
dei"  Akt  unserer  Erkenntnis  als  solcher,  sondern  nur  der  aj)rionsche 
Gegenstand  derselbi-n  transcendental  genannt  wird.  Dtaii  entspi-jeht 
es,  wenn  Kant  in  der  ersten  Auflage  zur  Vernunttkritik  sagt:  ,.Ich 
nenne  alle  Erkenntnis  traiiscemh^ntal.  die  sich  nicht  sowohl  lait 
Gegenständen,  sondern  mit  unseren  Begriffen  a  2)riori  von  Gegen- 
ständen überbau] )i  beschäftigt.*'  Statt  dessen  ändert  Kant  in  der 
zweiten  Auflage  diesen  Ausdruck  dahin,  dafs  transcendental  die- 
jenige Erkenntnis  sei,  die  sich  „niit  unserei-  K  r  k  e  n  n  t  n  i  s  a  r  t  von 
Gegenständen,  sofern  diese  a  pi-iori  möglich  sein  soll, 
überhaupt  beschäftigt"'  (III.  if)),  und  in)erträgt  dann't  jenen  Begi'iflf 
vom  Ohjekt  der  J^rkenntnis  auf  den  Akt  unserer  Erkenntnis  sell)st, 
der  nunmehr  als  solcher  ein  apriorischer  sein  soll.    So  hatte  er  auch 


♦j   V<^1.  Ad  ick  es:   a.  a.  O. 


*)  J.  B.  Meyer:  n.  a.  0.   ir.Ofl. 
Erfalirung  (löZJj.     1<JS. 


Vir),  aueli  (/ohen:    Kants  Theorie  der 


Ib" 


.a. 


fr* 


228 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


schon  in  der  ersten  Auflage  gesagt^  „dal's  nicht  eine  jede  Erkenntnis 
a  ])riori,  sondern  nur  die,  dadurch  wir  erkennen,  dafs  und  wie  ge- 
wisse Vorstelhmgen  (Anschauungen  oder  Begriffe)  lediglich  a  priori 
angewandt  werden  oder  möglich  sind,  transcendeiital  ( d.  i.  die  Mög- 
lichkeit der  Erkenntnis  oder  der  Gebrauch  derselben  a  priori) 
heifsen  nn'isse.  Daher  ist  weder  der  llauni,  nocli  irgend  eine  geo- 
metrische Bestinrniung  desselben  a  priori  eine  transcend(Mitale  Vor- 
stellung ;  sondern  nur  die  (sc.  apriorische)  Erkenntnis,  dafs  diese 
Vorstellungen  gar  nicht  empirischen  Urs])rungs  seien  und  die  i\rög- 
lichkeit,  wie  sie  sich  gleichwohl  auf  Gegenstände  der  Erfahrung 
beziehen  könne,  kann  transcendental  heifsen*'  (8;")). 

Es  ist  klar,  dafs  hiermit  die  obige  Bedeutung  des  Wortes: 
transcendental  geradezu  in  ihr  Gegenteil  verkehrt  worden  ist;  nicht 
minder  klar,  dafs  eim,'  solche  apriorisclie  Erkenntnis  oder  das  a})rio- 
risciie  Bewufstsein  der  apriorischen  Natur  der  Kategorieen  nichts 
als  ein  hölzernes  Eisen  ist.  Wenn  die  Kategorieen  die  Erfahi'ung 
und  damit  unser  Bewufstsein.  das  doch  wohl  auch  mit  zur  Erfahrung 
gehört,  selbst  erst  möglich  machen,  so  können  sie  nicht  mit  diesem 
Bewufstsein  unmittelbar,  mitliin  auch  nicht  ai)riorisch  erkannt 
werden,  es  sei  denn,  dal's  man  sich  zu  der  logischen  Ungeheuerlich- 
keit versteigen  wollte,  die  Wirkung  könne  die  Ursache  ihrer  ei^^enen 
Ursache  oder  mit  ihrer  Ursache  selbst  identisch  sein !  Die  Kate- 
gorieen kömien  nur  durch  II  ü  ck  s(;  li  l  u  f  s  aus  der  Erfahruni? 
erkaiuit  werden:  so  kommt  es,  dafs  sie  in  unserem  Bewul'stsein  auch 
nur  abstrakte  H  e  g  r  i  f  f  e  sind,  wie  alle  unsere  aus  der  Erfahrung 
abgezogene  Erkenntnis.  Wären  die  Kategorieen,  soweit  wir  sie  in 
unserem  Bewufstsein  unmittelbar  besitzen,  wirklich  mit  jenen  intellek- 
tuellen Funktionen,  als  den  produktiven  Grundlagen  unserer  Er- 
kenntnis, identisch,  so  dürften  sie  keine  abstrakten  Bef^rilfc  sein,  weil 
sie  als  solche  nicht  produktiv  sein  könnten.  Unsere  Kategorieen 
sind  blofs  die  subjektiven  Re])räsentanten,  die  imninnenten  VorsteHungs- 
bikler  der  Kategorieen  an  sich,  die  selbst  transcendent  sind  und 
niemals  unmittelbar  in  den  Inhalt  unseres  Bewul'stseins  mit  eingehen. 

Die  Kategorieen,  als  produktive  Eunktionen,  sind  mithin  unl)ewurst, 
und  Kants  Bestreben,  sie  a  priori  abzuleiten,  schliefst  nichts  Geringeres 
als  den  Widerspruch  in  sich  ein  ,  mit  dem  Bewufstsein  zugleich 
hinter  der  Bühne  des  Bewul'stseins  zu  sein.*)  EreiHch  mufste  er 
die  Möglichkeit  hiervon  anerkennen,  weil  daran  allein  die  a})0(liktisclie 
Gewifsheit    hing.     „Der   Leser    mufs   von    der  unumgänglichen  Not- 


IT.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


229 


.H 


*)  v.    Hart  mann:    Kants    Erkenntnistheorie    u.    ^b^taphysik.      124 — 127, 
Vurl.  auch  2.) — 27. 


wendigkeit  einer  solchen  transcendentalen  Deduktion,    ehe    er  einen 
einzigen  Schritt  im  Felde  der  reinen  Vernunft  ^^ethaii  hat.   überzeugt 
werden,    weil  er  sonst  blind  verfährt  und.   nacliden]   er  manniirtaltig 
umhergeirrt  hat,   doch  wieder  zu  d  er  Un  w  i  sse  n  h  e  i  t  zurück- 
kehren   mufs,    von    der    er    ausgegangen  war"   (joil).      ßs 
begreift  sich  aber  jetzt,    warum  kein  Abschmtt    dei-  W^rnunl'tkritik 
dem  Philosoi)hen  nach  seiner  eigenen  Versicherung  soviel  i\Iühe  ge- 
macht hat,    wie    gerade    die  transcendentale  Deduktion    der    reinen 
Verstandesbegriife:   „das  Scliwerste.   das  jemals  zum  Behuf  der  ^Feta- 
physik  unternommen  werden  koimte-'  ([IT.   !).   TV.  S).    Mag  es  ihm. 
der  nach  seiner  Wanderung  durch  die  öden  Gelilde  des  Skeptizismus 
in    seiner  Dissertation    von    neuem   Hoffnun^^    geschöpft    hntte.    die 
Pfade  einer  transcendenten  ]\retaphysik  einschlagen  zu  kiumen.  nicht 
leicht  geworden  sein,    dieser  Hoffnung  auf  immer  zu    entsagen,    als 
er  auch    die  Kategorieen    auf  die   Erfahrung  einschränkte,    mag  es 
ihm    ])ers(»nlich    <lie     schwersten    Kämpfe    gekostet    haben,    zu     be- 
weisen,   wogegen  seine    innerste    liberzeuguuij:  sich  aufbäumte:    das 
eigentliche    sachliche  Hindernis    bei   dieser    ganzen  Arbeit  lag  doch 
darin,    dafs    sie    ein   Wassersch()j)fen  der    Danaiden  war.     Nui-    aus 
diesem  Grunde  war  die  Schwieri,c:keit  in   der  That   ,.unvermeidHch", 
derentwegen  Kant  bei  jenem  Abschnitt  seinen  Lesern  gegenüber  sicli 
glaubt    entschuhligen    zu   müssen,    weil    ,,die  Sache    selbst  tief  ein- 
gehüllt*'  sei  (10!).  \^^u).     Wäi-e  die  Darstellunir  d<M-  transcendentalen 
Deduktion  wc^niger  dunkel    und  inikLar  ausgefaUen.    als  sie  es  auch 
nacli   der  iränzliclien    UmarheituiiL!:  in   der  zweiten  Aulla^^e  dei-   \'er- 
nunftkritik  ist,  so  hätte  die  Thatsache  längst  allgemeiner  anerkannt 
sein  müssen,  wie  diese  ganze  J)eduktion  mir  durch  eine  Verweclisehing 
unseres   emj)irischen  Bewufstseins    von    den  Kategorieen    mit    einem 
apriorischen    oder    transcendentalen  Bewufstsein    derselben    zustanth' 
kommt. 

Erfahrung  ist  die  gesetzmäCsige  Verbindung  eines  Mannigfaltigen 
von  Vorste] lumpen  vermittelst  der  Kategorieen  und  eben  dadurch 
zu^^leich  objektive  Erkeinitnis  (IbS).  ..Das  Mamiiti^laltii^n'  dei-  Vor- 
stellungen kann  in  einer  Anschauung  begehen  werden,  (b'e  hlol's 
simdich.  d.  i.  m'chts  als  E  m  })  f  ä  n  ij^  1  i  c  h  k  o\t .  ist.  und  die  Form 
dieser  Anschauung  kann  a  priori  in  unserem  Vorstellun^^svermögen 
liegen,  ohne  doch  etwas  Anderes  als  die  Art  zu  sein,  wie  das  Sub- 
jekt affiziert  wird.  Allein  die  Vcr])indung  eines  Mannigfaltigen 
ül)erhaupt  kann  niemals  durch  Sinne  in  uns  kommen  und  kann  als<» 
auch  nicht  in  dei-  reinen  l^'orm  der  sinnlichen  Anschauun^^  zugleich 
mit  enthalten  sein  :  denn  sie  ist  ein  Aktus  de  r  S  p  o  n  t  a  n  e  i  tä  t 
der   Vorstellungen,    und  da  man    diese  zum   Unterschiede  von 


1  4 


2oO 


B.    Kant  als  Naturphilosopii. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


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der  Siimliclikeit  Verstand  nennen  niufs.  so  ist  alle  Verliindung.  es 
mag  eine  V^erbindung  des  Mannigfaltigen  der  Anschauung  oder 
mancherlei  Begriffe,  und  an  der  ersteren  der  sinnlichen  oder  nicht- 
sinnlichen  Anschauung  sein,  eine  Verstandeshandlung,  die^,wir  mit 
der  allgemeinen  Benennung  S  y  n  t  h  e  s  i  s  belegen  werden,  um  dadurch 
zugleich  bemerklich  zai  machen,  dal's  wir  uns  nichts  als  im  Objekte  ver- 
bunden vorstellen  ktinnen,  ohne  es  vorher  sell)st  verbunden  zu  haben, 
und  unter  allen  Vorstellungen  die  Verbindung  die  einzige  ist,  die 
nicht  durch  Objekte  gegeben,  sondern  nur  vom  Subjekte  selbst  ver- 
richtet werden  kann,  weil  sie  ein  Aktus  seiner  Selbstthätigkeit  ist*' 
(114  1.).  Diese  Synthesis  ist  rein,  sofern  sie  aller  Erfahrung  vorher- 
geht ;  sie  ist  transcendental.  sofern  sie  eine  apriorische  Bedingung 
der  Erkenntnis  bildet;  ihr  Prinzip  aber  ist  die  Einbildungs- 
kraft, und  zwar  die  p  r  o  d  u  k  t  i  v  e  E  i  n  b  i  1  d  u  n  g  s  k  r  a  f  t,  als  ,.ein 
W'rmögen,  die  Sinnlichkeit  a  priori  zu  bestimmen''  im  Unterschiede^ 
von  der  re])roduktiven  p]inbildungskraft,  deren  Synthesis  lediglich 
empirischen  (xesetzen,  nämlich  denen  der  Assoziation  unterworfen 
ist.  Diese  reine  transcendentale  Synthesis  dei'  Einbildungskraft,  als 
eine  Bedingung  a  priori  der  Mriglielikeit  aller  Zusammensetzung  des 
Mannigfaltigen  in  einei'  Erkenntnis,  erfolgt,  wie  gesagt,  den  Kate- 
gorieen  gemäl's  und  ist  eine  rein  spontane  Wirkung  d(^s  Verstandes 
auf  die  Sinnlichkeit  und  die  erste  Anwendung  desselben  aufCiCgen- 
stände  der  uns  möglichen   Anschauung  (\27.    r)T(S.    134). 

,.Aber  der  Begriff  der  Ver])indini,n-  führt  aufser  dem  Begriffe 
des  Mannigfaltigen  und  der  Synthesis  desselben  noch  den  der  Ein- 
heit desselben  bei  sich.  Verbindung  ist  Vorstellung  der  synthetischen 
Einheit  des  Mannigfaltigen.  Die  Vorstellung  dieser  Einheit  kann 
also  nicht  aus  der  Verbindung  entstehen,  sie  nuiclit  viel- 
mehr (hiduich,  dafs  sie  zur  Vorstellung  des  Mannigfaltigen  hinzu- 
kommt, den  Begriff  der  V(4-bindung  allererst  möglich.  Diese  Ein- 
heit, die  a  priori  vor  allen  Begriffen  vorhergeht,  ist 
nicht  etwa  jene  Kategorie  der  Einheit;  denn  alle  Kategorieen 
gründen  sich  auf  logische  Funktionen  in  Urteilen  :  in  diesen  aber 
ist  schon  Verbindung,  mithin  Einheit  gegebener  l^egriffe  gedacht. 
Die  Kategorie  setzt  also  schon  Verbindung  voraus.  Also  müssen 
wir  diese  Einheit  noch  höher  suchen,  nämlich  in  demieniuen. 
was  selbst  den  (irund  der  Einheit  verschiedener  Begriffe  in  Urteilen. 
mithin  der  Miiglichkeit  des  \'erstandes  sogar  in  seinem  logischen 
Gebrauch  enthält''   (llö). 

„Nun  können  keine  Erkenntnisse  in  uns  stattfinden,  keine  Ver- 
knüi)fung  und  Feinheit  derselben  unter  i'inander  ohne  diejenige 
Einheit    des  Be  w  u  fs  t  s  ei  n  s,    welche  vor   allen  Datis  der  An- 


schauungen vorhergeht,  und  worauf  in  Bezieliung  alle  Vorstellung 
von  Gegenständen  allein  möglich  ist"  rr)72).  „Alle  Anschauungen 
sind  für  uns  nichts  und  gehen  uns  nicht  im  mindesten  etwas  an. 
wenn  sie  nicht  ins  Bewufstsein  aufgenommen  werden  können,  sie 
mögen  nun  direkt  oder  indirekt  darauf  einlliefsen,  und  nur  durch 
dieses  allein  ist  Erkenntnis  möglich''  (577).  ,.Denn  die  mannig- 
faltigen Vorstellungen,  die  in  einer  gewissen  Anschauung  gegeben 
werden,  würden  nicht  meine  Vorstellungen  sein,  wenn  sie  nicht 
insgesamt  zu  einem  Selbstbewufstsein  gehörten"  fj  lö).  „Das:  ich 
denke  mufs  alle  meine  Vorstellungen  begleiten  kcumen ;  denn  sonst 
würde  etw^as  in  mir  vorgestellt  wer<len.  was  gar  nicht  gedacht 
werden  könnte,  w^elches  ebenso  viel  heifst  als:  die  Vorstellung  würde 
entweder  unm<)glich  oder  wenigstens  für  mich  nichts  sein.  Also  hat 
alles  Mannigfaltige  der  Anschauung  eine  notwendige  Beziehung  auf 
das:  ich  denke  in  demselben  Subjekt,  darin  dieses  ]\rannigfaltige 
angetroffen  wird"  (lir)f.).  Ohne  jene  Einheit  des  Bewufstseins 
würde  es  aber  auch  überhau})t  kein  Selbstbewufstsein  geben;  „ich 
würde  ein  so  vielfarbiges  verschiedenes  Selbst  haben,  als  ich  Vor- 
stellungen habe,  deren  ich  mir  bewufst  bin-'  (117).  ..Denn  (bis 
empirische  Bewufstsein,  welches  verschiedene  Vorstellungen  begleitet, 
ist  an  sich  zerstreut  und  ohne  I^eziebung  auf  die  Identität  des  Sub- 
jekts. Diese  Beziehung  geschieht  also  dadurch  noch  nicht,  dafs  ich 
jede  Vorstellung  mit  Bewufstsein  begleite,  sondern  dafs  ieli  eine  zu 
der  anderen  hinzusetze  und  mir  der  Synthesis  derselben  bewufst 
bin.  Also  imr  dadurch,  dafs  ich  ein  Mannigfaltiges  gegebener  Vor- 
stellungen in  einem  Bewufstsein  verbinden  kann,  ist  es  mii^licb, 
dafs  ich  mir  die  Identität  des  Be  w  u  Is  t  sein  s  in  diesen  Vor- 
stellungen selbst  vorstelle"   (1  Mi). 

„Das  Gemüt  könnte  sich  unmöglich  die  Identität  seiner  selbst 
in  der  iVIannigfaltigkeit  seiner  V'orstellungen  und  zwar  a  priori 
denken,  wenn  es  nicht  die  Identität  seiner  Handlung  voi-  Auiren 
hätte,  welche  alle  Synthesis  einer  transcendentalen  Einheit  unter- 
wirft und  ihren  Zusammenhang  nach  Kegel  a  priori  zuerst  mög- 
lich macht.  Das  ursprihigliche  und  notwendige  Bewufstsein  der 
Identität  seiner  selbst  ist  also  zugleich  ein  JVwufstsein  einer 
ebenso  notwendigen  Einheit  der  Synthesis  aller  Erscheinungen  nach 
Begriffen,  d.  i.  nach  Regeln,  die  sie  nicht  allein  notwendig  rej)rodiizibel 
machen,  sondern  dadurch  auch  ihrer  Anschauung  einen  Gegenstand 
bestinniu'n"  (r)72  f.).  ,J^1^  ^^^'^  "^^^*  ^^^'^  identischen  Selbst  bewufst 
in  Ansehung  des  Mannigfaltigen  der  mir  in  einer  Anschauung  ge- 
gebenen Vorstellungen,  weil  ich  sie  insgesamt  meine  Vorstellungen 
nenne,   die  eine  ausmachen.     Das   ist   aber   soviel,    als  dafs 


1'^ 

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232 


B.    Kant  als  Xaturphilosoph. 


i 


ich  mir  einer  ursprünglich  eu  Syntliesis  der  seihen 
a  priori  h  e  w  u  1' s  t  hin,  welche  die  n  r  s  j)  r  ü  n  g  1  i  c  h  e  syn- 
thetische Einheit  der  A  ppe  rz  ej)  t  i  oii  licilst,  unter  der  alle 
mir  ge^^ebenen  Vorstellungen  stehen,  nher  unter  die  sie  auch  durcli 
eine  Synthesis  gebracht  werden  müssen"  (117  f.). 

Zugegeben  nun,   dafs  die  synthetische  Funktion  auf  dem  Grunde 
eines    einheitlichen    Substrates    vor   sich    gehen  mul's.    olme 
welches   sie    haltlos    in   der  Lutt  schweben  würde,    zugegeben  auch, 
dal's  diese  Einheit    nicht  aus  der  A'erhindung  dei*  Kiitegorieen  erst 
entstehen    oder    überhaupt    logischer   Natur   sein    kann,    Aveil  sie  ja 
selbst    ebenso    den    (irund    aller    Verbindung,    wi(*    überhau])t    des 
Logischen    bildet,    so   ist   so  viel  jedenfalls    sicher:    die    A])per- 
zeption     ist    mit    dem    em])iri  sehen    Hewufstsein    nicht 
identisch.     Sie  ist,    sagt  Kaut,    diejenige   Einheit,     durch   welche 
alles  in  einer  Anschauung  gegebene  iVLinnigfaltige  in  einen    Regrilf 
vom   Objekt   vereinigt    wird :     darum   heilst  sie  objektiv    „und    mul's 
von     der    subjektiven     Einheit    des     Bewui'stseins    unterschieden 
werden,  die  eine  Bestimmung    des    inneren    Sinnes    ist.  da- 
durch jenes  Mannigfaltige  der  Anschauung    zu    einer    solchen    Ver- 
bindung empirisch  gegeben   wird.      Ob    ich    mir    des    .Mannigfaltigen 
als  zugleich  oder  nach  einander    em])irisch    bewufst    sein   kiinne, 
kommt  auf  Umstände  oder  em})irische  Bedingungen  an.     Dabei*  die 
empirische     Einheit    des    Bewui'stseins    dnrch   Assoziation    der   Vor- 
stellungen   selbst     eine    Erscheinung    beti'ifft    um!     ganz 
zufällig  ist.     Dagegen    steht   die  reine   Form   der  Anschauung  in 
der  Zeit,  blofs  als  Anschauung  überhaupt,   die  eni  gegebenes  Mannig- 
faltiges enthält,    unter  der  urs])rünglichen    Einheit  des  Bewui'stseins 
lediglich     durch    di(^    notwendige  Beziehung   des  Mannigfaltigen   der 
Anschauung  zum   Einen:   ich   denke:   also  durch   die  reine  Synthesis 
des  Verstandes,     welche   a  ))riori    der  empirischen    zu  Grunde    liegt, 
.[ene  Einheit  ist  allein  objektiv  gidtig ;    die  empirische   Pnnheit  der 
Api)erzeption.  die  nur  von  der  ersteren  unter  gegebenen  Bedingungen 
in  concreto    abgeleitet    ist,    hat    nur    subjektive    Gültigkeit.     Einer 
verbindet    die   Vorstellung    eines    gewissen    Wortes    mit  einer  Sache, 
der  Andere  mit  einer  anderen  Sache;  und  die  Einheit  des  Bcnvufst- 
seins  in  dem.    Avas  em})irisch  ist,    ist  in  Ansehung  dessen,    was  ge- 
geben  ist,    nicht    notwendig    und    allgemein    gcdtend*'   (  TJO). 
Man   vergleiche  auch  den  Unterscliied  zwischen  Wahrnehmungs-  und 
Erfahrungsurteil    in   den    Prolegomenen   (IV.    lii  ff.).      „Die    Apper- 
zeption   und    deren    synthetische    Einheit    ist   niit  dem   inneren  Sinn 
so  gar  nicht  einerlei,    dafs    jene    vielmehr,    als    der  (^uell    aller 
V  e  r  b  i  n  d  n  n  g  ,  auf  das  Mannigfaltige  der  Anschauungen  üherhaupt 


} 


II.  lYw  kritisdie  Naturpliilosophie. 


233 


unter  dem  Xamen  der  Kategorieen  vor  aller  simdichen  Ansdiauun- 
auf  Objekte  überhau])t  geht,  dagegen  der  innere  Sinn  die    blofse 
Form    der    Anschauung,    aber  ohne  Verbindung  des  Mannig- 
faltigen  in  derselben,  mithin  noch  gar  keine  bestimmte  Anschauung 
enthält,    welche    nur    durch    das   Bewufstsein  der   Bestimmung  ilvv- 
selben    durch    du'    transcendentale    Handlung   der    Einhildun-skraft 
(synthetischer  EiniJul's  des  Verstandes  auf  den  iimeren  Sinn)  inöglich 
ist"   (12.S).      Das    Ich    in    dem:     ich    deidvc    ist   also   auch  mCht  das 
emi)irische  Ich    oder    „das  Bewufstsein    seiner  selbst   nach  den  Be- 
stimmungen   unseres    Zustandes    bei    der    inneren    Wahrnehnnmg": 
deini    dieses    Ich,    als    die    Verbindung    mehrer    Emptindungen    des 
inneren  Simies  in  der  Zeit,  ist  selbst  schon  eine  Synthese  und  folg- 
lich Erscheinung;    es  ist  wand(>lbar  und  stets  wechselnd,   weil  es  in 
dem   Flusse    innerer  Erscheinungen    kein    bleibendes    und    stehendes 
Selbst    geben    kann,    es   ist   blofs   empirische   Apperzepticm.      Jenes 
Ich   dagegen  ist.    wie   gesagt,    selbst  der  „C^uell   aller  Verbindung" 
und  somit  auch   des  empirischen  Ich.      Es  geht  aller  Erscheinung  als 
Bedingung  a  priori    vorher    und    macht    jene    erst    mcli^dich;    dabei- 
heilst    es    transcendentales    Ich    oder  transcendentale  Ap])er/ej)tion, 
„synthetische  Einheit   des    reinen   Selbstbewufstseins,*'     und   dieses 
Ich  ist  unwandelbar  und   numerisch  identisch,   es  bleibt  sich   in   der 
Erkenntnis   des  Mannigfaltigen   der  Identität  seiner  Funktion  hewufst 
und    giebt    dadurch    den   Erscheinungen    einen  Zusammenhang    nach 
Gesetzen  (572). 

Gerade    auf    diesem    Unterschiede    des    transcendcuitahn     vom 
em])irischen    Bewufstsein    beruht    ja    die    objektive    Gültigkeit    der 
Kategorieen     und    damit  die   JVIöglichkeit  der   Eriahrung    überhaupt, 
als  einer  notwendigen  und  allgemeinen   Verknüpl'ung"  des  sinnlichen 
Vorstellungsmateriales.     Indem  nämlich   die  verkm'ipl'ende  Thätiixkeit 
der  Einbildungskraft  nur  auf  diesem  innersten  Grunde  unserer  Er- 
kenntniskräfte vor  sich  geht,   ist   „die  Einheit  des  (transcendentalen) 
Bewui'stseins  dasjenige,   was  allein  die  Beziehung  der  \'orstellungen 
auf  einen   Gegenstand,    folglich,    dal's  sie   Eikenntnisse  werden,  aus- 
macht,   und   worauf   also  selbst    die  i\lr>gliclikeit  des   Verstandes   be- 
ruht" (Usf.).     Ohne  sie  würden  unsere  Wahrnehmungen  „zu  keinei' 
Erfahrung  geluiren,  folglich  ohne  Ohjekt  und  nichts  als  ein  blindes 
Spiel  der    V^orstellungen.    d.   i.   weniger  als   ein  Tiaum  sein"     (r)7r)). 
„Die  synthetische   Klinheit  des   Bewufstseins    ist   also    eine  objektive 
Bediiijj^ung  aller  Erkenntnis,    nicht    deren    ich    ])lol's    seli)st   bedarf, 
um   ein   Objekt  zu   erkennen,    sondern    unter    der   jede    Anschauung 
stehen  mul's,  um  iür  mich  Objekt  zu  werden,  weil  auf  andere  Art 
nnd  ohne   diese  Synthesis   das    Mannigfaltige    sich    nicht    in    einem 


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234 


B.    Kant  als  Natur[)hilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


235 


*^.i 


14" 


Bewufstsein    vereinigen    würde"    (119).      Xiclit    darauf    beruht    die 
objektive  Gültigkeit  der  Kategorieen,  dal's  sie  apriorisch  sind,  sondern 
darauf,   dafs  sie  in  einem    objektiven    Grunde,    welcher  mit  dem 
individuellen,  subjektiven  Hewufstsein  nicht  identisch  ist,  ihre  Wurzehi 
haben.     Dafs  die  transcendentale  Apj)erzei)tion  Bewufst"sein  ist, 
macht   somit  die   Verknüpfung    des   sinnlichen    Vorstellungsmaterials 
möglich.       Dafs    sie     t  r  anscend  en  tal     ist     oder    ihre     über- 
individuelle     Natur,     woraus    das    empirische    individuelle     He- 
wufstsein erst  entsteht,  bedingt    die   Allgemeinheit    und   Not- 
wendigkeit der   Verknüpfung.      Weil  in   das  emi)irische  Bewufst- 
sein  erst  das  fertige   Prodidvt  dieser  Verknüi)fiing  eintritt,  darum 
erscheint    ihm    das    letztere    als   ein   Äufserliches   und   b'renides.    an 
dessen    Herstellung    es    sich    selbst    nicht   beteiligt  weifs,     d.   h.   das 
Produkt  der  Verknüpfung  erscheint  als  Objekt.      Weil   das  trans- 
cendentale  Ijewufstsein    mein    empirisches    Hewufstsein    schafft    und 
dadurch  zu  diesem  in  Beziehung  steht,  darum   ist  das  Produkt  der 
Verknüpfung,  als  in  meiner  Subjektivität  enthalten,    mein  Objekt, 
und    die    Erfahrung    ist    meine    Erfahrung.      „Alle    Vorstellungen 
haben    eine    notwendige    Beziehung    auf    ein    mögliches    empirisches 
Bewufstsein;    denn   hätten   sie    dieses   nicht,    und  witre  es    ganz  un- 
möglich, sich  ihrer  bewufst  zu  werden,  so   würde  das  so  viel  sagen 
als:    sie    existierten    gar    nicht.      Alles    emi)irische    Hewufstsein    hat 
aber  eine  notwendige    [Beziehung  auf  ein  transcendentales  (vor  aller 
besonderen  Erfahrung  vorluM-gehendes)   Bewufstsein,  nämlich  das 
Bewufstsein    meiner   selbst  (!)   als  die  ursprüngliche  Apper- 
zeption.     Es    ist    also    schlechthin    notwendig,    dafs   in    meiner   Er- 
kenntnis   alles    Bewufstsein    zu    einem    Hewufstsein    (meiner    Selbst) 
"•ehiüe.      Hier    ist    nun    eine    synthetische    Einheit    des 
^I  annig  faltigen   (H  e  w  u  f  s  t  s  e  i  n  s),    die   a  priori    erkannt 
wird   und  gerade  so  den  (jrund  zu  den  synthetischen  Sätzen  a  priori, 
die    das    reine    Denken    betrilVen,    als    Kaum    und  Zeit    zu  solchen 
Sätzen,     die    die    Form    der  blofsen   Anschauung    angehen,    abgiebt. 
Der  synthetische  Satz,    dal's   alles  verschiedene    empirische  Bewufst- 
sein in  einem  einzigen   Selhstbewufstsein  verbunden  sein   müsse,    ist 
der  schlechthin   erste    und    synthetische  Grundsatz   unseres   Denkens 
überhaupt.      Es  ist  aber  nicht  aus  der  Acht   zu  lassen,    dafs    die 
blofse  Vorstellung  Ich  in  Beziehung  auf  alle  anderen  (deren 
kollektive   Einheit    sie    mr>glich    macht),    das    transcendentale 

Bewufstsein  sei''   (öilf.)- 

Man  sieht,  diese  ganze  Deduktion  beruht  blofs  darauf,  chifs 
die  transcendentale  Apperzeption,  welche  den  tiefsten  Grund  und 
so  zu  sagen  das  Substrat  des  Erkenntnisprozesses    bildet,    mit  dem 


Selhstbewufstsein  in  seiner  abstraktesten  Form  unmittelbar  identisch 
sein  soll.  AVeil  wir  das  letztere  unmittelbar  und  gleichsam  vor 
aller  Erfahrung  besitzen  und  zwischen  ihm  und  der  apriorischen 
Bedingung  unserer  Erfahrung  kein  Unterschied  best.'ht.  dnrum  ist 
nach  Kant  ein  a])riorisches  Wissen  dieser  apriorischen  Bedingung 
möglich,  und  soll  es  mithin  auch  mr.glich  sein,  die  Kateg()rieel^ 
deren  notwendigen  Grund  die  transcendentale  Einheit  bildet,  aus 
jenem  Selbstbewufstsein  a  priori  abzuleiten.  Nun  kann  es  aber 
keinen  gröfseren  Irrtum  geben,  als  sich  ebizuhilden,  das  Ich  im 
Selhstbewufstsein  sei  eine  apri(n-ische  Vorstellung  und  habe  in  dieser 
Hinsicht  vor  dem  empirischen  Ich  etwas  voraus.  AVill  man  über- 
haui)t  diese  beiden  von  einander  unterscheiden,  so  kann  man  unter 
dem  letzteren  doch  nur  das  Ich  verstehen,  sofern  es  mit  empirischen 
Datis  behaftet  oder  auf  den  Inhalt  dvr  Erfahrung  bezogen  ist;  in 
dieser  Beziehung  aber  ist  es  doch  nur  gradweise  von  dem  so- 
genannten reinen  Fcli  verschieden.  l)ei  welchem  von  allem  Hcwulst- 
seinsiidialt  abgesehen  und  das,  als  die  ganz  uid)estiinmte  und  abstrakte 
Vorstellung  Ich,  bei  allen  Menschen  eines  und  dasselbe  ist.  Nach 
Kant  aber  sollen  das  reine  und  das  emi)irische  Ich  nicht  blofs  dem 
Grade  des  Abstraktionsprozesses  nach,  sondern  sie  sollen  spezifisch 
verschieden  sein,  sie  sollen  von  einander  so  verschieden  sein,  wie 
die  Ursache  von  der  Wirkung,  wie  der  Produzent  von  soin(  iii  Pro- 
dukte,  wie  das   Wesen  einer  Sache   von   ihrer  Erscheinung. 

„Ich    bin    mir     meiner    selbst     in     (h  r    transcendentalen    Syn- 
thesis    der    Vorstellungen  überhaupt,   mithin    in    dvr   ur>pj-üiiglichen 
synthetischen   Einheit  der  A])perzeption   bewufst,    nicht  wie  ich   mii- 
erscheine,   noch  wie  ich  an  mir  selbst  bin.    sondern    nur    <lafs    ich 
i)in"   (13})).      ,.Im  Bewufstsein    nieiner   selbst    beim     blol'sen    Deidvcn 
bin  ich  das    Wesen    selbst,    von   dem   mir  aber  freilich   dadurch 
noch   nichts  zum  Denken  gegeben   ist"    (2lj()).      Damit    sucht     Kant 
dem   reinen    Ich  seine   Sonderstellung     vor   dem    empirisciien    Ich  zu 
wahren,    weil    es    nur  so  das  Sul)strat  des   Erkeinitnis])iozesses  umi 
zugleich    ih'v   Produzent   des  empirischen   Ich    sein    k;nin.      Ei*  weifs 
sehr  wohl,  dafs  eine  solche  Behauptung  den  (irundpriiizijiien  seiner 
Flrkenntnistheorie    widersi)richt.    wonach    der    Hc^gritf   der    Existenz, 
als  Kategorie,     blofs  subjektive  Geltung  hat    und    es    folgh"(  li    auch 
nicht    m()glich    ist.    mit    ihm    auf  das  (transcendente)   ..Wesen"   des 
Erkenntnisprozesses  selbst  zu  stofsen.     Er  weifs.  dafs  dieses  h/iclistens 
in   einer   „intellektuellen  Anschauung"   UKiglich   w-ire,   wie   sie  „allein 
dem   Urwesen,   niemals  aber  einem  seinem  Dasein  sowohl,   als  seiner 
Anschauung    nach     (die    sein    Dasein    in    iH'ziehung    auf   gegebene 
Objekte    bestimmt)    abhängigen   Wesen  zuzukommen   scheint"    (lü). 


1 


1.*. 


236 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


11.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


237 


*♦•' 


Mm» 


Trot/ilem  entliiilt  er  sich  nicht  der  Beluniptiui«?.  die  Vorstellung 
Ich  in  dem  Satze:  ich  denke  sei  ,.rein  intellektuell,  weil  sie 
zum  Denken  iiherhaupt  gehcirt"  (2ST).  Kant  (Mitschuldi^t  sich 
damit,  das  Denken,  für  sicli  genommen,  sei  hlol's  die  logische 
Funktion  und  stelle  das  Suhji^kt  des  Bewul'stseins  keineswegs  als 
Erscheinung  dar,  blofs  darum,  weil  es  gar  keine  Rücksicht  auf  die 
Art  (h'r  Anscliauung  nimmt,  oh  sie  sinnlicli  oder  intellektuell  sei. 
„AV^eiin  ich  mich  als  Subjekt  der  Gedanken  oder  auch  als 
Grund  des  Deidvcns  vorstelle,  so  bedeuten  diese  Vorstellungsarten 
nicht  die  Kategorieen  dc^r  Substanz  oder  der  Ursache;  denn  diese 
sind  jene  Funktionen  des  Denkens  schon  auf  unsere  sinnliche  An- 
schauung angewandt''  (21)0).  „Tch  verstehe  dai-unter  blofs  die 
logischen  Funktionen  des  Subjekts  und  Prädikats,  des  Grundes  und 
der  Folge,  denen  gemiifs  die  Handlungen  so  bi^stimmt  werden,  dafs 
sie  zugleich  den  Kategorieen  der  Substanz  und  der  UrsaciK^  allemal 
gemäfs  erklärt  werden  kfinnen,  ob  sie  g  1  e  i  c  h  a  u  s  g  a  n  z  a  n  d  e  r  e  m 
Prinzip  en  ts  j)ri  ngen"  (21)2).  Als  ob  die  Kategoi'ieen  nicht 
ebenfalls  blofs  „logische  Funktionen"  wären  und  das  blofse  Denken 
als  solches  von  dem  Deidvcn  in  Kategorieen  unterschieden  werden, 
ja,  sogar  mehr  leisten  könnte  als  dieses!  Es  mufs  wahrlich  schlecht 
um  die  Natur  eines  Prinzips  bestellt  sein,  wenn  dasselbe  einer 
so  wunderlichen  Kechtfertigung  bedarf. 

Aber  w^ozu  denn  überhau])t  noch  umständlich  beweisen,  dafs 
das  transcendentale  Ich  nicht  das  reale  Suhstiat  des  Fi'keinitnis- 
prozessc^s  bedeuten  und  sich  dadurch  vom  empii-ischen  Ich  nicht 
unterscheiden  kann.  Hat  doch  Kant  sell)st  diese  Annahme  in  dem 
Kapitel  über  die  Paralogisuien  der  reinen  Vernunft,  eiru'm  dei-  Itest- 
begründeten  und  wertvollsten  Abschnitte  <ler  Vernunftkritik,  so 
gründlich  abgefertigt,  dafs  sie  damit  ein  für  allemal  erledigt  sein 
sollte!  „Nicht  dadurch,  dafs  ich  blofs  denke,  erkenne  ich  irgend 
ein  Objekt,  sondern  nur  dadurch,  dafs  ich  eine  gegebene  Anschauung 
in  Absicht  auf  die  Einheit  des  Bewul'stseins,  darin  alles  Denken 
besteht,  bestimme,  kann  ich  irgend  einen  Gegenstand  erkennen. 
Also  erkenne  ich  mich  nicht  s(dbst  dadurch,  dafs  ich  mir  meiner 
als  denkend  bewufst  bin,  sondern  wenn  ich  mir  der  Anschauung 
meiner  selbst,  als  in  Ansehung  der  Fuidvtion  (h^s  Denkens  bestimmt, 
bewufst  bin"  (2<S).  ,. Das  Ich  ist  also  zwar  in  allen  (icdanken  ;  es 
ist  aber  mit  dieser  Vorstellung  n  i  c  h  t  d  i  e  m  i  n  d  e  s  t  e  A  n  s  c  h  a  u  u  n  g 
verbunden,  die  es  von  anderen  Gegenständen  der  An- 
schauung unters  c  h  i  e  d  e.  Man  kann  also  zwar  wain-iu'hmen. 
dafs  diese  Vorstellung  bei  allem  Denken  immer  wiederum  vorkommt, 
nicht    aber    dafs  es    eine    stehende    und    bleibende   Anschauung    sei, 


worin    die  Gedanken    (als  wandelbar)    wechselten-'  (f)«?).     Das    un- 
wandelbare mit  sich  selbst  identische  Ich  ,.ist  so  wenig  Anschauung, 
als  Begriff  von  irgend  einem  Gegenstande,  sondern  die  b  1  o  fse  Form 
des  Bewufsts eins,  welches  beiderlei  Vorstellungen  begleiten  und 
sie  dadurch   zu   Erkenntnissen    erheben    kami.    sofern  nämlich    dazu 
noch  irgend  etwas  Anderes  in  der  Anschauung  gegeben  wird,  welches 
zu  einer  Vorstellung  von  einem  Gegenstande  Stoff  darreicht"  (<;()()). 
„Das  Pewufstsein  an  sich  ist  nicht  sowohl  eine  Vorstellung,  die  ein 
besonderes  Objekt  unterscheidest,    sondern  eine  Form  derselben 
überhaupt,    sofern    sie    Erkenntnis    genannt   werden    soll"   (2T()). 
Das  Ich  ist  bh)fs  logische  Einheit,  nur  die  Einheit  im  Denken  oder 
das  Bewufstsein  meines    Denkens,    „wodurch  alhan    kein  Objekt  ge- 
geben wird,   worauf  also  die  Kategorie  der  Substanz,  als  die  jeder- 
zeit  gegebene  Anschauung  voraussetzt,  nicht  angewandt,  mithin  dieses 
Subjekt  gar  nicht  erkannt  werden  kann"  (2S(;).     Indem   ich  also  im 
Be^^rif!   des  Ich    das  Substrat   des   Erkenntnisi)rozesses    unmittel- 
bai-  zu  erfassen  glaube,  so  wird  hier   ..die  Einheit  des  Bewul'stseins, 
welche  den  Kategorieen  zu   Grunde  liegt,   für  Anschauung  des  Sub- 
jekts als  Objekts  genommen   und   darauf  die  Kategorie  der  Substanz 
angewandt"    (ebd.).      ,. Folglich    verwechsele    ich    die   münli(;he   Ali- 
straktion    von    meiner    em])irisch    l)estiinniten    Existenz    mit    dem 
vermeinten    Bewufstsein    einer   abgesondert    imighchen    Existenz 
meines   denkenden  Selbst    und    glaube    das  Substantiale    in    mir    als 
das    transcendentale  Subjekt    zu  erkennen,    indem    ich    blofs 
die   Einheit    des  Bewuftseins,    welche   a.ll(Mn    BestimiiKMi.    als 
der  blofsen    Form  der   Erkenntnis,    zu   (i runde    li(>gt,    in  Gedanken 
habe-'    (2(S<)).      „Gleichwohl   ist  nichts  natürlicher  und  vei-fiihrerischer 
als  der  Schein,  die  Einheit  in  der  Synthesis  derGdlanken  für  eine 
wahrgenommene  Einheit    im   Subjekte    dieser  Gedanken    zu    halten. 
Man   kcinnte    ihn    die    Subreption   des    hy  pos  tasie  r  t  en    Be- 
wufstseins  nennen-'   (IJIT). 

Diese  Subrej)tion  hegelit  Kant  selbst,  wenn  er  den  blofsen 
empirischen  Gedanken  „Ich"  liir  das  Jjing  an  sich  des  Erkenntnis- 
ju'ozesses  oder  das  ])roduktive  Substrat  unserer  gesamten  Vorstellungs- 
welt ansieht.  Unser  Denken  reicht  auch  auf  der  subjektiven  Seite 
nicht  weiter  als  der  „innere  Sinn",  und  daher  ist  es  eine  trügerische 
Hoflnung,  durch  Abstraktion  von  alh'ii  em})irisclieii  Bestiinmungen 
zum  Produzenten  unseres  Innenlebens  selbst  hinabsteigen  zu  kr»nnen. 
Es  ist  soweit  gefehlt,  auf  diesem  Wege  von  Innen  die  Schranken 
der  Erscheinungswelt  gleichsam  unterminieren  zu  kiüinen,  dals  viel- 
mehr auch  „die  Bestiinmungen  des  inneren  Sinnes  gerade  auf  die- 
selbe Art  als   Erscheinungen    in  der  Zeit   sich  ordnen  müssen, 


23S 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.   Die  kritische  Naturphilosophie. 


2:}\j 


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wie  wir  die  der  üulseren  Sinne  im  Kaiime  ordnen,  mithin  wenn  wir 
von  den  letzteren  einräumen,  dafs  wir  dadurch  Objekte  nur  sofern 
erkennen,  als  wir  äurserlich  al'fi/iert  werden,  wir  auch  vom  inneren 
Sinne  zu^H^stehen  müssen,  dafs  wir  dadurcli  uns  seihst  nur  so  an- 
schauen, wie  wir  innerlich  von  uns  seihst  afilzicrt  werden,  d.  i.  was 
die  innere  Anschauun,i»-  hetriftt,  unser  eigenes  Subjekt  nur 
als  Erscheinung,  nicht  aher  nach  dem.  was  es  an  sich  seihst 
ist,  erkennen "  ( 1  '29).  ,.  D  a  s  B  e  w  u  l' s  t  s  e  i  n  seiner  seihst  ist 
also  noch  lange  nicht  eine  Erkenntnis  seiner  selbst" 
(130),  und  dies  ,.hat  nicht  mehr,  auch  nicht  weniger  Schwierigkiut 
hei  sich,  als  wie  ich  mir  selbst  überhaupt  ein  Objekt  und  zwar  der 
Anschauung  und  iniu'rer  AValinu^limung  sein  kiume*'  frJH).  „Das 
Subjekt  der  Kategorieen  kann  dadurch,  dal's  es  diese  denkt,  nicht 
von  sich  selbst,  als  einem  Objekte  der  Kategorieen.  einen  BegriiV  be- 
konnnen :  denn  um  dies  zu  denken,  mul's  es  sein  reines  Selbst- 
bewulstsein.  welches  doch  hat  erklärt  wc^-dcn  solh'U.  zu  Grunde 
legen"   (^Sb). 

Dies  alles  scheint  aul'ser  Zusammenhang  mit  unserem  eigent- 
lichen Thema,  der  Katuri)hih)so))hie,  zu  stehen;  allein  es  handelt 
sich  zunächst  ja  gar  nicht  blol's  um  die  Natur])lnlosoi)hie  als  solche, 
sondern  vor  aUem  aucli  um  die  erkenntnistlieoretische  Begründung 
derselben.  Kant  ist  auf  dem  Wege  der  >saturj)hiloso})bie  zur  Er- 
kenntnistheorie gekommen,  er  hat  sich  der  HotViiung  hing(»geben  — 
und  viele  Andere  mit  ihm  —  in  der  \'ernuid"tkritik  dit;  Fundamente 
einer  ai)odiktischen  Xaturerkenntnis  aufgerichtet  zu  hal)en.  Da  er- 
scheint es  geboten,  diese  Fundamente  selbst  einer  Prüiung  zu  unter- 
ziehen uiul  den  Wurzeln  der  kantischen  Anschauungsweise  bis  in 
ihre  letzt«'n  Tiefen  nachzus])iiren,  wenn  aiKh'i's  wir  darüber  zur  Ge- 
wifsheit  kommen  wollen,  ob  auf  diesem  Pjoden  Kriichte  zu  erliofVen 
sind.  Hier  bedarf  aber  k(un  Punkt  einer  näheren  Rrcirterung  als 
die  Gleichset/Aing  des  transcendentalea  mit  (h'Ui  (unpirischen  Ich, 
wie  Kant  sich  dieselbe  in  seiner  transcendentalen  Deduktion  der 
reinen  Verstandesbegrilfe  gestattet.  Denn  nicht  blofs  ist  die  letztere 
eine  der  schwierigsten  Partieen  der  Vernunftkritik,  deren  Dunkelheit 
den  springenden  J^lnkt  an  ihr  vielfacli  verborgen  hat,  sondern 
dieser  selbst,  eben  jene  Gleichsetzung  der  beich^i  ihrer  Natur 
nach  verschiedenen  lebe,  bildet  die  tiefste  und  letzte  Quelle,  aus 
welcher  der  Inhalt  der  Vernunftkritik  gelh)ssen  ist.  Zielit  man  diesen 
Stein  unteraus,  so  fällt  das  gairze  stolze  Gebäude  in  sich  zusauunen. 
Läfst  man  ihn  stehen,  so  wird  man  sich  auch  den  Konsequenzen 
Kants  im  Wesentlichen  nicht  entziehen  k(uinen.  In  diesem  Falle 
wird  man  aber  auch  einräumen  müssen,  dafs  die  Nachfolger  Kants, 


ein  Fichte,  Schell  in  g  und  Hegel  nicht,  wie  man  ihiuMi  ge- 
wöhidich  vorwirft,  den  festen  Boden  der  kantischen  Kritik  verlassen 
haben,  sondern  auf  diesem  nur  weiter  fortgeschritten  sind,  und  dafs 
insbesondere  die  so  übel  beleumundete  Natur])hil(»sophie  Scljel- 
lings  ein  direktes  Produkt  des  kantischen  Geistes  ist.  Es  ist  so 
billig,  ihr  vorzuwerfen,  wie  dies,  von  den  Naturforschern  abgeselieu. 
ganz  besonders  auch  von  Seiten  der  mo(h^rnen  Anhänger  Kants  ge- 
schieht, es  sei  Wahnsinn  und  Vermessenheit,  die  Naturgesetze  aus 
der  „intellektuellen  Anschauung,"  d.  h.  aus  dem  AVesen  der  Ver- 
nunft, a  ])riori  ableiten  zu  wohen.  Es  klingt  so  wissenschaftlich, 
im  Gegensatze  hierzu  auf  Kant  zu  verweisen,  der  sich  derartige 
„Thorheiten"  nicht  habe  zu  Schuhhm  kommen  lassen,  s(uidern  sich 
immer  hübsch  innerhalb  der  Grenzen  der  Erfahrung  bewegt  habe. 
J\Ian  vergifst  nur.  dafs  auch  Kant  die  (iresetze  der  Erfahrung  aus 
keinem  anderen  Grunde  a  ])riori  glaubte  ableiten  zu  kr^iucn.  als 
weil  er,  li^anz  ebenso  wie  Schell  ing  in  seiner  intellektuellen  An- 
schauung, di  e  e  r  ke  n  neu  de  V  ern  un  f  t  selbst  fü  r  d  en  (i  ru  nd 
der  Dinge  hielt,  Aveil  er  sich  einbildete,  in  dem  Gedanken  K-h 
das  schöpferische  iVinzip  der  Natur  selbst  beim  Zij)lel  erwischt  zu 
haben.  AVenn  es  überhauj)t  m(iglich  ist.  die  Pediiigungen  des  Be- 
wufstseins  a  ])riori  zu  erkennen,  und  wenn  die  Natur  ebenfalls  eine  Be- 
dingung des  Bewufstseins  ist.  warum  soll  man  nicht  audi  sie  a  ])riori 
erkennen?  Die  \  ernunft  ist  das  AVesen  und  Prinzi})  der  Dinge;  aber 
ist  das  Ich  auch  die  A^-rnunft?  Indem  Kant  dies  stillschweigend 
annahm,  bewies  er  damit  zwar  seine  Angehörigkeit  zum  Ivalionalis- 
mus,  aber  er  hob  damit  den  a])odiktisclien  Charakter  seiner  Er- 
kenntnis auf. 

Gesetzt  nämlich,  es  wäre  Kant  gelungen,  sein  System  als  solclu'S 
mit  apodiktischer  Gewifsheit  zu  demonstrieren:  das  Gebäude  dieser 
l^hilosophie  als  Ganzes  ruht  schliefslich  doch  auf  einem  (ilrunde, 
welcher  selbst  nicht  mehr  sicher  ist.  Schon  die  Gleichsetzung  des 
Ich  mit  der  sch("»])ierischen  A^ernunft,  als  notwendige  Bedini^amg.  um 
die  Aj)odiktizität  unserer  Erkenntnis  zu  eikläri^n.  ist  nichts  mehr 
und  nichts  weniger  als  eine  hlofse  Hyjxithese:  vollends  aber  ist 
es  blofs  hypothetisch,  dafs  die  schöpferische  A'eiiiunft  dei"  (irund 
und  das  Wesen  der  Dinge  sei.  Kant  i'ühi-t  die  Alötglichkeit  einer 
apo.iiktischen  Erkenntnis  zunächst  auf  die  a])riorischen  Formen  zu- 
rück. Aber  scIkui  diese  sind  keineswegs  absolut  notwendig  und 
daher  auch  nicht  fähig,  ein  System  von  absoluter  Notwendigki^t  zu 
tragen,  „AVie  die  eigentümliche  Eigenschaft  unserer  Sinnlichkeit  selbst 
oder  die  unseres  Verstandes  und  der  ihm  und  allem  Deid^en  zu 
Grunde   liegenden    notwendigen   Aj)perzeption    möglich    sei,    läfst 


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240 


B.    Kant  als  Naturphilosopli. 


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sich  nicht  weiter  aufKiseir'  (TV.  (u).  ,.V()ii  der  EigentüniHchkeit 
unseres  Verstjuides,  nur  vermittelst  der  K  ;i  te.c^o  r  i  e  en  und 
nur  gerade  durch  diese  Art  und  Zahl  der  seihen  Einheit 
der  A])perzeption  a  priori  zu  Stande  zu  hringen.  läist  sich  ehenso 
wenig  tV^ner  ein  (Irund  angehen,  als  warum  wir  gerade  diese  und 
keine  anderen  Funktionen  zu  urteilen  hahen,  oder  warum  Zeit  und 
Raum  die  einzigen  Formen  unserer  miiglichen  Anschauung  sind-' 
(III.  \2'^).  Unsere  Sinne  kiumten  ganz  anders  eingerichtet  sein,  ja. 
andere  Wesen  als  wir  hahen  vielleicht  ganz  andere  Formen  der  Er- 
kenntnis. „Wir  kcjnnen  von  den  Anschauungen  anderer  denkenden 
Wesen  gar  nicht  urteilen,  oh  sie  an  die  niindichen  Bedingungen 
gehunden  seien,  welche  unsere  Anschauungen  einschränken  und  für 
uns  allgemein  .gültig  sind"  (1)2).  Wir  kennen  nur  unsere  Art.  die 
Gegenstände  wahrzunehmen,  ,.die  auch  n  i  c  h  t  n  o  t  w  v  n  d  i  g  j  e  d  e  m 
Wesen,  ohzwar  jtMlem  JVIeiischen  zukommen  muls-  (?J).  ,,Ks  lauls 
aher  gleich  anfangs  hefremdlich  scheinen,  dafs  die  Bedin-^ning, 
unter  der  ich  üherhaupt  denke,  und  die  mithin  hlol's  eine  Beschaffen- 
heit mein  es  Suhjekts  ist,  zugleich  für  alles,  was  denkt,  gültig  sein 
solle,  und  dafs  wir  auf  einen  empirisch  scheinenden  Satz  ein  apodiktisches 
und  allgemeines  Urteil  zu  gründen  uns  anmafsen  können,  nämlich 
dafs  alles,  was  denkt,  so  heschali'en  sei,  als  der  Ausspruch  des 
Selhsthewufstseins  es  an  mir  aussagt"  ('iili  f.).  Setze  ich  also  das 
Ich,  wie  es  die  letzte  und  notwendi.qe  Bedingung  meiner  Erkenntnis 
hildet,  auch  hei  anderen  Wesen  voraus  und  schliel'se  daraus  auf  die 
Allgemeingültigkeit  der  aus  ihm  entsprungenen  Erkenntnis,  so  ist 
das  „nichts  weiter  als  die  Uhertragung  dieses  meinc^s  Bewnifstseins 
auf  andere  Dinge,  welche  nur  dadurch  als  denkende  Wesen  vor- 
gestellt werden"  (ehd.).  d.  h.  es  ist  ein  hlofser  Schlut's  der  Analogie, 
eine  Hypothese,  mit  wekdier  Kant  seihst  den  hlofs  hypothetischen 
Charakter  seiner   Philosophie  zugesteht. 

Das  Ichhewufstsein  ist  nach  Kant  nur  eine  Form  unserer 
Vorstellungen.  Folglich  kann  das  schöpferische  Prinzip  dieser  Vor- 
stellungen nicht  wiederum  seihst  Bewufstsein  sein.  Das  Bew^ufstsein 
ist  nur  eine  accidentielle  Beschaffenheit  am  Produkte:  der  Produzent 
jedoch  fällt  nicht  unter  diese  Form,  weil  er  ja  vor  und  jenseits 
ihrer  ist.  Das  Bewufstsein  ist  hei  seiner  rein  formalen  Wesenheit  au l'ser 
Stande,  sieh  produktiv  zu  hethätigen;  es  mufs  seinen  Inhalt  von  andersw^o 
emi)fangen  und  ist  nur  an  und  mit  diesem  Inhalt  zugleich  real. 
Gesteht  man  zu.  dafs  aller  Inhalt  unserer  Erkenntnis  aus  der  \'er- 
nunft  ahlliefst.  so  ist  mithin  die  Vernunft,  als  sehöi)ferisches  Prinzip 
unserer  Erkemitnis.  unhewufst.  und  nur  unsere  Erkenntnis  seihst, 
als  Produkt  ihrer  Thätigkeit,  ist  bewufst.     Gesteht  man    ferner  zu, 


? 


IL  Die  kritische  Xaturpliilosophie.  .)  ^  i 

dafs  diese  Erkenntnis  nur  dann  allgemein  und  notwendig  sei)i  kann 
wenn    Ihre  Quelle  allgemein    und  notwendig,    d.  h.    über    alle  ind,- 
vuluelle  Subjektivität  schlechthin  erhaben  ist.  so  ist  das  erkennende 
Pnnzip  m   uns  nicht  eigentlich  die  individuelle,  einzelne,   sondern  es 
ist  (he  allgemeine  Vernunft.     Nicht  darin   beruht  der  Irrtum   des 
Hationahsmus  und   Kants,    den  Grund  <ler  Möglichkeit  unserer   Er- 
kenntnis   m    der    substantiellen    Vernunft   zu    suchen,    woraus    alle 
Dinge    hervorgegangen    sind,    sondern    darin,    ihn  im  leb      u.  der 
individuell   beschränkten   Vernunft  zu   suchen,   aus  der  auch 
nur  Individuelles  und  Zufälliges  entspringen  kann.     .Nur  .Is  erhaben 
ulior  alle  Subjektivität  oder  als  absolute  Vernunft   ist  dw  Vernunft 
das   Wesen   und  (hu-  (,)uell    des  Seins  und   Denkens.     Nur    deshalb 
weil    sie    aus    ihr    unmittelbar  hervor^n-angen  sind,    sind  die  Kate- 
gorieen  allgemein  und  notwendig.     So  aber  ist  die   Vernunft  nicht 
Bewufstsein,    somleni    schafft  sie    dieses  erst  als  eine   Form,    die 
dir  nur    in    der  Sphäre    ihrer    individuellen    Beschränkung    anhaftet 
und    nur    für    diese  wesentlich    ist.     Die   Kategorieen  aber,    als  die 
f(u-mgebenden  Prinzipien    des   Erkenntnisstoffes,    sind  mit    dem   Be- 
wufstsein   unmittelbar   nicht   zu   fassen,    weil  sie    das    Prius  des  Be- 
w^ufstseins  sind. 

Auch  Kant  neiuit  die  Einbildungskraft,  sofern  sio  die  Synthese 
dc^s  EmpÜndungsmaterials  zu  Vorstellungen  vollzieht,  eine  „blinde, 
obgleich  unentbehrliche  Fuidvtion  d(U'  Seele,  olnu^  die  wir  überall 
gar  keine  Erkenntnis  haben  würden,  der  w  i  i-  uns  aber  selten 
nur  einmal  bewufst  sind"  (<)})).  Jene  Verknüpfung  geht  also 
gänzlich  jenseits  der  Schwelle  dt\s  Bewufstseins  vor  sich,  sie  ist 
„eine  verborgene  Kraft  in  den  Tiefen  der  menschlichen  Seele,  deren 
wahre  Handgriife  wir  der  Natur  schwerlich  jemals  abraten  und  sie 
unverdeckt  vor  Augen  legen  werden"  (I-i:)).  .la,  Kant  giebt  sogar 
zu.  dafs  die  reine  Aj)perzeption  eigentlich  noch  gar  nicht  selbst 
Bewufstsein,  sondern  hlofs  mögliches  Bewufstsein  sei,  indem  sie 
die   Vorstellung:   ich  deidvc  erst  ..hervorbringt"   (IKI).*) 

*)  Gewisse  Kantianer,  denen  der  Gegenstand  unmittelbar  un<l  olnic  Rest 
mit  der  [)ewui'sten  Vorstellun<r  desselben  /.usanimenlällt,  «rlauben  oluw  Zuliilte- 
nalnne  tler  ihnen  widerspruchsvoll  erscheinenden  Hyjxjthese  eines  konstanten 
l^inges  an  sich  dem  (-reorenstande  eine  fortdauernde  Uealitiit,  auch  dann,  \v(M!m 
Jener  nicht  ^r^rade  im  liewufstsein  ist,  dadurch  sichern  /u  können,  indem  sie 
^^^^^  ^ii  üas  „mö<rliche  JBewufstsein^'  verlejreii.  8ie  machen  sicli  hierbei,  wie  .lieses 
'ibrioens  aucli  schon  Kant  selbst  n^etliaii  hat,  die  schillernde  Bedeutung  jenes 
Ausdrucks  zu  Nutze,  indem  sie  darunter  bald  ein  Reales  verstehen,  das  als 
solches  natürlich  auch  imstande  ist,  dem  Gegenstande  Realität  zu  verleihen, 
bald  sich  darauf  berufen,   dafs  die  Kategorieen  der  31odalität  ja  nur  das    Ver- 

n  r  e  w  s  ,  Kants  Naturphilosophie.  ](j 


B.    Kant  als  Natnrphilosoph. 


In  (1er  all,iT^onieiiieii  Vernunft,  von  welcher  die  individuelle  nur 
eine  Einschränkung,  eine  Krseheinung.  ein  schwacher  A])^lnnz  ist, 
findet,  weil  sie  nicht,  wie  die  unsrige.  ein  sie  heschriinkendes  Dr.uilsen 
sich  ^egenüher  liat,  der  (4egensatz  von  Spontaneität  und  Ileze])tivit;it 
nicht  statt.  8ie  bedarf  keines  besonderen  Aktes  der  8vnthesis  eines 
von  aufsen  gegebenen  EnipfindungsstoiTes :  vielmehr  sind  Stoff  und 
Form  in  ihr  nicht  getrennt,  sind  sie  zu  unniittelbartu*  Einheit  mit 
einander  verbunden.  Die  I\at(\gorieeii  sind  nur  ..  KN\i;eln  fiii-  einen 
Verstand,  dessen  ganzes  Vermögen  im  Denken  besteht,  d.  i.  in  der 
Handlung,  die  Synthesis  des  Mainiigfaltigen,  welches  ihr  anderweitig 
in  der  Anschauung  gegeben  worden,  zur  EiiduMt  der  Apperzeption 
7Ai  bringen,  der  also  für  sieh  gar  nichts  erkennt,  sondern  nur  den 
Stoff  zur  F]rk(umtnis,  die  Anschauung,  die  ihm  <lui'c]>s  ()biekt  gegeben 
w^orden.  verbindet  und  ordnet''  (ri^)).  Ein  Verstaml,  liir  welchen 
die  Ivategorieen  in  dieser  Hinsicht  bedeutungslos  wären,  ,.(ler  nicht 
gegebene  Gegenstände  sich  vorstellte,  sondern  durch  dessen  Vor- 
stellung die  (regenstände  selbst  zugleich  gege])en  oder  hervorgebracht 
würden*',  ein  solcher  Verstand  würde  dahiu-  auch  nicht  Erscheinungen, 
sondern  die  Dinge,  wie  sie  an  sich  selbst  sind,  erkennen, 
er  würde  anschauen:  der  unsere  kann  nur  denken  und  mul's  in 
den  SinniMi  die  Anschauung  suchen  (117.  1  IIb  TJ.!.  'Jlbtf.).  Eine 
solche  intellektuelle,  d.  h.  von  der  Sinnlichkeit  befreite.  An- 
schauung kann  aber,  wie  sclion  bemerkt,  nui"  die  göttliche 
Anschauung  sein.  Es  ist  daher  nichts  weniger  als  eine  V'ei- 
wechselung  des  göttlichen  mit  dem  menschlichen  Deid<en.  wenn  man 
das   Ichbewufstsein  mit  der  sch(>pferischen  Vernunft  identiliziert. 

Das  transcendentale  Ich  ist  kein  Ich,  sondern  es  ist  nur  der 
substantielle  Grund  eines  solchen.  Der  Unterschied  zwischen  dem 
Ich  und  diesem  substanti(dlen  (-irunde  der  Erkenntnis  ist  eine  solcher 
zwischen  «h'ui  Produkt  und  seinem  Produzenten,  zwischen  der  mensch- 


liiiltnis  zum  EtkenMtnisvermö^"en  ausdrii.  ken  und  daluT  das  ]n<"»oli('h('  Bewul'st- 
seiu  aucli  nicdit  für  sich  real  /u  denken  stü  (\'ii;\.  /..  H.  AI  brecht,  Krause: 
Die  (Tcsetze  des  menschlichen  Herzens  wis  s  e  n  s  ch  a  l't  1.  ilar  «^-est  c  1 1 1 
als  die  formale  Loo-ik  des  r-einen  (refülils  (l(S;(;)^  {-j  \  if,).  Es  ist  aher 
klar:  im  ersten  Falle,  wenn  das  mti^liche  Bewufstsein  eine  eiun-ne  Jiealität  l»c- 
sitzt.  die  nicht  mit  derjeniucn  des  wirklichen  zusammenfällt,  lenken  sie  damit 
nur  in  die  Annahme  des  bewul'stseinstranscendentcn  i)inLj;-es  an  sich  wieder 
ein,  der  sie  doch  gerade  entji^ehen  wollten;  im  /.weiten  Fall  aher  sind  auch  die 
Gegenstände  nu-ht  i-eal,  sondern  })lors  hypostasierte  ^[(i^lichkeiten.  Entweder 
ist  das  mögliuh-e  Bewufstsein  Etwas,  dann  ist  es,  als  »-in  von  dem  aktuelhMi 
Bewufstsein  Verschiedenes,  ein  Ding  an  sich;  oder  es  ist  kein  Ding  an  sich, 
dann   ist   es  nichts  und   damit  auch  als    Frklärungsprinzij»    nicht  zu  gel)rauchen. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


24:i 


liehen  und  g(;ttlichen  Vernunft,  zwischen  bewufstem  und  unbewufstem, 
diskursiv-abstraktem  en<llichen  und  intuitiv-schcipferischem  ai)^oluten 
Denken.  Damit  luirt  die  Hoifimng  auf.  jemals  zu  einer  solchen 
unzweifelhaften  Gewifsheit  zu  gelangen,  wie  sie  von  Kant  iu  der 
Meta])hysik  ano(.,strebt  wird.  Denn  nun  erscheint  es  einfach  a{>  em 
Widerspruch,  mit  uns(Tm  endliehen,  indivi.luclhMi  Denken  :!ngcmein 
und  notwendig  denken  zu  w-dlcn.  weil  wir  mit  uiiserm  bewufsten 
Denken  nicht  zugleich  uid)ewurst  denken  kchmen ,  weil  unsere 
diskursiv-abstrakte  Deidvopei'ation  nicht  zugleich  intellektuelle  An- 
schauung sein  kann.  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit  oder  a])0(lik- 
tische  GcAvifsheit  «h'r  Erkenntnis  ist  für  uns  nur  insoweit  erreichbar, 
als  die  absolute  Vernunft  —  vorausgesetzt,  dafs  es  eine  solche 
giebt  —  Ix'i  ihi-er  Einschränkung  zur  individuellen  Vernunft  ihren 
Charakter  als  \\'rnuiift  bewahrt,  d.  h.  soweit  es  sich  um  das  rein 
Formale  der  Vernunft,  meht  um  ihre  Erscheinung  in  den  (unzelnen 
Objekten  handelt;  denn  diese  sind  lÜi-  das  Individuum  ein  di-aufseu 
stehendes  Sein,  eine  besondere  Realitiit,  während  sie  im  V.  ihähnis 
zur  allgeuH^inen  Vernunft  nur  Moditikationen.  iidialtliche  Hestinnnungen 
dieser  selbst  darstellen. 

Xur     wo     die     V^ernunft     imierhalb      ihrer     eigenen     Grenzen 
bleibt,   IUI   Gebiet  des  subjektiven  Denkens,   mir  da   ist  ein   schlecht- 
hin   allgennungültiges,    apodiktisches    Urteil    a   j)rioi-i    mrjgh'di,     mit- 
hin in    deji    Wissenschaften    der   Mathematik    uml    der   Logik, 
JJafs  zwei  mal   zwei    gleich   vier  oder    die  Summe  der   Winkel  eines 
Dreiecks  gleich  zwei  R  ist.   das  sind  Sätze,   die  ein  nur  halbwegs  ver- 
nünftiger Mensch  sowem'g  bezweifeln  kann,   v  ie  den  Satz  der  Identität 
oder   die  W^ahrheit  des  Satzes  vom  zureichenden  Grunde.     Abcj-  <lies 
gilt  wohlgenu'rkt    nur  von   der  formalen    fjDgik   inid  der  rcincMi 
Mathematik,   die   v<ui   den   blofsen  Gesetzen  des  D(udvens  als  solchen 
und  von  gedacTiten  Objekten  handeln.  dei"en  spezifische  Beschaflen- 
heit    gleichgültig    ist;    aber    es    gilt   nicht    mehr  von    jenen   Wissen- 
schaften.  sol)ald   ihre  Sätze  auf  i'eale  Objekte  angewendet   werden. 
„Ich  weifs  zwar  mit  apodiktischer  Gewifsheit.   dafs  es  mir  unmöglich 
ist,   ein  Dreieck,   das  ich  mir  denk(\   anders  als  mit  d' r  Winkelsumme 
von    KS(V'  zu  denken;    ob  aber  dieses   gesetzmäfsige   Veiliältnis  eiiu- 
über  die  Subjektivität  meines  (ledaidcens  hinausg(diende  Realität   hat. 
davon   kann   ich   a   j)riori  gar  ni(;hts  wissen,   sonchuii   nur  duich    Er- 
fahrung und   In<luktion.    Mithin   ist  z^\•ar  die  subjektive  Deid<- 
notwendigkeit.    der    mathematischen    Gesetze    für    micii     apodiktisch 
gewnfs.   aber   keineswegs  ihre  reale  Gültigkeit,   sondern   dies(    ist   nur 
höchst    wahrscheinlich."*)     Kant    sfdbst    gesteht:     „Siuniichp 


*)  V.    Hartniann:    Krit    (irundlg.    I3J1". 


16' 


244 


-B.    Kant  als  \aturpliil()S()[)li. 


Aiiscliaiiuiin^  ist  entweder  reine  Anscliauun<j^  (Kaum  und  Zeit)  oder 
empirische  Anschauun^^  desjenii^a^n.  was  im  Raum  und  der  Zeit  un- 
mittell);!r  als  wirklich,  durch  Kmptinduiig  vorbestellt  wird.  Durch 
Bestimmunf(  der  ersteren  kiinnen  wir  Erkenntnisse  a  priori  von 
Gegenstjinden  (in  der  Mathematik)  hekommen.  aber  nur  ihrer  Form 
nach,  als  Erscheinungen;  ob  es  Dinge  gehen  kcinne,  die  in 
dieser  Form  angeschaut  werden  müssen,  hleil)t  doch  dabei  noch 
unausgemacht.  Folglich  sind  alle  mathematischen  IJegritVe  l'ür 
sich  nicht  Erkenntnisse;  aul'ser  sofern  man  voraussetzt,  dal's  es 
Dinge  giebt.  die  sich  nur  der  Form  jener  reinen  sinnlichen 
Anschauung  gemitls  uns  darstellen  lassen.  Dinge  im  Raum  und  d(  r 
Zeit  werden  aber  nur  gegeben,  sofern  sie  Wa  h  r  n  e  h  m  u  n  g  c  n  (mit 
Empfindung  l)egleitete  V^orstellungen)  sind,  mitliin  durch  em- 
p  i  r  i  s  c  h  e   V' orstellung-'   ( 1  '21). 

F]s  war  daher  einer  der  verhängnisvollsten  Schritte  Kants,  wenn 
er  trotz  seiner  ganz  richtigen  IJnterscheiduiig  zwischen  reiner  und 
angewandter  Mathematik  die  Frinzipit  ii  der  ersteren  unmittelbai- 
auch  auf  die  letztere  übertrug  und  dieselbe  apodiktische  Gewif>heit. 
welche  die  reine  j\Iathen)atik  in  ihren  Sätzen  unzweil'elhaft  enthält, 
auch  bei  der  angewandten  .Mathematik  voraussetzte.  Die  angewandlt' 
Mathematik  ist  eine  synthetische  Wissenschaft,  sofern  sie  auf  der 
Voraussetzung  beruht,  dafs  die  (legenständc  in  der  Wirklichkeit 
mit  den  (besetzen  der  reinen  ^lathennitik  übereinstimmen;  aber  sie 
ist  auch  eben  deshalb  nichts  weniger  als  a  [)ri()ri,  weil  diese  Über- 
einstimmung nur  durch  die  Erfahrung  und  somit  h}])()thetisch  zu 
erweisen  ist.  Die  reine  Mathematik  dagegen  ist  eine  analytischr 
Wissenschaft,  weil  ihre  Sätze  durch  ZerglitMlerung  aus  ih'u  voran- 
gestellten Delinitionen  abgeleitet  siniL  Nui*  wril  Kant  die  apriorische 
und  apodiktische  Wissenschaft  der  reinen  Mathematik  l'ür  synthetisch 
hielt,  während  sie  doch  nur  analytisch  sein  kan*n,  nur  deshalb 
konnte  er  dazu  kommen,  die  synthetische  Wissenschaft  der  ange- 
wandten Mathematik  für  api-iorisch  und  apodiktisch  zu  haltm. 
während  sie  doch  nur  aposteriorisch  und  hypothetisch  ist.  Hatte 
er  einmal  die  apriorisch-synthetische  Natur  der  reinen  ^Mathenuitik 
auf  die  apriorische  Existenz  der  reinen  Anschauungslormen  Jxauiu 
und  Zeit  gegründet,  so  mufste  er  diese  jetzt  für  blofs  subjektiv 
erklären,  weil  die  (Jesetzmäfsigkeit  in  der  angewandten  Mathematik 
natürlich  nur  dann  aprntrisch  sich  entwickeln  liefs,  nur  dann  apo- 
diktische (Geltung  haben  konnte,  w(^nn  die  vorausgesetzte  i\ealität 
ihrer  Objekte  nur  die  empirische  Kealität  in  der  Erscheinung  war. 
Dann  aber  war  es  auch  nur  mehr  Ein  Schiätt,  die  Mr>gliclikeit  der 
reinen   Naturwissenschaft    und    der  Meta[)hysik,    deren    synthetisch- 


II.   Di."  kritiseho  Xatur])hil()soj)hie. 


245 


apriorische  Natur  ihm  feststand,  ganz  in  derselbt^n  AVeise  aus  der 
a])riorischen  Natur  der  Denklormen  zu  erklären,  mdem  er  ihnen 
gleiclifalls  den  Stemi)el  des  rein  Subjektiven  aufdrückte.  Weil  in 
der  formalen  AVissenschaft  der  reinen  Mathematik  die  A])ri(»rität 
luid  ai)odiktische  Gewifsheit  ihrer  Sätze  auf  dor  blnis  subjektiven 
Geltung  derselben  beruht,  darum  soll  auch  in  den  realen  Wissen- 
schaften der  reinen  Natuiwissenschaft  und  Metaphysik  die  Erkenntnis 
blofs  subjektiv  gültig  sein,  weil  sie  nur  so  a])riorisch  und  aj.o.liktisch 
sein  kann:  das  ist  der  Gedankenij^ang.  welcher  aus  der  unheil- 
vollen Verwechselung  der  realen  mit  den  formalen  Wissenschaften 
entsi)ringt.  und  worauf  die  ganze  kantische  ]^hil()soi)hie  sich 
gründet.*) 

Was   uns    betrifft,    so    poclien  wir  nicht  mehr  auf  apodiktische 
Gewifsheit  der   Erkenntnis    in  andern    wie   den  erwähnten   blofs  for- 
malen   AVissenschaften.      (ierade    die    Naturwissenschaft,    in    deren 
Interesse  sich  Kant   in   erster  liinie  um  die  .Ab'iglichkfM't  einer  solchen 
Gewifsheit    bemüht    hat    und    der    zu  Jjiebe  er  die  ganze  bisherige 
AnschauuuG^sweise    umgekrem])elt    und    die    Natui'    zu    einer    hlofsen 
Erscheinung    in    unserm    Bewufstseni    verkehrt   hat,    gerade    sie   hat 
sich   vielleicht  durch   nichts  ein  gröfseres  Verdienst    um    i]iv    Philo- 
sophie erwoi-ben   als  dadurch,    dafs  sie  ihr  I^escheidenheit  in   l>(>zug 
auf    den    (lewifsheitsgrad    unserer    Erkenntnis    freiehrt    hat.     Es  ist 
nicht    richtig,    dafs    Kant  die    Mögliclikeit   einer   apodiktischen  Er- 
kenntnis in  realen  AVissenschaften  bewiesen  hätte.     AVohl  aber  hat 
ei-    mittelbar  die    Einsicht    in    die    Unm(>glichkeit   einer   s<dciien  da- 
durch    herbeiführen     helfen,     dafs    sein    ti-anscendentalej-    Idealismus 
diese   F'i-age   zur   brennenden   gemaclit   und.    iiuh^m   vv  den   absoluten 
Idealismus  eines   H  egel  aus  sich  hervoigetrieben.  den  R'atioiialisnius 
selbst  ad  absurdum   geführt   hat.      Nicht   Kant  steht  am  Ende  einer 
Ejjoclie  der  Philosophie,   deren  AVesen  diT  i-ationalistische  Doi^matis- 
mus  ist.    und   di(^  sich   von    Descartes    bis  zu.i'  A^r-i-nunftkritik   er- 
sti'eckt:   der  kantische  Kritizismus   ist  seihst  nichts  Andej-es  als  ein 
dogmatischer  J-Jationalismus :   er   ist    nui-   der    Versuch    einer    neuen 
Grundlegung  dieser  Theorie,    wie    zuei"st    Spinoza    einen    solclien 
unternommen    hatte,    nur    dafs   er  —  in    umgekehrter    Weise,    wie 
dieser  —  die  mit  der   V^ernunft  a,   priori  zu  eikennende  Welt  nicht 
in   eine  intelligible  Sj)häre    jenseits    des    Bewufstseins,    sondern    ins 
IJewufstsein   selbst   vtu'legte. 

Dei'jenige.     der    den    Kationalismus    zuerst     ph  i  1  o  so  p  li  j  s  c  h 


*)    Vfjl.    V.    Hai'tTiiann:    Kants    Ei-koniitMistlieorie    u.    ^Ictajiliysik    'J7  W 


244 


B.    Kant  als   Naturpliilos()|>h. 


II.   Di«'  kritische  NaturphÜDsoiihie. 


245 


AiiscliauuTinr  ist  entweder  reine  Anscliaimniy  (Raum  und  Zeit)  odf  r 
empirische  Anscliauun^r  desjeni<ren,  was  im  Raum  und  der  Zeit  un- 
mittelb.!!-  als  wirklieli,  dureh  Kmplindung  vor^'estellt  wird.  Durch 
Bestimmung,'  der  ersteren  krunun  wir  Erkenntnisse  a  priori  von 
Gegenstämlen  (in  der  Mathematik)  bekommen,  aber  nur  ihrer  Form 
nach,  als  Krscheinun<T;en ;  ob  es  IJinge  geben  könne,  die  in 
dieser  Form  angeschaut  werden  müssen,  bleibt  doch  dabei  noch 
unausgemacht.  Folglich  sind  alle  mathematischen  F)egrilVe  für 
sich  n  i  c  h  t  E  r  k  (3  n  n  t  n i  s s  e ;  aut'ser  sofern  man  voraussetzt,  dafs  es 
Dinge  giebt,  die  sich  nur  der  Form  jener  reinen  sinnlichen 
Anschauung  gemiifs  uns  darstellen  lassen.  Dinge  im  Raum  und  der 
Zeit  werden  aber  nur  gegeben,  sofern  sie  Wa  hr  neh  m  u  nge  n  (mit 
Empfindung  begleitete  V^)rstelliingen)  sind,  mithin  (buch  em- 
pirische  V  orste  1 1  ung  "   (124). 

F]s  war  daher  einer  der  verhän.^nisvollsten  Schritte  Kants,   wenn 
er  ti'otz  seiner  ganz   richtigen   Unterscheidung    zwischen    reimr  uikI 
angewandter  Mathematik    dii^    Frinzipi(  n    der    ersteren    nnmittelb.'ir 
auch  auf  die   letztere  übertrug   und  dieselbe  a))odiktische  Gewil^beit. 
welche  die  reine   Mathematik   in   ihren   Sätzen  unzweifelhaft  enthält. 
auch  bei  der  angewandten  M;itiiematik  voraussetzte.     Die  angewandti- 
Mathematik    ist  eine  synthetische    Wissenschaft,    sofern    sie   auf  der 
Voraussetzung    beruht,    dafs    die   (legenstände    in    der    Wirklichkeil 
mit  den  (jesetzen  der  reinen  j\lathematik  übereinstimmen;  aber  sie 
ist  auch   eben   deshalb   niehts   weniger  als  a   priori,    weil   diese  Cber- 
einstimmung   nur  durch  die    Erfahrung    und    somit    hypothetisch    zu 
erweisen  ist.      Die    leine    Mathematik  dagegen    ist    eine    analytische 
Wissenschaft,    weil    ihre  Sätze  diiich  Zergliederung   aus  den  voran- 
gestellten Definitionen  abirfh-itet  simL    Nur  weil  Kant  die  apriorische 
und  apodiktische  Wissenschaft  der  reinen  Mathematik  für  synthetiscii 
hielt,    während    sie    doch    nur    analytisch    sein    kan*n,    nur    deshalb 
konnte   er   dazu    kommen,    die    synthetische    Wissenschaft  (h  r  ange- 
wandten   Mathematik    für    apriorisch     und    apodiktisch    zu    halten. 
während   sie  doch    nur    aposteriorisch     und    hypothetisch   ist.      Hatte 
er  einmal  d'w  apriorisch-synthetische  ^\atur    der  reinen  Mathematik 
auf  die    apriorische    Existenz    der    reinen   Anschauungsformen   Raum 
und  Zeit    gegründet,    so    mufste  er  diese  jetzt   für    blofs    subjektiv 
erklären,    weil  die   Gesetzmäfsigkeit   in   der  angewandten  Matln^matik 
natürlich   nur  dann   apriorisch  sich   entwickeln    liefs,    nur  dann  apo- 
diktische (jeltung    iiabi'n    konnte,    wenn  die  vorausgesetzte  Realität 
ihrer  ()l)jekte  nur  die  em])irische  Kealität  in   der   Erscheinung  war. 
Dann   aber   war  es  auch   nur  mehr    Ein   Schritt,   die  Möglichkeit  der 
reinen   Naturwissenschaft    und    der  Metaphysik,    deren    syntlietisch- 


4 

4 


(T 


apriorische  Natur  ihm  feststand,  ganz  in  derselben  Weise  aus  der 
ai)riorisclien  Natur  der  Denkformen  zu  erklaren,  indem  er  ihnen 
gleiclifalls  den  Stempel  des  rein  Subjektiven  auf.li-iickte.  Weil  in 
der  formalen  AVissenschaft  der  reinen  Mathematik  die  Ai)riorität 
und  a])odiktische  Gewifsheit  ihrer  Sätze  auf  der  blofs  subjektiven 
Geltung  derselben  beruht,  darum  soll  auch  in  den  realen  Wissen- 
schaften der  reinen  Naturwissenschaft  und  Metaphysik  die  Erkenntnis 
blofs  subjektiv  .i^rülti;,^  sein,  weil  sie  nur  so  a])riorisch  und  apoildvtisch 
sein  kann:  das  ist  der  Gedankeni^rang.  welcher  aus  der  unheil- 
vollen Verwechselung  der  realen  mit  den  formaliMi  WissenschaftiMi 
entsi)ringt,  und  worauf  die  ganze  kantische  J^hilosophie  sich 
rundet.*) 

Was   uns   betrifl't.    so   pochen  wir  nicht  mehr  auf  ajx.diktische 
Gewifsheit  der   Erkenntnis   in  andern    wie   den  erwähnten   blofs  for- 
malen   AVissenschaften.      (gerade    die    Naturwissenschaft,     in     deren 
Interesse  sich  Kant   in   erster  Tiinic^  um  die  Alöglichkeit  einer  solchen 
Gewifsheit    bemüht    hat     und    der    zu   Liebe  er  die  ganze  bisherige 
Anschauungsweise    umgekrem])elt    und    die    Natur   zu    einer   blofseii 
Erscheinung    in    unserm   Bewufstsein    verkehrt   hat,    gerade   sie  liat 
sich   vielleicht  durch  nichts  ein  gnifseres  Verdienst    um    ihc    J^hilo- 
Sophie  erworben   als  dadurch,    dafs  sie  ihr  Bescheidenheit  in  Bezug 
auf    d(Mi    Gewifsheitsgrad    unserer    Erkenntnis   gelehrt    hat.     Es  ist 
nicht     i'ichtig,    dafs    Kant  die    Mciglichkeit   einer   apodiktischen   Er- 
kenntnis in  realen   AVissenschaften  bewiesen  hätte.     AV^ohl  aber  hat 
ei'    mittelbar  die    Einsicht    in    die    Unmöiglichkeit    einer   solchen  da- 
durch   herbeiführen    helfen,    dafs    sein    transcendentaler    Idealismus 
diese  Frage  zur  brennenden  gemacht  und.    indem  er  den  absoluten 
Idealismus  eines  Hegel  aus  sich  hervorgetrieben,  den  J\ati(uialismus 
sell)st  ad  absurdum  gefiUirt  hat.      Nicht   Kant  steht  am  Eiaie  einer 
Epoche  der  i-*hilosophie.   deren  AVesen  i](^v  i'ationalistische  Donrmatis- 
mus  ist.    und  die  sich  von    Descartes    bis  zur  Vernunftki'itik  er- 
streckt:  der  kantische  Kritizismus  ist  selbst  nichts  Andei-es  als  ein 
dogmatischer   Kationalismus:   er    ist    nur    der    Ver.sueh    einei'    Jieuen 
Grundlegung  dieser  Theorie,    wie    zuerst    Spinoza    einen    solchen 
unternommen     hatte,     nur    dafs    er  —  in    unii^ekehrtei-    Weise,     wie 
dieser  —  die  mit  der   Vernunft  a  ])i-iori  zu  erkennende  Welt  nicht 
in  eine  intelligible  Sjdiäre    jenseits    des   Bewufstseins,    .sondern    ins 
Fx'wufstsein   selbst   v(>ilegte. 

Derjenige,     der    den    l^ationalismus    zuerst     philosophisch 


.si-94. 


y</\.    V.    TI  a)t  ma  11 11 :    Kants    Erkenntnistheorie    u.    JMetapJiysik    27  f. 


246 


B.    Kant  als  Naturj)hilosn])li. 


II.    J)ie  kritische  Naturphiloso2)hie. 


247 


überwunden  hat,  ist  kein  anderer  als  Seh  eil  in  ^.  nicht  der  Schel- 
1  in^  der  >«'atürphil(»s()])liie,  sondern  der  8chr»])ier  der  ..Freiheitslehn^'- 
und  „j)()sitiven  Phik)soi)hie-\  deren  unbestrittenes  Verdienst  es  bleiben 
wird,  den  fundamentalen  Kehler  der  rationalistischen  Philosophie  zum 
rrsten  Mal  in  seiiu'm  tiefsten  Grunde  auf^^edeckt  zu  haben.  In 
diesem  Sinne  ist  das  hohe  J^x'vvufstsein  Schell  ings  ganz  berech- 
tigt, mit  dem  er  seine  ,.positive--  Philosophie  der  bhMierigen  „negativen" 
Philosophie  des  Kationalismus  entgegen  gestellt  hat.  Angesiclits 
dessen,  dafs  Kant  darauf  ausging,  der  Naturwissenschait  durch 
seinen  Rationalismus  ein  unerscliiitterliches  KundanuMit  zu  geben 
und  eine  apodiktische  iiberempirische  A'aturphilosoi)hie  zu  schaffen, 
erscheint  es  wie  eine  Ironie  der  (ilescbichte,  dafs  der  gnifste  A'er- 
treter  dieser  idealistischen  ^'aturphih)sophie  und  die  Naturwissen- 
schaft mit  ihrer  Empirie  dem  liationalismus  den  Todesstofs  ge- 
geben  haben. 

Von  jener  Zeit  her  datiert  eine  neue  Epoche  in  der  l'hilo- 
sopliie,  mit  ihr  ist  (bis  induktive  Zeitalter  (hn selben  angebrochen. 
Wir,  (he  wir  m  dieser  Epoche  leben,  wir  glauben  ni(;lit  mehr  an 
die  Möglichkeit,  aus  reiner  Vernunft  auf  deduktiv-analytischem 
Wege  den  ganzen  Inhalt  der  Erkenntnis  ableiten  zu  können.  Die 
ganze  berühmte  Erag(.-  nach  der  Miiglichkeit  synthetischer  Urteile 
a  priori  beantwortet  sich  für  uns  dahin,  dafs  es  solche  Urteile  in 
dem  Sinne,  wie  Kant  es  meint,  als  apodiktische  Urteile  in  realen 
Wissenschatten,  ü  l)  e  r  h  a  u  !>  t  n  ich  t  gi  e  b  t ,  und  (hifs  wir  zu  realen 
Erkenntnissen  durcliaus  nur  auf  dem  AV'ege  der  Erfahrung  gelangen 
können.  Wir  teilen  dw  Pefiirchtung  der  Rationalisten  nicht,  uns 
an  der  Erlahrung  die  Finger  zu  Ijeschmutzen;  wir  wissen,  dafs  die 
Erfahrung  uns  zwar  nur  eine  hypothetische  Erkenntnis  liefern 
kann,  aber  wir  sehen  auch  keinen  Grund  darin,  diese  Eikenntiiis 
blofs  deshalb  abzuweisen,  weil  sie  nicht  mehr  als  wahrscheinlich  ist. 
Darum  vermi^gtMi  wir  auch  nicht  einzusehen,  warum  uns  der  W^eg 
zu  dem  Gebiet  versperrt  sein  sollte,  das  sich  nicht  unmittelbar 
auch  als  Erfahrung  ausweist.  Wir  sind  überzeugt,  schon  auf  den 
untersten  Stufen  der  Erkenntnis  es  blofs  zur  Wahrscheinlichkeit 
bringen  zu  können  und  haben  (hilier  keine  Veranlassung,  aus  diesem 
ihrem  Mangel  an  ai)odiktisclier  Gewifsheit  einen  prinzi])iellen  Ein- 
wand gegen  die  oberen  Stufen  zu  lormieren.  Die  Erkenntnis  des 
Erfahrungsgebietes  und  der  Olgekte  der  Ideen  ist,  unter  diesem 
Gesichtspunkt  betrachtet,  nur  g  r  .-i  d  u  e  1 1  verschieden.  Sie  weichen 
nur  in  der  gnifseren  oder  geringeren  W^dirscheinlichkeit  von  ein- 
ander ab.  und  man  kann  nicht  wissen,  bis  zu  welchem  Grade  auch 
die   übersinnliche   Erkenntnis   noch   anwachsen   nia--. 


• 


:i 


Ereilich  gehört  diese  Erkenntnis  der  Ideen  nicht  in  die  Natur- 
wissenschaft hinein.  „Naturwissenschaft  wird  uns  niemals  das  Innere 
der  Dinge,  d.  i.  dasjenige,  was  nicht  Erscheinung  ist.  aber  doch  zum 
obersten  Erklärungsgrunde  der  Erscheinungen  dienen  kann,  entdecken. 
A])er  sie  ])r.MUchtdies(^s  auch  nicht  zu  ihren  ])hysischen  Erklärungen:  ja. 
wenn  ihr  auch  dergleichen  anderweitig  angeboten  würde  (z.  P.  Ein- 
tiufs  immaterieller  Wesen),  so  soll  sie  es  doch  ausschlagen  und  gar 
nicht  in  den  Eortgang  ihrer  Erklärungen  liringen,  sondern  diese 
jederzeit  nur  auf  das  gründen,  was  als  Gegenstand  der  Sinne  zur 
Erfahrung  gehören  und  mit  unseren  wirklichen  Wahrnehmungen 
und  Erfahrungsgesetzen  in  Zusammenhang  gebracht  werden  kann" 
(IV.  100  f.).  Nicht  dafs  wir  die  intelligibeln  ersten  Gi'ünde  aller 
Erscheinungen  leugnen  ;  aber  wir  dürfen  sie  doch  niemals  in  den 
Zusammenhang  der  Naturerklärung  ])ringen  (111.  iJJ.  lY.  71)). 
„Ordnung  und  Zweckmäfsigkeit  in  der  Natur  mufs  wiederum  aus 
Naturgründen  und  nach  Naturgesetzen  erklärt  werden:  und  hier 
sind  selbst  die  wildesten  Hypothesen,  wenn  sie  nur  physisch  sind, 
erträglicher  [ils  eine  hyperpliysische,  d.  i.  die  iJerufung  auf  einen 
göttlichen  Urheber,  den  man  zu  diesem  IJehuf  voraussetzt.  Denn 
dns  wäre  ein  Prinzip  der  faulen  Vernunft,  alle  Ursache,  deren 
objektive  Realität  wenigstens  der  Möglichkeit  nach  man  noch  durcii 
fortgesetzte  Erfahrung  kann  kennen  lernen,  auf  einmal  vorbeizugehen, 
um  in  einer  blofsen  Idee,  die  der  Vernunft  sehr  be({uem  ist,  zu 
ruheir'  (HI.  r)12).  „Die  Naturforschung  geht  ihren  Gang  ganz 
allein  an  der  Kette  der  Naturursachen  nach  allgemeinen  (jesetzen 
derselben,  zwar  nach  der  Idee  eines  Urhebers,  aber  nicht  um  die 
Zweckmäfsigkeit.  der  sie  allerwärts  nachgeht,  von  demselb(>n  abzu- 
leiten, sondern  sein  Dasein  aus  dieser  Zweckmälsigkeit.  die  m  dein 
Wesen  der  Naturdinge  gesucht  wird,  womöglich  auch  in  dem  Wesen 
aller  Dinge  in)erhau])t,  mithin  als  schlechthin  notwendig  zu  er- 
kenneir'   (41):")).  — 

Die  Untersuchung  des  Erkenntnisvermögens  hat  den  Glauben  an  die 
Möglichkeit  einer  transceiulenten  apodiktischen  Metaphysik  zerstört. 
Aber  sie  hat  an  deren  Stelle  die  i  m  m  a  n  e  n  t  e  Meta])h vsik  gesetzt,  die 
zwar  nicht  eine  Theorie  der  übersinnlichen  ()l)jekte.  wohl  aber  dw 
menschlichen  Erkenntnis  ist.  Diese  Metaphysik  üherschreitet  nicht 
die  Grenzen  der  Erfahrung,  ist  aber  nichtsdestoweniger,  ganz  eljciiso 
wie  die  bisherige  ^leta])hysik.  ..das  Inveiitarium  aller  unserer  Re- 
griffe durch  reine  Vernunft,  systematisch  geordnet.*^  (II)  oder  der 
Inbegrilf  aller  Erkenntnisse  !t  priori,  die  :ille  Erkenntnis  überhaupt 
erst  systematisch  macht,  und  in  diesem  Sinne  ,.die  Vollendung  aller 
Kultur  der  menschlichen  Vernunft,    die  unentbehrlich   ist.-     „Denn 


248 


K.    Kaut  als  Natiir))hilo?o])h. 


sie    betrachtet    die  Veniiiiift    nach    iliren   Rh^Dienten    und    obersten 
Maximen,   die  selbst  der  M  ö^rli  c« },  k  ^i  t  einiger  Wissenschaften  und 
dem  Gebrauche  aller  zu  Grunde  lie.i^en  müssen-'   {')^)^)).    Und  zwar 
nmfai'st  sie  nicht    allein   die  konstitutiven,    ihrer  Geltung  nach 
objektivei»  Prinzipien  der  Sinnlichkeit   und  des   \'erstandes  (die  An- 
schauungsformen,  Kategorieen   und  Grundsätze),    sondern    auch    die 
blofs    regulativen  Prinzi])ien    der   A'ernunft.    deren   Geltung    nur 
eine  subjektiveist  (di(>  Ideen).     Sofern  sie  sich  dieses  Unterschiedes 
zwischen  objektiven   und  subjektiven  Prinzi])ien   wohl  bewufst  ist  und 
die  Grenzen  der  Erfahi'ungswelt  nicht  überschreitet,  ist  die  immanente 
Meta])hysik  Kri  tik    din-    reinen    Vernunft,    und    ,.wer  einmal 
Kritik  gekostet  hat,   den  ekelt  auf  immer  alh's  dogmatische  Gewäsche, 
womit  er  vorher   aus  Not  vorlieb  nahm,    weil  stMue  Vernunft   etwas 
bedurfte  und    nichts   Besseres    zu   ihrer   Unterhaltung   finden   konnte. 
Die  Kritik   verhiilt    sich    zur    gewöhnliehen   Schulmetaphysik    gerade 
wie  Chemie  zur  Alchemie  oder  wie   Astronomie    zur    wahrsagenden 
Astrologie.     Ich   bin  dafür  gut",   sagt  Kant  ,.dafs  IS^iemand   der  die 
Grundsätze  der  Kritik   (hirchgedMcht   und  gefafst  hat.  jeujals  wieder 
zu  jener    alten    und    so])histisclien   Scheinwissenschaft    zurückkehren 
werde.      Vielmehr  wird    er  mit    einem    gewissen   P]i*gr)tzen    auf   eine 
Metaphysik   hinaussehen,    die    nunmehr    allerdings  in    seiner  Gewalt 
ist,     auch     keinem-    voi-bereitenden    Kntdeckungen     mehr    bedarf,     und 
die  zuei'st    der   A^'i'nunft    dauernde   Befriedigung  ver- 
schaffen    kann.      Denn     d-ts   ist   ein    Vorzug,     aufweichen    unter 
allen    m()glichen   Wissenschaften    ]\Ietaphysik    aUein  .mit    Zuversieht 
rechnen    kann,  nämlich  dafs  sie  zur  VoHendung  und   in   den   licharr- 
liclien  Zustand    gebracht  werden   kann,  da  sie  sich  weiter  nicht   ver- 
ändern   dai-f,    auch    kiuner   Vermehrung    (hirch     neue  Ent<leckungen 
fähig  ist;   weil    die  Vernunft  hier  die  (Quellen  ihrei"  F^rkenntnis  nicht 
in  den  Gegenstiinden   und   in   ihrer  Anschauung  (durch  die  sie   nicht 
ferner    eines  iVIehren    Ixdehrt    werden   kann),    sondern   in   sich   selbst 
hat,    und   wenn    sie    die  (irundgesetze    ihres   Vei'mögms    vollständi«' 
und  gegen   alle    Mifsdeutung  bestimmt  dargestellt    hat.    nichts    übri"- 
bleibt,   was  reine   Vernunit   a  priiu'i  erkennen,  ja.  auch   nui-  was  sie 
mit  Grund   fragen   krmnte"   (IV.    jj.M*.   TU.   :^)l). 

Die  immanente  i\letai)hysik  ist  die  w  a  h  r  e  Met<iphysik,  die  trans- 
cendente  Metaphysik  der  Schule  dagegen  ist  eine  falsch  e  .Metajdiysik. 
Man  kann  mit  jenem  Xiimen  auch  den  Nachweis  l)ezeichnen.  dafs  die 
bisherige  Ontologie.  rationale  I^sychologie,  Kosmologie  und  Theologie 
von  einer  natürlichen  und  unvermeidlichen  Illusion  sich  haben  zum 
Narren  halten  lassen,  wenn  sie  Erscheinungen  für  Dinge  an  sich 
gehalten     haben.     Insofern    ist  di(^  immanente  iMetaphysik    zugleich 


II.   Die  kritische  Xatui])hil(,sopliie 


249 


eine  Diszi])lin  der  menschlichen  Vernunft.  ,.um  ihre  Ausschweitungen 
zu   bändigen    und    die    Blendwerke,    die   ihr    daher    kommen,    zu   u-r- 
hüten.      Der  gnifste   und  vielleicht   einzige  Nutzen  aller  Philosophie 
der  reinen  Vernunft  ist  also  wohl  nur  negativ:  da  sie  nämlich  nicht 
als    Organen    zur   Erweiterung,    sondern    als    Disziplin    zur   Grenz- 
bestimmung dient  und  anstatt  Wahrheit  zu  entdecken,   nur  das  stille 
Verdienst    hat,    Irrtümer    zu    verhüten-    (111.    :);>(;).     W(.,-    ],icran 
nicht  genug  hat,  der  nu'ige  bedenken,    dafs  der  Nutzen  dessen,  was 
man   bisher  Metaphysik  genannt  hat,   nur  scheinbar  ein  ]H)sitiver  ist, 
indem   die  Erweiterung  unseres  theoretischen  Vernunftgebrauchs  über 
die  Grenzen  der  Erfahrung  hinaus  in  AV'ahrheit  nur  eine  ebenso  grofse 
Beschränkung  unserer  ])raktischen  Vernunft  bedeutet.     ..Idi   mufste." 
sagt   daher  Kant.     ,.das   Wissen    aufheben,     um   zum   Glauhen    Platz 
zu    bekommen,    und    d(^r    Dogmatismus    der  Meta])hysik.    d.    i.   das 
Vorurteil,  in  ihr  ohne  Ki'itik  der  reinen  Vernunft  fortzukomm"n,  ist  die 
wahre   Quelle  alles    der   A^'i'nunft   widerstreitemh'u    Unglaubens,    der 
jederzeit  sehr  dogmatisch   ist-'  ( :>;)).     „Duirli   diese  kann  allem  dem 
Materialismus,    Fatalismus,    Atheismus,    dem    freigeisterischen    Un- 
glauben,  der  Schwärmerei   und  Abergliuben.   die  allgemein  schädlich 
werden   kiuinen.   zuletzt  auch   dem   Idealismus   und  Skeptizismus,   die 
mehr  den  Schulen  gefährlich  sind   und  schwia'lich  ins  Puhlikuni  iiher- 
gehrn  kiümen.  selbst  die  Wurz'd  abgeschnitten  werden"  (21).    ..Daher 
ist  eine  Kritik,  welche  die  erstere  (die  Erweiterung  unseres  Vernunft- 
gebrauchs) einschränkt,  sofern  zwar  negativ,  aber  indem  sie  dadurch 
zugleich  ein  Hindei-nis.  welches  den  })raktischen  Gebi'.iuch  <'i!is(ln-;,tikt 
oder  gar  zu  vernichten  droht,   aufhebt,  in  der  That  von  j)osit  i  vem. 
und   sehr    wichtigem   Nutzen,    sohald    man    überzeugt    wird,    dafs    es 
einen   schlechterdings   notwendigen   pi-aktischeii  (jiehi;iuch   der  reinen 
\  ernunft   (den  moralischen),   gebe,   in   welchem  sie  sich  unvernieirljich 
idier  die   Grenz<'n  der  Sinnlichkeit  erweitert,   dazu  sie  aber  von   der 
spekulativen   keim^  Beihilfe   bedarf,   dennoch   ahcr  wider  ihre  Gegen- 
wirkung   gesichert    sein    muls,     um   nicht    in    \\'idcis])rucli    mit    sich 
J^elhst   zu  geraten.      Diesem  Dienste  der  Kritik   d<'n   positiven  Nutzen 
abzusj)reclien.   wäre  ebenso  viel  als  sagen,   dafs  Polizei   keinen   posi- 
tiven  Ntitzen  scliaflV'.   weil   ihr   Hau])tgeschäl't  doch   nur  ist.  der  Ge- 
waltthätigkeit.   welche  Bürger  von  Jb'irgern   zu  besorgen  halten,   einen 
iiiegel  vorzuschieben,   damit  ein  jeder  seine  Angelegenheit  ruhig'  und 
sicher  treiben  könne"  (22^.    So  also  weist  die  theoi-etische  Bliiloso])hie 
ihrer  inneren   Anlage  nach   auf  die  ])r.iktische   hinüber,   und   die   his- 
lierige  Metaj)hysik,   weit  entfernt,    aus    dem   System   des  Kia'ti/ismus 
gänzlich    ausgeschlossen    zu    sein,    bleiht    vielmehr   als    aufgehohenes 
Moment  bestehen  und  bildet,  als  die  notwendige  Kehrseite  der  eigent- 


■^l 


250 


B.    Kant  nls  Naturphilosoph. 


liehen  Metai)liysik,  iiiclit  blofs  den  RclKitten.  welclien  diese  vonius- 
wirft  und  neben  dem  ihr  ei^nnier  Wert  in  nni  so  hellerem  Glanz  er- 
strahlt, sondern  zu^^leich  das  Verniittelun^^s^died,  das  Natur-  nnd 
Müralphilosoi)hie  an   einander  kettet.   — 

Dies  war  der  Boden,  auf  dem  nun  die  ,,^letapli>sik  der  Natur" 
erwachsen  sollte,  ein  Werk,  von  dem  Kant  liemerkt,  dal's  es 
„bei  noch  nicht  der  Hälfte  der  Weitliiuli'.dveit  dennoch  un^deich 
reicheren  Inhalt''  haben  sollte  als  die  Kritik.  ..die  zuvih'derst  nur 
die  (^(uellen  und  Bedin^nm.i^en  ihrer  Möglichkeit  darle.gen  mul'ste  und 
einen  «,^aiiz  verwachsenen  l>oden  zu  reimten  nnd  zu  ebnen  hatte" 
(12).  Die  Kritik  „ist  ein  Traktat  von  der  M(>thode.  nicht  ein  System 
der  Wissenschaft  selbst:  aher  sie  verzeichnet  j^leiclnvohl  den  ganzen 
Umrifs  dersell)en,  sowohl  in  Ansehunj]^  ihrer  Grenzen,  als  auch  den 
ganzen  inneren  Gliedbau  derselben"  (2 1).  „Hier  erwarte  ich,"  sap^t 
Kant,  „an  meinem  Leser  die  Geduld  und  Unparteilichkeit  eines 
Richters,  dort  aber  die  Willfährigkeit  und  den  Beistand  eines 
M  i  t  h  e  1  f  e  r  s  ;  denn  so  vollständig  auch  alle  P  r  i  n  z  i  p  i  e  n  zu  dem 
System  in  der  Kritik  vorgetragen  sind,  so  gehört  zur  Ausführlichkeit 
des  Systems  selbst  doch  noch,  dal's  es  auch  an  keinen  abgeleiteten 
Begriffen  mangele,  die  man  a  ])riori  nicht  in  ljl)erschlag  hringeu 
kann,  sondern  die  nach  und  nach  aufgesucht  werden  müssen"  (12). 
Die  Kritik  ist  in  den  Augen  Kants  ursprünglich  nichts  Anderes 
als  die  m  e  tap  liy  s  isc  he  G  r  u  n  d  1  ag  e  seinei*  dynamischen 
Natura  u  f  f  a  s  s  u  n  g.  Wir  haben  jetzt  endlicli  festen  Boden  unter 
unseren  Füfsen  und  wenden  uns  nun  der  Betrachtung  des  Gebäudes 
zu,   das   Kant  auf  dieser   Unterlage  aufgenclitet  hat. 


2,  Der  Ausbau  der  Naturphilosophie. 

ii)    Die    metai>hysisclien   Anfaiigsgrinide    der  Xatnrwissen- 

schiilt. 

Die  Vernunftkritik  s])annte  das  Netz  ihrer  G(^wifslieit  nur  ül)er 
die  Sphäre  der  sinnlichen  Erscheinung  aus:  sie  konnte  keine  Wissen- 
schaft vom  Ühersinidichen  hegründen.  In  diesem  Gebiete  aber  wurzeln 
Moral  und  ililigion  und  waren  damit  von  der  ajxxliktischen  Er- 
kenntnis ausgeschlossen.  Kant  selbst,  als  eine  durch  und  durch 
religiöse  Natur,  dw  mit  ihrer  Zeit  einem  enthusiastischen  Kultus 
des  ]\loralisehen  huldigte,  mag  im  Anfani^-  sein(>s  kritischen  Unter- 
nehmens  W(thl    gehöht    haben,    auch    diese   beiden    auf    eine    sichere 


f 


\ 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


251 


Grundlage  stellen  zu  k()nnen.  und  es  mag  ihm  harte  Kämpfe  ge- 
kostet hal)en,  zu  sehen,  wie  die  Schranke,  innerhalh  welcher  apo- 
diktische Gewifsheit  mr»glich  schien,  mitten  zwisclien  Sinnlichem  und 
Übersinnlichem  hindurchging.  Aher  er  tröstete  sich,  wenigstens 
seinen  unmittelbaren  Zweck  erreicht  und  den  Begriff  der  Natur  so 
fest  gegründet  zu  haben,  dafs  ihm  der  Skei)tizismus  nichts  mehr 
anhaben  konnte.  Und  wenn  er  auch  nicht  imstande  gewesen  war. 
Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit  unserm  AVissen  zugänglich  zu 
machen,  waren  sie  nicht  dadurch  indirekt  ebenso  gut  gesichert,  dafs 
er  sie  wenigstens  in  eine  Sphäre  hinübergerettet  hatte,  wo  ihnen 
mit  dem  skeptischen  Verstand  nicht  beizukommen  war?  Kant 
zweifelte  nicht  daran,  jMoral  und  Religion  k(")nnten  sich  hiermit  zu- 
frieden geben ;  er  hatte  dies  bereits  in  den  letzten  Abschnitten 
seiner  Vernunitkritik  weitläuhg  auseinandergesetzt.  Trotzdem  be- 
unruhigte ihn  die  Krage,  was  aus  den  ethischen  Geboten  würde, 
wenn  der  bisherige  Boden  einer  vermeintlich  apodiktischen  Erkemitnis 
vom  Übersinnlichen  unter  ihnen  fortgezogen  wäre.  Wie  stellt  sich 
das  Moraliicsetz  auf  dem  I>oden  des  Kritizismus  dar?  und  besitzt 
es  noch  Verbindlichkeit  ohne  Berufung  auf  die  übersinnliche  Wdx. 
die  bisher  für  die  Quelle  der  Verbindlichkeit  gegolten  hatte?  Darüber 
mufste  Kant  sich  und  Anderen  vorerst  Klarheit  verschatb^n.  ehe  er 
die  Ausarbeitung  der  Natur])hilosoj)hie  mit  ruiiigem  Herzen  unter- 
nehmen konnte. 

Sollen  die  ethischen  Vorschriften  nicht  blofs  praktisclie  Begebt 
von  nur  relativem  Wert,  sollen  sie,  als  moralische  Gesetze,  absolut 
verbindlich  sein,  so  dürfen  sie,  ebensowenig  wie  die  allgemeinen  Natur- 
gesetze, sich  auf  cmj)irische  Gründe  stützen,  sondern  müssen  rein, 
apriorisches  Besitztum  unseres  Geistes  sein.  Diese  Erwägung  giebt 
die  lde(^  einer  Meta])liysik  der  Sitten  als  einer  reinen  Wissenschaft 
aller  a  ])rioii  in  unserer  Vernunft  liegenden  j)raktischen  Grundsätze 
an  die  Hand,  die  Kant  zunächst  zum  (gegenstände  seines  Nach- 
denkens gemacht  hat.  Und  so  wichtig  erschien  ihm  die  Sicher 
Stellung  der  Moral  auf  dem  neugewonnenen  Hcxh-n  der  Vernunft- 
kritik, dafs  er  darüber  sogar  seine  Naturj)hil()sophie  eine  Zeit  lang 
aus  den  Augen  verlieren  und  sich  ernstlich  mit  der  Absicht  tragen 
komite.  zunächst  mit  dieser  Arbeit  abzuschliefsen.  ehe  er  irgend  etwas 
Anderes  unternahm  (vgl.  VIIU  IM).  Wenn  die  Ausarbeitung  seines 
W^erkes  unterblieb  und  Kant  im  Jahre  JlS.)  hlofs  eine  ,.Griiiid- 
leguiig  zur  Metaphysik  der  SitttMi"  lieferte,  die  sich  auf 
die  „Aufsuchung  und  Festsetzung  des  obersten  Uriii/i])s  der  Moiali- 
tät,"  beschränkte  (I\\  ?40),  so  mag  er  hierzu  wohl  durch  die  Bück- 
sicht aufsein  ursprüngliches  Ziel  veranlafst  sein,  das  sich  ihm  immer 


/^  ij  ■*. 


B.    Kant  als  Naturpliilosoph. 


wieder  in  den  Vordei\i,n-und  driinp^te:  die  Vollendung  seiner  Natur- 
philosophie. J)as  Problem  der  Moralität  war  somit  nicht  imstande, 
den  Philosophen  von  seinem  urspiäinglichen  Wege  ahzuhringen  :  allein 
es  hinderte  ihn  doch  daran,  die  beabsichtigte  ]\Ieta])hysik  der  Natur 
gleich  vollständig  zu  liefern,  weil  solches  eine  viel  zu  lange  Zeit  er- 
fordert hätte.  Die  Ijcgründunt,^  d(^r  moralischen  und  religi()sen 
Prinzi])ien  schien  zu  dringend,  die  P^iille  an  neuen  Lh'cn.  die  ihm 
während  der  hingen  Abfassungszeit  seiner  Vernunftkritik  zugeströmt 
war.  zu  grofs,  und  bei  seinem  voi-gcschrittenen  Alter  Beschränkung 
zu  sehr  geboten,  als  d.ifs  nicht  der  ursprüngliche  Gedanke  an  seine 
Naturphih)sophic  hätte  verblassen  und  neben  dem  viel  bedeutsameren 
Plane  eines  vollständit^MMi  Systems  dov  i'(Mni'n  Phih»sophie  hätte  zuiäick- 
stehen  müssen,  wie  er  sich  inmmehr  in  seinem  (preist  aufbaute,  und 
dessen  Sc'hema  er  bereits  in  der  Kritik  in  diMu  Kapitel  ül)er  ,.di(' 
Architektonik  der  reinen   Vernunft''   entworfen   hatte. 

Kant  war  zufrieden,  vorerst  wenigstens  einen  Teil,  und  zwar 
den  wichtigsten  Teil  seiner  Naturphilosophie  bearbeiten  zu  kiinnen. 
um  den  Faden,  der  das  ganze  System  verknüpfen  sollte,  niclit  aus 
den  Händen  zu  verlieren.  ..Ehe  ich  an  die  vers))ro('hene  M('ta])hysik 
der  Natur  gelie.*'  schreibt  er  am  1.').  September  loSf)  an  Schütz, 
„mufste  ich  vorher  dasjenige,  was  zvvai'  eine  blofse  Anwendung  der- 
selben ist,  aber  doch  einen  e  m  p  i  i*  i  s  c  h  e  n  l^egrilV  voi'aussetzt,  nämlich 
die  meta])hysisclj(Mi  Anfangsgrün(h?  der  Körperlehre  abmacluMi  :  weil 
jene  Metaphysik,  wenn  sie  ganz  ghnchartig  sein  solL  rein  sein  mufs, 
uiul  dann  auch  (himit  ich  etwas  zur  Hand  hätte,  worauf,  als  Heispiele 
in  concreto,  icli  mich  dort  beziehen  und  so  den  A^)rtrag  i'afslich 
machen  ktinnte,  ohne  doc^h  das  System  dadurch  anzuseh wellen,  dafs 
ich  diese  mit  in  dassell)e  zöge.  Diese  habe  ich  min  unter  dem 
Titel:  metapliysische  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft  in  diesem 
Sommer  fertig  gemaclit  und  glaube,  dafs  sie  selbst  dem  iMathematiker 
nicht  unwillkommen   sein   W(U'de''   (VTII.    TM). 

JJie  „Metaphysischen  A  n  ia  n  gsg  r  ü  n  d  e  der  Natur- 
wissenschaft" erschienen  im  dahre  IT^SiJ.  Sieht  man  von  den 
älteren  Werken  Schwabs  )  und  Busses**)  ab,  so  ist  ibnen  eine 
eingehendere  Behandlung  neuerdings  nur  von  Seiten  Stadlers  in 
seiner  Schrift   ül)er   ,,Kants  T  h  e  o  i*  i  e   d  e  i-   Matei'ie-'    (ISS'))    zu 


*)  S(;liwal):  Priit'uiijx  d.  kuntischeii  He^rit'i'e  v,  d.  rmlmclMlriiiorlicJikcit, 
<h  An/iehun;j^  ii.  Ziniickstorsmi^  d.  Kr)r])('r:  nebst  einer  Darstellnnnr  d.  Hypothese 
d.   Jjt'sa<:^e   ühei-  d.    meclianischen   Ursachen   d.   alltj^rni.   (iravitat  ioii   (  18()7j. 

*^}  Busse:   Kants  nieta])h.  Anlanj^fs^n-.  d.  Naturw.  in  ihren  Ciründen  wider- 
legt (1828). 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


353 


>  :. 


Teil  geworden.     Allein    man    bedenke,    dafs    die   Nachwelt    die   Be- 
deutung   eines   Philosophen  .  oft    in    ganz  anderen   Dingen    sieht,     als 
(hirin,    worauf  es  jenem   eigentlich   selbst  ankam.      Dtm    inneren  Zu- 
sammenhang  der   Anfangsgründe    mit    den    übrigen    Werken  Kants 
und  die  Gründe  ihrer  P]ntstehung  hat  man  bisher  so  gut.  wie  gänz- 
lich,  verkannt   und  ^daubte   im  Hiid)lick   auf  ihren  Iidialt  auch   incht 
veranlafst  zu  sein,   ihnen  di(\jenige  Würdigung  angedeihen  zu  lassen, 
auf  die  sie  ihrer  Natur  nach  doch  Anspruch  haben.      Was  sich   bei 
Kant    psyeliologisch    als    Liebe    zu    seinem    Schmerzenskind    erklärt, 
das   haben   Mit-   und  Nachwelt  zum  Prinzip   erhohen  :   sie   haben  ihre 
ganze  Aufmerksamkeit  auf  die  Vernunftkritik  konzentriert,   und   von 
der  Neuheit  ihrer  Gedanken   und  der   Fülle   der  in  ihr  enthaltenen 
Ideen  sich  so  sehr  blenden  lassen,    dafs  neben    dieser    hellen   Sonne 
im   System   alle   übrigen  Gestirne  mehr  und   mehr  an  Glanz   verloren 
haV)en.      Und   (h)ch   heifst   es  niclits  Anderes,   als  das  Mittel    für  den 
Zweck,   die   l)lofse  Voi  bei'eitung   für  das  Werk  ansehen   uml  sich  von 
vorneherein  (hn   Mafsstab  für  die  Beurteihing  der  gesamten  Leliens- 
arbeit  Kants    ül)eriiaupt    verrücken,    wenn    man    die    metaphysisciien 
Anfangsgründe   nur   für  einen  zufälligen   und  untergt'ordneten  Seiten- 
si)rofs  am   Stamnu'  der  kantischen   Philosophie  betrachtet. 

Die  ..Metaphysischen  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft" 
befassen  sich,  wie  schon  der  Titel  sagt,  mit  dem  Begriffe  der  Natur. 
„Natur  in  m  a  t  e  r  i  e  1 1  e  r  Bedeutung"  ist  der  ,.  Inbegriff  aller  Dinge, 
sofern  sie  Gegenstände  unserer  Sinne,  nnthin  auch  dc^r  Krialiiaiim 
sein  können":  es  wird  darunter  ,.das  Ganze  aller  Klrscheinungen, 
d.  i.  die  Sinnen  weit  mit  Aussclilufs  aller  niclitsinnlichen  ( )hjekte", 
verstanden  (IV.  :>;J7j.  Der  transcendental-nlealistische  Gesichts- 
punkt, wonach  die  Welt  nui'  in  dei-  Krscheinung  existiert,  i>t  die 
Voraussetzung  der  x\nfangsgründe :  nach  ihm  sind  folglich  auch  alle 
xVul'serungsn   derselben   auszudeuten. 

Betrachtet  man  die  Natur  in  dieser  Weise  als  Objekt  unserer 
Sinne,  so  müssen  an  ihr  der  Hauptverschiedenlieit  unserer  Sinne 
nach  z  w  ei  wesentlich  e  T  eile  unterschieden  weiden,  „deren  der 
eine  die  Gegenstände  äufserer,  der  andere  den  Gegenstand  des 
inneren  Sinnes  enthält;  mithin  ist  von  ihr  eine  zweifache  Xatur- 
lehre.  die  Köi'perlehre  und  Seelenlehre,  nniglich.  wovon  die  erbte 
die  ausgedehnte,  die  zweite  die  denkende  Natur  in  Rrwägung 
zieht*'  (ebd.).  Die  Natur  lehre  soll  nun  aber  Naturw  issenscliaft 
sein.  Nimmt  man  das  Wort  im  weitesten  Sinne,  so  heifst  „eine 
jede  Lehrt%  wenn  sie  ein  System,  d.  i.  ein  nach  Prinzipien  geord- 
netes Ganze  der  Krkenntnis,  sein  soll.  Wissenschaft;  und  da  jene 
Prinzipien  entweder  Grundsätze  der  empirischen  oder  rationalen 


U 


?r)4 


B,    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  ^atnr})hil(iso])liie. 


2r)r> 


Verknüpfung  der  P^rkenntnisse  in  einem  (iranzcn  s(Mn  kr»nnen.  so 
würde  auch  di(^  Naturwissenschaft,  sie  nia^  nun  Kitri^erh^lirc  oder 
Seeleidehre  sein,  in  historische  oder  rationah^  Naturwissenscliaft  ein- 
geteilt werden  müssen"  (ehd.).  Nun  liat  das  Woi't  Natur  nehen 
seiner  materiellen  noch  eine  formale  Bedeutunn^,  d.  h.  es  hezeichnet 
„das  erste  innere  I^i-in/ij)  alles  dessen,  was  zum  Dasein  eines  Dinges 
geh(>rt.''  Darin  liegt  schon  ausgesprochen,  dafs  zu  einer  Natur- 
wissenscliaft nic'it  l)h)fs  systematische  Form,  siuidern  auch  Kr- 
kenntnis  der  Gesetze  Uiitig  ist.  welche  den  Zusammenhang  der  Kr- 
scheinun.ücn  in  ihr  hedingen.  ..Daher  wird  die  Naturh^hre  })esser 
in  historische  Naturlehre,  W(d(;he  nichts  als  systematisch  ge- 
ordnete Kakta  der  Naturdinu^e  enthält  (und  wiederum  aus  Natur- 
beschreihiing,  als  eiiKMu  Ivlassensystem  ders(dl)(Mi  nach  Ähnlich- 
keiten, und  Naturgeschichte,  als  einer  systematischen  Darstcdlung 
dersr'lhen  in  verschiedenen  Ziuten  uiel  (  )rtern,  bestehen  wüi-de).  und 
N  a  t  u  !■  w  i  s  s  e  n  sc  h  a  f  t  eingeteilt  werden  können"  (.'>r)S).  insofern 
die  letztere  zugleich  jene  (.Tesetzmäfsigkeit  betont.  Wenn  nun  auch 
dasjenige  (janze  der  Erkenntnis,  was  systiMnatisch  ist.  schon  darum 
Wissenschaft,  und  wenn  die  Verknüpfung  der  Ki'kenntnis  in  diesem 
System  ein  Zusammeidiang  von  (ilründen  und  Kolgen  ist.  sogar 
rationale  Wissenschaft  heilsen  kann,  so  gehört  doch  zur  Wissenschaft 
in  strengem  Sinne  noch  etwas  mehr.  ,,E  i  ge  n  t  1  i  c  h  e  Wissenschaft 
kann  nur  diejenige  nenaiint  werden,  deren  Gewifsheit  a  p  o  d  i  k  t  i  s  c  h 
ist:  Erkenntnis,  die  blol's  empirische  (Tcwifsheit  enthalten  kann,  ist 
ein  nur  uneigentlich  sogenanntes  Wissen"  (el)d.).  Die  Gesetzmäfsig- 
keit  mufs  also  nicht  hlofs  eingesehen.  sf)iulei-n  si(^  mufs  als  not- 
wendig^ erkannt  sein.  Sind  die  Gründe  und  I^rinzi])ien  in  einem 
Zusammenhange  von  Erkenntnissen  hlofs  empirisch  und  die  (Tcsetze. 
aus  dem^i  die  gegebenen  Eakta  dui'ch  die  Vernunft  erklärt  w(>rd(Ui. 
blofs  Erfahrungsg<'setze.  so  fuhren  sie  kein  l^ewufstsein  ihrer  Xot- 
wendigk(ut  bei  sich  (sind  also  nicht  ajxxliktisch  gewil's):  alsdann  vei'- 
dient  das  Ganze  in  streni^^em  Sinne  nicht  den  Na!n(Mi  (uner  Wissen- 
schaft. Chemie  z.  H.  sollte  daher  eher  ..systematische  Kunst"  als 
Wissenschaft   luufsen   (^'l)d.). 

Hiernach  mufs  die  eigentliche  von  der  u  neigen  t  lieh  so 
genannten  Naturwissenschal't  unterschieden  werden,  indem  die  erste 
ihren  Gegenstand  gänzlich  nach  Prinzipien  ajn'iori,  die  zweite  ilm 
nach  Erfahrungsgesetzen  behandelt.  Eine  Naturerkenntnis  von  der 
ersten  Art  heilst  rein,  die  von  der  zw(Mten  Art  dai^^'i^^cn  an- 
gewandte Naturerkenntnis.  ,,Da  das  Wort  Natur  schon  den  P)egrilf 
von  (besetzen  bei  sich  fidirt.  dieser  aber  den  iJegiäÜ"  der  Not- 
wendigkeit aller  Bestimmungen  eines  Dinges,   die  zu   seinem  Dasein 


gehih'en.  bfi  sich  führt,  so  sieht  man  leicht,  warum  Naturwissen- 
schaft die  l^echtmäfsiiikeit  dieser  Benennung  nur  von  einem  reinen 
Teil  derselben,  der  nämlich  die  Prinzipien  a  |)ri«>ri  aller  übrigen 
Naturerkl.äi'ungen  enthält,  ableiten  müsse  und  nur  ki-at't  dieses  reimen 
Teils  eigentliche  Wissenschaft  sei,  iingh^chen  dafs  nach  Fordei'ungen 
dei'  Vernunft  jede  Naturlehri^  zuletzt  auf  Naturwissenschaft  hinaus- 
gehen und  darin  sich  endigen  müsse,  weil  jene  XotwtMidigki'it  der 
Gesetze  dem  Begriife  der  Natur  unzertrenidich  aidiängt  und  t1  iiier 
durchaus  eing(^sehen  sein  will:  daher  die  vollständigste  Fh'klärung 
gewisser  Erscheinungen  aus  chemischen  J*rinzi})ien  noch  immer  eine 
Unzufri(MleTdieit  zurückl-ifst.  weil  mau  von  diesen,  als  zufälligcMi  Ge- 
setzen, die  hlofs  Erfahrung  gelehi't  hat,  keine  Gründe  a  priori  an- 
gehen kann"  (ehd.  f.).  Dieser  reine  '^reil,  auf  den  sich  allein  alle 
apodiktische  (jrewifsheit  gründet,  ist  also  seinen  J*rinzipi(  ii  nach  in 
Vergleiehung  mit  denen,  die  nui-  empirisch  sind,  ganz  ungleichartig. 
Daher  ist  es  zugleich,  „von  (ha-  gr()l'sten  Zuti'äglichkeit.  ja.  der 
Natur  <ler  Sache  nach  von  unerläl'slichei-  Ptlicht.  in  xVnsehung  der 
Methode,  jenen  Teil  abijcsondert  und  von  den  anderen  iianz  unbe- 
mengt.  so  viel  wie  möglich  in  seiner  ganzen  Vollständigkeit  vorzu- 
tragen, damit  man  genau  bestimmen  kcüine,  was  die  Vernunft  für 
sich  zu  leisten  veianag,  und  wo  ihr  Waniögen  anhebt,  die  Beihülfe 
der   Erfahiaingsprinzipien  nötig  zu   hai)en"   ('löfl). 

K(une  Yernunfterkenntnis  aus  blofsen  Begriffen  heifst  reine 
Philosophie  oder  Meta])hysik.  D.iher  setzt  eigentlicdie  Naturwissen- 
schaft jVFe  t  a  ])h  y  si  k  der  Natui*  voraus  oder  ist  diese  \icliiichi' 
selbst.  Wenn  etwas  durch  reine  Vei'uunff.  a  piäori  erkennen,  nicht-; 
Anderes  heifst,  als  es  aus  seiner  blofsen  ]\I  o  g  1  i  ch  k  e  i  t  (^i- 
kennen  (.'iÖO),  so  steht  einer  solchen  Wissenschaft  oifeid)ar  nicht> 
im  Wege,  solange  es  sich,  ohne  Beziehung  auf  irgend  ein  l)estimmtes 
Erfahrun^sgebiet,  mithin  unbestimmt  in  Ansehung  der  Natur  dieses 
oder  jenes  Dinges  dei-  Sinnen>velt.  blofs  um  die  Gesetze  handelt. 
die  den  Begriff  der  Natur  übei-hau))t  möglich  machen:  und  dies  war 
der  (jegenstand  des  sogenannten  t  r  a  n  s  c  e  n  d  e  n  t  a  1  e  n  Teiles  der 
Metaphysik  der  Natur,  den  Kant  bereits  uuivr  dem  adlgemeinen 
Namen  ..reine  Naturwissenschaft"  in  seiner  Vernunftkritik  abge- 
handelt hatte,  indessen  mui's  es  auch  eine'  aj)iäorische  Erkenntnis 
der  bestimmten  Naturobjekte  geben,  will  man  nicht  bei  dieser 
von  vornherein  auf  Wissenschaftlichkeit  verzichten.  J)ic  Met.iphysik 
der  Natur  mufs  nicht  blofs  allgemeine,  sie  mufs  auch  besondere 
metaphysisch(^  Naturwissenschaft  (Physik  und  Psychologie)  sein.  d.  h. 
sie  mufs  sich  auch  mit  der  besonderen  Natur  dieser  oder  jener  Art 
Dinge  befassen,   von  denen  ein  empirischer  Begriff  gegeben   i>t.   und 


256 


B.    Kant  als  Xaturphilosoph. 


,,in  der  jene  transceiuleiitalen  Prinzipien  auf  die  zwei  Gattungen  der 
Gegenstände  unserer  Sinne  angewandt  werden''  (.'»(iO).  Da  erhebt 
sich  wiederum  die  alte  Frage:  „Wie  kann  ieh  eine  Erkenntnis 
a  priori,  mithin  Metaphysik,  von  Gegenständen  erwarten,  sofern  sie 
unseren  Sinnen,  mithin  a  posteriori  gegeben  sind?  und  wie  ist  es 
möglich,  nach  Prinzi])ien  a  priori  <]ie  Natur  ilvv  Dinge  zu  erkennen 
und  zu  einer  rationalen  Physiologie  zu  gelangen?  Die  Antwort 
ist:  wir  nehmen  aus  der  Erfahrung  nichts  weiter,  als  was  ncitig  ist, 
uns  ein  Objekt  teils  des  äufseren,  teils  des  iniu^'en  Sinnes  zu  geben. 
Jenes  geschieht  durch  den  hlofsen  BegritV  ^laterie  (undurchdringliche, 
leblose  Ausdehnung),  dieses  durch  den  Begriff  eines  denkenden  Wesen-^ 
(in  der  em])irischen  inneren  Vorstellung:  ich  denke).  Übrigens  miifsten 
wir  in  der  ganzen  ^Fetaphysik  dieser  Gegenstände  uns  aller  empi- 
rischen Prinzii)ien  gänzlich  enthalten,  die  über  den  Hegriif  noch 
irgend  eine  Erfahrung  hinzusetzen  UKichten,  um  etwas  über  diese 
Gegenstände  daraus  zu  urteilen*'   (III.   ')'u). 

Man  abstrahiert  also  hiermit  von  dem  individuellen  und  sub- 
jektiven CJharakter  der  Emptiiidung.  die  das  ( )bjekt  erstzum  Erfahrungs- 
objt'kte  macht,  und  gewinnt  dadurch  ein  a  1 1  g  e  m  e  i  n  es  Objekt  der 
Erfahrung,  von  welchem  folglich  auch  ei?i  allgemeingültiges 
Wissen  möglich  sein  mufs.  Allein  wie  läfst  sich  der  Umfang  der 
Erkenntnis  bestimmen,  deren  die  Vernunft  über  diese  Geaenstände 
a  {)ri()ri  fähig  ist?  Die  Möglichkeit  bestimmter  Xaturdinge  kann 
ja  nicht  aus  hlofsen  Pegrilfen  erkannt  wt^rden ;  denn  aus  diesen 
kann  zwar  die  Möglichkeit  des  (ledankens  (dafs  er  sich  seihst 
nicht  widers])reche).  aber  nicht  des  Ohjekts,  als  N  a  t  u  r  d  i  n  ge  s  . 
erkannt  werih'U.  welches  aufser  dem  (ledankeii  (als  existierend)  ge- 
geben sein  mufs.  ,.Also  wird,  um  die  .M(;glichkeit  bestimmter 
Naturdinge,  mithin  um  diese  a  pi'ioi'i  zu  erkennen,  noch  erfordert, 
dafs  die  dem  I>egriffe  korrespondierende  Anschauung  a  ])riori 
gegeben  werde,  d.  i.  dafs  der  Hegriif  k  o  u  s  t  i' u  i  e  r  t  werde.  Nun 
ist  die  V\n-nunfterkenntiiis  durch  Konstruktion  der  l^egrilfe  mathe- 
matisch. Also  mag  zwar  eine  reine  iMiilosophie  der  Natur  über- 
haupt, d.  i.  diejenige,  die  nur  das.  was  den  Begriff  einer  Natur 
im  Allgemeinen  ausmacht,  untersucht,  auch  ohne  Mathenuitik  möglich 
sein,  aber  eine  reine  Naturlehre  über  bestimmte  Naturdinge 
(Körperlehre  und  Seelenlehre)  ist  nur  vermittidst  der  Mathematik 
möglich;  und  da  in  jeder  Naturlehre  nur  soviel  eigentliche  Wissen- 
schaft angetroffen  wird,  als  sich  darin  Erkenntnis  a  priori  Ijefindet, 
so  wird  Naturlehre  nur  soviel  eigentliche  Wissenschalt 
enthalten,  als  M  a  themat  ik  in  ihr  angewandt  werden  kann*' 
(IV.  :j(iO). 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


257 


Bekanntlich  hat   man  diese  letzte   Äufserung  dem    Philosophen 
von  gewisser  Seite  hoch  angerechnet.      „Man  hat^',  sagt  Schaller, 
„der  Behaui)tung  Kants:    in  jeder    besonderen  Naturlehre    sei  mir 
soviel  eigentliche  Wissenschaft  enthalten,  als  Mathematik  darin  ent- 
halten sei,   von  Seiten  der  empirischen  Physik  oft  mit  grofser  Hast 
seine  vollkommenste  Zustimmung  gegeben,  dahei  aber  jenen  Ausspruch 
in  einem  Sinne  genommen,  den  er  bei  Kant  gar  nicht  hat.     So  sehr 
auch  Kant  seinen  Prinzipien    geniHfs  auf  eine    mathematische  Kon- 
struktion dringt,  so  soll  doch  dieser  immer  eine  begriifliche  Unter- 
suchung vorausgehen,  und  es  fällt  Kant  nicht  im  Entferntesten  ein, 
die  Physik  als  Wissenschaft  in  der  Mathematik  aufgehen  zu  lassen."*) 
Einen  Begriii"  konstruieren  heifst  ja  bei  Kant  nichts  Anderes,  als  ihn 
nach   seinen  räumlichen   und  zeitlichen  A'erhältnissen   betrachten   und 
ihn    als    einen   räumlichen    zur  xlnschauung   bringen.      Weil    es  der 
Chemie  an  einem  solchen  konstruierharen   Begritt'e  mangelt,    darum 
eben    schliefst  Kant    sie   aus    dem  Bereiche    der  Wissenschaft  aus. 
,.Solange  also  noch  für  die  chemischen  Wirkungen   der  Materien  auf 
einander  kein  Begriff  ausgefunden   wird,   der  sich  konstruieren   läfst. 
d.  i.   kein  Gesetz  der  Annäherung  oder  Entfernung  der  Teile  angehen 
läfst,   nach  welchem  etwa  in  Proportion  ihrer  Dichtigkeiten   und   dgl. 
ihre   Bewegungen  samt    ihren    Kolgen  sich  im   Baume  a  priori 
anschaulich   machen   und  darstellen  lassen  (eine  Forderung,   die 
schwerlich  jemals  erfüllt  werden  wird),  so  kann  (Jhemie  niclits  mehr 
als  systematische  Kunst  oder  Experimentallehre,   niemals  aber  eigent- 
liche    Wissenschaft    werden,    w^eil    die    Prinzi])ien     derselben    blofs 
empirisch  sind    und  keine  Darstellung  a  priori    in  der  Anschauung 
erlauben,    folglich    die  Grundsätze    chemischer   Erscheinungen    ihrer 
Möglichkeit  nach  nicht  im   mindesten    begreiflich    machen,    weil    sie 
der  Anwendung  der  Mathematik  unfähig  sind"  (MGO  f.). 

„Noch  weiter  aber  als  seihst  Chemie  mufs  empirische  Seeleii- 
lehre  jederzeit  von  dem  Kange  einer  eigentlich  so  zu  nennenden 
Naturwissenschaft  entfernt  bleiheir'  (.'{(ij).  Schon  die  Verimnftkritik 
wollte  die  empirische  Psychologie,  „welche  von  jeher  ihren  Platz  in 
der  Metaj)hysik  behauptet  hat.  und  von  welcher  man  in  unseren 
Zeiten  so  grofse  Dinge  zur  Aufklärung  derselben  erwartet  hat, 
nachdem  man  die  Hoffnung  aufgab,  etwas  Taugliches  a  priori  auszu- 
richten-', nicht  mehr  im  Rahmen  der  Meta])hysik  dulden,  mdeiu  sie 
schon  durch  die  Idee  derselben  ausgeschlossen  sei.  ..Gleichwohl", 
hatte  Kant  in   der  Kritik  gemeint,    „wird   man   ihr   nach  dem   Schul- 

*)  J.  Schaller:   (Teschichte  der  Naturphilosophie  von  Uaco  v.   V'erulain 
his  aui'  unsere  Zeit  riS4G).     II.  240. 

nie  WS,  Kants  Naturphilobophie.  17 


2r)(S 


B.    Kant  als  Naturphiloso})h. 


geV)rauch   doch   noch   iininer   (ohzwar  nur  als  Episode)  ein  I-^lätzcheii 
darin  verstatten  müssen,   und  zwar  aus  okononiisclien  Bewegursachen, 
weil  sie  noch    nicht  so    reich  ist.    dal's  sie    allein    ein   Studium  aus- 
machen, und  docli   zu  wiciitig,   als  dal's  nuin  sie  ganz  ausstofsen  oder 
anderwärts  anheften   sollte,   wo  sie  noch  weniger  Verwandtschaft  als 
in  der  Metaphysik  antreften  dürfte.     Es  ist  also   hlofs  ein  so  lange 
aufgenommener  Fremdling,  dem  man  auf  einige  Zeit  einen  Aufenthalt 
vergönnt,  his  er  in  einer  ausführlichen  Anthropologie  (dem  Pendant 
zu  der  empirischen  Naturlehre)  seine  eigene  Behausung  wird  hezieiien 
können"    (II I.  f);")/  f.).     In   diesem  Sinne  hatte  Kant  seihst  in  seinen 
akademischen  Vorlesungen  üher  Metaphysik  die  em])irische  I*sychol(tgie 
als  ,,metaphysische  Erfalirungswissenschaft  vom  Mensclien"  hehandelt 
(vgl.   die  Nachricht   von  der   Einrichtung  seiner  X'orlesuni^en   in   dem 
Winterhalhjahr   j KiT) — (>(),    II.   '.Mi)):    ja.   in  dem   Pi-inzip  der  Anti- 
zipation   der   \\  ahrnehmung    hatte    ei*    sogar    den  (jirund    zu    einer 
Anwendung  der  Mathematik  auf  EmpfindumrcMi  (mathc^sis  intensorum) 
gelegt,   womit  sich   denn   aucli   der  empirischen   l*sych()logie  die  Aus- 
siclit  auf  den  Hang  einer  seihständigen  W'issenschal't  erölfnet  hatte. 
Die  Möglichkeit  hiervon  liatte  Kant  zuerst  in  seinen  I^roh-gomeneu 
angedeutet,    um   alsdann   in  der  zweiten  Auflage  der   Vernunftkritik 
auf  diesen  Punkt  nicht  weiter  zurückzukommen.     Es  schien  demnach, 
als  ob    er    jene    Ansicht    auch  jetzt    noch   hilligte,    um    so  mehr  als 
er  der  empirischen  Psychologie  auch    noch   im  Jahre    1T<^7  aus  den 
angeführten    Giiinden    den    Ehrenplatz    inncrhalh    der    Metaj)hysik 
zugestand.     Und  doch  waren  im  vorhergehenden  Jahre  die  Anfangs- 
gründe   herausgegeben,     und   Kant    schien    hier   von    dem    unwissfii- 
schaftliclien    Grundcharakter    der    emj)irischen   Si'elenlehre,    der    ihr 
wesentlich   anhaften  sollte,    so  sehr  überzeugt,   dafs  er  es  nicht  ein- 
mal   für   der  Mühe  wert    gehalten  hatte,    den  von  iiim    selbst  aus- 
gesprochenen  Gedanken  einer    mathesis  intensorum   auch  übeihau])t 
nur  mit  einem    Worte  zu  streifen.     Der   Psvchologie  wird   von    ihm 
jede    Möglichkeit    abgesj)rochen.    jemals    zum    Range    einer    Wissen- 
schaft emporzusteigen,  und  zwar  weil  Mathematik  auf  die  Phänomene 
des  inneren   Sinnes    und    ihre   Gesetze     niclit  anwendl)ar    sei,     „man 
müfste  denn  allein  das  Gesetz    der  Stetigkeit   in    dem  Abilusse  der 
inneren  Veriinderungen  desselhen  in  Anschlag  l)ring<'n  wollen,  welches 
aber  eine  Erweiterung  der  Erkenntnis  sein   würde,   die  sich   zu   der, 
welche  die  JMathematik   der  Kr)r])erlehre  verschallt,  ungefähr  so   ver- 
lialten  würde,    wie    die  Ijehre  von    den    Eigenschaften    der    geraden 
Linie  zur  ganzen  Geometrie.     Denn    die    reine  inneie  Anschauung, 
in  welcher  die  Seelenerscheinungen  konstruiert  werden   sollen,   ist  die 
Zeit,    die    nur    eine  Dimension    hat.     Aber    auch  nicht    einmal  als 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


259 


systematische  Zergliederungskunst  oder  Experimentallehre   kann  sie 
der  Chemie  jemals  nahe  kommen,   weil  sich   in  ihr  das  Manniirfaltige 
der  inneren  Beobachtung  nur  durch   blofse  Gedankenteilung  von  ein- 
ander absondern,    nicht  aber  abgesondert    aufhehalten    und  bebebig 
wiederum    verknüpfen,    noch    weniger    aber    ein  anderes    deidvcndes 
Subjekt    sich    unseren  Versuchen    der  Al)sicht  angemessen  von  uns 
unterwerfen    läfst.    und    selbst    die  Beobachtung    an   sich  schon  den 
Zustand  des  beobachteten  Gegenstandes  alteriert  und  verstellt.    Sie 
kann  daher  niemals  etwas  mehr  als  eine  historische  und  als  solche  so  viel 
wie  möglich   systematische  Naturlehre  des  inneren  Sinnes,  d.   i.   eine 
Naturbeschreibung  der  Seele,  aber  nicht  Seelenwissenschaft,  ja,  nicht 
einmal  psychologische  Experimentallehre  werden^'  (3Ü1).     Wenn  Kant 
so  gerin.i;  denkt  von   der  em])irischen  Psychologie,    wie   kann   er   ihre 
wissenschaftliche   Unselbständigkeit    dami    noch    als    eine    blofs    vor- 
lautige betrachten?     Wc^ni   sie  prinzipiell  unfähig  zur  Entwickelung 
ist.   mit   welchem  Kochte  k;imi  sie  dann   noch  einen  Phatz  iinierhalb 
dei-  ]\Ietapyhsik   beanspruchen?      Auf  (bese   Widersprüche   in   Kants 
Auffassung    über    die    empirische  Psychologie  als   Wissenscliaft  hat 
auch  schon  J.  B.  Meyer  hingewiesen  und  versucht,'^')  sie  aus  dem 
damaligen   Stande^  der  psychologischen    Korschung  zu   erklären.      Es 
ist  indessen  ganz  wohl  möglich,  dafs  Kant  sie  bein)  Durchkorrigieren 
seiner  zweiten  AufLige  einfach  übersehen  hat.    Sie  konnten  ihm  aber 
doch  nur    deshalb  verborgen    bleiben.    w(m1    seine  abfällige  Ansicht 
über  den  wissenschaftlichen  Charakter  jener  Diszi])lin.   wie  er  sie  in 
den    metaphysischen    Anfaiigsgrün(h^n    ausgesi)i-ociien    hatte,    damals 
bei   ihm   selbst  noch    nicht  so    tiefe   Wurzeln  geschlagen  hatte,    um 
ihm   sofort   bei     dem    B(\griffe   einzufallen.      Dies   würde  dann   freilich 
<larauf  schliefsen   lassen,    dafs  der  Gedanke  ihrer   \'erwerfung  über- 
haupt   nicht  in    ihm    selbst  entsprungen,    dafs  er  ihm  vielmehr  von 
anderswoher  zugeführt  sei.   und  es   hat  sehr  viel  Wahrscheinlichkeit, 
w^enn   Itelson   in  dieser  Beziehung  auf  Ploucquet  hinweist,   mit 
welchem  Kant  auch    in  der  Art    und   Weise  übereinstimmt,    wie  er 
in  seiner  Phoronomie  die  mathematische  Konstruktion  der  Zusammen- 
setzung der   Bewegungen   zustande  brin<]jt. '•"•') 

Wie  dem  auch  sei.  die  Lehre  von  der  denkeiiden  Natur  gehf'irt 
nicht  in  den  Rahmen  der  Naturwissenschaft  hinein;  so  schrumpft 
denn  die  h^tztere  zu  einer  Lehre  von  der  k  ö  rp  er  1  i  cli  e  n  Natur 
zusammen.     Die    metaphysischen    Anfangsgründe    der    Naturwissen- 


*)  J.  15.   .Meyer:  Kants  Psycholof^ie  214fr.  'iOO  ff. 

■^*)  (t.  Jtel^on:   Zur  Geschichte  des  psychophysiscliL'ii  rrohlems  in  Steins 
Archiv  i.  Gesch.  d.  l'hil.  Jid.  III.     Heft  IT.     2<sr)  f. 

J7* 


-i 


i 

'41 


261) 


ii.    Kaut  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphil()S()])liie. 


2G1 


scliaft  eiitbaltcn  also  blofs  die  Grundsätze  der  Körj)erlelire,  diese 
aber  auch  in  absoluter  Volls  tän  d  i  <j;k  e  i  t ,  wie  sie  nur  in 
der  Metaphysik  erreichbar  ist.  Der  Grund  birrvon  ist,  „dal's  in  der 
Metaphysik  der  Ge.i^enstand  nur,  wie  er  l)lors  nach  den  allgenxeinen 
Gesetzen  des  Denkens,  in  an(Un'en  Wissenscbai'ten  al)er,  wie  er  nach 
datis  der  Anschauung  (der  reinen  sowohl,  als  empirischen)  vor- 
gesti'Ut  werden  muls.  betrachtet  wird,  da  denn  jene,  weil  der  Gegen- 
stand in  ibr  jederzeit  mit  allcMi  notwendigen  Gesetzen  des  Denkens 
verglichen  werden  muls,  eine  bestimmte  Zabl  von  Erkenntnissen 
geben  muls.  die  sich  viUlig  ersch()pt'en  liilst.  diese  aber,  weil  sie  eine  un- 
endliche Mannigfaltigkeit  von  Ansch;iuuiig('n  (reinen  oder  em])irise]i(Mi), 
mithin  Objekten  des  Denkens  dari)ieten,  niemals  zur  absoluten 
Vollständigkeit  gelangen,  sondern  ins  Unendliche  erweitert  werden 
können;  wie  reine  Mathematik  und  empirische  Xaturlebre''  (.■)G.'))« 
Es  ist  ja  selbstverständlicii :  wenn  es  überhaupt  von  apriorischen 
Objekten  eine  apriorische  und  somit  apodiktische  Ei'kcnntnis  giebt, 
<1.  h.  w(Min  es  dem  BewuTstsein  m()glicli  sein  soll,  gleichsam  hinter 
die  Koulissen  seines  eigenen  Entstellungsprozesses  zu  blieken  und 
dessen  Maschinerie  uinnittelbar  wahrzunehmen,  so  mul's  es  sie  auch 
vollständig  erkennen,  und  es  ist  dadurch  „doch  eben  kein  grol'ses 
AVerk"   zustande  gebracht. 

,.Damit  aber  die  Anwendung  der  Matbematik  aul'die  K<")rperlelu'e, 
die  durch  sie  allein  Naturwissenschal't  werden  kann.  mr>glich  werde, 
so  müssen  Prinzi{)i(Mi  d  e  i*  Iv  (»  n  s  t  r  u  k  t  i  o  n  der  He^  rille, 
w  eiche  zur  M  ö  g  1  i  c  h  k  (M  t  d  c,  v  M  a  t  e  r  i  e  üb  e  r  h  a  u  \)  t  ge- 
hören, vorangeschickt  werdt^n  ;  mithin  wird  eine  vollständige  Zer- 
gliederung des  HegrilVs  von  einer  jMaterie  üherbaupt  zu  Grunde 
gelegt  werden  müssen,  welches  ein  Geschält  der  reinen  Philosophie 
ist,  die  zu  dieser  Absicht  sieh  keiner  besonderen  Erl'ahrungen, 
sondern  nur  dessen,  was  sie  im  abgesonderten  (obzwar  an  sich  em- 
pirischen) IjegriÜ'e  stdbst  antritVt,  in  Hezieliung  aui'  die  reinen  An- 
schauungen im  Ivaume  und  der  Zeit  (nach  Gesetzen,  welclie  schon 
dem  Hegrifle  der  Natur  überhaupt  wesentlich  anhängen),  bedient, 
mithin  eine  wirkliche  Metaphysik  <ler  körperlichen  Natur 
ist-'  (;5(il  f.). 

Was  ist  nun  dasjenige  an  der  Materie,  was  wir  als  An- 
schauung nach  seinen  räumlichen  und  zeitlichen  Verhältnissen 
uns  daizustellen  haben,  um  daraus  eine  a[)riorische  Erkenntnis  der 
Materie  zu  gewinnen?  »Jedenlälls  kann  es  nur  die  Grund- 
be  Stimmung  der  JMaterie  sein,  denn  alle  anderen  Bestimmungen 
derselben  sollen  dureh  Konstruktion  erst  aus  ihr  abgeleitet  werden. 
Die  Antwort  Kants  ist  ebenso  kurz,  wie  ungenügend.     „Die  Grund- 


bestimmung   eines    Etwas,    das   ein  Gegenstand  äufserer  Sinne  sein 
soll,    mul's    Bewegung    sein;    demi  dadurch  alh^n  k<'.nnen  unsere 
Sinne  affiziert  werden.  Auf  diese  führt  auch  der  Verstand  alle  übrigen 
Prädikate  der  ]\Iaterie,  die  zu  ihrer  Natur  geh(»ren.  zurück"   (Mlili). 
Man    sieht   nicht,    mit    welchem    Rechte    Kant    die    Bewegung 
heranzieht.     Dafs    sie    nur    ein    empirischer   Begi-ilf   ist.    Iiat    zwar 
nichts  Auffälliges,    denn    die    Möglichkeit    einer    besonderen  Natur- 
wissenschaft hängt   ja    eben    von    der   Aufnahme    eines    enij^irischen 
Begrili'es  ab,  und  wenn  dies  die  Materie  ist,   so  mufs  natürlich  auch 
deren  Grundbestimmung  blofs  emj)irisch  sein.      Kant  selbst  gesteht: 
..Schliefslicb   merke   ieh   noch  an,     dafs,    da   die  Peweglichkeit   eines 
Gegenstandes  im  ]{aum  a  priori  und  ohne  Belehrung  durch  Erfahrung 
nicht  erkannt  werden  kann,  sie  von  mir  eben  darum  in  der  Kritik 
der  reinen   Vernunft  auch  nicht  unter  die  reinen  Verstandesbegrilfe 
gezählt  werden  konnte,   und  dafs  dieser  Begrili',  als    empirisch, 
nur  in  einer  Naturwissenschaft,  als  angewandter  Metaphysik,  welche 
sich  mit  einem  durch   Erfahrung   gegeb^-nen  Begriffe,    obwohl    nach 
Prinzi|)ien   a   priori   beschäftigt.    Platz  finden   könne-'    (371).      Es  ist 
daher  kein    Widerspruch,     wie    Schwab    und   Andere  meinen,   dafs 
die  metaphysischen   Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft  trotz- 
dem   einen    physischen    oder   emi)irisehen    Begriff',    wie    die    Be- 
wegung es  ist,   behandeln.      ,.Nicht  deswegen  heilst  eine  J'hvsik  rein, 
weil    sie    k(>ine    Daten    aus    der    Erfahrung    nimmt   —   eine   solche 
Physik  giebt  es  nicht:   sondern  weil  sie  über  den  empirischen  Gegen- 
stand  nicht  nach   em])irischen  J^j-inzipien   urteilt.      Das   Aj)riori   liegt 
also  nicht  im  Stoff,   sondern  in   der    Korm    der  Untt-rsuchung;    das 
Verfahren    ist  rein,    nicht  sein   Gegenstand,   das    Gesetz,    nicht 
der  Begriff   der   Erscheinung,    die    Konstruktion    des    Begrilfs. 
nicht    das    J)ing,    welches    es  (?)    bezeichnet."*)     Bedenklich  ist  der 
Tnistand,    dafs    Kant    nicht    zeigt,    warum    gerade    die    Bewegung 
Grundliestimmung   der    empirischen  Materie   sein  soll.      Pud  warum 
soll  die   Bewegung    der  JVIaterie    wesentlich    anhaften,    da    sie    doch 
unmittelbar    nur   als  ein  Accidens    derselben    und    folglich    im   Ver- 
hältnis   zu    ihr    blofs  als  zufällig  erscheint?     Die  Naturwissenschaft 
erklärt  zwar  alle   Erscheinungen  letzten   End<'s  aus   Bewegun«^.    und 
insofern  ist  diese    für   sie    ein   notwendiger  Beirriff,    duj-ch  den  auch 
die   Annahme    einer  Materie    erst  AV^ert  erhält.      Kant  dagegen   will 
auch  die  Materie  erklän^n,  er  will  nicht  blofs  die  einzelnen   ^'atur- 
erscheinungen  auf  Bewegung  der  Materie,  sondern  auch  diese  selbst 
auf  Bewegung   zurückführen,    und    (h    hat  er  kein  Jiecht,    sich  auf 


*)  Stadler:   a.  a.   O.   14  f. 


202 


B.    Kant   als  >«atiirj)hilos()ph. 


II.  Die  kritische  Naturi)hilosoi)hie. 


263 


n 


die  Naturwissenschaft  zu  stützen,  für  welche  die  Materie  sclion  ein 
Letztes,   das    selbst  nicht  weiter  ableitbare   Substrat  der   ßewe'^ung, 
bildet.     Wie  man  also  auch  über  die  metaphysischen  Anfan«^^sgründe 
und  ihre  j^eweise    im  Einzelnen    denken    möge,    die  Voraussetzung, 
worauf  ihre  Ilesultate   ruhen,     schwebt    in    der    Luft,    ein    Umstand, 
der  gerade  nicht  geeignet  sclieint,  die  Erwartung  apodiktischer  Ge- 
wifsheit   ihrer    Erkenntnisse   von    vornherein  allzu  hoch  zu  spannen. 
„Und  so  ist  die  Naturwissenschaft  durchgängig    eine    entweder 
reine  oder  angewandte  Bewegungslehre*'   (.')()()).      ,,Alle  Natur- 
philosophen,   welche    in    ihrem    Geschäfte    mathematisch    verfahren 
wollten,   haben  sich  jederzeit  (obschon  sich  selbst  unbewul'st)  meta- 
physischer Prinzipien   bedient   und    bedienen  müssen,    wenn  sie  sicli 
gleich   sonst   wider  allen  Ansj)ruch   der  ^letaphysik   aut   ihre  Wissen- 
schaft   feierbch     verwahrten*'     {H{V2).     Sie  operierten    mit    Begriffen, 
wie  iknvegung,   P]rfiillung  des  Raumes.  Trägheit  u.  s.  w.,   olme  nach 
ihrer  Beglaubigung  zu   fragen.     Sie  nahmen  an.   (hil's  es  dergleichen 
in  der  äufseren  Erfahrung  geben    müsse    und    forscliten    bei    diesen 
Begriffen    nicht    weiter    nach    deren    Quellen    n   priori.      Die    meta- 
})hysischen    Anfaiigsgriin(h'    untersuclien    nun    alle    solchen    Begrilfc 
daraufhin,    mit    welcbcMii    Rechte    sie    in    der  Ei'falirung  angewendet 
werden.     Zu  diesem  Zwecke  stellen  sie  dieselben  als  Anschauungen 
im     Räume     dar     und     zeigen  ,     wie     sie     nur     dadurch     auch     em- 
pirische   Gültigkeit    erhalten,    dafs    sie    a  priori   konstruierbar   sind. 
Die     Anfangsgründe     sind     somit     angewandte     Erkenntnis- 
theorie,   deren  Aufgabe  darin  besteht.     ,.dal's  sie  di(^   Ausdrücke, 
welche    sie  durch   Aufnahme    emj)irischer    Resultate    erhält,    zurück- 
übersetzt in  Termini   der  Lelire   von  der  i\l()glichkeit  der  Erfahrung. 
Sie  stellt  die  allgemeinen   Ergebnisse  der  Naturwissenschaft  dar  im 
Lichte  der   Bedingungen  der    Synthese    in    reiner    Anschauung,    als 
Funktionen  der   Einheit  des    Bewul'stseins.      Als  (iregenstand  der  Er- 
fahrung, als  Objekt  dej-  Natur  steht  die  jMaterie  unter  den  Gesetzen 
der  reinen  Erkenntnistheorie.      Wie  diese  letzteivn  im  Einzelnen  sich 
an   ihr  äufst'rn,    was  für  spezielle  Bestimnmngcn   sich  aus  ihnen   für 
die  Materie  ergeben,     das   soll   untersucht   werden ;    das  ist  es  jetzt, 
„was   die   Vernunft    für    sich    zu    leisten    vermag*'    (:^r)J)),    nachdem 
sie    erst    das    ..Erfahrungsprinzi])"     der    Bewegung    zu    Hülfe    ge- 
nommen hat."'") 

Es  giebt  eine  i\letaphysik,  die  nichts  Anderes  ist.  als  ein 
„Wahn,  sich  Miiglichkeiten  nach  Belieben  auszudenken  und  mit 
Begrilfen    zu    spic^len.    die    sich    in    der  Anschauung    vielleicht  gar 


-)  Stadler:   a.  a.  ().   11.   IJ.    1;». 


nicht  darstellen  lassen  und  keine  andere  Beglaubigung  ihrer  objek- 
tiven Realität  haben,  als  dafs  sie  blofs  mit  sich  selbst  nicht  im 
'Widersj)ruche  stehen*'  (8(;2).  Eine  solche  Metaphysik  ist  jenes 
Verfahren  nicht,  sondern  es  ist  wahre  Metaphysik.  „Alle  wahre 
Metaphysik  ist  aus  dem  Wesen  des  D  e  n  k  u  ng  s  v  e  r  m  öge  n  s 
selbst  genommen  und  keineswegs  darum  erdiehtet.  weil  sie 
nicht  von  der  Erfalii'ung  entlehnt  ist,  sondern  enthält  die  reinen 
Handlungen  des  Denkens,  mithin  B  egri  ff  e  und  Grund- 
sätze a  priori,  welche  das  Mannigfaltige  empirischer  Vor- 
stellungen allererst  in  die  gesetzmäfsige  Verbindung  bringt, 
dadurch  es  empirische  Erkenntnis,  d.  i.  Erfahrung,  werden 
kann"  (ebd.).  Nun  ist  das  Schema  einer  solchen  Verbindung  die 
Kategorieentafel,  gemäfs  welcher  nach  der  Vernunftkritik  das 
iMannigfaltige  der  Erfahrung  unter  bestimmte  Gesichtspunkte  ge- 
ordnet wird.  Unter  die  vier  Klassen  derselben,  die  der  Q  u  a  n  t  i  t  ä  t, 
der  Qualität,  der  Relation  und  endlich  der  Modalität, 
müssen  sich  folglich  auch  alle  Bestimmungen  des  allgemeinen  Be- 
griffs einer  Materie  überhaupt,  mithin  auch  alles,  was  a  i)riori  von 
ihr  ausgedacht,  was  in  der  mathematischen  Konstruktion  dargestellt 
oder  in  der  Erfahrung  als  bestimmter  Gegenstand  derselben  ge- 
geben werden  mag,  bringen  lassen.  Der  Begriff'  der  Materie  wird 
sonach  durch  alle  vier  genannten  Funktionen  der  Verstandeshegritie, 
in  vier  Hau])tstiicken.  durchgeführt  werden  müssen,  wobei  in  jedem 
dieser  Haui)tstücke  eine  neue  Bestimmung  an  ihr  hinzukommt 
(363  ff.). 

Diese  Darstellung  hat  nun  Kant  in  die  Form  der  mathe- 
matischen Methode  eingekleidet,  ohne  indessen  die  letztere  mit  aller 
Strenge  befolgt  zuhaben,  „wozu."  wie  er  eingesteht,  „mehr  Zeit  er- 
forderlich gewesen  wäre,  als  ich  darauf  zu  verwenden  hätte"  (3()S). 
Natürlich  ist  kein  Grund,  zu  bedauern,  dafs  Kant  in  der  I^>ef()lirun<r 
jener  Methode  sich  mehr  Freiheiten  erlaubt  hat,  als  dies  die  Form 
der  Mathematik  eigentlich  gestattet.  Sind  doch  seine  Ausführungen 
vielfach  schon  jetzt  so  kna])p.  dafs  man  alle  Einteilung  m  Er- 
klärungen, Lehrsätze,  Beweise  u.  s.  w.  für  eine  eingehendere  Dar- 
stellung der  Sache  gern  dahin  geben  möchte,  (hrigens  hatte  Kant 
bereits  im  Jahre  1763  in  seiner  Abhandlung  über  die  Deutlichkeit 
der  Grundsätze  u.  s.  w.  den  Unterschied  der  mathematischen  von 
der  j)hiloso])hischen  Methode  festgestellt  und  die  Anwendung  der 
ersteren  auf  die  philosophische  BegriÜswissenschaft  verworfen.  Um 
so  auffälliger  ist  es,  wie  er  sich  jetzt  dazu  verstehen  konnte,  die 
mathematische  Methode  in  der  reinen  Naturwissenschaft  ..nach- 
zuahmen."    Noch  in  seiner  Vernunftkritik    hatte  er  sich  gegen  ein 


2G4 


B.   Kant  als  Naturpbilosoph. 


I<  * 


t  : 


solches  Verfalireii  ausgesprochen.  „Das  grofse  Ghick.  welches  die 
Vei-imnft  vermittelst  der  ^latheniatik  niaclit.  hriiii^t  ganz  natürliclier 
Weise  die  Vermutung  zu  Wege,  dal's  es.  wo  nicht  ilir  seihst,  doch 
ihrer  Methode  auch  aufser  dem  Falle  der  Gröl'sen  gelingen  werde, 
indem  sie  alle  ihre  Begriffe  auf  Anschauungen  hi'ingt.  die  sie  a  priori 
gehen  kann  und  wodurcli  sie,  so  zu  reden.  ]\Ieister  üher  die  Natur 
wird;  da  hingegen  reine  l^hilosojdiie  mit  diskursiven  B(^griffen 
a  priori  in  der  Natur  herum  pfuscht,  ohne  die  Realität  derselhen 
a  priori  anschauend  und  dadurch  heglauhigt  machen  zu  können" 
(III.  484).  Darum  hatte  Kant  hier  aUe  Gründe  noch  einmal  zu- 
sammengestellt und  dargethan,  „dafs  Mefskunst  und  rhiloso])hie 
zwei  ganz  verschiedene  Dinge  seien,  oh  sie  sich  zwar  in  der  Natur- 
wissenschaft einander  die  Hand  hieten,  mithin  das  Verfaliren  des 
einen  niemals  von  dem  andern  nachgeahmt  werden 
k()nne"  (ehd.  4^;")).  Wie  kam  er  dazu,  diese  Hinsicht  jetzt  zu 
ignorieren  und  die  wissenschaftliche  Sicherheit  seiner  naturj)hilo- 
so])hischen  Erkenntnis  an  ihre  Einkleidung  in  das  ihr  unangemessene 
Gewand  von  Definitionen^  Axiomen  und  Demonstrationen  anzu- 
knü})fen  ? 

Es  ist,  wie  erwähnt,  der  empii'ische  Begriff  d<'r  Materie, 
den  Kant  durch  die  a])riorische  Darstelhmg  seiner  Grundhestimmung, 
der  Bewegung,  konstruieren  will.  Nun  kann  aher,  wie  er  aus- 
drücklich hehauptet,  „ein  empirischer  Begiiff  gar  nicht  (h^tiniert, 
sondern  nur  ex})liziert  werden.  Denn  da  wir  an  ihm  nur  einige 
Merkmale  von  einer  gewissen  Art  Gegenstände  (h^r  Sinne  hahen, 
so  ist  es  niemals  sicher,  oh  man  unter  (h'm  Worte,  das  (h'uselhen 
Gegenstand  hezeichnet.  nicht  einmal  mehr,  das  andere  Alal  weniger 
Merkmale  desselheii  denke"  (1II.48I)).  Nur  solche  BegrilVe  können 
definiert  werden,  die  eine  willkürliche  Synthesis  enthalten,  welche 
a  ])riori  konstruiert  werden  kann,  mithin  hat  nur  die  JMathematik 
Definitionen.  „Denn  den  Gegenstand,  den  sie  denkt,  stellt  sie  auch 
a  ])riori  in  der  Anschauung  dar.  und  dieser  kann  sicher  nicht  mehr, 
noch  weniger  enthalten  als  der  Begriff,  weil  durch  die  Erklärung 
der  Begriff  von  dem  (Tregenstande  ursprünglich,  d.  i.  ohne  die  Er- 
klärung irgend  wovon  ahzuleiten,  gegehen  wurde*'  (4S7).  AVenn  es 
also  wahr  ist.  dafs  ])hilos{)j)hische  Definitionen  nur  als  Ex]>ositi<)nen 
ge gel)  euer,  mathematische  aher  als  Konstruktionen  ursj)rünglich 
gemachte  r  Begriffe,  jene  nur  analytisch  durch  Zerglic^derung 
(deren  Vollständigkeit  nicht  apodiktisch  gewifs  ist),  diese  syn- 
thetisch zustande  g(d)racht  werden  und  also  den  Begriff  seihst 
machen,  dagegen  jene  ihn  nur  erklären,  so  folgt,  dal's  man  in 
der  Philosophie  die  Dehnition  nicht  voranschicken  kann  als  höchstens 


II.  Die  kritische  ^Naturphilosophie. 


265 


zum  hlofsen  Versuche,  wofern  man  nicht  etwa  Gefahr  laufen  will,  in 
die   Definition  etwas  hineinzulegen,    was  in  dorn    Hegriff  als  solchen 
nicht  enthalten  ist;    am   wenigsten  aher  darf  man  hoffen,   aus  einer 
solchen  Definition  die  ganze  Wissenschaft  mit  ajjodiktischer  Gewifs- 
heit  ahleiten  zu  können  (ehd.  f.).     Niclit    hesser    steht    es   mit  den 
Axiomen,    als    den    synthetischen    Grundsätzen    a  priori,    sofern    sie 
unmittelhar  gewifs  sind.     Nur  die  Matlu^natik  ist  der  Axiome  fähig, 
„weil    sie    vermittelst    der    Konstruktion    der    Begriffe    in    der   An- 
schauung   des    (gegenständes    die   Prädikate   desselhen    a  priori    und 
unmittelhar   vei'knüpfen    kann,    z.  B.    dafs  drei  Puidde  jederzeit  in 
einer  Ehene  liegen"  (489).     Die    Philosophie    dagegen    „hat    keine 
Axiome    und   darf  niemals    ihre  Grundsätze  a  priori  so  schlechthin 
gehieten.    sondern    mufs    sich  dazu  he(juemen,    ihre  Befugnis  wegen 
derselhen    durch    gründliidie  Deduktion    zu    rechtfertigen"     (ehd.   f.). 
Was    aher    schliefslicli    die  Demonstrationen    anhetrilft,    so  verdient 
nur  ein  aj)odiktischer  Beweis,  sofern  er  intuitiv  ist.  diesen  Namen. 
„Erfahrung    lehrt    uns    wohl,    was  da    sei,    aher   nicht,    dafs  es  gar 
nicht    anders    sein    könne.     Daher   können  emi)irische   Beweisgründe 
keinen    apodiktischen    Beweis    verschaffen.     Aus   Begriffen   a  priori 
(in  diskursiver  Erkenntnis)  k;inn  aher  niemals  anschauende  Gewifs- 
heit,    d.   i.  Evidenz,    entsj)ringen.    so    sehr    auch    sonst    das    Urteil 
a])odiktisch    gewifs    sein    mag.      Nur    die    Mathematik    enthält    also 
iJemonstrationen.    weil    sie    nicht   aus  Bt^griffen,    sondern    der   Kon- 
struktion derselhen.    d.   i.   der  Anschauung,    die    den    Begi-iffen  eiit- 
S])rechenda  priori  gegehen  werden  kann,  ihre  p]rkenntnis  ahleitet"  (4}K)j. 
Nun  besteht  ja  zwar  das  ganze  Verfahren  der  metaphysischen  Anfangs- 
giünde  darin,   ihre  Grundhegriffe  anschaulich  darzustellen,  um  ihnen 
so  die   Evidenz    von  mathematischen  Bestimnjung(;n    zu    verschaffen. 
Allein   was    sie  auf   diese   Weise  konstruirt,    das  ist  doch   nicht   der 
Begriff  der  Materie  seihst,   sondern   es   sind   nur  die  aus  der  Erfah- 
rung aufgenommenen  und  durch  (diskui'sives)  Nachdenken  gewonnenen 
Elemente  dieses  Begriffes,  von  denen  es  doch  immer  unhestimmt 
hleiht,    oh    sie    richtig    erkannt,     und    ob     folglieh     ihre     Synthese 
auch    wirklich    den    Begriff    der    Materie    ergieht.     Zudc^m    gesteht 
Kant  seihst:    in   Ansehung  der  h^tzteren   (des  Physischen),    welches 
immer    nur    emj)irisch    gegeben    werden    kann,     „kömien    wir  nichts 
a  priori  hahen  als  unbestimmte  Begriffe  der  Syntiiesis  möglicher 
Emi)findungen.    sofern    sie    zur   Feinheit    der  A])i)erze])tion   (in   einer 
möglichen   Erfahrung)  g(dir)ren''  (4S;)). 

Danach  verringert  sich  die  Hoffnung  noch  mehr,  aus  jenen  Begriffen 
ein  Svsteni  herstellen  zu  können,  das  in  seiner  Gesamtheit  ebenso  den 
Begriff  der  Materie  bestimmt,    wie   die  Mathematik   denjenigen    des 


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B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


Raumes.  Au  dieser  Tliatsache  vermag  ()rfenl)ar  auch  die  Nach- 
aliuiuug  der  matliematischeu  Methode  uichts  /u  äuderu,  uud  souacli 
behält  die  Kritik  aui  Fjude.  Keclit,  „dal's  es  sich  für  die  Xatur 
der  J*iiih).s()|)hie  gar  nicht  schicke,  voruehudich  im  Fehle  der 
reinen  Vernunft,  mit  einem  dogmatischen  Gange  zu  strotzen  und  sich 
mit  den  Titehi  und  Bän(h}rn  (U'r  Mathematik  auszuschmücken,  in 
deren  Orden  sie  (h)ch  nicht  gehört,  ob  sie  zwar  auf  schwesterliche 
Vereinigung  mit  derselben  zu  hoffen  alle  Ursache  hat*'  (490).  Knie 
solche  Einkleidung,  wie  diejenige  in  die  mathematische  Form,  kann 
niemals  mehr  sein  als  ein  blofs  äufserlicher  Zierrat,  der  aber  aul' 
den  Inluilt  selbst  keinen  Eiidhifs  gewinnen  und  am  wenigsten  die 
Sicherheit  der  Resultate  vermehren  kann.*)  Mit  Recht  erinnei't 
Herl)art  in  seiner  Kritik  der  kantischen  Naturphilosophie  daran, 
dafs  auch  die  JVlathematik  nicht  durch  ihre  Methode  das  geworden 
sei,  was  sie  ist.  „Namenerklärungen,  Grundsätze,  Anmerkungen 
und  Lehrsätze  sind  nicht  die  Form,  der  irgend  eine  Wissenschaft 
ein  besonderes  Heil  verdanken  könnte.  Namenerklärungen  sind  gut, 
um  dem  Mirsverstehen  der  Worte  oder  dem  undeutlichen  Auffassen 
zu  begegnen  :  aber  sie  können  die  Begriffe  weder  schaffen,  noch  auch 
nur  berichtigen.  ( Grundsätze  gelten  höchstens  soviel,  als  ihre  Sub- 
jekte gelten  kiinnen ;  sind  diese  mit  irgend  einem  Fehler  behaftet, 
sind  sie  keine  wahren  Erkenntnisse,  so  hilft  es  nichts,  wenn  der 
Satz  ihnen  auch  noch  so  wohl  zu  ihnen  passende  Prädikate  beifügt. 
Lehrsätze  samt  den  Beweisen  gelten  h(»chstens  soviel,  wie  die  (Grund- 
sätze ;  ob  aber  den  Aufgaben  der  Wissenschaft  Genüge  geleistet 
werde,  das  kann  durch  sie  nicht  entschieden  werden.  Daher 
])  f  1  e  gen  d  i  e  A  n  m  e  r  k  u  n  g  e  n  d  a  s  B  e  s  t  e  zusein,  o  b  g  1  e  i  c  h 
sie  nur  als  Zugaben  auftreten.  Die  sogenannte  matliematische 
Methode  dient  blofs  der  logischen  Deutlichkeit  des  Vortrags ;  dies 
Verdienst  kann  man  ihr  lassen,  obgleich  es  nicht  an  sie  gebunden 
ist,  sowenig  wie  ein  Buch  darum  an  wahrem  Werte  verliert,  weil 
ihm  etwa  Inhaltsanzeige  und  Register  fehlt.  Verführerisch  aber  ist 
die  Einbildung,  durch  jene  Form  irgend  etwas  Wesentliches  zu 
leisten;  und  davon  sieht  man  die  Spur  auch  in  Kants  metaphysischen 
Anfangsgriuiden   der  Naturwissenschaft."**) 

Wenn  Kant  seinen  eigenen  früheren  Aufstellungen  zuwider  die 
mathematisciie  Methode   in  den  metaj)h.  Anfangsgrinulen  angewendet 


*)  y<x\.  Ja  «^Melsk  i:  Wie  hat  Kant  den  BegrilT  dvv  ^laterie  aufi^H'fafst. 
und  wie  ist  diese  AutTassunpf  /u  beurteilen.  J^ro^^^ramiii  des  kgl.  kathol.  Gym- 
nasiums /u  Ostrowo  (1871 — 72).     'J4  tV. 

**j  Herbart:  Sämtl.  Werke.     Bd.  111.     44b. 


1 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


26' 


hat,  so  mag  er  hierzu  wohl  durch  den  Umstand  vc^ranlafst  sein,  dafs 
es  ihm  nirgends  mehr  auf  apodiktische  Gewifsheit  ankam,  als  gerade 
in  diesem  Teile  seines  ])hilosoj)hischen  Systems.  War  doch  die 
sichere  Begründung  seiner  naturi)hiloso])hischen  Erkenntnis  gerade 
der  eigentliche  Stachel  gewesen,  der  ihn  auf  seinem  bisherigen  Ent- 
wickelungsgange  von  Stufe  zu  Stufe  weiter  getrieben  hatte;  lag  es 
nicht  nahe,  nachdem  er  mm  endlich  das  Ziel  erreicht  zu  haben 
glaubte,  dafs  er  die  a])odiktische  Gewifsheit  jener  Erkenntnis  nicht 
blofs  von  ihrer  apriorischen  Gewinnung  abhängig  machte,  sondern 
sie  auch  schon  iiufserlich  in  der  mathematischen  Form  der  Dar- 
stellung zur  P]rkenntnis  brachte?  Die  Mathematik  war  doch  einmal 
das  Ideal  des  Kationalismus,  sie  war  gleichsam  identisch  mit  a])0- 
diktischer  Erkenntnis  überhaupt,  und  Kant  war  überzeugt,  nunmelir 
eine  Grundlage  gewonnen  zu  haben,  die  an  Sicherheit  hinter  der 
Mathematik  nicht  zurückblieb.  Darum  konnte  er  vergessen,  was  er 
selbst  früher  gegen  die  Einkleidung  philos()])his(']ier  Erkenntnis  in 
die  mathematische  Form  geiiufsert  hatte,  konnte  er.  ebenso  wie  vor 
30  dahren,  als  er  seine  Physische  Monadologie  verfafste,  und  zwar 
aus  denselben  Gründen,  glauben,  dafs  seine  Naturphilosophie  einer 
solchen  F^inkieiduiig  „wohl  fähig  sei  und  diese  Vollkommeidieit  auch 
mit  der  Zeit  von  geschickter  Hand  wohl  erlangen  k()nne.  wenn 
durch  diesen  Entwurf  veranlafst,  mathematische  Naturforscher  es 
nicht  unrichtig  hnden  sollten,  den  ■meta])hysischen  Teil,  dessen  sie 
ohnedem  nicht  entübrigt  sein  kcuinen,  in  ihrer  allgemeinen  Phvsik 
als  einen  besonderen  (ii'undteil  zu  behandeln  und  mit  der  mathe- 
matisclien  Bewegungslehre  in  Vereinigung  zu  bringen''  (IV.  368). 
Allerdings  wird  man  von  dieser  Meta})hysik  gestehen  müssen:  sie 
steht  bestürzt,  dafs  sie  mit  so  vielem,  als  ihr  die  reine  Mathematik 
darbietet,  doch  nur  so  wenig  ausrichten  kann.  „Indessen  ist  doch 
dieses  Wenige  etwas,  das  selbst  die  Mathematik  in  ihrer  Anwendung 
auf  Naturwissenschaft  unumgänglich  braucht,  die  sich  also,  da  sie 
hier  von  der  Metaphysik  notwendig  borgen  mufs,  auch  nicht  schämen 
darf,   sich  mit  ihr  in   Gemeinschaft  sehen  zu  lassen''   (ebd.). 


u.  Die  Phorononiie. 
J)er  Kategorieentafel  gemäfs  betrachten  die  metai)hysischen 
Anfangsgründe  die  Materie  zunächst  unter  dem  Gesicljtsj)unkte  der 
Quantität.  Die  reine  Naturwissenschaft  hesagte  im  Axiome  der 
Anschauung:  „Alle  Erscheinungen  sind  ihrer  Anschauung  nach 
extensive  Gröfsen.''  Wenden  wir  diesen  Grundsatz  auf  die  Materie, 
als  Gegenstand  der  Erfahrung,  an,  so  müfsten  wir  demnach  sagen, 
dafs   sie    eine  extensive  Gröfse   sei.     Daraus    hätte    sich   dann   eine 


268 


B.    Kant  als  Naturpliilosoph. 


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reine  Gröfsenlehre  ergeben,  die  zu  untersuchen  geluilit  hätte,  welche 
Bedingungen  die  Naturwissenscluift  hei  der  Beohachtung,  Messung 
und  Aufzeichnung  der  (Juantitiitsvcrliältnisse  der  K()rper  einzuhalten 
hat.*)  Diese  Anwendung  jenes  Gi'undsatzes  macht  Kant  nicht.  Er 
will  nicht  das  (Quantum  der  Materie  selbst,  sondern  mir  dasjenige 
ihres  Zustandes  unt(4'suclien.  ,.Materie".  sagt  er,  ,.ist  (his  Beweg- 
liche im  J^aume"  (.')()!!).  Es  handelt  sich  also  nicht  um  die  GnU'se 
des  Bewegliclicn.  auch  nicht  um  dessen  innere  Beschaffenheit  — 
was  sich  bewegt,  oder  das  Substrat  der  Bewegung  kann  auch 
,.iur  einen  Punkt  gelten."  Die  Betrachtung  hat  es  zunächst  hlofs 
mit  der  Grundbestimmung  der  Materie  als  solchen,  der  „Bewegung 
und  dem,  was  in  diesei'  als  Gröfse  betraclit(^t  werden  kann,  Ge- 
sell wi  n  d  i  gk  tM  t  und  Jlichtung,"  zu  thun,  und  wenn  Kant 
trotzdem  bisweilen  der  Bezeichnung:  Kr)r])er  sich  bedient,  so  hebt 
er  ausdrücklich  hervor,  es  geschehe  dies  niii-,  ,.damit  der  \'ortrag 
weniger  abstrakt  und  fafsliclu^r  sei"  (ebd.).  Was  geleistet  wt^den 
soll,  ist  also  die  ,.Konstruktion  der  Bewegungen  überliau))t  als 
Gröfsen"  (.">77);  und  dieses  gesciiieht  in  der  JMioronomie  oder, 
wie  man  sie  heute  aucli  nennt,  Kinematik.  ,.ln  der  l^horonomie, 
da,  ich  die  JVlatcrie  durch  keine  andere  Eigenschait  als  ihre  Be- 
weglichkeit kenne,  mithin  sie  selbst  nur  als  einen  Punkt  betrachten 
darf,  kann  die  Bewegung  nur  als  B  e  sehr  e  i  b  u  n  g  ei  n  e  s  B  a  u  m  e s 
betrachtet  werden,  doch  so,  dafs  ich  nicht  blofs.  wi(^  in  der  Geometrie, 
auf  den  Raum,  der  beschi'ieben  wird,  sondern  auch  auf  die  Zeit 
darin,  mithin  auf  die  Gescliwindigkeit,  womit  ein  Punkt  den  Kaum 
beschreibt.  Acht  habe.  Phoronomie  ist  also  die  reine  Gröfsen- 
lehre (mathesis)  der  Bewegungen.  Der  bestimmte  Begriff 
von  einer  Grcifse  aber  ist  der  Begriff' der  Erzeugung  der  Vorstelhmg 
eines  Gegenstandes  durch  die  Znsammensetzung  des  (7leichartig(m. 
Da  nun  der  Bewegung  nichts  gleichartig  ist  als  wiederum  Bewegung, 
so  ist  die  Phoronomie;  eine  Lehre  der  Zusammensetzung 
d  er  ]^  e  w  e g u  n  g  e n  e  b  e  n  d  e s  s  e  l  h  e  n  Punkt  e  s  n  a  c h  i  h  i-  e  r 
Bichtung  und  Geschwindigkeit,  d.  i.  die  Vorstellung  einer 
einzigen  Bewegung  als  einer  solchen,  die  zwei  und  so  melire  Be- 
wegungen zugleich  in  sich  enthält,  ode^'  zweier  Benvegungen  eben- 
desselben I^unktes  zugleich,  sofern  sie  zusammen  eine  ausmachen, 
d.   i.  mit  dieser  einerlei  sind"   (.^TJi). 

Soviel  also  „mufs  günzlicli  a  j)riori  und  z.war  anschauend  zum 
Behuf  der  angewandten  JMathematik  ausgemacht  werden. 
Denn  die  Regeln  der  Verknii))fung  der  Bewegungen  durch  ])]iysisclie 


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*)  Stadler:   a.  a.   U.    18  1'.   .')0  1' 


II.  Die  kritische  Naturphilosüphie. 


269 


Ursachen,  d.  i.  Kräfte,  lassen  sich,  ehe  die  Grundsätze  ihrer  Zu- 
sammensetzung überhaupt  vorher  rein  mathematisch  zum  Grunde 
gelegt   worden,   niemals  gründlich  vortragen"   (oTT). 

Der   Erfahrung  nach   lassen  sich  die  Bewegungen  in  der  Natur 
zusammensetzen    und    zerlegen,    ohne    dafs    wir    darüber    Aufsehlufs 
erhielten,    wie    eine   solche  Operation   möglicli  ist.     Wir  betrachten 
die     Bewegung     eines     Kr>rpers,     die     ihm     durch     zwei     von     ver- 
schiedenen   Richtungen    kommende    Stöfse    mitgeteilt    ist,     als    die 
Resultante  dieser  beiden  Bewegungen  und    k(hinen    deren  Richtung 
und     Geschwindigkeit    bestimmen,     wenn     wir     die     Richtung     und 
Geschwindigkeit  ihrer  Komponenten    kennen.      Aber  woher  nehmen 
wir  das  Recht  zu  solcher  Bestimmung,   und  welche  Sicherheit  haben 
wir,    dafs    wir    damit    auch    in    jedem    Fall    die   Wahrheit  treffen  ? 
Gieht    es    einen    (Trund,    so    kann    er    nur    in    demieniffen    lieireii 
was  seihst   Bewegung    aJlein   möglich     macht,    im    Raum,  als  der 
a  p  r  i  o  r  i  s  c  h  e  n  B  e  d  i  n  g  u  n  g  d  e  r  E  r  f  a  h  r  u  n  g.      Wir  müssen  auf 
diese  J-*>edingung  und  (himit  auf  das  Suhjekt.   als  Träger  der  ]{;iuni- 
anschauung.  zurückgehen,  um  uns  der  objektiven  Gültigkeit  dessen  zu 
versichern,  was  von  der  Bewegung  sich  ausmachen  läfst.      K()nnen  wij- 
diese     Bestimmungen    aus    der    Natur    des  Raumes    selbst   ableiten, 
kcinnen   wir  den    Begriff'   einer   zusammengesetzten   Bewegung    kon- 
struieren,    d.   Ii.     „eine   Bewegung,    sofern  sie    aus    zweien    oder 
mehren     gegebenen    in     einem     Beweglichen     vereinigt     entspringt, 
a  priori   in   der  Anschauung  darstellen"   (:j7(i).   dann,   aber  auch  mir 
dann    hahen    wir    das   Recht,    von  einer  Zusammensetzung  der  Be- 
wegungen zu  sprechen   und  dürfen   wir  sicher  sein,  dafs  uns  niemals 
ein    Fall    begegnen    wird,     in    welchem    die  Bewegungserscheinungen 
in  der  Natur  mit  den  (Tcsetzen  der  reinen  Mathematik   nicht  über- 
einstimmen  werden.      Eine  solche  Rechtfertigung   und  objektive   Be- 
stätigung  unserer  Naturanschauung  ist  demnach   wesentlich   trans- 
cendentaler  Art:   wir   hetrachten   die  Bewegung  „als  Gegenstand 
einer  möglichen   Erfahrung"    (o77).   und    untersuchen,    wie  weit  die 
Geltung  der  Grundhegriffe   reicht,   mit  denen   die  angewandte  ^Alathe- 
matik  es  zu  thun   hat. 

Zunächst  was  heifst  überliaupt  Bewegung?  Gewöliidich  deliniert 
man  sie  als  Veränderung  des  Orts,  und  hiergegen  ist  auch  solange 
nichts  einzuwenden,  als  es  sich  nur  um  Punkte  hanck-lt:  (h'un  der 
Ort  eines  Kiu-pers  ist  ein  Buidvt.  Nach  dieser  Erklärung  würde 
sich  jedocli  ein  Köirper  nicht  bewegen,  der,  ohne  seinen  Ort  zu  ver- 
ändern, sich  wie  die  Erde,  blols  um  eine  feste  Achse  dreht.  Man 
wird  daher  nach  einer  allgemeineren  Bestimmung  suchen  müssen, 
wobei  zu   beachten  ist,    dafs    es    nicht    auf  die  Bewegung    i  n    einem 


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B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


Diii^c  (wie  etwa  auf  die  Bewegunfr  des  l>irres  im  Fasse),  sondern  auf 
die  Bowe^unf,^  des  Dinges  selbst  ankomnit:  „Das  Din^^,  was  man  be- 
wegt nennt,  mufs  soferne  als  Einlieit  bctraebtet  werden"  QWJ).  So  sagt 
denn  Kant:  „Bewegung  eines  Dinges  ist  die  Veränderung  der 
äufseren  Verliii  It  n  i  ss(;  desselben  zu  einem  gegebenen  Kaum"  (871). 
In  jeder  Bewegung  sind  R  i  e  b  t  u  n  g  und  G  e  s  c  b  w  i  n  d  i  g  k  e  i  t 
zu  unterscbeiden.  Kant  setzt  die  gewr)lndicbe  Detinition  beider 
voraus.  Die  (iescbwindigkeit  ist  der  Weg,  den  (be  Bx-wegung  in 
der  Zeiteinheit   besebreibt,    eine    Bestimmung,    die   ihren    Ausdruck 

findet  in  der    Formel   C^  =    '    ,   d.   b.   dir  Geschwindigkeit  wächst  ni 

geradem  Verhältnis  des  durcblautcn(ai  Raumes  und  im  umgekehrten 
Verhältnis  der  angewandten  Zeit  (874).  Die  Richtung  ist  der 
kürzeste    Wea    von    einem    gegebenen    Ort    zu    einem    andern.      Es 


handelt  sich  hier  jedoch  nur  um  die  gerade,  nicht  um  die  Kreis- 
bewegung. Genau  genommen,  ist  es  dabtM*  falsch,  von  eiiumi 
Planeten  zu  sagen,  er  bewege  sieh  immer  in  derselben  Richtung 
von  JMorgen  ii:e'^eu  Abend.  „Kin  im  Kreise  bew^egter  Körper  ver- 
ändert seine  Bichtung  kontinuierlich  so.  dafs  er  bis  zu  seiner  Eiick- 
kehr  zum  Punkte,  von  dem  er  ausging,  alle  in  einer  Fläche  nur 
möglielien    Kichtungen  eingeschlagen   ist"    (/)78). 

Viel  schwieriger  scbeint  es.  die  Seite  zu  bestimmen,  wohin  die 
Bew^egung  gerichtet  ist.  Wodurch  unterscheidet  si<h  iiberhau])t 
eine  Bichtung  von  der  andern?  Diese  Frage  „bat  mit  der  eine 
Verwandtschaft:  worauf  l)eruht  der  innere  Unterscliied  der  SchiHH'ken, 
die  sonst  ähnlich  und  sogar  gleich,  aber  davon  eine  Spezies  rechts, 
die  andere  links  gewunden  ist:  oder  des  Windens  der  Sclnvert- 
bohnen  und  des  Hoplens.  d(^ren  die  ersten^i  wie  ein  l*fropl'enzieher 
odei",  wie  die  Seeleute  es  ausdriickiai  wiinb^n.  wider  die  Sonne, 
der  andere  mit  der  Sonne  um  ihre  Stange  laufen?  ein  Begritf,  der 
sich  zwar  konstruieren,  aber,  als  Begriff,  für  sich  durcb  allgemeine 
Merkmale  und  in  der  diskursiven  Erkenntnisart  gar  nicht  deutlich 
machen  lälst  und  d(a-  in  den  Dingen  selbst  (z.  B.  an  den  seltenen 
Menschen,  bei  denen  dii^  [jeicheneröifnung  alle  Teile  nach  der 
physiologischen  Kegel  mit  anderen  Menseben  einstimmig,  nur  alle 
Eingeweide  links  oder  rechts  wider  die  ge\v(>liidiclie  Ordnung  ver- 
setzt fand),  keinen  erdenklichen  LInters(dii(^d  in  den  inneren  Folgen 
geben  kann  und  dennoch  ein  wahrhafter  matbematischei-,  und  zwar 
innerer  Fnterschied  ist,  womit  der  von  dem  l.Interscbicde  zweier 
sonst  in  allen  Stücken  gleichen,  der  Kichtuug  nach  aber  verschie- 
denen Kreisbewegungen,  obgleich  nicht  völlig  einerlei,  dennoch  aber 
zusammenhängend  ist*'   (873). 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


271 


Kant  spielt  hiermit  auf  das  bekannte  ,.Paradoxon  ähnlicher  und 
gleicher,  aber  doch  inkongruenter  Dinge"  an.  worauf  ihn   bereits  im 
Jahre  17()8  seine  Untersuchung  über  den  Unterschied  der  Gegenden  im 
Kaume  geführt  hatte.  Damals  hatte  er  in  ihm  einen  „evidenten  Beweis" 
dafür  erblickt,  da  fs  d  e  r  a  b  s  o  l  u  t  e  R  a  u  m  u  n  a  b  h  ä  n  g  i  g  von  dem 
Dasein  der  Materie  und  selbst  als  der  erste  Grund  der  ]\f(">glichkeit  ihrer 
Zusammensetzung  eine  eigene  Realität  besitze.      Fünfzehn  dalire 
s])äter  jedoch  hatte  er  in  seinen  Prolegomenen  die  gerade  entgegen- 
gesetzte Auflösung  des  Problems  gegeben :    „Diese  Gegenstände  sind 
nicht  etwa  Vorstellungen  der  Dinge,  wie  sie  an  sich  selbst  sind,  und  wie 
sie  der  i)ure  Verstand    erkennen    würde,    sondern   es  sind  sinnliche 
Anschauungen,   d.  i.    Erscheinungen,  deren  Möglichkeit  auf  dem 
Verhältnisse   gewisser  an  sich  unbekannten  Dinge  zu  etwas  Anderem, 
nändich  unserer  Sinnlichkeit  beruht.      Von   dieser  ist  der  Kaum  die 
Form  der  äufseren  Anschauung,   und   die   innere  Bestimmung    eines 
jeden  Raumes  ist  nur  durch  die  Bestimmung  des  äufseren  Verhält- 
nisses zu  dem  ganzen   Räume,    davon   jener   ein  Teil   ist   (dem   \vv- 
hältnisse   zum   äufseren   Sinne),   d.   i.   der  Teil  ist   nur  durchs   Ganze 
möglich,    welches  bei    Dingen   an    sich  selbst,  als  Gegenständen  des 
blofsen  Verstandes,    niemals,    wohl  aber   bei    blofsen   Erscheinuniren 
stattfindet.      Wii-  können   daher  auch  den  Unterschied  ähidicher  und 
gleicher,  aber  doch  inkongruenter  Dinge  (z.  B.  widersinnig  gewundener 
Schnecken)  durch  keinen  einzigen  Begriff  verständlich  nuichen,  sondern 
nur  durch   das  Verhältnis    zur   recbten    und    linken    Hand,    welches 
unmittelbar    auf  Anscbauungen    gebt''    (IV.   H-)).     Diese  Stelle    hat 
Kant  im   Auge,   wenn  er  in  seinen  meta])hysiFchen   Anfangsgründen 
bemerkt:    „Ich   habe  anderwärts  gezeigt,   dafs.   da   sich  dieser  Unter- 
schied zwar  in  der  Anschauung  geben,   aber  gar  nicht  auf  deutliche 
Begriffe    bringen,     mithin    nicht    verständlich    erklären    (dari,    non 
intelligi)    läfst,     er    einen    guten    bestätigenden    Beweisgrund  zu   (hau 
Satze     abgebe:     dafs     der     Raum     überhaupt     nicht     zu     den 
Eigenschaften  oder   V^  er  h  ä  1  tu  issen  der  Dinge  an  sich 
seil)  st,   die   sich  notwendig  auf  objektive  Begriffe   mufften   bringen 
lassen,  sondern  blofs  zu  der  subjektven    Form  unserer  sinn- 
lichen   Anschauung    von    Dingen    oder    Verhältnissen,    die   uns 
nach    dem,    was    sie   an    sich  sein   mögen,     völlig  unhckaiint  bleiben, 
gehöre"  (IV.  /^7H  f.).      Wir  liMben  keine  Veranlassung,   hierauf  näher 
einzugehen  und  zu   untia-suchen,   was   von   einem  Argument  zu  halten 
sei,    mit    dem    man    das    Eine  so  gut,    wie  sein  Gegenteil  beweisen 
kann.   )      Kant  selbst  bemerkt    mit  Rücksicht   auf  jenes  Problem   in 

*)    \  ailiiii<r(>r:    ('oniinentai'  II    ohS  IV.    v.    Xirchmaiin:    Erläuterungen 
/u  den   Prolegomenen   '.'>[. 


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11    * 


079 


B.    Kant  als   Naturphilosoph. 


|4 


seinen  x\nfan,i^sfi^rün(len:  ,.T)och  dies  ist  eine  Abschweifun,!,^  von 
unserem  jetzigen  Geschilfte,  in  welchem  wir  den  Jvaum  ganz  not- 
wendig als  Eigenschaft  der  Dinge,  die  wir  in  Betracht  ziehen, 
nämhcli  körperlicher  Wesen  behandtdn  müssen,  weil  diese  selbst 
nur  Erscheinungen  iiufserer  Sinne  sind  und  nur  als  solche  hier 
erklärt  zu  werden  bedürfen"  (!)74).  Die  PhoroiKunie  überliifst  die 
Untersuchung,  ob  der  Kaum  real  im  Sinne  von  Newton  und 
Clarke,  oder  ob  er  blol's  ideal  sei,  der  Erkenntnistheorie;  sie  liat 
es  nur  mit  der  Bewegung  als  solchen  zu  thun,  und  da  mag  sie 
immerhin  den  Kaum  für  mehr  als  für  eine  hlofs  suhjektive  An- 
schauungsform l)etrachten,  wofern  sie  nur  sich  gegenwärtig  hält, 
dafs  die  nähere  Bestimmung  der  Seite,  wohin  die  Bewegung  gerichtet 
ist.   sich  in    Begriffen   nicht  gehen   läfst. 

An  die  Auseinandersetzung  der  Bewegung  schliefst  sich  n:itur- 
gemäfs  die  Bestimmung  desjenigen  an,  was  wir  unter  Kühe  zu 
verstehen  haben.  Ivant  verwirl't  auch  hier  <lie  gewohnliche  Er- 
klärung, wonach  die  i^uhe  Mangel  der  Bewegung  sein  s(dl,  niul 
zwar,  weil  dieser,  als  =  0,  sich  gar  nicht  konstruieren  lasse  ('VIl)). 
Der  wahre  Fehler  dieser  Deünition  liegt  aber  (hirin.  dafs  die  Kühe 
ebensowenig,  wie  die  Bewegung,  ohne  eine  Zeit  g  r(W*s  e  denkbar  ist. 
Um  von  einem  Kcuper  sagen  zu  kinmen.  ob  er  ruhe  oder  sich  be- 
wege, dazu  sind  mimlestens  zwei  Momente  erforderlich  :  denn  l)e- 
w^egnng  ist  Veränderung.  Veränderung  aber  ist  nur  als  zeitliche 
real;  wo  Bewegung  unmr)glich  ist,  kann  auch  von  Kühe  nicht  ge- 
sprochen werden.  Daher  ist  es  eino  sinidose  Frage,  an  deren  Be- 
antwortung Kant  umsonst  so  viel  Mühe  verschw(^ndet,  ob  ein  Kru|)er 
an  irgend  einem  Punkte  seiner  Bewegung  in  l^uhe  oder  in  Bewegung 
sei.  Hebt  man  einen  einzelnen  Moment  abstrakt  lnn'aus,  so  kann 
man  höchstens  sagen,  dals  in  ihm  der  K^h-per  weder  ruht,  noch 
sich  bewegt.  Dies  ist  der  Grund,  warum  es  heifsen  mufs:  ,,Kuhe 
ist  die  beharrliche  Gegenw^al•t  an  demselben  Orte;  beharrlicli  aber 
ist  das,  was  eine  Zeit  hindurch  existiert,  d.  i.  dauei't"  (^74).  Oa 
nun  in  jeder  noch  so  grofs  anzugebenden  Zeit  der  Iviirper  gh^eh- 
iormig  doch  nur  einiMi  Kaum,  der  kleiner  ist  als  jeder  anzugebende 
Kaum,  zurücklegen,  mithin  seinen  Ort  ,.1'f.r  irgend  eine  mögliche 
Erfahrung-'  in  alle  Ewigkeit  gar  nicht  verändern  kann,  da  somit 
dauernde  (4egenwart  an  demselben  Orte  oder  Kühe  und  unendlich 
kleine  Bewegung  gleichbedeutend  siml,  so  hat  jener  Begrilf  der 
Kühe  überdies  auch  noch  den  Vorteil,  dafs  er  „auch  durch  die 
Vorstellung  einer  Bewegung  mit  unendlich  kleiner  Geschwindigkeit 
eine  endliche  Zeit  hindurch  konstruiert,  mithin  zu  nachheriger  An- 
wendung der  Mathenuitik  auf  Naturwissenschaft  beinitzt  werden 
kann"   (iilO). 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


273 


Was  schliefslich  den  Kaum  betrifft,  in  welchem  die  Bewegung 
vor    sich    geht,    so    haben    wir    ihn    in    der    Vernunftkritik    kennen 
gelernt  als  die  a})riorische  Form  aller  äufseren  sinnlichen  Anschauung? 
wohinein    die    a   posteriori    gegebene  Materie  der  Anschauung  oder 
die   Em])tin(Iungen    in    das    Verhältnis    des  Nebeneinander   geordnet 
werden.     Mit  ihr  hat  jedoch   die  Phoronomie  nichts  zu  thun;  denn 
die   Form    der  Anschauung    oder    die    reine  Anschauung  kaim  eben 
als  solche  von  uns  nicht  wahrgenommen  werden.      Die  Bewegung,  als 
Objekt  der  Phoronomie,   ist  schon    ein  Inhalt  der  Erscheinungswelt, 
ist    schon  empirisch,    daher  auch    nur    in   einem  Kaume  darstellbar, 
welcher  selbst  Objekt  der  Erfahrung  ist.     „In  aller  Erfahrung  mufs 
etwas  empfunden  werden,   und   das  ist  das  Keale  der  sinnlichen   An- 
schauung ;     folglich    mufs    auch    der    Kaum,    in    welchem    wir  über 
die  Bewegungen   Erfahrung  anstellen    sollen,    empfindbar,    d.    i. 
durch  das.  was  empfunden  werden  kann.   })ezeichnet  sein,  und  dieser, 
als  der  Inbegriff   aller  Gegenstände  der  Erfahrung    und    selbst    ein 
Objekt  derselben,  heilst  der  empirische  Kaum*'  (.Md).     „Damit  Be- 
wegung auch  nur  als  Ersc^heinung  gegebt^n  werden   kömie.  dazu  wird 
eine  empirische   Vorstellung    des  Kaums.    in   Ansehung    dessen    das 
Bewegliche    sein  Verhältnis    verändern    soll,    erfordert;    d(M-    Raum 
aber,   der  wahrgenommen  werden  soll,   mufs  material.  mithin  dem 
Begriffe    einer    Materie  zufolge    selbst    beweglich  seiir'    (40.^). 
„Ein    beweglicher   Kaum    aber,    wenn    seine   Bewegung    soll    wahr- 
genommen werden  können,  setzt  wiederum  einen  anderen  erweiterten 
materiellen  Kaum  voraus,   in  welchem  er  beweglich  ist,  dieser  ebenso 
wohl  einen  anderen   und  so  fort  ins  Unendliche''   (370).    Bewegung, 
als  Gegenstand  der  Erfahrung,    ist  also  nur    denkbar  in   Beziehung 
auf  einen  materiellen  Kaum.     Durch  Ei'fahrung  gelangen  wir  jedoch 
niemals  zu  einem  unbi'Wt^glichen  (umnateriellen)  Kaum,   in    Ansehung 
dessen  irgend  einer  3Iaterie  schlechthin  Bewegung  oder  Kühe  beige- 
legt werden  könnte,  „sondern  der  Begriff  dieser  Verhältnisbestimmungen 
wird  beständig  abgeändert  werden  müssen,   nachdem  man  das  Beweg- 
liche  mit  einem   oder  dem   anderen   dieser   iiäume   in    \'erhältnis   be- 
trachten   wird-'    (4r)5j.     Mit    andern  Worten:    alle   Bewegung,    als 
Gegenstand  der  Erl'ahrung,   und  ebenso  alle  Kühe  ist   blofs  relativ. 
„Der  Kaum,    in  dem    sie  wahrgenommen   wird,    ist    ein  relativer 
Kaum,    der    selbst    wiederum,     und    vielleicht    in    entgegengesetzter 
Kichtung  in  einem  erweiterten  Kaume  sich  bewegt,  mithin  auch  die 
in  Beziehung  auf  den  ersten  bewegte  Materie  in  Verhältnis  auf  den 
zweiten  Kaum  ruhig  genannt  werden  kann,  und  diese  Abänderungen 
des  Begriffs  der  Bewegung  gehen  mit  der  Veränderung  des  relativen 
Kaumes  so  ins  Unendliche  fort*'   (.'üO).      rVon  der  Bewegung  eines 

1)  r  e  w  s  ,  Eantä  Naturphilosophie.  lö 


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274 


B.    Kant  als  Naturphilosopli. 


K5rj)ers  eine  Erfalji'iiiig  zu  maclieii.  dazu  Avird  erfordert,  dafs  nicht 
allein  der  Kör])er,  sondern  auch  der  Kaum.  d:irin  er  sich  bewegt, 
Gegenstände  der  äulsern  P]r(ahrung.  mithin  materiell  seien.  Eine 
absolute  Bewegung  also.  d.  i.  in  Beziehung  auf  einen  nicht  materiellen 
Eauni,  ist  gar  keiner  Erfahrung  liihig  und  für  uns  also  nichts  (wenn 
nnin  gleich  einräumen  wollte,  dei*  absolute  Raum  sei  an  sich  etwas)" 
(Ml),  r^^n'  sind  gar  nicht  imstande,  in  irgend  einer  Erfahrung 
einen  festen  l^unkt  anzugeben,  in  Beziehung  auf  welchen,  was  J^e- 
wegung  und  Kühe  absolut  heifsen  sollte»,  bestimmt  wiii'de:  dcini 
alles,  was  uns  auf  die  Art  gegeben  wird,  ist  materiell,  also  auch 
beweglich,  und  (d:i  wir  im  llaum  keine  äulserste  (grenze  miiglicher 
Erfahrung  kennen)  vielleicht  auch  wirklich  bewegt,  ohne  dal's  wir 
diese  Bewegung  woran  wahrnehmen   können''   (ol'^). 

Es  giebt  also  im  relativen  Kaume  keinen  für  alle  p]rscheinungen 
gültigen  I]egriff  von  Bewegung  und  Buhe.  Daraus  folgt,  dafs  ,.man 
sich  einen  Baum,  in  welchem  dieser  selbst  als  bewegt  gedacht  werden 
könne,  der  aber  seiner  Bestimmung  nach  von  keinem  anderen 
eni])irischen  Baume  abhängt  und  daher  nicht  wiederum  bedingt  ist. 
d.i.  einen  absoluten  1{  a  u  m ,  auf  den  alle  relativen  Jjewegungen 
bezogen  werden  können,  denken  müsse,  in  welchem  alles  Empirische 
bewn'glich  ist,  eben  darum,  damit  in  demselben  all«'  Bewegung  des 
Materiidlen,  als  blofs  relativ  gegeneinander,  als  alternativ-wechsel- 
seitig, keine  aber  [ils  absolute  Bewegung  oder  Buhe  (da.  indem  das 
Eine  bewegt  heilst,  das  Andere,  woi'auf  in  Beziehung  jenes  bew(^gt 
ist,  gleichwohl  als  schlechthin  ruhig  vorgestellt  wird)  gelten  möge. 
Der  absolute  Baum  ist  also  nicht  als  ein  Begriff  von  einem  wirk- 
lichen Objekt,  sondern  als  Idee,  welche  zur  Begel  dienen  soll. 
all(!  Bewegung  in  ihm  blofs  als  relativ  zu  betrachten,  notwendig, 
und  alle  Bewegung  und  Buhe  mufs  auf  den  ai)Soluten  Baum  reduziert 
werden,  wenn  die  Erscheinung  derselben  in  einem  bestimmten  Kr- 
fahrungsbegriff  (der  alle  Erscheinungen  vereinigt),  verwandelt  werden 
soll"   (45")  f.). 

Es  mag  dahingestellt  sein,  ol)  es  ntitig  war,  um  die  Bela- 
tivität  der  Bewegung  verständlich  zu  machen,  den  wunderlichen 
Begriff  des  beweglichen  Baumes  einzuführen,  anstatt  jene  einfach 
aus  der  Gleichheit  aller  Orte  in  einem  und  demselben  festen  Baume 
abzuleiten.  Wir  kiinnen  ja  den  Ort  eines  Kih-pers  nicht  bestimmen, 
ohne  uns  hierbei  auf  andere  Orte  zu  beziehen,  und  folglich  müssen 
auch  in  der  Bewegung,  als  Veränderung  des  Oi'tes.  jene  Beziehungen 
wiederum  zu  Tage  treten,  (geradezu  verhängnisvoll  ersch(dnt  es 
aber,  wenn  Kant,  um  die  Bewegung  a  priori  darzustellen,  von  einem 
empirischen  Baume  spricht.    Dieser  Begriff  wird  deshalb  eingeführt, 


11.  Die  kritische   Naturjihilosopliie. 


2iD 


* 


weil  die  Bewegung  ein  empirischer  Begriff  ist.  Allein  wenn  dies  der 
Fall  ist,  und  wenn  Bewegung  nur  mr)glich  ist  in  Baum  und  Zeit, 
giebt  es  dann  übeidiau])t  noch  einen  apriorischen  Baum  und  eine 
aj)riorische  Zeit  ?  oder  wie  sollen  wir  es  uns  erklären,  dafs  aus  der 
Vereinigung  dieser  beiden  Stücke  a  priori,  und  das  ist  ja  eben,  wie 
wir  bereits  früher  gesehen  haben,  die  Bewegung,  etwas  Empirisches 
entstehen  kami?  Gewii's  ist  eine  wirkliche  j>ewegung  nicht  denkbar 
ohne  ein  Etwas,  das  sich  bewegt,  und  insofern  setzt  Bewegung  etwas 
Eni])irisches  voraus,  d.  h.  wir  lernen  die  Bewegung  nur  aus  der 
Wahrncdimung  von  etwas  Beweglichem  kennen.  Allein  wenn  Kant 
Beeilt  hat.  Baum  und  Zeit  kcinnten  vor  allei-  Ei-fahruni;-  \nu  uns 
erkannt  werden,  wie  kommt  es.  dafs  die  Synthese  der  beiden  sich 
einei*  sohdien  Erkenntnis  a  priori  entziidit.  und  warum  i)Oidit  er  so 
sehi'  darauf,  die  Bewegung  k()nne  blofs  ein  enij)irischer  Begriff 
sein?  Hier  scheint  ihn  seine  nur  in  gewissem  Sinne  apriorische 
^saturj)hilosophie.  in  wehdie  dei*  Begriff  (h^r  Bewegung  notwendig 
hineingehörte,  odei'  die  angewandte  Erkenntnistheorie  in  einen  argen 
Widerspruch  zu  seiner  rein  ai)riorischen  i\Ietaphysik  oder  dvr  reinen 
Hrkf^nntnistheorie  verwickelt  zu  haben.  Denn  jene  verlangte,  dafs 
die  Bewegung  ein  empirisidiei'  Begriif.  diese,  dafs  sie  aprioriscdi  sei ; 
hier  galten  Jiaum  und  Zeit  für  apriorische  Bestandteile  unseres 
l^jkenntnisvei-mögens.  dort  verlangte  die  Konsequenz,  daf^  sie,  ganz 
ebenso  wie  die  Bewegung,  nur  aus*  der  Erfahrung  zu  entiudimen 
seien. 

Weit  offener  tritt  derselbe  W^iderspruch  in  der  Art  und  Weise 
zu  Tage,  wie  Kant  den  Raum  auffafst.  Tn  der  Vernunftkritik 
hatte  er  gesagt:  ,. Dei-  Baum  vor-  allen  Dingen,  die  ihn  bestimmen 
(erfüllen  oder  begrenzen),  oder  die  vicdmehr  eine  seiner  Form  g«unäfse 
empirische  Anschauung  geben,  ist  unter  dem  N  a  m  (mi  des  ai)so- 
1  u  t  (Ml  Baumes  nichts  Anderes  als  die  blolse  M  (ig  1  i  c  h  kei  t 
äufserer  Erscheinungen,  sofern  sie  entweder  an  sich  existieren  (»der 
zugegebenen  no(di  hinzukommen  können"  (111.  .'Jl^i).  Dei-  absolute 
Raum  ist  also  die  t  r  a  n  s  c  e  n  d  e  n  t  a  1  e  K  o  r  m  d  e  r  S  i  n  n  1  i  c  h  k  e  i  t 
selbst,  und  zwar  nicht  blofs  als  „F(U-m  der  Anschauung*',  d.  h.  als 
unbewufste  poteiiti(dle  Anlage,  die  vor  aller  Erfahrung  in  uns  g(degt 
ist,  sondern  s(di(ui  als  ,.l()rmale  Anstdiauung"'  oder  als  ,.r(.:ine  An- 
schauung" (III.  \:V2)  in  der  Gestalt,  wie  sie  a  ])riori  von  uns  erfafst 
o(k'r  ins  Bewui'stsein  erhoben  wird,  und  von  v.elchei'  daher  Kant 
au(di  behau})tet  hatte,  dafs  sie  ,.als  unendlich  gegeben"  sei.  In 
den  Aniangsgi'ünden  ist  der  Baum  nicht  die  Form  der  Sinnlichkeit, 
sondern  er  ist  ein  ..notwendiger  V  er  n  u  n  ft  begriif.  mithin  nicdits 
weiter    als  eine    blofse  Idee"   {W.  40;')).     Bi  der  Vernunitkritik 


I'. 


II 


ll^'  • 


27G 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


war  fler  reine  ahsolutc  Kaum  als  solcher  etwas  Wirkliches,  und 
(lieser  war  schon  vor  aller  Krt'ahrun.i;-  da.  um  ehen  auch  so 
von  uns  erkannt  zu  werden.  Tu  den  Anfanprs^riinden  .i^^elten  als 
wirklich  nur  die  empirischen,  relativen  Käume.  und  der  reine  ahso- 
lute  Kaum  ist  hlofs  eine  Ahstraktion  aus  den  viiden  relativen  Käumen, 
mithin  ein  durch  und  durch  aposteriorischer  Begriff.  ,.Einen 
ahsoluten  Kaum",  heifst  es  hier,  „d.  i.  einen  solchen,  der.  weil  er 
nicht  nuiteriell  ist,  auch  kein  Gegenstand  der  Erfahrung  sein  kann, 
als  für  sich  ge  gehen  annehmen,  heifst  etwas,  das  weder  an  sich, 
noch  in  seinen  Folgen  fder  Bewegung  im  al »sohlten  Kaum)  wahr- 
genommen werden  kann,  um  der  M()glichkeit  (U-r  Erfahrung  wdlen 
annehmen,  die  doch  jederzeit  ohne  ihn  angestellt  werden  mufs.  Der 
ahsolute  Kaum  ist  an  sich  nichts  und  gar  kein  ()l)jekt. 
sondern  hedeutet  nur  einen  jeden  anderri  relativen  Kaum,  den  ich 
mir  aufser  dem  gcgehcnen  jederzeit  denken  kann,  und  den  icli  nur 
über  jeden  gegel)enen  ins  Unendliclie  hinausi-iicke  als  enien  solchen, 
der  diesen  einschliefst,  und  in  welchem  ich  den  ersteren  als  bewegt, 
annehmen  kann.  Weil  ich  (h^n  erweiterten,  obgleich  immer  noch 
materiellen  Kaum  nur  in  Gedanken  liabe  und  mir  vim  der 
Materie,  die  ihn  bezeichnet,  nichts  bekannt  ist,  so  abstrahiere  ich 
von  dieser,  und  er  wird  (hiher  wie  ein  reiner,  nicht  empirisclier  und 
absoluter  Kaum  vorgestellt,  mit  dem  ich  jeden  empirischen  ver- 
gleichen und  diesen  in  ihm  als  beweglich  vorstellen  kann,  der  also 
jederzeit  als  unbeweglich  gilt.  Ihn  zum  wirklichen  Binge  machen, 
heifst  die  logische  Allgemeinheit  irgend  eines  Haumes.  mit 
dem  ich  jeden  empirischen  als  darin  eingeschlossen  vergleichen  kann, 
in  eine  physische  Allgemeinheit  des  wirklichen  Umfaiiges 
verwechseln  und  die  Vernunft  in  ihrer  Idee  mifsverstehen"  (.ITili.). 
Dieser  Widerspruch  ist  nicht  dadurch  aus  der  Wtdt  zu  schallen, 
dal's  man  mit  Stadler  auch  den  als  unendlich  gegebenen  Kaiiui 
in  der  transcendentalen  Ästhetik  als  Idee  auffafst.^'^)  Denn  die 
reine  Anschauung  ist  die  notwendige  Voraussetzung,  woiauf  die 
Apriorität  und  damit  die  Apodiktizitat  der  reinen  Mathematik 
beruht;  behaui)ten,  dafs  auch  sie  nur  in  Gedanken  existiere  und 
nur  als  Idee  unendlich  sei,  heifst  daher  dem  kantischen  Lehrgebäude 
das  Eundament  abgraben,  ohne  welches  dessen  inneres  Gerüst 
zusammenfällt.  Wenn  die  reine  iMathematik  \ (erlangt,  dafs  der  reine 
absolute  Kaum  als  solcher  wirklich  sei,  wenn  es  für  die  allgemeine 
Naturwissenschaft  „unvermeidlich''  ist,  diesen  „sonderbaren  I^egrit!'" 
(Abb)    so    aufzufassen,    als    ob    er    nur    durch    die    unendliche  Mi)g- 


II.  Die  kritische  Natnriihilosophie. 


277 


lichkeit  des  P^ortschritts  in  Gedanken  bedingt  sei,  dann  giebt  es  eben 
keine  solche  Naturwissenschaft,  oder  es  läfst  sich  nichts  Verkehrteres 
denken ,    als    diese    mit  der    ihr    absolut    heterogenen    Mathematik 
zusammenk()])peln   zu  wollen.     Von  zwei  sich  widersprechenden  Vor- 
stellungen kann  nur  eine  richtig  sein.     Wenn   daher  der  Begriif  des 
als    unendlicli    gegebenen  Kaumes    schon  in    sich  einen  Wider- 
spruch   enthält,    so    werden    wir    nicht    anstehen,    dem  Kaunie    des 
Physikers  vor  demjenigen   des  ]\Iathematikers   den  Vorzug  zu   geben, 
um    so    mehr    als    die    psychologische    Entstehung   jenes    physischen 
Kaumes  uns  ganz  wohl  verständlich    ist  und   in  der  Erfahrung  sich 
konstatieren  läfst,    die  Annahme  des  absoluten   Kaumes.    als    reiner 
Anschauung,  dagegen  blofs  eine  durch  nichts  bewiesene  Voraussetzung 
zur   Erklärung    des    synthetisch-apriorischen  Charakters    der  Mathe- 
matik ist.     Zugegeben,  die  Mathematik  enthalte  wirklich  synthetische 
Brteile  a  ])riori  und  verdanke  diese  Eigentümlichkeit  (h^r  apriorischen 
Kuidvtioii    des  Kaumes  in    uns.    so  mufs    doch    mit  Entschiedenheit 
bestritten  werden.  (Lifs  diese  apriorische  Funktion  zugleich  auch  von 
uns  a  iiriori    erkannt  werde    und    die  liaumanschauung  in  unserem 
Bewufstsein    identisch    sei  mit  jener  apriorischen   Anschauungsform. 
A  dickes   hemerkt   mit  Kecht:    „Auch   hier  zeigt   Kant  sich   wieder 
als  echter  K;itionalist,    indem    er    nicht    nur  eine    aj)riorische   Form 
der  Anschauung  annimmt,   sondern  auch  eine  apriorische  Erkenntnis 
dieser    aiiriorischen  Form,    die    reine  Anschauung.-'*)     Kant  strebt 
nach     apodiktischer    Gewifsheit    der    Erkenntnis;     daher    darf    ein 
so  wichtiges    F^rklärungsprinzi])  dieser  aj)odiktisclien  (lewifsheit.   wie 
der  Kaum,   nicht  aus  der  Erfahrung  blofs  erschlossen,   sondern  mufs 
mit  dem  unmittelbaren  Inhalt  (hs  Bewufstseins  seihst  identisch  sein. 
Nur  aus  diesem  Grunde  stellt  er  es  so  dar,  als  ob  die  Kaumanschauung 
in   unserem    Bewufstsein  als  solche  zugleich   die   B"dingung  des  syn- 
thetisch-apriorischen   (yhnrakters    der  Mathematik,    die  formale  An- 
schauuii"-    zugleich  Form    der  Anschauung  und    folglich    aiicii    diese 
schon    reine   Anschauung    sei.     Nur  darum,    schliefst    er,    weil    der 
Kaum  unendlich  erscheint,  so  sei  auch  die  Bedingung  desselben  als 
unendlich  gegeben  oder    die  reine  Anschauung  seihst    der  ahsolute 
Kaum.     Er  b(\-ichtet  nicht,  dafs  die  Bedingung  der  Anschauung 
nicht  auch  zugleich  Gegenstand  der  Anschauung  sein,  das  Auge 
zwar  alles  Andere   gt^wahren,   aber  sich  selbst  nicht  sehen   kann.     Er 
strebt  danach,  allen  Hypothesen  aus  dem  Wege  zu  gehen  und  üher- 
sieht.  wie  diese  ganze  Annahme  einer  apriorischen  Erkenntnis  auch 
blofs  eine  Hypothese  ist. 


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')  Stadler:  a.  a.  O.  JG. 


*)  Adickes:  Im.  Kants  Kritik  d.  i".  \'t'rn.  mit  Einleitung  u.  Anmerkungen 
lirsg.     6JS. 


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278 


B.    Kant  als  Natiuphilosopli. 


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Diese  jji'iuzipielle  Verweehselim«^  der  iinhewursten  potentiellen 
Form  der  Anschaiumg  mit  der  hcwnTsten  aktuellen  Ansehauung 
selbst,  worauf  di<'  transcendentale  Ästhetik  beruht,  ist  das  Seiten- 
stück zu  jener  früher  l)esproeh('nen  Verweehseluni,^  der  Kate^^orieen, 
als  unbewufster  Funktionen,  mit  der  bewul'sten  kategorialen  Form, 
wie  sie  den  Kern  der  transcendentalen  Analystik  bildet.  Beide  Ver- 
wechselungen ents])rin^^en  dem  l\ationalismus  und  lassen  es  mehr  als 
fraglich  erscheinen,  ob  das  Str(d)en  Kants  iil)erhau])t  berechtigt  ist. 
die  Naturwissenschaft  in  d(^n  Kang  einer  a)M)diktischen  Krkenntnis 
zu  erheben.  JechMifalls  ist  der  unendliche  liaum  des  Mathematikers 
nicht  die  transcendentale  Anschauungsform  des  ]\aumes  sell)st  und 
folglich  auch  nicht  a  priori  gegeben ;  er  ist  nur  ein  ai)osteriorisches 
Produkt  der  Abstraktion,  «^ne  p]rweiterung  aus  den  vielen  relativen 
Käumcn  der  Erfahrung  und  also  mit  dem  absoluten  Kaum  des  Physikers 
identisch.  Die  api'iorische  transcendentale  Anschauungsform  des 
Paumes  aber  ist  als  solche  nicht  unendlich.  Mit  dieser  Einsicht 
tiillt  zwar  nicht  der  apriorisch-synthetische  Charakter  der  Mathematik, 
wohl  aber  der  rationalistische  Anspruch  hinweg,  als  ob  die  Erkenntnis 
der  Aprioritfit  des  mathematischen  Urteils  zugleich  unmittelbar  auch 
Inhalt  des  Bewufstseins  sei  und  nicht  vielmehr  a  ])Mst('rioii  aus 
dem  Gefühle  der  Notwendigk«Mt  des  Urteils  blofs  erschlossen  werde.  — 

Alle  Bewegung,  als  (jle^enstand  der  Erfahrung,  ist  blofs  relativ. 
und  der  Kaum,  woi'in  sie  stattfindet,  ist  materiell ;  somit  kann  eben 
dieser  nuiterielle  Kaum  selbst  wiederum  als  ruhig  odi^-  als  bewegt 
vorgestellt  werden.  Ein  Kaum  z.  P..  m  Beziehung  w(»rauf  ich 
einen  Körper  als  bewegt  ansehe,  heifst  rulii:^.  wenn  aufser  ihm  kein 
mehr  erweiterter  und  ihn  einschliefsender  «^^'geben  ist,  z.  P>.  die 
Kajüte  eines  Schiffes,  in  welcher  ich  auf  einem  Tische  eine  Ku<i:el 
sich  bewegen  sehe.  Er  heifst  bewegt,  wenn  mir  aufser  ihm  noch  ein 
anderer  Kaum,  der  ihn  einschliefst,  gegeben  ist.  So  kann  ich  die 
Kajüte  in  Bezug  auf  das  Ufer  des  Flusses  als  bewegt,  die  Kugel 
aber  als  ruhig  ansehen,  wenn  sie  nändich  ebenso  viel  zurückrollt, 
als  das  Schilf  sich  vorwärts  bewegt.  Da  es  nun  unmöglich  ist, 
von  einem  emj)irisch  gegebenen  Kaume.  wie  erweitert  er  auch  sei, 
auszumachen,  ob  er  nicht  in  Ansehung  eines  in  einem  noch  gröfseren 
Umfange  ihn  einschliefsenden  Kaumes  selbst  wiederum  bewegt  sei 
oder  nicht,  oder  da  der  absolute  Kaum  für  alle  m()gliche  Erfahrung 
nichts  ist,  so  folgt  hieraus:  „H^ine  jede  Bewegung,  als  (jegenstand 
einer  m()glichen  Erfahrung,  kann  nach  Belieben  als  Bewegung  des 
Körpers  in  einem  ruhigen  Kaume  oder  als  Kühe  des  Kih'pers  und 
dagegen  Bewegung  des  Kaumes  in  entgegengesetzter  Kichtung  mit 
^deicher  Geschwindigkeit  angesehen  werden''   (in?  f.). 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


279 


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Auf  Grund  dieses  Satzes  w^ird  es  möglich,  die  Konstruktion 
einer  zusammengesetzten  Bewegung  zu  vollziehen.  Vergegenwärtigen 
wir  uns  noch  einmal  das  Problem  I  Wir  sollen  die  Möglichkeit  einer 
Zusammensetzung  von  Bewegungen,  wie  sie  in  der  Erfahrung  ge- 
geben ist,  aus  den  a])riorischen  Bedingungen  der  Anschauung  ab- 
leiten. Daraus  folgt,  dafs  die  Begriffe,  die  hierbei  in  Frage  kommen, 
nicht  selbst  die  F'rfahrunu'  schon  voraussetzen  dürfen.  ,.Zur  Kon- 
struktion  d(^r  Begriffe  wird  (»rfordert.  dafs  die  Bedingung  ihrer 
Darstellung  nicht  von  der  Erfahrnm,^  entlehnt  sei.  also  auch  nicht 
gewisse  Kräfte  voraussetze,  deren  Existenz  nur  von  der  Erfahrung 
abgeleit(^t  werden  kaim,  oder  überhau })t.  dafs  die  J>edingung  der 
Konstruktion  nicht  selbst  ein  Begriff  sein  müsse,  der  gar  nicht  a 
priori  in  der  Anschauung  gegehen  w(M'den  kann,  wie  z.  B.  der  von 
Ursache  und  Wirkung-,  Handlun«j^  und  Widerst:ind  u.  s.  w."  (:V]{)  f.). 
(3periert  man  mit  bewegenden  Kräften  und  stellt  die  Erzeugung 
einer  dritten  Bewegung  aus  zwei  bewegenden  Kräften  dar.  so  ist 
das  „zwar  die  mechanische  Ausfülirung  dessen,  was  ein  BegritT 
enthält,  aber  nicht  die  mathematische  Konstruktion  der- 
selben, die  nur  anschaulich  machen  soll,  was  das  Objekt  (als  (Quantum) 
sei,  nicht,  wie  es  durch  Natur  oder  Kunst  vermittelst  gewisser  Werk- 
zeuge und  Kräfte  h  e  r  v  o  r  g  e  b  r  acht  werd(Mi  kihme-'  (.'>sr)).  Die 
i^horonomie  hat  es  nicht  mit  einem  ..Naturgesetz  bewegender  Kräfte*' 
(384),  sondern  mit  den  Bedingungen  ihrer  Zusammensetzung  über- 
hauj)t  zu  thun.  sofern  sie  a  ])riori  in  der  reinen  Anschauung 
sich  darstellen  lassen.  Daher  schliefst  sie  auch  die  Veränderung. 
weil  diese  auf  der  Beziehung  von  Ursache  und  Wirkun^^  beruht, 
aus  ihrer  Betrachtung  aus  und  handelt  nur  ,.von  der  Mr»glichkeit 
der  geradlinigen  Bewegung  allein,  nicht  der  krummlinigen.  Denn 
weil  in  dieser  die  Bewegung  kontinuierlich  ^der  Kichtung  nach)  ver- 
ändert wird,  so  mufs  eine  Ursache  dieser  Veränderung,  welche  nun 
nicht  der   blofse  Raum    sein    kann,    herbeigezogen    werden-'    {:]><:^  f.). 

Was  wir  also  anschaulich  zeigen  sollen,  ist,  wie  zwei  gegebene 
Bewegungen  ,.in  einer  dritten  enthalten,  mithin  mit  dieser 
einerlei*'  sein  kömnen  Ci.S;^).  Die  völlige  Ähnlichkeit  und  Gleich- 
heit, sofern  sie  in  der  Anschauung  erkannt  wird,  ist  die  Kongruenz. 
Folglich  beruht  alle  geometrische  Konstruktion  der  völlit^en  Identität 
auf  Kongruenz,  und  die  Zusammensetzung  der  Bewegungen,  um  ihr 
Verhältnis  zu  andern  als  Gröfse  zu  bestimmen,  mufs  nach  den  Kegeln 
der  Kongruenz  gescliehen  (!mSo.  080). 

Wir  sprechen  nur  von  zwei  Bewa^gungen,  weil  die  Lehre  der 
Zusammensetzung  aller  Bewegungen  sich  auf  die  von  zweien  zurück- 
führen läfst.     „Um  die  Bewegung  zu  linden,  die  aus  der  Zusammen- 


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28U 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


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Setzung  von  mehren,  soviel  mau  will,  entspringt,  (Uirf  man  nur.  wie 
bei  aller  Gröfsenerzeugung,  zuerst  diejenige  suchen,  die  unter  ge- 
gebenen Bedingungen  aus  zweien  zusammengesetzt  ist;  darauf  diese 
mit  einer  dritten  verbunden  u.  s.  w."  (!i71i).  Zwei  Bewegungen  eines 
und  desselben  Punktes,  die  zugleich  an  ihm  angetrotien  werden, 
lassen  sieh  nun  auf  dreifache  Art  an  ihm  verbunden  denken,  wobei 
die  Geschwindigkeit  der  Bewegung  entweder  gleich  oder  un^deich 
sein  kann.  Entweder  nändich  verlaufen  sie  in  ebenderselben  Linie 
und  derselben  Richtung,  d.  h.  der  Winkel,  den  ihre  beiden 
Kichtungen  mit  einander  bihlen.  ist  gleidi  «).  Oder  sie  verlaufen 
in  dersell)en  Linie,  aber  in  en  tge  gengesetzt  er  Richtung,  d.  h. 
der  Winkel  ihrer  beiden  Richtungen  ist  gleich  2R.  Oder  endlich 
sie  verlaufen  in  verschiedenen  Linien,  d.  h.  ihre  Richtungen 
schliefsen  einen  l)eliebig(3n  anderen  W^iidvtd  ein  (.'^SO).  Dieser  letzte 
Fall  ist  es,  den  man  unter  der  l^enennung  der  zusannnengesetzten 
Bewegung  gewöhnlich  allein  zu  betracliten  l)hegt,  und  insofern  auch 
mit  Recht,  ,tls  er  die  beich-n  andern  als  Spezialfalh'  in  sich  enthält. 
Indessen  wird  dadurch  zwar  ..wohl  eben  nicht  der  Physik,  wohl 
aber  dem  Prinzi))  der  Einteilung  einer  reinen  phih)sophischen  W^issen- 
schaft  überhaui)t  einiger  Abbruch  gethan."  Man  kann  näinhch 
auf  diese  Weise  „nicht  wohl  die  Gröfsenlehre  der  Bewe^ning  nach  iiiren 
Teilen  a  i)riori  einsehen  lernen,  welches  in  mancher  Al)sicht  auch 
seirien  Nutzen  hat"  (i^Sli). 

Betrachten  wii-  den  ersten  Fall!  Die  Linien  AB  und  ab  m()gen 
die  (Tieschwindiiikeiten  bezeichnen,  d.  h.  die  J{äume.  weh'he  die 
beiden  Bevv(  i;ungen  in  u^leichen  Zeiten  (lu!chl;iufen.  Es  scheint  nun 
möglich  zu  sein,  sich  diese  beiden  Geschwindigkeiten  einfach  dadurch 
als  enthalten  in  einer  dritten  vorzustellen,  dafs  man  die  Räume  AJ> 
und  ab -^^  BC  mit  einander  zn  A(.'  addiert.  Indessen  die  Bewegung 
ab  soll  ja  in  derselben  Zeiteinheit  verlaufen,  wie  AB;  BO  aber 
verläuft  nicht  in  dieser  Zeit,  und  xAL  ist  nicht  al»:  also  stellt  auch 
die  doppelte  Linie  AC,  die  in  derselben  ZiMt  zurückgelegt  wird, 
wie  die  Linie  ab,  nicht  die  Geschwindigkeit  A  B -f- ab  dar,  und  die 
Zusammensetzung  zweier  Geschwindigkeiti'U  in  einer  Richtung  läfst 
sich  in  demselben  Räume  nicht  anschaulicli  darstellen.  Das  Gleiche 
gilt  auch  für  den  zweiten  Fall.  Hier  ist  schon  der  Gedank<'  un- 
möglicli,  zwei  entgegengesetzte  Bewegungen  in  einem  uml  demselben 
Räume  an  ebendemselben  Punkte  als  zugleich  anzusehen,  denn 
man  kann  sich  nicht  vorstellen.  (]afs  der  Punkt  ^deichzeitig  sich  an 
Orten  betindet,  welche  immer  weiter  auseinander  rücken;  ,.aber  die 
Vorstellung  der  Unmöglichkeit  dieser  beiden  Bewegungen  in  einem 
Körper  ist  nicht  der  Begriff  von  der  Ruhe   desselben,    sondern  der 


II.  Die  kritisehc  Naturphilosophie. 


281 


Unmöglichkeit  der  Konstruktion  dieser  Zusammensetzung  entgegen- 
gesetzter Bewegungen"  (rnSr)).  Was  schliefslicli  den  dritten  Fall 
betriiTt,  so  leuchtet  ohne  weiteres  ein.  dtd's  ein  Punkt  sich  nicht 
lijleiclizeitig  auf  den  beiden  Schenkeln  eines  AV'itdvels  bewegen  kann, 
es  sei  denn  in  Linien,  welche  diesen  parallel  laufen ;  dann  aber 
würde  man  annehmen  müssen,  dafs  eine  dieser  Bewegungen  in  der 
anderen  eine  Veränderunij:.  nämlicli  die  Abbringung  von  der  ge- 
gebenen Baim  bewirkte,  während  die  Richtungen  'oeiderseits  dieselben 
blieben,  was  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  mit  dem  Charakter  der 
Phoronomie  nicht  zu  vereinen  ist. 

Das  Resultat  ist  also,  dafs  es  unmöglich  ist.  die  Kiuigruenz 
mehrer  Bewegungen  in  einem  und  demselben  Raum  sicii  vorzustellen. 
,,Die  Teile  der  Geschwindigkeit  sind  nicht  aufserhalb  einander,  wie 
die  Teile  des  Raumes,  und  wenn  jene  :ds  Gröfse  betrachtet  werden 
soll,  so  mufs  der  Begriff  ihrer  Gröfse,  da  sie  intensiv  ist.  auf  andere  Art 
konstruiert  werden,  als  der  in  der  extensiven  Gröfse  des  Raumes-'  (^j^s4). 

Hier  kommt  uns  nun  der  obige  Satz  zu  Hilfe,  dafs  es  aller 
Erfahrung  und  jedc^'  Folge  aus  der  Erfrdirung  viUlig  einerlei  ist, 
ob  ich  einen  Körper  als  bewegt  oder  ihn  als  ruhig,  den  Raum  aber 
in  entgegengesetzter  Richtung  mit  gleicher  Geschwindigkeit  bewegt 
anseluMi  will,  ob  ich  sage:  ein  Kr)r];er  bewegt  sich  in  Ansehung  dieses 
gegebenen  Raumes  in  dieser  ]<ichtung  mit  dieser  Geschwindigkeit, 
oder  ob  ich  ihn  mir  als  ruhig  denken  und  dem  Räume  alles  dies, 
aber  in  entgeiiengesetztei"  KMchtung  beilegen  will.  Stelle  ich  mir 
nämlich  den  Köi-])er  A  mit  der  Geschwindigkeit  AH  im  absoluten 
Räume  als  bewegt  vor  und  übergel)e  dem  relativen  Raunu'  die  Ge- 
schwindigkeit ab  in  entgegengesetzter  Richtung,  so  ist  dies  nach 
jenem  Satze  ganz  dasselbe,  als  ob  ich  die  letztere  Geschwindigkeit 
dem  Körper  in  der  Riclitung  Al>  erteilt  hätte.  In  derselben  Zeit 
also  bewegt  sich  alsdann  der  Kr»rper  durcli  die  Summe  der  i^inien 
AB -[- BC,  in  welcher  er  sonst  die  Linie  AB  allein  würde  zurück- 
gelegt haben,  und  seine  Geschwindigkeit  AH  -f-  ab  ist  t'olglich  gleich 
der  Summe  der  gegebenen  (Geschwindigkeiten,  wie  dieses  die  geo- 
metrisejie  Konstruktion  zu  leisten  hatte.  Auf  die  nämliche  Weise 
brauche  ich  auch  im  zweiten  Falle,  statt  dem  Körper  die  entgegen- 
gesetzte Bewegung  AC  im  gleichen  absoluten  Räume  zu  erteilen, 
dem  relativen  Räume  nur  die  gleichgerichtete  Bewegung  CA  von 
derselben  Geschwindigkeit  beizulegen,  die  jener  völlig  gleich  gilt  und 
also  gänzlich  an  deren  Stelle  gesetzt  werden  kaim.  so  wird  in  der 
That  die  Kongruenz  der  beiden  entgegengesetzten  Bewegungen  in 
der  nämlichen  Zeit  erreicht.  Der  relative  Raum  bewegt  sich  mit 
(h'rselben  Geschwindigkeit  in  derselben  Richtung  mit  dem  Punkte  A; 


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B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


IT.  Die  kritische   Naturphilosophie 


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der  letztere  verändert  iinthin  in  diesem  Falle  seinen  Ort  in  An- 
sehun,G^  des  relativen  Kaumes  nur  um  so  viel,  als  di(^  Differenz  der 
Geschwindi,i^dveit(^n  in  der  Riehtung  der  ^röl'seren  beträft  und  ruht, 
falls  diese  beiden  (leseliwindi^kfiten  einander  i^loich  sind.  Im  dritten 
Falle  endlieli.  in  welehem  di(^  beiden  l^ewegiingen  AC  und  A I]  mit 
einander  den  Winkel  BAO  (Miiscldiersen.  mufs  ieb  ei)ent'alls  die  Be- 
wegung AC  als  im  absoluten  Räume,  anstatt  der  Bewegung  AB  aber, 
die  Bewegung  des  relativen  llaumes  in  entgegengesetzter  liiebtung 
vor  sich  gehend  annehmen.  Dann  läl'st  sich  durch  eine  (anfache 
Hilt'skonstrtdvtion  (vgl.  die  Figur  bei  Kant  ivS'J)  /eigen,  dal's,  wahrend 
der  Körper  die  [jinie  A()  dui-chläutt,  der  rehttive  JAaum  und  mit 
ihm  der  ^^lnkt  C  die  [jinie  (Je,  gleich  und  parallel  BA.  bi'schreibeii 
mui's.  was  ganz  dasstdbc  ist,  als  ob  der  Körper  in  derselben  Zeit. 
in  welcher  er  AC  durchbäutt.  die  Ijinie  Ol),  gleich  und  pai'allel  AB. 
durchlaufen  hätte.  Also  ist  er  im  letzten  Augenblick  im  I^mkte  D 
und  in  dieser  ganzen  Zeit  nach  und  umcIi  in  allen  Punkten  der 
Diagonallinie  AD,  welche  mithin  sowohl  die  Richtun,i^^  als  die  Ge- 
schwindigkeit (k'r  zusammengesetzten  Bewegung  ausdrückt.  Damit 
ist  in  allen  drei  Fällen  die  Bewegung  als  (Inifse  in  der  Raiini- 
anschauung  konstruiert,  „welches  nur  vermittelst  der  Bewegung  des 
Raumes,  tlie  mit  einer  der  zwei  gegebenen  Bewegungen  kongruiert 
und  dadurch  beide  mit  der  zusamuHMigesetzten  kongruieren,  mtiglich 
ist-'  (i^8;")),  oder  mit  anderen  Worten:  „Die  Zusammensetzung  zweier 
Bewegungen  eines  und  desselben  Punktes  kann  nur  dadurch  gedacht 
werden,  dal's  die  eine  derselben  im  absoluten  Baume,  statt  der  andern 
aber  eine  mit  der  gleichen  (Tcschwindigkeit  in  entg(\gengesetzter 
Richtung  ges(;hehende  Bewegung  des  relativen  Kaumes  als  mit  der- 
selben einerlei  vorgestellt  wird"   (ihSO). 

Dal's  Kant  den  Grundgedanken  dieser  ..Konstruktion''  wahr- 
scheinlich von  Plouc  (juet  hat,  wurde  ol)en  angedeutet.  Man  mag 
über  dieselbe  deidvcn,  w^ie  man  will,  es  wird  kaum  behau])tet  w^erden 
können,  dafs  mit  ihr  etwas  Wesentliches  gewonnen  sei.  Kant  hat 
offenbar  zwei  w^irk  liehe  Bewegungen  im  Auge.  d.  h.  die,  auf  einen 
und  denselben  Punkt  bezogen,  als  Bewegungen  sich  darstellen. 
d.  H.  V.  Kirchmann  macht  jedoch  mit  Recht  darauf  aufmerksam, 
dafs  Kant  durch  seine  Lösung  die  eine  Bewegung  in  eine  blofs 
scheinbare  verwandelt,  d.  li.  in  eine  solche,  die  zwar  in  Bezug 
auf  den  relativen  Raum  als  Bewegung  erscheint,  aber  nicht  in  Bezug 
auf  den  absoluten  Raum,  nach  welchem  doch  die  erste  Bewegung 
bemessen  ist.  ,.Wenn  der  Körper  A  sich  nach  B  bewegt,  und  der 
Raum  BO  sich  nach  A  bewegt,  so  gelangt  der  Körper  A  allerdings 
in  derselben  Zeit  nach  0,    in  \velcher  er   ohnedem  nur  nach  B  ge- 


langt sein  würde;  allein  die  Orte  B  und  C  sind  dann  auch  in  Bezug 
auf  d(^n  absoluten  Raum  nicht  mehr  verschieden,  sondern  A  ist 
nach  B  gerückt  und  C  ebenfnlls  nacli  B:  in  Bezug  auf  den  relativen 
Raum  hat  A  zwar  den  ]\aum  AC  durchlaufen,  allein  in  Bezug  auf 
den  absoluten  Raum,  wie  Kant  sich  ausdrückt,  hat  es  trotzdem  nur 
den  Weg  AB  zurückgelegt,  weil  seine  weitere  Bewegung  nach  C  in 
Bezug  auf  den  absoluten  Raum  nur  ein  Schein  ist.  Ganz  dasselbe 
«nlt  auch  l'ih'  die  beiden  andern  Fälle."  M  Kirch  mann  zeigt, 
wie  die  Zusammensetzung  zweier  wirkliehen,  nach  einem  Orte  im 
Räume  bemessenen  In'wegungen  nur  dadurch  zustande  konnnt,  dafs 
die  ganze  Linie  AC  =-  AB  -|-  BC  oder  -f-  ab  als  relativer  Raiun 
angesehen  und  sowohl  die  Bewegung  des  Körpers  A  in  diesem 
Räume,  wie  die  besondere  Bewegung  dieses  relativen  Raumes  nach 
AC  nach  derselben  Richtung  im  absoluten  Räume,  d.  li.  naidi 
C  hin,  vorgest(dlt  wird:  „dann  ist  wirklich  das  erreicht,  was  Kant 
will;  es  sind  zwei  wirkliche,  d.  h.  in  Bezug  auf  denselben  Ort  sich 
als  solche  darstellende.  Bewegungen  vereinigt,  wobei  A  nach  B  und 
zugleich  durch  die  Bewegung  der  Fläche,  auf  der  es  sich  bewegt, 
nach  C  gelangt,-'  und  zwar  nach  C.  als  der  wirklichen  Fnt- 
fernung  BC  =  a  b  von  B.  nach  dem  absoluten  Raum  gemessen. 
Auf  dieselbe  Weise  kann  auch  der  zweite  und  dritte  Fall  berichtigt 
und  auch  die  zweite  Bewegung  aus  einer  wirklichen  in  «une  schein- 
bare um.^esetzt  werden;  nämlich  wenn  man  im  zweiten  Falle  die 
ganze  Linie  Ui)  sich  nicht  in  der  Richtung  ('A.  wie  Kant  will, 
sondern  in  dvr  Richtung  AC  bewegen  läfst ;  dann  kommt  A  zwar 
in  Rezu'^  auf  den  relativen  Raum.  d.  h.  scheinbar,  nach  B;  allem 
nach  dem  absoluten  Raum  bemessen,  ist  es  in  A  geblieben  (voraus- 
gesetzt nämlich,  dafs  AB  und  P)C.  wie  Ixn  Kant,  als  gleich  gedacht 
werden),  weil  B  dann  mit  A  zusammenfällt.  Dasselbe  gilt  für  den 
dritten  Fall,  wcuin  der  relative  Raum  ABCD  sich  nicht  in  der  Rich- 
tung  von    B   nach   A.   sondern   v(.n   A    nach    B   bewegt."^^*) 

Hiernach  kann  noch  viel  weniger  davon  die  R(Mle  sein,  Kant 
habe  sich  durch  seine  Phoronomie  ein  neues  Blatt  in  den 
Kranz  seiner  phil()S(»phischen  Verdienste  eingetlochten.  Was  von  ihr 
bestehen  bleibt,  ist  im  Wesentlichen  nur  dasselbe,  was  jener  in 
seinem  „ISeuen  Lehrbegrilf  von  Bewegung  und  Ruhe''  bereits  im 
Jahre  17r)<S  vorgetragen  hatte,  die  Einsicht  in  die  relative  Beschatfen- 
heit  der  beiden  Begrilfe  Ruhe   und    Bewegung,    und    man    wird    es 


*")  V.  Kirchniann:    Erläuterunpren    zu    Kants    Schriften    zur    Xaturphilo 
Sophie  39. 

♦*)  ebd.  f. 


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284 


B.   Kant  als  Naturpliilosoph. 


scliwt'rlich    als    eine    neue    Rrkoiintnis    bezeichnen   können,     wenn   er 
im   Hinblick  :iut'  seinen  Kritizismus    jillgemein    betont:     „Ein    jeder 
Begriff   ist   mit  demjenigen,    von    dessen  Unterschiede  vom   ersteren 
gar    kein    Beis])iel    möglich    ist.    völlig    einerlei    und    nur    in    Be- 
ziehung   auf    die    Verknüpfung,    die    wir    ihm   im   Ver- 
stände geben  wollen,   verschieden*'  (IVIS).      Damals  hatte  Kant 
seine  Einsicht  einfach   aus  der    Krfahrung  geschr.pft :   die   Erfahrung 
war  das   Erste  gewesen,     und    die   Erkenntnis    nur  ein    Produkt   der 
Erfahrung;  jetzt  soll   die  Erkenntnis  selbst  das   Erste  sein,  die  Er- 
fahrung   soll  nur  gültig   sein    von   der    Erkenntnis   Gnaden,     und   die 
in  der   Erfahrung    konstatierte    Zusammensetzung    von    Bewegungen 
soll    daraus    abgeleitet    werden,    dafs  sie  in  der  reinen  Anschauung 
als  m(")glich  aufgezeigt  wird.     D;is  FVoblem  dies(>r  Zusammensetzung, 
wie  es  am   deutlichsten  beim   dritten  Kall  hervortritt,   liegt  ja  darin, 
wie  eine   Bewegung   in   gleicher  (ilesch windigkeit  und  gleicher   Rich- 
tung, und  zwar  genauer  in    Linien,    die  ihrer  ursprünglichen   Rich- 
tung   j)nr:ilhd    sind,    aucii    dann    sich    noch    erhalten    kann,    weim 
sie   durch   eine   andere  Bewegung   aus  ihrer  Kichtung  gebracht    wii'd. 
Dieses  Problem   aber  kann   nicht  dadurch   gelöst    werden,    dafs   man 
mit  Kant  die  v'nw  Bewegung    als    eine    blofs   scheinbare   betrachtet. 
Sieht  man  gcuiaii   zu,    so    ist    es    überhaupt    verg<'l)lich,     nach   einem 
näheivn    Grunde  jener    Erscheinung    zu    forschen.      Die  Zusammen- 
setzung von  Bewegungen  kann  nur  in  der  Erfalirung  konstatiert, 
aber  sie  kann  nicht    w(Mter    abgeleitet    werden,    auch    nicht    aus 
dem   Satze,   dafs   man   auf  den   ndativen   Kaum   zurückgreifen   müsse, 
um  sich  jene  Zusammensetzung  ziii"  Anscliauung  zu  bringen.    „Weil 
die   Erfahrung    hit^r    sich    in    allen    Källeii   gleich   bleibt    und   solche 
Bewegungen    trotz    ihrer  Verrückung    aus  der    ursprünglichen    Bage 
dennoch  ihre  Geschwindigkeit    und    paralleh^  Kichtung    beihehalten, 
so  hat  man  erst  hieraus  durch   Induktion  jenen  allgemeinen  Satz 
ausgesondert.     Indem    dieser    dem    Theoretiker    mit    der  Zeit   ganz 
<'eliluh''   wird,    meint  er  zuletzt  in  ihm  ein   Prinzip  a   ))rioii   zu    be- 
sitzen,    w^as    das  erste    sei,    und  dem  mithin  die  wirklichen,    in   der 
Natur    geschehenden    B(^wegungen    sich    mit    Notwendigkeit    fügen 
müfsten.      F]s    verhält    sich    mit    diesem   Satz,     wie   mit  dem   von   der 
steten  Fortdauer  eiiuT  einmal  begonnenen  Bewegung.     Beide  scheinen 
uns  jetzt  selbstverständlich,   und    man    trägt    deshalb    in    der   Philo- 
sophie kein  Bedenken,    aus  ihnen,  als  dem  Prius.  die  Notwendigkeit 
abzuleiten,   dafs  die   Natur  diese  Gesetze  einhalten  müsse:  allein  es 
kr)nnte  sehr  wohl  auch  anders  sein,    und    eine    Bewegung,    die    aus 
ihrer   urspriniglichen  Lage  verrückt  würde.    kr)iinte  sehr  wohl  auch 
ganz  erlöschen.     Wäre  dies  nach  der  Erfahrung  der  Kall,   so  würde 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


285 


die  Philosophie  sehr  bald  dahin  gelangt  sein,  diesen  entgegen- 
gesetzten Satz  als  den  notwendigen  und  a  priori  gültigen  aufzu- 
stellen und  die  einzelnen  Vorgänge  als  die  blofsen  Konse(juenzen 
dieses  Prinzips  darzulegen."*) 

Es  ist  demnach  nichts  mit  der  angewandten  Metai)hysik.  so- 
fern sie  sich  anheischig  macht,  die  in  der  Erfahrung  konstatierte 
Zusammensetzung  von  Bewegungen  a  ])riori  aus  der  Natur  der 
reinen  Anschauung  abzuleiten.  Die  Natur  bedarf  für  ihre  Erschei- 
nungen  im  Besonderen  nicht  der  ausdrücklichen  Beglaubigung  durch 
das  Subjekt;  sie  liefert  vielmehr  diesem  selbst  erst  den  Stempel. 
dvn  es  ihr  nachträglich  aufdrücken  mag.  ohne  sich  aber  rühmen 
zu  können,  ihren  Erscheinungen  damit  den  Ciiarakter  der  a])o- 
diktiscluni  Gewifsheit  erteilt  zu  haben.  Es  ist  die  Art  der  falschen 
Metaphysik,  etwas  für  eine  Erklärung  aus  Gründen  a  priori  aus- 
zugeben, was  sie  doch  nur  a  i)Osteriori  von  der  Erfahrung  erborgt 
hat.  Eben  dies  ist  auch  das  Verfahren  in  Kants  Phoronomie. 
Indem  sie  uns  mit  dem  Scheine  täuscht,  als  seien  mit  der  Zurück- 
führung  der  Bewegungserscheinungen  auf  die  reine  Anschauung  jene 
selbst  in  ihrer  Eigentümlichkeit  erklärt,  hat  sie  unsere  Erkenntnis, 
anstatt  sie  zu  erweitern,  nur  auf  einen  trüglichen  Irrweg  geführt. 
Daher  wird  man  die  Einkleidung  des  neuen  Lehrbegrilfs  von  Be- 
wegung und  Kühe  in  das  Gewand  des  Kritizismus  nicht  für  eine 
Verbesserung  jener  früheren   Darstellung  halten  können.  — 

Werfen  wir  schliefslich  noch  einen  Blick  auf  die  Beziehung 
der  Phoronomie  zur  allgemeinen  Metaj)hysik.  so  mufs  natürlich 
auch  sie,  als  angewandte  Metaiihysik.  sich  in  das  Schema  (h^r  Meta- 
])hysik  überhaupt  einordnen  lassen,  und  zwar,  wie  oben  hereits  an- 
gedeutet wurde,  soll  sich  jene,  als  reine  Gröl'senlehre  der  Be- 
wegung, auf  die  Kategorie  der  Quantitiit  beziehen.  Es  ist  zwar 
(iigentlich  nur  ein  zufälliger  Umstand,  dafs  man  in  der  Logik  eine 
besondere  Art  von  Urteilen  gerade  als  (juantitative  zu  bezeichnen 
l)llegt.  Allein  hiervon  abgesehen,  fällt  es  doch  nicht  gerade  auf.  dafs 
Kant  einen  Zusammenhang  zwischen  der  Quantität  der  Urteile  und 
seiner  Lehre  von  der  Zusammensetzung  der  Bewegungen  herzustellen 
suciit.  wenn  ihn  nur  seine  wunderlit!he  Neigung  zum  Schematisieren 
nicht  dazu  verleitet  hätte,  auch  noch  die  drei  Källe  seiner  Phoro- 
nomie im  einzelnen  auf  die  besonderen  Kategorieen  der  Quantität, 
die  Einheit.  Vielheit  und  Allheit,  zu  beziehen!  ..Diese  Bemerkung 
hat  nur  m  der  Transcendentalj)hiloso])liie  ihren  Nutzen.''  fügt  Kant 
hinzu  (i'xSÖ).     Es  ist  schwer,  sich  vorzustellen,   worin  dieser  ..Nutzen" 


^j  V.  K  irchmanii:  a.  a.  <J.   32  1. 


28G 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


I)  1 


l)estelioTi,  noch  viel  schwerer  jedoch,  (nnzusehiMi.  auf  welclieu  (Tnmd 
jene  He/iehiiii^r  sich  stützen  soll.  Im  ersten  Fall  ist  ,.Kinlieit  der 
Linie  und  Richtung'"  vorhanden,  und  auch  im  dritten  Kall  mau^  es 
imm<>rhin  f,^estattet  sein,  von  einer  ,. Allheit  der  liichtuni^en  sowohl, 
als  der  Linien,  nach  denen  die  Bewe.i^niuK  ^reschehen  ma-"  zu  reden. 
Aher  ^\i)  in  aller  Welt  steckt  im  zweiten  Falle  die  „Vielheit 
der  Kiclitun^en  in  einer  und  derselben  Linie"  (ebd.),  da  es  sich 
doch  Idol's  um  zwei  l^ichtun.iren.  handelt?  Man  sieht,  die  Uber- 
einstimmun.i^  ist  auch  hier  ,<,^Mnz  zutalli- :  die  Beziehun-en  selbst  sind 
völlig  iius  der  Luft  ^a'^niffen  und  eine  rein  i)ers(')nliche  Spielerei, 
die  weder  zur  Erkenntnis,  nocli  zum  Verstiiminis  der  Sache  etwas 
beitrügt. 

fl.  Die  Dynamik. 
Die  I^horonomie  hatte  die  (Quantität  der  Bewegung  untersucht 
und  die  ]\laterie  scldechthin  als  das  Bewegliche  im  JJaum  bestimmt. 
Nacli  dem  Schema  der  Kategorieentafel  hätte  man  erwarten  sollen, 
dafs  Kant  nun  in  derselben  Weise  die  (Qualität  der  Bewegung 
vorgenommen  hätte.  Dabei  wäre  jedoch  die  Schwierigkeit  entstanden, 
was  unter  einer  s(dcben  zu  verstehen  sei.  Fr  betrachtet  daher  die 
Bewegung  lieber  „als  zur  (Qualität  der  Materie  gehörig"  (.Mib)  ujid 
definiert  die  h^tztere  als  „das  Bi^wegliche,  sofern  es  einen  Kaum 
erfüllt*'  (:iS7).  Und  zweifellos  w.ählt  ja  unser  Verst;ind  die  Rr- 
füllung  des  Baumes,  um  dadurch  die  Substanz  (hs  Jxaumes,  d.  i. 
die  Materie,  zu  i)ezeichnen:  sie  ist  „das  (Charakteristische  d<'r  Materie, 
als  eines  vom  Baum  unterschiedenen  Dinges*'  (401).  dasjenige,  was 
uns  unmittelbar  einfällt,  wenn  wir  die  Figenschaften  der  lAfaterie  an- 
geben sollen.  Worauf  beruht  nun  diese  Eigenschaft,  und  wie 
ist  es  möglich,  sie  für  unsere  Anschauung  zu  konstruieren,  um 
dadurch  dem   empirischen  Gegenstande  zugleich  eine  apriorische  Be- 


ll. Die  kritische  Naturphilosophie. 


287 


üründunu'  zu  verhüllen  V 


„Einen  Baum  erfüllen,  heilst  allem  Beweglichen  widerstehen, 
das  durch  seine  Bewegung  in  einen  gewissen  Baum  einzudring(Mi 
bestrebt  isf  (:>S7).  Lambert  und  Andere  nehmen  einfach  an. 
die  Eigenschaft  der  Baundiillung  oder  die  Solidität,  wie  sie  es 
nennen,  käme  jedem  existierenden  Dinge  schcm  als  solchem  zu:  es 
läge  schon  im  Begrilf  desselben,  jedes  andere  Ding  von  der  An- 
wesenheit in  dem  ihm  zugehihägen  Baume  auszuschliefsen.  und  so- 
mit sei  es  einfach  der  Satz  des  Widersi)ruchs,  dei-  mache,  dafs  nicht 
zw^ei  Dinge  in  einem  und  demselben  Baum  zui^leich  sein  klMinten. 
,.Allein  der  Satz  des  Widerspruchs  treibt  keine  Materie  zurück, 
welche  anrückt,    um   in  einen  Baum  einzudringen,    in  welchem  eine 


andere  anzutreffen  ist"  {3^i)).  Der  Satz  des  Widersi)ruchs  gilt  nur 
im  Logischen,  aber  die  Materie  ist  ja  gerade  die  Unterlage  aller 
Bealität.  Der  blofse  Begriff  (]vv  Ausdehnung  nimmt  keinen 
Baum  ein,  er  schliefst  auch  keinen  andern  Körper  von  dem  gleichen 
Kaume  aus.  Daher  kann  der  Mathematiker,  dei-  mit  blofs  gedachten 
Körpern  operiert,  sie  beliebig  in  denselben  Ort  versetzen:  ihm  steht 
es  frei,  die  J^aunierfüllung  selbst  für  v'm  erstes  Datum  dw  Kon- 
struktion des  i^egriffs  einer  Materie  anzusehen,  ohne  dafs  er  sich 
darauf  einzulassen  braucht,  dieses  Datum  auch  wiederum  zu  kon. 
struieren.  J)enn  die  Materie,  womit  er  es  zu  thun  hat.  ist  ja  die 
blofs  gedachte  Materie:  ..(hirum  aber  ist  er  doch  nicht  befugt,  jenes 
tür  etwas  a.ller  mathematischen  Konstruktion  ixanz  Unfähiijes  zu 
erklären,  um  daduich  das  Zuiaickgehen  zu  den  ersten  I^rinzi])ien 
der  Naturwissenschaft  zu  hemmen-^  (ebd.).  Der  Naturforscher  hat 
es  mit  der  Wiikiichkeit  zu  thun,  und  in  deren  erkeiintnistheoretischer 
Begriuidung  mufs  er  aui"  denjenigen  Punkt  im  Bewufstsein  zurück- 
gehen,  wo  das  Beale  ihm   unmittelbar  gegeben  ist. 

Daraus  entsj)rang  der  zweite  Grundsatz   des  reinen  Verstandes. 
Das  Prinzij)  der  A]itizi])ationen  der  Wahrnehmung  lautete:   „Li  allen 
Erscheinungen  hat  das  Beale,   w^as  ein  Gegenstand  der   Em])tindung 
ist,  intensive  Gnifse,  d.  i.  (aneii  Grad.-'     Wir  wissen  jetzt,  welchen 
Sinn  Kant   mit    diesem   Satze   verbindet,      (lab    die  B(^liandlung  des 
Satzes    in    der   Kritik    der    reinen  Vernunft    noch    irgend     welchen 
Zwtühdn     Baum,    so    hat    uns    besonders    der    Abschnitt    über    die 
l^)stulate     des    empirischen   Denkens    vollends    über    das   Verhältnis 
zwischen    dem    Bealen    und    der    Eni])linilung    aufgeklärt.      Die    Fm- 
])findung    ist    der    unmittelbare  Ausdruck  für  das  Beale,    nicht    so, 
als  ob    das    letztere    unserem   Denken   noch    immer  als  ein   Aufseres 
gegenübei'stände    und    einem  jeden   Unterschied    in  der   Emjitindung 
ein    s(dcher    im   Bealen    als    korrespondierend    zu    denken   sei :    das 
Beale    soll  vielmehr   mit    der  Emj^findung    selbst    zusammenlliefsen. 
soll  restlos   in    sie  übergehen  und    damit  ein     blofser  (icMlanke  sein, 
den    ich    zu    jener  nur    hinzuzulÜgen   habe.      Daraus   folgt,    dafs   ein 
nahei-er  Aufschlufs    über  die    Materie,    als  Gegenstand    der  Natur- 
wissenschaft, nui- aus  der  ])  s  VC  h  o  1  ogisch  eil   Betrachtung  der 
Eni])  findung  zu  erlangen  ist.    Um  zu  erfahren,   worauf  die  Baum- 
erfüllung der  Materie  beruht,   und  durch   wtdchen  Akt  unseres  Ver- 
standes ein  solcher  Begriff  gebildet  wird,   müssen  wir  die  Eni] »findung 
untersuchen    und    sehen,    welche  Momente  sie  zur  Vollziehung  des- 
f^elben    in    sich    birgt.      Wir    müssen    untersuchen,    auf  welche  Ein- 
]iiiiuluiigen  die  AVahrnehniung  der  Materie  üherhaujit  sich  gründet: 
durch   die  Übertragung  der  hierbei  gemachten  (zunächst  subjektiven) 


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B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


Erfahrungen  anf  das  Ohjekt  der  Materie  wird  sich  alsdann  eine 
nähere  Bestinnnuni,^  der  liaunierfiiUun.ü:  der  k-tzteren  ergehen,  die 
nicht,  wie  diese,  eine  (jualitas  occulta  ist. 

>ain  können  aUe  Empfindungen,  in  denen  sich  uns  die  M.iterie 
offenhart,  auf  Druck  und  Stofs  zurückgeführt  werden.  Wir 
woUen  in  dem  für  leer  gehaltenen  Raum  eine  Bewegung  vollführen 
und  finden  einen  Wick'rstand,  der  sich  für  uns  verbindet  mit  einer 
Druck-  oder  Stofsempfindung.  Hier  ist  die  psychologische  (Quelle 
des  Hegriffs  der  Raumerfülhmg.  Es  ist  klar:  „dafs  die  erste  An- 
wendung unserer  Begril'le  von  (Tnifsen  auf  Materie,  durch  die  es 
uns  zuerst  möglich  wird,  unsere  äufseren  Wahrnehmungen  in  den 
Erfahrungshegriif  einer  Materie,  als  Gegenstand  üherhau])t,  zu  vrr- 
wamhdn.  nur  auf  ihrer  Eigenschaft,  (hidurch  sie  einen  Raum  erfüllt, 
gegründet  sei,  welche  vermittelst  des  Sinnes  des  Gefühls 
uns  die  Gröfse  und  Gestalt  eines  Ausgedehnten,  mithin  von  einem 
bestimmten  Gegenstande  im  I^aume  eiiien  Begriff  verschaftt,  der 
allem  Übrigen,  was  man  von  diesem  Dinge  sagen  kann,  zum  (-J runde 
gelegt  wird"  (400).  Da  also  die  Materie  uns  ihr  Dasein  ,.nicht 
anders  als  durch  das  (liefühl  offenhart,  mithin  nur  in  Beziehung 
auf  Berührung,  deren  Anfang  (m  der  Annäherung  einer  Materie 
zur  anderen)  der  Stofs,  die  Fortdauer  aber  ein  Druck  heilst,  so 
scheint  uns,  als  ob  alle  unmittelbare  AVii-kung  einer  i\laterie  auf 
die  andere  niemals  was  Anderes  nls  Druck  oder  Stofs  sein  k()nne, 
zwei  ßinllüsse,  die  wir  allein  unmittelbar  empfinden 
können"  (ebd.).  Wir  übertragen  die  Emplindung,  die  wir  selbst 
in  der  Berührung  mit  der  .Materie  haben,  auf  die  aul'ser  uns  befind- 
liche Materie  überhaupt  und  nehmen  an,  dafs  überall,  wo  zwei 
Körper  sich  berühren,  die  Hemmung  ihrer  Bewegungen  sich  in 
Druck  und  Stofs  vollzieht.  Bewegung  also  ist  die  vermittelnde 
Funktion,  wodurch  wir  zu  jenen  Empfindungen  und  damit  auch  zum 
Begriffe  der  Materie  gelangen.  Die  Ursache  einer  Bewegung  aber 
ist  bewegende  Kraft.  Folglich,  weini  Druck  und  Stofs  allgemeine 
Bestimmungen  der  Materie  darstellen,  wodurtdi  ihr  Begriff  erst 
zustande  kommt,  so  mufs  die  letzere  ebenso  in  bewegenden  Kräften 
ihre  eigenthche  Wurzel  haben,  wie  ihre  äufsere  Wahrnehmung  für 
uns  durch  die  Thätigkeit  der  uns  unmittelbar   bewufsten  Kräfte  sich 

vermittelt. 

Offenbar  ist  dies  der  Gedankengang,  der  Kant  bei  der  erk(Mintnis- 
theoretischen  Begründung  seines  Dynamismus  vorgeschwebt  hat. 
Leider  hat  er  ihm  selbst  keinen  näheren  Ausdruck  gegeben,  sondern 
sich  nur  auf  einige  wenige  zerstreute  Andeutungen  beschränkt,  die 
bei  weitem  nicht   ausreichen,    um  insbesondere    den  Zusammenhang 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


H 


289 


der  Dynamik    mit    dem    zweiten  Grundsatz    des  Verstandes    in   das 
rechte  Licht  zu  rücken.     Dazu  kommt  aufserdem,  dafs  die  Zurück- 
fülirung  der  liaumerfüllung  der  Materie  auf  eine    bewegende  Kraft 
bei    der  Knapi)heit    der    mathematischen    Darstellungsweise    höchst 
ungenügend    ausgefallen    ist.      ,.Das  Eindringen   in    einen  Raum  ist 
eine  Bewegung.     Der  Widerstand  gegen  Bewegung  ist  die  Ursache 
der  Verminderung  oder  auch  Veränderung  derselben  in  Buhe.     Xun 
kann  mit  keiner  Bewegung    etwas  verbunden  werden,    was    sie   ver- 
mindert   oder    aufhebt    als    eine    andere    Bewegung    ebendesselben 
Beweglichen    in    entgegengesetzter  Bichtung.     Also    ist  der  Wider- 
stand,  den  eine  Materie  in  dem  Eaum,    den  sie  erfüllt,    allem   Ein- 
dringen anderer  leistet,  eine  Ursache  der  Bewegung  der  letzteren  in 
entgegengesetzter  Richtung-'  (.'mSS).    Kant  beruft  sich  hierbei  einfach 
auf  den   „phoronomischen  Li^hrsatz*'  (ebd.).     Aber    dieser    handelte. 
wäe  wir  gesehen  haben,  von  der  Zusammensetzung  zweier  Bewegungen 
eines  und  desselben  Punktes  mit  Hilfe  des  absoluten  und  des  rela- 
tiven Baumes,  was  doch  wohl  etwas  ganz  Anderes  ist  als  die  Ver- 
minderung oder  Aufhebung  einer  Bewegung  durch    eine  bewegende 
Kiaft.     Mehr    als    einmal    hat  ja   gerade  Kant    in  der  Phoronomie 
davor  gewarnt,   die  Zusammensetzung  von  Bewegungen  mit  der  Ver- 
änderung   dieser    durch    Kräfte    zu    verwechseln ,     und    gleich    im 
Anfang  der  Dynamik    schärft    er  noch    einmal  ein.    dafs    die  dvna- 
mische  Erklärung  des  Begriffs  der  Materie  die  jihoronomisclie  voraus- 
setze,   aber  eine  Eigensclnift  ,.liinzuthue''.    die    sich  als  Ursache  auf 
eine    Wirkung    bezieht,     nämlich    das    Vermögen,    einer    Bewegung 
innerhalb  eines  gewissen  Baumes  zu  widerstehen,    „wovon  in  der 
vorhergehenden  Betrachtung  gar  nicht  die  Rede  sein 
niufste,     selbst     nicht.    >venn     man     es     mit     Bewegungen     eines 
und    desselben  Punktes  in    entgegengesetzten    Richtungen    zu  thun 
hatte-'   (;is:). 

Es  wird  also  wohl  bei  Stadlers  Meinung  sein  Bewenden 
haben:  ,.  Wir  haben  hier  einfach  einen  Irrtum,  der  zwar,  in  die 
Au^roij  iällend.  wie  er  ist.  nicht  viel  Schaden  anrichten  kann, 
immerhin  aber  eine  bedauerliche  Lücke  in  der  Kntwickelung  verur- 
sacht.-"') Wer  über  diese  Lücke  nicht  hinweggelangen  kann,  wie 
Schwab.**)  oder  gar,  wie  J.  H.  v.  Kirch  mann,  der  Ansicht 
iiuldigt,    die    blofse    Raumerfüllung    der   Materie    könne    schon    als 


*)   Sta(ll(M-:   a.   a,   (J.   iu .      \^^1.  dag-ecren:    H.  Keferstein:    „Die  philos. 
Gruiidlaofcn    d.  Physik   nach    Kants    „Metaj)h.  Ani'an^'-s<rr.    d.  Naturw."    u.   dem 
Manuscript  „Uher<rang  von  d.  3leta})li.  Aul'anprscrr.  d.  Naturw.  zur  Physik.''     Progr. 
der  h()hereii   Hürgerschule  vor  d,  Lüheckerthore  zu  Hamburg  f  I.S92).     8. 
^=*j  Schwah:   a.   a.  O.    l'J. 

n  r  e  w  s,  Kants  Naturphilosophie.  10 


■H 


t-r^ 


290 


B.   Kant  als  Naturphilosopli, 


soiclie  das  Eindriiij^jen  einer  arideren  bewegten  jMaterie  verliindern, 
es  bedürfe  dazu  überhaupt  nicht  einer  besonderen  mit  ilir  ver- 
bundenen Kraft,')  dem  müssen  natürhch  die  ganzen  folgenden 
Ausführungen  Kants  hinfällig  erscheinen.  Ein  solcher  wird  dann 
aber  auch  zu  zeigen  haben,  wie  er  bei  dieser  Annahme  über  das 
Paradoxon  eines  seienden  leeren  Jlaumes,  worin  sich  alsdann  der 
Stoff  bewegen  mul's,  und  die  übrigen  Unklarheiten  und  Wider- 
sprüche der  StotYtheorie  hinweggelangen  will.  Vor  allem  aber 
wird  es  seine  Aufgabe  sein,  sich  darüber  zu  erklären,  auf  welche 
Weise  er  sich  den  Eintritt  des  realen  Stoffes  in  die  ideale 
Sphäre  des  Bewulstseins,  d.  h.  das  Zustandekommen  seiner  Wahr- 
nehmung denkt,  ohne  dabei  in  den  unzulänglichen  erkenntnis- 
theoretischen Standpunkt  des  naiven  Kealismus  zu  geraten.  Es  ist 
ii  freilich  keineswegs  ohne  AV^eiteres  klar,  dafs  der  Widerstand 
gegen  eine  Bewegung  gerade  eine  bewegende  Kraft  sein  müsse, 
und  es  begreift  sich,  wenn  Herbart  zu  dieser  Behau])tung  Kants 
spcittisch  bemerkt:  ,.So  schnell  war  eine  bewegende  Kraft  ge- 
schaffen!*'**) Aber  man  darf  nicht  vergessen,  dafs  Kant  bereits  in 
seiner  Schrift  über  die  negativen  Gnil'sen  den  Widerstand  eines  Kr)rpers 
gegen  die  Bewegkraft  eines  anderen,  dcu-  in  seinen  Baum  einzudringen 
sucht,  oder  die  Undurchdringlichkeit  für  eine  „wahre  KrafU'  erklärt 
und  gezeigt  hatte,  dafs  sie  als  „negative  Anziidiung''  ein  ,.ebenso 
])Ositiver  Grund  sei  als  jede  andere  Bewegkraft  in  der  Natur" 
(vgl.  oben  S.  72  f.).  Wenn  er  jetzt  den  Satz  aufstellt:  „Die  Un- 
durchdringlich k  e  i  t ,  als  die  G  r  u  n  d  e  i  g  e  n  s  c  h  a  f  t  der 
Materie,  wodurch  sie  sich  als  etwas  Beales  im  Baume  unseren 
äufseren  Sinnen  zuerst  offeid)art,  ist  nichts  als  das  Ausdehnungs- 
vermiigen  der  Materie"  (400),  so  war  das  nur  ein  neuer  Ausdruck 
für  die  alte  Wahrheit,  dafs  es  in  der  Natur  nicht  blol's  logische 
(Opposition,  sondern  vor  allem  auch  Bealre])Ugnanz  giebt:  „Die 
Materie  erfüllt  einen  Baum  nicht  durch  ihre  blofse  Existenz, 
sondern  durch  eine  besondere  bewegende   Kraft"   (:^S8). 

Diejenige  Kraft,  wodurch  eine  Materie  Ursache  sein  kann, 
andere  von  sich  zu  entfernen,  oder  wodurch  sie  der  Annäherung 
anderer  zu  ihr  wiik'rsteht,  ist  eine  repulsive  oder  Zu  rück - 
stofsu  ngs kraft  (:)(S9),  und  zwar  niuls  dieselbe  allen  Teilen 
der  Materie  zugeschrieben  werden,  weil  eben  das  Wesen  der  Materie 
in  der  Baumerfüllung  besteht,  und  andernfalls  der  Baum  an  den 
betreffenden  Stellen    leer,    d.  h.  aber    überhaupt    keine  Materie   da 

*)  V.  Kirch  mann:  a.  a.  0.  34  ff. 
**J  Herbart:  a.  a.   U.  448. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


29 1 


sein  würde.  Die  repulsive  Kraft  aller  ihre  Teile  also  ist  es.  worauf 
die  Ausdehnung  der  IVFaterie  beruht,  und  diese  erfüllt  somit  den 
Baum  durch  eine  ihr  eigene  Ausdehn  ungs-  oder  Ex])ansiv- 
kraft.  W^äre  der  Grad  dieser  Kraft  unendlicli  grofs.  so  würde  sie 
eine  solche  sein,  wodurch  in  einer  endlichen  Zeit  ein  unendlicher 
Baum  zurückgelegt  werden  würde.  AVäre  er  uncuidlich  klein,  so 
würde  durch  deren  unendliche  Hinzuthuung  zu  sich  seihst  eine  jede 
gegebene  Zeit  hindurch  keine  endliche  Geschwindigkeit  erzeugt 
werden  k(>nnen.  Beide  Annahmen  scheitern  an  dem  Widerspruche 
einer  vollendeten  Unendlichkeit.  Die  Ausdehnun^skraft.  womit 
jede  Materie  ihren  Baum  erfüllt,  hat  demnach  ihren  bestimmten 
Grad,  über  den  ins  Unendliche  sowohl  gröfsere,  als  kleinere  mög- 
lich sind.  Hierauf  beruht  es,  dafs  die  expansive  Kraft  einer  Materie 
auch  als  die  Elastizität  derselben  bezeichnet  werden  kann,  inso- 
fern die  letztere  im  \\'iders])iele  einander  entgegengesetzter  und  ver- 
schiedengradiger  Kräfte  zu  Tage  tritt,  die  sich  in  ihren  ursprüng- 
lichen Zustand  wiederherzustellen  strehen,  sobald  das  sie  ein- 
scliränkcaide  Hindernis  beseitigt  ist.  Als  identisch  mit  der  expansiven 
Kraft  einer  Materie,  worauf  die  Erfüllung  des  Baumes  beruht,  ist 
die  Elastizität  „eine  wesentliche  Eigenschaft  der  Materie";  sie 
ist  ur  s])rüngl  ich ,  weil  sie  von  keiner  anderen  Eigenschaft  der 
Materie  abgeleitet  werden  kann  (;^90  f.). 

Man  kann  diese  Zurückführung  der  Baumerfüllung  der  Materie 
auf  bewegende  Kraft  als  richtig  anerkennen,  man  kann  auch  zu- 
gehen, die  eben  erwähnten  Folgerungen  seien  vollkommen  logisch 
daraus  abgeleitet,  und  braucht  sie  darum  doch  nicht  anzunehmen. 
Es  kommt  nämlich  alles  darauf  an.  in  welchem  Sinne  man  den 
Begriff  der  J^aumerfüllung  und  damit  der  Ausdehnung  der  Materie 
fafst.  Die  Behau j)tung  Kants,  ein  jeder  Teil  der  Materie  sei  nur 
darum  Materie,  weil  er  durch  seine  zurückstofsende  Kraft  einen 
I{aum  erfüllt,  mufs  uns  stutzig  machen  und  stellt  uns  vor  die 
Aufgabe,  uns  zunächst  über  den  kantischen  Begriff  der  Baum- 
erfüllung klar  zu  werden.  Soviel  leuchtet  nämlich  ein  :  wenn  die  Baum- 
erfüllung eine  so  wesentliche  Bestimmung  der  Materie  ist.  dafs  ihre 
Aufhebung  den  Begriff  der  IVIaterie  selbst  aufheht,  wenn  die  Kräfte, 
welche  die  Ausdehming  tragen  sollen,  so  enge  mit  dieser  verwachsen 
und  gleichsam  mit  ihi-  identisch  sind,  dafs  beide  nicht  einmal  in 
Gedanken  sich  trennen  lassen,  dann  kann  auch  von  einem  Wider- 
spiel verschiedengradiger  Kräfte,  wie  sie  in  der  Elastizität  vorliegt, 
von  einer  Zusammendrückung  der  schwächeren  durch  die  stärkere 
Kraft  nicht  die  Bede  sein,  wie  Kant  dies  aus  der  verschieden- 
gradigen  Beschaffenheit    einander    entgegengesetzter  Kräfte    folgert. 

19* 


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9Q0 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


If     ■    ■! 


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Denn  ausgedehnt  sein  oder  einen  Kaum  erfüllen  ist  eine  nähere 
Bestimmung  des  Bej^ritls :  einen  Kaum  e  i  n  n  e  h  m  e  n  ;  dies  aber  heifst 
niclits  Anderes,  als  in  allen  P  un  k  ten  d  es s  elhe  n  unmittelbar 
gegenwärtig  sein  (388).  Wenn  folglich  die  Materie  als  solche 
einen  Kaum  einnimmt,  so  mufs  sie  ihn  bereits  vollständig  er- 
füllen, und  es  ist  ganz  unmöglich,  sich  vorzustellen,  wie  eine 
derartige  Materie  noch  in  einen  kleineren  Kaum  sollte  zusammen- 
gedrückt werden  können. 

Eine  Materie,  die  als  solche  einen  Kaum  einnimmt,  ausgedehnt 
ist,    widersteht  allem  Eindringen    mit    absoluter   Notwendigkeit. 
Das  aber  ist  gerade    der  mathematische   BegrilV   der  Undurch- 
dringlichkeit, wonach  Materie,  als  Materie,  allem  Eindringen  schlecht- 
hin widersteht  und  einer  Zusammendrückung  nur  insofern   fähig  ist. 
als  sie  leere  Käume  in  sich  enthiilt,  jene  absolute   llndurchdring- 
lichkeit,  die  mit  Kecht  von  Kant  als  eine  (jualita^  occulta  verworfen 
wird.    ]V[athem<atisch  soll  diese  Undurchdrin.ijlichkeit  ja  eben  deshalb 
heifsen.    ,.weil  sie    iliren   mathematischen   Kaum,    ihren    Begriff  eines 
Auseinander  von   Teilen  einfach  hypostasiert.   ohne  ihn   i)livsikalisch 
zu    interpretieren."*)      Ihr    stellt  Kant    die    auf    einem    physischen 
Grunde    beruhende    oder    die    dynamische   Undurchdringlichkeit 
entgegen,    die   als    eine  ausdehnende  Kraft,    selbst    die  ausgedehnte 
Materie  überhaupt  erst  möglich  macht.    Diese  jedoch  ist  blofs  relative 
Undurchdringlichkeit,    weil  sie  zwar  durch  ''ine  ^röfsere  zusammen- 
drückende Kraft  vermindert,  aber  doch   niemals  gänzlich  aufgehoben 
werden    kann    (;]!)o).     Eine  Materie    durchdringt    nämlicli    in     ihrer 
Bewei^ning    eine    andere    nur  alsdann,    wenn  sie    dni-eli  Zusaniinen- 
drückun^^    den   Kaum    ihrer  Ausdehnung  völlig    auf  liebt   (:>!)!).      Da 
nun  die   Widerstandskraft  einc^'  Materie  mit   (hni  Graden   ihrer  Zu- 
sammendrückung   proportionieiiich    wachsen    mufs,     so    würde    zum 
gänzlichen   Durchdringen   einer  Materie  eine  Zusammentreil)ung  der- 
selben   in    einen     unendlich    kleinen    Kaum,     mithin    eine    unendlich 
zusammendrückende  Kraft  erfordert,    welche  alxr    selbst  uimniglicli 

ist  (892). 

Leider  wird  nur    dieser   Unterschied    zwischen    mathematischer 

und  dynamischer,  absoluter  und  relativer  Undurchdringlichkeit  ganz 
hinfällig,  falls  man,  wie  Kant,  die  Ausdehnung  der  Materie  so  un- 
mittelbar mit  ihrem  physikalischen  Grunde  verknüpft.  Denn  damit 
kettet  man  auch  die  beiden  Undurchdringlichkeiten  an  einander, 
und  die  eine  hebt  immer  die  Wirkung  der  anderen  auf.  Die  mathe- 
matische Undurchdringlichkeit  der  Ausdehnung  wird  unverständlich, 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


298 


*)  Stad  ler:  u.  a.  O.   77 


wenn  sie  von  dynamischen  Faktoren  getragen  wird,  und  die  dyna- 
mischen Faktoren  können  sich  nicht  verändern  und  die  Kelativität 
der  von  ihnen  repräsentierten  Undurchdringlichkeit  beweisen,  wenn 
sie  schon  selbst  mit  der  Ausdehnung  und  ihrer  mathematischen 
Undurchdringlichkeit  verbunden  sind.  Ein  Kaum,  der  schon  in 
allen  seinen  Teilen  erfüllt  ist,  kann  niclit  noch  einmal  durch  andere 
Teile  erfüllt  werden.  Eine  Kraft,  die  mit  der  Ausdehnung  un- 
mittelbar verwachsen  ist,  kann  nicht,  als  Kraft,  vermehrt  oder  ver- 
mindert werden.  Durch  die  Ausdehnung  wird  die  Kraft  fixiert, 
durch  die  Kraft  die  Ausdehnung  relativiert  oder  verflüssigt.  Man 
kann  es  verständlich  finden,  wie  eine  reine  Kraft  abnehmen  und 
wachsen,  eine  ausgedehnte  Materie  bei  leeren  Zwischenräumen  zu- 
sammengedrückt werden  kann;  aber  es  ist  gänzlich  unverständlich, 
wie  dies  bei  einer  an  die  Ausdehnung  gebundenen  Kraft  möglich 
sein  soll  ohne  Zuhilfenahme  von  leeren  Zwischenräumen  und  ohne 
dafs  die  alhu-tliche  Erfüllung  des  Kaumes  damit  aufgehoben  wird. 
Der  Grund  dieser  Widersprüche  liegt  nirgends  anders  als  in 
Kants  fundamentaler  Auffassung  der  Materie  und  des  Begriffs  der 
Kaumerfüllung.  Es  rächt  sich  hier,  was  in  seiner  Darstellung  des 
ersten  Grundsatzes  des  reinen  Verstandes  nur  als  eine  harmlose 
Flüchtigkeit  erschien,  aber  durch  die  Postulate  des  empirischen 
Denkens  schliefslich  zum  klarbewufsten  Grundsatz  erhoben  wurde, 
dafs  nämlich  Kant  die  Materie  oder  das  Keale  restlos  in  die  Em- 
pfindung hineinverlegt  und  sich  einbildet,  in  der  bewufsten  Wahr- 
nehmung der  ]\laterie  unmittelbar  schon  diese  als  solche  zu  besitzen. 
Die  walirgenommene  Materie  ist  selbstverständlich  eine  ausgedehnte, 
welche  den  Kaum  kontinuierlich  erfüllt:  ist  sie  mit  der  wirkbchen 
Materie  unmittelbar  identisch,  dann  mufs  natürlich  auch  diese  eine 
aus^-edehnte  sein.  Aber  ich  frage  :  was  hat  es  dann  noch  für  einen 
Zweck,  die  KaumerfüUung  der  Materie  auf  Kräfte  zurückzuführen 
und  ein  dynamisches  Prinzip  an  Stelle  des  mathematischen  zu  setzen, 
wenn  man  dieses  letztere  darum  doch  nicht  los  wird,  wenn  der 
unverständbche  Begriff  der  Kaumerfüllung,  den  man  erklären  wollte, 
in  dieser  Erklärung  doch  selbst  wieder  auftaucht?  Eine  solche 
Frkliirung  unterscheidet  sicli  in  nichts  von  der  bekannten  Art  der 
Definition  des  „idem  per  idem-,  welch.e  die  Logik  in  ihrer  Lehre 
von  der  Definition  unter  den  Fehlern  aufzählt.  Fs  wird  ja  den 
Materiabsten  gewifs  mit  Recht  zum  Vorwurf  gemacht,  dafs  sie  die 
Einheit  zweier  so  grundverschiedenen  Elemente,  wie  es  die  Kraft 
und  der  Stoff  sind,  in  ihrer  Materie  nicht  erklären  können.  Aber 
der  nämliche  Vorwurf  läfst  sich  auch  gegen  den  Dynamismus  Kants 
erheben,    und    es    macht  sachlich  keinen  Unterschied  aus,    ob  man 


H' 


294 


11    Kant  als  Naturphilosoph. 


die  Materie,  als  Einheit  von  (intelligibler)  Kral't  und  (aus^'edehntem) 
Stoti',  für  ein  transsuhjektives  Ding  an  sich  ansieht,   wie  Büchner, 
oder  ob  man  sie,   wie   Kant,   im  Subjekt  festhält  und  ihr  Sein  mit 
ihrem  Bewufstsein  für  identisch  erklärt.     Dafs  die  Kritfte,  wodurch 
wir  vermittelst  Stofs-    und    Druckemptindungen   überhaupt  erst  zum 
Bewufstsein    der    ausgedehnten    Materie    gelangen,    unserer    Wahr- 
nehmung   dieser  Materie  vorangehen  und    also,    wie  Kant  sich  aus- 
drückt, a  priori  sein  müssen,   ist  richtig;    aber   die  Frage  ist  eben, 
ob  es  erlaubt  ist,    die  zunächst  doch    blofs  subjektiven   Kräfte  ohne 
Weiteres  auch  auf  das  Objekt  der  Materie  zu  übertragen   und  diese 
in    ihrer    objektiven    Beschaffenheit  für  eine  Synthese  aus   Kiaft 
und  Ausdehnung  zu  erklären,    wie  sie  es  in  ilirem    subjektiven 
Dasein  für  uns,   als  Gegenstand  unserer  Wahrnehmung,  thatsächlich 
ist.     Dafs  aus  subjektiv-dynamischen  Faktoren  das  subjektive  Wahr- 
nehmungsbihl  eines  Ausgedehnten  entsteht,   lälst  sich  begreifen ;   aber 
wie    aus    objektiven    Kräften    eine    objektiv-ausgedehnte  Materie  er- 
wachsen  soll,     das    erscheint    völlig    rätselhaft,     und   dieser  Gedaidve 
verliert  nur  dann   seine   Ungeheuerlichkeit,     wenn    man,    wie    Kant, 
die     objektiven     und     subjektiven     IVozesse     unklar    durcheinander 

tliefsen  läfst. 

Ein    Ausweg    aus    allen   diesen  Schwierigkeiten  ist  nur  zu  ge- 
winnen,    wenn    man     die     Voraussetzung    fallen     läfst,     woraus     sie 
erwachsen    sind:    den    kantischen  Begritf    der   Haumeriullung    oder, 
was  dasselbe  sagen  will,    seine   unglückliche    Ineinssetzung   der   Em- 
ptindung  mit  der  Realität.      Wir  haben  bereits  früher  gesehen,  dafs 
sich    ein    wirklicher    Unterschied    zwischen     dem    Subjektiven    und 
Objektiven,   dorn   Idealen   und  llealen   nicht  fixieren  läfst,   wenn  man 
nicht     zwischen     beide     das     Mittelglied     einer     t  r  an  sc  e  nde  n  t  e  n 
Kausalität  einschiebt.     Man    mufs    anerkennen,    was    übrigens  auch 
Kant    selbst    schon    angedeutet    hat,    ohne    es   jedoch   weiter  auszu- 
führen,    weil    es    ihn    von    der   Unhaltbarkeit  seines  rationalistischen 
Grundbestrebens  hätte  überzeugen  müssen        man  mufs  anerkennen, 
dafs  der  ideale   Emptindiingsinhalt  und  das  ihn  bestimmende    Reale 
sich   wie   Wirkung    und    Ursache    zu    einander    verhalten,    dafs    die 
Empfindung    und    die    aus   ihr  entstehende    Wahrnehmung   zw^ar  das 
Reale  abschildert  und  auf  dieses  hindeutet,  aber  es  selbst  nicht 
ist,    so   wenig    wie    das    Bild    im  Si)iegel   der  Gegenstand,    den  es 
darstellt,    ist.      Hat    man    auf    diese   Weise    den    kantischen  BegrilV 
der    immanenten    Kausalität    als    eine  haltlose   Uiktion  durchschaut, 
dann    h()rt    damit   zwar    die  JVIaterie  auf,    ein   unmittelbarer  Gegen- 
stand des  Bewufstseins  und  a  jjriori   von   ihm  durchschaubar  zu  sein, 
sie  tritt  aus  der  Sphäre  der  Subjektivität  heraus  und  wird  zu  einem 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


2or> 


Ding  an  sich,  das  als  solches  nur  mittelbar  erkannt  wird,  und  ihre 
transcendenten  Eigenschaften  können  nur  mehr  a  posteriori  aus  ihren 
immanenten  Spuren  im  Bewufstsein  von  uns  erschlossen  werden,  allein 
es  hört  damit  auch  die  Notwendigkeit    auf,    der  Materie  selbst  Be- 
stimmungen beizulegen,  die  nur   widerspruchslos    sich   mit    einander 
vereinigen    lassen,    falls    ihnen    keine    objektive    Geltung    zukommt. 
Für  den  transcendentalen  Idealismus  Kants    ist  die  Raumerfüllung 
eine  objektive  Eigenschaft  der  Materie  als  solcher,  objektiv  nicht 
blofs   im  Sinne    einer   idealen    Objektivität    im  Gegensatz  zum  sub- 
jektiven  Pole  des  Bewufstseins,    sondern   als  unabtrennbare  Bestim- 
mung des  Realen  selbst.     Auf  dem  Standpunkt  des  transcendentalen 
Realismus    hingegen    ist    die   Raumerfüllung    und  mit  ihr  die  Aus- 
dehnung   zwar    auch    eine  objektive  Bestimmung  der  Materie,    aber 
dies  objektiv  bezeichnet  hier  nur  die  Stelle  im  Bewufstsein.   wo  das 
an    sich    Iranssuhjektive   Reale  sich    im    Subjekt  wiederspiegelt  und 
fällt    somit    aus    der  idealen  Si)häre  des  Bewufstseins  nicht  heraus. 
Damit  ist  die  Riiumerfüllung,   die  uns  unverständlich  erscheint, 
wenn  wir  sie  dem  Ding  an  sich  der  Materie  selbst  beilegen,  wirklich  in 
Kräfte  aufgelöst.      Raumerfüllung  (Ausdehnung)   und  Kraft  sind  auf 
zwei  verschiedene  Sj)hären  der  Existenz  verteilt :   die'Raumerfüllung 
ist  ideal,  die  Kraft  real,  die  Raumeriullung  ist  ein  reines  Vor- 
stellung smo  nie  nt    im    Bewufstsein,    die    Kraft    ein    Ele- 
ment   im  Bereich  der   Dinge    an   sich.     Die  Raumcrfüllung 
„bezeichnet-'   für  uns  das  Dasein  der  Materie,  aber  sie  ist  nicht 
diese    selbst;   sie    ist   das    charakteristische  Merkmal    und  der  Aus- 
gangspunkt,   von  dem  aus  wir  auf  den  Begritf  der  Materie  geführt 
werden,   aber  das  Merkmal  ist  nicht  der  Gegenständ.      Wir  würden 
es  nicht  anders  machen,    wie    die    Kinder,    die   nach   dem    Bild    im 
Spiegel    greifen,    w^enn    wir    die  Ausdehnung    mit   der  Materie  ver- 
wechselten.   Das  Bild  der  Materie  im  Be  wu  fstsein  ist  aus- 
gedehnt   und    räum  er  füllend,    die    Materie    selbst   ist 
nichts  als  Kraft.  Bezeichnen  wir  das  Ausgedehnte,'iden,Raum  Er- 
füllende,   das  Stereometrische  mit  dem    Worte:    Stoff,    so  ist   der 
Stoft^  durchaus   nur  Vorstellung  in  demselben  Sinne,  wie  es 
Farben,  Töne.  Gerüche  u.  s.  w.  sind:  er  ist  nur  der  subjektive 
Repräsentant    der   Materie    im    und    fürs    Bewufstsein:    was  er 
aber  repräsentiert,  das  ist  die  Kraft,    und  diese  ist  es  allein,  die 
in   der   Realität    den   Begriff":    Materie  ausmacht.     Materie  also  ist 
(transsubjektives)   Ding  an  sich  und  fällt  als  solche  nicht  unmittel- 
bar  ms  Bewufstsein ;    aber  der  Stoff  tallt  ins   Bewufstsein,    denn  er 
ist  nichts  als  die   rein  subjektive   Form,   worin  die  Materie  sich  für 
unsere  sinnliche  Anschauung  offenbart.     Materie  ist  das  Reale 


296 


B.   Kant  als  Natuq>hilosüph. 


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des  Stoffs,  der  Stoff  die  subjektiv- ideale  Erscheinung 
der  Materie.  Unser  Bewul'stsein  zerrt  die  an  sich  rein  in- 
tensiven Wirkungen,  die  es  von  der  Materie  erhalt,  in  die  Welt 
des  Extensiven,  Ausgedehnten  auseinander  in  derselben  Weise,  wie 
es  aus  den  Lult-  und  Ätherschwingungen  die  Welt  der  Time  und 
Farben  aufbaut;  es  kann  sich  aber  hierbei  nur  der  intensiven  oder 
Kraftwirkungen  bedienen,  weil  nur  die  Welt  des  Intensiven  zu  der 
idealen  Sphäre  des  Bewufstseins  in  Beziehung  treten  kann.  Wäre  also 
die  Materie  auch  an  sich  [lusgedehnt,  so  könnten  wir  davon  doch  nie- 
mals ein  unmittelbares  Bewufstsein  haben,  und  würde  (lies  doch  für 
die  Rolle,  welche  die  Materie,  als  vermittelndes  IMedium,  im  AVelt- 
prozefs  spielt,  ganz  gleicbgültig  sein,  weil  sie  ja  nur  mit  ihren 
Kräften  wirksam  sein  kann.  Daher  eben  ist  der  Materialismus  eine 
metaphysisch  unhaltbare  Weltanschauung,  weil  er  die  Prinzipien 
ganz  unnötiger  Weise  vervielfältigt  und  den  ausgedehnten  Stoff  zu 
einem  Ding  an  sich  erhebt,  ohne  doch  irgend  eine  Eigenschaft  des- 
selben angeben  zu  kiuincn.  die  zur  Erklärung  der  Erscheinungen 
etwas  beiträgt.  Der  Stofi',  welcher  dem  Materialismus  als  etwas  so 
Handgreifliches  erscheint,  dafs  er  nicht  einzuselien  vermag,  wie  man 
diesen  Urtypus  alles  Plausibeln  leugnen  könne,  dieser  Stoff  ist  m 
Wahrheit  das  Aller  unbegr  ei  fli  ch  ste ,  er  ist  das  absolut 
transcendente  Prinzip  in  keinem  andern  Sinn,  wie  es  das  Ding 
an  sich  für  den  Kantianer  ist.*) 

Der  kantische  Dynamismus  ist  selbst  Materialismus,   weil  er  im 
dem  Stoff  neben  der  Kraft  festhält,  und  zwar  ist  derselbe  im  Gegen- 


*)  Es    ist    für   eine  Theorie    der  Materie   von    fundamentaler    Wiehtijrkeit, 
diesen   Unterschied    zwischen  Materie    und  Stotl    zu  nuichen.     Dafs   die   beiden 
Begriffe    im    gewöhnlichen    Leben    und    selbst    in    der   Wissenschaft    meist    als 
WechselbegritVe   gebraucht  werden,    darf   für   (h-n   Philosophen    kein    Hindernis 
sein,  sie  streng  zu  unterscheiden,  sobald  es  das  Wesen  der  Dinge  verlangt.    Weder 
die  Engländer,  noch  die  Franzosen  sind  so  glücklich  daran,  für  die  Sache,  um 
die  es  sich  handelt,   in  ihrer  Sprache  zwei  verschiedene  Begriffe  zu  haben;  schon 
daran  liegt  es,  dafs  die  wahre,  d.  h.  idealistische,  dynamische,  Theorie  der  3raterie 
nur  in  Deutschland  zuerst  konse(iuent  ausgebildet  werden  koiuite,  während  bei 
jenen  andern  Völkern  die  Identität  der  BegritVe  doch  immer  wieder  dem  sinn- 
lichen   Wahrnehmungsbilde    des    Stoffes     das    Übergewicht    über    das     unwahr- 
nehmbare,  intelligible,  transcendente  Wesen    der  iMaterie   verschaift    und  damit 
dem  llückfall  in  den  Materialismus  Vorschub  leistet.     Aus  diesem  Grunde  sollte 
man    sich    doch  in  der  Wissenschaft   daran    gewöhnen,    zwischen   jenem  Wahr- 
nehmungsbilde, als  dem  „Stoff",  und  dem  Wesen  oder  der  transcendenten  Ursache 
desselben  als  der  „Materie",   zu  unterscheiden,  wonach  dann   freilich   diejenige 
Ansicht,  die  das  Wahrnehmungsbild  für  eine  transcendente  Realität  betrachtet, 
streng  genommen,    nicht    eigentlich    „iMaterialismus",    sondern   vielmehr    ..Stofl- 
lehre"  heifsen  müfste. 


U.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


2ü 


i 


satze  zum  vulgären  transcendenten  oder  objektiven  Materialismus 
bewufstseinsimmanenter .  subjektiver  Materialismus,  weil 
ihm  das  Dasein  der  Materie  mit  ihrer  Vorstellung  im  Bewufstsein 
zusammenfällt.  Ks  ist  kein  Zufall,  dafs  der  bekannteste  Gegner 
des  Materialismus,  der  Kantianer  All)ert  Lange,  in  seiner  Ge- 
schichte dieser  Weltanschauung  selbst  dem  Materialismus  so  sehr 
zugethan  und  eingestandenernuifsen  aufser  Stande  ist,  von  dem  rein 
sinnlichen  V'orurteil  des  Stoffes  sich  frei  zu  machen.*)  Alle  strengeren 
Anhänger  Kants  müssen  konsecjuenter  AVeise  Materialisten,  wenn 
auch  in  jenem  kantischen  Sinne  des  Wortes,  sein.  Daher  ist  es 
für  den  Kantapologeten  Stadler  mit  Kecht  eine  Frage  ,.von  grofser 
Tragweite,"  ob  die  Vorstellung  eines  reinen,  d.  h.  ausdehnungslosen. 
Kraftcentrums  möglich  sei :  ihre  Bejahung  würde  die  Voraus- 
setzungen der  kantischen  Pliih>soi)hie  selbst  aufheben.  Kein  \\' ander, 
wenn  Stadler  seine  ganze  Dialektik  aufwendet,  um  nachzuweisen, 
„dafs  die  Ausdehnung  als  notwendige  Eigenschaft  an  die  Materie 
gebunden-'  sei,  was  ihm  freilich  nur  gelingt,  indem  er  seine  Augen 
gänzlich  vor  jenen  Widersprüchen  verschlielst.  die  bei  dieser  An- 
nahme den  Begriffen  der  Elastizität  und  der  Zusammendriickbarkeit 
anhaften.*')  — 

Seine  falsche  Voraussetzung  mufs  natürlich  Kant  nui-  immei- 
tiefer  in  Widersprüche  und  Schwierigkeiten  verstricken.  Betrachten 
wir  zunächst,  wie  er  das  Problem  der  Teilbarkeit  der  Materie  er- 
örtert ! 

Bei  der  Teilung  der  Materie  kommt  es  darauf  an,  dafs  die 
einzelnen  Teile  selbst  wiederum  Materie  sind,  denn  nichts  Anderes 
bedeutet  der  Begriff  der  physischen  Teilung.  Nun  ist  Materie 
das  Bewegliche  im  Räume,  zugleich  aber  auch  das  Subjekt  alles 
dessen,  was  im  Haume  zur  Existenz  der  Dinge  gezählt  werden  mag. 
Dasjenige,  was  selbst  nicht  wiederum  blofs  als  Prädikat  zur  Existenz 
eines  Anderen  gehört,  das  letzte  Subjekt  der  Existenz  nennt  man 
Substanz.  Materie  ist  also  die  Substanz  im  Kaunie.  und  materielle 
Substanz  ist  dasjenige  im  Baume,  was  für  sich,  d.  i.  abgesondert 
von  allem  Anderen,  was  aufser  ihm  im  Räume  existiert,  beweglich 
ist.  Die  Teile  werden  sonach  (hinn  wiederum  Materie  heifsen  müssen, 
oder  eine  physische  Teilung  der  Materie  wird  alsdann  stattfinden, 
wenn  jene  selbst  Substanzen,  d.  h.  .,wenn  sie  für  sich  beweglich 
und  also  auch  aufser  der  Verbindung  mit  anderen  Nebenteilen  etwas 
im  Räume  Existierendes  sind"  (31i4).     Da  nun  der  Raum,  weichen 


*)  Lange:  Geschichte  des  Materialismus.  L>.  Aufl.   Bd.  II,  insbes.  S.  212.  213. 
'*)  Stadler:  a»  a.   O.   7.3  ii'. 


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298 


B.    Kant  als   Naturphilosoijh. 


die  Materie  erfüllt,  ins  UnendliclH;  iiia theiiiHtiscii  teilbar  ist,  oder 
da  seine  Teile  ins  Unendliche  unterschieden  werden  können,  muls 
auch  das  Gleiche  von  der  Materie  an«,renoninien  werden,  und  da  in 
einem  mit  Materie  erfüllten  Kaume  jeder  Teil  desselben  rci)ulsive 
Kraft  enth.alt,  zurückstöfst  und  zurückgestofsen  wird,  so  mufs  folglieh 
ein  jeder  Teil  eines  durch  Materie  erfüllten  Raumes  für  sich  selbst 
beweglich,  mithin  trennbar  von  den  übrigen  als  materielle  Substanz 
durch  physische  Teilung  sein,  oder  mit  anderen  Worten:  so  weit 
sich  die  mathematische  Teilung  des  Raumes,  den  eine  ^Materie  er- 
füllt, erstreckt,  so  weit  erstreckt  sich  auch  die  mr)gliclie  ])hysische 
Teilung  der  Substanz,  die  ilin  erfidlt.  ,.  Die  Materie  ist  ins  Un- 
endliche t  e  i  1  b  a  r .  und  zwar  in  Tcih\  deren  jeder  selbst  wiederum 
materielle  Substanz  ist''   (ebd.  f.). 

Dafs    die    Materie    ins    Unendliche    physisch    teil!)ar    sei,     wird 
keineswegs   schon   dadurch  bewiesen,    weil  sie  es  in  mathematischer 
Hinsicht  ist.      Es  bedarf  hierzu  vielmehr  noch  des  besonderen  Nach- 
weises,   dafs    in   jedem    aller  möglichen   Teile    des  erfiÜlten  Raumes 
auch   wirklich   Substanz  sei,   die  folglich   auch,     abgesehen   von   aUen 
idn-igen,    als  für  sich    beweglich  existiert.      Erst  hierdurch  wird  der 
mathenuitische  zum  ])liysischen  Lehrsatz    und  gehört  nun  als  solcher 
vor  das    Forum    der   Philosophie,     wo    die   Matliematik   aufhört,   eine 
zuständige  Richterin  über  umzusein:   ,.  Die  Mathematik  kann  zwar 
in  ihrem   inneren  Gebrauche    in   Ansehung    der   ('hikane    einer  ver- 
fehlten Metaphysik    ganz   gleichgültig    sein    und    im    sicheren    Besitz 
ihrer  evidenten    Hehauptungen    von  der   unendlichen  Teilbarkeit  des 
Raumes  beharren,  was   für  Einwürfe  auch  eine  an   blofsen  Begriffen 
klaubende   Vernünftelei  dagegen  auf  die    Bahn   bringen  mag;  aliein 
in    der    Anwendung    ihrer    Sätze,    die    vom   Räume    gcdten,    auf 
Substanz,    die    ihn    erfüllt,     mufs    sie    sich    doch  auf  Prüfung  nach 
blofsen  Begriffen,   mitliin  auf  Metaphysik  einlassen"   (:)})T.   '.W)^)). 

Es  hiefse  den  mathenuitischen  mit  dem  nu^taphysischen  Stand- 
punkt verwirren,  wenn  man  etwa  gegen  diese  Annahme  einwenden 
wollte,  sie  werde  dem  Mathematiker  nicht  gerecht,  wonach  die 
rei)ulsiven  Kräfte  der  Teile  elastischer  Materien  bei  gröfserer  oder 
kleinerer  Zusammendiückung  der  letzteren  in  einem  bestimmten 
Verhältnis  i  h  r  e  r  E  n  t  f  e  r  n  u  n  g  e  n  v  o  n  e  i  n  a  n  d  e  r  stehen.  Wenn 
die  Materie  als  solche  ausgedehnt  oder  stofflich  und  jeder  Teil  des 
Raumes  mit  ihr  erfüllt  ist,  dann  kann  ja  von  Entfernung  nicht  die 
Rede  sein,  und  die  ganze  Rechnung  des  Mathematikers  mufs  hin- 
fällig werden,  da  sie  sich  auf  etwas  Unwirkliches  bezieht.  In- 
dessen verfehlt  man  nach  Kant  gänzlich  den  Sinn  der  Mathematik 
und  mifsdeutet  ihre  Sprache,    wenn    man    das,    was  zum  Verfahren 


II.    Die  kritische  Naturphilosophie. 


der  Konstruktion  eines  Begriffes  notwendig  gehört,  dem  Begriffe 
im  Objekt  selbst  beüegt.  ,,Denn  nach  jenem  kann  eine  jede  Be- 
rührung als  eine  unendlich  kleine  Entfernung  vorgestellt  werden. 
Bei  einem  ins  Unendliche  Teilbaren  (hirf  darum  noch  keine  wirk- 
hche  Entfernung  der  Teile,  die  bei  aller  P^r Weiterung  des  Ixaumes 
des  Ganzen  immer  ein  Continuum  ausmachen,  angenommen 
werden,  obgleich  die  Mr)glichkeit  dieser  Erweiterung  nur  unter  der 
Idee  einer  unendlich  kleinen  Entfernung  anschaulich  gemacht  werden 
kann-'  (:){)()).  Ganz  anders  steht  es  mit  dem  Einwand,  welchen  die 
Metaphysik  von  ihrem  Standpunkt  aus  gegen  die  Annahme  der 
unendlichen  Teilbarkeit  der  .Alaterie  erhebt.  Kant  selbst  vermag 
sich  dessen   Bedeutsandceit  nicht  zu  verhehlen. 

Es  wird  nändich  hierbei  eine  unendliche  Menge  von  für  sich 
bestehenden  Teilen  angenommen,  „deren  Begriff  es  schon  mit  Mch 
führt,  dafs  sie  niemals  volleiulet  vorgestellt  werden  könne",  d.  h.  wir 
sind  damit  glücklich  in  den  Widerspruch  einer  vollendeten  Unendlich- 
keit hineingeraten,  den  Niemand  mit  Recht  so  sehr  ))ekämj)ft  liat. 
wie  gerade  Kant.  „Man  kann  wohl  von  einer  endlosen  Teilbar- 
keit des  Raumes  und  auch  ihr  ihn  erfüllenden  Materie  sprechen: 
bei  solcher  entstehen  die  wirklichen  Teile  erst  in  Folge  der  wirk- 
lichen fortschreitenden  Teilung  und  haben,  als  Teile,  vorher  keinen 
Bestand,  sondern  liiefsen  bis  dahin  mit  dem  gröfseren  Räume  oder 
der  Materie  in  Eins  zusammen.  Allein  etwas  Anderes  ist  es.  wenn 
ich,  wie  Kant  es  thut,  die  Materie  mit  repulsiveii  Kräften  ihrer 
Teile  ausstatte;  dann  müssen  diese  Kräfte,  also  auch  die  Teile  der 
Materie,  an  der  sie  haften,  schon  vor  der  ausgeführten  Teilung 
bestehen,  und  dann  ist  der  Widerspruch  olfen  vorhaiuh  n,  dafs  die 
letzten  Teile,  deren  Unerreichbarkeit  in  der  unendlichen  Teilbarkeit 
ausdrücklich  gesetzt  ist,  dennoch  als  mit  Kräften  ausgestattet. 
d.  h.  als  vorhanden  und  existieiend.  behauptet  werden". ^^)  Kant  mufs 
die  Berechtigung  dieses  Einwandes  vom  Standi)unkt  der  dogmatischen 
Metaphysik  aus  zugeben:  „Denn  ein  (ganzes  mufs  doch  alle  die  Teile 
zum  voraus  insgesamt  schon  in  sich  enthalten,  m  die  es  geteilt  werden 
kann.  Der  letztere  Satz  ist  auch  von  eineai  jeden  Ganzen,  als 
Dinge  an  sich  selbst,   angezweifelt  gewifs-'^-^-^  (3JJ7). 

Wie  nun?  soll  man  dem  Geometer  zum  Trotze  sagen:  der 
Raum  ist  nicht  ms  Unendliche  teilbar,  oder  dem  Metaphysiker  zum 
Ärgernis:    der  Raum    ist  keine   Eigenschaft    eines  Dinges    an    sich 

*)  V.  Kirchiiiaiiii:   a.  a.  O.    13. 

**)  Wobei  es  freilich  unerklärlich  bleibt,  wie  Kant  von  den  nach  seiner 
Meinung  pänzlich  unbekannten  Din.iren  an  sich  „unzweifelhait  Gewisses-'  aus- 
sacren  kann. 


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300 


B.    Kant  als  Natur[)hilosoph. 


und  also  die  Materie  kein  Ding  an  sich  selbst,  sondern  blol'se 
Erscheinung  unserer  äufseren  Sinne  überiuiupt,  sowie  der  Eaum  die 
wesentliche  Form  derselhen?  Das  erste  wäre  ein  „leeres  Unter- 
fangen, denn  Mathematik  läl'st  sich  nichts  wegverniinftehr'  (;i98). 
Kant  entscheidet  sich  daher  für  die  andere  Annahme,  dafs  Materie 
und  Raum  nur  subjektive  Vorstelhingsarten  uns  an  sich  unbekanntei- 
Gegenstände  seien.  „Denn  was  nur  dadurch  wirklich  ist,  dafs  es 
in  der  Vorstellung  gegeben  ist,  davon  ist  auch  nicht  mehr  gegeben, 
als  soviel  in  der  Vorstellung  angetroffen  wird,  d.  i.  soweit  der 
Progressus  der  Vorstellungen  reicht.  Also  von  Erscheinungen,  deren 
Teilung  ins  Unendli(;he  geht,  kann  man  nur  sagen,  dafs  der  Teile 
der  Erscheinung  soviel  sind,  als  wir  deren  nur  gehen,  d.  i.  soweit 
wir  nur  immer  teilen  mögen"  (;]\}S).  Hier  existieren  die  Teile,  als 
zur  fCxistenz  einer  Erscheinung  gehörig,  nur  in  (t  e  d  a  n  k  e  n  , 
nämhch  in  der  Teilung  selbst.  „Nun  geht  zwar  die  Teilung  ins 
Unendliche,  aber  sie  ist  doch  niemals  als  unendlich  gegeben: 
also  folgt  daraus  nicht,  dafs  das  Teilbare  eine  unendliche  Menge 
Teile  an  sich  selbst  und  aufser  unserer  Vorstellung  in  sich 
enthalte,  darum  weil  seine  Teilung  ins  Unendliehe  geht.  Denn  es 
ist  nicht  das  Ding,  sondern  nur  diese  Vorstellung  desselben,  deren 
Teilung,  ob  sie  zwar  ins  Unendliche  fortgesetzt  werden  kann,  dennoch 
niemals  vollendet,  folglich  ganz  gegeben  werden  kann  und  also 
auch  keine  wirkliche  unendliche  ]\lenge  im  Objekte  (als  die  ein 
ausdrücklicher  AViderspruch  sein  würde)  beweiset*'  (ebd.). 

Wir  haben  hier  eine  der  wenigen  Stellen  vor  uns,  wo  die  meta- 
physischen Anfangsgründe  ausdrücklich  auf  die  Resultate  der  Ver- 
nunftkritik sicli  stützen,  obwohl  Kant  t'S  unbegreiflicher  Weise  unter- 
läfst,  auf  den  Zusammenhang  dieser  Stelle  mit  der  zweiten  seiner 
Antinomieen  hinzuweisen.  Da  wir  diese  haben  verwerfen  müssen, 
so  können  wir  auch  in  seiner  Berufung  auf  den  transcendentalen 
Idealismus  nicht  mehr  als  eine  ausweichende  Wendung  erblicken, 
wodurch  die  Schwierigkeiten  des  in  Krage  stehenden  Problems  nicht 
aufgehoben  w^erden.  Es  heilst  nun  einmal  nicht,  einen  Widerspruch 
lösen,  wenn  man  ihn  einfach  von  dem  objektiven  ins  subjektive  Gebiet 
hinüberspielt.  Denn  der  Widerspruch,  der,  falls  er  ein  objektiver 
ist,  als  eine  reale  Thatsache  einfach  hingenommen  werden  müfste, 
wird  zur  Unerträglichkeit,  wenn  und  solange  er  dem  Geiste  selbst 
anhaftet.  In  der  Vernunftkritik  hatte  die  kantische  Lösung  der 
Antinomie  doch  innnerhin  noch  einige  Wahrscheinlichkeit;  in  der 
Dynamik  der  metaphysischen  Anfangsgründe  hat  sie  auch  diese 
nicht  mehr,  weil  hier  Kant  jedes  einzelne  Teilchen  des  Raumes 
vorher  schon  mit  repulsiven  Kräften  ausgestattet  hat,  und  man  doch 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


301 


nicht  annehmen  kann,  dafs  diese,  ebenso  wie  die  Teile,  erst  in  dem 
Augenblick  entstehen,  wo  die  Teilung  in  Gedanken  ausgeführt  wird. 
Es  hilft  daher  auch  gar  nichts,  wenn  Kant  zur  Bestätigung  seiner 
Ansicht  sich  auf  Leibniz  beruft  (H{)!)f. ).  Mag  dieser  immerhin 
behauptet  haben,  der  Raum  samt  der  Materie  enthalte  nicht  die 
Welt  von  Dingen  an  sich  selbst,  sondern  nur  doren  Erscheinung 
und  sei  nur  die  Form  unserer  äufseren  sinnlichen  Anschauung:  den 
gleichen  Sinn,  wie  Kant,  hat  er  doch  jedenfalls  nicht  mit  diesem 
Satz  verbunden,  deini  Leibniz  hat  niemals  aufgehiüt.  eine  Welt 
von  realen  Dingen  an  sich  und  deren  begriffliche  Erkennbarkeit 
vorauszusetzen. 

Mit  seiner  Rehauptung,  dals  die  Materie  als  solche  stofflich 
sei,  hat  Kant  sich  thatsächlich  in  ein  Labyrinth  verirrt,  aus  dem  er 
nicht  m(dir  herausfinden  kann.  Wie  anders  nimmt  sich  gegen 
diese  Hilflosigkeit  die  spekulative  Kühnheit  aus.  womit  er  früher  in 
seiner  Physischen  Monadologie  die  Schwierigkeiten  des  Unendlichkeits- 
Problems  zu  überwinden  wufste !  Damals  hatte  Kant  thatsächlich 
den  Widt'i-spruch  zwischen  der  unendlichen  Teilbarkeit  des  ]\aumes 
und  dem  logischen  Postulat  einer  endlichen  Anzahl  von  Substanzen 
dadurch  gelöst,  dafs  er  die  Substanz  als  solche  gänzlich  vom  Räume 
unterschieden  liatte.  Er  hatte  angenommen,  das  Stoffliche  oder  die 
Ausfüllung  des  R:iunies  beruhe  nur  auf  den  repulsiven  Kräften 
der  Monade,  als  dem  ])unktuellen  Sitz  der  Kraft,  teilhar  sei  also 
nur  die  i'äumliche  S])häre  seiner  Wirksamkeit .  aber  nicht  das 
wirkende  bewegliche  Subjekt  selbst.  Jetzt  weist  er  diese  Ansicht 
der  Monadisten  weit  von  sich  und  hehauptet,  die  Hypothese  eines 
Punktes,  der  durch  hlofse  treibende  Kraft  uihl  nicht  vermittelst 
anderer  gleichfalls  zurückstofsenden  Kräfte  einen  Kaum  erfüllt,  sei 
„gänzlich  unmöglich*',  ja,  er  unternimmt  es  sogar,  dies  durch  ein 
Beispiel  zu  beweisen.  Er  meint  nänüich.  zwischen  je  zwei  Punkten 
A  und  a  welche  den  Halbmesser  der  Si)häre  der  Wirksamkeit  von 
A  bezeichnen,  könne,  so  klein  man  sich  auch  diese  Entfernung 
denken  möge,  immer  noch  ein  drittel-  Puid<t  c  angenommen  werden. 
d(T  ebenso  den  beiden  Punkten  A  und  a  widerstehen  müsse,  wie 
A  demjenigen  widerst(>ht.  was  im  Punkte  a  der  Sphäre  seiner  AVirk- 
samkeit  einzudringen  trachtet,  und  zwar  weil  diese  sonst  ungehindert 
sich  einaiuler  nähern,  mithin  im  J\udvte  c  zusammentrefien.  d.  h.  den 
Raum  durchdringen  wünkm  (.SOf)  f.).  Ohne  näher  auszuführen,  dafs 
dieser  Schluls  sich  ebenso  für  den  zwischen  A  und  c  liegenden  Punkt 
I)  und  in  derselhen  Weise  bis  ins  Unendliche  wiederhohMi.  die  An- 
nahme mithin  in  den  Widers])ruch  einer  vollendeten  Unendlichkeit 
verwickeln    würde,     ist    sie    auch    darum    schon     unhaltl»ar.    weil 


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ß.    Kant   als  Natur}»hilos()})h. 


ja  Tiaoh  der  Lehre  der  Monadistei)  ii  und  alle  zwisclien  ihm  und  A 
liegenden  i^inkte,  lediglich  Punkte  im  Kaum  darstellen,  mithin 
schon  durch  die  Katur  des  letzteren  hinreichend  von  einander  unter- 
schieden und  gesondert  sind.  „Das  einzig  Tliiitige  ist  hier  die 
Mon:ide  in  A  ;  alle  l^mkte  im  Eaume,  der  sie  umgieht.  sind  dagegen 
völlig  trüge  und  hahen  für  sich  weder  eine  anziehende,  noch  al)- 
stoi'sende  Kraft;  sie  sind  hlofs  von  der  abstofsenden  Kraft  der 
Monade  erfüllt  und  nur  vernni^e  dieser,  nicht  vermöge  eigener 
Kraft  halten  sie  andere  Monaden  von  der  Ainiälierung  zu  sich  ah. 
Deshalb  ist  es  falsch,  dafs  ohne  eine  repulsive  Kraft  in  c  die  Punkte 
A  und  a  sich  nähern  und  in  c  zusammenfallen  würden,  und  damit 
fallt  der  ganze  P>eweis  gegen  die  i\Ionadenlehre,  die  Kant  selbst 
in  seiner  Dissertation  mit  grofsem  (jeschick  verteidigt  hat.-'*) 

Stadler  nennt  die  Entwickeliing  dieser  Lehre  Kants  von  der 
Physischen    IVFonadologie    zu     den    metaphysischen    Anfangsgründen 
,.einen    l)e(leutsamen    P^rtrag    den-    kritischen  Umwälzung/'*')      Wer 
ihre    frühere  Darstellung    mit    dieser  Umarbeitung    unbefangen  ver- 
crleicht.     der  wird    freilich    in   dieses   Lob    nicht   einstimmen   kiniiien. 
Bedenkt    man,    welche  ]^)lle    früher    das  Unendlichkeitsproblem   m 
seinem  Denken  spielte,  wie  es  mehr  als  einmal  an  den  Wen(lej)unkt(Mi 
seiner  gedanklichen    Entwickelung    ihm    zur  Gewinnung    der  niichst- 
hr.heren   Stufe  verhalf,    und    mit  wie    sicherem  Takte  Kant    überall 
mit  ihm   fertig  zu   werden  wnl'ste,  so  muls  die  Art  und   Weise,   wie 
er  ihm  jetzt  einfach  aus  dem  Wege  zu  gehen  und  die  frühere  geniale 
Konzeption  durch  soi)histische  (TCgenbeweise  in  MifsknMÜt  zu  bringen 
sucht,  einen  überaus  kläglichen  P^indruck  machen.     Es  kann  ])ietätslos 
erscheinen,   dies  so  offen  auszusprechen,  aber  ^'o  eine  kritiklose  Be- 
wunderung vor  den  grofsen  Leistungen  Kants  und   ein  blindgläubiges 
Nachbeten  seiner    transeendental-idealistischen    Dogmen    sich    gegen 
jede  andersartige  Meinung  i)rinzipi(41  ablehnend  verhält,   da  wird  die 
Pietät  nur  allzu  leicht  zum  äufseren  Deckmantel  (Muer  schwächlichen 
(lesinnung,  und  während  die  falschen  Ansichten  eines  Mannes,  wie 
Kant,   pietätvoll  beschiuiigt  und  gehätschelt  werden.    l)h)fs    weil    sie 
das  Zeichen    seines  Geistes  tragen,    wird  dadurch    die   Wissenschaft 
auf  ihrem   Wege  aufgehalten.   — 

Die  Aufgabe  der  Dynamik  bestand  darin,  den  Begriff  der 
Materie,  als  des  Beweglichen,  das  den  j^aum  erfüllt,  zu  konstruieren, 
d.  h.  ihn  auf  diejenigen  Kräfte  zurückzuführen,  welehe  jenen  Be-^riff 
in  unserem  Verstände  zusammensetzen.     Jst  nun   diese  Aufgabe  mit 


Jl.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


30c 


der  Aufstellung  einer  repulsiven  Kraft  gelöst?  Diese  Frage  müssen 
wir  verneinen.  „Die  Materie  würde  durch  ihre  repulsive  Kraft  allein 
innerhalb  keinen  Grenzen  der  Ausdehnung  gehalten  sein.  d.  i.  sich 
ins  Unendliche  zerstreuen,  und  in  keinem  anzugebenden  Ixanme 
würde  eine  anzugebende  Quantität  Materie  anzutreifen  sein.  Folglich 
würden  bei  blofs  repellierenden  Kräften  der  Materie  alle  Päume 
leer,  mithin  eigentlich  gar  keine  Materie  da  sein''  (4<HI).  Es  möchte 
scheinen,  als  ob  die  repulsive  Kraft  vielleicht  könnte  ..durch  sich 
selbst  eingeschränkt  werden."  Aber  dies  ist  unmöglich,  ,.weil  die 
Materie  dadurch  vielmehr  bestrebt  ist,  den  Raum,  den  sie  erfüllt, 
kontinuierlich  zu  erweitern".  Die  Materie  kann  auch  nicht  durch 
den  Baum  allein  iinierhalh  einer  gewissen  (grenze  der  Ausdehnung 
festgehalten  werden.  ,.  Denn  dieser  kann  zwai'  den  Grund  davon 
enthalten,  dafs  bei  Erweiterung  des  Volumens  einer  sich  ausdehnenden 
Materie  die  ausdehnende  Kraft  im  umgekehrten  Verhiiltnisse  schwächer 
werde,  aber  weil  von  jeder  l)e\\egenden  Kralt  ins  Unendliche  kleinere 
Grade  möglich  sind,  niemals  den  (irund  enthalten,  dafs  sie  irgendwo 
aufhöre'^   (ebd.). 

Aber  kann  durch  die  Zeistieuung  der  Materie  ins  Unendliche  ein 
leerer  Baum  entstehen?  Diesen  Einwand  hat  Schwab  gegen  Kant 
erhoben,  wenn  er  die  Entstehung' derartiger  leerer  l^äume.  als  im  ^\'i(ler- 
spruche  mit  der  unendlichen  ^JVulbarkeit  des  Baumes,  zurückweist. 
Er  sagt:  ,.Li  der  That  ist  unter  der  Voraussetzung,  dafs  die  Materie 
ins  Unendliche  teilbar  ist,  eine  jede  noch  so  kleine  l^)rtion  ]\Iaterie, 
deren  Teile  eine  zurückstofsende  Kraft,  mithin  eine  Tendenz  haben, 
sich  von  einander  zu  entfernen,  eine  unversiegbare  Quelle  von  Aus- 
strömungen, die  nach  allen  Richtungen  gehen  und  sich  im  un- 
endlichen Baume  verbreiten.  Daraus  also,  dafs  die  Materie  sich 
ins  Unendliche  zerstreut,  folgt  keineswegs,  dafs  alle  J^äume  leer 
und  keine  ]\Iaterie  mehr  vorhanden  sein  werde.*'*)  Stadlei-  nimmt 
Kant  auch  hiergegen  in  Schutz,  indem  er  bemerkt,  der  leere  Baum 
werde  von  diesem  ja  nur  als  die  Grenze  aufgefafst,  welcher  sicli  der 
Zustand  der  iVIaterie  im  Laufe  der  Zeit  immer  mehr  nähern  würde. 
„Da  Materie  nicht  entstehen  kann,  so  würde  das  vorhandene  t^uantuni 
der  Materie  sich  mit  der  Zeit  in  einen  imnu'r  gröfseren  Baum  aus- 
l)reiten.  Das  in  irgend  einem  bestimmten  Baume  gegebene  (^)uantum 
Materie  würde  daher  immer  kleiner  werden,  würde  der  (Trenze  () 
zustreben,  und  der  betreffende  Baum  wäre  von  einem  leeren  gar 
nicht  mehr  zu  unterscheiden."**)     Allein  wenn  die  ]\raterie  als  solche 


*  )  V.  K  i  rchina  n  n:  a.  a.  O    4J. 
**)  Stadler:   a.  a.  O.  öJ. 


*)  Schwal):  a.  a.  O.  ;J7. 
**j  Stadler:  a.  a.  ().  8(i  f. 


1 


304 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Natur})hilosophie. 


305 


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ausgedehnt   ist  und   den  Kaum  vollkommen   bereits   ausfüllt,    worin 
sie  sich  befindet,  so  ist  ein  derarti.cjes  Entweichen    eines  (Quantums 
Materie  aus  einem  bestimmten  Räume  eben  ganz  unmö^^lich,  es  sei 
denn,  dafs  leere  Zwischenräume  schon  vorhanden  wären,  deren  An- 
nahme ja  Kant  durch  seine  Lehre  gerade  zu  umgehen  sucht.     Dabei 
vermag  Stadler    seine  Verteidigung  Kants   auch   nur   dadurch  zu 
führen,    dafs    er  dessen   Worten    einen  Sinn    unterlegt,    der  in  ihnen 
unmittelbar   nicht  enthalten    ist.     So    stützt    er  sich   auf  das  Wort 
„eigenthch^'  bei  Kiuit  und  meint,   Kant  habe  sagen  wollen:    „es  wäre 
noch  Materie  da.  aber  nur  nneigentliche,  d.  h.  Materie  von  unendlich 
kleiner  Masse ;  sie  würde  existieren,  aber  nur  für  den  X^'rstand.  nicht 
mehr    für    die    Anschauung."*)     Diese   Einschränkung    kann    seihst 
vom  Standpunkte  des  transcendentalen  Idealismus  aus  nicht  für  zu- 
lässig gelten.      Denn  Materie    ist   nicht  Ding   au  sich,    sondern    Er- 
scheinung, ist  Gegenstand  einer  miiglichen  Anschauung:  ist  sie  dies 
nicht,    so  ist    sie  überhaupt   nicht   -   eine    „uneigentliche  Materie,-' 
die  niemals  Gegenstand   einer    irgend    wie   gearteten  sinnlichen   An- 
schauung   werden    kann,    ist    cm    widersinniger    liegritf.    und    eine 
Philosophie,    die   Anspruch    darauf   erhebt,    eine    kritische    zu    sein, 
wird  gut  thun,  sich  seiner  nicht  zu  bedienen.      Wenn  Stadler  zu- 
giel)t,   dafs  überhaupt  noch  ]\laterie  da  ist.   wie  unendlich   klein  auch 
ihre  Masse   sein   möge,    so    ist   damit    die    kantische    Besorgnis    vor 
einem  durch  die  Zerstreuung  der  iVIaterie  entstehenden  leeren  llaum 
für  unbegründet  (^rklärt.     So  sieher,    wie    das    Vorhandensein    einer 
Materie  für  Kant  ist,    auch   dort   wo  unmittelbar    nur   leerer  Kaum 
zu  sein    scheint,    so    sicher   niüfste.    vorausges(^tzt,    dafs    der    Begrifl" 
der  Materie  überhaupt  im  Vi  rstande  einmal  feststeht,   ihre   Existenz 
behauptet  werden,  auch  wo  sie  selbst  von  so  unendlich  kleiner  Masse 
ist,   dafs  sie  nicht  unmittelbar  in  die  Anschauung  hineinfällt ;   es  be- 
dürfte   dann    eben    nur    einer    feiner    organisierten    sinnlichen    An- 
schauungsart,  um  sie  als  solche  auch   wahrnehmen   zu   kiunu^n. 

So  zieht  die  falsche  Fundamentalvoraussetzung  einer  stoiflichen 
Materie  ihre  verderblichen  Kreise  immer  weiter  und  wird  auch 
Schuld  daran,  dafs  die  Al)leitung  der  zweiten  Gi-undkraft  der  Materie 
nicht  als  genügend  betrachtet  werden  kann.  Aus  der  Möglichkeit 
einer  Zerstreuung  der  Materie,  welche  den  Hegriif  derselhen  zer- 
stih-en  würde,  falls  sie  blol's  repulsive  Kraft  besäfse.  schluMst  nändich 
Kant,  es  müsse  neben  dieser  noch  eine  andere  in  entgegengesetzter 
Richtung  der  reimlsiven,  mithin  zur  Annälierung  wirkende,  d.  h. 
eine  Anziehungskraft,    angenommen  werden  {:\s\)).     „Da    nun 


•)  Ebd.  87, 


diese  Anziehungskraft  zur  JMöglichkeit  einer  Materie,  als  ^laterie. 
überhaupt  gehört,  folglich  vor  allen  Unterschieden  derselben  vorher- 
geht, so  darf  sie  nicht  blofs  einer  besonderen  Gattunix  derselben, 
sondern  mufs  jeder  Materie  überhau])t.  und  zwar  ursprünglich 
beigelegt  werden.  Also  kommt  aller  Materie  eine  ursprüngliche 
Anziehung,  als  zu  ihrem  AVesen  gehörige  Grundkraft,  zu  (40 1). 

Die  iVlaterie  ist  sonach  das  Resultat  aus  zwei  Grundkräften. 
der  Anziehungs-  und  der  Al)stofsungskraft.  So  wenig  die  Abstofsungs- 
kraft  für  sich  allein  ausreicht,  um  die  den  Raum  erfüllende  Materie 
verständlich  zu  machen,  so  wenig  vermag  dies  auch  die  Anziehungs- 
kraft. Wenn  bei  der  Annahme  einer  blolsen  Abstol'sungskraft  die 
Materie  sich  ins  Unendliche  zerstreuen  und  keinen  Raum  einnehmen 
würde,  so  würden  infolge  einer  blofsen  Anziehungskraft  alle  Teile 
der  Materie  sich  ohne  Hindernis  einander  nähern,  sie  würden  in  einen 
mathematischen  l^udvt  zusammenfallen,  und  der  Kaum  würde  eben- 
falls leer,  mithin  ohne  Materie  sein.  Die  eine  Kraft  setzt  also 
immer  die  andere  voraus  und  erfordert  sie,  wenn  sich  uns  der  Begriff 
der  Materie  nicht  in  Nichts  verflüchtigen  soll.  In  dw  diskursiven 
Betrachtung  war  es  nötig,  jede  zunächst  für  sich  allein  zu  erwägen, 
um  zu  sehen,  was  sie  „zur  Darstellung  einer  Materie  leisten"  könnte. 
In  der  Wirklichkeit  vermag  keine  ohne  die  andere  zu  sein,  weil 
erst  aus  ihrem  Zusammenwirken  die  Materie  entstehen  kann  (402  f.). 

Damit  dafs  also  beide  Kräfte  gleich  notwendig  sind,  um  den 
Begriff  der  Materie  zu  konstruieren,  scheint  es  nun  schwer  vereinbar 
zu  sein,  dals  sie  in  unserer  Betrachtung  nicht  den  gleichen  Rang 
einnehmen.  „AVenn  Anziehungskrait  selbst  zur  Möglichkeit  der 
M^aterie  urs])i'ünglich  erfordert  wird,  warum  bedienen  wir  uns  ihrer 
nicht  ebensowohl,  als  der  Undurchdringliehkeit  zum  <'rsten  Kenn- 
zeichen einer  Materie?  warum  wird  die  letztere  unmittelbar  mit  dem 
Begriffe  einer  Materie  gegeben,  die  erstere  aber  nicht  in  dem  Be- 
griffe gedacht,  sondern  nur  durch  Schlüsse  ihm  beigefügt?*'  (401). 
Offenbar  nur  darum,  weil  die  Zurückstol'sung  uns  sinniich  gegeben 
ist.  Jn  den  Empfindungen  des  Druckes  und  Stofses  glauben  wir 
sie  uninittell)ar  wahrzunehmen,  wohingegen  die  Anziehung  uns  in 
keiner  Em])Hndung  gegeben,  das  Objekt  uns  durch  sie  nicht  räumlich 
hestimmt,  ja,  bei  ihr  uns  nicht  einmal  der  Ort  bekannt  ist.  aus  dem 
heraus  sie  ihre  Wirksamkeit  äufsert.  Das  ist  die  Ursache,  warum 
diese  „uns  als  Grundkraft  so  schwer  in  den  Kopf  will,"  und  uns 
als  die  nächste  Bestimmung  der  raumertüllenden  Materie  die  Un- 
durchdringlichkeit erscheint  (ebd.  f.). 

Trotzdem  wäre  es   sehr  übereilt,  die  Anziehung  darnm  weniger 
für  eine  Grundkraft  zu  halten,    weil    sie  nicht  sinnlich  gegeben  ist. 

D  r  e  w  ö  ,  Kants  Naturphilosophie.  2U 


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306 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


Es  ist  ja  ganz  richtig,    dafs    die  Repulsion   sich  uns  unmittelbar  in 
der    Berührung    der  Materien    offenbart,    ja,    die    Berührung    ist 
schliefslicli    auch    selbst    nur    ein    Effekt    der    Undurchdringlichkeit. 
Berührung  in  mathematischem  Sinne  ist  die  gemeinschaftliche  Grenze 
zweier  Räume,  die  also  weder  innerhalb  des  einen,  noch  des  anderen 
Raumes  ist.      Diese  mathematische   Berührung    liegt  der  ])hysischen 
zu  Grunde,  aber  sie  macht  sie  allein  nicht  aus.     Zu  ihr  mufs.   damit 
die  letztere  daraus  entspringe,  noch  ein  dynamisches  Verhältnis,  und 
zwar  nicht  der  Anziehungskräfte,  sondern  der  zurückstofsenden.   d.  i. 
der    Undurchdringlichkeit,     hinzugedacht    werden.      ,,Beriihrung    im 
physischen  Verstände  ist  die  unmittelbare  Wirkung  und  Gegenwirkung 
der  Undurchdringlichkeit  (403),    oder   sie   ist  „Wechselwirkung  der 
repulsiven  Kräfte  in  der  gemeinschaftlichen  Grenze  zweier  Materien'' 
(404).      Eine  solche  Wechselwirkung  ist,   wie   wir  bereits  oben  sahen. 
nur  m()glich,   wenn  die  Materie   „einen  Raum  in   bestimmtem  (irade 
eriüUt,-'  und  dies  hängt  wiederum  ab  von  der  Anziehungskraft,  welche 
die  Expansivkraft  auf  bestimmte  Grenzen  einschränkt.     8o  sehr  also 
auch  die  Repulsion  sich   in  der  Berührung  unsern  Sinnen  aufdrängt, 
darf  sie  darum    doch  nicht    für  ursprünglicher   gehalten   werden  als 
die  Anziehung.      Vielmehr    mufs    diese    vor    der   Berührung  vorher- 
gehen,  und  ihre  AV^irkung  mufs  folglich  von   der  Bedingung  derselben 
unabhängig  sein  (404).     „Die  ursprüngliche  Anziehungskraft  ist  nicht 
im  mindesten  unbegreiflicher   als  die  ursprüngliche  Zurückstofsung. 
Sie  bietet    sich    nur  nicht    so    unmittelbar    den   Sinnen    dar    als    die 
Undurchdringlichkeit,    uns    Begriffe    von    bestimmten    Objekten    im 
Räume    zu  liefern.     Weil    sie  also    nicht    gefühlt,    sondern    nur  ge- 
schlossen   werden    will,    so    hat    sie    sofern    den   Anschein    einer  ab- 
geleiteten Kraft,   gleich  als  ob  sie  nur  ein  verstecktes  Spiel   der  be- 
wegenden Kräfte  durch  Zurückstofsung  wäre.     Näher  erwogen,  sehen 
wir,    dafs  sie  gar  nicht  weiter  irgend  wovon  abgeleitet  weiden  kihine, 
am  wenigsten  von    der  bewegenden  Kraft    der  jVIaterien    durch  ihre 
Undurchdringlichkeit,  da  ihre   Wirkung   gerade  das  Widerspiel  der 
letzteren  ist"  (40r)). 

Diese; Ausführungen  sind  .oH'enbar  nicht  so  aufzufassen,  als  habe 
Kant  sagen  wollen,  anfangs  sei  die  Anziehung,  und  nachiier  gehe  die 
Berührung  erst  aus  ihr  liervor.^'^  ^'^^  "^^^^"  "^  ^^'"^  \\\)rte  „vor- 
hergehen--  ist  nicht  in  zeitlichem  Sinne  zu  nehmen  ;  die  Anziehungs- 
kraft ist  auch  nicht  unabhängig  von  der  Materie,  die  aus  ihr  und 
der  Abstofsungskraft  entsteht.  Das  „vor"  ist  vielmehr  logisch  oder 
transcendental  zu  fassen:   „es  bezieht  sich,"   wie  Stadler  sich  aus- 


*)   Wie  z.  B.  Jagielski  es  thut:  a.  a.  O.  3J. 


I 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


307 


drückt,  „auf  die  transcendentale  Ordnung  der  Bemffe  in  unserm 
Verstände.  Die  Berührung  ist  das  Abgeleitete.  Die  bisherigen 
Entwickelungen  geben  uns  keine  andere  Ursache,  welche  das  Ein- 
dringen von  Materie  in  den  Raum  einer  gegebenen  Materie  bewirken 
k()nnte  als  die  Anziehung.  Ohne  Attraktion  würde  also  gar  keine 
Gelegenheit  zui*  AVirkuuij:  der  repulsiven  Kräfte,  keine  physische 
Berührung  stattfinden.  IMiysische  Berührung,  als  Erscheinung,  ist 
demnach  nur  vorstellbar  unter  der  Bedingung  der  Attraktion, 
während  die  J{e])ulsion,  als  Erscheinung,  nur  vorstellbar  ist  unter  der 
Bedingung  der  Beiaihrung."*)  Nichts  Anderes  will  Kant  damit 
sagen,  wenn  er  seine  obigen  Ausführungen  mit  den  Worten  einleitet: 
„Bei  diesem  Übergänge  von  einer  Eigenschaft  der  Materie  zu  einer 
andern  spezitisch  davon  unterschiedenen  mufs  das  Verhalten 
unseres  V  e  r  s  t  a  n  d  e  s  in  nähere  Erwägung  gezogen  werden"  (40 1 ). 
Bedenklich  dagegen  ist  es,  wenn  Kant  von  einer  Erfüllung  des 
Raumes  in  bestimmtem  Grade  s])richt.  Dies  ist  thatsächlicli.  wie 
auch  Schopenhauer  bemerkt  hat.  ..ein  Ausdruck,  dem  kein 
Begriff  entsprechen  kann :  denn  Raumerfüllung  ist  Ausdruck  der 
Extension,  (^rad  aber  der  Intension:  und  eine  Extension  der  Intension 
ist  kein  Denkbares."**)  Der  Grund  dieser  Verwirrung  liegt  auch 
hier  nur  wieder  in  Kants  Bestimmung  der  Materie  als  einer  an  sich 
ausgedehnten  oder  stofflichen.  Kant  mochte  immerhin  von  ver- 
schiedenen Graden  der  zurückstofsenden  Ki-aft  reden,  so  lange  er 
diese  noch  nicht  als  eine  an  sich  den  Raum  erfüllende  })estimmt 
hatte.  War  dies  geschehen,  so  verlor  er  damit  das  Recht,  statt 
mit  extensiven,  hinfort  mit  intensiven  GWifsen  zu  operieren.  Die 
extensive  Gröfse  der  Raumerfüllung  und  die  intensive  Gröfse  der 
sie  tragenden  und  bewirkenden  P\^raft  sind  keine  Wechsel hegriffe. 
Die  Kraft  kann  unendhch  grofs,  und  dennoch  der  Raum,  welchen 
sie  erfüllt,  unendlich  klein  sein ;  man  denke  nur  an  den  mit  der 
Zusammendrückung  wachsenden  Widerstand  der  Kräfte  I  Die  Aus- 
dehnung und  die  Kraft  stehen  in  gar  keinem  angebbaren  Verhältnis 
zu  einander.  Die  erstere  ist  uns  })ekannt,  die  letztere  nicht:  sollen 
wir  jene  doch  einmal  beibehalten,  dann  wird  es  schon  das  Richtigste 
seil],  den  Begriff"  einer  zurückstofsenden  Kraft  überhaupt  aus  dem 
Spiel  zu  lassen,  die  Materie  als  gleichmäfsig  den  Raum  erfüllenden. 
d.  h.  kontinuierlichen.  Stoff"  anzusehen,  woran  die  Anziehungskraft 
dann  weiter  keine    als  die  höchst  übertiüssige  Rolle  spielt,    dafs  sie 


*)  Stadler:  a.  a.  0.  95. 
**)  Schopenhauer:    Haiidschriftl.    Naehlalts,    hrsg.    v.    E.    (irisehach 


Bd.  111.     17. 


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308 


B.    Kant  als  Natiiri)liil()S(>i)h. 


diesen  Stoff  irmerbalb  gewisser  Grenzen  einschränkt  oder  an  ihm  die 
Kontinuitiit  hewalirt.  P^ine  solche  Anschauiini];  wäre  dann  freilich 
nicht  blol's  ein  Aufgeben  d(a-  dynamischen  Xatiirl)etrachtung.  sondern 
ein  Verzicht  auf  alle  Naturerklärung  überhaupt.  Denn  nnt  diesem 
Kontinuum  eines  Stoffes,  bei  dem  nicht  ai)zusehen  ist,  aufweiche 
Weise  in  ihn  hinein  Bewegung  kommen  sollte,  ist  in  der  Praxis 
rein  gar  nichts  anzufangen,  es  sei  denn,  dal's  man  ihn  sich  doch 
wieder  als  einen  aus  selbständig(>n  Teilen  bestehenden  denkt,  um 
wenigstens  dem  Prinzip    der  Individuation    nicht    gänzlich   Hohn   zu 

sprechen. 

Offenbar    ist    dies    nun    auch    die   Ansicht   Kants.     Oder    was 
Anderes  soll  damit  gesagt  sein,    wenn   er  die  Zuriickstofsungskraft. 
vermittelst  den^-  die  Materie  einen  Kaum  erfüllt,  als  eine  Flächen- 
kraft.   d.  h.  als  eine  solche  Kraft  bezeichnet,    „dadurch  Materien 
nur    in    der    genieinschaftlichen    Khiche    der  Berührung  unmittelbar 
auf  einander  wirken    können?^'    (4().S).      ,.I)io  Vorstellung  Kants  ist 
also    die.    dals    der    K()r])er    (z.  B.    eine   Gasart)    sich    aus    Baum- 
elementen   von    solchen    stereometrischen   Gestalten    zusannnensetzt. 
dafs  zwischen  den  sich  berührenden  <  )l)erlläcln'n  nirgends  eme  Lücke 
bleibt   (etwa   wie    elastisch   gedachte    Bienenzellen    ir.   eifiem   Bienen- 
körbe)."*)   Nun  ist  aber   so  viel   klar:   entweder  der  Raum  zwischen 
diesen    sich    berührend(Mi    ObiTllächen   der  IVFaterie   ist  mit  Materie 
ausgefüllt,    d.    h.    Kants    fundanu-ntale    Annahme    vnwv    stofflichen 
Nat^iir  der  Materie  ist  richtig;  dann  ist  die  Annahme  von  für  sich 
existierenden  Kaumekuuenten   falsch,   und  wir  sind  wieder  bei  .jenem 
trägen   Kontinuum  einer  Materie  angelangt,   von  der  ein  Nutzen  für 
die^Erklärung  der  Thatsachen  nicht  abzusehen  ist.     Oder  der  Baum 
zwischen    den    Oberflächen    ist    leer,    die  Baumelemente    sind  that- 
sächlich    durch    ihre    Obertlächen   gegen   einander  abgegrenzt:    dann 
ist    Kants    Annahme    einer    kontinuierlichen    h*aunierfiillung    ialsch, 
und  es  entsteht  die   Krage,    wie  die  Kraft   an  der  Obertläche  eines 
Kaumelementes   lokalisiert   sein   kann,    welches  das  Nichts  zum    In- 
halt hat.     Im  erstem  Falle  hülst  man  die  Individuation  der  Materie, 
d.  h.    die    ])raktische    Brauchbarkeit,    im    letztern   Falle    die    meta- 
physische  Denkbarkeit  derselben  ein:    denn    ein    leerer  Baum  kann 
keine  Obertläche  haben,  wofern  man  nicht  diese  sich  als  eine  stoff- 
liche Hülle  denkt.      Dann  sind  aber  die  Kräfte  wiederum  übertlüssig, 
und  die  Materie  besteht  nur  in  diesem  Netze  von  stoifliehen  Hüllen, 
das    sich    nach    allen    drei   Dimensionen    des  leeren    Raums   /.iigleich 
erstreckt. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


309 


Eine    Lösung   aus   dieser  Vv^irrnis    von  Schwierigkeiten    scheint 
unmöglich.     Sie    ist   aber  sofort  gegeben,    wenn  man  das   A\)rurteil 
der  kontinuierlichen  Baumerfüllung  aufgiebt.     Man   braucht  alsdann 
nur  die  Kraft  in  dem    Mittelpunkt    ihrer   Wirkungssphäre  sich 
zu  denken,  von  dem  aus  sie  den  Baum  (oder  das  Volumen  der  ihr 
eignenden  Gestalt)  nicht  durch  ihre  substantielle  Existenz,   sondern 
durch  ihre    aktuelle    Wirksamkeit    erfüllt,  so  hat  man  nicht 
blofs    die    geforderte    Individualisierung,    sondern    auch    einen    ganz 
bestimmten  Sitz  der  Kraft,  ohne  dafs  man  es  darum  nötig  hat, 
diesen    selbst  wiederum   als    einen   räumlichen  zu  betrachten.      ,.Nur 
dann    gewinnt    man    eine    scharfe  mathematische  Anschauung  einer 
elementaren    Kraftvvirkung,    wenn    man    dieselbe    als    gerade    Linie 
denkt:   eine  gerade  Linie  aber  braucht  zwei  mathematische  Punkte, 
um  bestimmt  zu  sein ;    der    eine  Punkt   giebt   an,    wobei-  die  Kraft 
wirkt,  der  andere,    wohin   sie  wirkt.     Der  Punkt,    woher  die   Kraft 
wirkt,    wird    dadurch    bestimmt,    dafs    man    die   verschiedenen    (als 
]\adien   der   Wirkungss])liäre  gedachten)  Bichtungslinien  der   Kraft- 
wirkungen   nach    rückwärts    verfolgt    und    ihren   gemeinschaftlichen 
Durchschnittspunkt    bestimmt.^' ' )      Man    mul's    einsehen,    dafs    die 
Kraft  als    solche  mit  dem  Baum  gar  nichts  zu  thun   hat.    vielmehr 
vollkommen  unräumlich  ist,  dafs  alle  ihre  Beziehungen  zum  Baum 
und  seinen   drei  JJimensionen  nur  erst  in  ihrer  Wirksamkeit  zu  Tage 
treten  können.     AVas    uns    an    räumlichen    Momenten    der    Materie 
gegeben   ist,    ist  daher  niclit  die   Materie  unmittelbar,    sondern  nur 
ein  Moment  ihrer  Accidenzen,  hinter  welchem  die  Materie  selbst, 
als     ein    absolut     stoffloses     System     von    Kräften    sub- 
sistiert.     Man    mufs    mit    dem    Vorurteil    endgültig  brechen,    als   ob 
die    Kraft    nur    an    dem   Stoff,   als  ihrem  Träger,   haften   könne    und 
mit  diesem  gleichsam  herumgetragen  würde.     ]\Ian  mag  mit  Worten 
noch   so  sehr  das   Gegenteil   behaupten:    eine  solche   Annahme   führt 
doch    unweigerlich    dahin,    den    Stoff,    als    das    im    Bewufstsein  un- 
mittelbar Gewisse,    zugleich  auch  als  das  metai)hysisch    Erste  anzu- 
sehen,   neben    welchem   die   Kraft   dann    blofs  noch  zu   einem   sekun- 
diiren  Moment  herabsinkt.     Eine    solche   Annahme    also    stürzt    die 
Kralt  wieder  von   ihrem  Thron,   in   deren  Erhebung   über  den  trägen 
Stoff  gerade  das  Verdienst  des  Dynamismus    bestehen    sollte.     Die 
w^  a  h  r  e     A  u  s  g  e  s  t  a  1 1  u  n  g     eine  r     d  y  n  a  m  i  s  c  h  e  n     'i'  h  e  o  r  i  e 
der     Materie     beruht     mithin     in    der    Bückkelir    zur 
Physischen    Monadologie,    nicht    in    der    x^nnäherung 
an     die     epi  k  u  r  is  c  h- kartesianische    Stoffphilosophie, 


*)  V.   HartniaiiTi:  Ges.  Stmlion   u.   Aufsät/.e   (  >.  Aiiil.    K^88).     5J/. 


)  v.  Hartmaiiu:  a.  a.  O.  529. 


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B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


worin  sie  Kant  nur  infolge  seines  falschen  erkenntnistheoretisehen 
Ausgangspunktes,  seiner  Identifizierung  der  Sinnesenipfindung  mit  der 
Materie,   zu   finden  glaubt.  — 

Freilich,    wenn    die    Kraft    aus  der  immer  nur  dreidimensional 
zu  denkenden  Obertläche  ihres  Elementes  in  den   Mittel] )uidvt  ihrer 
Wirkungssphäre  si(;h   zurückzieht,  dann   kihmen   die   Wirkungen   der 
abstofsenden  Kräfte   unter  einander  nicht  mehr  P,erührnm:s\virknngen 
sein.      Die  stofflich    gedachten    Kaunielemente    konnten  nur  dadurch 
auf  einander  wirken,   dafs  sie  sich  an  ihren  Oberiläclien  berührten. 
Zwischen    den  für  sich    bestehenden   Kraftcenti-en,    die  folglich   kein 
Kontinuum  mehr  büden,    kann   die  Wirkung  nur  mehr  eine    Wir- 
kung   in    die     Kerne    sein,    und    die    Frage    ist.    ob  eine  solche 
miiglich   ist.      Die  grofse  Masse  der  heutigen  Naturforscher  verneint 
die  Frage  noch   ebenso,    wie  sie  dieselbe   zu  den  Zeiten  Kants  ver- 
neinte:   aber    diese    Naturforscher    stecken    noch    ganz    und  gar  im 
Banne    der    kartesianischen    Stotftheorie.    woraus    gerade  Kant    sie 
befreien    wtdlte.      Der    Naturforscher,    der    im    (Irunde    niclits    an- 
erkennt,   als    seinen    Stoh"    und    dessen  Bewegung    und    hiermit   für 
seine    Verhältnisse    auch    in    der   Kegel    ganz  gut  auskommt,    ist 
inkompetent,  über  diese   Frage  zu  entscheiden.     Dieselbe  kann  erst 
da   bedeutsam  werden,    wo    man    das     Wesen    der   Kraft  erforscht 
und  deren    Priorität    vor    dem    trägen,    ausgedehnten    StoH"   erkannt 
hat.     Sie  gehört  nuthin   in   die  Natur  p  h  i  l  os  ]>  h  i  e  .   und  hier  ist  sie 
von  einer   Wichtigkeit,    dafs  von   ihrer    Hntscheidung  nicht  blofs  die 
nähere  Ausgestaltung,    sondern    selbst    die    MtigHchkeit    einer  dyna- 
mischen Theorie   der  ^Materie  abhängt. 

Wie    stellt    sicli    nun    Kant    zu    dieser    Frage?     Wirkung    in 
die    Ferne  (actio   in   distans)  ist  die    Wirkung  einer  Materie  auf  die 
andere    aufser    dei-    Berührung,     und  zwar    ist  sie  eine   unnntt(>lbare 
Wirkung  in  die  Ferne  oder  eine  Wirkung  der  Materien  aufeinander 
durch  den  leeren  Kaum,  sofern  sie  auch  ohne  Vermittelung  zwischen 
inneliegender  Materie  stattfindet.      Eine  solche  Wirkung  in  die  Ferne 
übt    nun    die    ursprüngliche    und    aller    Materie    wesentliche     An- 
ziehungskraft   aus.    die,    wie  wir  gesehen   liaben.   von   aller    Be- 
rührung   unabhängig,     nuthin    auch    von  der   ErfiUlung  des    Raumes 
zwischen    dem    Bewegenden     und     Bewegten    unabhängig,    d.   h.    als 
Wirkung    durch   den   leeren  Kaum,   ersciieint    (404  f.).      Ist   die   Ke- 
pulsion    eine    Fläclienkraft,    weil    vermittelst    ihrer  Mat«n-ien   nur   in 
der    gemehischaftlichen     Fläche     der     Beriih.iung     unmittelbar    auf- 
einander wirken  krmnen.   so  ist   folglich   die  Attrakticm  eine  durcli- 
dringende    Kraft,    weil   vermittelst   ihnM-  .Alaterie  auf  die  Teile 
der  andern  auch  über  (Ue  Fläche   der  Berührung    hinaus    imstande 


IL  Die  kritische  Naturphilose]>}iie. 


311 


ist,  unmittelbar  zu  wirken.  Sie  geht  durch  diese  Teile  ,.(iuer--  hin- 
durch, wirkt  durch  den  Kaum  hindurch,  „ohne  ihn  zu  erfüllen." 
und  ist,  als  die  Kraft  der  gesamten  Materie  eines  Körpers,  der 
(Quantität  derselben  proportional,  weil  sie  ja,  als  ursprüngliche  An- 
ziehung,  diese  Materie  selbst  erst  möglich  macht  (408  f.). 

In  der  Vernunftkritik  hatte  Kant  eine  solche  Kraft  geleugnet. 
Er  hatte  die  Anziehung  ohne  alle  Berührung  zu  den  unerlaul)ten 
Hy))othesen,  den  ..leeren  Hirngespinnsten''  gezählt,  weil  sie  in 
keiner  Erfahrung  unmittelbar  gegeben  sei.  Ganz  anders  in  den 
,.Metaphysischen  Anfangsgründen"!  Man  pilegt  gegen  die  Möglich- 
keit einer  AVirkung  in  die  Ferne  in  der  Kegel  einzuwenden,  es  sei 
widersprechend,  dafs  eine  Materie  unmittell)ar  dort  wirken  solle, 
wo  sie  selbst  nicht  ist.  ,.Allein  es  ist  so  wenig  widersprechend, 
dafs  man  vielmehr  sagen  kann:  ein  jedes  Ding  im  Kaume  wirkt  auf 
ein  anderes  nur  an  einem  (3rte,  wo  das  Wirkende  nicht  ist.  Denn 
sollte  es  an  demselben  Orte,  wo  es  selbst  ist,  wirken,  so  würde  das 
Ding,  worauf  es  \virkt,  gar  nicht  aufser  ihm  sein:  denn  dieses  Aufser- 
halb  bedeutet  die  Gegenwart  an  einem  Orte,  darin  das  andere  nicht 
ist"  (405).  Selbst  in  der  Berührung  tritt  die  Wirkung  an  einem 
Orte  zu  Tage,  wo  weder  die  eine,  noch  die  andere  der  beiden  sich 
beridirenden  Substanzen  ist.  Gäbe  es  keine  Wirkung  in  die  Ferne, 
so  wären  die  rei)ulsiven  Kräfte  die  einzigen,  oder  doch  wenigstens 
die  notwendigen  Bedingungen,  unter  denen  allein  Materien  auf  ein- 
ander wirken  könnten,  d.  h.  die  Anziehungskraft  wäre  entweder 
ganz  unnH)glich,  oder  doch  abhängig  von  der  Kei)ulsi(m.  was  bereits 
oben  als  falsch  nachgewiesen  wurde.  ,.Sich  unmittelbar  aufser  der 
Berührung  anziehen,  heifst  sich  einander  nach  einem  beständigen 
Gesetze  nähern,  ohne  dafs  eine  Kraft  der  Zurückstofsung  dazu  die 
Bedingung  enthalte,  welches  doch  eben  so  gut  sich  mufs  denken 
lassen,  als  einander  unmittelbar  zurückstofsen,  d.  i.  sich  einander 
nach  einem  beständigen  Gesetze  tliehen,  ohne  dafs  die  Anziehungs- 
kraft daran  irgend  einigen  Anteil  habe.  Denn  beide  bewegenden 
Kräfte  sind  von  ganz  verschiedener  Art,  und  es  ist  nicht  der  mindeste 
Grund  dazu,  eine  von  der  anderen  abhängig  zu  machen  und  ihr 
ohne  Vermittelung  der  anderen  die  Möglichkeit  abzustreiten"  f40G).*) 


*)  Cxeiren  die  Behuuptuno,  dal's  dir  WirkuriL;-  in  »hc  Ferne  eiiirii  Wider- 
sprucli  entlialte,  wendet  auch  v.  Hartmann  ein:  ..Indessen  hahe  ich  niemals 
l)e«rreifen  können,  wie  man  in  der  actio  in  distans  einen  Widersprucli  hat  finden 
wollen.  Denn  mau  kennnt  nicht  weiter  als  zu  den  Sätzen:  die  Atomkraft 
ist  am  Orte  A  und  w  i  !■  k  t  nui-  dann  am  Orte  A,  wenn  sie  auf  eine  andere 
Atomkraft  wirken  kann,  wo  sie  dann  nicht  hlols  diese  /.u  sich  hinzieht,  sondern 
ebensowohl  sich  zu  dieser  hintreihl;  die  Atomkraft  wirkt  am  Urte  B  und  ist 


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312 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  J)ie  kritische  Natur})hilosophie. 


313 


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Wer  die  Wirkung  in  die  Ferne  leugnet,  für  den  giebt  es  blofs 
eine  scheinbare  Anziehung,  nämlich  nur  eine  solche  durch  Ver- 
mittelung  der  repulsiven  Kriifte,  wobei  denn  freilich  der  Kiirper, 
dem  ein  anderer  sich  l)lofs  darum  zu  niihern  strebt,  weil  er  ander- 
weitig durch  Stofs  zu  ihm  getrieben  worden,  eigentlich  gar  keine 
Anziehungskraft  ausübt.  Die  wah  re  Anziehung  bedarf  einer  solchen 
Yermittelung  durch  die  repulsiven  Kräfte  nicht,  und  diese  mufs 
notwendig  schon  deshalb  angenommen  werden,  weil  aus  der  blofs 
scheinbaren  Anziehung  oder  der  Anziehung  in  der  Berührung  gar 
keine  Bewegung  entspringi^n  könnte.  Denn  Berührung  ist  Wechsel- 
wirkung der  Undurchdringlichkeit,  die  mithin  alle  Bewegung  gerade 
abhält.  Gesetzt  aber  auch,  es  gäbe  blofs  scheinbare  Anziehung, 
so  müfste  ihr  doch  zuletzt  eine  wahre  zu  Grunde  liegen,  weil  Materie, 
deren  Druck  oder  Stofs  statt  Anziehung  dienen  soll,  ohne  anziehende 
Kräfte  nicht  einmal  Materie  sein  würde  und  folglich  die  Erklärungs- 
art aller  Phänomene  der  Annäberung  durch  blofs  scheinbare  An- 
ziehung sich  im  Zirkel  dreht  (4()()  f.). 

Mit  Unrecht  beruft  maij*  sicja  auf  Newton.  ,,diesen  grofsen 
Stifter  der  Attraktionstheorie, " '^"um  sich  der  Annahme  der  wabren 
Anziehung  zu  entschlagen.  Newton  abstrahierte  zwar  von  allen 
Hypothesen  und  stellte  es  dem  Physiker  und  Meta))liysiker  anheim, 
wie  sie  die  unmittelbare  Anziehung  der  Materien  sich  erklären 
w^ollten,  aber  doch  nur.  weil  er  sich  einzig  mit  der  mathematischen 
Seite  des  Problems  befafste.  Hätte  sich  Newton  selbst  auf  den 
Standpunkt  des  Physikers  gestellt,  so  bätte  auch  er  niclit  undiin 
gekonnt,  eine  ursprüngliche  Kraft  der  Anziehung  zu  statuieren,  weil 
diese  Annahme,  als  eine  notwendige  Voraussetzung,  seiner  mathe- 
matischen Theorie  zu  Grunde  liegt.  (3der  wie  hätte  er  sonst  den 
Satz  aufstellen  können,  die  allgemeine  Anziehung  der  Körper, 
die  sie  in  gleichen  Entfernungen  um  sich  ausüben,  sei  der  Quantität 
ihrer  Materie  proj)ortioniert,  wenn  er  nicht  annahm,  dafs  alle 
Materie,  mithin  blofs  als  Materie  und  durch  ihre  wesentlicbe  Eigen- 
schaft, diese  Bewegkraft  ausübe?  Dazu  kommt,  dafs  Newton 
auch  den  Äther,  durch  dessen  Stofs  man  die  wahre  Anziehung 
der  Körper  ersetzen  zu  köuinen  glaubt,  niciit  vom  Gesetze  der 
Anziehung     ausschlofs.      Es     blieb    ihm    mithin    gar    keine    andere 


nicht  am  Orte  B.  Zu  einem  Widerspruch  gehört  aher,  dnl's  demselben  Subjekt 
dasselbe  Prädikat  in  derselben  Beziehung  zugleieli  zugesj)rochen  und  ab- 
gesprochen wird,  während  man  es  hier  mit  den  verschiedenen  Prädikaten: 
wirken  und  sein  oder:  aktuell  sein  und  potentiell  sein  zu  thun  hat 
(Ges.  Stud.  u.  Auls.  o39j. 


Materie  übrig,  um  die  blofs  scheinbare  Anziehung  zu  vermitteln. 
Newton  geriet  daher  mit  sich  selbst  in  Widerspruch,  wenn  er. 
ebenso  wie  seine  Zeitgenossen,  an  deren  Begriff  einer  ursprüng- 
lichen Anziehung  Anstofs  nahm.  Der  Metapliysiker  darf  sieb  hier- 
durch nicht  bestimmen  lassen,  weil  lür  ihn  jener  Begriff  ein  not- 
wendiger ist  (407  f.). 

So  nimmt  also  Kant  den  Newton  gewissermafsen  gegen  sich 
selbst  in  Schutz,  indem  er  die  Anziehung  als  eine  reale  Kraft 
(niclit  als  eine  blofs  hy])othetische  Hilfsannabme  für  die  Kecbimng) 
vom  Standpunkte  der  Metai)bysik  aus  verteidigt.  Kr  lenkt  damit 
nur  wieder  auf  den  alten  Gedankenweg  ein,  den  er  l)ereits  in  seiner 
Erstlingsschrift  betreten  hatte.  Schon  hier  war  er  völlig  sich 
darüber  klar  gewesen,  dafs  eine  dynamische  Theorie  der  Materie 
nur  unter  der  Voraussetzung  einer  Wirkung  in  die  Ferne  möglich 
sei.  wie  sie  am  deutlichsten  in  der  newtonschen  Ki-aft  der  An- 
ziehung sich  offenbart,  dafs  alle  bisherigen  (lynamisclien  Tlieorieen 
daran  hatten  scbeitern  müssen,  weil  sie  von  dem  leibnizsclien  Vor- 
urteil gegen  die  Anziebung  sich  nicht  frei  zu  machen  wufsten.  und 
dafs  auch  eine  natürlicbe  Erklärung  der  Entstehung  des  Welt- 
gebäudes, wie  sie  der  mechanischen  Anschauungsweise  als  Ideal 
vorschwebt,  nur  mit  Zuhilfenahme  der  Attraktion  erreichbar  sei. 
Es  war  gleichsam  nur  die  Bestätigung  für  diesen  Satz  gewesen, 
wenn  Kant  in  seiner  Naturgeschichte  des  Himmels  tbatsächlich  die 
Entstehung  der  Welt  rein  mechanisch  aus  dem  Widersjiiel  von  An- 
ziebungs-  und  Abstofsungskraft  erklärt  hatte.  Aber  der  völlige  Sieg 
der  newtonschen  über  die  leibnizsche  Naturanschauung  war  docb 
erst  mit  dem  Nachweis  vollzogen,  dafs  die  Annahme  der  Anzieliungs- 
kraft  notwendig  sei,  weil  die  letztere  zum  AVesen  der  Materie 
selbst  geb(')rte.  mochte  dieser  Nachweis  nun  vom  Standjiunkte  der 
physischen  Monadologie  oder  von  demjenigen  des  transcendeiitalen 
Idealismus  aus  geliefert  werden.  Leibniz  hatte  die  Anziehungs- 
knift  verworfen,  weil  ihm  die  Wirkung  in  die  Ferne  nicht  mit  dem 
\\  esen  der  Materie  vereinbar  schien  ;  Kant  zeigt,  dafs  ohne  Wirkung 
in  die  Ferne  überliaupt  keine  Materie  möglich  ist.  Es  lag  nur  an 
seiner  falschen  Hypostasierung  des  Stoffes,  wenn  er  die  actio  in 
distans   blofs  für  die  Anziehungskraft  gelten  lassen   wollte. 

Hat  man  diesen  Irrtum  durchschaut,  so  ist  kein  Grund  vor- 
handen, warum  die  Abstofsung  nicht  ebenso  wohl  in  die  Ferne 
wirken  sollte,  wie  dies  Kant  nur  von  tler  Anziehung  postuliert. 
Der  Unterschied  der  durchdringenden  Kraft  von  der  Fläclienkraft 
ist  hinfällig :  beide  Kräfte  wirken  durch  den  leeren  Kaum,  beide, 
ohne  ihn  dadurch  (in  stofflicher  AVeise)  zu  erfüllen,  und  auch  darin 


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314 


ij.    Kant   als   Xaturphilosuph. 


Tl.  Die  kritische  Xaturphilosophie. 


815 


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stimmen    sie  mit   einander  überein,    dafs  sich    die   W'irkungsart  der 

beiden  von  jedem  Teile   der   Materie  niif  jeden   anderen  nnmittelbar 

ins    Unendliche    erstreckt.      Kant    vcrmap^    auch    dies    natürlich 

nur  für  die   Anziehunj^jskral't  zu   beweisen.      Kine  Materie    innerhalb 

derSi)hare  ihrer  Wirksunikeit  verma--  die  letztere  nielit  zu  begrenzen. 

weil   sie  ja,   als  durchdrin^^ende  Kraft,   unmittf  Ibar.    wie  durch  einen 

leeren    Eaum,    hindurchwirkt.      Aber    auch    der    Kaum,    worin    sie 

ihren  Einliufs    ausübt,  kann  nicht   Grund,   sie  zu    beschränken   sein, 

weil    sie,     als    intensive  GnW'se.     einen    Grad    hat.    über    d(>n    immer 

noch    kleinere  sich  denken  lassen,    mitliin    eine  gröl'sere  Entfernung 

zwar  den  Grad    der  Attraktion  vermindern,    aber  ilm  doch  niemals 

v()llig    aufheben    kann    (4()!0-       ^^^^     ist    klar,    dafs     auch     die    Ab- 

stofsungskraft    in  dieser   Beziehung  keine   Ausnahme    macht,    sobald 

man  sie  einmal  als  Fernwirkung  erkannt  liat.  — 

J  )ie  Wirkliciikeit  zeigt  uns  nun  aber  niemals  hlolse  Materie,  sondern 
immer  nur  bestimmte  Materie,  auf  einen  fest  umgrenzten  i\aum  be- 
schränkte   materielle  (7  egenstände.     Die  Dynamik   würde    somit 
ihre  Aufgabe  imr    halb  eriullen,    wenn   sie    nicht    anzugeben   wüfste, 
wie  ein  bestimmtes  (^)uantuni  von  Materie  entstehen  kann.      ,.Da   alle 
^e«'-ebene  Materie   mit  einem   bestimmten  Grade  der  repulsiven  Kraft 
ihren  Kaum     erfüllen    muls.     um    ein     bestimmtes    materielles    Diiig 
auszumachen,   so  kann    nur  eine   ursprüngliche  Anzirhung   im   Kon- 
flikt   mit     di)v    ursprünglichen    Zurückstol'sung    einen    bestimmten 
Grad  der  Rrfüllung  des  l^lumes  nuiglich  machen;  es  mag  nun  sein, 
dafs  der  erstere  von   der  eigenen  Anzn'hung  der  Teile  der  zusammen- 
gedrückten Materie    untei'    einander    oder  von    der   Vereinigung  der- 
selben  mit  der  Anziehung  aUer  Weltmaterie   heiTÜhre''   (410).     Aus 
der  Anziehungskraft  also  in  Verbindung  nnt  der  ihr  entiiegenwirkenden 
zurückstofsenden   Kraft    müfste    die  .Aliiglichkeit    eines   in    einem   be- 
stimmten  Grade   ert'ülltm  Raumes  ubirideitet   werden:   nur   so   würde 
der  dynamische  Begriif  der  Materie,   als  des  Bewi^glichen.  das  seinen 
Kaum     in     bestimmtem   Grade    erfüllt,    konstruiert    werden.      ..Aber 
hierzu    bedarf    man    eines  Gesetzc^s    des    Verhältnisses,    so- 
wohl der  ursprünglichen  Anziehung,  als  der  ZurückstoCsung,   in  ver- 
schiedenen   Entfernungen   dei'  Materie   und   ihnu'  Teile   von   einander, 
welcln^s,   da  es   nun  hnliglich  auf  di;üi  Unterschiede   der  Kich- 
tung  dieser  beiden  Kräfte  (da  ein  Puidct  getrieben   wird,   sich  ent- 
weder andern   zu   nähern   (uha-  sich  von   ihnen   zu   entfernen)  und  auf 
der   Grr)fse   des   Baumes   beruht,   in  den   sich  jede  dieser  Kräfte 
in   verschiedenen   Weiten   verbreitet,  eine    rem    mathematische 
Aufgabe  ist,  die  nicht  mehr   in  die  ]\ret:iphysik  gehört,   selbst  nicht 
was  die  Verantwortung  betriift,   wenn  es  etwa  nicht  gelingen  sollte, 


den  Begrifl'  der  Materie  auf  diese  Art  zu  konstruieren.  Denn  sie 
verantwortet  blofs  die  Richtigkeit  der  unserer  Vernunfterkenntnis 
vergininten  Elemente  der  Konsti'uktion,  die  Unzulänglichkeit  und 
die  Schranken  unserer  Vernunft  in  der  Ausführung  verantwortet  sie 

nicht"  (41(J). 

Nimmt  man  hierzu  noch  Kants  ausdrückliche  „Erklärung'',  nicht 
zu  wollen,  dafs  seine  Darlegung  des  Gesetzes  einer  ursprünglichen 
Zurückstol'sung  „als  zur  Absicht  seiner  metaphysischen  Behandlung 
der  Materie  notwendig  gehörig  angesehen,  noch  die  letztere  mit  den 
Streitigkeiten  und  Zweifeln,  welche  die  erste  treffen  könnten,  bemengt 
werde"  (4  I  Ö).  so  erscheint  es  beinahe  unverständlich,  wie  nnm  trotz- 
dem die  folgenden  Auseinandersetzungen  Kants  vielfach  ebenfalls 
für  ajunorisch  halten  und  selbst  ein  Kuno  Fischer  in  seiner 
Darstellung  der  kantischen  Philosojdiie  diesen  wichtigen  Unterschied 
zwischen  der  blofs  mathematischen  und  metaj)hysischen  Ausiuhrunn: 
verwaschen  konnte.*)  Lediglich  als  ,.eine  kleine  Vorerinnerung  zum 
I^ehufe  des  Versuches  einer  solchen  vielleicht  mögliche  n 
Konstruktion"  will  Kant  es  angesehen  wissen,  wenn  er  sich  lierbei- 
läfst,  „das  Gesetz  des  Verhältnisses"  der  beiden  Grundkräfte  näher 
zu  bestimmen.  Er  stützt  sich  hierbei  darauf:  von  einer  jeden  auf 
einen  Punkt  wirkenden  Kraft,  könne  man  sagen,  „dafs  sie  in  allen 
Eäumen,  in  die  sie  sich  verbreitet,  so  klein  oder  grofs  sie  auch 
sein  mögen,  immer  ein  gleiches  (^)uantum  ausmache,  dafs  aber  der 
Grad  ilma-  Wirkung  auf  jenen  Punkt  in  diesem  Baume  jederzeit 
im  umgekehrten  Verhältnis  des  Baumes  stehe,  in  welchen  sie  sich 
hat  verbreiten  müssen,  um  auf  ihn  wirken  zu  können"  (411).  Kant 
bezeichnet  diesen  Satz  als  das  „allgemeine  Gesetz  der  Dynamik" 
(41  f))  und  beruft  sich  zu  seiner  Bestätigung  auf  das  Licht,  welches 
sich  von  einem  leuchtenden  Punkte  allerwärts  in  Ku<.n']tläclien  aus- 
i)reitet.  die  mit  den  (^)uadraten  der  Entfernung  immer  wachsen:  das 
(^biantuni  der  Erleuchtung  in  allen  diesen  ins  Unendliche  gnifseren 
Kugeltlüchen  bleibt  hier  im  Ganzen  immer  dasselbe,  woraus  aber 
folgt,  dafs  ein  in  dieser  Kugeltläche  angenommener  gleicher  Teil 
dem  Grade  nach  desto  weniger  erleuchtet  sein  müsse,  als  jene  Fläche 
der  Verbreitung  ebendesselben  Licht(iuantums  gnifser  ist.  Der 
Mathematiker  kann  sich  dii^se  Abnahme  des  Lichtes  bei  zunehmender 
Entiernung  dadurch  anschaulicli  machen,  dafs  er  sich  Badiei;  von 
dem  erleuchtenden  J^unkte  nach  der  erleuchteten  Kugeltläche  hin 
^^ezogen  denkt.  Mit  der  Gnifse  der  KugeHIäche  wächst  alsdaim  der 
Winkel,    m   welchem    die    Iladien    auslaufen,     wächst    zugleich    der 

*)  Fischer:  Gesell,  d.  neueren  IMiil.   IV.     .;.  Aull.  fl8S?)  20.     Vgl.  auch 
V.  Ki  rchm  a  II  II  :  a.   a.  ().   -19  1. 


316 


B.    Kant  als  Natur[)hilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


317 


üaum,  darin  dieselbe  Quantität  des  Lichtes  zwischen  diesen  luidien 
gleichförmig]^  verbreitet  werden  soll,  und  um  so  kleiner  wird  folglich 
auch  der  Grad  ihrer  Erleuchtuni,^  (412  f.).  Denkt  man  sicli  also 
alle  Punkte,  worauf  die  Anziehungskraft  in  der  gh^ichen  Entfernung 
wirkt,  auf  einer  KugeloberHäche  liegen,  so  niul's  nach  dorn  obigen 
Gesetz  der  Grad  dieser  Kraft  um  so  kleiner  sein,  je  gröl'ser  die 
Obertläche  der  Kugel  ist,  woraus  denn  Kant  folgert,  die  ursprüng- 
liche Anziehung  der  Materie  wirke  in  umgekehrtem  Ver- 
hältnis der  (y)uadrate  der  Entfernung*'   (il-^. 

AV^eit  schwieriger  ist  die  mathematische  Bestimmung  des  Ge- 
setzes für  die  J^epulsion.  Nach  der  physischen-  Monadologie  waren 
es  diskrete  Punkte,  welche  durch  die  ihnen  eigene  Sphäre  der  AV"ij-k- 
samkeit  den  Teil  des  zu  erfüllenden  Kaumes  hestimmten.  und  wobei 
man  daher  von  Entfernungen  reden  konnte.  Auf  dem  jetzigen 
Standpunkt«^  Kants  dagegen  bildet  ja  die  Materie  ein  Kontinuum. 
die  sich  abstofsenden  Materien  berühren  einander,  und  es  ist  folglich 
gar  keine  Entfernung  der  unmittelbar  zurückstofsenden  Teih'.  folglich 
auch  keine  gröl'ser  oder  kleiner  werdende  Sphäre  ihrer  unmittel- 
l)aren  Wirksamkeit  vorhanden.  Hier  versagt  also  das  Hilfsmittel 
des  Mathematikers,  durch  das  wir  bei  der  Attraktion  das  Y(M*h;iltnis 
der  Entfernung  zum  Grade  dei-  Kraft  uns  anschaulich  mnchen 
konnten,  weil  bei  der  Berührung  der  Kaum,  worin  die  Kraft  ver- 
breitet werden  mufs,  um  in  der  Phitfernung  zu  wirken,  ein  kör])er- 
licher  Raum  ist.  der  als  erfüllt  gedacht  werden  mufs,  und  divei'- 
gierende  Strahlen  aus  einem  l\inkte  die  repellierende  Kraft  eines 
k()rperlich  erfüllten  Baumes  unmöglich  vorstellig  machen  können. 
Indes  ist  zu  beachten,  dafs  auch  bei  der  Anziehungskraft  jene 
anschauliche  Konstruktion  doch  eben  nur  ein  P)ild,  ein  Hilfsmittel 
für  das  Denken  war,  das  jedoch  mit  dem  wirklichen  Sachvei-halte 
nicht  verwechselt  werden  <lurtte.  Der  Mathematiker  ,,will  nicht, 
dafs  man  diese  Strahlen  als  die  einzig  erhHichtenden  ansehen  solle, 
gleich  als  ob  immer  lichtleeie  Plätze,  die  bei  gWHserer  Weite  gnil'ser 
würden,  zwischen  ihnen  anzutreffen  wären.  Will  man  jede  solcher 
Flächen  als  durchaus  erleuchtet  sich  vorstellen,  so  mufs  dieselbe 
(Quantität  der  Erleuchtung,  die  die  kleinere  bedeckt,  auf  der  gröfsern 
als  gleichförmig  gedacht  werden,  und  müssen  also,  um  die  gerad- 
linige Bichtung  anzuzeigen,  von  der  Fläche  und  allen  ihren  Puidvten 
zu  dem  leuchtenden  gerade  Linien  gezogen  werden"  (413).  „Man 
mul's  also  aus  den  Schwierigkeiten  der  Konstruktion  eines  Begriffs 
oder  vielmehr  aus  der  Mifsdeutung  (h^rselben  keinen  Einwurf  wider 
den  Begriff  selber  machen;  denn  sonst  würde  er  die  mathematische 
Darstellung  der  Proportion,  mit  welcher  die  Anziehung  in  verschie- 


denen  Entfernungen  geschieht,  ebensowohl  als  diejenigen,  wodurch 
ein  jeder  Punkt  in  einem  sich  ausdehnenden  oder  zusammengedrückten 
Ganzen  von  Materie  den  andern  unmittelbai-  zurückstr)fst,  treffen*'  (415). 

Auch  hei  der  Zurückstofsungskraft  kann  man  sich  nämlich 
dadurch  helfen,  dafs  man  sich  die  Entfernung  der  nächsten  Teile 
der  stetigen  Materie  von  einander  als  unendlich  klein  und 
diesen  gröfseren  oder  kleineren  Baum  als  im  gröfseren  oder  kleineren 
Grade  von  ihrer  Zurückstofsungskraft  erfüllt  denkt.  Der  unendlich 
kleine  Baum  ist  von  der  Berührung  nicht  v(^rschieden :  er  ist  also 
„nur  die  Idee  vom  Baume,  die  dazu  dient,  um  die  Erweiterung 
einer  Materie,  als  stetiger  Gröfse,  an  schau  li  ch  zumachen,  oh  sie 
zwar  wirklich  so  gar  niclit  begriffen  werden  kann"  (ehd.j.  Wir 
sagen  nicht,  es  sei  zwischen  den  sich  berührenden  ]\Iaterien  in 
Wirklichkeit  ein  unendlich  kh^ner  Raum  vorhanden,  so  wenig  wie 
wir  sagen  wollten,  dal's  von  einem  anziehenden  Punkte  nach  der 
Kugelohertläche  divergierende  Strahlen  auslaufen;  wir  stellen  uun 
dies  nur  in  Gedanken  so  vor  und  bleiben  uns  des  Unterschiedes 
wohl  bewufst.  welcher  „zwischen  dem  Begriffe  eines  wirklichen  Raumes, 
der  gegeben  werden  kann,  und  der  l'lofsen  Idee  von  einem  Räume, 
der  lediglich  zur  Bestimmung  des  Verhältnisses  gegebener  Räume 
ged;icht  wird,  in  der  Tliat  aber  kein  Baum  ist,  existiert"  (4j4\  Dies 
festgehalten,  können  wir  ,,schätzen"  (wiewohl  nicht  konstruieren), 
dafs  hei  der  Bepulsion  die  körperlichen  Bäume  bestimmend  sind 
inid  mithin  die  /urückstolsendim  Kräfte  der  einander  unmittelbar 
treibenden  Teile  der  Materie  in  umgekehrtem  Verhältnisse 
der  Würtel  ihi-er  Entfernungen  stehen  (4lo),  womit  nichts 
Anderes  gesagt  ist  als:  „sie  stehen  in  umgekehrtem  Verhältnisse 
dei-  kötrperlichen  Räume,  die  man  sich  zwischen  Teilen  denkt,  die 
einander  dennoch  unmittelbar  berühren,  und  deren  Entt'ernung  eben 
darum  unendlich  klein  genannt  werden  mufs.  damit  sie  von  aller 
wirklichen  Entfernung  unterschieden  werde"  (-±10).  Man  mul's  imr 
immer  irenau  die  Grundkräfte  der  Materie  von  den  aus  ihnen  erst 
abgeleiteten  Klüften  unterscheiden,  so  wird  man  sich  dadurch  nicht 
irre  machen  lassen,  wenn  man  auf  eine  Kraft  stöfst,  welche  den 
angefüln-ten   Gesetzen  nicht  ents])richt  (ebd.  f.). 

detzt  begreift  sich,  wie  durcli  Wirkung  und  Gegemvirkung 
beider  Grundkräfte  Materie  von  einem  bestimmten  Grade  der  Er- 
füllung ihres  Baumes  mciglich  ist:  die  Zurückstofsungskraft  wächst 
bei  Annäherung  der  Teile  in  einem  bei  Weitem  gröfseren  Mafse  als 
die  Anziehung;  dadurch  bestimmt  sie  die  Grenze  der  Annäherung, 
über  welche  keine  gröfsere  Anziehung  möglich  ist,  mithin  auch  jenen 
Grad  der  Zusammendrückung.  der  das  Mafs  der  intensiven  Erfüllung 
des  Baumes  ausmacht  (41ijf.). 


/ 


i 


318 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


Wir  brauchen  nicht  noch  einmal  auszuführen,  dais  von  einer 
Zusaniniendriu'kuni,^  (h'r  Materie  nnd  (hiniit  von  einer  bestimmten 
Kaumerlulhin,!^^  auf  einem  Standpunkte  überhaupt  nicht  die  l\ede 
sein  kann,  der  die  Materie  als  ein  stoti'liches  Kontinuum  betrachtet, 
das  jeden  Teil  des  Raumes  bereits  vollständi,!]^  ausfüllt.  Die  kantische 
Materie  ist,  ^amau  betraclitet,  der  all.i^emeine  Urbrei,  in  weh'liem 
gar  nichts,  niclit  einmal  ein  einzelnes  Element  zu  unterscheiden  ist; 
denn  die  Anziehun,L,^skraft,  die  jedem  einzelnen  Elemente,  ganz  ebenso 
wie  die  Abstofsungskraft,  zukommen  soll,  kann  doch  erst  bei  einer 
Zusammenhäufung  melirer  Elemente  ihre  einschränkende  und  be- 
stimmend«^ Wirkung  ausüben,  für  die  HesoiKh^ning  des  einzelnen 
Elementes  dagegen  erscheint  sie  belanglos,  da  sie  ja  bei  jedem  in 
d<T  gleichen  Weise  wirkt.  (Tie})t  es  aber  für  das  einzelne  Element 
kein  Prinzip  der  Individuation,  dann  ist  auch  ebenso  eine  Zusammen- 
häufung mehrer  Elemente  unm(")glicli.  und  wir  kommen  aus  dem  all- 
gemeinen Trbrei  nicht  heraus.  Indem  Kant  die  Kiaft  vi'dlig  in  den 
Stoff  hat  aufgehen  lassen,  hat  er  damit  alle  Mittel  eingebiifst.  Unter- 
schiede innerhall)  der  Materie  zu  fixieren:  der  kontinuierliche  Stoff 
ist  die  Nacht,  die  alle  Unterschiede  ausir»scht.  und  in  der  es  selbst 
einem  Kant  nicht  möglich   ist,   ein    Liiht  anzuzünden. 

Ganz  anders  stellt  sich  die  Sache  dar,  wenn  ni;ni  die  Materie 
nicht  als  ein  (stoffliches)  Kontinuum,  sondern  als  das  Widers|)iel 
der  Kraftiiul'serungen  für  sich  bestehender,  diskreter  Monaden  be- 
trachtet. Dann  ist  ein  Zusanimentliefsen  der  letzteren  um  so  weniger 
zu  besorgen,  als  ja  die  Monaden  nach  dieser  Auffassung  gar  nicht 
als  ]\lona([en.  d.  h.  als  substantielle  Träger  ihrer  Kräfte,  sondern 
nur  mit  ihren  Kraft  äu  fs  er  u  nge  n  sicii  berühren.  Dann  ist  aber 
auch  kein  Grund  vorhanden,  die  Kraftäufserung  einer  jeden  einzelnen 
Monade  für  ])ositiv  und  negativ  zugleich  zu  halten;  denn  wenn  die 
Ausdehnung  oder  Stofflichkeit  kein  notwendiges  Prädikat  der  Materie 
ist  und  jene  auf  der  Abstofsungskraft  beruht,  dann  hiirt  die  Monade 
damit  nicht  auf,  ein  Element  der  Materie  zu  sein,  wenn  sie  blofs 
anziehende  Wirkung  ausübt.  Es  erscheint  jedenfalls  einfacher,  an- 
zunehmen, dafs  sich  die  beiden  Grundkräfte  auf  zwei  verschiedene 
Arten  von  Monaden  verteilen,  von  denen  mithin  die  (une  nur  An- 
ziehungskraft, die  andere  nur  Abstofsungskraft  besitzt,  eine  An- 
nahme, w(dcher  auch  die  moderne  Physik  sich  zuneigt,  indem  sie  die 
beiden  Grundelemente  der  Materie  als  K  ö  r  p  e  r-  und  A  e  t  h  e  r  - 
a  to  m  e  von  einander  unterscheidet.  Körper-  und  Ktirperatome  ziehen 
sich  an.  und  es  hindert  nichts,  die  kantische  Annahme  beizubehalten, 
dafs  diese  Anziehung  im  umgekehrt  «juadratischen  Verhältnis  der 
Entfernung  stattündet.     Äther-  und  Atheratome  stofsen  sich  ab.   und 


IL  Die  kritische  Naturi)hilosophie. 


319 


\ 


zwar  im  umgekehrten  Verhältnis  einer  höheren,  vielleicht  der  dritten 
Potenz  ihrer  Entfernung.  Äther-  und  Körperatome  stofsen  sich  auf 
kleine  (Molekular-)Entfernungen  gleichlalls  ab.  weil  die  ahstofsende 
Kralt  des  Atheratoms  mit  Verminderung  der  Entfernung  weit  schneller 
zunimmt,  als  die  anziehende  Kraft  des  Körperatoms.  In  einer  ge- 
wissen P]ntfernung  halten  folglich  heide  sich  das  Gleichgewicht;  darüber 
hinaus  aber  mufs  die  Anziehung  überwiegen,  wenn  nicht  infolge 
der  abstofsenden  Kraft  der  Atheratome  die  Materie  sich  ins  Un- 
endliche zerstreuen  soll.*)  — 

Wie  steht  es  nun  um  den  a])riorischen  Charakter  der  Dynamik, 
den  Kant  ihr  durch  die  Konstruktion  der  Materie  aus  ihren  beiden 
Grundkräften  gesichert  zu  haben  glaubt?  Di(^se  Frage  ist  ent- 
scheidend in  den  Augen  Kants.  Denn  nur  auf  apodiktische  Ge- 
wifsheit,  die  nach  seiner  Ansicht  einzig  in  ihrer  A])riorität  begründet 
ist,  kam  es  ihm  ja  bei  diesem  Ausbau  seiner  naturphilosophischen 
Prinzipien  an ,  und  nur  weil  ihm  dessen  apriorisclier  Charakter 
selbst  zweifelhaft  geworden  war,  war  er  iWivr  den  Standpunkt  der 
Physischen  Monadologie  hinausgeschritten  und  hatte  er  sich  zunächst 
um  die  Voraussetzungen  einer  apriorischen  Erkenntnis  überhau])t 
bemüht.  Zwischen  der  Physischen  ^Monadologie  und  den  ,..Meta- 
physischen  Anfangsgründen"  in  der  Mitte  türmte  sich  das  Piesen- 
werk  der  Vernunftkritik  auf.  Welchen  Nutzen  hatte  ihm  dies  Werk 
verschafft,  und  hatte  jene  Konstruktion  der  IVIaterie  aus  ihren  Kräften, 
die  er  aus  den  Voraussetzungen  der  Vernunft kritik  heraus  vollzogen 
hatte,  wirklich  die  ersehnte  Aj)riorität  gebracht? 

Wenn  der  AV^^rt  der  Dynamik  an  diesem  Mafsstab  gemessen 
wird,  so  ist  derselbe  freilich  gleich  nuli  anzuschlagen.  Jene  ganze 
Konstruktion  der  Materie  ist  so  wenig  apriorisch,  wie  es  der  Grund- 
satz der  Antizipationen  der  Wahrnehmungen  war,  worauf  sie 
Kant  errichtet  hatte.  Natürlich ;  man  erwäge  nur.  wie  Kant  zu 
seinem  Dynamismus  gekommen  war.  JJeii  ersten  Anstofs  hierzu  hatte 
er  von  Newton  erhalten;  er  hatte  in  dessen  Anziehungskraft  das 
Mittel  erkaimt,  um  ihn  in  sj)ekulativer  Weise  durchführen  zu  können. 
Aber  auch  über  die  Bedeutung  der  J\e])ulsion  war  er  sich  erst  durch 
das  Studium  Newtons  klargeworden.  In  seiner  ,, Naturgeschichte 
des  Himmels"  hat  er  diesen  Ursprung  der  beiden  Begriffe  in  naiver 
Weise  selbst  enthüllt:  er  bezeichnet  sie  hier  einfach  als  „aus  der 
new  ton  sehen  Weltweisheit  entlehnt-'  (vgl.  oben  S.  'J3). 
Also  nicht  durch  einen  originalen  Denkprozefs  hat  Kant  sie  aus 
den   Tiefen    der   \'ernunft   hervorgeholt,    sondern   er    hat    sie  einlach 


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*)  v.  Halt  mann:   J'liilo.soi.liic  d.   l^nlanvufsten  (10.  Aufl.)  II.      JO<l— 104. 


320 


B.    Kant   als   Naturphilosoph. 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


321 


von  aufseii  auf^erioinnien,  und  er  hat  keinen  aiulereii  BeglaubiguiiG^s- 
scliein  dafür  als  ihre  empirische  Bestätigung  durch  die  Natur.  Erst 
nachtraglich,  nachdem  er  sie  vorher  heimlich  in  diesen  Schacht  ver- 
senkt, hat  Kant  sie  in  begriill icher  Form  wieder  aus  der  Vernunft 
hervorgeholt ;  al)er  es  gehört  schon  die  ganze  Befangenheit  des 
Kationalismus  dazu,  um  sie  darum  weniger  für  em])iriseh  zu  halten. 
Dafs  diese  ganze  Ableitung  der  (irundkriifte  nichts  weniger  sei  als 
eine  a})riorischc  Konstruktion  im  Sinne  der  Mathematik  hat  selbst 
ein  so  grofser  Zauberkünstler  des  A])rioi-i  zugegeben,  wie  Hegel. 
„Kants  Verfahren,-'  sagt  dieser,  „ist  im  Grunde  analytisch,  nicht 
konstruierend.  Er  setzt  die  Vorstellung  dei-  ^laterie  voraus  und 
fragt  nun.  welche  Kräfte  dazu  gehören,  um  ihi'e  vorausgesetzten  lie- 
stimmuni^^en  zu  erhalten.  Es  ist  dies  das  Verfaliren  des  gewrdinlichen 
über  die  Rrfalirung  reth^ktierenden  Erkenn(^ns,  das  zuerst  in  der 
Erscheinung  Bestimmungen  wahrnimmt,  diese  nun  zu  (Irunde 
legt  und  für  das  sogenannte  Erklären  dersidben  (Trundstoflfe,  auch 
Kräfte  annimmt,  welche  jene  Bestimmungen  der  F]rscheinungen  hcM'- 
vorbringen  sollen.'"^')  „Ein  solches  analytisches,  retlektieivndes  Ver- 
fahren verdient  unmöglich  den  Xanien  einer  Konstruktion  des  Be- 
i^rill'es,  und  es  kann  dasselbe  keineswegs  d(^n  Anspruch  machen,  uns 
die  innere  ]\Iöglichkeit  des  Hegrifies  aufzuhellen,  mit  der  zugleich 
das  Wesen  des  (Tegensta.ndes  erkannt  ist,  und  weh'he  uns  z.  B.  bei 
einer  jeden  geometrisclien  Kiirur  mit  der  vom  Geiste  selbstthätig 
vollbrachten  Konstruktion  derselben  entgegenti'itt.""*)  ^lit  Kecht 
hebt  daher  Jagielski  hervor,  dafs  aus  diesem  Grunde  auch  den 
kantischen  Beweisen  die  Notwendigkeit  und  strenge  Allgemeinheit 
mangeln,  die  das  sichere  Kennzeichen  einer  jed(Mi  Erkenntnis  a  ])riori 
bilden,  und  derentwegen  Kant  zur  Be^naindunu  seines  Dvnaniismus 
den  ungeheuren  Umweg  über  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  gemacht 
hatte.  Die  in  der  JJvnamik  'Gewonnenen  l\esultate  können,  was  ihre 
Gewifsheit  aid)etrifft,  sich  mit  den  Lehrsätzen  <ler  Mathematik  nicht 
messen,  sie  sind  auch  jetzt  noch  irnuKM"  blofse  Hy))othese]i  von 
einiger,  vielleicht  hoher  Wahrscheinlichkeit  und  hal)en  mithin 
hierin  voi*  denen  der  Physischen  Monadologie  nichts  voraus,  ja,  sie 
sind  schlechtere  liv')othesen  als  diese,  weil  sie  in  der  un'i^<'sunden 
Luft  des  transcendentalen  Idealismus  widerspruchsvoll  verkrüi)pelt 
und  entartet  sind. 

I);is  scheint  ein   trauriges  Resultat  zu  sinn,    wenn    man    es  mit 
den  gewaltigen  Anstrengungen  vergleicht,  die  zu  ihm  geführt  haben. 


*)  Hejrel:  Lo^rik   Bd.  T.     1.  Aull.    IJl.     \^x\.   M^^-Vl^. 
"'^'*)  Jagielski:   a.    a.   O.   'j.». 


Aber    der    Wert    einer    Philosophie    darf  nicht  immer  blofs  danach 
geschätzt  werden,   inwieweit  es  ihr  gelungen  ist.   das  ihr  im  Grunde 
vorschwebende  Ziel  zu  erreichen.     Kant  hat  oHenbar  sein  eigentliches 
Ziel  verfehlt,    aber  die  Naturphilosophie    ist  hierbei  nicht  leer  aus- 
gegangen.    In  spekulativer  Hinsicht  steht  die  Physische  Monadologie 
entschieden  über  der  Dynamik.     Aber  man  bedenke,  was  es  heifsen 
wollte,    der   allgemeinen  Anschauung  eines    stoft'lichen   Daseins,    die 
beinahe  so  alt  war,    wie  die   Philosophie    überhaujjt.     so    verbreitet, 
wie  der  Glaube    an    Gesi)enster   und   Dämonen,    und  die  aufserdem 
an  der  sinnlichen  Wahrnehmung  scheinbar  eine  Stütze  hatte,  dieser  An- 
schauung einen  Dynamismus  entgegenzustellen,  der  ebenso  neu,   wie 
unverständlich  klang,    der   alles  Bisherige    auf  den  Kopf  zu  stellen 
und,    weit    entfernt,    durch  die  Erfahrung   unmittelbar  bestätigt  zu 
werden,    von  dieser  vielmehr  stets  nur  widerlegt  zu  werden  schien? 
Da  bedurfte  es  des  Gewichtes  eines  ganz  aufserordentlichen  Namens, 
wie  ihn  der  Verfasser  der  Physischen  Monadologie  noch  nicht  besafs, 
um  eine  solche  Theorie  überhaupt  ernsthaft  zu  ])rüfen,  es  bedurfte  der 
tiefsten   Versenkung    des    Geistes    in    sich    selbst,    wie    Kant    sie  in 
seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  anbahnte,  damit  er  sich  auch  in 
dem  wiederfinden  konnte,  was  bisher  am  weitesten  von  ihm  entfernt 
zu  sein    schien,    dem    Stoff    und    dem    leblosen    Durcheinander    der 
Atome.     JJie  Natur  mufste  erst  völlig  in  die  Grenzen  des  Verstandes 
hereingezogen    werden,    sie    mufste    erst    ganz    in    dieser  Glut    ver- 
brennen, ehe  sie,    wiedergeboren  aus  dem  Geiste  —  ein  Phr.nix  — 
sich    aus    ihm  emporschwingen  konnte,    nun    nicht    mehr    als    toter 
Stolf,  sondern  durchseelt  von  geistigen  Kräften. 

Mufs    die    Ableitung    der    beiden    Grundkräfte    aus    der    aprio- 
rischen Natur  unseres  Verstandes    als    verfehlt    bezeichnet    werden, 
so  ist  es  selbstverständlich,   dafs  auch  die  Beziehungen  dieser  Kräfte 
zu  den  Kategorieen  nur  äufserlich  von  Kant  ausgetüftelt  sein,  aber 
nicht  im  Wesen  der  Sache    begründet   sein  kcinnen.     Die  Dynamik 
soll  die  Bewegung    „als    zur    (Qualität    der  Materie  gehörig"   be- 
trachten,  und  somit  mufs  Kant  sich  angelegen  sein  lassen,  die  unter 
dem  Titel   der  Qualität    vereinigten    Kategorieen    in    der    Dynamik 
wiederzufinden.        Wie    er    dies    fertig    bringt,     ist    wieder    einmal 
charakteristisch  für  die  Art  und  Weise,  wie  Kant  mit  seiner  Kate- 
gorieentafel  schaltet.     Oder  was  soll  man  dazu  sagen,    wenn  er  die 
Repulsion  auf  die  Kategorie  der  Realität,  die  Attraktion  auf  die 
Negation  zurückführt,  da  das  Reelle  (Sohde)  im  Räume  „m  der 
Erfüllung   desselben    durch   Zurückstofsungskraft"    beruhe,    die  An- 
ziehungskraft   dagegen    in    Ansehung  des  ersteren,    als  des  eigent- 
lichen Objekts  unserer  äufseren   Wahrnehmung,   negativ  sei,    indem. 

D  r  e  w  s  ,  Kants  Naturphilosophie.  21 


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322 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


,,so  viel  an  ihr  ist,  aller  Kaum  würde  clurcli(lriin,i,n^n.  luitliin  das 
Solide  iränzlich  au^ehoben  werden-'  (41(0?  Als  ob  nicht  Kant 
gerade  gezei.^t  hiitte.  dal's  durch  die  Zurückstorsung  allein  ohne 
Anziehungskraft  das  Solide  durch  Zerstreuung  ganz  ebenso  aufge- 
hoben würde,  wie  durch  die  blofse  Anziehungskraft!  Es  ist  ja  gar 
kein  Grund  vorbanden,  die  eine  Kraft  für  positiver  oder  negativer 
anzusehen  als  die  andere,  da  beide  ^deich  positiv  oder  gleich 
negativ  sind.  Daher  ist  es  auch  l«h)rs(^  Si)i('l(4-ei.  wenn  Kant  die 
Einschränkung  der  ]lepulsion  durch  die  Attraktion  und  ,,die  daher 
rührende  Bestimmung  des  Grades  einer  Erfüllung  des  Kaumes''  mit 
der  Kategorie  der  Limitation  in  Verbindung  setzt  (ebd.).  Könnte 
man  doch  mit  demselben  fechte  bei  diesem  „Gesetze  des  Verhält- 
nisses" der  beiden  Grundkräfte  sich  auf  die  Hehition  berufen,  wo- 
mit dann  freilich  das  ganze  schöne  (lebäude  von  Beziehungen  zur 
Kategorieentafel  über  den  Haufen  geworfen   wäre.   — 

Die  eigentliche  metaphysische  Ableitung  der  Materie  erstreckt 
sieb,  wie  gesagt,  nur  auf  ihre  Grundkräfte.  Schon  die  Erage  njich 
der  bestimmten  Kaumerfüllung  oder  der  Miigliclikeit  des  Kr>rpers 
liefs  nur  eine  mathematische  Bebandlungsweise  zu.  welclie  bei  der 
Unsicherheit  gewisser  Grundannahmen  auf  absolute  Sicherheit  keinen 
Anspruch  machen  konnte.  Aber  die  Materie  ist  auch  niemals  blofs 
Materie  in  einer  bestimmten  kr)ri)erliclien  (Testalt,  sie  hat  immer 
zudeich  auch  eine  bestimmte  innere  Beschafl'enheit  in  der  Ge- 
staltung,  und  es  erscheint  für  die  Naturwissenschaft  als  „die  vor- 
nehmste aller  ihrer  Aufi^^aben*'  (427).  diese  spezifischen  Ver- 
schiedenheiten zu  erklären.  Ist  eine  solche  Erklärun^^  auf  dem 
Standpunkt  der  Dyniimik  möglich,  und  wie  wird  sich  dieselbe  ge- 
stalten? Das  ist  die  Erage,  bei  der  es  sich  zeigen  mnfs,  oi)  die 
gefundenen  Grundbegritfe  für  die  Praxis  fruchtbar,  odei-  ob  sie 
blofs  von  rein  theoretischer  Bedeutung  sind,  .während  die  Natur- 
erscheinungen einer  dynamischen   Erklärung  sj)otten. 

Hier  hat  nun  offenbar  die  mechanische  Xiituranschauung  beim 
ersten  Anblick  „einen  Vorteil,  der  ihr  nicht  abgewonnen  werden 
kann-'  (418).  Denn  ohne  sich  anderer  Voraussetzungen  zu  bedienen, 
als  eines  durchgehends  gleicharti^u'u  Stolfes.  einer  mannigfaltigen 
Gestaltung  seiner  Teile  (Atome)  und  zwischen  ihnen  eingestreuter 
leerer  Zwischenräume,  bringt  sie  es  fertig',  di(^  ins  Unendliche 
gehende  spezihscbe  Mannigfaltigkeit  der  Materien ,  sowohl  ihrer 
Dichtigkeit,  als  Wirkungsart  nach,  nicht  blofs  mathematisch  aus- 
zurechnen, sondern  sogar  in  der  Anschauung  darzustellen.  Genauer 
zugesehen  ist  jedoch  dieser  Vorteil  nur  scheinl)ar.  Der  mechanischen 
Naturphilosophie    kommt    es    nämlich    eigentlich    gar  nicht   auf  Er- 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


323 


kenntnis  des  Wesens  der  Naturerscheinuni^en  an.  sie  ist  keine 
„Experimentalpl)ilosoi)hie''  (42S),  sondern  ..eine  blofs  mathematische 
Physik"  (41(S).  indem  sie  mit  lauter  „unbedingten  ursprünglichen 
Positionen"  (4:U))  operiert,  die  zwar  für  die  Kechnung  höchst  frucht- 
bar sind,  aber  eine  metaphysische  Bedeutung  nicht  beanspruchen 
können.  Die  absolute  Undurchdrin.t.dichkeit  des  Stoffs,  die  aller 
eigenen  Kräfte  beraubte  i\[aterie,  die  ursprünglichen  Konfigurationen 
des  Grundstoffs,  mit  allem  diesen  kann  der  Verstand  sich  nicht 
zufrieden  geben,  w^eil  er  ihr  Wesen  nicht  einzusehen  vermag.  Vor 
allem  aber  kann  er  sich  mit  der  Annahme  eines  leeren  Kaumes 
nicht  befreunden,  deren  jene  Anschauung  notwendig  bedarf,  um  die 
s])ezitischen  Unterschiede  in  der  Dichtigkeit  der  Materien  zu  erklären, 
und  deshalb  ist  er  aufser  Stande,  die  mechanische  Naturbetrachtung 
sich  anzueignen. 

Wir  kennen  bereits  Kants  xAbneigung  gegen  den  leeren  Raum, 
die  er  von  Leibniz  und  seiner  Schule  übernommen  hatte.  Wir 
haben  auch  gesehen,  welche  Gründe  ihn  in  seiner  Physischen 
Monadologie  bewogen,  die  Annahme  des  leeren  Kaumes  von  der 
Hand  zu  weisen  (vgl.  oben  S.  lif)  f.).  Waren  dieselben  hier  wesent- 
lich meta})hysischer  Art  gewesen.  Gründe,  deren  Unstichhalti,i.^keit 
Kant  vielleicht  selbst  noch  eingesehen  hätte,  wäre  er  auf  jenem 
d()-:matischen  Wege  fortgeschritten,  so  fiel  diese  Mfiglichkeit  gänz- 
lich hinweg,  als  ihm  bei  Abfassun.i]:  der  Vernunftkritik  die  meta- 
physischen Grüiah'  sich  in  einen  t  r  an  s  cend  e  n  t  alen  Grund 
verwandelten,  ist  es  wahr,  dafs  alle  Keahtät  nur  in  der  Empfindung 
liegt,  und  dafs  real  nur  etwas  ist,  sofern  es  den  Stemjxd  der  Em- 
])findung  an  sich  trägt,  dann  kann  es  keine  leeren  ]{äume  geben, 
weil  der  leere  Kaum,  als  das  Jiealitätslo  se ,  niemals  ein  Inhalt  der 
Emj)findung  werden  kann.  Damit  war  das  Schicksal  des  leeren 
Kaumes  besiegelt.  In  dem  Abschnitt  über  den  Grundsatz  der  Anti- 
zipationen der  Wahrnehmung  hatte  ihm  Kant  bereits  sein  nahes 
Ende  verkündet,    und  die   Dynamik    giebt   ihm   nun   den  Todesstofs. 

Wie  früher,  so  ist  Kant  auch  jetzt  noch  der  Ansicht,  die  Ein- 
streuung leerer  Käume  müs.se  „der  Einbildungskraft  im  Eelde  der 
J*liiloso})hie  mehr  Ereiheit,  ja,  gar  rechtmäfsigen  Ansj)ruch  ver- 
statten, als  sich  wohl  mit  der  Behutsamkeit  der  letzteren  zusammen- 
reimen läfsf  (4bS).  ,. Alles,  was  uns  des  Bedürfnisses  überhebt. 
zu  leeren  Bäumen  unsere  Zuflucht  zu  nehmen,  ist  wirklicher  Gewinn 
für  die  Naturwissenschaft.  Denn  diese  geben  gar  zu  viel  Ereiheit 
der  Einbildungskraft,  den  Mangel  der  inneren  Naturkenntnis  durch 
Erdichtung  zu  ersetzen.  Das  absolut  Leere  und  das  [d)solut  Dichte 
sind    in    der    Naturlehre    ungefähr    das,    was  der  blinde  Zufall  und 

21* 


'5' 


%  I 

J 


324 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


das  blinde  Schicksal  in  der  metaphysischen  Weltwissenschaft  sind, 
nämlich  ein  Schla^rbaum  für  die  forschende  Vernunft,  damit  ent- 
weder Erdichtun^^  ihre  Stelle  einnehme,  oder  sie  auf  dem  Polster 
dunkler  Qualitäten  zur  Ixulie  gebracht  werde"  (427).  Hätte  die 
dynamische  Naturanschauun.t,^  keinen  andern  Vorzug,  als  da(s  sie 
die  Annahme  des  leeren  Raumes  entbelirlich  macht,  so  wäre  sie 
schon  dadurch  der  mathematisch-mechanischen  Krklärungsart  un- 
endlich überlegen.  Es  bedarf  ja  zu  ihrer  lieehtfertigung  weiter  gar 
keiner  Gründe,  es  genügt  vielmehr  ,.allein  das  Postulat  der  mecha- 
nischen Erklärungsart:  dal's  es  unmöglich  sei,  sich  einen  spezitischen 
Unterschied  der  Diehtigkeit  der  Materien  ohne  Heimischung  leerer 
liäume  zu  denken,  durch  die  blofse  Anführung  einer  Art.  wie  er 
sich  ohne  Widerspruch  denken  lasse,  zu  widtM'legcn.  Denn  wenn 
das  gedachte  Postulat,  worauf  die  blols  nuH'hanische  Erklärungsart 
fufst,  nur  erst  als  Grundsatz  für  ungültig  erklärt  worden,  so  ver- 
steht es  sich  von  selbst,  dals  man  es  als  Hypotliese  in  der  Natur- 
wissenschaft nicht  aufnehmen  müsse,  so  lange  noch  eine  Möglichkeit 
übrig  bleibt,  den  spezitischen  Unterschied  der  Dichtigkeiten  sich 
auch  ohne  alle   leeren   Zwischenräume  zu  denken''    (428  f.). 

Diese  Möglichkeit    beruht    nun  dai-auf.    dals  die  Materie  ihren 
Kaum    nicht    durch    absolute    Undurchdringlichkeit,    sondern    durch 
rei)ulsive  Kriift  von  bestimmtem  Grade  erfüllt,   der  seinerseits  in   ver- 
schiedenen    Materien    sehr    verschieden    sein    kann.     Die    re])ulsive 
Kraft  ist  nur  in  ihrer  Vereinigung  mit  der  Anziehungskraft  Materie, 
die  Anziehung  aber  ist  der  (Quantität  der  Materie  gemäfs  oder  be- 
ruht auf  der  Menge   der  Materie  in  einem  geg(d)enen  Paume;   folg- 
lich   kcinnen    bei    gleicher    Anziehungskraft    die    Materien    trotzdem 
sehr  verschieden  sein,  oder  der  Grad  der  Ausdehnung  dieser  Materien 
läfst  bei  derselben  (Quantität  der  Materie,   und   umgek(*hrt  die  (^)uan- 
tität  der  Materie  bei   demselben   Volumen,  d.  i.  die  Dichtigkeit  der- 
selben, läfst  ursprünglich   die   gröl'sten  spezifischen    Unterschiede    zu 
(417.   429).      Damit    ist    der   Naturwissenschaft    geholfen,     „weil    ihr 
dadurch  die  Last  abgenommen  wird,    aus    dem   Vollen    und   Leeren 
eine    Welt    blofs    nach    der    Phantasie    zu    zimmern,    vielmehr  alle 
Räume  voll  und  doch  in  verschiedenem  Grade  erfüllt  gedacht  werden 
können,     wodurch    der    leere    Raum    w^enigstens  seine   Notwendigkeit 
verliert  und  auf  den  Wert  einer  Hypothese  zurückgesetzt  wird,    da 
er  sonst  unter  dem  Verwände  einer  zur  Erklärung  der  verschiedent- 
lichen    Grade    der    Erfüllung    des    Raumes    notwendigen  Pedmgung 
sich    den    Titel    eines    Grundsatzes    anmafsen    konnte"    (417).     Die 
Möglichkeit  des  leeren  Raumes  „läfst  sich  nicht  streiten.     Allein 
leere   Räume  als  wirklich  anzunehmen,   dazu  kann  uns  keine  P]r- 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


325 


falirung  oder  Schlufs  aus  derselben  oder  notwendige  Hypothesis,  sie 
zu  erklären,  berechtigen.  Denn  alle  Erfahrung  giebt  uns  nur 
kom])arativ-leere  Räume  zu  erkennen,  welche  nach  allen  beliebigen 
Graden  aus  der  Eigenschaft  der  Materie,  ihren  Raum  mit  gröfserer 
oder  bis  ins  Unendliche  immer  kleinerer  Ausspannungskraft  zu  er- 
füllen, vollkommen  erklärt  werden  können,  ohne  leere  Räume  zu 
bedürfen"  (4:iU). 

AVir    sagten    früher,    die  Widerlegung   des    leeren  Raumes  von 
Seiten  Kants    sei  nur   ein  Kampf    gegen  Windmülilen.    weil  er  auf 
einem  Standpunkt  geführt  werde,  wo  der  Gegensatz  des  leeren  und 
des  vollen  Raumes  ül)erhau])t   keine  Bedeutung   hat.      „AVenn  Kant 
statt    der    mechanischen  Raumerfüllung    durch    den   Stoff    eine  Er- 
füllung des  Raumes  durch  Kräfte  setzt,  so  widerspricht  dies  der 
Natur  der  Kraft,  deren  Wesen  erfahrungsmäfsig  gerade  darin  besteht, 
dafs  unzählige  Kräfte  nach  allen  Richtungen  einander  durchkreuzen 
kchinen,   ohne  sich   im  mindesten  zu  stiiren  oder  zu  verdrängen.     l)(^r 
Raum    wird    deshalb  von    diesen  Kiäften    nicht    erfüllt    odei-  einüe- 
nominell .    sondern    bleibt    trotz    ihrer    ein    leerer.     Alan    mag  ver- 
suchen,  wie  Kant  thut.   die  Natur  rein   dynamisch  zu   erklären,   aber 
dann    mufs    man    auch    die    Erfüllung    des  Raumes    ganz    bei  Seite 
lassen ;  es  giebt  dann  nur  Kraftcentren  ohne  alle  Ausdehnung  und 
Kräfte,    die  von    diesen  Centren    gegen    andere  Centren   abstofsend 
oder  anziehend  wirken,   wobei  weder  diese  punktuellen  Centren,  noch 
ihre  Kräfte    den  Raum  erfüllen,    sondern    wo   jene  Centren    nur 
mathematische    Punkte    im    Raum    einnehmen    und    die  Kräfte    den 
Raum  in  allen  Richtungen  durchdringen,    oiiiie  sich    dabei  im  min- 
desten zu  stiu'en   oder  zu  hemmen.     Allein,    wie  Kant  verfährt,  die 
Kraftcentren  nach  ihrer  Natur  unbestimmt  zu  lassen  und  eine   Er- 
füllung des  Raumes  durch    deren  Kräfte  zu  setzen,  sind  Unklar- 
heiten, welche  seiner  Lehre  sowohl  die  Konse(pienz  der  mechanischen, 
wie    der  dynamischen   Naturerklärung   entziehen." '•')     Wenn    es    ein 
Analogon    für    die   Erfüllung    des  Raumes    giebt,    so  kchmte  es  imr 
in  der  Abstolsungskraft  der  Atheratome  gefunden   werden,    die  alle 
übrigen  Atome  nur  bis  auf  eine  gewisse  Entfernung  an  sich  heran- 
kommen lassen,    worauf  eben   der  Begriii'   der  Undurchdringlichkeit 
beruht.     Indessen    eine    eigentliche    Erfüllung    im    stofflichen  Sinne 
findet  auch  hierbei  in  AVirklichkeit  nicht  statt.     Noch  viel  weniger 
aber  kann   von  einer  solchen   bei  den  Körperatomen    die  J\ede  sein, 
da  Körperatome,    die    nicht    durch  Ätheratome    auseinandergehalten 
werden,  einer  vollkommenen  Durchdringung  und  Verschmelzung  kein 


%: 

'"^, 


.'' 


ff 


*)  v.  Kirch  mann:   a    a.   O.  52  1. 


32G 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


32 


Hindernis    entgegensetzen,    sondern     frei    durcheinander     liindurcli- 
scliwingen  würden.'*') 

iVuf  dem  Standpunkte  der  Physischen  Monadologie  war  die 
Bekämpfung  des  leeren  Raumes  zum  mindesten  übertlüssig,  auf  dem- 
jenigen der  Dynamik  ist  sie  geradezu  falsch.  Denn  wenn  Kant  die 
Materie  auf  diesem  Standpunkt  als  einen  den  Raum  kontinuierlich 
erfidlenden  Stotf  bestimmt  und  damit  der  Annahme  des  leeren  Raumes 
zu  entgehen  sucht,  so  erreicht  er.  wie  wir  gesellen  haben,  das  h'tztere 
nur  um  den  Preis  einer  Verzichtleistung  auf  jegliche  Erklärung  der 
Naturerscheinungen.  Bei  jener  Voraussetzung  ist  ja  gar  keine  He- 
weijunfjr  des  Stoffs,  nicht  einmal  eine  Aussonderung  von  einzelnen 
Elementen  aus  dem  allgemeinen  Stoffe  denkbar:  vielmehr  mufs  erst 
der  leere  Kaum  hinzukommen,  der,  als  Prinzip  der  Individuation, 
nicht  bhjfs  den  Stoff  in  seine  Kiemente  sj)altet.  sondern  auch  Be- 
wegung unter  diesen  m()glich  macht,  oder  mit  andern  Worten:  der 
Dynamismus  Kants  mufs  erst  wieder  in  sein  (TCgenteil.  aus  dem  er 
selbst  hervorgegangen  ist,  di(>  At(unistik.  umschlagen,  ehe  er  als 
Erklärungsprinzip  überhau))t  l)rauchbar  ist.  Soll  er  trotzdem  Dyna- 
mismus bleiben,  so  kann  er  nur  a  to  m  i  s  t  i  sc  h  e  r  Dynamismus 
sein;  ein  solcher  al)er  ist  nur  unter  der  Voraussetzung  möglich, 
dafs  es  eine  kontinuierliche  Firfiillung  des  Raumes  durch  den  Stoft' 
nicht  giebt,  dafs  es  üb(>rhaupt  keine  Erfüllung  des  Kaumes  giebt, 
und  dafs  der  (xcgensatz  des  vollen  und  des  leeren  Ixaumes  nur  eine 
Abstraktion  in  unserem  Bewuistsein  ist.  hervorgegangen  aus  der 
Wahrnehmung  des  Stoties,  der  eben  nur  im  Bewuistsein  Existenz 
besitzt. 

Niclit  darin  beruht  der  Wert  des  Dynamismus,  dafs  er  eine 
den  Kaum  kontinuieilich  erfüHende  Materie  annimmt,  somk^rn  darin, 
dafs  es  Kriifte  sind,  die  nach  ihm  die  Materie  bilden  sollen.  Und 
ebenso  beruht  der  Wert  der  Atomistik  nicht  darin,  dafs  sie  stoff- 
liche Elemente  annimmt,  sondern  darin,  dafs  nach  dieser  Anschauung 
die  Materie^  in  diskrete  Elemente  zerfaUen  soll. "'"•')  Die  Einsicht 
in  die  dvnamisclie  Natur  der  Elemente  macht  die  Theorie  der 
Materie  zu  einer  erkenntnistheoretisch-  und  meta])hysisch  haltbaren 
und  reinigt  sie  von  den  W^idersprü(;hen,  welche  der  Annahme  des 
stofflichen  Atoms  anhatten.  Die  Erkenntnis,  dals  die  Elemente 
diskrete  sind  und  sozusagen  K  r  a  f  t  i  n  d  i  v  i  d  u  e  n  repräsentieren, 
ermöglicht    eine  Beziehung    ihrer    räumlichen   Wirkungen    auf    fest 


*)  V^l.  V.   Hartuiann:  Phil.  d.   Tiihew.   IL    106. 

**)  ^gl-  l'^echiier:    ITher  die  physikalische   u.   pliilosophische  Atoinenlehre 
(1855J  Cap.  11-lV. 


I 


5;- 


bestimmte  Ausgangspunkte  und  macht  damit  die  Theorie  der  Eechnung 
zugänglich,  d.  h.  zu  einer  ])raktisch  verwendbaren.  Kant  sucht  die 
Vorzüge  der  dynamischen  und  atomistischen  Anschauung  beide  Male 
an  verkehrten  Enden  und  daher  verfehlt  er  notwendig  sein  Ziel, 
anstatt  sie  zu  einem  atomistischen  Dynamismus  zu  verschmelzen, 
welcher  die  metaphysische  Annehmbarkeit  mit  ihrer  praktischen 
Brauclibarkeit  vereinigt. 

Hiervon  abgesehen,  dürfte  Kants  Ansicht  über  die  Atomistik 
bei  denkenden  Naturforschern  heute  kaum  noch  einem  Widerspruch 
begegnen.  Die  Atomistik  ist  eine  in  methodologischer  Hinsicht 
unschätzbare  Anschauungsweise,  sofern  sie  sich  damit  bescheidet, 
nur  ein  ideales  Schema,  ein  Hilfsmittel  zu  sein,  um  Mathe- 
matik auf  Erfahrung  anzuwenden.  Wenn  sich  der  Naturforscher 
den  kontinuierlichen  Stoff',  wie  er  ihm  in  der  Anschauung  unmittelbar 
entgegentritt,  in  einzelne  nicht  weiter  teilbare  Elemente  zerlegt 
denkt  und  diese  zu  festen  Anhaltspunkten  nimmt,  um  sich  die 
(jualitativen  Unterschiede  in  der  Natur  als  (luantitative  (räumliche) 
und  daher  berechenbare  Verhältnisse  darzustellen,  so  ist  er  in  seinem 
guten  Kecht;  es  ist  auch  für  seine  Zwecke  einerlei,  ob  er  sich  jene 
Elemente  von  einer  bestimmten  Gröfse,  oder  ob  er  sie  sich  blofs 
als  Punkte  denkt.  Erst  wenn  er  sich  den  Kang  eines  Philosophen 
anmalst,  wenn  er  das  l)lofs  methodologische  Prinzip  mit  dem  rein 
sachlichen  Prinzip  verwechselt  und  verlangt,  sein  ideales  Schema 
unmittelbar  für  die  Sache  selbst  zu  nehmen,  erst  dann  verfällt  die 
Atomistik  der  Kritik  und  mufs  sich  gefallen  lassen,  von  der  Philo- 
sophie in  ihre  Schranken  gewiesen  zu  werden,  die  zu  überschreiten, 
für  beide  Teile  gleich  gefährlich  ist.  Nur  ein  philosophisch  ganz 
roher  Naturforscher,  dcmi  niemals  das  Problem  der  Erkenntnistheorie 
durch  den  Ko])f  gegangen  ist,  kam»  glauben,  an  den  stofflichen 
Atomen  die  letzten  Elemente  der  materiellen  A\'elt  zu  besitzen.  Nur 
ein  in  den  Prinzi])ien  der  Naturwissenschaft  befangener  Philosoph, 
d(>m  die  unleugbaren  Erfol.i^e  jener  Wissenschaft  zu  Kopf  gestiegen 
sind,  kann  sich  einbilden,  jene  Elemente  müfsten  stoff'lich  sein,  weil 
die  Naturforschung  auf  dieser  Anschauung  zu  ihrer  Gnifse  empor- 
gestiegen ist.  Die  Notwendigkeit  (^iner  scharfen  Sonderung  der 
mathematischen  und  meta])hvsischen  Naturerklärung  (die  schon 
leise  in  der  Unterscheidung  des  geometrischen  und  physischen  Kaumes 
in  der  Schule  von  Leibniz  und  Wol  ff  anklingt),  diese  Not- 
wendigkeit zuerst  klar  eingesehen,  erkannt  zu  haben,  dafs  dem  Dyna- 
nismus,  als  dem  eigentlich  metaphysischen  Prinzip,  der  Vorrang  vor 
dem  (materialistischen)  Atomismus  gebühre,  das  ist  das  grofse  und 
unbestreitbare  Verdienst   der  kantischen  Naturphilosophie,   welches 


) 


I*' 


r 


328 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


auch  dadurch  nicht  geschmälert  wird,  dai's  Kant  selbst  vom  Aber- 
glauben an  den  metaphysischen  Seinswert  des  Stoffes  sich  noch  nicht 
völlig  frei  gemacht  hat  und  mit  seinem  eigenen  Dynaniisnms  in 
einer  unhaltbaren  Venjuickung  der  reinen  Kraft-  mit  der  Kraft- 
Stofftheorie  stecken  geblieben  ist. 

Die  wahre,  d.  h.  dynamische,  Theorie  der  Materie  kann  nicht 
von  der  Naturwissenscliaft,  sondern  nur  von  der  ^Metaphysik  gehefert 
werden.  „Und  so  ist  Nachforschung  der  Metaphysik  hinter  dem, 
was  dem  empirischen  Begriffe  der  Materie  zum  Grunde  liegt,  nur 
zu  der  Absicht  nützlich,  die  Naturpliilosophie,  so  weit  als  es  immer 
möglich  ist,  auf  die  Erforschung  der  dynamischen  Krklärungsgründe 
zu  leiten,  weil  diese  allein  bestimmte  Gesetze,  folglicii  wahren  V^er- 
nunftzusammeniiang  der  p]rklärungen  hoffen  lassen-'  {V2^J  W).  Dies 
ist  aber  auch  alles,  was  Metaj)hysik  zur  Konstruktion  des  Hegriffs 
der  Materie,  mithin  zum  Behuf  der  Anwendung  der  ^lathematik 
auf  Naturwissenschaft  in  Ansehung  der  Eigenschaften,  wodurch 
Materie  einen  Kaum  in  bestimmtem  Mal'se  erfüllt,  nur  immer  leisten 
kann.  Sie  analysiert  die  uns  unmittelbar  gegebenen  Eigenschaften 
des  Stoffes  und  führt  sie  auf  die  beiden  Grundkni fte.  als  ihre  meta- 
])hysischen  Ursachen,  zurück.  „Allein  wer  will  die  Möglichkeit  der 
Grundkriifte  einsehen?"  (4 IN).  Sie  können  nur  angenommen  wer<len. 
weil  sie  zu  dem  ersten  und  allgemeinsten  Grundbegriffe  der  Materie 
überhau])t,  dem  Begriffe  der  Baumerfüllung,  „unvermeidlich  gehören" 
(ebd.),  aber  sie  selbst  noch  weiter  zu  analysieren,  ist  dadurch  aus- 
geschlossen, dafs  sie  eben  Grundkräfte  sind.  „Denn  es  ist  über- 
haupt über  dem  Gesichtskreis  unserer  Vernunft  gelegen,  ursprüng- 
liche Kräfte  a  priori  ihrer  M()glichkeit  nach  einzusehen  :  vielmehr 
besteht  alle  Naturphilosophie  in  der  Zurückführung  gegebener,  dem 
Anscheine  nach  verschiedener  Kräfte  auf  eine  geringere  Zahl  Kräfte 
und  Vermögen,  die  zur  Erklärung  der  Wirkungen  der  ersten  zu- 
langen, welche  Beduktion  aber  nur  bis  zu  Grundkräften  fortgeht, 
über  die  unsere  Vernunft  nicht  hinauskann •'   (121)). 

Hiermit  ist  dem  Einwand  v()rg(l)eugt,  als  ob  die  Zerlegung 
der  Materie  in  ihre  Grundkräfte  doch  schliefslich  keine  Erklärung, 
sondern  nur  ein  anderer  Name  für  die  gleiche  Sache  sei.  Nichts 
wäre  verkehrter,  als  jene  beiden  Kräfte  etwa  auf  eine  Stufe  mit 
den  „verborgenen  Eigenschaften"  der  Scholastiker  zu  stellen.  Die 
Scholastiker  waren  mit  ihrer  (jualitas  occulta  überall  zur  Hand,  wo 
sie  eine  Naturerscheinung  nicht  weiter  erklären  konnten.  Sie  fragten 
nicht,  ob  verschiedene  Erscheinungen  nicht  unter  ein  und  dasselbe 
Gesetz  sich  bringen  liefsen ;  sie  gaben  sich  auch  keine  Mühe,  tiefer 
in    den    Zusammenhang    von    Ursache    und    Wirkung    einzudringen. 


II,  Die  kritische  Naturphilosophie. 


329 


I 


Ungeübt,  der  Natur  selbst  Fragen  zu  stellen,  um  sich  von  dieser 
die  Antwort  geben  zu  lassen,  blieben  sie  vielmehr  an  der  Oberfläche 
der  Erscheinungen  haften  und  fühlten  sich  befriedigt,  wenn  sie  einem 
Dinge  die  Kraft  derjenigen  Wirkung  beilegten,  die  sie  dasselbe 
hervorbringen  sahen,  also  z.  B.  die  Wärme  aus  einer  erwärmenden 
Kraft,  das  Licht  aus  einer  Leuclitkraft  erklärten  u.  s.  w.  Von 
dieser  Art  einer  sogenannten  Natureiklärung  ist  die  Dynamik  weit 
entfernt.  Zwar  führt  auch  sie  schliefslich  auf  Kräfte  hin,  die  selbst 
keine  weitere  Erklärung  zulassen,  aber  diese  Kräfte  stehen  am  Ende 
einer  langen  Beihe  von  Erwägungen,  sie  bilden  das  identische  Grund- 
])rinzip.  im  Vergleich  zu  welchem  selbst  so  allgemeine  Eigenschaften 
der  Materie,  wie  die  Undurchdringlichkeit,  nur  als  dessen  jModifi- 
kationen  sieh  darstellen,  ja,  sie  tragen  so  sehr  den  Charakter  der 
Notwendigkeit  an  sich,  dafs  sie  nicht  beliebig  erdacht,  sondern  als 
im  Wesen  der  Vernunft  selbst  begründet  erscheinen.  Wenn  Kant 
die  Idee  der  Einheit  als  den  charakteristischen  Inhalt  der  Vernunft 
bestimmt  hat,  so  kann  nun  die  letztere  zufrieden  sein :  das  Gesetz  der 
Homogeneität  hat  den  Natur[)hilosoj)lien  durch  die  Mannigfaltigkeit 
der  Erscheinungen  hindurch  zu  demjenigen  letzten  Einheits})unkte 
hingeführt,  worin  die  Ursachen  aller  Erscheinungen  schliefslich  zu- 
sammenlaufen, den  Grundkräften,  ohne  welche  Materie  selbst  nicht 
möglich  ist.  Aber  auch  dem  Gesetze  der  Spezitikation  ist  genügt, 
weil  die  Besonnenheit  den  Forscher  davon  abhielt,  alle  Kräfte 
schliefslich  in  einer  einzigen  aufgehen  zu  lassen,  die  für  sich  allein 
zur  Erklärung  der  Materie  nicht  zureichen  würde. 

Viel  bedeutsamer  erscheint  ein  anderer  Einwand.  dcMi  man   dem 
Dynamismus  machen  könnte,  und  der,   wenn  er  berechtigt  wäre,  den 
letzteren    allerdings    mitten    ins  Herz    treffen    würde.      Im    Hinblick 
darauf,   dafs  uns  ja  die  Kraft  als  solche  nicht  gegeben,  sondern  nur 
aus  der  gesetzmäfsigen  Bewegung  des  Stoffes  von  uns,  als  deren  Ur- 
sache,  erschlossen  ist,   kcmnte  man  nämlich  versucht  sein,  zu  glauben, 
die  Kraft    sei    überhau])t    kein    wirkliches    Prinzip,     kein     reales 
Moment  im  Naturgeschehen,  sondern  nur  eine  Vorstellung  in  unserem 
Bewufstsein,   welcher  an  sich   nur  das  Gesetz  entspricht.     In  diesem 
Einwand  vereinigen   sich   die  materialistisch  gesinnten  Naturforscher, 
denen    das    immaterielle  Prinzij)    der  Kraft    ein    geheimer  Dorn    im 
Auge  ist,  mit  den  auf  der  Höhe  der  „Moderne"  stehenden  Schwärmern 
für  die   „reine   Erfahrung",   welche  die  einzige  x\ufgabe  der  Wissen- 
schaft in  die  getreue  Konstatieruiig  des  Positiven  setzen  und  jegliche 
Deutung  und  vergeistigende  Auslegung  des  gegebenen  Materials  als 
ein    Überschreiten    der    Grenzen    der   Wissenschaftlichkeit  verpönen. 
Tritt    dann    noch    gar  ein  Philosoi)h    auf,    wie   Fechner,    der  auf 


^' 


/ 


1 


.f; 
i. 


328 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


329 


auch  dadurch  nicht  geschmälert  wird,  dais  Kant  selbst  vom  Aber- 
ghiuben  an  den  nieta])hysischen  Seinswert  des  Stoffes  sich  noch  nicht 
völlig  frei  gemacht  hat  und  mit  seinem  eigenen  Dynaniisnius  in 
einer  unhaltbaren  Verquickung  der  reinen  Kraft-  mit  der  Kraft- 
Stofftheorie  stecken  geblieben  ist. 

Die  wahre,  d.  h.  dynamische,  Theorie  der  Materie  kann  nicht 
von  der  Naturwissenschaft,  sondern  nur  von  der  Metaphysik  geliefert 
werden.  „Und  so  ist  Nachforschung  der  Metaphysik  hinter  dem, 
was  dem  empirischen  Begriffe  der  Materie  zum  Grunde  liegt,  nur 
zu  der  Absicht  nützlich,  die  Naturphilosophie,  so  weit  als  es  immer 
möglich  ist,  aui'  die  Erforschung  der  dynamischen  Erklärungsgründe 
zu  leiten,  weil  diese  allein  bestimmte  Gesetze,  folglich  wahren  Ver- 
nunftzusammenhang  der  Erklärungen  hoffen  lassen*'  (429  f.).  Dies 
ist  aber  auch  alles,  was  Metaphysik  zur  Konstruktion  des  Begriffs 
der  Materie,  mithin  zum  Behuf  der  Anwendung  der  ]\Iathematik 
auf  Naturwissenschaft  in  Ansehung  der  Eigenschaften,  wodurch 
Materie  einen  Kaum  in  bestimmtem  Mal'se  erfüllt,  nur  immer  leisten 
kann.  Sie  analysiert  die  uns  unmittelbar  gegebenen  Eigenschaften 
des  Stoffes  und  führt  sie  auf  die  beiden  Grundkräfte,  als  ihre  meta- 
])hysischen  Ursachen,  zurück.  „Allein  wer  will  die  Möglichkeit  der 
Grundkräfte  einsehen?''  (4 IN).  Sie  können  nur  angenommen  werden, 
weil  sie  zu  dem  ersten  und  allgemeinsten  Grundbegriffe  der  Materie 
überhau])t,  dem  Begriffe  der  l^aumerfüllung,  „unvermeidlich  gehören" 
(ebd.),  aber  sie  selbst  noch  weit(T  zu  analysieren,  ist  dadurch  aus- 
geschlossen, dafs  sie  eben  Grundkräfte  sind.  „Denn  es  ist  über- 
haupt über  dem  Gesichtskreis  unserer  Vernunft  gelegen,  ursprüng- 
liche Kräfte  a  priori  ihrer  Möglichkeit  nach  einzusehen :  vielmehr 
besteht  alle  Naturphilosoi)hie  in  der  Zurückführung  gegebener,  dem 
Anscheine  nach  verschiedener  Kräfte  auf  eine  geringere  Zahl  Kräfte 
und  Vermögen,  die  zur  Erklärung  der  W^irkungen  der  ersten  zu- 
langen, welche  lleduktion  aber  nur  bis  zu  Grundkräften  fortgeht, 
über  die  unsere  Vernunft  nicht  hinauskann •'  (429). 

Hiermit  ist  dem  Einwand  vorgebeugt,  als  ob  die  Zerlegung 
der  Materie  in  ihre  Grundkräfte  doch  schliefslich  keine  Erklärung, 
sondern  nur  ein  anderer  Name  für  die  gleiche  Sache  sei.  Nichts 
wäre  verkehrter,  als  jene  beiden  Kräfte  etwa  auf  eine  Stufe  mit 
den  „verborgenen  Eigenschaften"  der  Scholastiker  zu  stellen.  Die 
Schohistiker  waren  mit  ihrer  (lualitas  occulta  überall  zur  Hand,  wo 
sie  eine  Naturerscheinung  nicht  weiter  erklären  konnten.  Sie  fragten 
nicht,  ob  verschiedene  Erscheinungen  nicht  unter  ein  und  dasselbe 
Gesetz  sich  bringen  liel'sen ;  sie  gaben  sich  auch  keine  Mühe,  tiefer 
in    den   Zusammenhang   von    Ursache    und    Wirkung    einzudringen. 


1 


■1 


Ungeübt,  der  Natur  selbst  Fragen  zu  stellen,  um  sich  von  dieser 
die  Antwort  geben  zu  lassen,  blieben  sie  vielmehr  an  der  Oberfläche 
der  Erscheinungen  haften  und  fühlten  sich  befriedigt,  wenn  sie  einem 
Dinge  die  Kraft  derjenigen  Wirkung  beilegten,  die  sie  dasselbe 
hervorbringen  sahen,  also  z.  B.  die  Wärme  aus  einer  erwärmenden 
Kraft,  das  Licht  aus  einer  Leuciitkraft  erklärten  u.  s.  w.  Von 
dieser  Art  einer  sogenannten  Natureiklärung  ist  die  Dynamik  weit 
entfernt.  Zwar  führt  auch  sie  schliefslich  auf  Kräfte  hin,  die  selbst 
keine  weitere  Erklärung  zulassen,  aber  diese  Kräfte  stehen  am  Ende 
einer  langen  Reihe  von  Erwägungen,  sie  bilden  das  identische  Grund- 
])rinzij),  im  Vergleich  zu  welchem  selbst  so  allgemeine  Eigenschaften 
der  Materie,  wie  die  Ilndurchdringlichkeit.  nur  als  dessen  Modifi- 
kationen sich  darstellen,  ja,  sie  tragen  so  sehr  den  Charakter  der 
Notwendigkeit  an  sich,  dal's  sie  nicht  beliebig  erdacht,  sondern  als 
im  Wesen  der  Vernunft  selbst  begründet  erscheinen.  W^'iin  Kant 
die  Idee  der  Eiidieit  als  den  charakteristischen  Inhalt  der  \'ernunft 
bestimmt  hat,  so  kann  nun  die  letztere  zufrieden  sein :  das  Gesetz  der 
Homogeneität  hat  den  Naturphil()SO])heii  durch  die  Mannigfaltigkeit 
der  Erscheinungen  hindurch  zu  demjenigen  letzten  Einheitspunkte 
hingeführt,  w(»rin  die  Ursachen  aller  Erscheinungen  schliefslich  zu- 
sammenlaufen, den  Grundkräften,  ohne  welche  Materie  selbst  nicht 
möglich  ist.  Aber  auch  dem  Gesetze  der  Spezifikation  ist  genügt, 
weil  die  Besonnenheit  den  Forscher  davon  abhielt,  alle  Kräfte 
schliefslich  in  einer  einzigen  aufgehen  zu  lassen,  die  für  sieh  allein 
zur  Erklärung  der  Materie  nicht  zureichen  würde. 

Viel  bedeutsamer  erscheint  ein  anderer  Einwand,  den  man   dem 
Dynamismus  machen  könnte,  und  der.   wenn  er  berechtigt  wäre,  den 
letzteren    allerdings    mitten    ins  Herz    treffen    würde.     Im   Hinblick 
darauf,   dafs  uns  ja  die  Kralt  als  solche  nicht  gegeben,  sondern  nur 
aus  der  gesetzmäfsigen  Bewegung  des  Stoffes  von  uns,  als  deren  Ur- 
sache, erschlossen  ist,  könnte  man  nämlich  versucht  sein,  zu  glauben, 
die  Kraft    sei    überhaupt    kein    wirkliches   Prinzip,    kein    reales 
Moment  im  Naturgeschehen,   sondern  nur  eine  Vorstellung  in  unserem 
Bewufstsein,   welcher  an  sich  nur  das  Gesetz  entspricht.     In  diesem 
Einwand  vereinigen  sich  die  materialistisch  gesinnten  Naturforscher, 
denen    das    immaterielle  Prinzip    der  Kraft    ein    geheimer  Dorn    im 
Auge  ist,  n)it  den  auf  der  Höhe  der  „Moderne"  stehenden  Schwärmern 
für  die  „reine   Erfahrung",  welche  die  einzige  Aufgabe  der  Wissen- 
schaft in  die  getreue  Konstatierung  des  Positiven  setzen  und  jegliche 
Deutung  und   vergeistigende  Auslegung  des  gegebenen  Materials  als 
ein   Überschreiten    der    Grenzen    der   WissenschaftHchkeit  verpönen. 
Tritt   dann    noch    gar  ein  Philosoph    auf,    wie  Fechner,    der  auf 


i*-' 


330 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


dem  soliden  Boden  der  Naturwissenschaft  nielit  weniger  zu  Hause 
ist,  wie  auf  dem  klii)])enreichen  Meer  der  Spekulation,  und  erklärt 
die  Kräfte  für  „mytliischc^  Wesen",  dann  ist  der  f]^ute  Hut  dieses 
Begriffs  dahin,  und  es  erseheint  der  hohen  Würde  der  Wissenschaft 
nicht  gemäfs,  sich  mit  ihm  (UTentlich  sehen  /u   hissen. 

Fechner  erhlickt  in  der  Kraftäufseruug  nicht  eine  Folge  von 
Kräften,  sondern  den  unniittelharen  Ausdruck  des  Naturgesetzes 
selbst.  „Kraft  ist  dei-  Physik  ül)erhaui)t  weiter  nichts  als  ein  Hilfs- 
ausdruck zur  Darstellung  der  (nresetze  des  Gleichgewichts  und  der 
Bewegung,  und  jede  klare  Fassung  des  physischen  Krafthegrilfs  führt 
hierauf  zurück.  Wir  sprechen  von  Gesetzen  der  Kraft ;  doch  sehen 
wir  näher  zu.  sind  es  nur  Gesetze  des  Gleichgewichts  und  der  Be- 
wegung, welche  heim  (Tcgenüher  von  Materie  und  ]\Iaterie  gelten. 
Sonne  und  Krde  äulsern  eine  Anziehungskraft  auf  einander  heifst 
nichts  weiter,  als:  Sonne  und  Krde  hew^^gen  sich  im  Gegenü üertreten 
gesetzlich  nach  einander  hin;  nichts  als  das  Gesetz  kennt  der 
Physiker  von  der  Kraft ;  durch  nichts  sonst  weil's  er  sie  zu  charak- 
terisieren."*) „Anstatt  dafs  also  die  physische  Kraft  in  den  Kiirpern 
besonders  sitze  und  von  dem  einen  auf  den  andern  hinüherwirke, 
statt  dal's  sie  an  Orten  wirke,  wo  sie  nicht  ist,  statt  dafs  sie  einem 
K()r])er  latent  sein  k(»nne,  um  erst  hei  Zutritt  des  andern  Kr)r|)ers 
wirksam  zu  werden,  statt  dafs  sie  die  Materien  konstituiere,  kommt 
alles,  was  man  von  ihr  aussagen  mag,  faktisch  wie  klar  begrifflich 
auf  ein  allgegenwärtiges  Gesetz  und  dessen  Befolg  zurück.  Sitzt 
die  Kraft  irgendwo,  so  sitzt  sie  nur  im  (iresetze :  das  (iesetz  hat 
zugleich  Gesetzeskraft,  d.  h.  was  es  aussagt,  w^ird  geleistet."**) 

Es  bedarf  keines  grofsen  Scharfsinnes,  um  einzusehen,  dafs  wir 
mit  dieser  Auffassung  des  Verhältnisses  von  Gesetz  und  Kraft  üher 
den  Bereich  des  Mythus  nicht  hinausgehmgen.  Zugegehen,  dafs  wir 
die  Kraft  nicht  wahrnehmen,  nehnn'n  wir  etwa  (his  Gesetz  als  solches 
wahr?  Was  wir  w^ahrnehmen  ist  doch  imnu^r  nur  der  Stoff  und 
seine  Iknvegung,  und  wir  sprechen  von  einem  Gesetz  nur  deshalb, 
weil  die  letztere  in  den  verschiedensten  von  uns  beobachteten  Fällen 
unter  den  gleichen  Bedingungen  imuier  auf  die  gleiche  Weise  vor 
sich  geht.  Das  Gesetz  ist  also  nur  der  zusammenfassende  Ausdruck 
für  die  bestimmte  Art  der  Bewegung,  die  in  einer  sehr  grofsen 
Anzahl  von  Beobachtungen  immer  mit  sich  selbst  ideutisch  bleibt. 
Soll  die  Kraft  blol's  deshalb  ein  mythisches  Wesen  sein,  w^eil  sie  in 
unsere    unmittelbare    Wahrnehmung    nicht    eingeht,    so    trifft    mit- 


*}  Fechner:  a    a.  ü.  G, 
**)  Ebd. 


II.  Die  kritische  Naturphilosox^hie. 


331 


)1 


hin  dieser  Vorwurf  das  Gesetz  erst  recht,  denn  es  ist  nicht  blofs 
kein  Gegenstand  unserer  Sinne,  sondern  überhaupt  nur  eine  rein 
subjektive  Abstraktion.  Diese  Abstraktion  in  die  objektive 
AVeit  liineintragen  und  sie  zur  Ursache  der  Bewegung  und  ihrer  be- 
stimmten Erscheinungsform  stempehi,  das  wäre  in  der  That  eine 
Naivität,  welche  von  der  mythologisierenden  Xaturbeseelung  seitens 
der  Kinder  und  Wilden  nicht  verschieden  ist.  Trotzdem  muls  nicht 
blofs  die  Bew^egung  seihst,  sondern  auch  die  Bestimmtheit  und  Regel- 
mäfsigkeit  der  Bew^egungsarten  ihre  Ursache  haben,  und  diese  ist 
es  eben,  die  wir  mit  dem  Namen  ..Kraft*'  bezeichnen,  ohne  liiermit 
unmittelbar  etwas  Anderes  ausdrücken  zu  wollen,  als  was  ei)en  in 
jenem  Satz  enthalten  liegt.  Das  Gesetz  hat  zugleich  Gesetzeskraft 
—  ganz  wohl ;  aber  darum  ist  doch  nicht  die  Kraft  mit  dem  Gesetz 
identisch.  Wenn  die  Kraft  sich  äufsern  soll,  so  mul's  sie  sich  im 
Sinne  des  Gesetzes  äufsern,  aber  dafs  sie  sich  äufsert.  dafs  über- 
haupt irgend  ein  Geschehen  stattfindet,  daran  ist  doch  nicht  das 
Gesetz  schuhL  sondern  die  Kraft.  Die  Ki-aft  ist  das  produktive 
l^rinzip  im  Naturgesciiehen.  das  Gesetz  das  I^rinzip,  welches  die 
Kichtung  und  die  Art  der  iVoduktion  bestimmt.  Die  Kraft  ist 
konstitutiv,  das  Gesetz  re<j^ulativ.  „Beide  Aus(haicke  bezeichnen 
zwar  das  gleiche  Datum,  näuilicii  die  Kausalität  einer  Bewegungs- 
änderung; allein  durch  jeden  dieser  Begriffe  wird  eine  andere  Seite 
desselben  Vorgangs  herausgehoben.  Der  Terminus  „Gesetz"  be- 
schreibt das  Gesamtereignis  als  die  Art  einer  regelmäfsigen  \'er- 
knüpfung.  Der  Terminus  ..Kraft"  sagt  von  einer  Substanz  aus.  dafs 
sie  an  der  Regelmäl'sigkeit  einer  Verknüpfung  als  Bedingung  Anteil 
habe.  Gesetz  bezeichnet  die  Relati(jn  als  solche.  Kraft  die  Eigen- 
schaft einer  Substanz,  ein  notwendiges  Korrelat  zu  sein,  ivraft 
ist  das  unter  dem  B  t^  g  r  i  f  f  e  d  er  In  h  ä  r  e  n  z  g  e  d  a  c  li  t  e 
Gesetz.  Wenn  ich  sage,  es  findet  nirgends  ein  Durchdringen  von 
Materie  statt,  so  ist  das  ein  Gesetz  ;  behaupte  ich :  Materie  hat  die 
Eigenschaft,  dem  Findringi'n  jeder  anderen  Materie  in  ihrem  Kaum 
zu  widerstehen,  so  setze  ich  eine  Kraft.  In  den  Gesetzen  zähle  ich 
die  verschiedenen  Formen  des  Geschehens  auf;  durch  die  Kräfte 
beschreibe  ich  die  Grundeigenschaften  der  Materie."*)  Wir  müssen 
durchaus  daran  festhalten,  dafs  die  Kraft  von  dem  Gesetze  prinzipiell 
verschieden,  ja.  dafs  sie  in  gewissem  Sinne  früher  ist  als  das  Gesetz. 
Die  Theorie  kann  sich  erst  dann  zufrieden  geben,  wenn  es  ihr  ge- 
lungen ist,  alle  Eigenschaften  der  Materie  (einschliefslich  ihrer  Ge- 
setze) am  Ende  auf  eine  möglichst  geringe  Zahl  von  Grundkräften 
zurückzuführen.  — 


•':/■ 


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t  1 


)  Stadler:  a.  a.  O.  61  f. 


332 


B.    Kant   als  Natur])hilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


333 


Die  Vorzüge  des  Atoniismus  luU^en  sicli  somit  als  blofs  schein- 
bare ausgewiesen;  der  Dynainisnuis  be]iauj)tet.  als  die  h()here  An- 
schauungsweise, das  Feld.  Jetzt  erst  können  wir  der  Frage  näher 
treten,  ob  aus  den  beiden  Grundkrät'ten  auch  alle  besonderen  Eigen- 
schaften der  IVIaterie  und  ihre  Gesetze  a  priori  ableitbar  sind.  Kant 
ist  weit  entlernt,  die  Frage  zu  bejahen.  Zwar  haben  wir  schon 
früher  die  Wirkung  der  durchgängigen  r(^j)ulsiven  Kraft  der  Teile 
jeder  gegebenen  Materie  als  ihre  ursprüngliche  Elastizität 
durchschaut.  In  der  gh^ichen  Weise  stellt  sich  uns  die  Wirkung 
der  allgemeinen  Anzieliung,  die  alle  Materie  auf  alle  und  in  alle 
Entfernungen  unmittelbar  ausübt,  als  Gravitation  und  die 
Bestrebung,  in  der  Richtung  der  gröfseren  Gravitation  sich  zu  be- 
wegen,  als  Schwere  dar.  Aber  damit  ist  auch  der  XOrrat 
unserer  unmittelbaren  Einsicht  erschöpft.  Schwere  und  Elastizität 
sind  die  beiden  einzigen  charakteristischen  Eig<Mischat'ten  der  Materie, 
die  a  priori  erkannt  werden  kr)nnen.  denn  auf  den  Gründen  beider 
beruht  die  jVIögliclikeit  der  Materie  selbst  (410  f.). 

„Man  hüte  sich  daher,  über  das,  was  den  allgemeinen  ßegritf 
einer  Materie  überhaupt  möglich  macht,  hinauszugehen  und  die  be- 
sondere oder  sogar  spezifische  Bestimmung  und  Verschiedenheit  der- 
selben a  ])riori  erklären  zu  wollen"  (417).  Konnten  wir  doch  nicht 
einmal  die  Gesetze  der  beiden  Grundkräfte  a  priori  bestimmen ;  wie 
viel  w^eniger  werden  wir  da  imstande  sein,  „eine  Mannigfaltigkeit 
derselben,  welche  zur  F^rklärung  der  spezifischen  Verschiedenheit 
der  Materie  zureicht,  zuverlässig  anzugeben"  (41(S).  Es  „darf  weder 
irgend  ein  Gesetz  der  anziehenden,  noch  zurückstofsenden  Kraft  auf 
Mutmafsungen  a  priori  gewagt,  sondern  alles,  selbst  die  allg(Mneine 
Attraktion,  als  Ursache  der  Schwere,  mufs  samt  ihren  Gesetzen  aus 
Datis  der  Erfahrung  geschlossen  werden.  Noch  wenigei*  wird  der- 
gleichen bei  den  chemischen  Verwandtschaften  anders  als  durch  den 
AV^eg  des  Experiments  versucht  werden  dürfen"  (4'J!)).  Nehmen  wir 
das  Problem  der  Kohärenz!  „Zusammenhang,  w(Min  er  als  die 
wechselseitige  Anziehung  der  Materie,  die  lediglich  auf  die  Bedingung 
der  Berührung  eingeschränkt  ist.  erklärt  wird,  geliört  nicht  zur 
Möglichkeit  der  Materie  überhaupt  und  kann  daher  a  priori  als 
damit  verbunden  nicht  erkannt  werden.  Diese  Eigenschaft  würde 
also  nicht  nieta])hysisch,  sondern  ])hysiscli  sein  und  daher  nicht  zu 
unseren  gegenwärtigen  Betrachtungen  gehören"  (41 1 ).  Wenn  Kant 
sich  trotzdem  näher  auf  die  Besonderheiten  der  Materie  einläfst,  so 
soll  (his  keine  apriorische  Ableitung  der  spezifischen  Verschiedenheit 
der  Materie  aus  ihren  Grundkräften  sein,  von  der  er  ausdrücklich 
bemerkt,  dafs  er  sie  nicht  zu  leisten  vermöge,    sondern  er  will  nur 


„die  Momente,  worauf  ihre  spezihsche  Verschiedenheit  sich  ins- 
gesamt a  priori  bringen  (obgleich  niclit  ebenso  ihrer  Möglichkeit  nach 
begreifen)  lassen  mufs,  vollständig  darstellen^'  (419).  Es  kommt 
ihm  nicht  darauf  an,  „Hyj)othesen  zu  besonderen  Erscheinungen, 
sondern  nur  das  Prinzi]),  wonach  sie  alle  zu  beurteilen  sind,  aus- 
findig zu  machen"  (427)  und  an  den  besonderen  Erscheinungen 
der  Natur  die  „Anwendung"   dieses  Prinzi])s  zu   erläutern  (419). 

Materien  unterscheiden  sich  nun  ganz  allgemein  durch  ihre  räum- 
liche Ausdehnung  von  einander,  sie  bilden  Körper,  d.  h. 
sie  sind  zwischen  bestimmten  Grenzen  eingeschlossen,  haben  eine 
bestimmte    Figur  und  einen  bestimmten  Raumesinhalt  (Volumen). 

Von  gröfserer  Bedeutung  erscheint  die  Art  und  Weise  ihrer 
R  a  u  m  e  r  f  ü  1 1  u  n  g ,  und  zwar  kommt  liier  zunächst  die  T)  i  c  h  t  i  g  - 
keit  in  Frage,  d.  h.  der  Grad  der  Erfüllung  eines  Raumes  von 
bestimmtem  Inlialt.  Die  Atomistik  oder  das  System  der  absoluten 
Undiirchdringlichkeit,  wie  Kant  sie  nennt,  bemifst  die  Dichtigkeit 
eines  Körjiers  nach  seinen  leeren  Zwischenräumen  und  nennt  eine 
Materie  dichter  als  die  andere,  die  weniger  Leeres  in  sich  enthält. 
Dagegen  „im  dynamischen  System  einer  blofs  relativen  Undiirch- 
dringlichkeit giebt  es  kein  Maximum  oder  Mniimum  der  Dichtigkeit, 
und  gleichwohl  kann  jede  noch  so  dünne  Materie  doch  völlig  dicht 
heifsen.  wenn  sie  ihren  Raum  ganz  erfüllt.,  ohne  leere  Zwischenräume 
zu  enthalten,  mithin  ein  Kontinuum.  nicht  ein  lnterru])tum  ist;  allein 
sie  ist  doch  in  Vergleich  mit  einer  anderen  weniger  dicht  in  dynamischer 
Bedeutung,  w^enn  sie  ihren  Kaum  zwar  ganz,  aber  nicht  in  gleichem 
Grade  erfüllt"  (419).  Trotzdem  könnte  die  Verschiedenheit  des 
Stoffs  nur  in  dem  Pralle  allein  aus  dem  Gradunterschiede  erklärt 
werden,  wenn  die  Materien  im  übrigen  spezitisch  gleichartig  w^ären, 
„so  dafs  eine  aus  der  anderen  durch  blolse  Zusammendrückuiig  er- 
zeugt werden  kann.  Da  nun  das  letztere  nicht  eben  notwendig  zur 
Natur  aller  Materie  an  sich  erforderlich  zu  sein  scheint,  so  kann 
zwischen  ungleichartigen  Materien  keine  Vergleichung  in  Anseliung 
ihrer  Dichtigkeit  füglich  stattfinden"  (ebd.).  d.  h.  die  Dichtigkeit 
allein  reicht  für  die  Bestimmung  des  Unterschiedes  der  Materien 
nicht  zu,  und  es  geht  daher  nicht  an,  ihn  a  priori  aus  ilir  ab- 
zuleiten. 

Nicht  minder  wichtig,  wie  die  Dichtigkeit  der  Materien,  ist  ihre 
Festigkeit  oder  der  Widerstand,  den  sie  der  Trennung  ihrer  Teile 
entgegensetzen.  Diese  findet  ihren  Ausdruck  in  dem  Begriff  der 
Kohäsion,  d.  li.  der  „Anziehung,  sofern  sie  blofs  als  in  der  Berührung 
wirksam  gedacht  wird"  (419).  Die  Erfahrung  läfst  die  Kohäsion 
als  eine  ganz  allgemeine  Eigenschaft  der  Materie  erkennen,   so  dafs 


,^'' 


) 


1^ 


334 


B.    Kant  als   Naturj)hiU)soph. 


L^\ 


man  sie   wohl    für    eine  Grundkraft    halten    kannte.      Allein  erstens 
ist  sie  nicht  in   der  Weise  allpfemein.   dafs  jede  Materie  (hirch   diese 
Art  der  Anziehun^^  auf  jede  andere  im   Weltraum   zu^deicli   wirkte, 
wie  dies  hei  der  Gravitation    (h'r    Fall    ist,    vielnu'hr  wird  sie  hlofs 
zwischen  Materien   ausgeüht,   die  sich   unmittelhar  herühren ;    sie  ist 
also    nicht    eine    durchdriu^^ende,    sondern    nur    eine     Flächenkraft. 
Sodann    richtet    auch    der  Grad    dieser  Anzieliun^    sich    keineswegs 
nach  der  Dichtigkeit,  und  zur  V()lligen  Stärke  des  Zus;inunenhanges 
ist   ein  vorhergehender  Zustand    der  Flüssigkeit    der  Materien    und 
der  nachmaligen   Erstarrung    derselhen   erforderlich.      Dazu    kommt, 
dafs  auch    durch    die    allergenaueste   Berührung    gchrochener    fester 
Materien  in  ebendenselben  Klächen.   mit  denen  sie  vorher  zusammen- 
hin,i,'en,  eine    Wiederherstellung  ihrer  ursprünglichen  Festigkeit  nicht 
ni(')glich  ist,   und  endlich,   dafs  gewisse  Materien,   nämlich  die  starren, 
obschon  sie  vielleicht  nicht  gröfsere.  ja.  vielleicht  gar  kleinere  Kraft 
des  Zusammenhanges  haben,   als  andere   flüssige,   dennoch   dem  Ver- 
schieben ihrer  Teile  auf  das  Nachdrücklichste  widerstehen  und  daher 
nicht  anders  als  durch  «gleichzeitige  xAufhehung  des  Zusammenhanges 
aller  Teile    in    einer  gegebenen  Fläche    sich    trennen    lassen.     Alles 
dies  läfst  darauf  schliefsen,    dafs  wir  es  in  der  Kohäsion  nicht  mit 
einer    Grundkraft,     sondern    nur    mit    einer    ab.i^n'leiteten    Kraft    der 
^laterie    zu   thun  haben,    zu    deren  Erklärung    es   doch    noch  einer 
anderen  Ursache  als  der  blofsen  allgemeinen  Attraktion  bedarf,   und 
dafs   insbesondere   die  M()glichkeit  der  starren  Kr>r])er,   so  leicht  auch 
die  gemeine  Naturlehre  damit  glaubt  fertig  werden  zu  können,  noch 
immer  ein  unaufgelöstes   Problem    ist,    welches    die  Meta])hysik  un- 
niciglich   a  priori   aus  den   allgemeinen  Eigenschaften   der  ^laterie  ab- 
zuleiten vermag  (420.  A2H). 

Jedenfalls  ist  die  Verschiedenheit  der  Aggregatzustände 
der  Materien,  d.  h.  die  Bew^eglichkeit  ihrer  Teile  oder  die  Kraft, 
womit  sie  dem  Verschieben  derselben  widerstehen,  von  dem  Grade 
der  Kohäsion  unabhängig  und  daher  auf  diese  nicht  zurückzuführen 
(4"2'J).  Nennen  wir  doch  flüssig  eine  Materie,  deren  Teile,  un- 
erachtet  ihres  noch  so  starken  Zusammenhan<^^es  unter  einander, 
dennoch  von  jeder  noch  so  kleinen  bewegenden  Kraft  an  einander 
kiuinen  verschoben  werden  (420).  Im  Gegensatz  hierzu  ist  ein  fester 
oder  starrer  Ktü'per  ein  solcher,  dessen  Teile  nicht  durch  jede  Kraft 
an  einander  versciioben  werden  können,  die  folglich  mit  einem  ge- 
wissen Grade  von  Kraft  dem  Verschieben  widerstehen  (ebd.). 
Während  bei  dem  letzteren  die  Reibung  eine  Verschiebung  seiner 
Teile  hindert,  und,  wenn  der  starre  Körper  spriule  ist,  eine  solche 
nur    durch    Zerreilsung.    d.   h.   durch    gänzliche   Aufhebung  des  Zu- 


II.   Die  kritische  Naturphilosophie. 


335 


sammenhanges  möglich  ist,  heben  in  der  Flüssigkeit  die  Attraktionen 
beiderseitig  ihre  A\'irkung  auf,  und  daher  sind  die  Teilchen  hier  so 
leicht  beweglich  (421).  Aus  diesem  Umstände  erklärt  sich  auch 
die  Eigenschaft  der  flüssigen  Materien,  dafs  ein  jeder  ihrer  Teile 
sich  nach  allen  Seiten  mit  ebenderselben  Kraft  zu  bewegen  trachtet, 
womit  er  in  einer  gegebenen  Kichtung  gedrückt  ist;  man  braucht 
sich  eben  nur  des  allgemeinen  Grundsatzes  der  Dynamik  v.u 
erinnern,  wie  alle  Materie  urs})rünglich  elastisch  ist  und  infolge 
dessen  nach  jeder  Seite  des  Raumes,  darin  sie  zusammengedrückt 
ist,  mit  eljenderselhen  Kraft  sich  zu  erweitern,  d.  h.  sich  zu  bewegen, 
bestrebt  sein  mufs,  womit  der  Druck  in  einer  jeden  Richtung  aus- 
geübt wird  (4'2'J  f.). 

Mit  alledem  ist  aber  das  „Moment  der  Art  und  Weise  noch 
nicht  erschöpft,  wie  die  Materie  ihren  i^auni  erfüllt.  Es  giebt 
Unterschiede  in  dem  Verhalten  der  Materie  gegen  die  von  aufsen 
auf  sie  einwirkenden  Kräfte,  welche  ihre  Gestalt  zu  verändern  be- 
strebt sind.  Damit  komnuMi  wir  auf  den  Kegriff  der  Elastizität. 
Man  bezeichnet  mit  diesem  Namen  das  Vermögen  der  Materie,  ihre 
durch  eine  andere  bewegende  Kraft  veränderte  Grötfse  oder  Gestalt 
bei  Nachlassung  derselben  wiederum  anzunehmen,  und  zwar  ist  die- 
selbe entweder  expansive  oder  attraktive  Elastizität,  je  nachdem  ob 
der  Kör])er  nach  der  Zusaniniendrückung  das  vorige  gröfsere.  od(^r 
ob  er  nach  der  Ausdehnung  das  vorige  kleinere  Volumen  wieder 
annimmt.  Weil  diese  Wirksamkeit  von  äufseren  Ursachen  abhängt 
und  nur  erst  an  der  fertigen  jMaterie  hervortritt,  so  darf  sie  mit 
jener  ursprünglichen  Elastizität  nicht  verwechselt  werden,  die  Materie 
überhaui)t  erst  möglich  macht.  Die  attraktive  Elastizität  ist  auch 
ofTenbar  eine  abgeleitete  Kraft,  denn  sie  beruht  nur  auf  derselben 
Attraktion,  w^elche  die  Ursache  des  Zusammenhanges  bildet.  Die 
expansive  Elastizität  kann  eine  ursprüngliche,  sie  kann  aber  auch 
eine  abgeleitete  Kraft  sein.  So  hat  die  Luft  eine  abgeleitete 
Elastizität,  beruhend  auf  der  mit  ihr  innig  verbundenen  Wärme,  die 
Elastizität  der  letzteren  dagegen  ist  ..vielleicht"  ursprünglich.  In- 
dessen ist  es  in  vorkommenden  Fällen  ol't  nicht  möglich,  mit  G^'- 
wifsheit  zu  entscheiden,  ob  eine  wahrgenommene  Elastizität  von 
dieser  oder  von  jener  Art  sei  (424.   415  1'.). 

Ein  weiteres  Moment,  das  bei  der  Betrachtung  s])ezitischer 
Eigenschaften  an  der  Materie  in  Fra^e  kommt,  ist  die  gegen- 
seitige Einwirkung  ihrer  Teile  auf  einander.  Diese  kann 
entweder  mechanisch  (durch  Mitteilung  ihrer  Bewegung)  oder 
chemisch  sein;  nur  die  letztere  gehört  in  die  Betrachtung  der 
Dynamik.      Die  Wirkung  der  Materien  auf  einander  heilst  chemisch, 


% 


33(i 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


i 


sofern  sie  auch  in  Euhe  durch  eigene  Kräfte  wechselseitig  die  Ver- 
bindung ihrer  Teile  verändern.  Dieser  chemische  Eintiufs  heifst 
Auflösung,  sofern  er  die  Trennung  der  Teile  einer  Materie  zur 
WirkuTig  hat;  er  heifst  absolute  Auflösung  oder  chemische  Durch- 
dringung, wenn  die  Auflösung  spezitisch  verschiedener  Materien  eine 
derartige  ist,  dafs  „kein  Teil  der  einen  angetroffen  wird,  der  nicht 
mit  einem  Teile  der  andern  von  ihi-  spezitisch  unterschiedenen  in  der- 
selben Proj)ortion,  wie  die  Ganzen,  vereinigt  wiire*'  (424  f.).  Ob  es 
in  der  Natur  eine  vollständige  Aufl()sung  giebt,  darauf  kommt  es 
nicht  an.  Hier  handelt  es  sich  l)lofs  darum,  ob  sich  eine  solche 
denken  läfst,  und  da  ist  khtr,  dafs  kein  Grund  vorhanden  ist,  warum 
die  Auflösung  vor  irgend  welchen  Klümpchen  (moleculae)  Halt 
machen  und  nicht  vielmehr  so  lange  fortgehen  sollte,  bis  kein  Teil 
von  dem  Volumen  (h'r  Auflr)sung  vorhanden  ist,  der  nicht  einen 
Teil  des  auflösenden  ^Mittels  enthielte  (4'2r).  42()).  Offenbar  müssen 
die  auf  diese  Weise  verbundenen  Materien  selbst  wieder  ein  Fvon- 
tinuuni  bilden.  Dann  aber  durchdringen  sie  einander,  insofern  beide 
Materien,  und  zwar  jede  dersell)en  ganz,  einen  und  denselben  Kaum 
erfüllen,  und  die  Möglichkeit  einer  vollständigen  Aullösung  scheint 
daran  zu  schiMtern,  dafs  wir  den  B(^griff'  der  Durchdringung  der 
Materien  oben  als  einen  unhaltl)aren  abweisen  mufsten.  Indessen 
gilt  dies  doch  nur  von  der  m(>chanisclien  Duichdringung,  wovon  jedoch 
die  chemische  ganz  verschieden  ist.  Widirend  nämlich  jene  darin 
bestehen  würde,  dafs  bei  der  Annäherung  bewegter  Materien  die 
repulsive  Kraft  der  einen  die  der  andern  gänzlich  überwiegen  und 
die  Ausdehnung  der  Materie  völlig  aufiieben  würde,  bleibt  l)ei 
der  chemischen  Durchdringung  die  Ausdehnung  bestehen,  „nur 
dafs  die  Materien  nicht  aul'ser  einander,  sondern  in  einander,  d.  i. 
durch  Intussusception  (wie  man  es  zu  nennen  pih^gt)  zusammen 
einen  der  Summe  ihrer  Dichtigkeiten  gemäl'sen  Raum  einnehmen" 
(42;-)).  Hierbei  kann  das  Volumen,  welches  die  Auflösung  ein- 
nimmt, „der  Summe  der  Eäume,  die  die  einander  aufir>senden 
Materien  vor  der  Mischung  einnahmen,  gleich,  kleiner  oder  auch 
gröfser  sein,  je  nachdem  die  anziehenden  Kräfte  gegen  die  Zurück- 
stol'sungen  in  Verhältnis  stehen.  Sie  machen  in  der  Auflösung  jedes 
für  sich  und  beide  vereinigt  ein  elastisches  Medium  aus"  (426). 
Aber  kommt  nicht  eine  derartige  Intussusce])tion  euu^r  vollendeten 
Teilung  ins  Unendliche  gleich  ?  Kant  weist  diesen  P]inwand  damit 
ab,  dafs  eine  solche  in  diesem  Falle  doch  keinen  Widersi)ruch  in 
sich  enthalte,  „weil  die  Auflösung  eine  Zeit  hindurch  kontinuierlich, 
mithin  gleichfalls  durch  eine  unendliche  Reihe  Augenblicke  mit 
Acceleration  geschieht"   und  somit  die  gänzliche  Auflösung  in  einer 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


337 


anzugebenden  oder  endlichen  Zeit  vollendet  werden  kann  (425). 
Aber  er  mufs  doch  zugeben,  dafs  die  Unbegreiflichkeit  der  chemischen 
Durchdringung  zweier  Materien  auf  Ilechnung  der  Unbegreiflichkeit 
der  Teilbarkeit  eines  jeden  Kontinuums  überhaupt  ins  Unendliche 
zu  schreiben  sei  (ebd.  f.).  Auch  hier  steht  somit  der  Möglichkeit 
des  Eegriftes  nichts  entgeg-en.  derselbe  läfst  sich  denken,  aber  nicht 
anschaulich  konstruieren;  wir  sind  also  für  die  Wirklichkeit  des 
Vorganges  nur  auf  das  a  Posteriori  der  Erfahrung  angewiesen. 

Ein  näheres  Eingehen   auf  diese  Ausführungen  ist  ohne  AVert. 
Sie  lassen  zu  deutlich  die  Schwierigkeiten  der  kantischen  Auffassung 
der  Materie  als  eines  individualitätslosen  Kontinuums  erkennen.    Aus 
blofser  einfacher  Anziehung  und  Abstofsung.    die  gleichsam  überall 
und    nirgends    sein    sollen    und    nicht    auf   bestimmte    Raumpunkte 
bezogen  sind,    lassen   sich    die    komplizierteren   Kräfte   der   Materie 
nicht  begreifen.     Der  Metaphysiker  hat  gut  sagen,    dafs   er  für  die 
Ableitung    des    in    der  Erfahrung    gegebenen  Materials    aus   seinen 
Grundkräften  nicht    einsteht,    und   der  Apologet  des  Metaphysikers 
niag  auf  das  Nachdrücklichste  darauf  hinweisen,  wie  jener  zwar  der 
empiiischen  Naturwissenschaft  ihre  Aufgabe  zeigen,  aber  diese  Auf- 
gabe nicht  selbst  lösen  wolle,    und    dafs,    was   er   etwa   als  Lcisung 
andeutet,  nur  „Beispiel  der  Methode",  nicht  selbständiges  Resultat 
sein  solle.*)     AVenn  die   Grundkräfte    des    ^reta})hysikers    derartige 
sind,     dafs    auch    mit    dem    besten  Willen  nicht  einzusehen  ist,    wie 
eine  reale  Beziehung  zwischen  ihnen    und  den  Thatsachen   der  Er- 
fahrung   auch    überhau])t    nur   möglich    sein    soll,    und    wenn    jene 
„Beisjuele  der  Methode"    nur    das    Eine    deutlich    zeigen,    dal's    die 
Methode   unbrauchbar   und  daher  wertlos  ist,    dann  ist  damit  nicht 
blofs    der    AVert    der    metaphysischen    Resultate    in    Erage    gestellt, 
sondern  man  wird  es  auch  der  Empirie  nicht  verübeln  können,  wenn 
sie  bisher  achtlos  an  ihnen  vorbeigegangen  ist.     Man  kann  Schaller 
nur  beistimmen:    „Es  ist  nicht  zu  übersehen,  dafs,  so  hoch  wir  auch 
diese   Vorsicht  Kants  schätzen   mögen,    mit    welcher    er    aus    seinen 
allgemeinen  Pi-inzij)ien    sieh    nicht    in    das    Besondere    hiniiberwagt, 
doch  die   li)m])irie  vollkommen  im  Rechte  ist,  wenn  sie  fordert,  dafs 
sich  diese  allgemeinen  Prinzipien    auch   als    solche  bewidiren  sollen, 
dafs  also  von  ihnen  aus  und  durch  sie  die  besonderen  Erscheinungen 
zu  beweisen  sein   müssen.     Es  ist  daher  ganz  in  der  Ordnung,  wenn 
die    Emj)irie     die    kantische    Naturphilosophie     aus    ihrer    sicheren 
Sphäre  der  Allgemeiidieit  heraustreibt,  die  konkreten  Erscheinungen 
des  Lichts,   der   Wärme,  des  i\Iagnetismus  u.  s.  w.  ihr  entgegenhält 


'  1 


m 

h, 


*J  Stadler:  a.  a.  O.  255. 

D  r  e  w  s  ,  Kants  Naturpliilosophie. 


22 


Fl 

H 


338 


B.   Kant  als  Natiirphilosoph. 


4; 


und    sie    nun    darauf   ansieht,    was    sie    aus    diesen   zu  machen  im- 
stande ist."*) 

Die  Dynamik  hwuft  sieli   in   ihrer  Olnniiacht  darauf,    deii  Zu- 
sammenliang  zwischen   ihren  eigenen  Prinzipien    und  der   Erfahrung' 
aufzuzeigen,    dazu    fühle    sie    sich,    als    Metaphysik,    gar    nicht  ver- 
pflichtet.     Man  hraiu'ht  sie  darum  nicht  zu  schelten,  aher  man  ver- 
lange doch  von  der  Naturwissenschaft  nicht,    dafs  sie  nach  ihr  sich 
richten  und   ihre   Residtatc   im   dynamischen   Siime  modeln  solle,    so 
knge  jene   noch   nicht  seihst  gezeigt  hat,   was   sie  leisten  kann,   und 
wozu  ihre  hisherigen  Leistungen  üherhaupt  nützen   sollen.     Stadler 
meint  freilich,    jene  Zurückhaltung  Kants    dürfte    der  Naturwissen- 
schaft viel  eher  Zutrauen  (^irtlöl'sen.    als   sie   von    dem  Studium   des 
Philos()i)hen    zurückschrecken,    denn    nun  seien    für    ihren    xVnschlufs 
Präliminarien    entworfen,    hei    denen    ihre  l^echte    und   ihi-e  AVürde 
vollständig  gewahrt  hleihen.^*)     Daraufist  zu  erwidern  :   die  Natur- 
wissenschaft hat   unmittelhar  gar  kein    Interesse  daran,     ihre   Hypo- 
thesen  so   zu  gestalten,  dafs  sie  den   Anforderungen   der  Meta])hysik 
und  Erkenntnistheorie  genügen;    sie  zieht  ihre  Hypothesen  von   der 
Erfahrung    ah,    unlx  kümmert    dai-um,    was    der  ]\I<^taphysikei'   dazu 
sagen  wird,  in  der  ganz  richtigen  Voraussetzung,  (hifs  nicht  sie  sich 
nach    jenem,     sondern    jener    sich    nach    ihr    zu   i'ichten   hahe.      Erst 
wenn   der  Naturforscher  auf  die  \'oraussetzungen  seiner  Hyj)(»thesen 
und  die  realen  Seinsgrundlagen  derselhen    retlektiert,    eist  wenn  er 
mit  andern    vVorten    seihst    zum   Philosophen    wird,    erst   dann  tritt 
an  ihn  die   Entscheidung  heran,  oh  er  die  Erscheinungen   lieher  im 
Sinne    des    Dynamismus    oder    in  demjenigen  des  Atomismus  inter- 
j)retieren    soll ;    er  wird  aher,    als   Naturforscher,   dem   letzteren   so 
lange  unhedingt  den  Vorzug  gehen  müssen,   als  ihm  der  Dynaniisnnis 
nur    in    der    kantischen    Form    hegegnet.      Denn  jener  erklärt   doch 
wenigstens  die  Naturerscheinungen,  wenn  er  auch  den  metaphysischen 
und    erkenntnistheoretischen   Postulaten    nicht   gerecht   wiid;    dieser 
dagegen  stolpert  üher  jeder  konkreten  Erscheinung,   und  was  seihst 
seine     metai)hysische    und    erkemitnistheoretische     Begründung    an- 
betrifft,   so    erscheint    auch    sie,    wie   wir   gesehen  haben,    mehr  als 

fraglich. 

Die  moderne  Naturwissenschaft  erklärt  ebenso  die  verschiedenen 
Aüirrecfatzustände,  wie  die  chemischen  Erscheinungen  und  die  be- 
sonderiai  Kräfte  der  Materie  als  Aufserungen  kombinierter  Atom- 
und  ]\Iolekularkräfte,   die  aus  der  Vereinigung  der  Atome  zu  Mole- 


^)  Schall  er:   a,  a.  ( ).   'J'.tJ  f. 
'*j  Stadler:   a.   a.   O.   'J:').".. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


339 


külen  und  den  sich  hierbei  ergebenden  Gruppierungsverhältnissen 
entspringen.  Auch  ihr  sind  die  letzten  Elemente  der  Materie 
überall  identisch ,  und  ihre  Besonderheiten  sind  weiter  nichts 
als  das  Resultat  der  Kombinationen ,  die  auf  der  Miiglichkeit 
ihrer  Lageveränderung  beruhen.  So  lange  der  kantische  Dynamis- 
mus an  seiner  kontinuierlichen  Materie  festhält,  die  gar  keine  Ver- 
änderung der  Lage  ihrer  Teile  und  keinerlei  Grupi)ierungen  zu 
verschiedenartig  gestalteten  Molekülen  zuläl'st,  so  lange  ist  ein  Bund 
zwischen  ihm  und  der  Empirie  unmr.glich.  Treibt  ihn  aber  das 
Prinzip  der  Sjiezifikation  dazu  fort,  den  Dualismus  seiner  l)eiden 
Gruiulkräfte  dnliin  zu  modihzieren  ,  dafs  er  sie  in  eine  reale 
Vielheit  abstofsender  und  anziehender  Kraftindividuen  zerspaltet, 
dann,  aber  auch  nur  dann  ist  die  Möglichkeit  einer  Vereinigung  von 
Philosoj)hie  und  Naturwissenschaft  gegeben.  Jetzt  strebt  der  Kantianis- 
mus  eine  solche  vergeblich  dadurch  an,  dafs  er  die  Naturwissenschaft  lur 
Prinzipien  zu  begeistern  sucht,  mit  welchen  die  letztere  nichts  an- 
zufangen weifs.  Mit  nndern  AVorten:  der  kantische  Dynamis- 
nius  mufs  erst  at  om  i  st  i  seh  e  r  I)yn:imismus  werden, 
e  he  er  n  a  t  u  r  w  i  s  s  e  n  s  c  h  a  f  1 1  i  c  h  e  r  I )  y  n  a  m  i  s  m  u  s  sein 
kann.  Zu  dieser  Einsicht,  die  er  urs])rünglich  selbst  geteilt  hatte, 
war  Kant  aufser  Stande,  sich  zurückzufinden,  weil  er  sich  den  AVeg 
zu  ihr  ein  für  adle  Mal  durch  seine  erkenntnistheoretischen  Voraus- 
setzungen versperrt  hatte.  J\Ian  kann  daher  den  letzteren  nicht 
nachrühmen,  dafs  sie  der  Naturjdiilosophie  einen  Vorteil  gebracht 
hätten,  wozu  sie  doch  Kant  eigentlich  aufgestellt  hatt(^:  im  (Tcgen- 
teil  haben  sie  hier,  wie  überall,  nur  dazu  !)eigetragen.  die  Schwieris- 
keiteii  zu  vermehren  und  haben  den  I*hilosoj)hen  auf  eine  H;i]m 
gedrängt,  wo  er  niemals  zu  einer  gesunden  Naturphilos()])hie  ge- 
langen konnte.*) 


;'.  Die  Mechanik. 

Die  Phoronomie  hatte  die  Bewegung  als  ein  reines  Qu.antum 
nach  seiner  Zusammensetzung  ohne  alle  (:j)ualität  des  Beweglicdien 
betrachtet.  Die  Dynamik  hatte  sodann  sie  als  zur  (Qualität  der 
Materie  gehörig  unter  dem  Namen  einer  urs])rünglicli  bewegenden 
Kraft  in  Erwägung  gezogen.  Auf  das  Abweichende  von  der  ur- 
sj)rünglichen  I>estimmung  in  dieser  Wendung  des  Gedankens  würdig 
an  seiner  Stelle  hingewiesen.  Bei  der  Willkür,  womit  Kant  seine 
Kategorieentafel   handhabt,    kann    es    nicht   Wunder    nehmen,    wenn 


*)    VVl.  hiei'/ii:  v.  H  a  rt  111  a  ii  ii :    Phil,  d,  liihcw,  II.    DG— llü.    Ges.  Studien 
u.   Aufs.      ."»'.JG —  .•")]:"), 


340 


B.    Kaiil   als  Natiirphilosoph. 


er  uuch  im  dritten  Teile  der  „Metaphysischen  Ant'an<;srrriind('-  nicht 
die  Eelation  der  Hewe^nin^r,  sondern  „die  Materie  mit  dieser  Qua- 
litiit  durch  ihre  eigene  Bewegung  gegen  einander  in  Relation" 
betrachtet  (r)t)()). 

Bislier  handelte  es  sich  blol's  um  die  apriorischen  Bedingungen, 
wodurch  (k'r  Begrii!"  der  Materie  in  der  Aiiscliauung  sich  ver- 
wiikliclit.  iJie  Untersucliung  drehte  sich  um  die  Bewegung  und 
die  RaumertuUung,  wie  jede  unabhängig  von  der  anderen  besteht. 
Die  Phoronomie  bekümmerte  sicli  ])lors  um  die  Bewegung  und  hatte 
für  die  Baumcrliillung  nur  insofern  Interesse,  als  die  Bewegung  an 
einem  Bewegten  vor  sieh  geht:  ai)er  sie  hatte  es  mit  dem  letzteren 
so  w(4iig  zu  thun,  dafs  sie  es  auch  tiu-  einen  Punkt  ansehen  konnte. 
Die  Dynamik  beschiütigte  sich  unmittelbar  nur  mit  der  Baum- 
eri'üUung  und  mit  der  Bewegung  nur  mittelbar,  sofern  die  extensive 
Gröfse  der  JtaumeriüUung  sich  auf  die  intensive  (TnU'se  der  be- 
wegenden Kratt  zurückführen  liel's.  „Der  blol's  dynamische  B.egrilV 
konnte  die  Materie  auch  als  in  Buhe  beti-acliten  :  die  bewegende 
Kraft,  die  da,  in  Erwägung  gezogen  wurde,  betraf  l)lol's  die  Er- 
füllung eines  Baunu's.  ohnt'  dafs  die  Materie,  dm  ihn  erfüllte,  selbst 
als  bewegt  angesehen  werden  durfte''  (4olj.  Kunmehi"  handelt  es 
sicii  um  die  Verbindung  der  Bewegung  mit  der  Kaumerfiillung. 
worin  beide  gleich  unmittelbar  als  Gegenstand  der  Betrachtung 
gelten:  um  die  Bewegung,  sofern  sie  ein  Accidenz  an  der  iei-tigen 
Materie,  und  um  die  Materie,  sofern  sie  in  Bewegung  befindlich  ist. 
Es  handelt  sich  nicht  mehr  um  die  ganz  allgemeine  Eigenschaft  der 
Materie,  dafs  sie  eine  extensive  Gnifse  ist,  auch  nicht  um  die  Rea- 
lität dieses  Begriffs  in  der  Empfindung,  wodurch  die  extensive  Gröfse 
der  Kaumerfüllung  zur  intensiven  (Tröfse  m  Beziehung  steht,  es 
handelt  sich  demnach  überhaupt  nicht  mehi-  um  die  Anschauung 
der  Materie,  sondern  allein  um  die  Materie,  sofern  sie  ein  Objekt 
der  Er  fall  r  u  n  g  ist. 

Diese  Betrachtung  bildet  den  Inhalt  der  ]\I<'chanik.  Nach 
ihr  ist  die  Materie  „das  Bewegliche,  sofern  es  als  ein  solches 
bewegende  Kraft  hat"  (ebd.).  Damit  ist  eine  ganz  andere  Be- 
stimmung gegeben,  wie  in  der  Dynamik.  Auch  hier  war  von  be- 
wegenden Kräften  die  Rede,  aber  „die  Zurückstofsungskraft  war  eine 
ursprünglich-bewegende  Kraft,  um  Bewegung  zu  c  r  t  e  i  1  e  n  ;  dagegen 
wird  in  der  xMechanik  die  Kraft  einer  in  Bewegung  gesetzten  Mati'rie 
betrachtet,  um  diese  Bewegung  einer  andern  mitzuteilen"  (ebd.). 
Die  Phoronomie  mufste  vor  der  Dynamik  behandelt  werden,  obwohl 
in  der  Anschauung  unmittelbar  nur  die  RaumeifüUung  gegeben  ist, 
weil  die    bewegende  Kraft    der  Dynamik    die    Bewegung    selbst    zur 


JI.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


341 


Voraussetzung  hatte.  In  dergleichen  Weise  mufste  aber  auch  diese 
der  Mechanik  vorausgehen,  weil  eine  bewegte  Materie  keine  bewegende 
Kraft  haben  kann  als  nur  vei-mittelst  ihrer  Zurückstofsung  oder 
Anziehung,  worauf  und  w^omit  sie  in  ihrer  Bewegung  unmittelbar 
wirkt,  um  dadurcli  ihre  eigene  Bewegung  einer  andern  mitzuteilen. 
Die  Begriffe  Bewegung  und  Kraft  sind  also  nicht  identisch.  Denn 
„es  ist  klar,  dafs  das  Bewegliche  durch  seine  Bewegung  keine 
bewegende  Kraft  haben  würde,  w^enn  es  nicht  ursprünglich-bewegende 
Kräfte  besäfse,  dadurch  es  vor  aller  eigenen  Bewe<]:ung  in 
jedem  Orte,  da  es  sich  befindet,  wirksam  ist,  und  dafs  keine 
Materie  einer  anderen,  die  ihrvv  Bewegung  in  der  geraden  Linie 
vor  ihr  im  Wege  liegt,  gleichmäfsige  Bewegung  eindrücken  würde, 
wenn  beide  nicht  urs])rüngliclie  Gesetze  der  Zurückstofsung  besäfsen, 
noch  dafs  sie  eine  andere  durch  ihre  I^ewegung  nötigen  könne,  in 
der  geraden  Linie  ihr  zu  folgen,  wenn  beide  nicht  Anziehungskräfte 
liesäfsen*'  (ebd).  Genau  genommen,  mufste  also  die  Mechanik  sowohl 
die  Mitteilung  der  P)ewegung  durch  Anziehung,  wie  durcli  Al)- 
stofsung  behandeln.  Bidessen  beschränkt  sich  Kant  auf  die  Ver- 
mittelung  der  Bewegung  durch  J\epulsion,  „da  ohnedem  die  An- 
wendung der  Gesetze  der  einen  auf  die  der  anderen  nur  in  Ansehung 
der  Jlichtungslinien  verschieden,  übrigens  aber  in  beiden  Fällen 
einerlei  ist"  (43'J). 

Der  allgemeine  Grundsatz,  wonach  die  Anschauungen  sicli  zur 
Erfahrung  gestalten,  lautete:  ..Alle  Erscheinungen  stehen  ilirem 
Dasein  nach  a  })riori  unter  Regeln  der  Bestimmung  ihres  Verhält- 
nisses unter  einander  in  einer  Zeit."  Die  Zufälligkeit  in  der  Reihen- 
folge der  Anschiiuungeii  mufs  (i  e  se  t  zmäf  sigke  i  t  werden,  wenn 
Erfalirung  möglich  sein  soll,  oder  mit  andern  Worten:  „Erfahrung 
ist  nur  durch  die  Vorstellung  einer  notwendigen  Wirknüpfung 
der  Wahrnehmungen  möglich."  Die  Xotwendigkeit  aber  kam  nach 
der  Vernunftkritik  in  die  Verknüpfung  durch  die  „Analogien  der 
Erfahrung"  hinein.  Aufgabe  der  Mechanik  wird  es  demnach  sein, 
diese  Gesetze  auf  den  Begriff  der  ^Materie  anzuwenden,  die  I^e- 
wegungen  den  Analogieen  der  Erfahrung  zu  unterwerfen  und  (l;imit 
den  Zusammenhang  ihrer  Veränderungen  zu  einem  für  unser  Be- 
wufstsein  so  notwendigen  zu  gestalten,  dafs  er  allen  skeptischen  Be- 
denken gegenüber  sicher  ist. 

Der  Begriff  der  bewegten  Materie  also  ist  es,  der  konstruiert  werden 
soll.  Die  Frage  ist  zunächst,  wie  er  sich  als  Gröfse  darstellen,  oder 
wie  sich  die  Mitteilung  der  Bewegung  in  einer  bestimmten  Formel 
ausdrücken  läfst.  Auch  vor  diese  Aufgabe  sah  Kant  sich  nicht 
zum  ersten  Mal  gestellt.      Sie    bildete    das  Thema    s(>iner   Er>tlings- 


f 


342 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


i4« 


Schrift  „Gedanken  von  der  walireii  Scliätzuiig  der  lebendigen  Kräft(\" 
Nur  der  IJoden  war  jetzt  ein  ganz  anderer  geworden,  anf  welchem 
Kant  ilire  Lr)sung  unternahm,  und  demnach  mul'ste  auch  diese  jetzt 
ganz  anders  ausfallen. 

Der    ])estinimte    HegritT    von    einer  Gröfse    ist    nur    durcli    die 
Konstruktion   des  (^)uantunis   möglich:   diese   aher   ist   nichts   Anderes 
als    Zusammensetzung    des  Gleichgeltenden;    h)]ghch    ist    die   Kon- 
struktion der  Quantität  einer  Bewegung  die  Zusammensetzung  vi(der 
einander  gleichgeltender    Bewegungen   (A'.V,\).     Handelte    es  sich  nun 
blol's  um   Bewegung,   so  wäre  das  l^rohlem  ein  ])hoi-()nomisclies :   die 
Gröl'se    der   Bewegung    bestände  (hinn    nur    in   dem   (Irade    der  Ge- 
schwindigkeit   und    k()nnte  konstruiert  werden    als    zusammengesetzt 
aus    gh'ichgeltench'u    Geschwindigkeiten.      I)(Min     „es    ist    nach    den 
phoronomischen   Lehrsätzen  (?)  einerlei,    ob  ich    einem   Beweglichen 
einen  gewissen  (ilrad  Geschwindigkeit  oder  vielen  gleich  Beweglichen 
alle  kleineren  Grade  der  Geschwindigkeit  erteile,  die  aus  der  durcli  die 
Menge  des  Beweglichen  dividierten  gegebenen  (-Jeschwindigkeit  heraus- 
kommen'' (4r)!>).    Icli  hätte  mir  danach   die  Quantität  einei"  Bewegung 
vorzustellen  als  zusammengesetzt  aus  vielen  Bewegungen  aufser  einander, 
aber  doch  in  einem  Ganzen  vereinigter  beweglicher  I^mkte.    Indessen  ist 
diese  Anschauung  schon   deshalb  unzulässig,   weil   sie  mit  dem  \\ Csen 
des  Phoronomischen,    wie  Kant  es  versteht,  doch  nicht  vereinbar  ist. 
„In   der    Bhoronomie    ist  es  nicht   thuidich,    sich   eine  Bewegung   als 
aus  vielen  aufserhalb  einander   belindlichen   zusammengesetzt  vorzu- 
stellen,   weil   das   Bewegliche,    da  es    dasellist    (»hne    alle    bewegende 
Kraft  vorgestellt  wird,   in  aller  Zusnnnnensetzung  mit   mehren  seiner 
Art    keinen    Unterschied    der  Gröfse    der    Bewegung    giebt,     als    die 
mithin     blol's    in    der   (Geschwindigkeit   besteht"   (ebd.  f.).      Stadler 
hat   wohl  Becht,  dafs  der   Hinweis   Kants    auf  die    „phoronomischen 
Lehrsätze"    sich  eben    nicht  auf    seine    eigen«'    Bhoronomie.    sondern 
auf  die  damalige  mathematische  Bewegungslehre  bezieht.  ■)    In  Wahr- 
heit  handelt    es    sich    bei    der    mechanischen    Bewegungsgröfse   nicht 
blol's    um     die    Geschwindigkeit,     sondern    auch    um     die    bewegten 
Körper;    die    (^nil'se    der   Bewegung    der  Körper  aber    ist  diejenige, 
die  durch   die  Quantität   der  bewegten  Materie  und  ihi-e  Geschwindig- 
keit   zugleich    geschätzt    wird.      Es    ist    mithin    einerlei,    ob   ich   die 
(Quantität    der  Materien  eines   Kr)r])ers    do])])elt  so    grofs    mache   und 
die   (-Jesch windigkeit   behalte,    oder  ob    i(;li    die  Geschwindigkeit   ver- 
doppele  und  eben    <iiese  (Quantität   der  i\Iaterie    behaltt?  {l'.VJ.  4."1.)). 
Was     ein   Kör])er    ist.     ist   klar:     wir    \eistehen     darunter    eine 


*)   Stadler:  a.   a.  O.    I.IJ. 


11.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


343 


Masse  von  bestimmter  Gestalt.  AVas  aber  ist  eine  Masse?  Un- 
mittelbar genommen  scheint  dieser  Begriff  mit  demjenigen  der 
(^)uantität  der  Materie  identisch,  d.  h.  er  ist  di(^  Menge  des  Beweg- 
lichen in  einem  bestimmten  Kaum.  Allein  hier  ist  eine  Einschränkung 
nötig.  Bei  einem  unterschlägigen  Wasserrade  wirkt  das  anstofsende 
Wasser  nicht  mit  allen  seinen  Teilen  zugleich,  sondern  nach  ein- 
ander ;  diese  successive  Wirkung  kann  in  der  Mechanik  nicht  zu 
Grunde  gelegt  werden  (4'^;')).  In  ihr  kann  die  (^)uantität  der  Materie 
nur  „Masse*'  heifsen.  „sofern  alle  ihre  Teile  in  ihrer  Bewegung  als 
zugleich  wirkend  (bewegend)  betrachtet  werden,  und  man  sagt,  eine 
Materie  wirke  in  Masse,  wenn  alle  ihre  Teile  in  einerlei  Richtung 
bewegt,  aufser  sich  zugleich  ihre  bewegende  Kraft  ausüben*'  (432). 

Hier  stehen  wir  vor  einer  Schwierigkeit.  Li  der  Bestimmung 
der  mechanischen  Bewegungsgröfse  bildet  die  (^)uantität  der  Materie 
ein  notwendiges  ]\roment.  Was  aber  sollen  wir  unter  der  Menge 
des  Beweglichen  vorstellen?  Da  die  iNFaterie  ins  Unendliche  teilbar 
ist,  so  bleibt  folglich  die  Bestimmung  ihrer  (Quantität  durch  die 
„Menge"  ihrer  Teile  unbestimmt,  und  es  geht  überhauj)t  nicht  an, 
von  „Teilen"  der  .Materie  zu  reden.  Zwar  ist  in  der  Vergleichung 
gleichartiger  Materien  die  (Quantität  der  ^laterie  „der  Gröfse  des 
V'olunuMis  ])roportional"  (433);  allein  dies  ist  nur  ein  Speziallall, 
der  dem  allgemeinen  Charakter  der  Mechanik  widerspricht,  dafs  es 
ni  ihr  nicht  blol's  auf  Vergleichung  spezitisch  gleichartiger  Materien, 
sondern  auf  Gröfsenmessung  ankommt.  Lehrte  uns  doch  die  Dvnamik 
die  Unmöglichkeit,  das  Volumen  als  Mafs  fih*  die  Materie  anznsehen. 
weil  bei  der  verschiedenartigen  Zusammendrückbarkeit  der  ^laterien 
gleiche  Volumina  ungleiche  (Quantitäten  enthalten  kininen.  Hs  ist 
daher  unmö'dich,  die  IMaterie  unmittelbar  oder  mittelbar  durch  Ver- 
gleichung  mit  irgend  einer  anderen  zu  messen  ;  man  mufs  sich  nach 
einem  indirekten   Schätzungsmittel  umsehen. 

Alle  Eigenschaften  der  Materie  müssen  auf  eine  sie  tragende 
Substanz,  d.  h.  anf  ein  „letztes  Subjekt  im  Räume*'  bezogen 
werden  ,  „welches  eben  darum  keine  andere  (iröfse  haben  kann, 
als  die  der  Menge  des  Gleichartigen  aufserhalb  einander.*'  I)i(*ses 
Subjekt  wird  nur  dui-ch  die  eigene  Bewegung  der  Materie  erkannt 
und  bestimmt,  und  damit  ist  uns  in  dov  Vielheit  der  Bewilligungen 
ein  Mal's  gegeben,  um  nach  ihm  di(^  (Quantität  der  Substanz,  d.  h. 
die  ^leiige  des  Beweglichen,  wenigstens  auf  indirektem  Weg(^  ab- 
zuschätzen (43(j).  Offenbar  ist  nämhch  die  AVirkung,  die  ein  Kch'per 
ausübt,  der  (Quantität  seiner  Materie  i)ro})ortional.  Man  braucht 
also  nur  die  (Geschwindigkeiten  zweier  Materien  einander  gleich  zu 
setzen,  um  ihre  (Quantität  zu  bestimmen,  oder  wie  Kant  es  ausdrückt: 


X 

•*•■ 


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H 


34-i 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


IT.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


345 


n 


„Die  Quantität  der  Materie  kann  in  Ver^leichun^^  mit  jeder  anderen 
nur  durch  die  (Quantität  der  Bewe^^un^  bei  gleicher  Geschwindigkeit 
geschätzt  werden''    (A',VJ.   A'.V.\). 

Damit  wäre  der  Zirkel  denn  glücklich  geschlossen:  die  (^)uan- 
tität  der  Bewegung  eines  Körpers  soll  durch  die  Quantität  der  be- 
wegten ^Materie,  diese  aber  durch  die  (Quantität  der  Bewegung 
geschätzt  werden!  Kant  selbst  hndet,  dals  hierin  ..etwas  Befrt'nid- 
liches"  liege,  glaubt  jedoch  der  Unbe(juemlichkeit,  dals  es  mehr  als 
ein  ,. vermeinter  Zirkel"  sei,  durch  Hinweis  auf  die  Erfahrung  sich 
entziehen  zu  kihmen.  „Die  (^(uantität  des  BeweglicluMi  im  iiaume 
ist  die  (^(uantität  der  Materie;  aber  diese  (^)uantität  (k'r  Materie 
(die  Menge  des  Beweglichen)  beweiset  sich  in  der  Erfahrung 
nur  allein  durch  die  (Quantität  der  Bewegung  bei  gleicher  Ge- 
schwindigkeit (z.  B.  durchs  Gleichgewicht)-'  (\',\')  f.).  Nun  ist  es 
ja  richtig,  (kifs  die  Bhysik  die  blasse  eines  Körpers  nacli  seinem 
Gewichte  mil'st,  und  für  die  Praxis  reicht  dieses  Vei'lähren  auch 
vollkommen  aus.  Indessen  für  ein  wirkliclies  Mafs  der  Masse  kann 
das  Gewicht  doch  nur  so  hinge  angesehen  werden,  als  man  nicht 
zuirleich  auf  die  Ätheratome  reflektiert,  die  in  keiner  ]\Iasse  fehlen, 
und  welche  in  das  Gewicht  einfach  deshalb  nicht  mit  eingehen,  weil 
sie  eben  unwägbar  (im])onderabel)  sind.  Die  theoretische  Be- 
sinnung mufs  daher  auch  sie  in  ihre  Formel  mit  aufnehmen,  und 
gerade  Kant  kann  sich  dem  gar  nicht  entziehen,  wtäl  die  ..i\Ieta- 
physischen  Anfangsgriinde*'  ja  nur  die  theoretischen  Voraussetzungen 
der  Physik  erörtern.  Er  hat  daher  ganz  Kecht.  das  empirische 
Moment  des  Gewichts  in  seiner  allgemeinen  Formel  beiseite  zu 
lassen  und  die  (^juantität  der  Materie  nur  als  di(^  Menge  des  Be- 
weglichen zu  bestimmen.  Es  ist  dies  in  der  That  der  ,.  Fundamental- 
satz der  allgemeinen  Mechanik"  (434).  Das  8chbmme  ist  nur.  dafs 
er  hiermit  aus  dem  fehlerhaften  Zirkel  gar  nicht  herauskommt, 
weil  nach  seiner  dynamischen  Theorie  der  Materie  die  (Quantität 
der  Bewegung  ein  ebenso  unbestimmter  Begriff  ist,  wie  die  (Quantität 
der  Materie,  und  bei  der  Unendlichkeit  der  Teile  eines  jeden  K(')r})ers 
jede  jMessung  uml  Vergleichung  zweier  Körper  unmöglich  ist.  iS'ur 
das  Gefühl  hiervon  macht,  dafs  Kant  jenen  Fundamentalsatz  so 
„merkwürdig"   findet  (4.')4). 

Dabei  sucht  er  seine  eigene  Auffassung  der  JMaterie,  wonach 
sie  an  sich  stofflich  sein  soll,  der  Monadologie  gegenüber  heraus- 
zustreichen, sofern  nur  jene  die  mechanische  Bestimmung  der  Materie 
nach  der  Menge  des  Beweglichen  gestatten  soll,  wohingegen  diese 
auch  den  „Grad  der  bewegenden  Kraft  mit  gegebener  Geschwindig- 
keit"   ins    Auge  fassen  müsse,     „der    von  dieser  Meng(,'    unabhängig 


wäre  und  blofs  als  intensive  Gröfse  betrachtet  werden  könnte,*'  ohne 
von  einer  Menge  der  Teile  aufser  einander  ahzuiiängen  (430). 
Nicht  die  Grcifse  einer  gewissen  Qualität  an  ilir  (der  Zurück- 
stofsung  oder  Anzit4mng)  macht  die  (Quantität  der  Materie  aus, 
sondern  die  blofse  Menge  des  Beweglichen;  denn  nur  diese  kann 
bei  der  gleichen  Geschwindigkeit  einen  Unterschied  in  der  (^)uantität 
der  Bewegung  geben.  Es  widersj)richt  dem  nicht,  meint  Kant,  dafs 
die  ursprüngliche  Anziehung,  als  Ursache  der  allgemeinen  Gravi- 
tation, beim  Abwiegen  doch  ein  Mafs  für  die  Quantität  der  Materie 
und  ihrer  Substanz  abgeben  soll.  Zwar  ist  hier  nicht  eigene  Be- 
wegung der  anziehenden  Materie,  sondern  ein  dynamisches  Mafs  zu 
Grunde  gelegt;  „aber  weil  bei  dieser  Kraft  die  Wirkung  einer 
Materie  mit  allen  ihren  Teilen  unmittelbar  auf  alle  Teile  einer 
andern  gescliieht  und  also  (bei  gleichen  Entfernungen)  offenbar  der 
]\renge  der  Teile  ])rop()rtioniert  ist,  der  ziehende  Köri)er  sich  da- 
durch auch  selbst  eine  Geschwindigkeit  der  eigenen  Bewegung  er- 
teilt (durch  den  AViderstand  des  gezogenen),  welche,  in  gleichen 
äufseren  Umständen,  gerade  der  Menge  seiner  Teile  ])ro))ortioniert 
ist,  so  geschieht  die  Schätzung  hier,  obzwar  nur  indirekt,  doch  in 
der  That  mechanisch-'  (4.')()  f.). 

Dagegen  ist   nichts  einzuwenden.     Wohl   aber  beschuldigt  Kant 
die    ^Monadologie    mit    Unrecht,    dafs   sie  ein   dynamisches  Mafs  an 
Stelle  des  mechanisclien   setze,    sofern  sie  allen   Stofi"  in    Kraft  auf- 
löst.    Das   mag  richtig  sein  für  Kants  eigene  frühere  Monadologie, 
die  selbst,    wie  wir  gesehen    liaben,    das  A'orurteil  des  Stoffes  noch 
nicht    gänzlich    überwunden    hatte    und    die  Ausdehimng    abliängi 
machte  vom   Grade  der  Kraft ;  aber  es  gilt  nicht  von  der  gereinigten 
iMonatlologie.    d.   h.  dem    atomistischen   Dynamismus   in   dem   Sinne, 
wie  wir  ihn  oben  entwickelt  hal)en.     Dieser  Dynamismus   bestimmt, 
ganz  ebenso   wie  Kant,   die  Masse  als  die   Anzahl   der  Monaden 
oder  Uratome,   d.   h.   der    beharrlichen    Kraftelemente,   die  auch 
den  Grad  ihrer  Kraft  nicht  verändern,   und  dieser  Ausdruck  ist  für 
ihn   ein   ganz  bestimmter,    sofern    ihm   die   Anziihl   der  Monaden   für 
eine    bestimmte    und    nicht    iÜr   eine  unendliche  gilt.     Kant  jedoch 
ist  zu  einer  solchen   Auffassung  überhaupt  nicht  einmal  l)erechtigt, 
weil  nach  ihm  die  Materie   ja    gar    keine.«  Elemente  in  sich  enthält. 
Einem  solchen  Standpunkt  gegenüber  ist  selbst  Kants  eigene  frühere 
Monadologie  im   Vorteil,    denn   sie   hatte  doch   wenigstens  bestimmte 
Elemente :    die  Annahme   der    unendlichen   Tt^ilbarkeit   der  Materie 
dagegen,   die  selbst  nur  wieder  aus  ihrei-  i\uft'assung,  als  einer  stoff- 
lichen, entspringt,   ist   nicht  blofs  widers])i-uclisvoll  in  sich,    sondern 
sie  macht  auch   eine  mechanische  Bestimmung  der  Bewegungsgröfse 
unmöglich,  weil  sie  dieselbe  zwingt,  sich  im  Zirkel  zu  drehen. 


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84G 


li.    Kaut   als   Natui'philosoph. 


Verf,^leiclit   man  diese  Schätzung   der   I}ewef:jungsgrörse  mit  der 
Erstlin,i,^ssclirit't,    so    fallt    es    auf,     wie  einfach  jetzt  die   Formel  ge- 
worden  ist,   wodurch  Kant  das  ^lafs  der  Kräfte  zu  bestimmen  sucht. 
Damals  hatte  Kant  die  Kraft,   welcln^  in  einom  Körper  von   draufsen 
verursacht  ist,  oder  die   ,.tote-'   Stofskraft  desselben   von   dei'  in   ihm 
selbst  gewirkten   Kraft,    der  „lebendigen*'   oder  dvr  Arbeitskraft  des 
Körpers,     unterschieden    und    die  erstere,     die   nur   dem    l\(»r))er  der 
MatluMnatik  zukommen  sollte,   mit   Cartesius    durch  (his    l^rodukt 
der    .Masse    und    Geschwindigkeit .    die    letztere,    welche    er    allein 
dem  Körpei;  in  (k'r  Katar  zuschrieb,   und  die  sich  in  (h'r  Überwindung 
eines  stetigen  Widerstandes  äufsern  sollte,   mit  Leibniz  ilurch  das 
Produkt    aus    der    Masse    und    dem   (^Inadrate    der  (reschwindigkeit 
bestimmt.     Jetzt    b<'ilt    Kant     blols  nocli  an  der  ersten     K(U*mel  des 
Cartesius  fest,     offenbar  aus  keinem   aiulern   (rrunde,   nls   weil   er 
die  innere  (^)uelle  der   Naturkraft  des   Kcirpers.   die  Bestrebung  des- 
selben,  seinen   Bewegungszustand  zu  erlialten.    (xhu*  die   ..Trägbeits- 
ki'aft"     nicht    mehr    für    eine    besondere    Kratt    ansah.       „A\'ie    die 
(^)uantität  der   Bewegung  eines  Körpers    zu    der    eines    anderen,     so 
vei'hält    sich    auch    die    Gröfse    ibrei*    Wirkung"     (4.')  ij.      I^^s    giebt 
demnach   nur    Ein   allgemeines  Mais   tiir   die   mecbanische  Kraft,    und 
dies  ist  die   Bewegungsgröl'se.     Kant    wendet    sicli    jetzt    sogar  aus- 
drücklich  gegen   diejenigen,     die.     wie     [jeibniz,    blofs    die    Gröfse 
eines  mit   Widerstand   ert'idlten   l\aumes  (z.  B.  die  Höhe,   zu  welcher 
ein   Kr)r))er  mit  einer  ^a'wissen  Geschwindigkeit   gegen   die  Schwere 
steigen   kann)    zum   Mafse  der  ganzen    Wirkung  annehmen,    weil    sie 
die  (iröfse  der   Wirkung    in    der   gegebentMi  Zeit    id)ersehen,    worin 
der    K()rper  seinen    J\aum    mit    kleinerer  (ilescliwiridi^keit   zui-ücklegt. 
Er   v(M'wirt"t    überhaupt    die   ^anze   frühere    Liuterscheidun^   zwischen 
toten    und   lebendigen    Kriiften    und    meint,    wofern    man    sie    nicht 
lieber     ganz    aufgeben    wolle,    müsse    man    sie  doch   in  jedem    b'alle 
„schicklicher"  verwenden  ( tiU).      Er  vergifst  dabei  nur,   dafs  die  ver- 
schiedenartige   Bestimmung    des    Kräftemafses    auch    ohne    die   An- 
nahme einer  besonderen  Tragheitskraft  noch  jetzt  ihren  guten  Sinn 
haben  kann,    dafs  sie  aber  dann   nicht    in  die   ,,]\Ietaj)hysischen   An- 
fani^sgründe",   sondern   in   die    Physik   hineingehört,    weil   sie   \on  der 
em})irischen    Bedini^ung  des   Widerstandes  abhüngig  ist,   welchen  die 
Kraft  zu   überwinden   hat.   — 

Die  erste  Analogie  der  Erfahrung  besagte,  dal's  l)ei  allem 
Wechsel  dvv  Erscheinungen  die  Substanz  beh;ii-rt  und  dafs  dns 
(Quantum  derselben  in  der  Natur  wnuier  vermehrt,  noch  vermindert 
wird.  Die  ,.Metaphysischen  Anfangsgiainde"  wenden  diesen  Satz 
auf  die  Materie  an  und  si)rechen  es  als  „erstes  (iesetz  der  ^lechanik" 


m 


li.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


M 


aus:    „Bei   allen  Veränderungen   der  körperlichen  Natur  bleibt  die 
Quantität    der    Materie    im    Ganzen    dieselbe,    unvermehrt   und    un- 
vermindert"  (437).      V^ergleicht   man  die  beiden  Sätze  mit  einander. 
so    zeigt    sich,    dafs    zwischen    ihnen    gar  kein  Unterschied  besteht. 
F]rinnern     wir    uns    doch,    w'ie    Kant    auch    l)ei  der  Behandlung  der 
ersten  Analogie  unter  Substanz    nur   die   Materie    verstand,    wie  er 
beide  Begrifle  als  gleichbedeutend  ge])rauchte.   wie  der  wesentlichste 
Zweck,   den  er  bei  seiner  Aufstellung  im  Auge  hatte,   der  war.  die 
Konstanz  der  Materie  a  priori  zu  begründen,  und  wie  er  die  blofse 
Subjektivität    des  Substanzbegriües    n.ur    daduich    hatte    begreiflich 
machen  können,    weil    er    ihn  lediglich  auf  die  blofs  subjektive  Er- 
scheinung   (hu*    Materie    bezog!     Offenbar    hat  Kant    hiervon  selbst 
eine  Ahnung;  daher  giebt  er  sich  alle  Mühe,  diese  ihm  unbe([ueme 
Identität    dov    l)eiden    Sätze    zu    vertuschen.     Einen    andern   Zweck 
kann   es   kaum    haben,    wenn   Kant  bemerkt:     „Aus  der  allgemeinen 
Metaphysik    wird    der  Satz    zu  Grunde  gelegt,    dafs   bei  allen   Ver- 
änderungen der  Natur  keine  Substanz  weder  entstehe,  noch  vergehe, 
und   liiei-  wird   nur  dargetlian.    was    in    der    Materie    die  Sub- 
stanz   sei*'     (ebd.).      Es    soll    also    noch    ein    Unterschied    bestehen 
zw^ischen    der     Materie    und    der    Substanz,     und  dieser  wird  näher 
dahin  bestimmt,    dafs  in   jeder  Materie  „das  Bewegliche  im  Räume 
das  letzte  Subjekt  aller  der  Materie  inhärierenden  Accidenzen''   sei. 
und  dafs  nur    ,.(lie  Menge    dieses  Beweglichen  aufserhalb  einander" 
die   (^lumtität  der  Substanz   bedeute  (ebd.J.     Die  Gröfse  der  .Alaterie 
der  Substanz   nach  ist  also  nichts  Anderes  als  die  Menge  der  Sub- 
stanzen, daraus  sie  besteht,  und  weil  demnach  jeder  Teil  der  Materie 
selbst  wiederum   Substanz   ist.    darum   wird  jenes  Gesetz   von    Kant 
auch  als  „Gesetz  der  Selbstiindit^keit  der  ]\rntei'ien"'  (h^x  subsistentiae) 
bezeichnet  (447).     Allein    auch    so  stimmt  dieses  Gesetz  mit  jenem 
früheren    Grundsatz    der    Fhialiruni^    darin    überein.    dafs    sie    beide 
tautologisch   sincL      Denn     wenn    man    die    Substanz    als   das    Unvcr- 
mehrbare    und    Unverminderbare    deüniei-t    und    die  Menge  des  Be- 
weglicben    bei    der    Materie    als  (^)uantum    der  Substanz   bezeichnet, 
dann  ist  es  <lurchaus  kleine  neue  Erkt^nntnis.   zu  sagen,   die  (Quantität 
der   Materie  sei    unvei'melirbar   und   unvcrminderbar :    der   beliauj)tete 
Unterschied   der   beiden   Sätze  schriim})l't   in    Nichts   zusammen. 

jM(>glich  wird  freilich  jene  Identitikation  dei"  Materie  mit  dem 
Substanzbegritf  nur  dann,  wenn  man.  wie  Kant  voraussetzt,  die 
Substanz  sei  nur  im  Räume  und  nach  Bedingung<Mi  desselben, 
folglich  als  Gegenstand  äul'serer  Sinne  möglich.  WVum  die  Aus- 
dehnung eine  notwendige  Bestimmung  der  Substanz  und  dieser 
Bfgrilf    nur    auf   Räundiches    anwendbar    ist,    dann   allerdings  wird 


I  I 

)\ 


348 


B.    Kant  als   Naturi)liilos()])h. 


II.  Die  kritisclie  Naturphilosophie. 


349 


tw 


man  aiidi   den  Teilen  der  :\Iaterie    d<'n  Namen   Substanz  nicht  vor- 
enthalten   k(-»mien.    weil   sie    eben  Teile   „aulserhalb  einander-'   sind. 
Hier  liegt  der  (Trund.   warum  Kant  die  Psychologie  von  der  Natur- 
wissenschaft   glaubte    ausschliefsen    zu    müssen    mit  dem  Bedenken, 
dai's  sie  einer  wahrhaft   wissenschaftlichen  Behandlung,    einer  a])rio- 
rischen   Konstruktion  ihrer   Hegriffe  nicht   fähig  sei:    sie  soll  hierzu 
nur  deshall)  nicht  fähig  sein,    weil  in  ihr  der  Substanzbegrift  keine 
Anwendung     finde.      Was     als    Gegenstand     drs     \unovpu    Sinnes 
betrachtet    wird,    hat  (Mue  GriH'se.    die   nicht   aus  Teilen  aufserhalb 
einander    besteht,    deren    Teile    also    auch    nicht    Substanzen    sind, 
deren   Entstehen    oder  Vergehen    folglich    auch   nicht  ein   Entstehen 
oder  Vergehen    einer  Substanz    sein    darf,    deren   Vermehrung  oder 
Verminderung    daher    dem    Grundsatz    von    der    Beharrlichkeit    der 
Sui)stanz  unbeschadet  mr^glich   ist  (437  f.).     Aus  dem  verschiedenen 
Grade    des    Bcwufstseins    un.l    der    Klarheit    unserer   Vorstellungen 
folgt    notwendig,    dafs    auch    das  Verm()gen    des    BewufstscMiis    odei- 
die^Apperzeption  und  damit  zugleich  die  sie  tragende  Suhstanz   dei- 
Seele    einen    Grad    hal)en    mufs,    der    grr)fser    oder    khäner  werden 
kann,   ohne  dafs  hierbei  Teile,   die  Substanzen   wänui,    zu  entstehen 
oder  zu    vergehen    hrauchen.     Man    kann    sich    vorstellen,    dafs    die 
Intensität    dieses    Vermr)gens    der    Apperzeption    bis    zur    Null    ab- 
nehmen, ja   dafs  sie  schliefslich  ganz  verschwinden  kann.      Es  geht 
uns    mithin    hier   jede   Berechtigung  ab,     die  Seeh«  als  Suhstanz  zu 
betrachten,  weil  uns  das  einzige  Merkmal  dieses   Begriffes,    nämlich 
die   Beharrlichkeit,   fehlt  (4.')S). 

Ohne    sich    auf    eine    nähere^    EWh'tcrung    dieser    Sätze    einzu- 
lassen,  kann   man  sagen:   der  Suhstanzbegrilb    wenn   man   ihm  schon 
einmal    eine    reale    Bedeutung    zuschreil)t.    zwingt    notwendig    dazu. 
ihn    nicht    blo  s    auf    den  (legenstand    der  äufseren   Wahrnehmung, 
sondern    auch    auf    das     innerliche    Objekt    unserer     Vorstellungen. 
Gefühle  und  Willensakte  anzuwenden,    mag  man   nun  die  Seele  als 
individuelle   Substanz   oder  als   absolute   Sul)stanz    auffassen,     welche 
die  individuellen   Scheinsubstanzen     nur    als    ebenso   viele   individuell 
gesonderte    Eunktionengruppen    in    sich    schliefst.      Ereilich  das  Ich 
Fst    nicht    diese    Suhstanz:     das    Ich   ist   „selbst   blofs  ein   (iedanke-S 
es    ist    nur     ,.das    allgemeine    Korrelat    der    Ai)perzeption"   und  be- 
zeiclmet,    „als   ein  hh)fses    Vorwort,   ein   Ding    von   unhe^^timmter   Be- 
deutung!   nämlich    das    Subjekt    aller    Prädikate    ohne    irgend    eine 
Bedingung,  die  diese  Vorstellung  des  Subjekts  vmi  dem   eines  Etwas 
überhaupt    unterschiede,    also  Substanz,    von   der  man,    was  sie  sei, 
durch    diesen    Ausdruck    keinen    Begrilf   hat«'   (biS).      Aber    ebenso 
wenig  ist  die  Materie,   als  Gegenstaml  der  äufseren    W^ihrnehmung, 


I 


schon    selbst  Substanz.     Sie    ist    nur    das    subjektive    Korrelat    der 
äufseren    Substanz    in    keinem  andern  Sinne,    wie  das  Ich  das  sub- 
jektive Korrelat  oder  der  Bewufstseinsrepräsentant  der  inneren  oder 
Seelensubstanz  ist.     Wenn    es    anders    erscheint,    wenn  die  Materie 
bei    ihrer   doch    immer    nur    relativen  Beharrlichkeit  der  Rechnung 
leichter  zugänglich  erscheint  als  die  ganz  unfafsharen  Erscheinungen 
des  Seelenlebens,  so  li(\gt  das  nicht  daran,    weil  sie  vor  diesen  den 
Vorzug  der  Substanz  voraus  hätte,  sondern  es  liegt  daran,  dals  die 
Substanz    hei    ilireni    mattuäellen    Dasein    in    der   dreidimensionalen 
Form  des  Baumes,   bei   ihrem  seelischen  Dasein  dagegen  nur  in  der 
eindimensionalen  Zeitform  sich  offenbart    (III.   ()();")).     Nur    weil    er 
bei    seinem   Begriffe    der  Substanz    iiberhau})t    blofs    das    materielle 
Sein  im  Auge  hat,    weil  er  jenen  Begriff    von    vornherein    nur    auf 
die  Materie  zugeschnitten  hat.  nur  darum  vermag  Kant  sich  in  dem 
Glauben   zu  wiegen,   die  Beharrlichkeit  der  Substanzen  hier  a  priori 
beweisen    zu    können,     ,.weil  bei  der  Materie  schon  aus   ihrem    Be- 
griffe,   nämlich   dafs  sie  das  Bewegliche  sei,    das  nur   im  Räume 
mciglich  ist,    ffiefst,    dafs  das.    was  in  ihr  Gröfse  hat,  eine   Vielheit 
des  Realen    aufser  einander,    mithin   der   Substanzen   enthalte,    und 
folglich  die  (Quantität  derselben   nur  durch  Zerteilung,    welche  kein 
Verschwinden  ist,  vermindert  werden  könne*'   (IV.  43<S).     Es  ist  ein 
Irrtum,     (h-r    in    der  J*hilos()])hie    die  schlimmsten  Folgen  nach  sich 
gezogen    hat,    das   Ich    für  die  Substanz  der  Seele  selbst  zu  halten 
und  dabei  von  seinen  materiellen  Bedingungen  zu  abstrahieren.     Aber 
es  ist  ein  mindestens  ebenso  grofser  Irrtum,  die  substantielle  Grund- 
lage der  Seelenfiinktionen  zu  verkennen  und  sich  einzuhilden.   in  der 
M[iterie  die  Substanz    als    solche    unmittelbar  erfafst  zu  haben.      In 
Wahrheit  hat  der  äufsere  Sinn   vor  dem  inneren  in   dieser  Hinsicht 
nichts    voraus    als    (kui    Wunsch    des    Naturj)hiloso])hen    Kant,    die 
Konstanz  der  Matei'ie  a   priori  zu  begründen,   während   bei   ihm  ein 
gleiches   Interesse    füi'    das   Ich   nicht   besteht.      Es    ist    aber    ebenso 
wenig    möglich,    aus    Ijlofsen    Begriffen    die   Unvermehrbarkeit    und 
Unverminderbarkeit  der  ^Materie  zu  erweisen,    wie  aus  dem   blofsen 
Gedanken   Ich   ilie   Beharrlichkeit    der  Seele,   als  Substanz,   gefolgert 
werden  kann.     In  beiden  Fälh^i  k()nnen  nur   E  r  f  a  h  r  u  n  g  s  g  r  ü  n  d  e 
das  eine  wahrscheinlicher  als  das  andere  machen,  eine  Waiir- 
heit,    die,    was    die    Materie    aiilietrifft,    wohl  keinem  Zweif(d    mehr 
unterliegen    düri'te,     nat-hdem     das    Gesetz    von    der   Erhaltiinu    der 
Materie    erst    durch  die    moderne  Bliysik  und  (.'hemie  experimentell 
bewiesen  ist. 

Dafs  die  Materie  nicht  Substanz,   sondern  nur  Accidenz  ist,   wird 
von  Kant  selbst  zugegeben,    wenn   er  sagt,    die  Materie  bestehe  aus 


350 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


11.  Die  kritische  Natur])hilosophie. 


351 


„lauter  Verlialtnisseir'    und    leu.i,niet,    dafs    sie  der  Idee   des  absolut 
notwendigen   Wesens    entspricht.     Substanz    kann    nur    das    absolut 
Bebarrlicbe  sein,  das  demnach  ursprünglich  und  notwendig  sein  mufs  : 
an  das  Dasein  der  i\Iaterie  dagegen  ist  die  Vernunft  durchaus  nicht 
gebunden,    man   kann    es    in  Gedanken    aufheben,    ohne    dafs  einem 
damit  der  Boden  unter  den  Füfsen  sinkt.     Wäre  die  Materie  wii-klich 
selbst  Substanz,    dann  wäre  ja  in   ihr  der  höchste  und   letzte  Grund 
der  Einheit  empirisch  erreicht,  dessen  ewige  IJnfafsbarkeit  und  Trans- 
cendenz    die    Vernunftkritik    als    der    AVeisheit    letzten   Schlafs    ver- 
kündigt hatte.      Es  kann    ja    aber  gar    nicht    die  Kede    davon    sein, 
dafs  die  Materie  ursprünglich  und  notwendig  wäre,  denn  Ausd(^hnung 
und  Undurchdringlichkeit,    die    zusammen    den    I^eirriff    der   Materie 
ausmachen,   sind   Wirkungen  (Handlungen),   die  ihre  Ursache  haben 
müssen,   und  sind  daher  immer  noch  abgeleitet  (s.  oben    154  f.  'JOi)). 
„Wo  Handlung,   mithin  Thätigkcit   und    Kraft    ist,    da   ist  auch 
Substanz,   und  in  dieser  aUein  mufs  der  Sitz  jener  fruchtbaren  (^)uelle 
der  Erscheinungen  gesucht  werden"'   (111.   1S8).      Wenn  also  die  Sub- 
stanz Produzent    der  Erscheinung    der  Materie    ist.    dann    kann   die 
Materie,   als  Produkt  der  Substanz,   nicht   mit   ihr  selbst  zusammen- 
fallen.     Sie  leitet  uns  dann  zwar  hin  auf  die  Substanz   und  re])räsen- 
tiert   die  Realität   derselben  fürs  Bewufstsein,   aber  sie  selbst  ist  nicht 
Substanz,    sie  S(^ll)st    ist  von   dieser    so  verschieden,    wie  es  das    Pe- 
wufstseinsimmanente  vom   Bewufstseinstranscendentcn   ist.      ..Materie 
ist   nichts   Anderes  als  eine  blofse    Form   oder  eine   ^^ewisse   Vor- 
stellungsart    eines   u  n  b  e  k  a  n  n  t  e  n  Gegen  s  t  an  d  es    durch    die- 
jenige Anschauung,  welche  man  den  äufseren  Sinn   nennt.      Es  mag 
also  wohl  etwas  aufser  uns  sein,   dem  diese  Erscheinung,   welche  wir 
]^raterie  nennen,  korrespondiert;  aber  in  derselben  (^)ualität  als  Er- 
scheinung ist  es  nicht  aulser  uns,  sondern  lediglich  als  ein  Gedanke 
in  uns,  wiewohl  dieser  Gedanke  durch  genannten  Sinn  es  als  aufser 
uns  befindlich   vorstellt''    (ITT.   OOTj.      Daraus  geht  hervor,   dals   die 
eigentliche   Substanz   überhaui)t    nicht    unmittelbarer    Iidialt    unseres 
Bewufstseins  sein  kann.  Sie  ist  nur  in  derSpliäre  der  Tr  anscendenz 
zu  suchen,   und  es  ist  (d)enso  unberechtigt,  die  subjektive  Erscheinung 
der  Materie    für  die   Substanz    zu    halten,    d.   h.    das  Transcendente 
in  die  Immanenz  hereinzuziehen,   wie  es  nach  Kants  eigenen  AV5)i'ten 
ein   ,.blofses  Tllendwerk"'    ist.    das,    was    nur    in  Gedanken    existiert, 
nämlich  die  Materie,  zur  hypostasieren.  sie  in  eben  derselben  (^)ualität 
als  einen  wirklichen  Gegenstand  aufserhalb  dem  Subjekt  anzunehmen, 
und  damit    das    blofs   Immanente    m   die  Welt    des  Transcendenten 
hinauszuversetzen  (ebd.).      Es  ist  ein  Widersi)ruch,   der  sich  nur  aus 
seinem  Streben  n:u'li  apodiktischer   Erkenntms  dtu'  Naturgrundlagen 


und  der  hieraus  entsi)ringenden  Bevorzugung  des  materiellen  Seins 
erklärt,  wenn  Kant  auf  der  einen  Seite  behauptet,  das  absolut  Not- 
wendige sei  nur  in  der  Transcendenz  zu  finden  und  ddlwv  für  uns 
ein  unfafsbarer  Begriff,  und  auf  der  anderen  Seite  die  Substanz,  das 
einzige,  was  dem  Begriffe  des  absolut  Notwendigen  entspricht,  als 
die  Materie  bestimmt,  obwohl  doch  diese  nur  Erscheinung  in  unserem 
Bewufstsein  ist.  Der  Materialismus  mag  immerhin  die  Materie  für 
die  Substanz  ausgeben  —  er  kennt  ja  kein  höiieres,  absolutes  A\''eseii 
über  ihr.  Kant  dagegen  ist  hierzu  einfach  deshall)  nicht  berechtigt, 
weil  ja  die  Materie  für  ihn  gar  kein  Letztes  ist.  Mit  Hecht  nennt 
er  es  eine  „ganz  sinnleere"  Behaui)tung,  die  Vorstellung  äufserer 
Gegenstände  (die  Erscheinungen)  könnten  nicht  äufsere  (d.  h.  trans- 
cendente) I5\sachen  der  Vorstellungen  in  unserem  Gemüte  sein,  „weil 
es  Niemandem  einflillen  wird.  das.  was  er  einmal  als  blofse  Vor- 
stellung anerkannt  hat,  für  eine  äufsere  Ursache  zu  lialteir'  (TIT. 
(;i()).  Aber  er  selbst  begeht  diese  Siindosigkeit,  indem  er  die  Sub- 
stanz, welche  der  Erscheinung  der  Materie  zu  Grunde  liegt,  un- 
mittelbar mit  dieser  Erscheinung  identifiziert. 

Die  Materie  ist  das  TVodukt  der  Anzieliungs-  und  der  Ab- 
stofsungskraft  und  als  solche  das  letzte  Subjekt  alles  dessen,  was 
von  dem  Inhalt  unseres  Bewufstseins,  soweit  es  sich  auf  den  äufseren 
Sinn  bezieht,  auszusagen  ist.  T)Hraus  folgt,  dafs  die  Kraft,  die  eben 
dies  Subjekt  erst  produziert,  jenseits  des  Bewufstseins  liegen,  trans- 
cendent  sein  mufs.  Tvcinnen  doch  die  Kräfte  als  solche  überhaupt 
nicht  wahrgenommen,  sondern  nur  indirekt  aus  den  Bewegungen  von 
uns  erschlossen  weiden,  die  uns  solche  Kräfte  anzeigen  (TU.  1,S5). 
Wie  stimmt  es  hiermit  zusammen,  wenn  Kant,  um  die  Materie  a 
|)riori  zu  konstruieren,  von  Kräften,  die  also  docli  selbst  blofs 
aposteriorischer  Natur  sind,  ausgeht,  wenn  er  die  a])odiktische  Be- 
schaffenheit der  Materie  gründet  auf  den  hypothetischen  Tiegriif  der 
Kraft y  Ist  die  Kraft  ihrer  Natur  nach  etwas  Transcendentes,  so 
kann  sie,  als  die  Vorstellungen  wirkende  Ursache  unserer  Bewufst- 
seinswelt.  jedenfalls  nicht  bewegende  Ivraft  sein:  denn  Bc^wegung 
ist  ja,  als  T^rodukt  von  Baum  und  Zeit,  für  Tvant  eine  blofs  sub- 
jektive Vorstellung.  Und  doch  macht  Kant  die  Pewegung  zur 
^Trundbestimmung  der  Materie  und  leitet  er  deren  Eigenschaften  aus 
Bewegungskräften   ab  ! 

Tvant  befand  sich  offenl)ar  in  einer  schwierigen  Lage.  \\'oraul 
es  ihm  ankam,  war,  die  dynamische  Beschr.ffenheit  der  Materie 
zu  beweisen  :  darum  bedurfte  er  t  r  a  n  s  c  e  n  d  e  n  t  e  r  T\räft(^ :  denn 
die  P'roduzenten  dieses  letzten  Subjektes  unserer  äufseren  Tk'griffe 
konnten  nicht    selbst  wiederum    blofs    subjektive  T^egriffe    sein.     Er 


) 


352 


1^.    Kant  als  Natiir{)hilosnph. 


wollte  aber  jenen  Beweis  a  ])ri()ri  fiiliri'n:  darum  mursten  es  be- 
wegende Kräfte  sein:  denn  nur  die  Bewegung,  als  subjektiver 
Begriff,  befs  sicli  vom  Subj(d<t  a  priori  konstruieren.  Kant  durfte 
also  einerseits  die  Spliäre  der  Tmnnmenz  niebt  verlassen,  sofern  ja 
nämlicb  die  Möglicbkeit  einer  apriorisebcn  Konstruktion  natiirbcb 
nur  so  weit  reicbte,  wie  die  Grenzen  der  Subjektivität;  und  er  mulste 
docb  andererseits  über  die  Ersebeinungswelt  binausgeben.  um  aui 
die  (Quelle  der  Mat^'rie  zu  stofsen.  So  erklärt  sieb  das  eigentündicbe 
Scbwanken  und  Scbillern,  das  über  dieser*  Punkt  durcb  die  ganzen 
,.Metapbysisclien  Anfangsgründe"  bindurebgebt  und  die  Yeranbassung 
zu  vieb'ii  Eriu-terungen  gegeben  bat.  Die  Verteidiger  Kants  baben 
«ranz  recht,  es  ein  IVlifsvei'ständnis  zu  nennen,  als  ol)  es  sieb  bei 
den  Kräften,  aus  denen  die  Materie  resultiert,  um  transsubjektive 
bandeltr.  Die  Anfangsgründe  stellen  prinzipiell  durebaus  auf  dem 
Boden  der  W'rnunftkritik,  d.  b.  sie  baben  es  ausscbliefslieb  luit  Fa- 
scbeinuno-en   zu  tbun.   und   die   Kraft   ist  nur  an   und   niciit   bmter 

C.   I  "1/1 

der  Erscbeinung.')  Aber  aueb  die  (jegner  Kants  haben  Recbt,  dals 
seine  ganze  Naturpbilosopbie  ,.zwiseben  einer  aprioriscben  Tbeone 
der  (nur  in  unserm  Bewufstseiu  vorbandenen)  Ersebeinungen  und 
einer  Tbeorie  der  (unabliängig  von  dem  Bewul'stscin  fuiplindeuder 
Wesen  existierenden,  mr)glieber  Weise  vor  der  Existenz  vmi  Organismen 
bereits  bestellenden  und  die  Entstellung  der  Empfindungen  bedingenden) 
Realität,  die  allen  Naturersebeinungen  zu  (-i runde  liegt,  in  einer 
unklaren  Mitte  scbwebt.  .Alan  mufs."  sagt  UcbiM'weg.  „beider 
Lektüre  der  „Meta])iiysiseben  Anfangsgrund«'  der  Naturwissenschaft" 
in  gewissem  Betracht  vergessen  und  doch  in  anderem  lietracbt  test- 
balten.  dafs  wir  naeb  der  K(mse(iuenz  des  Systems  es  nur  mit  \'or- 
<nln<>-en  zu  tbun  baben.  <lie  ])Iofs  innerbalb  unseres  Bewufstseins 
stattbnden,  also  bereits  physisch  bedingt  sind  und  nicht  der  Existenz 
empfindender  und  vorstellender  Wesen  als  Bedingung  zu  Grunde 
liegen  k()nnen. '''''*) 

Einen  Ausgleich  dieses  AVidersprucbes  vermochte  Kantjiur  dann 
zu  finden,  dafs  er  zwar  an  der  subjektiven  Natur  der  Bewegung 
festbielt,  aber  die  letztere  nicht  dem  transcendenten  Pi-oduzenten  der 
Materie  selbst  zuscbriel),  sondern  sie  nur  für  die  Art  und  Weise 
ausgab,  wie  uns  in  unserm  Bewufstseiu  jene  transcendente  Kraft 
sich  darstellt.  „Wenn  wir  von  Anziehung  und  Abstofsung  der 
Atome  sprecben.  so  müssen   wir  albu-dings  die   Bewegungstendenzen 


*j  Stadler:   a.  a.  ().   'J. 
**)  TTeberwei»-:   (inimlrils  d.   üescli.  d.   Pliilos.  d,   Neii/x-il   (ü.  Autl.J  2üÜ. 


11.  Die  kritische  Naturphilosophie, 


353 


oder  die  positiven  und  negativen  Bescbleunigungstendenzen  und  die 
Tendenzen  zur  Richtungsänderung  nur  als  subjektive  Repräsentanten 
oder  als  phänomenale  Symbole  für  dasjenige  betrachten,  was  dabei 
wirklich  in  den  Kräften,    als  Dingen    an    sich,  vor  sich  geht;    aber 
wir  dürfen  auch  nicht  daran  zweifeln,  dafs  etwas  unseren  räumliehen 
Anschauungen  unräunilich  KoiTespondierendes    in    den  dynamischen 
Dingen  an  sieh  vorgebt,  und  wir  bleiben  deshalb  berechtigt,  unsere 
räumlichen  und  phoronomischen   Kraftbestimmungen    als  korrelative 
Rei)räsentantcn  der  Wij-klichkeit    zu  benutzen,    obwohl    wir    sie  als 
inadäijuat  erkennen.- •=)     Wir  übersetzen  also  gleichsam  die  Sprache 
der  Dinge  an   sich,    womit  sie  sich  uns  ankündigen,    unmittelbar  in 
diejenige  unserer  subjektiven  Erscheinungswelt,   und   wir  wissen  nur 
darum   von  jenen    Dingen   unmittelbar  nichts,   weil  wir  sie  eben  nur 
in  unserer  Übersetzung  kennen  lernen.    Wir  konstruieren  die  Materie 
aus  Bewegung,    obwohl  wir  ganz    genau  wissen,    dafs    sie  eigentlicli 
nicht  aus   Bewegung  zustande  kommt,    weil  es    uns    eben    an  iedem 
andern  Mittel  fehlt,    um  uns  den  Vorgang  ihrer  Entstehung  zu  er- 
klären,  und  wir  müssen  ihn  uns  nur  deshalb  erklären,   weil  die  von 
uns  angeschaute  Materie  offenbar  nicht  ein   Letztes  sein  kann. 

Diese  Auffassung    hat  Kant    wirklich    vorgeschwebt,    wie   auch 
aus    jener    Stelle    in    der  Vernunftkritik  hervorgeht,    wo    er  darauf 
aufmerksam  macht,   „dafs  nicht  die  Körper  Gegenstände  an  sich  sind, 
sondern   eine   blofse   Erscheinung,    wer    weifs,    welches    unbekiinnten 
Gegenstandes:    dafs  die  Bewegung  nicht  die  Wirkung  dieser 
unbekannten    Ursache,     sondern    blofs     die     Erscheinung 
ihresEinflussesaufunsereSinne;  dafs  folglich  beide  nicht 
etwas  aufser  uns,  sondern  blofse  Vorstellungen   in  uns  seien; 
mitbin,  dafs  nicht  die  Bewegung  der  Materie  in  uns   Vorstellungen 
wirke,     sondern    dafs    sie  selbst    (mithin  auch  die  Materie,    die  sicli 
(bidurch  kennbar  niacbtj  blofse  Vorstellung  sei"  (III.  (i(KS  f.).     Leider 
kann  die  Kraft   nur  als  transcendente   wirklich   die  produktive  Be- 
dingung der  Materie    sein;    als    blofs  immanente    aufgefafst,    ist  sie 
jedoch    nicht    die    wirkliche    Kraft,    sondern    nur    unsere    Vor- 
stellung von  einer  solchen,    wobei  es  liypothetisch  bleibt,    ob  ihr 
iiberhau})t  eine  wirkliche  Kraft  zu  Grunde  liegt.     Diese  Schwierig- 
keiten liat  Kant  auch   wohl  selbst  empfunden,  ohne  jedoch  vorläufig 
imstande  zu  sein,  sie  aufzulösen.     Thatsäcblich  behandelt  er  in  den 
„Anfangsgründen"    die  Kraft,    als  ob    sie  eine  transcendente    wäre, 
und  scheint  es  ganz  vergessen  zu  baben.   dafs  ja  die  Bewegung  blofs 
im  Subjekt  ist.     Er  hatte   daher  allen  Grund,    in  dieser  Schrift  so 


) 


*)  V.   Hart  mann:   Kants   Erkenntnistheorie  u.  Metaphysik   147. 
D  r  e  w  8,  Kants  Naturphilosophie.  23 


354 


B.   Kant  als  Naturphilosoi)h. 


wenig,  wie  möglich,  auf  die  Vernunftkritik  Bezui^-  zu  nehmen  und 
insbesondere  über  das  Verhältnis  seiner  dynamischen  Theorie  der 
Materie  zum  transcendentalen  Idealismus  sich  auszuschwcigen,  ein 
Umstand,  der  freilich  um  so  auffälli^^er  erscheint,  als  es  sich  doch 
in  den  „Anfangsgründen"  gerade  um  die  näh^TC  Ausführung  dessen 
handelt,  wozu  die  Verinmftkritik  den  Grund  hatte  legen  wollen. 
Wir  werden  später  sehen,  wie  Kant  sich  schliefslich  geholfen  hat, 
um  die  Bewegung  als  produktives  Prinzip  der  IVIaterie  festlialten  zu 
k(umen  und  dennoch  ihre  a])riorische  Natur  nicht  aufzugeben.  So 
wie  die  Dinge  in  den  „Metaphysischen  x\nfangsgrüntlen-'  liegen,  kann 
von  viner  klaren  Stellungnahme  zu  diesem  Punkte  nicht  die  Jlede 
sein,  und  es  bleibt  daher  bei  dem  früher  schon  Gesagten,  dafs  näm- 
lich die  ai)riorische  Ableitung  der  Materie  aus  der  Bewegung  nicht 
als  gelungen  betrachtet  werden  kann. 

AVenn  nun  die  Kraft  nur  trancendent  sein  kann,  so  kann  auch 
die  Substanz    oder    das  Subjekt    der    Kraftäufserung    nur    als    eine 
transcendente  verstanden  werden.     Damit  widerlegt    sich    auch    auf 
diesem  Wege  das  Streben  Kants,   die  Konstai>.z  der  Materie  aus  dem 
SubstanzbegriflP  beweisen    zu  wollen.     Berechtigt    ist  an    dieser  Be- 
strebung nur  soviel,    dafs   eine  Anscluiuung,    welche    die  :\Iaterie  in 
Kräfte    auflöst,    die    Frage    nach    dem  substantiellen  Träger    dieser 
Kräfte  schlechterdings  nicht    umgehen  kann.     Denn  der  Stoff  mag, 
wie  gesagt,  immerhin  als  Substanz  betrachtet  werden,  sofern  er  für 
die  sich  gleich  bleibende  Unterlage  alles  Geschehens  angesehen  wird ; 
die  Kraft  dagegen,    welche  diesen  Stoff   erst  m(")slich    machen    soll, 
Hattert  als  solche  haltlos  in    der  Luft  und    drängt  eben    damit  das 
Denken    unwffigerlich  dazu,    sie  an    eine    noch    hintc^r    ihr    liegende 
Substanz  anzuknüi)fen. 

Wer  als  Materialist   die  Materie    oder    richtiger    den  Stoff  für 
die  Substanz    ansieht,    der    mufs    früher  oder    später    konse(iuenter 
Weise  dahin  gelangen,  die  Wahrheit  des  Sul)stanzbegriffes  überhaupt 
zu  leugnen,    denn    das    stoffliche    Dasein    zeigt    höchstens    nur    eine 
relative  Konstanz,    und    es    ist    ganz    vergebliche    Mühe    durch  Zer- 
gliederung des  Stoffes  jemals  zu  einem  letzten  konstanten  Elemente 
zu  gelangen,  wofern    dieses    selbst    noch    stofflich  sein    soll.     Diese 
Konsequenz    wird    neuerdings    auch    von    denjenigen   Naturforschern 
anerkannt,  die  einsichtig  genug  sind,   um  sich  mit  einer  ])lump  stoff- 
lichen Auffassung    der    Materie     nicht    begnügen    zu    können,    und 
doch  nicht  philosophisch  genug,  um  sich  zum  Dynamismus  durchzu- 
ringen.    Die  Folge    dieses  Zugeständnisses  ist    eine  Naturforschung 
ohne  Materie,  ein  Zurückführen  aller  Erscheinungen  auf  Bewegungs- 
vor^änge,    ohne  dafs  man  wüfste,    was  sich  denn  eigentlich  bewegt, 


iL  Dit'  kritische  Naturphilosoi)hie. 


355 


eine  Anschauung,  die  alsdann  von  den  Naturforschern  und  ihren 
blindgläubigen  Verehrern  als  der  Gipfel  alles  Tiefsinns  angestaunt 
wird.  Es  ist  verständlich,  wie  der  Naturforscher,  als  naiver  Realist, 
der  in  der  subjektiven  Erscheinung  des  Stoffes  die  Materie  unmittel- 
bar selbst  wahrzunehmen  glaubt,  zu  einer  solchen  Auffassung  ge- 
langen und  die  Wahrheit  des  Substanzbegriffes  leugnen  kann ;  unter- 
scheidet er  doch  seine  Vorstellung  odt^r  die  Erscheinung  nicht  von 
dem  Ding  an  sich  und  hat  daher  von  einer  Welt  hinter  der  Er- 
scheinung keine  Ahnung.  Allein  ein  Philosoph,  der  den  Irrtinn  des 
naiven  Realismus  durchschaut  hat,  der  weifs.  dafs  die  Welt  und 
damit  auch  der  St(»ff'  unmittelbar  nur  unsere  Vorstellung  ist,  und 
der  doch  zugleich  unsern  subjektiven  Kategorieen  transsubjektive 
Geltung  zuschreibt,  ein  solcher  sollte  doch  billiger  Weise  davor 
geschützt  sein,  dem  Substanzbefrriff  alle  AV'ahrheit  blofs  deshalb 
abzusprechen,  w^eil  er  in  der  Erscheinungswelt  allerdings  nicht  real 
ist.  Wenn  es  eine  Substanz  giebt.  so  kann  sie  mir  transsubjektiv  nnd 
selbst  der  Grund  des  Subjektiven  sein,  wobei  es  ganz  bedeutungslos 
ist.  wie  das  Sui)jekt  selbst  zu  diesem  Begriffe  gelangt  ist.  Ma<]^  der 
Substanzbegriff  im  Subjekt  immerhin  auf  psychologischem  Wege 
durch  Absti'aktion  von  den  relativ  konstanten  Erscheinungen  ent- 
standen,  und  mag  dieser  Prozefs  noch  so  durchsichtig  sein,  dadurch 
wird  doch  die  Realität  der  Substanz  nicht  aufgehoben,  schon  des- 
halb nicht,  weil  ohne  sie  auch  die  relative  Konstanz  der  Erschei- 
nuTureii  nicht  erklärlich  wäre.  Gäbe  es  keine  Substanz,  so  könnte 
ein  solches  relatives  Bestehen  höchstens  durch  Zufall  einmal  herbei- 
geführt werden,  aber  es  könnte  nicht  regelmäfsig.  nicht  gesetzmäfsig 
sein,  so  könnte  es  überhaupt  keine  Gesetze  in  der  Natur  geben; 
es  müfste  dann  alles  in  ihr  chaotisch  durcheinander  fluten.  Dafs  es 
Gesetze  giebt,  unwandelbare,  ,.eherne-'  Naturgesetze,  dafs  es  nnin^lich 
ist,  sie  durch  Beobachtung  aufzufinden  und  jederzeit  ihre  Wirk- 
samkeit im  Naturgeschehen  nachzuweisen,  das  beweist,  wie  in 
allem  Wechsel  der  Erscheiimngswelt  ein  Etwas  sein  mui's,  das  sich 
selbst  nicht  verändert,  wie  dieser  scheinbar  so  rastlose  heraklitische 
Flufs  des  AV^erdens  und  Vergehens  nur  der  Ausdruck  oder  die 
wahrnehmbare  Oberfläche  eines  sich  hinter  ihm  verbergenden  Wandel- 
losen ist,  das  genügt  völlig,  um  unsere  V'orstellunfj  der  Substanz 
selbst  dann  nicht  zu  widerlegen  und  uns  zur  Aufsuchung?  dieser 
Substanz  zu  veranlassen,  wenn  der  Zweck,  den  die  Natur  in  allen 
ihren  Gebilden  festhält  und  dem  sie  durch  alle  ihre  Verwandlungen 
hindurch  nachstrebt,  sich  als  eine  blofse  Chimäre  herausstellen 
würde.  Der  Philosoph  mag  wohl  vom  grünen  Tische  aus  die  Wahr- 
heit   des    Substanzbegriffes     bestreiten    und    das    Sein    in    lautere 


t   1 

) 


356 


B,    Kant  als  Naturphilosoph. 


Aktualität  aiifl()sen;  der  unbefangene  Mensch  bestellt  darauf,  dafs, 
wo  Handlung  ist,  auch  ein  Handelndes,  wo  Bewegung,  auch  ein  sich 
Bewegendes,  wo  Kraft  ist,  auch  eine  Substanz  sein  mufs.  Er  wird 
auch  einer  Aufliisung  der  M;iterie  in  lauter  Kräfte  so  lange  mit 
Mifstrauen  gegenüberstehen,  bis  man  ihm  gesagt  liat,  an  welchem 
Sein  di^se  Kräfte  haften,  und  er  wird  lieber  zur  gewöhnlichen  Auf- 
fassung der  Materie  zurückkehren  und  den  Stoff  zur  toten  Unter- 
lage machen,  ehe  er  sich  entschliefst,  eine  Auffassung  sich  anzu- 
eignen, welche  ihm  nur  absurd  erscheinen  kann. 

Mit  dieser  Frage  nach  dem  „Träger"  oder  „Sitz"  der  Kraft 
stehen  wir  nun  vor  demjenigen  Punkte,  an  welchem  bisher  fast 
alle  Versuche  einer  dynamischen  Auffassung  der  iMaterie  scheitern 
mufsten,  weil  sie  darauf  keine  genügende  Antwort  geben  konnten. 
Dem  Naturforscher  kann  es  unmittelbar  ganz  gleichgültig  sein, 
ob  die  Kiemente  der  Materie  dynamisch  oder  stofflich  sind, 
wofern  sie  nur  atomistisch  gesondert  sind,  um  Anknii])ftingsi)unkte 
für  die  Rechnung  darzubieten.*)  Aber  gerade  darum,  weil  die  be- 
kannteste, die  kantische,  Dynamik  nicht  atomistischer  Natur  ist.  und 
weil  es  unmitglich  scheint,  die  Kräfte  atomistisch  auseinanderzuhalten, 
so  lange  man  nicht  ihre  Substanz  bestimmt,  eine  ßestimmung  der 
letzteren  aber  notwendig  aus  dem  Gebiete  der  Naturwissenschaft 
als  solchen  herausführt,  gerade  darum  fällt  der  Naturforscher,  selbst 
wenn  er  bereit  ist,  den  Dynamismus  im  Prinzip  anzuerkennen,  tliat- 
sächlich  doch  immer  wieder  in  den  Materialismus  zurück  und  hält 
er  es  für  wissenschaftlicher,  den  Stoff  zur  Unterlage  oder  zum  Sitz 
der  Kraft  zu  machen,  als  eirjen  Begriff  sich  anzueignen,  der  nicht 
unmittelbar  zu  den  Re(j[uisiten  der  Naturwissenscliaft  gehört.  Der 
Philoso|)h  von  heute  kann  nicht  anders,  als  die  ])lofs  subjektive 
Natur  des  Stoffes  einräumen;  er  mufs  auch  zugeben,  dafs  es  die 
Kraft  ist,  welche  diesem  Stoff'  zu  Grunde  liegt.  Allein  er  steht, 
wofern  er  „modern"  sein  will,  viel  zu  sehr  unter  dem  Banne  der 
Naturwissenschaft,  teilt  viel  zu  sehr  das  Vorurteil  des  Zeitgeistes 
gegen  die  Metajihysik,  als  dafs  er  sich  nicht  hüten  s()llt(\  die  Sub- 
stanz jener  Kraft  genauer  zu  bestimmen,  aus  Furcht,  damit  in  die 
Untiefen  jener  „Pseudowissenschaft"  zu  stürzen.  Rr  hält  es  noch 
für  wissenschaftlich,  das  J^ing  an  sich  des  Stoffes  als  Kraft  zu  be- 
stimmen, obwohl  er  damit  einen  ganz  anderen  Begriff,  wie  der 
Naturforscher,  verbindet,  aber  er  hält  es  nicht  mehr  für  wissen- 
schaftlich, auch  noch  hinter  diese  Kraft  zurückzugehen  und  sie 
an    eine  Substanz   zu    heften,    welche    selbst    nicht  mehr  Stotf  sein 


*)  Vgl.  Fechner:  Fichtos  Zeitschritt  f.  Pliil.   Bd.  XXX  (1857),   172. 


iL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


357 


kann.  Der  Naturforscher,  der  den  Stoff  in  Kräfte  auflöst,  dreht 
sich  im  Kreise,  wenn  er  zur  Sul)stanz  der  Kraft  doch  schliefslich 
wieder  den  Stoff'  erklärt;  aber  er  hat  die  Entschuldigung  für  ^ich, 
dafs  hieraus  seiner  Wissenschaft  unmittelbar  kein  Schade  erwächst, 
sofern  es  ja  diese  uimiittelbar  nur  mit  der  Bewegung  zu  thun 
hat.  Der  Philosoph,  der  sich  scheut,  über  den  Begriff'  der  Kraft 
hinaus  zu  demjenigen  der  geistigen  Substanz  fortzuschreiten,  blofs 
um  nicht  mit  dem  Zeitgeist  in  Konflikt  zu  kommen,  der  Philosoph 
bleibt  mit  seinem  Denken  auf  halbem  Wege  stehen  und  er  hat  gar 
keine  Entschuldigung  für  sich,  weil  er  sich  durch  leere  Mode- 
vorurteile nicht  abhalten  lassen  sollte,  einen  einmal  angefangenen 
Gedankenfaden  zu  Ende  zu  spinnen.  *) 

Aber  aucli  wer  nicht  als  Naturforscher  in  eitler  Überhebun«^ 
die  Grenzen  der  Naturwissenschaft  für  die  Grenzen  der  A\'issen- 
schaft  überhaupt  ansieht  und  nicht  durch  die  M(^inung  seiner  Zeit- 
genossen sich  beirren  läfst.  in  den  gefürchteten  Abgrund  der  Meta- 
physik hinabzusteigen,  pflegt  doch  noch  in  den  allermeisten  Fällen 
am  Ende  beim  Stoffe  wieder  anzugelangen,  von  dem  er  sich  auf 
dem  Wege  der  Spekulation  gerade  entfernen  wollte. 

Ein  charakteristisches  Beispiel  hierfür  liefert  dagielski,   der 
gleichfills    mit    der    rein    subjektivistischen   Auffassung    der  .Alaterie 
bei  Kant    sich    nicht    befreunden  kann    und  von    der  Notwendigkeit 
durchdrungen  ist,  die  kantische  Dynamik  in  transcendental-realistischem 
Siinie  auszulegen.     Auch    er  sieht    sich  damit   vor  die  Aufgabe  ge- 
stellt,   die   Träger    der  Kräfte,    die  Kant    nur    als    „Punkte"    oder 
„Teile"    bezeichnet,    genauer     zu     bestimmen,     während     diese    für 
Kant    unmittelbar    nur    Hilfsbegriffe    sind    und    gerade    durch  ihre 
Unbestimmtheit    geeignet    scheinen,     das    oben     erwähnte    Schillern 
seiner  Dynamik    zwischen    transcendentalem  Idealismus    und    trans- 
cendentalem  Reahsmus  zu  begünstigen.    „Sehen  wir",  sagt  er,   ,.jene 
J'uidvte  und  Teile  des  Raumes,   die  sicli  einander  anziehen   und  ab- 
stofsen,  als  wirkliche  Substrate  dieser  Bewegung  an,  nun,  dann  mag 
es  immer  wahr  sein,  dafs  die  empirisch  vorgefundene  Materie  ohne  die 
beiden  Grundkräfte  nicht  möglich  ist,    aber  jene  Teile    und  Punkte 
selbst  können  nicht    anders  als    materiell  sein  (!),    und    in  ihnen 
wird   wiederum  die  Materie  als  etwas  von  aufsen  Gegebenes,    etwas 
schon  Daseiendes  in  die  Konsti-uktion   mit  aufgenommen.     Es  mufs 
also  zwar  als  Verdienst    der  Dynamik    angesehen  werden,    dafs    sie 


''"')  V<rl,  meine  Kritik  der  Philosophie  Wundts  in:  „Die  deutsche  Sj)eku- 
latioii  seit  Kant  mit  bes.  Rücksicht  auf  das  Wesen  des  Absoluten  und  der 
Tersünlichkeit  Gottes  Bd.  II.  47J)— 520. 


13.    Kant   als   Natur|)hil()S()})h. 


uns  die  Materie  als  etwas  an  und  für  sich  Tlüitiges,   nicht  erst  von 
aul'sen    der    Belebung    Bedürftiges    auffassen    lehrte;    —    aber    wir 


4 


können    ihr    uninr^glich    einräumen. 


dafs  sie    in    der  Tliat   d'w  Kon 


struktion   des  Begriffs  der  Materie  vollständig  zustande  gebracht 
habe.      Es  scheint  viehnelir.   dafs   man  zwar  nicht  in  P)ezug  auf  die 
Materie  überhaupt,  aber  doch  in  Hinsicht  der  Teile  und  Punkte  des 
erfüllten  Raumes,   die  mit   Kräften   begabt  sind,    auf  den  Stand- 
punkt des  Cartesius  zurückgehrn   müsse,   dem   zufolge  die 
Materie  nicht  aus  nichts  deduziert  werden  kann,  sondern  als  gegebene 
Substanz  aus  der  Erfahrung  aufgenommen  werden  mufs.   sodafs  eben 
in  dieser  ihrer  Aufnahme  sich    das  unmittelbare  Thun   der  Materie 
ausdrückt."*)     Wenn    die   Dynamik    kein    anderes   Verdienst    hätte, 
als  dasjenige,  welches  Jagie  1  sk i  ihr  einräumt,  so  hätte  sie  ebenso 
trut  uuf'ecchrieben   bleiben  können,   denn  es  ist  sachlich  ganz  einerlei, 
ob  man    die   Atome    als   rein    stofflich  ansieht,    odci-  ob    man   ihnen 
noch   aufsi^rdem  Kräfte  beilegt,  ja.   es  scheint  sogar   philosophischer, 
mit    dem    einen   Prinzip  des    blofsen   Stoffes   sich    /u   begnügen,     als 
der  Stoff  mit  der  ihm  ganz  und  gar  heterogenen  Kraft  zu  veniuicken. 
weil    die   Vereinigung    und  Vermischung    dieser    beidm    Bestandteile 
im    Denken   sich   gar  nicht  voHziidien   läfst.    dagiclski   beruft  sich 
zwar    für    seine   Anschauung    auf   den    Naturforscher   Dalton    und 
hidt     sie     für     eine     „Vereinigung     der     atomistischen     und     dyna- 
mischen Auffassung:"'    allein  der  Naturforscher  mag  sich   seine  Be- 
«Ti-iffc  zurechtlcij^en,    wie    es    für    ihn    und  seine  Zwecke    am    besten 
pafst,    darum   braucht  sie   der  Philoso])h    doch   noch   lange   nicht  als 
richtig    anzunehmen.      Jene    von    Jagielski    vorgeschlagene    An- 
nahme ist  nicht  eine  „Vereinigung-'  der  entgegengesetzten  Standpunkte, 
sondern    nur    wieder    die    alte    wohlbekannte    Kraftstofftheorie    der 
frow()hnlichen  iMaterialisten,  die  gerade  nur  den  primitiven  Ausgangs- 
punkt  einer  wahrhaft  ])liilos()phischen  Auffassung  der  jMaterie  bildet. 
Eine    solche    ist,    wie    nicht  genug    betont  werden    kann,    nicht 
durch  irgend  einen  Kompromifs  mit  der  Stofftheorie,    sondern    nur 
durch     m()glichste     Entfernung     von     ihr     zu     gewinnen. 
Der   Stoff   ist   sozusagen    der  Schleier    der  i\Iaya.    der  uns  äfft   und 
trüirt    und   den   Glauben    in    uns   erweckt,    als  wäre  er  seihst  schon 
das    Wesen    der  Dinge;    man    muls    ihn    erst    vollständig  zerreifseii 
und    vernichten,     ehe    man    zum     eigentlicluMi    Wesen    der     Materie 
durchzudringen   vermag.      Der  Stoff    ist  geradezu    das   Böse    in    der 
Natur,   dem  man  nicht  vorsichtig  genug  aus  dem  Wege  gehen  kann, 
um    sich    zur    reinen    Erkenntnis    des    materiellen    Daseins    aufzu- 


♦)  Jagielski:   a.  a.  ü.  oG. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


359 


schwingen.  Man  kann  sicher  sein,  solange  man  es  noch  mit  irgend 
etw^as  Stofflichem  zu  thun  hat.  solange  ist  man  noch  nicht  im 
Centrum  der  Erkenntnis.  Daher  ist  bei  dem  Mangel  an  philo- 
so])hischer  Bildung  unter  den  heutigen  Naturforschern  auch  nicht 
zu  hoffen,  dafs  uns  eine  konse([uente  dynamische  Theorie  der  Materie 
von  der  Naturwissenschaft  geliefert  werden  sollte,  weil  der  Stoff 
nur  durch  philoso])hische  Besinnung,  insbesondere  mit  den  Waffen 
der  Erkenntnistheorie  aus  dem  Wege  zu  räumen  ist.  Von  den 
Philosoj)hen  aber  wiederum  ist  solange  nichts  zu  erwarten,  als  sie 
in  ihrer  Abneigung  gegen  die  Metaphysik  verharren  und  sich  weigern, 
den  Schritt  von  der  transcendenten  Kraft  zur  geistigen  Substanz 
zu  machen.  Unter  diesen  Umständen  kann  es  nicht  Wunder  nehmen, 
dafs  unter  allen  modernen  Philosophen  nur  Einer  ist,  der  die  genialen 
Ansätze  zu  einer  dynamischen  Theorie  der  Materie  bei  Kant  "von 
ihren  stofflichen  Schlacken  gereinigt  und  durch  ein  konseijuentes 
Aus-  und  ZiKuidedt^dvcn  der  kantischen  Voraussetzungen  einen 
wirklich  haltbaren  Dynamismus  aufgestellt  hat.  Es  ist  eine  der 
gröfsten  Leistungen  E  d  u  a  r  d  v.  H  a  r  t  m  a  uns,  deren  Bedeutung 
für  die  Wissenschaft  viellei('ht  nicht  geringer  ist  als  seine  Erleuchtung 
des  Begriffs  des  Unbewufsten,  dafs  es  ihm  zum  ersten  Male  wirklich 
j]:elungen  ist,  die  Schranken  zwischen  Stoff  und  Kraft,  zwischen 
kr>rpei liebem  und  geistigem  Dasein  einzureifsen,  die  Materie  so  völlig 
in  Kräfte  aufzulösen  und  diese  Kräfte  atomistisch  so  auseinander- 
zuhalten, dal's  sein  Dvnamismus  dem  naturwissenschaftlichen  Bedürfnis 
sowohl,  wie  der  philosophischen  Besinnung,  gleich  Genüge  leistet, 
und  es  wird  dies  Verdienst  in  keiner  AVeise  dadurch  geschmälert, 
dafs  es  von  den  Zeitgenossen  noch  so  gut  wie  gar  nicht  anerkannt, 
ja,  bis  jetzt  überhaupt  noch  kaum  beachtet  ist,*) 

Die  Materie  ist  Kraft ;  die  Sul)stanz  dieser  Kraft  aber  ist  nicht 
der  Stoff  —  denn  er  ist  erst  ilir  Produkt  und  nur  eine  rein  sub- 
jektive Erscheinung  ist  auch  nicht  ein  von  der  Kraft  w^esentlich 
verschiedenes  Sein:  die  Substanz  der  Kraft  ist  vielmehr  die  Ki'aft 
selbst,  sofei-n  sie  in  allen  ihren  Aufserungen  mit  sich  seihst 
identisch  bleibt.*'')  Das  scheint  eine  dürftige  Bestimmung  zu  sein, 
allein  die  Dürftigkeit  derselben  wird  verschwinden,  sobald  wir  sie  später 
näher  analysieren  werden.  Der  philosophische  Wert  dieser  Bestim- 
mung   aber    liegt  darin,    dafs  sie  die  ]\laterie,   die,  als  Kraft,   unser 


*)  Vgl.  auch  .1.  Kult':  Wissenschaft  der  Krai'teinlieit  (Dyiianio-Monisiiius) 
(1893),  der  aber  seihst  nicht  am  reinen  Dynamismus  festhält,  sondern  schliefslich 
auch  nur  auf  Umwcfren  hei  dem  StotV,  als  einem  transcendenten  Sein,  wieder 
anlan^rt.     Insbes.  Sn  ff.,   120  IT.,    154—168. 

**j  v.  Hartmann:  Fhil.  d.  Unbewufsten  II.  477  f. 


) 

r  1 


360 


ß,    Kant   als  Naturpliilosojili, 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


301 


eigenes  geistiges  Wesen  verwandtschaftlich  herülirt,  niclit  dadurch 
uns  wieder  entrückt,  indem  sie  dieselhe  an  ein  Etwas  heftet,  wozu 
wir,  als  geistiges  Wesen,  keine  Beziehung  haben.  Wir  verstehen  nun 
einmal  nicht,  wie  der  räundich-ausgedehnte  Stoff  unser  unräumliches, 
geistiges  Sein  in  der  AVeise  sollte  beeinflussen  kihinen.  dafs  er  in 
uns  die  Vorstellung  der  Körperlichkeit  hervorruft.  Wir  verstehen 
nicht,  wie  Körper  und  Geist  auf  einander  sollten  wirken  können, 
wenn  beide  wesentlich  verschieden  sind;  gemäfs  dem  Grundsat/-,  dafs 
Gleiches  nur  auf  Gleiches  wirken  kann,  müfstcn  wir  a  priori  sagen, 
dafs  wir  von  der  Materie  überhaupt  keine  Vorstellung  haben  würden 
wenn  sie  irgendwie  stofflich  wäre.  Man  sieht  hier,  wie  wichtig  es 
für  die  Natur])hilosophie  ist,  ein  Bündnis  mit  der  Erkenntnistheorie 
zu  schliefsen.  Natur  (Materie)  und  Geist  sind  dicjeni-^^Mi  beiden 
grofsen  Gegensätze,  in  die  für  uns  alles  Sein  uHmittell)ar  zerfällt. 
Da  wir  nun  mit  unserm  Denken  auf  der  letztern  Seite  stehen,  so 
mufs  zunächst  eine  Brücke  nach  jener  anderen  Seite  geschlagen,  es 
mufs  gezeigt  werden,  wie  überhaupt  ein  Denken  über  die  Natur 
zustande  kommen  kann,  d.  h.  aber  nichts  Anderes,  als:  die  erkenntnis- 
theoretische Bestimmung  der  Materie  mufs  notwendig  vorangehen, 
sie  darf  nicht  aufser  Acht  gelassen  werden,  wenn  über  die  Natur 
philosophiert  werden  soll,  und  keine  Bestimmung  der  ^laterie  kann 
richtig  sein,  sofern  sie  nicht  erkenntnistheoretisch  möglich  ist.  Die 
naturwissenschaftlich-stoffliche  Theorie  der  Materie  ist  eben  deshalb 
philosophisch  unhaltbar,  weil  sie  die  Vorstellung  des  Stoft'es  in  uns 
nicht  erklären  kann.  Denn  entweder  hat  der  naive  Bealismus  Recht: 
unsere  Vorstellung  des  Stofi'es  ist  selbst  der  Stoff:  dann  ist  es 
unbegreiflich,  wie  er  in  unser  Bewufstsein  hineinkommt  —  oder 
der  transcendentale  Bealismus  ist  im  Recht:  der  Stoff,  den  w4r 
wahrnehmen,  ist  unmittelbar  nur  unsere  Vorstellung,  er  ist  nur  der 
subjektive  Repräsentant  desjenigen,  was  wirklich  aufserhalb  unseres 
Bewufstseins  vorhanden  ist;  dann  kann  diese  Vorstellung  nur  durch 
sell)steigene  Funktion  unseres  Geistes  auf  Grund  äul'serer  (materieller) 
Anregungen  in  uns  entstanden  sein,  und  es  bleibt  gänzlich  unver- 
ständlich, wie  der  Geist  vom  Stoffe  sollte  irgend  eine  Anregung 
empfangen  können. 

Der  eigentliche  Ausgangsj)unkt  der  kantischen  Philosophie, 
derjenige  Punkt,  womit  sie  in  direktem  Gegensatz  zu  Leibniz 
trat,  und  wodurch  ihre  ganze  spätere  Entwickelung  bedingt  ist,  war 
die  Einräumung  des  influxus  physicus.  Diese  JMöglichkeit  hatte 
Kant  jedoch  nur  darum  zugestehen  können,  weil  er  über  den  abso- 
luten Gegensatz  von  Körper  und  Geist,  wie  Descartes  ihn  auf- 
gestellt hatte,    hinaus   und  weil  er  mit    Leibniz    darin  einig  war, 


I 


die  Elemente  des  Daseins  eben  nur  für  Monaden,  für  geistige 
Individuen    ohne    irgend    welche    stoffliche   Beimischung    zu    halten. 
Die  Identität  ihrer  geistigen  Substanz  also  war  das  Band,   wodurch 
die    Beziehungen    der    Monaden    unter   einander   vermittelt  wurden. 
Diese  Vermittelung  bestand  nicht  blofs  für  die  Wirkung  der  trans- 
cendenten    Dinge   auf  das  Subjekt,    sondern  auch  für  die  Wirkung 
der   transcendenten   Dinge    auf  einander.     Der    Stoff    dagegen    war 
auch    hier    nur    ein    blofs  subjektives  Sein,    und  wenn  er  trotzdem, 
wie  in  der  Physischen  jMonadologie,   in  die  Si)häre  des  transcendenten 
Daseins    mit    hinübers])ielte,    so  war  das    nur  der  stehen  gebliebene 
Rest  einer  überwundenen   Anschauungsweise,    der    aus   dem   Prinzip 
nicht  zu  rechtfertigen  schien.     Als  dann  Kant   in  seiner  Vernunft- 
kritik die  Transcendenz    gänzlich  von  der  Erkennbarkeit  ausschlofs 
und    einzig    den    Phänomenalismus    zum    Prinzi])    erliob,    da   mufste 
freilich  auch   die  Antwort  auf  die   Frage    nach  der  Möglichkeit  des 
influxus  physicus    ein    wesentlich    verändertes   Aussehen    bekommen. 
Denn  nun  bedeutete  ja  Materie    ,. nicht   eine   von  dem  Gegenstande 
des  inneren  Sinnes  (Seele)    so    ganz    unterschiedene  und  heterogene 
Art  von  Substanzen,   sondern  nur  die  Ungleichheit  der  Erscheinungen 
von    Gegenständen    (die  uns  an  sich  selbst   unbekannt   sind),    deren 
Vorstellungen  wir  äufsere  nennen,    in  Vergleich  mit  denen,  die  wir 
zun)    inneren    Sinne    zählen,    ob    sie    gleich    ebensowohl    blofs   zum 
denkenden  Subj.kt,  als  alle  übrigen  Gedanken  gehören"  (TIT.  (iOT  f.). 
Solange  die  Materie  noch  als  ein  von  unserer  geistigen  Beschaffen- 
lieit  si)ezifisch  verscliiedenes,   als  transcendentes  Sein  oder  Ding  an 
sich    betrachtet    wurde,    so   lange   bestand  allerdings   die   Schwierig- 
keit, wie  dieses  Ding  auf  unsere  Seele  wirken,  und  wie  eine  Gemein- 
schaft der  letzteren  mit  ihr  möglich  sein  sollte.  Allein  diese  Schwieri"-- 
keit  bestand  nicht  mehr,  sobald  die  Materie  für  eine  rein  subjektive 
Erscheinung   und  alle  Wirkung  von  Substanzen  aufeinander  für  eine 
hlofse  Tituschung  unseres  Verstandes  erklärt  wurde.    Denn  nun   war 
die  Frage  ,,nicht  mehr  von  der  Gemeinschaft  der  Seele  mit  anderen 
bekannten  und  fremdartigen  Substanzen    aufser   uns,    sondern    blofs 
von   der  Verknüpfung    der  Vorstellungen    des    inneren    Siinies    mit 
den    Modifikationen    unserer    äufseren    Sinnlichkeit,    und    wie    diese 
unter  einander   mxdi    beständigen   Gesetzen    verknüpft    sein    mögen, 
so  dafs    sie    in    einer    Erfahrung    zusammenhängen.     So    hinge    wir 
innere    und    äufsere  Erscheinungen    als   blofse  Vorstellungen  in  der 
Erfahrung  mit  einander  zusammenhalten,  so  finden  wir  nichts  Wider- 
sinnisches und   welches  die  Gemeinschaft  beider  Art  Sinne  befremd- 
hch  machte.     Sobald  wir  aber  die  äufseren  Erscheinungen  hyposta- 
sieren,  sie  nicht  mehr  als  Vorstellungen,    sondern    in    derselben 


8ü2 


H.     Kant    als    XHturj)lnl()S()pli. 


II 


n 


Qualität,    wie    sic^    iii    uns   sind,  auch  als  aufs  er  uns  für 
sich    hestehendc    Dinire.    ihre  Haiidhin^^cu   aber,    die  sie  als 
Erscheinun,^^t'n    ^;cgen    einander    im     Verhältnis    zeijjjen,    auf    unser 
denkendes    Subjekt    })eziehen,    so    haben    wir    einen    Charakter    der 
wirkenden    Ursache    aul'ser   uns,    der   sich   mit  ihren   Wirkini.^en   m 
uns    nicht    zusanunenreinien    will,    weil  jener  sich   blol's  auf  äufsere 
Sinne,    diese   aber  auf  den  iinieren    Sinn    beziehen:    welche,    ob    sie 
zwar  in  einem  Subjekt  vereinigt,  dennoch   höchst  un,i,deicharti.u^  sind. 
Da    haben     wir    denn    keine    anderen   äufseren    Wirkim,t,a-n   als   \  er- 
änderungen    des    Orts    und    keine    Kräfte    als    blofs    Bestrebunpfcn. 
welche  auf  Verhältnisse  im  Kaume,   als  ihre  Wirkungen,   auslaufen. 
In  uns  aber  sind  die  Wirkun.i,a'n  Gedanken,  unter  denen  kein  Ver- 
hältnis des  Orts,   Bewegung,   Gestalt  oder  Raumesbestimmung  über- 
haupt   statttindet,     und    wir    verlieren    den   Leitfaden    der   Ursachen 
gänzlich  an  den  Wirkungen,    die  sich  davon  an  dem  inneren  Sinne 
zeigen  sollten-'   (TIT.  ()08). 

Es  ist  nun  aber  in  der  That  ein  ..grober  transcendentaler  Dualis- 
mus"  (IM.   (MO.   i)\'2)j    die    blol'se    Erscheinung  der  IMaterie    in   uns 
mit  ihrem  transcendenten  Korrelate  zu  verwechseln.   ,.Alle  Schwierig- 
keiten,  welche  die  Verbindung  der  denkenden  Natur  mit  der  Materie 
trefteti,   entspringen   ohne  Ausnahme  lediglich  aus  jener  erschlichenen 
dualistischen  Voraussetzung:  dafs  Materie  als  solche  nicht   Erschei- 
nung,   d.  i.    blofse  Vorstellung    des    Gemüts,    der    ein    unbekannter 
Gegenstand  entsj)richt.    sondern   der  (legenstand  an  sich  selbst  sei, 
sowie    er    aufser    uns     und     una})hängig     von     unserer     Simdichkeit 
existiert"   (HL   (ill).     Diesen  Satz    kann    auch  der  transcendentale 
Realist  unterschreiben,    wofern   man  nur  statt  ..Materie"   das  Wort 
,.Stof['-'   einsetzt.      Allein    es    scbeint    doch    fni-lich.    ob    viel    damit 
gewonnen  ist,    wenn  man,    wie  Kant,    die  transcendente   Einwirkung 
bei    Seite    läfst    und    damit    den    inHuxus  ])hysicus   einfach  als  eine 
falsch   gestellte   Frage  al)thut.      Der   transcendentale  Idealismus  hat 
ja  freilich   scheinbar    ein    Recht,    sich  ganz  auf  die  S])häre  der   Er- 
scheinungswelt zu  beschränken.      „Die  berüchtigte  Krage  wegen  der 
Gemeinschaft  des  Denkenden  und   Ausgedehnten  würde  also,    wenn 
man    alles    Eingebildete    absondert,     lediglich    darauf    hinauslaufen: 
wie    in  einem    denkenden    Subjekt    überhaupt    äufsere    Anschauung, 
nändich    die    des    Raumes    (einer  Erlüllung  desselben,    Gestalt  und 
Bewegung)    n)öglich    sei?      Auf    diese    Krage    aber    ist    es    keinem 
Menschen    möglich,    eine  Antwort    zu    hnden,    und  man  kann  diese 
Lücke  unseres   Wissens  niemals  ausfüllen,  sondern   nur  dadurch  be- 
zeichnen, dafs  man  die  äufseren  Erscheinungen  einem  transcendent(al)en 
Gegenstande  zuschreibt,  welcher  die  Ursache  dieser  x\rt  Vorstellungen 


11.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


363 


ist.  den  wir  aber  gar  nicht  kennen,  noch  jemals  einen  BegriÜ'  von 
ihm  bekommen  werden"  (IIL  ()12).  Dafs  ein  solcher  Gegenstand 
Ursache  der  Vorstellungen  in  uns  sein  könne,  ist  nicht  zu  leugnen, 
„weil  niemand  von  einem  unbekannten  Gegenstande  ausmachen 
kann,  was  er  thnn  oder  nicht  thun  k()nne"  (ITL  (ill).  Allein  wenn 
die  Annahme  eines  solchen  Gegenstandes  doch  einmal  nicht  zu  ent- 
behren ist.  um  die  Erscheinungswelt  verständlich  zu  machen,  was 
hindert,  ihm  diejenige  Bestimmung  auch  IxMzulegeii.  wodurch  allein 
er  aut  uns,  als  denkende  Wesen,  einzuwirken  vermag,  was  hindert, 
ihn  gleichfalls  als  ein  geistiges  Wesen  anzusehen  und  damit  wieder 
auf  den  Stan(l])iiiikt  der  Physischen  ^lonadologie  zurückzukehren. 
den  Kant  umsonst  zu  verleugnen  l)estrebt  ist  und  auf  den  er.  sell)st 
wenn  er  sich  schon  im  Hafen  seines  Idealismus  sicher  wähnt,  doch 
immer  unwillkür-lieh  wieder  zurückgetrieben  wii-d?  Wir,  die  wir 
die  Haltlosigkeit  des  Iranscendentalen  Llealismiis  durchschaut  und 
den  transcendent.'ilen  Realismus  als  den  einzigen  Standpunkt  er- 
kannt haben,  auf  welchem  Natui'philoso])hie  ülxu^haupt  möglich  ist. 
wii-  haben  keine  V^eranlassung,  das  Problem  des  iniluxus  physicus 
so  abzuschwächen  und  als  nicht  vorhanden  <larzustellen.  wie  Kant 
es  thun  mufs,  um  die  engen  Schranken  seines  JMiänomenalismus  nicht 
selbst  zu  durchbrechen.  Kür  uns  ist  der  Stoff  kein  Stein  des  An- 
stofses.  (h^nn  wir  wissen,  dafs  er  nichts  ist  als  eine  subjektive 
Illusion,  der  an  sich  nur  die  Vielheit  von  anziehenden  und  ab- 
stofsenden  Kräften  oder  die  Materie  im  eigentlichen  Sinne  kor- 
respondiert, und  wir  Ijegreifen,  wie  diese  Materie  auf  uns  wirken 
und  die  Vorstellung  des  Stoffes  in  uns  erzeugen  kann,  weil  sie 
auch  selbst  ein  geistiges  Sein  und  somit  ihre  Xatur  von  der  unsrigen 
nicht   verschieden   ist.   — 

Die  zweite  AiiMlogie  der  Erlährung  lautete:  „Alle  \'erände- 
rungen  geschehen  nach  dem  Gesetze  der  Verknüpfung  von  Ursache 
und  Wirkung.''  „Man  merke  wohl."  hatte  Kant  hierzu  in  der  \  er- 
uunftkritik  gesagt,  „dafs  ich  nicht  von  der  W-ränderung  gewisser 
Relationen  überhaupt,  sondern  von  \'eiänderung  des  Zustand  es 
rede.  Daher,  wenn  ein  K()rj)er  sich  gleichförmig  bewegt,  so  ver- 
ändert er  seinen  Zustand  ((h'r  Hewegung)  gar  ni(dit :  aber  wohl, 
wenn  seine  Bewegung  zu-  oder  al)nimmt"  (IlT.  ISf)).  D^iuiit  ist 
ausgeschlossen,  als  würde  die  A^^-änderung,  von  welcher  jener 
Giundsatz  spricht,  in  der  Anwendung  der  „Metai)hysischen  Anfangs- 
gründe" zur  I>ewegung  als  solchen;  vielmehr  handelt  es  sich  hier 
blofs  um  die  l'x'wegung.  „sofern  sie  entsteht''  (IV.  45:)),  oder  um 
die  Veränderung  der  Bewegung.  AVas  die  „Anfangsgründe''  be- 
trachten, ist  nichts  Anderes  als  „der  Wechsel  einer  Bewegung  mit 


)\ 


364 


Ji.    Kant   als   Xaturpliilosoph. 


einer  andern  oder  derselben    mit  der  Rulie    und  um^^^ekelirt"  (439), 
und  hierzu  ist  die   Ursaelie  niiher  zu  bestiininen. 

Diese  Ursache  kann  nicht  eine  innere  sein,  denn  ,.diL'  Materie, 
als  blofser  Gegenstand  äufserer  Sinne,  hat  keine  anderen  Bestim- 
muiii^^en  als  die  der  äulseren  Verhältnisse  im  Räume  und  erleidet 
also  auch  keine  Veränderungen  als  durch  Bewegung"  (ebd.j.  Alle 
Veränderung  der  Materie  hat  sonach  eine  äufsere  Ursache,  oder 
anders  ausgedrückt:  ..Ein  jeder  Kr)rper  beharrt  in  seinem  Zustande 
der  Kühe  oder  Bewegung  in  derselben  Richtung  und  mit  derselben 
Geschwindigkeit,  wenn  er  niclit  durch  eine  äufsei'e  Ursache  genötigt 
wird,  diesen  Zustand  zu  verlassen"  (ebd.).  Dies  ist  (bis  wahre 
Gesetz  der  Trägheit  (lex  inertiae),  das  Kant  auf  solche  Weise 
a  i)riori  zu  begründen  sucht.  Die  ^^iturwissenschaft  vor  Kant 
hatte  mit  diesem  Namen  das  Gesetz  der  einer  jeden  Wirkung  ent- 
gegengesetzten gleichen  (Dregenwirkung  bezeichnet ;  sie  hatte  unter 
der  Träglieit  eine  besondere  Kraft  verstanden,  vermöge  deren  der 
Körper  imstande  sein  sollte,  sich  in  dem  einmal  von  ihm  einge- 
nommenen Zustande  (sei  es  der  Ruhe  oder  der  Bewegung)  zu  be- 
haui)ten,  und  noch  in  seiner  „Physischen  Monadologie"  hatte  Kant 
selbst  von  einer  „vis  inertiae"  gesprochen  und  eine  bestimmte 
Gröl'se  derselben  einem  jeden  Elemente  beigelegt,  ohne  sich  jedoch 
darüber  auszusprechen,  ob  sie  nicht  am  Ende  nur  mit  den  Grund- 
kriiften  der  Attraktion  und  Repulsion  identisch  sein  sollte.  Aber 
schon  in  seinem  ..Neuen  Lehrbegritf  der  Bewegung  und  Ruhe" 
hatte  Kant  die  Tnigheitskraft  verworfen,  sofern  sie  die  Gleich- 
heit von  Wirkung  und  Gegenwirkung  erkliiren  sollte,  und  mehr 
und  mehr  hatte  er  sich  seitdem  zu  der  Einsicht  erhoben,  dafs  man 
überhaupt  nicht  von  einer  Trägheits  k  r  a  ft ,  sondern  nur  von  einem 
Gesetz  der  Trägheit  reden  dürfe.  Als  „Gesetz  der  Trägheit" 
kann  aber  nur  je'iier  oben  ausgesi)rochene  Satz,  nicht  jedoch  das 
Gesetz  der  Gleichheit  von  Wirkung  und  Gegenwirkung  bezeichnet 
werden  ;  „denn  dieses  sagt,  was  die  Materie  thut,  jenes  aber  nur, 
was  sie  nicht  tiiut,  welches  dem  Ausdruck  der  Trägheit  besser  an- 
gemessen ist"  (4.>!)).  Die  Trägheit  ist  ja  eben  „nicht  ein  positives 
Bestreben,  seinen  Zustand  zu  erhalten" ;  dies  kann  sie  nur  bei 
lebenden  Wesen  sein,  „weil  sie  eine  Vorstellung  von  einem  anderen 
Zustande  haben,  den  sie  verabscheuen,  und  ihre  Kraft  dagegen  an- 
strengen"  (440). 

Die  Trägheit  der  Materie  bedeutet  sonach  nur  die  Leblosig- 
keit derselben,  als  Materie  an  sich  selbst.  „Leben  heifst  das  Ver- 
mögen einer  Substanz,  sich  aus  einem  inneren  Prinzip  zum 
Handeln,  einer  endlichen  Substanz  sich  zur  Veränderung  und  einer 


II.  Die  kritisclie  Naturphilosophie. 


365 


materiellen  Substanz  ^ich  zur  Bewegung  oder  Ruhe,  als  Veränderung 
ihres  Zustandes,  zu  bestimmen"  (439).  Davon  kann  bei  der  Materie 
nicht  die  Rede  sein,  denn  diese  hat  kein  Inneres.  Gerade  weil  sie 
leblos  ist,  kann  es  eine  Wissenschaft  der  Materie  geben,  oder 
anders  ausgedrückt:  ,.Auf  dem  Gesetze  der  Trägheit  (neben  dem  der 
Beharrlichkeit  der  Substanz)  beruht  die  Möglichkeit  einer  eigent- 
lichen Naturwissenschaft  ganz  und  gar"  (440).  AVürde  man  die 
Materie  als  belebt  ansehen,  so  fügte  man  ihr  damit  ein  Moment 
hinzu,  das  sich  der  Messung  und  Berechnung  entzieht:  der  Hylozois- 
inus  ist  „der  Tod  aller  Naturphilosophie"  (ebd.j. 

Man  wird  dem  ruhig  beistimmen  k^innen,    wofern  es  sich  blofs 
um   die  Naturwissenschaft  als  solche  handelt.      In  der  Naturwissen- 
schaft,   deren   Aufgabe  es    ist,    alles    nur    kausal-mechanisch    zu  er- 
klären,   können  ganz  wohl   die    (stofflichen)    Atome   als  ein  Letztes 
angesehen    werden,    weil  sie    eben    dem   Mechanismus  zur  Unterlage 
dienen     und     an     ihnen    die    der    Rechnung    zugänglichen    Verhält- 
nisse sich  realisieren  können.     Eine   ganz   andere  Frage  ist  es,    ob 
nicht  jener  Anschauung    dennoch    eine    Wahrheit  zukommt,     welche 
nur  die  Naturwissenschaft  ignorieren  mufs,    wenn  und  so  lange  sie 
eben    Naturwissenschaft    l)leil)en    will,     Gewifs  ist  es  in  der  Natur- 
erkenntnis nötig,     „zuvor  die  Gesetze  der  Materie  als  einer  solchen 
zu  kennen    und    sie  von  dem   Beitritte  aller  anderen  wirkenden   Ur- 
sachen zu  läutei-n,  ehe  man  sie  damit  verknüi)ft,  um  wohl  zu  unter- 
scheiden, was  und   wie  jede  derselben  für  sich  allein  wirke"  (ebd.). 
Allein    damit    ist  doch  nicht  gesagt,    dal's    Alles    nur    Materie   sein 
und    dafs  es    keine  anderen  Gesetze    geben    krinne,    als    solche,    die 
bl(»fs    das  Verhältnis    der    (stofflichen)    Atome    zu   einander   regeln. 
Die  Naturwissenschaft    hat    es    allerdings   nur    mit    der    Erschei- 
nung der   Natur    zu    thun.    S(.fern  sie  (j^egenstand  äulserei-  A\\ilir-. 
nehmung  ist;  ihr  Objekt  ist  die  phänomenale  Materie,  und  diese  ist 
freilich    blofs    äufserlich,     ist    schlechthin    träge    und    ohne    (^'^ene 
Wirksamkeit;   es  wäre  in   der  That  (^in   Widersj)ruch,  dieser  pliäno- 
menalen  Materie  ein  Leben  zuzuschreiben.     Allein  wenn  es  wahr  ist. 
dals    jeder    Erscheinung    ein    Erscheinendes,    ein    Ding    an   sich  zu 
Grunde  liegt,  dann  ist  die  j)liän()menale  Materie  eben  nicht  die  Materie 
schlechthin,    dann   fällt  auch  der  Begriff  der  Naturwissenschaft  mit 
demjenigen    der   Naturerkenntnis    nicht    restlos  zusammen,    ist  jene 
nicht   die    ganze  Naturerkenntnis,    dann    mufs    noch  eine  Wissen- 
schait  der  Materie,  als  eines  Dinges  an  sich  oder  als  des  transcen- 
denten  Grundes    der    ])hänomenalen  Materie,    nn'iglich  sein,    die  zur 
Unterscheidung    von    der   Naturwissenschaft,    als    der    Wissenschaft 
der    phänomenalen    Materie,     „  Natur  p  h  i  1  o  s  o  p  h  i  e"     genannt 
werden   kann. 


3Gii 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


,.] 


„i 


Eine    Naturpliilosopliie    in    diesem    Sinne    wäre    nur    nnniö^j^lieh 
erstens,   wenn  die  phänomenale  Materie  den  Hegriff  der  Materie  er- 
seb()pfte,   d.  h.  wenn  es  keiii  Ding  an  sich  der  phänomenalini  Materie 
gäbe,    und   zweitens,    wenn   es    ein   solches  zwar  gäbe,    aber    nur  als 
ein  gänzlich  unbekanntes  x.  hei  dem  es  ein  Widerspruch  wäre,  es  zum 
Gegenstand  einer  besonderen  Wissenschaft   machen  zu  wollen.      Dais 
beide  Annahmen   von  Kant  vertreten  werden,   indem   er  je  nachdem 
wie  es  ihm  für  seine  Zwecke  gerade  am  besten  i)afst,  l)ald  die  eine, 
bald  die  andere   in   den  Vordergrund  schiebt,   das  braucht   liier  nicht 
noch  einmal  näher  ausgeführt  zu  werden.     Schon   in  der  Vernunft- 
kritik hatte  Kant  gesagt:   „Die  Materie  ist  substantia  phaenomenim. 
Was  ihr  innerlich  zukomme,  suche   ich  in   aUen  Teilen  des  Raumes, 
den  sie  einnimmt,   und  in  allen  Vv^rkungen,   die  sie  ausübt  und  die 
frelich  nur  immer  Erscheinungen  äufserer  Sinne  sein  kcuinen.     Tch 
habe    also    zwar    nichts    Schlechthin-,    sondern    lauter    Komparativ- 
Innerliches,   das  selber  wiederum   aus  äufscreii  Verhältnissen  besteht. 
Allein  das  Schlechthin-,  dem  reinen  Verstände  nach   Innerliche  der 
Materie  ist  auch  eine  blofse  Grille  :  denn  diese  ist  eben   kein  Gegen- 
stand   für    den    reinen   Verstand;    das  transcendentale  Objekt    aher. 
welches  der  Grund  dieser  Erscheinung  sein   mag,    den    wir   Materie 
nennen,    ist    ein    blofses   Etwas,    wovon    wir  nicht    einmal    verstehen 
würden,  was  es  sei,  wenn   es  uns  auch  Jemand  sagen  kiunite.      Denn 
wir    kiinnen    nichts    verstehen,    als    was    ein    unsern     Worten     Kor- 
resi)ondierendes  in  der  Anschauung  mit  sich  führt.     Ins  Innere  der 
Natur    dringt    Beobachtung    und  Zergliederung    der   Erscheinungen, 
und    man    kann    nicht  wissen,    wie    weit  dieses  mit    der  Zeit   gehen 
werde.     Jene    tnuiscendentalen    Fragen    aber,    die    über    die    Natur 
hinausgehen,    würden  wir  bei  allem    dem    doch  niem;ils   beantworten 
kihinen,    wenn    uns  auch    die  ganze  Natur  aufgedeckt    wäre,    da    es 
uns  nicht  einmal  gegeben  ist,   unser  eigenes  Gemüt  mit  einer  anderen 
Anschauung  als  der  unseres  inneren  Sinnes  zu  beobachten-'  (1  IL  2M  f.). 
Kant  leugnet  also  zwar  nicht    den  intelligibcdn   Grund  der  uns   un- 
mittelbar nur  als   Erscheinung  gegebenen  Materie,   ah(T  er  sucht  es 
so  darzustellen,  als  käme  derselbe  für  die  wissenschaftbche  Erkenntnis 
der  Natur  nicht  in  Betracht:  das  letztere,  weil  ihm   nur  die  i)häno- 
menale  Materie    eine  apodiktische   Erkenntnis    zu  gewähren   scheint, 
das  erstere  nur,   weil  sein  gesunder  Menschenverstand  ihm  sagt,   dals 
mit  der  i)hänomenalen  Materie  allein  der  Inhalt  dieses  Begriffes  doch 
nicht  erschöpft    sein  k()nne.     Nur    weil    ihm    blofs    die  apodiktische 
Erkenntnis  für  wissenschaftlich  gilt,   eine  solche  aber  nur  innerhalb 
der  Erscheinung  m()glich  ist,  sucht  er,  wie  wir  gesehen  haben,  den 
Schein   aufrecht   zu   erhalten,    als    wären    auch    die  Attraktion    und 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


.%7 


Repulsion,  aus  denen  die  Materie  entstehen  soll,  blofs  Kräfte  inner- 
halb der  Erscheinungswelt.  Und  nur  weil  mit  der  Einräuniumr  einer 
Innerlichkeit  der  Materie  die  Grenze  der  Erscheinungswelt  und 
damit  der  apodiktischen  Gewifsheit  verlassen  und  das  transcendente 
Gebiet  betreten  würde,  von  dem  wir  höchstens  eine  Erkenntnis  von 
blofs  hypothetischer  Geltuiig  erlangen  kihinten.  nur  darum  leugnet 
er  eine  solche  Innerlichkeit,  als  welche  der  Möglichkeit  einer  wissen- 
schaftlichen Erkenntnis  widerstreite.  Denn  es  ist  ja  klar,  dafs  wenn 
die  Materie  beseelt  ist.  der  Sitz  dieser  Beseeltheit  nur  in  der  Trans- 
cendenz.  in  der  intelligibehi  Materie  oder  in  der  JMaterie  gesucht 
werden  kann,  sofern  sie  den  Grund  der  phänomenalen  :\laterie  bildet. 
Ist  überhaupt  das  Streben  nach  apodiktischer  Gewifsheit  der  Er- 
kenntnis unberechtigt,  so  fällt  damit  auch  der  Grund  hinweg,  die 
Naturerkenntnis  auf  das  Gebiet  des  blofs  Phänomenalen  einzu- 
schränken: dann  rücken  auch  die  Attraktion  und  liepulsion  in  das 
Gebiet  der  Transcendenz  hinaus,  wo  sie  allein  Bedeutung  haben  und 
wirklich  die  Materie  konstituieren  können,  und  die  Krage,  ob  die 
Materie  ein  Leben  habe,  kann  nicht  aus  dem  Grunde  verneint  werden, 
weil  die  Materie  in  uns  oder  die  phänomenale  Materie,  das  stoff- 
liche Sein,   natürlich   nur  als  rein  äufserlich  sich   darstellt. 

Da  Kant  eine  intelligible  Materie  zwar  einräumt,  aber  von  ihr 
nichts  zu  wissen  vorgiebt,  so  hat  er  natürlich  auch  kein  Eecht  zu 
der  Behauptung:  „Die  Materie  hat  keine  schlechthin  inneren  Be- 
stimmungen und  Bestimmungsgründe"  (4:)9).  Die  Zurückfühlung 
der  Materie  auf  sie  konstituierende  Kräfte  ist  schon  eine  Verinner- 
lichung  derselben,  die  Kant  nur  deslialh  nicht  als  solche  zum  Be- 
wufstsein  kommt,  weil  er  neben  diesen  Kräften  doch  immer  noch 
am  Stoih^  glaubt  festhalten  zu  müssen  und  jene  ihm  d(^shalb  zu 
relativ  gleichgültigen  ]\romenten  verldassen.  mit  denen  er  praktisch 
nichts  anzufangen  weifs.  Der  Stoff  erweist  sich  somit  auch  hier 
als  der  Teufel,  der,  wenn  man  ihm  einmal  den  kleinen  Einger  reicht, 
sofort  sich  der  ganzen  Persönlichkeit  bemächtigt :  einmal  zugelassen, 
nimmt  er  die  ganze  Aufmerksamkeit  in  Beschlag  und  duldet  nicht, 
dals  neben  ihm  auch  den  Kräften  noch  irgend  eine  tit^fere  Bedeutung 
zukommt.  Aber  dieses  Klebenbleiben  am  Stoffe  verhindert  Kant 
auch,  seine  Vergeistigung  der  Materie  für  die  Philosophie  im  Ganzen 
Iruchtbar  zu  machen.  Obwohl  nämlich  die  philoso|)hische  Bedeutung 
des  Dynamismus  gerade  darin  liegt,  dafs  er  den  Unterschied  zwischen 
Kiirper  und  Geist  aufhebt  und  beide  als  wesentlich  identisch  erkennen 
lälst,  womit  Naturi)hilosoj)hie  im  eigentlichen  Sinne  ül)erhaupt  erst 
niönjlich  wird,  bleibt  Kant  nun  doch  bei  der  Behauptung  stehen: 
..Wenn    wir   die    Veränderung    der   Materie   im    Leben    suchen,    so 


368 


B.    Kant  als  Naturpliilosoph. 


II.  Die  kritisclie  Naturphilosophie. 


369 


m\ 


werden  wir  es  auch  sofort  in  einer  anderen,  von  der  Materie 
verschiedenen,  ohzwar  mit  ihr  ver})inidenen  Suhstanz  zu  suchen 
haben"  (440).  Damit  ist  denn  ehr  alte  Dualismus  von  Körper  und 
Geist  ^^lücklich  wiederhergestellt,  ja,  sogar  zum  wissenschaftlichen 
Grundsatz  erhoben,  an  dessen  Überwindung  die  ganze  moderne 
Pliih)Soi)hie  und  Naturwissenschaft  seit  Descartes  ihre  beste  Kraft 
daran  gesetzt  haben,  und  Kant  schlägt  sich  seiher  geradezu  ins 
Gesicht  und  erklärt  den  Bnidverott  seiner  gesamten  Philosophie, 
die  ja,  wie  wir  gesehen  haben,  im  Grunde  keinen  andern  Zweck 
hatte  und  zumeist  von  dem  einen  treibenden  Gedanken  beseelt  war. 
jenen  Unterschied  zwischen  Materie  und  Geist  im  Dynamismus  aus- 
zugleichen. 

Für  den  transcendentalen  Idealismus  Kants  liegt  der  Schwer- 
punkt der  Materie  in  ihrer  subjektiven  Erscheinung,  d.  h.  in  der 
phänomenalen  Materie,  im  Stoff,  und  das  Ding  an  sich  des- 
selben oder  die  intelligible  Materie  ist  gleichsam  nur  ein  schatten- 
hafter Abglanz  der  phiinomenalen,  deren  Existenz  man  zwar  leider 
nicht  umhin  kann,  einzuräumen,  von  welcher  man  jedoch  auch  nichts 
wissen  kann,  und  die  somit  für  die  wissenschaftliche  Erkenntnis 
nicht  in  Hetracht  kommt.  Im  transcendentalen  Realismus  dagegen, 
der  die  Wahrheit  des  Idealismus  und  die  hi)here  Stufe  der  Er- 
kenntnis darstellt,  liegt  gerade  umgekehrt  der  Schwerpuidvt  der 
Materie  in  der  intelhgibeln  Materie  oder  im  Ding  an  sich;  die 
phänomenale  Materie  (der  Stoff)  dagegen  ist  blofs  dessen  suhjcktives 
Abbild  und  kommt  nur  in  ihn^-  Eigenschaft  als  Bewufstseins- 
repräsentant  der  eigentli('lien  Materie  in  Frag(\  wenn  es  sich  um 
eine  philosophische  Erkenntnis  der  Materie  handelt.  Der  trans- 
cendentale  Idealismus  hat  vor  dem  Realismus  das  voraus,  dafs  die 
Materie,  um  die  er  sich  allein  bekümmert,  ihm  bei  ihrer  sinnlichen 
Sclieinhaftigkeit  eine  relativ  sichere  Erkenntnis  liefert:  aber  jene  ist 
auch  blofs  die  Erscheinung  der  eigentlichen  Materie,  nicht  diese 
selbst,  und  der  Idealismus  bleibt  sonach  auf  dem  Standi)unkte  der 
Naturwissenschaft  stehen.  Der  transcendentale  Realismus  ist 
dem  Idealismus  darin  überlegen,  dafs  seine  Erkenntnis  nur  von  der 
eigentlichen  Materie  gilt,  sein  Standi)unkt  ist  also  derjenige  der 
Naturphilosophie;  allein  diese  Erkenntnis  ist  auch' blofs  hypo- 
thetisch, und  zwar  um  so  mehr,  je  tiefer  er  in  das  Wesen  der 
Materie  eindringt.  Die  Naturwissenschaft  ist  hlol'se  Flächen- 
wissenschaft: sie  schreitet  sicher  auf  dem  festen  Boden  der 
sinnlichen  Erscheinungswelt  dahin,  läl'st  darum  aber  auch  jedes 
tiefere  Bedürfnis  unbefriedigt  und  gelangt  über  die  Stufe  des  rein 
Verstandesmäfsigen  nicht  hinaus,  die  von  der  Ahnung  doch  jederzeit 


als    eine    blofs  einseitige  widerlegt  wird.     Die  Naturphilosophie   ist 
Tief en Wissenschaft:  sie  untersucht  das  Wesen  hinter  der  Er- 
scheinungswelt und  befriedigt  das  Gemüt,  indem  sie  ihm   den   Blick 
dortliin  eröffnet;    aber    mit    dem    kümmerlichen   Lichte    unserer  Er- 
kenntnis vermag  sie  doch  die  Tiefe  nur  spärlich  zu  erleuchten,   und 
wird    daher    von  demjenigen    immer  gemieden  werden,    der    nur  ein 
Vergnügen  darin    findet,   in    steter  Klarheit  zu  wandeln.     Es    wäre 
jedoch  ebenso  verkehrt,   der  Naturphilosophie    alle    wissenschaftliche 
Bedeutung    darum  abzusprechen,    weil    ihre  Erkiumtnis    blofs  hypo- 
thetisch ist,  wie  es  nur  mittelalterliclje  Voreingenommenheit  beweisen 
würde,  wenn  Jemand  der  Naturwissenschaft    einen  Vorwurf  daraus 
machen  wollte,   weil  sie  sich  um  das  Wesen  hinter  der  Erscheinung 
nicht  bekümmert.     Eine  jede  Wissenschaft  hat  ihre  besondere  Auf- 
gabe  und  Sphäre;   es   ist  eine  Vermengung   und  Verwirrung  zweier 
ganz  verschiedenen  Gebiete,  die  selbst  eben  nur  ihren  Grund  in  deiu 
unklaren  Schillern    seiner  naturj)liilosophisclien  Prinzipien    zwischen 
einer  immanenten  und  einer  transcendenten  Bedeutung    hat,    wenn 
Kant  der  Materie  die  Innerlichkeit  darum  abspricht,  weil  sonst  die 
Möglichkeit  der  Naturwissenschaft  aufgehoben  würde. 

Giebt  man  zu,  dafs  für  den  wissenschaftlichen  Charakter  einer 
Erkenntnis  die  apodiktische  Gewifsheit  keine  unerläfsliclie  Bediinruuir 
ist,  so  fällt  auch  die  Frage  aus  dem  Gebiete  des  AVissenschaftlichen 
nicht    heraus,    was    wir    unter   jener  Innerlichkeit    uns    vorzustellen 
liahen.  und  ob  wir  berechtigt  sind,    sie  „Leben*'    zu  nennen.     Was 
Leben  ist,  haben  wir  gesehen:    es  gehört  dazu  ein  inneres  Prinzip, 
aus  dem  heraus  eine  Substanz  sich  zum  Handeln  oder  zur  Veränderung 
bestimmt.     „Nun    kennen    wir    kein    anderes    inneres    Prinzip    einer 
Substanz,    ihren  Zustand  zu    verändern    als    das  Begehren,    und 
injerluiu])t    keine    andere  innere  Thätigkeit  als  Denken    mit    dem, 
was  davon   abhängt.    Gefühl    der  Lust    und  Unlust   und   Be- 
gierde   oder    AVillen-'    (439  f.).      Dürfen    wir    der    Materie    diese 
Priidikate zuschreiben?  Das  ist  die  Frage,  die  uns  zunächst  beschäftigen 
mufs,  um  zu  einer  tieferen  Auffassung  unseres  Gegenstandes  zu  gelangen. 
Alle  Innerlichkeit  der  Materie  ist  Kraft.      Die  Materie  besteht 
aus  einer  Vielheit  von  konstanten,    individuell    oder  atomistisch  ge- 
sonderten (Atom-)  Kräften,  die  teils  anziehender,   teils  abstofsender 
Art   sind.     Alle  Kraft  aber  ist  ein  Immaterielles  oder  Geistiges 
und    als    solches    unräumlicher    Natur    oder,    wie    Schelling 
sagt,  extensione  prior,*)  das  jedoch  nur^am  und  im  Kaume  sich  und 
seine  innere  Wesenheit  zur  Erscheinung  bringt.     Dies  ist  nur  so  zu 


*j  Schelling:   VVerI<e  L     ui.  23. 

D  r  e  w  s  ,  Kants  Naturphilosophie. 


24 


M3" 


370 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.    Die  kritische  Naturphilosophie. 


371 


erklären,  dafs  die  äulseren  räumliclien  Bestimmun.i,^en  vorlier  innerlicli, 
oder  dals  die  realen  Bestimmungen  des  Raumes  in  i  d  e  e  1 1  e  r  Weise 
in  dem  Wesen  der  Kraft  enthalten  sind,  bevor  es  dieselben  als 
reale  aus  sich  heraussetzt,  und  dafs  die  ganze  Äul'serungsweise  des 
unräumlichen  (transcendenten)  Kraftwesens  nur  darin  besteht,  diese 
ideell-räumlichen  Bestimmungen  zu  realisieren. 

Es  läfst   sich    nun    die  Äufserungsweise    des  Kraftwesens    oder 
der    Monade    näher    deuten    als  ein  Streben,  jene   Bestimmungen 
zur  P]rscheinung  zu  bringen,  sofern  damit  zugleich  das  Moment  der 
Anstrengung,    wie    es    der    Kraft    eigentümlich    ist,    zum    Ausdruck 
gelangt.     Die  anziehende  Atomkraft  strebt  danach,    jedes  andere 
Atom  zu   sich  heranzuziehen,    und    die  abstofsende  Atomkraft    hält 
jedes  andere  von  sich  ab,  indem  sie  ihm  einen  Widerstand  entgegen- 
zusetzen bestrebt  ist,  welcher  mit  der  Annäherung  des  anderen  in  zu- 
nehmendem Mafse  wächst.    Haben  wir  diesen  ganzen  Vorgang  einmal 
als  einen  an  sich  geistigen  hegrifien,  haben  wir  erkannt,   dafs  auch 
das   Streben    selbst    noch    vor    und    jenseits    aller    räumlichen    Be- 
stimmungen  liegt,   die  erst  durch  dasselbe  gesetzt  werden,    so  kann 
uns    der  Vorwurf  nichts    mehr  anhaben,    als   übertrügen    wir    unbe- 
rechtigter Weise  unsere  eigenen  subjektiven  Begriffe  und  Em])fnidiingen 
in  das  materielle  Sein,    wenn   wir    von    einiMn  Streben    der  Monade 
sprechen.    Denn  wir  sind  ja  alsdann  schon  über  den  blofs  räumliehen 
Begriff  des  Materiellen  hinaus,  wir  sprechen  ja  dann  gar  nicht  mehr 
von  den  räumhchen  Bestimmungen  ])l()fs  als  solchen,  die  in  der  Be- 
wegung   zum  Ausdruck    gelangen,    sondern    wir  sind    })ei  dem,    was 
alle  Bewegung,  allen  Raum  überhaui)t  erst  möglich  macht,  und  was 
von  uns  als  ein  dem  unsrigen  verwandtes  S(Mn  begriffen   wurde. 

Ebensowenig  aber  vermag  uns  das  bekannte  „Ignorabimus"   zu 
schrecken.     Dubois-Rey  mond    und  seines  Gleichen   haben  ganz 
Recht:    der    Naturf  o  rsc  li  er    mufs    sich    giinzlich    der   Hoffnung 
entschlagen,   jemals    das    eigentliche    Wesen    der    Materie    und    der 
Kraft   ergründen    zu    können.      Wenn    es    die    Aufgabe    eben    der 
Naturwissenschaft    ist,    die    Erscheinungen    nach    dem    Prinzip    des 
Mechanismus   zu  erklären,   und  sie  hierbei   als  letzte  Voraussetzung 
die  Existenz  der  Materie  anerkennen  mufs,  so  ist  es  unlogisch,  diese 
Materie  nun  selbst  wiederum  mechanisch,  d.  h.  mittelst  der  Annahme 
einer  Materie,  erklären  zu  wollen.    Aber  wer  heifst  uns  denn,  alles 
trerade    nur  mechanisch    zu  erklären?    Wer  zwingt    uns,    die  Natur 
nur  mit  den  Augen    des  Naturforschers  anzusehen?    Das  Bedauern 
über  diese   „Grenzen  des  Naturerkennens-'    ist  nicht  gescheiter,    als 
wenn    man    sich    darüber  beklagen    wollte,    dafs  Flüssigkeiten    nicht 
nach    Ellen    gemessen    werden    könnten.       Sowenig    die   Elle    das 


I 


einzige  Mafs  für  die  verschiedenen  Gegenstände  ist,  sowenig  ist  die 
Betrachtungsart  des  Naturforschers  aucli  die  einzig  mögliche.  Es 
ist  eben  die  Aufgabe  der  Naturp h  i  1  osop h ie  dort  einzusetzen,  wo 
die  Naturwissenschaft  an  die  Grenzen  ihrer  eigenen  Erkenntnis- 
art gelangt  ist.*) 

Dann  werden  wir  aber  auch  unschwer  in  jenem  Streben  dasjenige 
erkennen,  was  nach  Schoi)enhau  e  r  der  substantielle  Grund  und 
das  eigentliche  AVesen  der  Erscheinungswelt  sein  soll,  den  Willen, 
wie  er  aucli  allem  Streben  in  uns  zu  Grunde  liegt:  tragen  wir  ihn 
doch  ganz  unwillkürlich  in  die  Kraftäufserungen  der  Natur  selbst 
dann  noch  hinein,  wenn  uns  die  abstrakte  Reflexion  zu  überreden 
sucht,  dafs  alle  Vorgänge  in  der  Natur  blofs  äufserlicher  und  stoff- 
licher Art  seien  und  dafs  es  ein  geistiges  Sein  hinter  den  stofflichen 
Erscheinungen  nicht  gäbe.  AVir  begreifen  dann,  dafs  alle  Kraft 
in  i  h  r  e  m  1  e  t  z  t  e  n  G  r  u  n  (1  e  Wille  sein  mufs,  AVille.  jene  räum- 
lichen Bestimmungen  zu  realisieren,  in  denen  die  Kraft  zur  Er- 
scheinung gelangt.  AVir  haben  uns  dann  blofs  noch  zu  fragen, 
ob  mit  dieser  einen  Bestimmung  das  ganze  Faktum  sch(m  er- 
scli()])ft  ist. 

Schopenhauer  und  A V  u  n  d  t  stimmen  beide  darin  überein, 
das  AA'esen  der  Erscheinungswelt  in  den  Willen  zu  setzen,  nur  dafs 
jener  dieses  Wesen  in  abstrakt-monistischem  Sinne  für  ein  einziges 
und  die  vielen  konkreten  Besondc^i'ungen  desselben  für  an  sich  unwirk- 
liche Scheinindividuen,  für  blofse  Illusionen  unseres  Intellektes  hält, 
wiihr(  iid  diesem  für  das  AVirkHche  blofs  die  vielen  AA^Uensindividuen 
gelten,  die  nur  erst  in  unserni  Geiste  zur  Einheit  zusammengefafst 
werden.  Beide  ü])ersehen,  dafs  sie  in  den  Begriff  des  Willens  ein 
Moment  hineintragen,  welches  in  ihm  unmittelbar  nicht  enthalten 
ist.  und  welches  doch  notwendig  hervorgehoben  werden  mufs.  wenn 
ül)erhaupt  eine  A^iellieit  oder  eine  Besonderuiig  des  AVillenswesens 
erklärlich  sein  soll.  Es  bedarf  ja  nur  einer  geringen  psychologischen 
Besinnung,  um  sich  zu  sagen,  dafs  es,  sowenig  wie  es  eine  [)lofse 
Kraft  geben  kann,  die  nicht  zugleich  auch  eine  ganz  bestimmte 
wäre,  sowenig  auch  ein  Streben  oder  ein  AVille  möglich  ist,  der 
nicht  stets  Etwas  oder  die  Heraussetzung  eines  bestimmten  Inhalts 
erstrebte.  Es  hiefse,  die  konstituierenden  Momente  des  j)sychologischen 
Prozesses    in  uns  verkennen,    wenn  man  diesen  Inhalt    mit  der  ihn 


*)  D  ubois-Reym  ond:  f/ljer  die  C-irreTizeii  des  Naturerkentiens  fl872) 
V^d.  auch  dessen  Vortraof  über  ,.Die  sieben  Weltiätsel  (1882J.  Da/u  v.  Hart- 
mann: Anfjin^re  naturwissenschaftlicher  Selbsterkenntnis"  in  Ges.  Studiea  u, 
Aufsätze.    445—459. 

24" 


\M4.. 


\ 


372 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  ><aturphilosophie. 


373 


i^'W 


realisiprenden  Funktion  selbst  identifizieren  wollte.  Das  Momc^nt 
des  Willens  für  sich  allein  läl'st  durchaus  keine  inhaltlichen 
Unterschiede  zu.  Der  Wille  kann  stärker  oder  schwächer  sein, 
d.  h.  der  Grad  seiner  Intensität  kann  wechsehi.  aber  als  Wille 
bleibt  er  stets  mit  sich  identisch,  mag  er  nun  in  Gestalt  eines  Giefs- 
baches  Bäume  entwurzeln  und  Felsen  in  die  Thäler  schleudern, 
oder  mag  er,  als  die  innerste  Triebkraft  eines  erleuchteten  Geistes, 
neue  Gedanken  zu  Tage  fordern  und  die  Welt  zu  grol'sen  Tliateti 
mit  fortreifsen.  Der  Wille,  blofs  als  solcher  oder  als  Potenz  des 
Wollens,  ist  etwas  rein  formales  und  absolut  Leeres,  das 
seine  inhaltliche  Ertullung  ganz  wo  anders  her  erhalten  mufs.  Nur 
erst  durch  diese  Ertullung  wird  er  bestimmter  Wille,  und  nur 
erst  durch  diese  Bestimmtheit  wird  es  erkLärlich,  wie  der  Wille  in 
ungezählten  Gestaltungen  zugleich  sich  manifestieren  kann,  ohne 
damit  aufzuhciren,  Wille  zu  sein.  Fragen  wir.  was  denn  diese 
inhaltliche  Bestimmung  des  Willens  ist,  wenn  sie  denn  schon  nicht 
selbst  wiederum  Wille  sein  kann,  oder  in  welcher  Form  wir  uns 
das  Objekt  zu  denken  haben,  das  der  Wille  zu  realisieren  bestrebt 
ist,  so  brauchen  wir  nur  wieder  den  Akt  des  Willens  in  uns  zu 
analysieren,  und  es  wird  uns  nicht  mehr  zweifelhaft  sein,  dafs  der 
Inhalt  des  Willens,  der  als  solcher  ebenso  immateriell  und  geistig 
sein  mufs,  wie  der  Wille  selbst,  nur  ideale  Bestimmtheit,  Vor- 
stellung oder  Idee  sein  kann. 

AVille  und  Vorstellung  gehören  so  notwendig  zusammen,  wie 
die  beiden  Pole  eines  jVlagneten  oder  wie  der  Gegensatz  von  Subjekt 
und  Objekt  im  Hewufstsein.  Aber  sie  sind  auch  an  sich  so  ver- 
schieden, wie  der  Nordpol  vom  Südpol,  wie  das  Objekt  vom  Sub- 
jekt. Die  Vorstellung  giebt  an,  was  geschehen  soll:  der  Wille 
macht,  dafs  überhaupt  etwas  geschieht.  Dieser  ist  „nichts  als 
Wirken  oder  Thätigsein,  reines  aus  sich  Herausgehen,  während  die 
Vorstellung  reines  Beisichsein  und  Insichbleiben  ist."*)  Wille  und 
Vorstellung  verhalten  sich  aber  auch  nicht  wie  Substanz  und  Accidenz 
zu  einander :  die  Vorstellung  ist  nicht  dem  Willen  über-  oder  unter- 
geordnet, oder  umgekehrt,  sondern  beide  sind  absolut  g  1  e  i  c  h  b  e  - 
r  e  c  h  t  i  g  t  e ,  koordinierte  Momente  und  konstituieren  erst  in  ihrer 
Gemeinsamkeit  den  Willensakt.  Der  Eationalismus  von  Des  c  a  r  t  e  s 
bis  Hegel  beruhte  auf  der  Voraussetzung  der  Miiglichkeit  einer 
Erkenntnis  aus  reiner  Veinunft;  er  durfte  daher  gar  keine  anderen 
als  blofs  rationale  Momente  in  der  Welt  annehmen,  wofern  deren 
ganzer  Inhalt  in  Begriffe  auflösbar    sein  sollte.     Darum  mufste    er 


• 


1 


*)  V.  Hartmann:  PhiL  d.  rnhew.  1.   lOG. 


auch  den  Willen  aus  der  Vorstellung  ableiten  und  leugnen,   dafs  ihm 
eine  eigene  Existenz  neben  der  Idee  zukomme.     Darum  konnte  aber 
auch,    wie  früher  bemerkt  wurde,    erst  Schelling    der  eigentliche 
Uberwinder  dieser  Weltanschauung  sein,    weil  er  zuerst  wieder   die 
dem  Logischen  entgegengesetzte,  alogische  Natur  des  Willens  erkannt 
hat.     Der    Tiielismus    eines    Schopenhauer    entsprang,    psycho- 
logisch   betrachtet,    aus    einer    tiefen    Überzeugung    von    der    Wert- 
losigkeit und   der  Unvernunft  des  Daseins.     Darum  konnte  er  ])hilo- 
sophisch  aucb  erst  durch  eine  Ansicht  überwunden  werden,  die,  wie 
diejenige  v.  Hartmanns,  bei  aller  Anerkennung  des  Unlogischen 
im  Dasein  auch  den  Gedanken  einer  vernünftigen  Entwickelung  zur 
Geltung    kommen    liefs.     Wer   den    Stand])unkt    des    Eationalismus 
nicht  teilt,  der  hat  gar  keine  Veranlassung,   sich  gegen  die  Anerken- 
nung des  Wilh^is,   als  eines  von  der  Vernunft  ganz  unterschiedenen 
Prinzips,  zu  sträuben,    und  es  ist  nur  eine  Nachwirkung  der  ratio- 
nalistischen Anschauungsweise,    wenn  er  trotzdem    den   AVillen    aus 
hh)fs    logischen  Elementen    abzuleiten   sucht,    wie  Herbart.     Wer 
nicht   von  der  Wahrheit    des  schopenhauerschen   Pessimismus  über- 
zeugt   ist,    der    hat  ebensowenig  Grund,    die  Idee    zu   unterdrücken 
und  kann  dem  Vorwurf  der  Einseitigkeit  nicht  entgehen,    wenn    er 
den   Willen    als   solchen  schon    für  einen    idrcll  bestimmten    ansieht 
und    die  Vorstellung  daneben    nicht    zu   Worti-    kommen    läfst.    wie 
Wandt.     Die    Genauigkeit    der    psychologischen  Analyse    verlangt 
durchaus,    den   Willen  als  ein  von  der  Idee  seiner   Wesenheit    nach 
Anderes   zu  begreifen,   das   nur  insofern   mit  ihr  identisch   ist,   als  sie 
beide  immaterieller  oder  geistiger  Natur  sind.    Damit  hört  aber  auch 
die  Mciglichkeit  auf   das  eine  JMoment  auf  das  andere  zurückzuführen. 
Aller   Wille  ist  nur  als   inhaltlich   bestimmter,   und   alle  inhaltliche 
Bestimmung  des  Willens  kann  nur  die  von  ihm  selbst  unterschiedene 
Vorstellung  sein. 

Man  pflegt  es  dem  ^Materialismus  mit  Eecht  vorzuwerfen,  dafs 
er  aus  seinen  stofflichen  iVtomen  und  deren  Bewegung  das  geistige 
Dasein  nicht  erklären  könne.  Man  nmfs  jedoch  den  gleichen  Vor- 
wurf auch  gegen  eine  dynamische  Theorie  der  ]\Iaterie  erheben,  die 
zwar  die  Atome  als  individuelle  Willensakte  fafst.  aber  das  Moment 
der  Vorstellung  im  AV  illen  nicht  beachtet.  Eine  solche  Theorie 
scheitert,  ganz  ebenso  wie  der  Materialismus,  notwendig  an  dem 
Probleme,  die  Vorstellung  aus  der  reimen  Thätigkeit  des  AVillens 
abzuleiten.  Mag  sich  der  Naturforscher,  welcher  dem  Materialis- 
nius  huldigt,  immerhin  damit  entschuldigen,  dafs  für  seine  Zwecke 
die  Bestimmung  der  Atome  als  stofflicher  wenigstens  keine  gröfseren 
Nachteile  im  Gefolge  habe,  da  er  ja  nur  die  körperlichen  Erschei- 


kfi 


374 


B.    Kaut  als  Naturphilosoph. 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


375 


:1 


...I, 


niingen  yai  erklären  braucht,  mag  er  sich  darauf  berufen,  dafs  er 
diese  körperlichen  Erscheinun,£^en  doch  jedenfalls  ausreichend  durch  sie 
erklären  könne;  der  Natur])hilos()ph  hat  gar  keine  Kntschuldigung 
für  sich,  wenn  er  die  Entstehung  der  Vorstellung  aus  dem  blofsen 
Willen  nicht  aufzuzeigen  vermag.  Da  er  mit  seiner  Zurück  führ  ung 
der  Materie  auf  Willensmonaden  das  geistige  Gebiet  schon  einmal 
betreten  hat,  so  fehlt  er.  indem  er  eine  so  wichtige  Seite  des 
geistigen  Lebens,  wie  die  Vorstellung,  nicht  erklären  kann,  un- 
mittelbar gegen  den  von  ihm  eingenommenen  Standpunkt  selbst. 
ganz  abgesehen  davon,  dafs  er  die  Frage  olTen  lassen  mufs,  wie 
und  wodurch  sich  die  einzelnen  Elemente  der  Materie  unterscheiden 
sollen,  wenn  doch  ein  jedes  von  ihnen  niclits  als  Wille  und  daher 
blofs  Intensitätsunterschiede  zu  zeigen  imstande  ist.  Kommt  alle 
inhaltliche  Bestimmtheit  des  Willens  ül)erhaupt  nur  erst  durch  die 
Vorstellung  in  ihn  hinein,  so  werden  wir  auch  nur  in  ihr  das 
Prinzip  der  Indi  v  id  uation  oder  den  Grund  dafür  zu  suclien 
haben,  dafs  das  Willenselement  A  von  dem  Willenselemente  B  ver- 
schieden ist.  Diese  Vorstellung  aber  kann  nichts  Anderes  enthalten 
als  die  j)unktuelle  Bestimmtheit  des  Willens  durch  sein  Verhältnis 
zu  allen  übrigen  Punkten  im  Eaume.  sofern  dieselbe  in  der 
Verschiedenheit  seiner  Entfernungen  von  ihnen  ihren  genauen  Aus- 
druck findet. 

Wir  haben  oben  den  gemeinschaftlichen  Durchschnittspunkt 
aller  Kraftäufserungen  der  Monade  als  den  Sitz  der  Kraft  bezeichnet. 
Jetzt  erkennen  wir,  was  darunter  zu  verstehen  ist.  Da  AVille  und 
Vorstellung  beide  unräumlicher  ]Satur  sind  und  die  Vorstellung 
den  Willen  erst  zu  einem  bestimmten,  von  allen  übrii^^en  verschie- 
denen  macht,  so  ist  jener  gemeinschaftliche  Durchschnittspunkt  aller 
Aufseruniien  des  Atomwillens  nicht  selbst  ein  Punkt  im 
Kaume.  in  dem  der  AV'ille  wohnte  und  mit  welchem  er  im  Räume 
herumwanderte,  sondern  er  ist  „etwas  rein  Ideelles,"  um  nicht 
zu  sagen  „Imaginäres,"  von  welchem  v.  Hart  mann  bemerkt, 
dafs  er  nur  mit  einer  grofsen  Licenz  des  Ausdruckes  der  Sitz  des 
Willens  oder  der  Kraft  genannt  werden  könne.  „Denn  das  einzig 
Räumliche  an  der  ganzen  Sache  sind  die  Kraftäufserungen, 
welche  nie  und  nimmer  den  gemeinsamen  Durchschnittsj)unkt  er- 
reichen, indem  dieser  immer  nur  in  ihrer  i  d  e  a  1  e  n  Verlängerung 
liegt. "■•')  Sofern  der  W^ille  sich  äufsert,  in  die  Erscheinung  tritt 
oder  real  wird,  setzt  er  bestimmte  räumliche  Verhältnisse,  setzt  er 
überhaupt    erst   den  realen  Raum ;    aber  diese  seine  Produkte   sind 


i 


')  V.  Hartman  n:   a.  a.  O.   II.   l'il 


bestimmte  doch  nur  deshalb,  weil  seine  Realisationen  einen  gemein- 
schaftlichen ideellen  Durchschnittspunkt  besitzen,  dessen  Lage  zu 
anderen  seines  Gleichen  eine  ganz  bestimmte  ist,  und  welcher  ihn 
somit  erst  zum  Atom  willen  stempelt. 

So  erklärt  es  sich,  dafs  wir  durch  alle  vorstellungsmäfsige 
Zergliederung  der  Kraftäufserungen  in  der  Natur  doch  niemals  auf 
das  (Zentrum  dieser  Aufserungen  selber  stofsen.  Alle  derartigen  Zer- 
gliederungen bewegen  sich  innerhalb  der  Sphäre  der  räumlichen 
Realität,  das  Centrum  selbst  dagegen  liegt  im  Idealen  und  ist  von 
uns  so  wenig  jemals  zu  erreichen,  wie  es  ein  müfsiges  unterfangen 
ist,  innerhalb  der  uns  gegebenen  Erscheinungswelt  nach  der 
Substanz,  die  ihr  zu  Grunde  liegt,  zu  suchen.  Ist  schon  die  Kraft 
der  Materie  insofern  ein  Transcendentes,  als  sie  jenseits  der  Sjihäre 
unseres  Bewufstseins  sich  befindet,  so  ist  es  der  Sitz  des  Kraft- 
wesens oder  die  Monade  erst  recht,  weil  sie  nicht  blofs  ien- 
seits  der  Sphäre  unseres  Bewufstseins.  S(uidern  auch  jenseits  der 
Sphäre  der  Räumlichkeit  liegt.  Daher  ist  sie  auch  nicht  mit 
dem  Denken  zu  erreichen,  so  lange  dieses  nicht  das  Gebiet  des 
Räumlichen  überschreitet,  d.  h.  vom  naturwissenschaftlichen  (blofs 
vorstellungsmäfsigen)  zum  metai)hysischen  (rein  begriti'lichen)  Denken 
wird.  Was  unter  dem  Gesichtspunkte  des  naturwissenschaftlichen 
Denkens  beim  Materialismus  ein  unauflösliches  Rätsel  bleibt,  dafs 
wir  das  Atom  als  stoffliches  (räundiches)  uns  auch  müfsten  vor- 
stellen können,  wenngleich  die  wirkliche  Wahrnehmung  desselben 
wegen  seiner  Kleinheit  uns  verschlossen  ist,  und  dafs  doch  ein  jeder 
derartige  Versuch  sofort  den  Begriff  des  Atoms  vernichtet,  das 
erklärt  sich  auf  dem  Standpunkte  des  Dynamismus  ganz  einfach 
durch  die  metaphysische  Erwägung,  dafs  ja  die  Monade  selbst  un- 
räundich,  extensione  ])rior  ist,  und  dafs  mithin  die  Kraft  der  (sinn- 
lichen) \'orstellung  notwendig  dort  versagen  mufs,  wo  es  sich  über- 
hau])t  nicht  mehr  um  sinnlich  Wahrnehmbares  handelt.  Es  begreift 
sich  aber  so  auch  die  Abneigung  der  Naturforscher,  ja,  aller  sinn- 
lich denkenden  Menschen  überhaupt  gegen  den  Dynamismus:  sie 
sind  es  gewohnt,  nur  das  sinnlich  Wahrnehmbare  für  real  zu  halten 
—  gilt  ihnen  doch  auch  das  Geistige  nur  insofern  für  wirklich,  als 
es  den  Stoff  zur  Unterlage  hat !  —  und  darum  fürchten  sie,  den 
Boden  der  Realität  unter  den  Füfsen  zu  verlieren,  wenn  sie  durch 
Zurückführung  des  Stoffes  auf  die  Kraft  nichts  mehr  haben, 
woran  ihre  Vorstellung  sich  noch  klammern  könnte.  Dem  gegen- 
über kann  man  immer  nur  wiederholen,  dafs  das  wahre  Sein  eigent- 
lich erst  mit  dem  geistigen  Sein  beginnt  und  dafs  die  vorstellungs- 
mäfsige   (sinnliche)    Beschaffenheit    derselben,    nicht    geeignet    ist, 


iWi«. 


376 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


wie    Czolbe    und    der    Sensualismus    meint,    als   Mafsstab   für  die 
Wahrheit  einer  Erkenntnis  zu  dienen. ''j 

Wenn  wir  uns  also  die  Monade  zu  denken  haben  als  einen 
durch  eine  bestimmte  Vorstellung  eingeschränkten  (individualisierton) 
Willen,  so  fragt  es  sich,  welcher  Art  diese  Vorstellung  ist,  oder 
welche  Vorstellungen  den  Inhalt  des  Atomwillens  bilden,  wenn 
er  als  solcher  in  die  Erscheinung  tritt,  sich  üufsert.  Dal's  sie 
räumliche  Verhältnisse  repräsentieren  müssen,  ist  selbstverständlich, 
da  ja  die  ganze  Äufserungsweise  der  Monade  el)en  im  Gebiete  des 
blol's  Käumlichen  sich  bewegt.  Nach  dem  Vorangegangenen  kann 
es  uns  aber  auch  nicht  mehr  schwer  fallen,  den  mutmarslichen  In- 
halt dieser  Vorstellungen  genauer  zu  bestimmen:  denn  wir  wissen 
aus  der  Dynamik,  dal's  die  Monaden  beweglich  sind  und  dafs  z.  B. 
bei  zwei  sich  anziehenden  Monaden  die  Anziehung  im  umgekehrten 
Verhältnis  zur  Entfernung  steht.  Die  Beweglichkeit  der  Monade 
findet  ihren  Ausdruck  in  der  gesetzmäfsigen  Veränderung,  w^elche 
die  Entfernungen  des  idealen  Durchschnittspunktes  ihrer  Wirkungs- 
linien von  allen  anderen  sedchen  idealen  Durchschnittspuiikten  er- 
leiden. Wir  pflegen  dies  kurzweg  unter  dem  Begriff  der  Richtung 
der  Kraftäufserungen  zusammenzufassen,  d.  h.  je  nach  der  Ver- 
schiedenheit jener  Entfernungen  ist  auch  die  Richtung  der  Kraft- 
äufserungen eine  andere.  Die  Verschiedenheit  in  dem  Grade  ihrer 
Anziehung  oder  Abstol'sung  dagegen  macht  die  Stäi*ke  der  Kraft- 
äufserungen aus.  Beide  Kaktoren  sind  logischer  Natur  und 
müssen  folglich  den  in  jedem  Augenblicke  realisierten  Inhalt  des 
Atomwillens  bilden.  Darin  nmfs  aber  auch  zugleich  schon  mit- 
gesetzt sein,  ob  das  Atom  anziehender  (Körperatom)  oder  ab- 
stofsender  Art  (Ätheratom)  ist  (vgl.  oben  S.  })J8f.).  „Das  Reale 
sind  also  immer  nur  die  Kraftäufserungen,  die  eine  gewisse 
Richtung  und  Stärke  haben,  und  die  Veräncku'ung  dieser  Richtung 
und  Stärke,  während  die  Durchschnittspunkte  etwas  Ideales  sind 
und  bleiben."'*)  Damit  überhaupt  eine  Kraftäufserung  stattfindet, 
dazu  niul's  die  Kraft  eine  ganz  bestimmte  sein;  aber  diese  Be- 
stimmung betrifft  doch  nur  die  Kraft  an  sich,  geht  jedoch  in 
ihre  Aufserung  selbst  nicht  mit  ein.  Die  Kraft,  als  blol'se  Potenz 
ihrer  Aul'serung  gedacht,  oder  die  Monade  selbst  ist  uiul  bleibt 
rein  transcend  en  t ,  oder  —  wenn  es  gestattet  ist,  zu  sagen  — 
über    seiend;    das    Seiende    an    ihr    sind    eben    nur    ihre    Aufse- 


*)    Vgl.    die    Darstellung    u.    Kritik    Czolhes   in   meinem    Werke 
deutsehe    Spekulation  seit  Kant"   u.  s.  w.  II.  298  IT. 

')  V.  Hart  mann:  a.  a.  O.  II.   122. 


,Die 


**\ 


rungen.  und  diese  sind  individuelle  Willensakte,  deren 
Inlialt  blofs  in  der  Vorstellung  des  zu  Leistenden 
besteht. 

Die    Frage    liegt   nahe,    ol)    die  Vorstellungen  des  Atomwillens 
bewufste  oder  unbewufste  sind.     Um  dies  zu  entscheiden,   mul's  man 
natürlich  wissen,    auf  welchen   Bedingungen  Bewufstsein    überhaupt 
beruht.      Finden    sich     diese    alsdann    bei    der    Monade    realisiert, 
so    ist    kein   Grund,    ihr  das   Bewufstsein    abzusprechen,    wenn    uns 
dies    auch    noch    so  paradox  erscheinen  sollte.     Nun    steht    so    viel 
jedenfalls  fest    und    wird   auch    neuerdings    von    Wundt    und    der 
modernen   Psychologie   zugegeben,    dal's  wir  uns   unserer  Thätigkeit 
nur  bew^ufst  werden  an  den  Objekten,    worauf  sie  sich  bezieht,  ge- 
nauer :    an    den   W  i  d  e  r  s  t  ä  n  d  e  n  ,    die    sie    findet.  J      Bewufstsein 
ist  nicht  möglich    ohne    den    Konflikt    entgegengesetzter    Thätig- 
keiten ;    es  ist  selbst  nichts  Anderes  als  das  beiderseitige  Resultat, 
das    aus    dem    Gegeneinanderj)rallen    solcher     Thätigkeiten    hervor- 
springt.      Demnach    kann    auch     die    Vorstellung,     die    den  Willen 
erst  zu  einem  individuellen  oder  zum  Atomwillen  einschränkt,  jeden- 
falls   nicht    bewul'st    sein,    denn  sie  liegt  noch  vor  und  jenseits 
aller  Thätigkeit    und    dient  ja   nur  dazu,    den  Grund  zu  fundieren, 
worauf  alle  Thätigkeit  überhaupt  erst  möglich  wird.     Aber  auch  die- 
jenigen  Vorstellungen,    \velche    dieser  Thätigkeit    ihre  Richtung  an- 
weisen, die  zu  realisierenden   Vorstellungen  des  Atomwillens,  die  in 
der  Kraftäufserung  in  die  Erscheinung  treten,    auch  sie  können  an 
sich  imr  unbewufste  sein,  weil  sie  ja  frülier  sind  als  der  Kon- 
flikt,   weil    der    Konflikt    ja    nur    erst   durch    sie   zustande  kommt. 
Die     ganze     Thätigkeit    der     Monade     ist    so  m  i  t    u  n - 
bewufst,    und    dies    wäre    in   der  That   eine   unberechtigte   l  ber- 
traguiig  ])ersr)nlicher   Erfahrungen  in  das  objektive  Sein,  wenn  man 
ihr  ein   Bewufstsein  der  von  ihr  zu  realisierenden  Vorstellungen  zu- 
schreiben wollte. 

Man  sieht,  dies  Resultat  stimmt  durcliaus  mit  demjenigen 
überein,  was  uns  schon  a  priori  von  unserem  Gefühl  gesagt  wird. 
So  lange  man  die  unbewufste  \^orstellung  noch  nicht  kannte,  so 
lange  mufste  man  Bedenken  tragen,  die  Materie  auf  geistige  Ele- 
niente  zurückzuführen:  denn  es  schien  unmciglieh,  ihr  bewufste  Vor- 
stellungen u.  s.  w.  zuzuschreiben,  wie  sie  uns  nur  aus  dem  höheren 
Geistesleben  der  organischen  Wesen  bekannt  sind.  That  man  aber 
einmal    jenen    Schritt,    dann    mufste    man    notwendig    auch    auf  die 


0  Wundt:  System  der  Philosophie  (1889)  38G. 


378 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


f*twr"' 


unbewufste  Vorstellung  geführt  werden  und  umgekehrt.  Es  ist 
daher  von  der  hiichsten  Bedeutsamkeit  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie, dal's  der  Erliiider  der  Monadenlchre  (Leibniz)  zugleich 
auch  der  Erste  war.  der  die  Existenz  und  die  Wichtigkeit  der  un- 
bewufsten  Vorstellung  für  das  hewui'ste  Geistesleben  entdeckte,  und 
dals  ,.der  Philoso|)h  des  Unbewufsten"  zuerst  den  Dynamismus  rein 
durchgeführt  hat.  Hinter  diesen  beiden  Vertretern  der  unljevvul'sten 
Vorstellung,  denen  —  wenn  man  von  Kant  absieht  —  der  Dynamis- 
mus das  Meiste  zu  verdanken  hat.  müssen  alle  diejenigen  weit  zurück 
bleiben,  die  zwar  die  geistige  Wesenheit  der  Atome  bt'lmuj)ten, 
aber  sich  scheuen,  sie  als  unbewufste  aufzufassen.  Schopen- 
hauers Dynamismus  scheitert  an  seiner  Hintansetzung  der  Vor- 
stellung überhaupt:  AVundt  verwickelt  sich  mit  seinen  Willens- 
einheiten in  die  seltsamsten  Widersprüche  und  bleibt  in  lauter 
Halbheiten  und  Unklarheiten  stecken,  weil  er  die  unbewufste  Vor- 
stellung nicht  anerkennt,*) 

Wenn    nun    auch    die  Thütigkeit    der    Monade    nur    als    unbe- 
wul'ste    gedacht    werden    kann,    weil  sie  ja  selbst  den  Konllikt,    die 
notwendige  Bedingung  zur  Entstehung  des  Bewufstseins,  erst  hervor- 
bringt,  so  fragt  es  sich  doch,  ob  nicht  eben  durch  jenen  Konilikt  auch 
bei  ihr  eine  Art  von  I>ewufstsein  gesetzt  werde  und  damit  auch  das 
Geistesleben  der  Monade  dem  unsrigen  verwandter  sich  zeigen  könne, 
als  es  im  ersten  Augenblick  den  Anschein  hat.     Diese   Frage  wird 
nun   ebenso  zu    bejahen  sein,    wie  wir  es  vorlier  verneinen  mul'sten. 
die  Thätigkeit  der  Monade  selbst    als  bewufste  aufzufassen.     Nicht 
als  ob  wir  den  8atz,    dafs  Bewufstsein   nur   aus  dem  Konilikt  ent- 
gegengesetzter Thätigkeiten   entspringt,   einfach  umkehren  und  dem- 
nach schliefsen  könnten:  folglich  setze  aller  Konilikt  entgegengesetzter 
Thätigkeiten  eo  ipso   auch    BewuTstsein:    diese    allgemeine    Fassung 
ist  schon  deshalb  nicht  richtig,     weil    es    Konthkte    giebt    ohne    ein 
Bewufstsein.     Strömen  doch  in  jedem  Augenblick  die  mannigfachsten 
Eindrücke  auf  uns  ein,  ohne  dafs  sie  uns  zum  Bewufstsein  gelangten, 
weil  sie  nicht  stark  genug  sind,    um  den  jeweiligen  Gleichgewichts- 
zustand unserer  bewufsten   \'orstellungen  zu  erschüttern,   oder,    wie 
Fechner    sich    ausdrückt,    weil    sie    ,.unterlialb    der  Bewufstseins- 
schwelle*'    bleiben.       Man    wird    auch    vom    naturwissenschaftlichen 
Standpunkt    aus     kaum    etwas    dagegen    einv.  enden    kiinnen,     wenn 
v.  Hartmann  diesen  BegrilV  der  Schwelle  als  Fuidction  des  inneren 
Leitungswiderstandes  desjenigen  Komplexes  von  Atomen  fafst,  welcher 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


379 


die  materielle  Unterlage  des  Bewufstseins  bildet,  worauf  sich  iener 
Begriff  bezieht.  *)  Gewisse  Reize  kommen  uns  imr  deslialb  nicht 
zum  Bewufstsein.  weil  ihre  Leitung  von  einem  materiellen  Elemente 
zum  anderen  eine  derartige  ist,  dafs  die  sämtlichen  in  Frage 
kommenden  Elemente  nicht  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden  und 
folglich  auch  zui-  Einheit  des  Gesamtbewufstseins  nicht  zusammen- 
fliefsen  können.  Daraus  folgt,  dafs  die  einfachen  Uratome,  welche, 
als  letzte  Elemente,  die  Materie  konstituieren,  jedenfalls  keine 
Schwelle  haben,  weil  sie  eben  einfach  sind  und  also  von  einem 
inneren  Leitungswiderstande  bei  ihnen  keine  Rede  sein  kann.  Mit 
dem  Wegfall  der  Schwelle  aber  fällt  bei  ihnen  auch  der  (irund 
hinweg,  sie  unter  Umständen  von  der  Entstehung  eines  Bewufstseins 
beim  Konflikt  mit  andern  ihres  (gleichen  auszuschliefsen.  Von 
den  Uratom^n  gilt  thatsächlich  der  Satz,  dafs  ein  jeder  Konilikt 
hei  ihnen  auch  ein  A  t  o  m  b  e  w  u  1"  s  t  s  e  i  n  auslöst,  und  die  Frage 
kann  nur  sein,  welche  Inhalte  wir  diesem  Bewufstsein  zuschreil)en 
dürfen. 

Der  primitivste  Inhalt  des  Bewufstseins  ist  die  E  m  j)  f  i  n  d  u  n  g, 
und  zwar  entweder  Lust-  oder  Unlustempfindung.  Alle  Lust- 
empfindung beruht  auf  der  Vergleichung  des  gegenwärti<?en  mit 
einem  vorangegangenen  Zustand  oder  zweier  Zustände,  die  gleich- 
zeitig neben  einander  bestehen  (Kontrastlust),  setzt  also  schon  ein 
kompliziertes  Gedankenleben  voraus,  wie  wir  es  der  Monade  unmög- 
lich zugestehen  können,  es  sei  denn,  sie  emi)fände  rein  gefühlsmäfsig 
den  Kontrast  als  angenehm,  wenn  sie  nach  einer  längeren  Hemmung 
ihrer  Thätigkeit  plötzlich  wieder  frei  wird.  Jedenfalls  aber  wird 
die  Monade  eine  Stcirung  ihrer  naturgemäfsen  Thätigkeit  oder  den 
Ivonflikt  selbst  als  Unlust  emptinden,  und  diese  Unlust  wird  um 
so  gröfser  sein,  je  intensiver  sie  nach  der  Realisation  ihrer  unbe- 
wufsten Vorstellung  strebte,  und  je  heftiger  dc^mgemäfs  der  An- 
prall war,  den  sie  im  Konflikt  mit  andern  ihres  Gleichen  erleiden 
mufste."^*) 

Vergleichen  wir  dieses  Resultat  mit  dem,  was  nach  Kant  in 
dem  Begriff  des  Lebens  enthalten  ist,  so  zeigt  sich,  dafs  alle  Be- 
dingungen beim  Atom  erfüllt  sind,  welche  dazu  berechtigen,  ihm 
ein  Leben  beizulegen.  Das  Atom  will  und  denkt,  es  fühlt  Unlust 
und.  wenn  man  will,  auch  Ijust.  Nur  ein  „Begehren"  im  eif^^ent- 
lichen  Sinne  haben  wir  ihm  nicht  zugestanden,  weil  alles,  was  dieser 
Begriff   Berechtigtes   aussagen    könnte,    in    demjenigen   des   Willens 


*j  Vj^l.     mein    Werk:     „Die    deiitsehe    Spekulation     seit    Kant"    u.    s.    w. 
II.    199-505. 


^)  V.   Hart  mann:   a.  a.   O.   III.    108  f. 
**j  V.  Hart  mann:  a.  a.  U.   110—114. 


1-  , 


380 


B.    Kant  als  Naturj)hilosopli. 


schon  enthalten   ist.     Wem  dies    phantastisch  erscheinen  sollte,    der 
sei  daran  erinnert,   dal's  auch  moderne  Naturforscher,   wie  Zöllner 
und   Haeckel,     die   weithlickend  genug    sind,     um    auch    über    die 
unmittelbaren  Eedürlnisse   der  Naturwissenschaft    hinaus  zu    reHek- 
tieren,    sich    gedrungen    gefühlt    haben,    den    Atomen    eine    „Seele" 
zuzuschrei])en,  weil  anders  die  Entstellung  des  geistigen  Lebens  sich 
überhaupt  nicht  erklären  liifst.     Denn    „es  ist  unmöglich,    dal's  aus 
rein     äufserlichen     Elementen,     die    jeder    Innerlichkeit    enthehren, 
phitzlich   bei  einer  gewissen   Art    der  Zusammensetzung  eine   Inner- 
lichkeit  hervorbrechen    sollte,    die    sich    immer    reicher    und    reicher 
entfaltet.     So  gewifs    vielmehr    die  Naturwissenschaft   überzeugt    ist, 
dal's    in    der   Sj)häre    der  Äufserliclikeit    die    höheren  (organischen) 
Erscheinungen    doch    nur  Komhinationsresultate    oder   Summations- 
phänomene    der   elementaren  Atomkriifte  sind,    ebenso    gewifs    kann 
sie,    wenn   sie  sich    einmal    ernstlich    mit    dieser    anderen   Frage  he- 
schilftigt,    sich    der   Überzeugung  nicht  verschliefsen,    dais    auch  die 
Empfindungen  höherer  Bewufstseinsstufen  nur  Kombinationsresultate 
oder  Summationsphänomene  der  Elementarempfindungen  der  Atome 
sein  können,    wenngleich    letztere    als    solche    immer    unterhalb    der 
Schwelle    der    höheren  Gruj)i)enbewufstseine  bleiben."*)      Es    macht 
hierbei  nichts  aus,  dafs  Haeckel    und    niit    ihm    fast    alle    natur- 
wissenschaftlichen Vertreter  einer  Atomseele  darum    doch  die  stolV- 
liche  Äufserliclikeit  der  Atome  aufrecht  erhalten,    weil    sie    an  jene 
Frage    eben    nur    vom  Standpunkte    des  Naturforschers    aus    heran- 
treten und  für  diesen  der  Stoff  nun  einmal  unauf  hebbar  ist.    AVorauf 
es  ankommt   ist,    dafs    sie  mit  dem   Begriff  der  Kraft,   die  mit  dem 
Stoffe    notwendig  verbunden    sein    soll,     Ernst    machen,    anstatt  sie, 
w^ie  der  gewöhnliche  Materialismus,  nach  Möglichkeit  zu  ignorieren, 
weil  sie  eigentlich    nicht   in    das  System  hineinpafst,    und    dafs    sie 
diese  Kraft    als    seelische    Innerlichkeit    begreifen.      „Jedes   Atom," 
sagt   Haeckel,   „besitzt  eine  inhärente  Summe  von  Kraft    und  ist 
in    diesem    Sinne    „beseelt".     Ohne    die    Annahme    einer    „Atom- 
Seele"   sind  die  gewöhnlichsten  und  allgemeinsten  Erscheinungen  der 
Chemie  unerklärlich.    Lust  (?)  und  Unlust.  Begierde  und  Abneigung, 
Anziehung  und  Ahstofsung  müssen    allen  Massenatomen  gemeinsam 
sein;    denn  die  Bewegungen  der  Atome,    die  bei   Bildung  und  Auf- 
lösung einer  jeden  chemischen  Verbindung  stattfinden  müssen,  sind 
nur     erklärbar,     wenn    wir    ihnen    Empfindung    und    Willen 
beilei]fen,    und    nur    hierauf   allein   beruht   im  Grunde  die  allgemein 


II.  Die  kritist^he  Naturpliilosophie. 


381 


I 


i 


angenommene  chemische  Lehre  von  der  Wahlverwandtschaft."  *) 
Ob  diese  Lehre  Hylozoismus  ist,  wird  davon  abhängen,  ob  man  die 
beseelten  Atome  als  selbständige,  für  sich  substantielle  Individuali- 
täten, d.  h.  als  Monaden  im  eigentlichen  (leibnizschen)  Sinne,  fafst, 
oder  ob  man  sie  blofs  für  Modifikationen  einer  ihnen  allen  zu  Grunde 
liegenden  absoluten  Substanz  ansieht.  Nur  bei  der  ersteren  An- 
schauungsweise wird  jener  Ausdruck  berechtigt  sein. 

In  jedem  Falle  aber  ist  es  eine  ganz    unbegründete  Besorgnis, 
als  ob  die  Annahme  einer  lebendigen  Materie,  wie  Kant  nuMiit,  den 
gesetziihäfsigen  Charakter    des  Naturgeschehens    aufhöbe.     Man    be- 
denke   doch,    wie    Haeckel,    der    Hylozoist,    zugleich    einer    der 
eifrigsten  Vertreter  des    kausalen  Mechanismus  ist,    und    dies    nicht 
etwa  blofs  deshalb,    weil  er    neben   der  Atomseele    zugleich    an  der 
stofflichen  Äufserliclikeit  des  Atoms  festhält,   sondern  weil  der  äufser- 
liche  Mechanismus  des  Naturgeschehens  durch  die  Innerlichkeit  der 
Atome  überhaupt    gar  nicht   berührt   wird.    Gesetzt,    die  innerliche 
Geistigkeit  der  Atome  übte  auf  die  äufseren  Vorgänge  irgendwelchen 
Einflufs  aus,  so  würden  doch   bei  dem  einheitlichen  Zusammenhange 
des  Aufseren    und   Inneren    die    Gesetze    des    äufseren    Geschehens 
dadurch  ebensowenig   Ausnahmen    und   Eingriffe    erleiden,    sondern 
jene   Einflüsse    würden    sich    ebenso    „innerhalb    des    Bahmens    der 
naturgesetzlichen    Notwendigkeit    halten,    indem    sie    mitbestimmend 
auf  das  unter  gleichen  Umständen  regelmäfsig  wiederkehrende  Ver- 
halten der  Atome  wirken,  aus  welchem  wir  erst  das  Gesetz  al)stra- 
hieren",    wie  die   Bestimmtheit  des  geistigen   Seins    durch  die  Vor- 
gänge in    der  Äufserliclikeit   nicht    eine  willkürliche,    bald    so,    bald 
anders  sich  abspielende,   sondern  eine  bis  ins  Kleinste  gesetzmäfsige 
ist.    „Gerade  dafs  wir,"  sagt  v.  Hart  mann  tiefsinnig,   „bei  unsern 
Abstraktionen  der  Gesetze  des  äufseren  Geschehens    bis  jetzt  nicht 
imstande    sind,    das  Moment    der  Innerlichkeit   mit    in  die  Formeln 
einzuführen,  gerade  dieser  Umstand  giebt  den  meisten  Naturgesetzen 
noch    eine    unserm   Verständnis    so    fremdartige    Physiognomie,    weil 
zwar  die  äufseren  Umstände  und  das  äufsere  Resultat  richtig  aufge- 
zeichnet sind,    aber    die    innerliclie  Vermittelung    fehlt,    welche    erst 
gleichsam   die    lebendige  Seele    des  im  Gesetz  ausgedrückten  realen 
Zusammenlninges  bildet."**}     So  mag    auch    die    Psychologie    ganz 
richtig     die    Gesetze     der    Ideenassoziation    aufstellen:    verständlich 
werden   diese  Gesetze  doch  erst,   wenn  man    durch    Rücksichtnahme 


*)  Haeckel:  llber  die  Wellenzeugutifr  dei-  Lebensteilchen  oder  die 
Pericrenesis  der  Plastidule  (l«7o)  in  den  „Gesammelten  i)()pul;iren  Vortra<>-en 
aus  dem  CTcbiete  d.  Entwickelunfrslelire-   Heft  U.  49. 


*)  V.  Hart  mann:  a.  a.  0.  III.  111. 


^* 


J  V.  Hart  mann:   a.  a.  O.  III.   113. 


382 


B.    Kant  als  Naturphilüsopli. 


auf  die  äufsereii  Vorgänge  im  Gehirn  erkennt,  wie  die  meclianische 
Bewegung  gerade  dieser  Moleküle  gerade  diese  bestimmten  Gedanken- 
zusammenhänge auslöst.  Die  Psychologie  hat  sich  glücklich  von  der 
rein  subjektivistischen  Betrachtung  der  Seelenerscheinungen  frei 
gemacht  und  im  Bunde  mit  der  Naturwissenschaft  als  physiologische 
(empirische)  oder  naturwissenschaftliche  Psychologie  einen  höheren 
Standpunkt  eingenommen.  Es  wäre  an  der  Zeit,  dafs  auch  die 
Naturwissenschaft  die  Einseitigkeit  und  Beschränktheit  des  rein 
naturwissenschaftlichen  Standpuid^tes  endlich  begriffe,  um  als  philo- 
so])hische  Naturwissenschaft  oder  Naturphilosophie  zu  einer  höheren 
Stufe  der  Naturerkenntnis  sich  em[)orzuschwingen. 

Mag  nun  das  primitive  Element  der  Materie  äufserlich  (stofflich) 
und  geistig  zugleicli,    oder  mag  es    rein  geistig  (Monade)  sein:    das 
Gesetz  der  Trägheit,  das  Kant  vor  allem  durch  eine  derartige  An- 
nahme gefährdet  glaubt,  dies  Gesetz  wird  schon  deshalb  nicht  beein- 
trächtigt,  weil  es  ja  gar  nicht  von   den  Atomen  als  solchen,   sondern 
nur  von  ihrer  Verbindung  zu  K()ri)ern  gilt.     Man  braucht  durchaus 
nicht  anzunehmen,  die  geistige  Innerlichkeit  sei  identisch    mit  jener 
sogenannten   „vis  inertiae".  vermöge  welcher  der  K()rj)('r  nach  Kants 
früherer  Ansicht    „bestrebt"    sein    sollte,    sich    in    seinem  jeweiligen 
Zustande,    sei  es    der  Rulie  oder    der  J^ewegung,   zu    erhalten,    oder 
als    ob    gar   aus    ihr    ein  Vermögen    des  Körpers   gefolgert  werden 
dürfte,    die  Kraft,    die  von    draiifsen  durch    die  Ursache  seiner  Be- 
wegunf:^  in   ihm   erweckt   worden,    von   selber   in    sich   zu   vcrgröfsern, 
wie    Kant    es    in    seiner    Erstlingsschrift    ang(Miommen    hatte.     Die 
Materie  ist  lebendig  nur   in  ihren   P^leuienten  (Atomen), 
die  sich  anziehen   und  abstofsen,  sich  zu  Körpern   verl)in(len   u.   s.   w. 
Haben  sich  diese  aber  einmal  zum  Atomkomplex  des  Kiu'pers  ver- 
einigt und  ist  damit  gleichsam  ihre  ei<^ene  Beweglichkeit  gebunden, 
dann  ist  n.icht    der  Körper  als  solcher  beseelt,    so  wenig  wie  er 
als  Körper    bewufst  ist.    Es  ist  somit    gar  nicht  zu   hesorgen,    dafs 
eine  einheitliche  Innerlichkeit  des  Kr)r[)ers   in   kaj)rizir)ser  Weise  die 
Regelmäfsigkeit  seiner  Zustandsveränderungen  stören  könnte,  sondern 
er,  als  Ganzes,  ist  dem  Gesetz  der  Trägheit  unterworfen  :   das  letztere 
mag    durch    die   Innerlichkeit    seiner  Atome    mit  bedingt  sein,    al)er 
es  kann  von  ihnen  nicht  aufgelioben  werden.    Die  gestofsene  Billard- 
kugel mufs    so    lange  fortrollen,    bis  sie  durch    die  stetige  Reibung 
auf  ihrer  Unterlage   zur  Ruhe   gebracht   wird ;    aller   dem    entgegen- 
stehende Wille    seiner  Atome  kann    hieran     nichts    ändern,    weil   ja 
bei  dem  Mangel  an  Leitung  zwischen  den  einzelnen  Atomen,  wie  er  bei 
der  unorganischen  Materie  besteht,  ein  einheitHcher  Wille  des  Körpers 
überhaupt    nicht  möglich  ist.     Die   Mechanik  mag    also    ruhig    ihre 


iL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


383 


Wege  gehen,  sie  wird  durch  die  Annahme  von  Atomseelen  gar 
nicht  berührt.  Der  Wert  dieser  Annahme  liegt  überhaupt  nicht  in 
der  Naturwissenschaft  unmittelbar,  soweit  sie  eine  rein  mechanische 
Theorie  der  Naturerscheinungen  sein  will,  sondern  sie  gewiimt  erst 
dami  eine  wesentliche  Bedeutung,  wenn  die  Naturwissenschaft  mit 
der  Behauptung  auftritt,  dafs  es  überhaupt  nur  ein  rein  mecha- 
nisches Geschehen  gäbe.  Erst  wenn  die  Naturwissenschaft  ihre 
eigene  Erklärungsmethode  auch  in  solchen  Fällen  anzuwenden  sucht, 
wo  mit  ihr  nie  und  nimmer  etwas  auszurichten  ist,  wenn  sie  sich 
anheischig  macht,  die  geistigen  Erscheinungen  aus  der  mecha- 
nischen Bewegung  stofflicher  Atome  abzuleiten,  erst  dann  ist  es  an 
der  Zeit,  sie  darauf  hinzuweisen,  dafs  sie  sich  mit  der  (Quadratur 
des  Zirkels  abmüht,  und  dafs  sie  den  Wald  vor  Bäumen  niclit 
sieht,  weil  sie  sicli  (juält,  etwas  erst  abzuleiten,  was  sie  doch  in 
jedem  einzelnen  Atome  schon  besitzt.   — 

Kommen  wir  jetzt  auf  Kants  Ableitung  der  Gesetze  der 
Mechanik  aus  den  Analogieen  der  Erfalirung  zurück,  so  lautete  die 
dritte  Analogie:  „Alle  Substanzen,  sofern  sie  im  Räume  als  zugleich 
wahrgenommen  werden  kcinnen.  sind  in  durchgängiger  Wechsel- 
wirkung." Die  „Metaphysischen  Anfangsgründe"  haben  es  leicht,  bei 
ihrer  Auffassung  des  Naturgeschehens  den  Satz  dahin  zu  wenden,  dafs 
alle  äufsere  Wirkung  in  der  Welt  Wechselwirkung  sei :  giebt  es  für 
sie  doch  blofs  Bewegungsänderung,  äufseren  W^echsel  der  Lage  der 
Substanzen  im  l\aume,  wobei  es  selbstverständlich  ist,  dafs,  wenn 
eine  Substanz  ihre  Lage  im  Verhältnis  zu  irgend  einer  anderen 
verändert,  dafs  dann  diese  letztere  in  derselben  Zeit  ihre  Lage  um 
ebensoviel  zu  jener  ersteren  verändern  mufs.  Allein  Kant  will  rnelir. 
An  der  blofsen  Konstatierung  einer  W'echselwirkung  ist  ihm  mchts 
gelegen:  die  AVechselwirkung  (actio  mutua)  soll  vielmehr  Gegen- 
wirkung (reactio)  sein,  damit  das  mechanische  Gesetz  dabei 
herauskommt:  „In  aller  Mitteilung  der  Beweguii'^  sind  A\'irkun^ 
und  Gegenwirkung  einander  gleich"  (IV.  440).  Da  erscheint  es 
deini  allerdings  notwendig,  dies  Gesetz  durch  eine  eingehendere 
„Konstruktion"   zu   begründen. 

AVie  schon  bemerkt,  war  es  gerade  dieser  Satz  gewesen,  der 
früher  zur  Annahme  „einer  besonderen  ganz  eigentümlichen  Kraft," 
eben  jener  Trägheitskraft  geführt  hatte,  die  sich  blofs  darin  äufsern 
sollte,  zu  widerstehen,  ohne  einen  Körper  bewegen  zu  können  (447). 
Unerachtet  diese  x4nnahme  durch  einen  so  berühmten  Namen,  wie 
denjenigen  Kepj)lers,  gedeckt  wird,  mufs  dieselbe  dennoch  aus 
der  Naturwissenschaft  „gänzlich  weggeschafft  werden"  (44(j)  und 
ist  eine  solche  Kraft   „ein  Wort  ohne  alle  Bedeutung"   (447),   „nicht 


384 


B.    Kant  als  N:\turphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosopliie. 


385 


-«!';■ 


allein  weil  sie  einen  Widerspruch  im  Ausdruck  selbst  bei  sieb  fübrt, 
oder  auch  deswegen  weil  das  Gesetz  der  Trägheit  (Leblosigkeit) 
dadurch  leiclit  mit  dem  Gesetze  der  Gegenwirkung  in  jeder  mitge- 
teilten Bewegung  verwechselt  werden  k(>nnte.  sondern  vornelimlich. 
weil  dadurch  die  irrige  Vorstellung  derer,  die  der  mechanischen 
Gesetze  nicht  reclit  kundig  sind,  erhalten  und  bestärkt  wird,  nach 
welclier  die  Gegenwirkung  der  Kiirper,  von  der  unter  dem  Namen 
der  Triigheitskraft  die  Hede  ist.  darin  bestehe,  dal's  die  Bewegung 
dadurch  in  der  Welt  aufgezehrt,  vermindert  oder  vertilgt,  nicht  aber 
die  blofse  Mitteilung  derselben  dadurch  bewirkt  werde"  (44()).  Es 
ist  ja  gar  nicht  einzusehen,  wie  aus  einer  solclien  Kraft  eine  Gegen- 
wirkung sich  sollte  ableiten  lassen.  Der  bewegende  Kcirper  müCste 
ja  einen  Teil  seiner  Bewegung  blol's  dazu  aufwenden,  um  die  Träg- 
heit des  ruhenden  zu  überwinden;  das  aber  wäre  für  ihn  „reiner 
Verlust."  er  könnte  dann  nur  mit  dem  übrigen  Teile  allein  den 
Körper  in  Bewegung  setzen  und  würde  überhaupt  keine  Wirkung 
ausüben,  falls  ihm  etwa  gar  nichts  übrig  bliebe.  Von  einer  Träg- 
heit der  Materie  kann  also  im  eigentlichen  Sinne  nicht  die  Bede 
sein :  das  blofse  Unvermögen,  sich  von  sell)st  zu  bewegen,  kann  nicht 
die  Ursache  eines  Widerstandes  sein  (446  f.). 

Aber  auch  aus  dem  „Begriffe  einer  lilol'sen  ^Mitteilung  der  Be- 
wegung," wie  Andere  wollen,  läfst  sich  das  Gesetz  der  Gleichheit 
der  Wirkung  und  Gegenwirkung  nicht  ableiten.  Man  denkt  sich 
diese  Mitteilung  wie  einen  allmälilichen  Übergang  der  Bewegung 
des  einen  Körpers  in  den  andern,  wobei  der  bewegende  gerade  soviel 
einbüfst.  als  er  dem  bewegten  erteilt,  bis  die  Geschwindigkeit  bei 
beiden  völlig  gleich  ist  —  wo  bleibt  da  die  (Tegenwirkung?  Die 
Bewrgung  wandert  gleichsam  von  einem  Köri)er  in  einen  anderen, 
wie  wenn  „Wasser  aus  einem  Glase  in  das  andere  gegossen  würde" 
(44()).  Dabei  tindet  doch  keine  Gegenwirkung  statt,  ganz  abgesehen 
davon,  dafs  die  Mitteilung  der  Bewegung  selbst  ihrer  M()glichkeit 
nach  durch  eine  solche  Annahme  nicht  erklärt  wird  (44;)).  Die 
Hypothese  einer  Transfusion  der  Bewegungen  aus  einem  Körper  in 
den  anderen  erklärt  auch  nicht,  warum  beim  Stol'se  absolut  liarter 
Körper  der  bewegte  dem  ruhii^H^i  nicht  in  einem  Augenblick  seine 
ganze  Bewegung  überliefern  sollt<\  sodafs  er  nacli  dem  Stofse  selber 
ruht.  Da  ein  solches  Bewegungsgesetz  weder  mit  der  Er- 
fahrung, noch  mit  der  Voraussetzung  zusammenstimmt,  sofern  die 
Mitteilung  der  Bewegung  ja  nur  bis  zum  Ausgleich  der  Bewegungs- 
unterschiede beider  Körper  stattünden  soll,  so  mufs  man  sich  dadurch 
zu  helfen  suchen,  dafs  man  die  Existenz  absolut  harter  Kör])er 
leugnet.    Das  heilst  jedoch  die  Allgemeinheit  des  Gesetzes  aufheben 


und  gerade  seine  Zufälligkeit  eingestehen,  wenn  die  besondere 
(Qualität  der  bewegten  Körper  mafsgebend  für  seine  Anwendung  sein 
soll.  „Wie  aber  die  Transfusionisten  der  Bewegung,"  fügt  Kant 
hinzu,  „die  Bewegung  elastischer  Körper  durch  den  Stofs  nach  ihrer 
Art  erklären  wollen,  ist  mir  ganz  unbegreiflich.  Denn  da  ist  klar, 
dafs  der  ruhende  Körper  nicht  als  blofs  ruhend  Bewegung  bekomme, 
die  der  stofsende  einbüfst.  sondern  dafs  er  im  Stofse  wirk- 
liche Kraft  in  entgegengesetzter  H  ich tung  gegen  den 
stofs  enden  ausübe,  um  gleichsam  die  Feder  zwischen  beiden 
zusammenzudrücken,  welches  von  seiner  Seite  ebensowohl  wirkliche 
Bewegung  (aber  in  entgegengesetzter  Richtung)  erfordert,  als  der 
bewegende  Körper  seinerseits  dazu  nöti.ir  hat"   (44r)). 

Dies  führt    uns  zugleich    auf  die  richtige  Ableitung   jenes  Ge- 
setzes.    „Man  kann  sich  garnicht  denken,    wie  die  Bewegung  eines 
Ki'irpers  A   mit  der  Bewegung  eines  andern  B  notwendig  verbunden 
sein  müsse,  als  so,    dafs    man    sich  Kräfte    an  beiden    denkt,    die 
ihnen    (dynamisch)    vor    aller  Bewegung    zukommen,    z.   B.  Zurück- 
stofsung.   und  nun  beweisen  kunn,  dafs  die  Bewegung  des  Köri)ers  A 
durch  Annäherung  gegen   B  mit    der  Annäherung    von  B  gegen  A 
und,  wenn  B  als  ruhig  angesehen  wird,  mit  der  Bewegung  desselben 
zusamt    seinem    Baume    gegen    A     notwendig    verbunden     sei, 
sofern    die    Kör|)er    mit    ihren    (ursprünglich)    bewegenden    Kräften 
blofs    relativ    auf  einander  in  Bewegung  betrachtet    werden"  (44(j), 
Man  mufs  bedenken,   dafs  der  Widerstand,  welchen  ein  Köri)er  einem 
anderen  entgegensetzt,   selbst  einer  bewegenden  (re})ulsiven)  Kraft 
entspringt,    dafs  einer  Bewegung  nichts  widerstehen    kann    als    ent- 
gegengesetzte Bewegung  eines  anderen,   keineswegs  aber  dessen  l\uhe 
(447),    so   kann    es    nicht    mehr    schwer    fallen,    die    Gleichheit    von 
Wirkung    und    Gegenwirkung    aus    der    Relativität    der    Be- 
wegung abzuleiten. 

Die  Phoronomie  zeigte,  wie  es  bei  der  Auffassung  einer  Be- 
wegung ganz  gleichgültig  sei,  ob  man  die  letztere  dem  Körper  üdvr 
ob  man  anstatt  dessen  dem  Baume  eine  gleiche,  abe^r  entgegengesetzte 
Bewegung  zusclireibt;  die  Erscheinung  war  in  beiden  Fällen  einerlei. 
Nun  betrachtete  aber  die  Phoronomie  die  Bewegung  eines  K()r])ers 
blofs  in  Ansehung  des  Baumes,  als  Veränderung  der  Kelation  in 
demselben,  sie  zog  nur  seine  Geschwindigkeit  in  Erwägung,  weswegen 
sie  ihn  auch  für  einen  blofsen  beweglichen  Punkt  ansehen  konnte. 
Das  ist  in  der  Mechanik  nicht  der  Fall.  Hier  kommt  zugleich  die 
Quantität  der  Substanz  oder  die  Masse  des  Körpers  in  Frage,  und 
dieser  wird  nicht  mehr  blofs  in  Beziehung  auf  seinen  Raum  (nach 
seiner  Geschwindigkeit)  gedacht,    sondern  er  wird  hier  zugleich  als 

I>  r  e  w  8  ,  Kants  Naturphilosophie.  2b 


386 


B.    Kant  als  Xaturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphiloso])hie. 


387 


.  ■mM". 


Ki*' 


Ursache  der  Bewegung  eines  anderen  Körpers  betrachtet.  Da  ist 
es  nicht  mehr  gleichgültig,  ob  ich  einem  der  Körper  diese  oder  dem 
Eaume  eine  entgegengesetzte  Bewegung  zuerteile.  Zwar  ist  auch 
hier  die  Bewegung  relativ:  „soviel  der  eine  Körper  jedem  Teile 
des  anderen  näher  kommt,  soviel  nähert  sich  der  andere  jedem 
Teil  des  ersteren-'  (441).  Da  jedoch  das  Kausalverhältnis  auf  beide 
Kör])er  zugleich  Anwendung  tindet,  indem  es  sich  dabei  um  eine 
Wechselwirkung  handelt,  so  ist  es  durchaus  ..nicht  mehr  ])eliebig,  sondern 

notwendig,  jeden  der  beiden  Körper  als  bewegt  anzunehmen,  und 
zwar  mit  gleicher  (Quantität  der  Bewegung  in  entgegengesetzter 
Eichtung"  (44:))^  ,.indem  kein  Grund  da  ist.  einen  von  beiden  mehr 
davon  als  dem  anderen  beizulegen^'  (441).  Daraus  folgt,  dafs  die 
Bewegung  in  diesem  Falle  auf  die  beiden  Körper  nach  dem  umge- 
kehrten Verhältnis  ihrer  Massen  verteilt  werden  mufs,  wenn  die 
beiderseitigen  Bewegungsgröfsen  oder  die  Produkte  aus  Masse  und 
Geschwindigkeit  sich  gleichen  solkm.  So  giebt  sich  also  das 
mechanische  Gesetz,  dafs  in  der  Mitteilung  der  Bewegung  A\4rkung 
und  Gegenwirkung  dieselbe  GriH'se  haben. 

Um    dieses    zu    veranschaulichen,    reduzieren    wir.    wie    in    der 
Phoronomie,  die  Bewegung  auf  den  absoluten  Kaum.     Ein  Körper  A 
bewege    sicli    mit    der    Geschwindigkeit    A  B    gegen    einen    anderen 
Kör])er  B.    der  in  Hinsicht  auf  denselben  Kaum    sich  in   Kühe    be- 
findet.    Denken  wir  uns  nun  die  (Tt^schwindigkeit  A  B  in  zwei  Teile 
Ac  und  Bc  geteilt,    die  sich  umgekelirt    wie    die  Massen  B  und  A 
zu  einander  verhalten   (Ac  :  cB  —  B  :  A).    und   stellen    wir   uns    vor, 
A  sei  mit  der  Geschwindigkeit  Ae,   B  dagegen   mit  der  Geschwindig- 
keit  Bc    in    entgegengesetzter   Kichtung   gelaufen,    so   kann    B    nur 
dann  in  Hinsicht  auf  den  gegebenen  Kaum  in  Kühe  sein,   wenn  wir 
annehmen,    dafs   auch  der  letztere    mit    der  Geschwindigkeit  Bc    in 
entgegengesetzter  Kichtung    sich   bewegt   ha])e.    d.   li.   wenn    wir    die 
entgegengesetzte  Bewegung  von  A   und  B  mit  seiner  Umgebung  auf 
den  absoluten  Kaum  beziehen  oder  wenn  wir  A  mit  der  Geschwindig- 
keit Ac  im  absoluten   Raum,    B   dagegen    mit    der  Geschwindigkeit 
Bc    in    entgegengesetzter    Kichtung    mitsamt    dem    relativen  Kaume 
uns    bewegt   vorstellen.      Aus    der  (Tleichheit    der  Bewegungs(iuanta 
A  .  Ac    und  B  .  Bc    und    der  Entgegengesetztiieit    ihrer   Kichtungen 
ergiebt  sich  alsdann,  dafs  die  beiden  Bewegungen  im  absoluten  Kaum 
sich   gegenseitig  aufheben   oder   dafs  die  beiden    Körper   in   Hinsicht 
auf  diesen  zur  Kühe  kommen  w^erden.     Indessen  wenn  auch  die  Be- 
wegung   des  Körpers  B  durch  den  Stofs  aufgehol)en  wird,    so   wird 
doch  darum  nicht  die  Bewegung  des  relativen  Kaumes  aufgehoben, 
sondern    derselbe    fährt    fort,    mit    der    Geschwindigkeit   Bc    in    der 


Kichtung  B  A  sich  zu  bewegen.  Nun  wissen  wir  aus  der  Phoronomie, 
dafs  wir  mit  ganz  dem  gleichen  Kecht  auch  sagen  können:  beide 
Kr)rper  bewegen  sich  nach  dem  Stofse  mit  der  nämlichen  Geschwindig- 
keit Be  in  der  Kichtung  A  B.  Da  mithin  der  Körper  B  durch  den 
Stofs  das  Beweguiigs(|uantum  B  .  Bc  gewonnen,  der  Körper  A  dagegen 
das  Bewegungsquantum  A  .  Ac  verloren  hat,  diese  Produkte  jedoch 
als  gleich  angenommen  wurden,  so  ist  somit  durch  unsere  Konstruktion 
erwiesen,  dal's  A\'irkung  und  Gegenwirkung  einander  gleich  sein 
müssen  (441  f.). 

Das  Gesetz  erleidet  keine  Abänderung,  wenn  anstatt  des  Stofses 
auf  einen  ruhigen,  ein  Stofs  desselben  Kör])ers  auf  einen  gleichfalls 
bewegten  angenommen  wird  (442).  Schwieriger  ist  die  Frage  zu 
beantworten,  ob  es  in  gleicher  Weise  sich  auch  bei  der  Anziehung 
zweier  Köu-per  konstruieren  läfst.  Kant  meint  auch  hier,  die  i\lit- 
teilung  der  Bewegung  dureii  den  Zug  sei  von  derjenigen  durch  den 
Stofs  nur  der  Kichtung  nach  verschieden,  wonach  die  Materien  ein- 
ander in  ihren  Bewegungen  widerstehen  (ebd.).  Indessen  hält 
Stadler  diese  schlichte  Übertragung  des  Gesetzes  mit  Kecht  doch 
nicht  für  statthaft,  weil  man  bei  der  Anziehung  nicht  in  gleichem 
Sinne  von  der  Mitteilung  der  eigenen  Bewegung  reden  kann,  wie 
bei  der  Kepulsion :  ..Wenn  ein  K()rper  einer  Masse  eine  Bewegung 
mitteilt,  so  kann  man  doch  nicht  mehr  sagen,  dafs  er  ihm  seine 
eigne  Bewegung  mitgeteilt  habe.  Körper,  die  gegen  einamlei-  laufen. 
beschleunigen  ihre  Bewegung  vermöge  ihrer  Anzieliung;  sie  erteilen 
sich  also  Bewegungen,  die  ihi-en  eignen  entgegengesetzt  sind."'') 
Den  richtigen  Begriff  der  mechanisehen  Einwirkung  hat  aber  Kant 
auch  liir  diesen  Kall  gegeben,  wenn  er  sagt,  es  gäbe  neben  d(^m 
mechanischen  ..noch  ein  anderes,  nämlich  ein  dynamisches  Gesetz 
<ler  Gleichheit  der  Wirkung  und  Gegenwirkung  der  i\raterien.  nicht 
sofern  eine  der  anderen  ilii'e  Bewegung  mitteilt,  sondern  dieser 
ursprünglich  erteilt  und  durch  deren  Widerstreben  zugleich  in 
sich  hervorbringt"  (444).  Hier  haben  wir  wirklich  den  Fall  der 
Anziehung  voi'  uns,  und  das  Gesetz  ist  leicht  zu  beweisen  in  folgender 
Art:  „Wenn  die  Materie  A  die  Materie  B  zieht,  so  nötigt  sie  diese, 
sich  ihr  zu  nähern,  oder,  welclies  einerlei  ist,  jene  widersteht  der 
Kraft,  womit  diese  sich  zu  (^ntf'ernen  tracbten  möchte.  Weil  es 
aber  einerlei  ist,  ol)  B  sich  von  A  oder  A  sich  von  B  entferne, 
so  ist  dieser  AV^iderstand  zugleich  ein  Widerstand,  den  der  Köi-])er 
B  gegen  A  ausübt,  sofern  er  sich  von  ihm  zu  entfernen  trachten 
möchte,  mithin  sind  Zug  und  Gegenzug  einander  gleiclr'  (ebd.J.     Auf 


)  Stadler:   a.   a.   ().    177. 


'2b* 


388 


B.    Kant  als   Natnr[)hilosoph. 


11.  Die  kritische  Natur])hilosopliie. 


389 


.  j' 


dieselbe  AVeise  läfst  sich  zeigen,  wie  das  ^^leiche  Verliältnis  auch 
beim  Druck  stattfindet.  ,.Weiiii  A  die  ]\hiterie  B  zurückst()rst,,  so 
widersteht  A  der  Anniiheruiig  von  B.  Da  es  aber  einerlei  ist,  ob 
sich  B  dem  A  odvv  A  dem  B  nähere,  so  widersteht  B  auch  ebenso 
viel  der  Annäherun.i?  von  A.  Druck  und  Gegendruck  sind  also  auch 
jederzeit  einander  gleich"  (ebd.).  Auch  die  Druckersch<'inungen 
sind  demnach  nur  Äufserungsformen  der  Bewegungsknifte.  nur  dafs 
die   Bewegungen  hier  als  virtuelle  aufzufassen  sind. 

Man  wird  dem  schwerlich  beistimmen  können,  wenn  Kant  hier 
von  einem  „anderen,"  und  zwar  „dynamischen"  Gesetz  der  Gleich- 
heit von  Wirkung  und  (4egenwirkun.u  s])ri(ht.  da  es  sich  ja  auch 
in  den  beiden  letzten  Füllen  nicht  um  die  Existenz  der  Materie, 
sondern  um  (mechanische)  Einwirkung  der  Kih'per  auf  einander 
handelt.  In  jedem  Falle  stellen  die  beiden  zuletzt  erörterten  Gesetze 
nur  Besondcrungen  des  allircmeinen  Satzes  dar.  der  von  Kant  als 
drittes  mechanisches  Gesetz  hezcichnet  wurde,  und  man  wird  dalier 
gut  thun,  das  letztere  mit  Stadler  dahin  zu  erweitern,  dafs  man 
statt  „]\Titteilung  der  Bewegung"  sagt:  „Tn  aller  Veriind(>rung  der 
Bewe,^llng     sind     Wirkung     und    Gegenwirkung    jederzeit     einander 

gleich."*) 

Vergleicht  man  dieses  Gesetz  und  seine  Ableitung  mit  dem 
Grundsatz  der  Wechselwirkung,  mit  dem  es  im  Zusammenhange 
stehen  soll,  so  zeigt  sich  freilich  der  letztere  als  ein  sehr  iiufserlicher. 
Denn  das  Gesetz  ist  gar  nicht,  wie  Kant  sich  den  Anschein  giebt. 
aus  der  Wechselwirkung  abgeleitet,  sondei'u  es  folgt  aus  dvv  Bela- 
tivität  der  Bewegung.  Wenn  bei  dem  ersten  und  zweiten  mecha- 
nischen (besetz  ein  Zusammenhang  mit  den  Analo<]^ieen  der  Erfahrung 
wohl  vorhanden  war,  die  Gesetze  aber  selbst  nur  andere  Formulirungeii 
der  Analogien  der  Erfahrung  waren,  so  ))ringt  zwar  das  dritte  ineclia- 
nische  Gesetz  etwas  positiv  Neues,  aber  es  gehört  schon  ein  guter 
AVilledazu,  um  es  auch  nur  für  einen  Spezialfall  dQV  dritten  Analogie 
ansehen  zu  können.  Diese  ganze  Ih'ziehung  der  Gesetze  der  Mechanik 
auf  das  Schema  der  allgemeinen  Metaphysik  ist  somit  auch  hier 
eine  rein  werth)se  Spielerei,  mit  der  alles  Andere  gewonnen  werden 
mag.  nur  keine  gröfsere  Gewifsheit  in  der  naturwissenschaftlichen 
Erkenntnis.  Der  Satz  der  Gleichheit  von  Wirkung  und  Gegen- 
wirkung niufs  s(Mne  Bestiitigung  nach  wie  vor  aus  der  Erfahrung 
holen,  und  wenn  er  sie  hier  nicht  finden  kann,  so  ist  er  überhaupt 
nicht  ai)odiktisch  zu  erweisen. 

In   Wahrheit  bietet  die  ganze  Erörterung  dieses  Satzes  in  den 


„Metaphysischen  Anfangsgründen"  absolut  nichts  Neues,  was 
Kant    nicht    auch    schon    im  Jahre   1758    in    seinem   „Neuen  Lehr- 
begriff der  Bewegung  und  Buhe"  vorgetragen  hatte.    Hinzugekommen 
ist    nur.    dafs  Kant    aus    ihm   jenes    „für    die    allgemeine  Mechanik 
nicht  unwichtige  Naturgesetz"  folgert,    dafs    ein   jeder  Kör})er.    wie 
grofs    auch   seine  Masse    sei,    durch    den  Stofs  eines   jeden  anderen, 
wie  klein  auch  seine  Masse  und  Geschwindigkeit  sein  mag,  beweglich 
sein    müsse"    (443).     Diesen    Fall    ..vollständiger    Übereinstimmung 
nnt  dem   vorkritischen   Gedankengang"   lindet    selbst  Stadler  „be- 
merkenswert."*)    Läge  ihm   nicht  alles  daran,  die  kritische  Formu- 
lierung der  Xatur^a^setze   als  das  non  plus  ultra  aller  wissenschaft- 
lichen Erkenntnis  anzupreisen,  so  hätte  er  ganz  die  gleiche  Bemerkung 
auch    in   fast  allen    ührigen   Fällen   machen   müssen,    indem    die  viel 
gerühmte   „Tiefe  der   Einsicht,"    die  Kant  durch  seinen  Kritizismus 
erlangt  haben  soll,    überall    mir    auf  einem  trügerischen  Schein   lie- 
ruht^  hinter  dem   m  der  Kegel  sich  nur  dasjenige  verbirgt,   was  Kant 
auch    schon    in    seiner    vorkritischen   Zeit    gelehrt    hat.     Von   jenen 
verhältnismäfsig  wenigen  Fällen  abgesehen,  wo  Kant  auch  zu  einer 
inhaltlich    neuen  Wahrheit    gelangt    ist,    stellt    sich    bei  genauerem 
Zusehen    jene    kritische   Einkleidung;    nur  als    eine  blofse  Form,  als 
eine    rein   äufserliche   Dra])ierung  heraus,    die    man   ihm   lassen   oder 
auch  fortnehmen  kann,  ohne  dafs  darum  der  Inhalt  an  seiner  AVahr- 
heit  etwas  einbüfst.     Dafs  Kant  es  dabei  in  seiner  kritischen  Periode 
vermeidet,   auf  seine  früheren  Resultate  zurückzukommen,   ist  gewifs 
hiu'hst  eigentümlich  und  auch  S  t  a  d  1  e  r  aufgefallen.  Aber  man  braucht 
dies  keineswegs  mit  dem  letzteren  auf  eine  Art  von  natürlicher  „Ab- 
neigung Kants  gegen  das  Citieren  früherer  Schriften*'   zu  schieben,**) 
wenn  man  bedenkt,    dafs  der  Philosoph  ein  Interesse    daran    hatte, 
sich  und    seim;  Leser  über   die  völlige  Übereinstimmung    hinwegzu- 
täuschen,   die    zwischen   seinen    kritischen    und    seinen  vorkritischen 
Schriften    l)estand.      Kant  niufste  durchaus  den  Schein  zu  vermeiden 
suchen,  als  wären  seine  llesultate  auch  noch  auf  anderm   Wege  zu 
gewinnen,    wie  aus  der  erkenntnistheoretischen  Form ;  er  mufste    es 
so  darstellen,    als   wäre  der   Inhalt    nur  aus    dieser  Form    hervorge- 
zogen,   als  wäre    er  von  ihr  gleichsam    durch    deren  Begattung    mit 
d(an  Begriffe  der  Materie  selbstschöpferisch  erzeugt,    weil    er    eben 
hierdurch  seine  meta])hysische  Begründung  empfangen,  nur  aus  diesem 
Buden    seine  ajiodiktische  Gewifsheit    ziehen    sollte.     Hätte    er    der 
Form    das    schö])ferische  Vernuigen    abgesprochen,    hätte    er    einge- 


^)   Stadler:  a.  a  O.  1  T.S. 


*)  Stadler:  a.  a.  ().  174. 
**J  Stadler:  a.  a.  O.  175. 


890 


b.    Kaut  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


391 


^ 


räumt,    dafs  diese  Form  nur  von  aufseu  mechanisch  an    den  Inhalt 
herangebraclit    und  daher    auch   beliebig    von    ihm  ablösbar    sei,    so 
hätte    er    damit  zugegeben,    dal's    die  Vernunftkritik    mit   Rücksicht 
auf  diesen  Inhalt  umsonst  geschrieben  und  dafs  es  völlig  aussichts- 
los sei,   von  einer  solchen  Form  etwas  für  den  Inhalt  zu  erwarten.   — 
Aufser  (h'r  Trägheitskraft  hatte  Kant  in  seinem   ,.Neuen  Lelir- 
begrifi'"    noch    das    physische    Gesetz    der  Kontinuität  erörtert.     Er 
hatte  es  verworfen,   ganz  ebenso  wie  jene  Kraft,   weil  es  ihm  infolge 
der    ihm    anhaftenden    Unendlichkeitsvorstellung    im    AV'idcrspruche 
mit  den   Thatsachen   der  Erfahrung  zu  stehen  schien.     Später  jedoch, 
als  er  zu  einer  richtigeren  Auffassung  des  Unendlichen  gelangt  war. 
hatte    er    auch    den     IJegrilf   des  Stetigen  in  Gnaden   wieder  aufge- 
nommen   und    jenes   ,.Gesetz-'    in    der  Vernunftkritik    sogar  a   ])ri()ri 
abgeleitet.     Es    war    selbstverständlich,    dafs    die    ..Metaphysischen 
Anfangsgründe'',   wie  ja   überhaupt   ihre  Aufgabe   darin   i)estand.   die 
Grundsätze    des    reinen    Verstandes    in    ihrer    Anwendung    auf    die 
Materie  darzustellen,    aucb  dem   Kontinuitätsgesetze   eine  Stelle  an- 
weisen   mufsten;    nur    schade,    dafs    im    allgemeinen    Schema    kein 
Grundsatz    mehr    vorhanden    war.    worauf  jenes  Gesetz   unmittelb.u- 
hätte    bezogen     werden   können.      Schon   in   der   \'crnuuftkritik   hatte 
Kant    bei    dem    Mangel    an  einer  passenden   Kategorie  das   ,.Gesetz 
der  Kontinuität  aller   "N'eränderung"    notdürftig    bei    seinei-    lieiiaiKi- 
Inng  des  Kausalgesetzes  untergebracht.     Demgeinäfs  hätte  es  auch    in 
den   ,,Anfangsgrün(U'n*'   seine  Stelle  unter  dem    zweiten   Gesetze  der 
Mechanik  erhalten  müssen.      Allein    Kant    bedurfte    zu    seinem   Be- 
weise des  dritten  Gesetzes,     und    so    niufste   es  sich   gc^fallen  lassen, 
in    einer     „allgemeinen     Anmerkung     zur    ^Mechanik"    abgethan    zu 
werden,     was    dann    leider    auch    noch    in    <'iner  so  schwierigen   und 
dunklen    P'orm     geschieht,     dafs    wohl    nur  die   wenigsten    ijeser  der 
„Anfangsgründe*^  sich  werden  die  Alühe  gegeben  liaben.   den  eigent- 
lichen Sinn  der  kantischen  Erörterung  zu   verstehen.    Auffallend  ist 
dab(^i  aufserdem,   dafs  Kant  jenes  Gesetz   überhau])t   noch   besonders 
glaubt    beweisen     zu     müssen,    obne    sieb    dabei    um   <lie   a])riorisclie 
Ableitung  desselben   in  der  A'ernunftkritik  zu   kümmei-n.  j:i,   dafs  er 
den   inneren   Zusammenhang    des    meclianischen    Kontinuitätsges(^tzes 
mit  dem   metaphysischen   überliau])t   aufhehl,    indem   er  sagt:    „Diese 
lex  continui  gründet  sich   auf  das  Gesetz   der  Trägheit   der  Materie. 
da  hingegen  das   metaphysische   Gesetz    der  Stetigkeit  auf  alle 
Veränderung  (innere  sowohl,  als  äufsere)  ül)erhaupt  ausgedehnt  sein 
müfste   und   alst*)  auf  den    hlofsen   Begriff  einer   \' e  r  ä  n  d  e  r  u  n  g 
ü  her  hau])  t.   als  (jiröfse.   und    der   Erzeugung    derselben    (die  not- 
wendi""  in  einer  gewissen  Zeit  kontinuierlich,    sowie  die  Zeit  selbst. 


vorginge)    gegründet    sein    würde ,    hier    also    keinen    Platz 
findet"  (449). 

,.An  keinem  Körj)er  wird  der  Zustand  der  Buhe  oder  der 
Bewegung  und  an  dieser  der  Geschwindigkeit  oder  der  Bichtung 
durch  den  Stofs  in  einem  Augenblicke  verändert,  sondern  nur  in 
einer  gewissen  Zeit  durch  eine  unendliche  Beihe  von  Zwischen- 
zuständen, deren  Unterschied  von  einander  kleiner  ist  als  der  des 
ersten  und  des  letzten"   (ebd.). 

Um  dieses  Gesetz  sich  klar  zu  machen,  ist  es  zunächst  nötig, 
zu  wissen,  welche  Merkmale  überhaupt  bei  einer  stetigen  Ver- 
änderung zu  unterscheiden  sind.  Kant  bezeichnet  sie  als  das 
,. Moment  der  Acceleration"  und  als  „Sollicitation",  wovon  diese  die 
Wirkung  einer  bewegendi'u  Kraft  auf  einen  Körper  in  einem  Augen- 
blick, jenes  die  hierdurch  bewirkte  Geschwindigkeit  bedeutet,  „so- 
fern sie  in  gleichem  Verhältnis  mit  der  Zeit  wachsen  kann"  (447). 
Eine  stetige  Veränderung  aber  wäre  nicht  nn'iglich,  wenn  sich  nicht 
die  einzelnen  Momente  in  der  Bewegung  erhielten,  weil  sonst  nicht 
einzusehen  wäre,  wie  die  Beschleunigung  durch  Summation  der 
Momente  entstehen  sollte.  Also  beruht  auch  die  ]\rr)glichkeit  der  Be- 
schleunigung überhaupt  durch  ein  fortwährendes  ^Moment  derselben 
auf  dem  Gesetze  der  Trägheit.  Da  nun  das  Moment  dem  Zuwachs 
der  Beschleunigung  in  einer  bestimmten  Zeit  entspricht,  die  Zeit 
jedoch  ins  Unendliche  teilbar  ist  und  jedem  noch  so  kleinen  Zeit- 
abschnitt ein  solches  Moment  korrespondieren  mufs.  so  folgt  der 
Satz :  „das  Moment  der  Acceleration  mufs  nur  eine  unendlich  kleine 
Geschwindigkeit  enthalten,  weil  sonst  der  Kr)rper  durch  dasselbe 
in  einer  gegebenen  Zeit  eine  unendliche  Geschwindigkeit  erlangen 
würde."  Dies  aber  ist  dadurch  ausgeschlossen,  dafs  ein  Unendliches 
nicht  gegeben  sein  kann  ((d)d.).  Aus  der  Gröfse  des  Moments  er- 
giebt  sich  auch  diejeni<:ie  der  Sollicitation.  weil  beide  sich  wie 
Wirkung  und  Ursache  zu  einander  verhalten  und  folglich  auch 
gleich  grofs  sein  müssen.  Es  ist  hier  jedoch  ein  Unterschied  zu 
machen  zwischen  der  Sollicitation  der  Materie  durch  expansive 
Kraft  und  derjenigen  durch  Anziehung.  Die  erstere  ist.  wie  wir 
gesehen  haben,  eine  Klächenkraft :  sie  wirkt  nur  in  der  Berührung 
und  das  dabei  in  Wirksamkeit  tretende  (Quantum  von  ^Fateric^  ist 
unendlich  klein  im  Verhältnis  zu  dem  der  gegebenen  K(")r])er.  oder 
mit  anderen  Worten  :  sie  ist  ..die  Bewegung  eines  unendlich  kleinen 
(^(uantums  von  ^Materie,  die  folglich  mit  unendlicher  Geschwindigk(^it 
geschehen  mufs,  um  der  Bewegung  eines  K«>rpers  von  endlicher 
Masse  mit  unendlich  kleiner  Geschwindigkeit  gleich  zu  sein"  (ebd.  f.). 
Bei    der    Anziehungskraft    dagegen    kommt    die    ganze    Masse    des 


^i 


392 


B.    Kant  als  Naturpliilosoph. 


IJ.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


393 


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<  iHi 


Körpers  in  Eetraclit,  sofern  sich  deren  Gröfse.  als  einer  durcli- 
drin^i^enden  Kraft,  nach  dem  Quantum  der  wirkenden  Materie  richtet. 
Da  nun  dieses  Quantum  eine  endliche  (-rröfse  ist.  so  mufs  folirlich 
die  Sollicitatiou  der  Anziehung  unendhch  kh'in  sein,  wenn  (U^s 
Produkt  aus  der  wirkenden  Masse  und  deren  Gescliwindigkeit  der 
bewirkten  Beschleuni^nmg.  d.  li.  dem  Produkt  einer  endlichen  ]\[asse 
in  eine  unendlich  kleine  Geschwindigkeit,  gleich  sein  soll.  Dafs 
die  Geschwindigkeit  in  diesem  Fall  unendlicli  klein  sein  mufs,  er- 
giebt  sich  auch  daraus,  weil  sich  keine  Anziehung  mit  einer  end- 
lichen (Geschwindigkeit  denkc^i  läfst,  ohne  dafs  die  Materie  durch 
ihre  eigene  Anziehungskraft  sich  selbst  d  u  r  cli  d  r  i  n  ^^  e  n  niüfste. 
„Denn  der  Anziehung,  welche  eine  endliche  Quantität  Materie  auf 
eine  endliche  mit  einer  endlichen  Geschwindiixkeit  ausübt,  mufs  eine 
jede  endliche  Geschwindigkeit,  womit  die  Materie  durch  ihre  Un- 
durchdringlichkeit, aber  nur  mit  einem  unendlich  kleinen  Teil  der 
Quantität  ihrer  Materie  entgegenwirkt,  in  allen  l*unkten  der  Zu- 
sammendrückung überlegen  sein*'  (44S).  Nui'  dadui'ch.  dafs  die 
(ileschwindigkeit  der  Anziehung  jederzeit  unendlich  klein  ist.  bleibt 
diese  Voraussetzung  gewahrt  und  wird  die  Sollicitatiou  der  Zurück- 
stofsung  befähigt,  derjenigen  der  Anziehung  das  Gleichgewicht  zu 
halten,  weil  sie  beide  gleiche  Gröl'sen  sind. 

AVenn  sich  also  herausgestellt  hat,  dafs  der  Zuwachs  der  i>e- 
wegungsgröfse  in  einem  Augenblick  doch  nur  unendlich  klein  sein 
kann,  so  kann  folglich  eine  endliche  Änderung  nur  dadurch  bewirkt 
werden ,  dafs  sich  die  ISollicitationen  während  einer  bestimmten 
Zeit  summieren.  Damit  ist  aber  auch  schon  das  „meclianische 
Gesetz  der  Kontinuität  (lex  continui  mechanica)"  bewiesen.  ,,Ein 
bew^egter  Körper,  der  auf  eine  JVlaterie  stöfst.  wird  also  durch  deren 
Widerstand  nicht  auf  einmal,  sondern  nur  durch  kontinuierliche 
Ketardation  zur  Puhe,  oder  der.  so  in  Puhe  war,  nur  durch  kon- 
tinuierliche Acceleration  in  Bewegung,  oder  aus  einem  (irade  Ge- 
schwindigkeit in  einen  andern  nur  luich  derselben  Kegel  versetzt: 
imgleichen  wird  die  Richtung  seiner  Bewegung  m  eine  solche,  die 
mit  jener  einen  Winkel  macht,  nicht  anders  als  vermittelst  aller 
m()glichen  dazwischen  liegenden  Kichtungen,  d.  i.  vermittelst  der 
Bewegung  in  einer  krummen  Linie,  verändert*'  (449).  Kant  hat 
bei  dem  Beweis  des  Satzes  vor  allem  den  Fall  der  Repulsion  im 
Auge,  fügt  aber  hinzu,  es  könne  aus  einem  ähnlichen  Grunde,  wie 
bei  dieser,  auch  auf  die  Veränderung  des  Zustandes  eines  Körpers 
durch  Anziehung  erweitert  werden  (ebd.)*) 

*)    V^l.    hierüher,    sowie    über    die    Änderung    der    Richtung    Stadler: 
a.  a.  O.  205  i'W 


Aus  diesem  Gesetz  ergiebt  sicli  nun  die  Folgerung,  dafs  es 
einen  ,.absolut  harten^-  Kh'per,  d.  h.  einen  solchen,  ,.dessen  Teile 
einander  so  stark  zögen,  dafs  sie  durch  kein  Gewicht  getrennt, 
noch  in  ihrer  Lage  gegen  einander  verändert  werden  könnten," 
niciit  giebt,  weil  nämlich  ein  solcher  in  einem  Augenblicke  einem 
mit  endlicher  Geschwindigkeit  bewegten  Körper  im  Stofse  einen 
A\'i(lerstand  entgc^gensetzen  würde,  welcher  der  ganzen  Kraft  des 
Körpers  gleich  wäre.  Nach  dem  Gesetz  der  Stetigkeit  leistet  eine 
Materie  durch  ihre  Undurchdringlichkeit  oder  ihren  Zusammenhang 
der  Kraft  eines  Ki'irpers  in  endlicher  Bewegung  in  einem  Augen- 
blicke immer  nur  einen  unendlich  kleinen  AV'iderstand:  der  Wi(h^r- 
stand  des  absolut  harten  K()rj)ers  dagegen  wäre  endlich.  „Weil 
die  Teile  der  ^Nfaterie  eines  solchen  Körpers  sich  mit  einem  Moment 
der  Acceleration  ziehen  müfsten,  welches  gegen  d;is  der  Schwere 
unendlich,  der  Masse  aber,  welche  dadurch  getrieben  wird,  endlich 
sein  würde,  so  müfste  der  Widerstand  durch  ündurchdringlichkeit. 
als  ex])ansive  Kraft,  da  er  jederzeit  mit  einer  unendlich  kleinen 
(Quantität  der  Materie  geschieht,  mit  mehr  als  endlicher  Ge- 
schwindigkeit der  SoUicitation  geschehen,  d.  i.  die  Materie  würde 
sich  mit  unendlicher  Geschwindigkeit  auszudehnen  trachten,  welches 
unmöglich  ist"  (448). 

Es  ist  schwer,  mit  diesen  dunklen  Bestimmungen  etwas  an- 
zufangen, die  nur  zeigen,  w^ie  sehr  Kant  noch  selbst  mit  den 
1  Problemen  ringt.  Wir  lassen  sie  daher  auf  sich  beruhen  und 
wenden  uns  lieber  gleich  dem  vierten  Hauptstück  der  „Meta- 
physischen Anfangsgründe"  zu,  w^omit  sich  die  apriorische  Grund- 
legung der  Naturwissenschaft  vollendet. 

A.    Die   Phänomenologie. 

Die  svntlietischen  Grundsätze  des  reinen  Verstandes  stellten 
die  Bedingungen  auf,  unter  denen  alle  Gegenstände  stehen  müssen, 
um  für  uns  hdialt  der  Erfahrung  zu  werden.  Ihre  Bedeutung  lag 
darm,  dafs  sie  das  Dasein  zu  einem  gesetzmäl'sigen  gestalteten. 
Damit  erhoben  sie  es  in  die  Sphäre  des  Objekts  und  machten  über- 
hau])t  ein  Urteil  über  Gegenstände  uKiglicli.  Allein  um  ein  solches 
Urteil  auch  in  jedem  besonderen  Falle  seinem  Werte  nach  kenn- 
zeichnen zu  können,  dazu  hatte  Kant  es  für  nötig  befunden,  jenen 
Grundsätzen  auch  noch  unter  dem  Namen  von  „Postuiaten  des 
emj)irischen  Denkens  ül)erhau])t"  gewisse  Kegeln  beizugesellen,  deren 
Aufgabe  nicht  so  sehr  darin  bestehen  sollte,  das  Objekt,  als  viel- 
mehr das  Verhältnis  desselben  zum  Erkenntnisvermögen  des  Subjekts 
zu  bestimmen  und  anzugeben,  ob  ein  Urteil  möglich,  wirklich  oder 


394 


B.    Kant  als   XaturphilusDph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


395 


l_^  ^«4il 


[■iinr 


notwendig  sei.     Eine  wie  zweifelhafte  Rolle  diese  Kegeln  neben  den 
übrigen  Grundsätzen    spielten,    haben    wir   früher  gesehen.      Waren 
sie  doch  von   den  letzteren    ihrem  ganzen  AVesen  nach  versclueden, 
sofern  sie  gar  nicht,  wie  diese,   zur  Möglichkeit  der  Erfahrung  selbst 
etwas  beitrug(>n,  sondern  erst  nachträglich  ins  Si)iel  treten  konnten, 
wenn  die   Erfahrung  als  solche  schon  feststand.     Die  Postulate  des 
empirischen   Denkens  bezogen  sich  auf  das  gesamte  Gebiet  der  Er- 
fahrung ü])erhaupt.   wie  es  durch  die  eigentlich  sogenannten  Grund- 
sätze umschrieben  war,    aber    sie    fügten  diesem  Gegenstande  keine 
neue  Bestimmung  hinzu,   sondern   beschränkten  sich  nur  darauf,   ihn 
zum    urteilenden    Subjekt    in    Beziehung    zu   setzen.      Daraus    läfst 
sich  von  vornherein   entnelimen,  dafs  wir  auch  von   der  Anwendung 
dieser  Kegeln    auf   das  naturwissensehaftliche  Objekt,    wie    sie    den 
„Metapliysisclien   Anfangsgründen'^   ihre  Methode  vorschreibt,    keine 
neuen  Aufschlüsse  üher  dies  Objekt   erwarten   dürfen.      ..Das  vierte 
Hauptstück   bringt   nichts   weiter    als  einen   methodisehen    Rückblick. 
Der  Denker  überschaut  das  vollendete  Werk:  er  besinnt  sich  noch 
einmal  auf  das  Yerhältnis.    in    welchem    die    gefundenen    Sätze    zu 
seiner    erkenntnistheoretisehen     Überzeugung    stehen.      Diese    letzte 
Prüfung    ist    nicht    mehr    systematische   Pilicht.    sondern    subjektive 
Gewissenhaftigkeit;    sie    ist  die  Selbstkontrolle   streng  methodischer 
Ketiexion.-'-"'^) 

W^enn  dem  so  ist,  so  wäre  es  logiseli  gewesen,  diesen  letzten 
Teil  den  ührigen  nicht  einfach  zu  koordinieren,  wie  Kant  es  thut. 
sondern  ihn  etwa  als  Anhang  zu  l)ehandeln,  wobei  d.inn  freilich  die 
Beziehung  auf  das  erkenntnistheoretische  Schema  in  die  Brüche 
gegangen  wäre.  Aber  dieses  Schema,  das  in  so  un])assender 
Weise  die  Postulate  auf  eine  Stufe  mit  den  übrigen  Grundsät/eii 
stellt,  dieses  Schema  ist  ja  selbst  schon  sch](^clit  und  nur  durch 
Kants  unglückliche  Bezugnahme  auf  die  Katcgorieentafel  ent- 
standen. 

Leider  richtet  diese  l^ücksicht  auf  di-'  Katcgorieentafel  noch 
weitere  Verwirrung  an.  Da  das  vierte  Hiuptstück,  wie  gesagt, 
eine  wesentlich  neue  Bestimmung  nicht  enthält,  so  fällt  es  nicht 
auf,  wenn  es  die  Alateiäe  betrachten  soll  als  ,,dis  Bewegliche,  so- 
fern es  als  ein  solches  ein  Gegenstand  der  b^rfahiaing  sein  kann" 
(4r)()).  Auch  die  vorangegangenen  Hau])tstücke  haben  die  Materie 
unter  diesem  nämlichen  Gesichtspunkt  angesehen:  die  ganze  Xatur 
war  ja.  den  „Metaphysischen  Auf ingsgründen"  nichts  Andei'cs  als 
der    „Inbegrilf    aller    Dinge,    sofern   sie  Gegenstände^   unserer  Sinne, 


■■)  Stadler:  a.  a.   O.  VJO  f. 


mithin  der  Erfahrung  sein  krmnen"  (357);  der  Unterschied  besteht 
nur  darin,  dafs  jetzt  „ihre  Bewegung  oder  Kühe  l)lofs  in  Beziehung 
auf  die  Vorstellungsart  oder  Modalität,  mithin  als  Erscheinung 
äufserer  Sinne",  erwogen  werden  soll  (806).  Weil  es  sieb  also  um 
die  Bewegung,  als  Erscheinung,  handelt,  darum  wird  diese  ganze 
Betrachtung  kurioser  Weise  von  Kant  mit  dem  Namen  „Phäno- 
menologie" getauft.  Weil  er  sie  aber  in  Beziehung  zur  Katcgorieen- 
tafel setzen  und  demgeinäfs  mit  den  vorangehenden  Abschnitten  auf 
die  gleiche  Stufe  stellen  mufs.  darum  betitelt  er  sie  ..Meta- 
physische Anfangsgründe  der  Pliänoinenologie*',  obwohl  sie  doch 
gar  nicht  eine  l)esondere  Wissenschaft,  wie  Plioronomie,  Dynamik 
und  Mechanik,  darstellt,  sondern  seihst  mit  zu  den  Anfangsgründen 
jener  geh<)rt  und  daher  auch  nicht  eine  selbständige  Behand- 
lung erfahren  kann.  Stadler  gieht  zu.  dafs  die  Phänomenologie 
den  übrigen  W^issenschaften  nicht  durch  die  gegebene  Überschrift 
kooi-diniert  werden  dürfe.  Er  wird  auch  kaum  leugnen  können, 
dafs  Kant  zu  diesem  Schritte  nur  durch  die  Art  seiner  Methode 
gezwungen  sei.  Trotzdem  bleibt  er  von  der  Vorzüglichkeit  dieser 
letzteren  überzeugt  und  sucht  er  eine  ^Methode  g(^gen  Angritfe  zu 
verteidigen,   die  zu  so  handgreiflichen  Absurditäten   fiüirt. 

Erscheinung    soll    in    Erfahrung    verwandelt    werden.     Das    ist 
etwas  ganz  Anderes  als  die  Verwandlung  des  Scheins  in  Wahrheit. 
„Denn  Ix'im  Sclieine  ist  der  Verstand  mit  seinen  einen   Gegenstand 
hestimmenden  Urteilen  jederzeit  im  S])iele,  ohzwar  er  in  Gefahr  ist, 
das  Subjetive  für  objektiv  zu  nehmen :  in  der  Erscheinung  aber  ist 
gar  kein   Urteil   des    Verstandes  anzutreffeir'   (4")!).      AVie   kann   J^e- 
wegung,  die  uns  unmittelbar  nur  als  Erscheinung  gegeben  ist.   Objekt 
der   Erfahrung  werden?    Damit  üherhaupt  etwas  Erfahrung  werde, 
dazu  ist  ncitig,   dafs  die  Erscheinung,   die  als  solche  nur  dem  Subjekt 
inhäriert,   dui-ch   den   Verstand   mit    dem   BegriiVe    der  Substanz,   als 
Bestimmung  dieser  letzteren,   verbunden  und    damit   auf    ein  Objekt 
Ixv.ogen    wird.     AVorauf    es    dal)ei    ankommt,    ist.    dafs    das   Objekt 
durch  die  Erscheinung  auch  wirklich   bestimmt  ist.   denn  sonst  kann 
von  F]rlahrung  nicht  die  Rede  sein.    Es  genügt  also  im   vorliegenden 
falle   nicht,   die  Bewegung  einfach   an   ein  Bewegliches   anzuknüplen. 
I>as   Bewegliche  wird   als  ein  solches  nur  dann  ein  Gegenstand  der 
Ei-j'ahrung    sein    können,    „wenn    ein  gewisses  Objekt    (hier  also  ein 
niaterielles    Ding)    in    Ansehung    des   Prädikats    der   Bewegung    als 
bestimmt  gedacht    wird''   (400).      Dies  ist  nun   b(4   der    Bewegung 
unmittelbar  nicht  (h'r  Kall.    Bewegung  ist  Veränderung   der  l^elation 
ini  Ixanme.     Sie  drückt  eine  J)eziehung  des  Körpers  zu  etwas  aufser 
ihm  Seienden  aus.   und  diese  beiden  Momente  sind  so  sehr  Jvoirelate, 


396 


JH.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


397 


(lal's  nijin  keine  Aussage  von  dem  einen  machen  kann,  olme  damit 
znf,^leieh  auch  das  I^riidikat  des  andern  zu  berühren.  Es  ist  ^leich- 
i^ülti^^  welclies  von  beiden  man  als  bewe^^t  ansieht,  ob  man  das  eine 
als  ruhend  und  das  andere  als  bewegt  betrachtet,  oder  endlich  ob 
man  beide  als  zu,i:,deich  bewegt  vorstellt.  ,.In  der  Erscheinung,  die 
nichts  als  die  Kelation  in  der  Bewegung  (ihrer  Veränderung  nach) 
enthält,  ist  nichts  von  diesen  P>estimmungen  enthalten  :  wenn  aber 
das  Bewegliche,  als  ein  solches,  nändich  seiner  Bewegung  nach, 
bestimmt  gedacht  werden  soll,  d.  i.  zum  Behuf  einer  mr»glichen 
Erfahrung,  ist  es  niUig,  die  Hedingungen  anzuzeigen,  unter  welchen 
der  Gegenstand  (die  Materie)  auf  eine  oder  andere  Art  durch  das 
Prädikat  der  Bewegungen  bestimmt  werden  müsse"  (4;")!).  Damit 
ist  die  Aufgabe  der  rhJinomen()h)gie  gestellt. 

Betrachten  wir  zunächst  die  Bewe^gung  als  Gegenstand  der 
Phoronomie!  Die  letztere  hat  gezeigt,  dafs  eine  jede  geradlinige 
Bewegung,  als  Gegenstand  einer  mr)glichen  Erfahrung,  beliebig  ent- 
weder als  Bewegung  des  Körpers  in  einem  ruhigen  Baume  oder  als 
Ruhe  des  Kcirpers  und  dagegen  Bewegung  des  Baumes  in  entgegen- 
gesetzter Richtung  mit  gleicher  Geschwindigkeit  angesehen  werden 
k(">nne.  Daraus  geht  hervor,  dafs  eine  Kriährung,  sofern  man 
darunter  eine  Erki'nntnis  versteht,  die  das  Objekt  für  alle  Erschei- 
nungen gültig  bestimmt,  von  dieser  Art  Bewegung  nicht  nK'iglich 
ist.  Nicht  als  ob  eine  solche  Bewegung  füi-  uns  überhaupt  niclit 
PJrscheinung  sein  kiinnte  —  die  Erscheinung  wird  nur  in  diesem  Falle 
nicht  bestimmt.  Die  Bestimmung,  ob  ein  Korper  sich  im  relativen 
Raum  bewegt  und  dieser  ruht,  oder  umgekehrt,  diese  trifft  nicht 
den  Gegenstand  selbst,  sondern  sie  geht  nur  auf  sein  Verhältnis 
zum  Subjekt,  ist  dem  Belieben  des  Zuschauers  überlassen,  der  seine 
Entscheidung  danach  treffen  wird,  ob  er  sich  selbst  in  dem  näm- 
lichen Raum  als  ruhig  oder  ob  er  sich  in  einem  andern  und  jenen 
umfassenden  Raum  vorstellt,  in  Hinsicht  auf  welchen  der  Körj)er 
gleichfalls  ruht.  Im  ersteren  Falle  wird  er  sagen,  dafs  der  Kör])er, 
im  letzteren,  dafs  sich  der  relative  Raum  bewegt.  Die  Entsclieidung 
erfolgt  mithin  ,.durch  blofsc^  Wahl*'.  In  der  Erfahrung  ist  jener 
Unterschied  nicht  vorhanden.  Die  Bestimmungen  sind  in  Ansehung 
des  Objekts  gleichgeltend  und  unterscheiden  sich  nur  in  Ansehung 
des  Subjekts  und  seiner  Vorstellungsart  von  einander.  „Nun  ist 
dasjenige,  was  in  Ansehung  zweier  einander  entgegengesetzter  Prädi- 
kate an  sich  unbestimmt  ist,  sofern  blofs  möglich.  Also  ist  die 
geradlinige  Bewegung  einer  IVIaterie  im  empirischen  Räume  zum 
Unterschiede  von  der  entgegengesetzten  gleichen  Bewegung  des 
Raumes  in  der  Erfahrung  ein  blofs  mögliches  Prädikat"   (452). 


Dafs  überhaupt  Bewegung  wahrgenommen  werden  kann,  dies  ist 
nur  möglich,  wenn  beide  Korrelate,  der  Körper  sowohl,  wie  der 
Raum,  die  sich  wechselseitig  auf  einander  beziehen.  Gegenstände  der 
Erfahrung  sind.  Der  reine  oder  absolute  Raum  ist,  wie  wir  bereits 
aus  der  Phoronomie  gesehen  haben,  nur  eine  rein  subjektive  Idee 
und  niemals  in  der  Anschauung  gegeben.  Daraus  folgt,  dafs  eine 
absolute  ]]ewegung  auch  nicht  Objekt  der  Erfahrung  sein  kann, 
weil  sie  einen  solchen  Raum  zum  Korrelate  haben  müfste. 

Das  ist  alles  ganz  richtig,  aber  auch  bereits  so  trivial,  dafs 
man  blofs  der  Kategorie  der  Möglichkeit  zu  Liebe  sich  schwerlich 
damit  aussöhnen  kann,  alte  al>gestandene  Wahrheiten  in  so  anspruchs- 
voller Form  hinnehmen  zu  müssen.  Man  wird  gut  thun,  auch  hieran 
lieber  mit  Stillschweigen  vorbeizugehen,  anstatt  die  inhaltliche  Leere 
dieser  Ausführungen  dadurch  noch  offener  hervortreten  zu  lassen, 
dafs  man  an  ihnen  die  Vorzüglichkeit  der  kantischen  Methode 
nachweist.  — 

AVenn  die    geradlinige  Bewegung,    wie    sie    in    der  Phoronomie 
betrachtet  wurde,   von  uns  nur  als  möglich  beurteilt  werden  konnte, 
so  fragt  es  sich,   wie  es  mit  der  Modalität  der  Bewegung  in  Hinsidit 
der  Dynamik  steht.     Das  Schema  verlangt,  sie  als  eine  wirkliche 
anzusehen,    und    in    der   That   beiafste    sich    ja    auch    die    Dynamik 
nicht,    wie  die  Phoronomie,    mit   dem   rein    subjektiven  Abstraktum 
der    Bewegung    ohne    Rücksicht    auf    dasjenige,    w^as    sich    bewegt, 
sondern  sie  betrachtete  das  Bewegliche  zugleich  mit  seiner  Bewegung, 
ihr  Gegenstand  war  die   Wirklichkeit    in  ihrer    objektiven  Bedingt- 
heit;   sie  fand,  dafs  diese  AVirklichkeit  auf   dem  Begriff   der  Kraft 
beruhe.     Giebt    es    eine    Bewegung,    die    gleichfalls   auf   eine  Kraft 
bezogen  werden  mufs,    so  wird  mithin  auch   diese  das  Prädikat  der 
Wirklichkeit  erhalten,  einem  Subjekt  als  wirkliches  Prädikat  beige- 
legt werden  können.     Eine  solche  Bewegung  ist  die  Kreisbewegung, 
sowie  überhaupt  jede  k  r  u  m  m  1  i  n  i  g  e. 

„Eine  Bewegung,  die  nicht  ohne  den  F]inHufs  einer  kontinuierlich 
wirkenden  äufseren  bewegenden  Kraft  stattfinden  kann,  beweist 
mittelbar  oder  unmittelbar  ursprüngliche  Bewegkräfte  der  Materie, 
es  sei  der  xlnziehung  oder  Zurückstofsung-'  (4r>H).  „Die  Kreis- 
bewegung ist  eine  kontinuierliche  Veränderung  der  geradlinigen,  und 
da  diese  selbst  eine  kontinuierliche  Veränderung  der  Relation  in 
Ansehung  des  äufseren  l^iumes  ist,  so  ist  die  Kreisbewegung  eine 
Veränderung  der  Veränderung  dieser  äufseren  Verhältnisse  im  Räume, 
folglich  ein  kontinuierliches  Entstehen  neuer  Bewegungen.  Weil 
nun  nach  dem  Gesetze  der  Trägheit  eine  Bewegung,  sofern  sie  ent- 
steht,  eine  äufsere  Ursache  haben  mufs,  gleichwohl  aber  der  Körper 


»1  .  fj 


398 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


in  jedem  Punkte  dieses  Kreises  (nach  ebendemselben  Gesetze)  für 
sich  in  der  den  Kreis  berührenden  Linie  fortzugehen  bestrebt  ist, 
welche  Bewegung  jener  äufseren  Ursache  entgegenwirkt,  so  beweist 
jeder  Körper  in  der  Kreisbewegung  durch  seine  Bewegung  eine 
bewegende  Kraft"  (ebd.). 

Die  geradlinige  Bewegung    konnte    darum    nicht    das    IVädikat 
der  Wirklichkeit  erhalten  und  blieb  als  solche  unbestimmt,  weil  bei 
ihr  eine  doppelte  Auffassung    mr)glich   und  jede    dieser  beiden  Auf- 
fassungen  gleichberechtigt    war.     AVjirum    gilt    dasselbe    nicht    auch 
von  der  Kreisbewegung,    und    kann  nicht    auch    diese    entweder    als 
Bewegung  des  K(-)rpers  und  Ruhe  des  umgebenden  Raumes  oder  als 
Ruhe^^des  K(h-peis  und  Bewegung  jenes  ]{aumes  in  entgegengesetzter 
Richtung    angesehen    werden?     Der  Grund    soll    darin    Hegen,    dafs 
die  Bewegung    des  Raumes    zum    Unterschiede    von    der    Bewegung 
des    K(-»rpers     „blofs    phoronomisch"    sei    und    gar    keine   bewegende 
Kraft   ihm  /ukommc      ,Also    ist    die   Kreisbewegung  eines  Kr>ri)ers 
zum    Unterschiede    von    der    Bewegung    des    Räumens    wirkliche  Be- 
wegung, folghch  die  letztere,  wenn  sie  gleich  der  Erscheinung  nach 
mi^  der    erstcren  übereinkommt,    dennoch    im  Zusammenhange  aller 
Erscheinungen,   d.  i.   der  mö-lichen  Erfaliruiig.   dieser  widerstreitend, 
^dso    nichts    als    blofser  Schein"    (ebd.j.      Allein    hat   Kant    nicht  in 
seinem    Beweise    des    dritten    mechanischen    (Gesetzes    die    Bewegung 
des  Raumes    dazu    benutzt,    um    die    Gleichheit    von    Wirkung    und 
Gegenwirkung    darzulegen?     Sollte    diese  Bewegung    eine    wirkliche 
sein  und  wurde  somit  der  Bewegung  des  relativen  Raumes  bewegende 
Kraft    zugeschrieben,    warum    soll    diese    Bewegung    zum     ,,blofsen 
Schein-'   herabsinken,    sohald    an   Stelle    der    geradlinigen  die   Kreis- 
bewegung tritt?    Behaui)tet  doch  Kant  selbst:   die  relative  Bewegung 
„in  Ansehung  des   äufseren  Raumes    (z.  B.  die  Achsendrehung  der 
Erde   relativ  auf  die  Sterne  des   Himmels)  ist  eine  Erscln^inuncc.  an 
deren    Stelle    die    entgegengesetzte    Bewegung    dieses    Raumes    (des 
Himmels)    in    derselben  Zeit   als   jener    völlig    gleicligeltend    gesetzt 
werden  kann"  {4b:).  Damit  würde  denn  freilich  auch  die  Kreisbewegung 
der  Materie    nur  als  ein  nu)p;liches  Rriidikat    zugeschrieben  werden, 
und  das  Schema  der    Wirklichkeit   würde    unausgefiUlt  bleiben,    was 
Kant  nun  einmal   nicht  zulassen  konnte. 

Es  soll  also  mr)glich  sein,  die  Kreisbewegung  eines  Körpers 
„ohne  idle  durch  Erfahrung  mögliche  Vergleichung  mit  dem  äufseren 
Räume  dennoch  vermittelst  der  Erfahrung  zu  erkennen.  Es  soll 
möglich  sein,  „dafs  eine  Bewegung,  die  eine  Veränderung  der 
äufseren  Verhältnisse  im  Räume  ist,  empirisch  gegeben  werden 
könne,    obgleich    dieser  Raum    selbst    nicht    empirisch   gegeben  und 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie.  309 

kein  Gegenstand    der    Erfalirung    ist."     Das    ist    ein   „Paradoxon", 
welches    „aufgelöst    zu    werden    verdient"    (454).      Eine    Bewegung 
namhch,   die  „ohne  Beziehung  auf  den  äufseren  empirisch  gegebenen 
Raum    als  wirkliche  Bewegung    in    der  Erfahrung    gegeben    werden 
kann",    scheint  eine  absolute  Bewegung  zu  sein  (457):    eine   solche 
aber  soll  ja  kein  Objekt  der   Erfahrung  sein.    Nun  handelt  es  sich 
aber  hier  nach  Kant    gar  nicht  um    den   Unterschied  der  absoluten 
und    der    relativen  Bewegung,    sondern    um    den    der  wahren  (wirk- 
lichen) und  der  Scheinbewegung.     Absolute  Bewegung  ist  Verände- 
rung der  Relation  zum    absoluten  Raum    und    kann   von    uns    nicht 
wahrgenommen   werden,    weil  der    absolute  Raum  in  der  Erfahrung 
nicht  vorkommt.     Wahre  Bewegung    dagegen    ist    zwar    auch    nicht 
durch  Beziehung    auf  einen  aufser    ihr  seienden  Raum   bestimmbar, 
konnte    also,    wenn    man    sie    blofs    nach    empirischen   Verhältnissen 
zum   Raum  beurteilen  wollte,    auch    für  Ruhe   gehalten  werden,    ist 
aber,    „ob    sie    zwar   in    der  Erscheinung    keine  Stellenveränderung, 
d.    1.    keine    phoronomische.    des  Verhältnisses  des  Bewegten    zum 
(empirischen)   Räume    zeigt,    dennoch    eine    durch    Erfahrung 
erweisliche  kontinuierliche  dynamische  Veränderung  des  Verhält- 
nisses der  Materie  in   ihrem    Räume",  welche  eben  dadurch   vom 
Schein    sich    unterscheidet   fehd.j.      „Man   kann  sich  z.   B.  die  Erde 
im  unendlichen    leeren  Raum  als    um  die  Achse    gedreht  vorstellen 
und  diese  Bewegung  auch  durch  Erfahrung  darthun,   obgleich  weder 
das  Verhältnis  der  Teile  der  Knie  unter  einander,   noch  zum  Räume 
aufser  ihr   phoronomisch,    d.  i.  in  der   Erscheinung,   verändert  wird. 
Denn  in  Ansehung  des  ersteren,  als  empirischen  Raumes,  verändert 
nichts    auf    und    in    der  Erde  seine    Stelle,    und    in  BezicOiung    des 
zweiten,    der  ganz    leer  ist.    kann  überall    kein    äufseres  verändertes 
Verhältnis,    mithin  auch    keine  Erscheinung    einer  Bewegung   statt- 
hnden"   (ebd.).     Dafs  aber  diese  Bewegung,  obschon   sie  im  absoluten 
Räume  vorgestellt  wird,   dennoch  keine  absolute,   sondern  nur  relative 
„und  sogar  darum  allein  wahre  Bewegung  sei%  das  beruht  auf  der 
Vorstellung    der    wechselseitigen    kontinuierhchen    Entfernung    eines 
jeden  Teils  der  Erde  (aufserhalb  der  Achse)  von  jedem  andern   ihm 
in    gleicher  Entfernung    vom    Mittel])unkte    im   Diameter   gegenüber 
hegenden.    Denn  diese  Bewegung  ist  im  absoluten  Räume  wirklich, 
indem    dadurch    der    Abgang    der    gedachten    Entfernung,    den    die 
Schwere  für  sich  allein  dem  Körper  zuziehen  würde,  und  zwar  ohne  alle 
dynamische  zurücktreibende  Ursache,    mithin    durch  wirkliche,    aber 
auf  den    innerhalb    der    bewegten    Materie    (nämlich    des  Centrums 
derselben)  beschlossenen,   nicht  aber  auf  den  äufseren  Raum 
bezogene  Bewegung,   kontinuierlich  ersetzt  wird"  (458). 


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400 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


401 


Die  „beständige  Verminderung  der  Anziehung  durch  ein  Bestreben 
zu  entfliehen"  (457)  oder  die  Centrifugalkraft  ist  nur  durch  die  Kreis- 
bewegung zu  erklären.  Dieser  Beweis  ist  freilich  nur  dann  stich- 
haltig, wenn  jede  andere  Ursache  für  die  Fliehkraft  ausgeschlossen 
ist.  Das  ist  aber  nicht  der  Fall,  denn  man  könnte  versucht  sein, 
die  Centrifugalkraft,  welche  der  Anziehung  der  Sonne  entgegen 
wirkt,  auch  aus  der  abstofsenden  Kraft  des  die  Planeten  umgebenden 
Äthers  zu  erklären.  „Dergleichen  Hypothesen  m(>gen  allerdings 
unwahrscheinlicher  sein  als  die  Alileitung  der  Centrifugalkraft  aus 
der  Kreisbewegung  ;  allein  eine  volle  Gewifsheit  für  die  AVirklichkeit 
der  Kreisbewegung  kann  daraus  offenbar  nicht  abgeleitet  werden, 
und  der  Beweis  würde  überdem  nicht  allgemein,  sondern  nur  für 
die  Kreisbewegung  von  Kiirpern  gelten,  welche  nach  dem  Mittel- 
punkte dieses  Kreises  gravitieren."*) 

Aus    ähnlichen    Gründen    kann    auch    der    andere    Erfahrungs- 
beweis,   den  Kant    für    die  Wirklichkeit    der  Kreisbewegung    giebt, 
nicht    als  zwingetul  angesehen  werden.     „Wenn  ich  mir,"    sagt    er, 
„eine  zum  Mittelpunkt    der  Erde  hingehende    tiefe  Höhle   vorstelle 
und  lasse  einen  Stein   darin  fallen,   tinde  aber,  dafs,  obzwar  in  jeder 
Weite  vom  Mittel])unkt  die  Schwere  immer  nach  diesem  hingerichtet 
ist,  der  fallende  Steüi  dennoch  vcn  seiner  senkrechten  Richtung  im 
Fallen  kontinuierlich,    und  zwar    von    West    nach  Ost  abweiche,    so 
schliefse  ich,  die  Erde  sei  von  Abend  gegen  Morgen  um  die  Achse 
gedreht.     Uder  wenn  ich  auch  aufserhalb  den  Stein  von  der  Ober- 
fläche der  Erde  weiter  entferne  und  er  bleibt  nicht  über  demselben 
Punkte    der  Oberfläche,    sondern    entfernt    sich    von  demselben    von 
Osten  nach  Westen,    so  werde  ich  auf  ebendieselbe  vorhergenannte 
Achsendrebung  der  Erde  schliefsen,  und  beiderlei  Wahrnehmungen 
werden   zum  Beweise  der  Wirklichkeit  dieser  Bewegung  hinreichend 
sein,  wozu  die  Veränderung  des  Verhältnisses  zum  äufseren  Räume 
(dem  bestirnten  Himmel)  nicht  hinreicht,  weil  sie  blofse  Erscheinung 
ist,  die  von  zwei  in  der  Tiiat  entgegengesetzten  Gründen  herrühren 
kann  und  nicht  eine    aus  aus  dem   Erklärungsgrunde  aller  Erschei- 
nungen dieser  Veränderung  abgeleitete  Erkenntnis,  d.  i.   Erfahrung 
ist"   (457  f.).     Soll    in    der    dynamischen  Erörterung    die  Bewegung 
ohne  alle  Beziehung  zum  äufseren  Raum,   mithin  nicht    als  relative 
betrachtet  werden  und  hat  Kant  recht,  zu  sagen:   „wenn  aufser  einer 
Materie    noch  irgend    eine   andere,    selbst    durch    den    leeren  Raum 
getrennte  Materie  wäre,  so  würde  die  Bewegung  schon  relativ  sein" 
(4[)9),    dann    sind    diese  Beispiele    schon  deshalb   schlecht    gewählt, 


weil  ja  der  fallende  Stein  nicht  selbst  ein  Teil  der  Erde,  sondern 
ein  Körper  aufser  ihr  ist,  somit  auch  hier  die  Relativität  gesetzt 
ist.*)  Abgesehen  aber  hiervon,  wer  steht  dafür,  dafs  sich  nicht 
der  (relative)  Raum,  in  welchem  sich  der  Stein  bewegt,  entweder, 
wie  bei  dessen  Falle,  von  Westen  nach  Osten,  oder,  wie  bei  dessen 
Aufstieg,  von  Ost  nach  West  bewegt  und  damit  den  Stein  in  diesen 
Richtungen  mit  sich  fortführt? 

Man  sieht,  wie  zweifelhaft   hier  alles  ist,    und  wie  sehr  es  uns 
an  einem  Mafsstab  fehlt,    um  auf  die  Bewegung   das  Prädikat    der 
AVirklichkeit  anwenden  zu  können.**)     Es  ist  sicher,  dafs  der  äufsere 
Grund  für  Kant,  einen  solchen  Mafsstab  aufzustellen,  nur  in  seiner 
Rücksicht   auf  das  kategoriale  Schema  lag.     Dafs    er   aber   gerade 
bei  der  Kreisbewegung   eine  Ausnahme  machte  und    diese  von    der 
Relativität  der  Bewegung  ausschlofs,  dazu  mag  er  auch  noch  durch 
den    besonderen    Grund    veranlafst    sein,    weil    er    die    Ansicht    des 
Copernicus  von  unserem  Sonnensysteme  vor  den  Gefahren  glaubte 
schützen  zu  müssen,  die  ihr  von  der  Relativität  der  Bewegung  her 
drohten.     Jene  Ansicht  war  eine  unumstöfsliche  Überzeugung  auch 
für  Kant.     Sie  galt  allgemein  für  so  gut  begründet,  dafs  es  absurd 
gewesen  wäre,  an  ihr  zu  zweifeln.     Wenn  nun  alle  Bewegung  blofs 
relativ  war,  konnte  man  dann  nicht  mit  dem  gleichen  Rechte  sagen, 
die  Sonne  drehe  sich  um  die  Erde,  wie  umgekehrt?  Zum  mindesten 
sank  damit  die  allgemeine  Annahme  auf  den  Wert  einer  Hypothese 
herab,  und  Hypothesen  nach  Möglichkeit  zu  beseitigen,  das  war  ja 
gerade    das    Ziel    der    naturwissenschaftlichen    Bestrebungen  Kants. 
Wie  glücklich  also,  wenn  es  möglich  war,  der  Kreisbewegung  wenigstens 
das  Prädikat  der  Wirkhchkeit  zu  sichern !    Da  offenbarte  sich  doch 
wieder  einmal  der  Nutzen  der  Kategorieentafel,  indem  sie  zu  Ergeb- 
nissen führte,    die  man  ihr   nicht  hätte  zutrauen    sollen.     Logischer 
wäre  es  freilich  gewesen,  diese  ganze  Ansicht  über  die  Wirklichkeit 
der  Kreisbewegung    schon   in   der  Phoronomie  abzuhandeln;    allein 
der  Tafel  zu  Liebe  konnte  man  gerne  schon  einmal  die  Logik    bei 

Seite  lassen,  wenn  sich  doch  jene  als  so  „fruchtbar"  erwies.  

Es  bleibt  noch  übrig,  die  Modalität  unseres  Urteils  in  der 
Mechanik  zu  betrachten.  „Nach  dem  dritten  Gesetze  der  Mechanik 
ist  die  Mitteilung  der  Bewegung  der  Körper  nur  durch  die  Gemein- 
schaft ihrer  ursprünglich  bewegenden  Kräfte  und  diese  nur  durch 
beiderseitige  entgegengesetzte  und  gleiche  Bewegung  möglich.  Die 
Bewegung  beider  ist  also  wirklich.     Da  aber  die  Wirklichkeit  dieser 


*)  V.  Kirchmann:  a.  a.  ü.  G6  f. 


*)  Stadler:  a.  a.  0.  2.J0. 
**j  V.  Kirchmann:  a.  a.  0.  G3  f. 
D  r  e  w  8  ,  Kants  Naturphilosophie. 


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402 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


Bewegung  nicht  auf  dem  Einflüsse  äufserer  Kräfte  beruht,  sondern 
aus  dem  Begriffe  der  Kelation  des  Bewegten  im  Baume  zu  jedem 
anderen  dadurch  Beweglichen  unmittelbar  und  unvermeid- 
lich folgt,  so  ist  die  Bewegung  des  letzteren  notwendig"  (454). 

Wenn  alles,  was  „aus  blofsen  Begriffen  hinreichend  erweislich" 
ist,  eben  deshalb  „schlechterdings  notwendig"  ist  (459),  so  ist  auch 
die  Kreisbewegung  nicht  blofs  wirklich,  sondern  notwendig,  denn 
Kant  hat,  w^ie  oben  gezeigt  wurde,  auch  bei  ihr  die  Wirklichkeit 
nur  aus  ihrem  Begriffe  abgeleitet.  Was  mit  derartigen  Bestim- 
mungen gewonnen  sein  soll,  bleibt  unverständlich.  Auch  der  Satz, 
dafs  in  jeder  Bewegung  eines  Körpers,  wodurch  er  in  Ansehung 
eines  anderen  bewegend  ist,  eine  entgegengesetzte  gleiche  Bewegung 
des  letzteren  notwendig  sei,  ist  seinem  Wesen  nach  offenbar  nur 
eine  Wiederholung  des  dritten  mechanischen  Gesetzes  und  hier  nur 
mit  Bücksicht  auf  das  Schema  angebracht.  Kant  sucht  die  apo- 
diktische Beschaffenheit,  welche  dem  „Gesetz  des  Antagonismus" 
zukommen  soll,  auch  noch  dadurch  zu  stützen,  dafs  eine  jede  Ab- 
weichung von  demselben  den  gemeinschaftlichen  Mittelpunkt  der 
Schvrere  aller  Materie,  mithin  das  ganze  Weltgebäude  aus  der  Stelle 
rücken  würde.  Ein  geradlinige^  Bewegung  des  Weltganzen,  d.  h.  des 
Systems  aller  Materie,  aber  würde  einem  Körper  ohne  Beziehung  auf 
irgend  etwas  Äufseres  zugeschrieben,  es  wäre  das  also  eine  absolute 
Bewegung,  die  schlechterdings  unmöglich  ist  (459).  — 

Zum  Sclilufs  seiner  „Metaphysischen  Anfangsgründe"  giebt 
Kant  noch  einen  Bückblick  über  die  verschiedenen  Bedeu- 
tungen des  leeren  Baums.  „Der  leere  Raum  in  phoronomisclier 
Rücksicht,  der  auch  der  absolute  Raum  lieilst,  sollte  billig  nicht  ein 
leerer  Raum  genannt  werden ;  denn  er  ist  nur  die  Idee  von  einem 
Räume,  in  welchem  ich  von  aller  besonderen  Materie,  die  ihn  zum 
Gegenstande  der  Erfahrung  macht,  abstrahiere,  um  in  ihm  den 
materiellen  oder  jeden  empirischen  Raum  noch  als  beweglich  und 
dadurch  die  Bewegung  nicht  blofs  einseitig  als  absolutes,  sondern 
jederzeitig  wechselseitig  als  blofs  relatives  Prädikat  zu  denken.  Er 
ist  also  garnichts,  was  zur  Existenz  der  Dinge,  sondern  l)l()rs  zur 
Bestimmung  der  Begriffe  gehört,  und  sofern  existiert  kein  leerer 
Raunr'   (459  f.). 

Von  dem  leeren  Raum  in  dynamischer  Hinsicht  ist  bereits 
in  der  Dynamik  gehandelt  worden.  Er  bedeutet  einen  Raum,  der 
nicht  erfüllt  ist,  worin  dem  Eindringen  des  Beweglichen  nichts 
widersteht,  r;  und  folglich  auch  keine  repulsive  Kraft  ihre  Wirkung 
äufsert.     Ein  solcher    kann    nun  entweder   als  leerer  Raum  in    der 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie.  4Q3 

Welt  (vacuum  mundanum)  oder  als  leerer  Raum  aufs  er  der  Welt 
(vacuum  extramundanum)  vorgestellt  werden. 

Der  erste  Fall  läfst  selbst  wieder  eine  doppelte  Auffassung  zu. 
Man  kann  nämlich  den  leeren  Raum  in  der  Welt  entweder  als  zer- 
streuten Raum    (vacuum  disseminatum),    sofern   derselbe   nur   einen 
ieil  des  Volumens  der  Materie  ausmacht,  oder  als  gehäuften  leeren 
Raum   (vacuum   coacervatum)   ansehen,    der   die  Körper,    z.  B    die 
Weltkorper,  von  einander  sondert.    In  jener  Hinsicht  dient  der  Raum 
dazu,  um  die  spezifischen  Unterscliiede  der  Dichtigkeit,  in  der  letzteren 
um   die  Möglichkeit   einer   von   allem    äufseren  Widerstände   freien 
Bewegung   im    Weltraum    zu    erklären.     Dafs    die    Annahme    eines 
vacuum    disseminatum   jedenfalls    „nicht    nötig"    sei,    ist   bereits   in 
der  Dynamik  auseinandergesetzt  worden,  denn  die  Unterschiede  der 
Dichtigkeit  konnten  nach  der  dynamischen  Theorie  auch  auf  andere 
Weise    erklärt    werden.     Dafs    sie    aber    auch  unmöglich    sei,    läfst 
sich  zwar  aus  seinem  Begriff  allein  nach  dem  Satz  des  Widerspruches 
keineswegs  behaupten,  weil  gegen  die  logische  Möglichkeit  des  Be- 
griffes nichts  einzuwenden  ist,  aber  es  könnte  doch  einen  „physischen 
Grund"  geben,  welcher  gegen  seine  Wahrheit  spräche.    „Denn  wenn 
die  Anziehung,    die   man    zur  Erklärung  des  Zusammenhanges    der 
Materien  annimmt,  nur  scheinbare,  nicht  wahre  Anziehung,  vielmehr 
etwa  blofs  die  Wirkung  einer  Zusammendrückung  durch  äufsere  im 
Weltenraume    allenthalben  verbreitete  Materie  (den  Ätiierj,    welche 
selbst    nur    durch    eine    allgemeine    und    ursprüngliche    Anziehung, 
nämlich    die    Gravitation,    zu    diesem    Drucke    gebracht    wird,    sein 
sollte,  welche  Meinung  manche  Gründe  für  sich  hat,    so  würde  der 
leere  Raum  innerhalb   der  Materien,  wenngleich  nicht  logisch,   doch 
dynamisch  und  also  physisch  unmöglicli  sein,  weil  jede  Materie  sich 
in    die  leeren  Räume,    die    man   innerhalb    derselben    annähme    (da 
ihrer  ex])ansiven  Kraft  hier  nichts  widersteht),  von  selbst  ausbreiten 
und    sie  jederzeit   erfüllt    haben    würde"  (460  f.).      Aus    demselben 
Grunde  ist  auch  die  Annahme  eines  leeren  Raumes  aufserhalb  der 
Welt,    d.  h.    der  grofsen  W\4tkörper,    unmöghch,    „weil    nach    dem 
Mafse,  als  die  Entfernung  von  diesen  abnimmt,  auch  die  Anziehungs- 
kraft   auf   den  Äther   in  umgekehrtem  Verhältnis    abnimmt,    dieser 
also    selbst    nur    ins  Unendliche  an  Dichtigkeit  abnehmen,  nirgends 
aber  den  Raum  ganz  leer  lassen  würde"  (41)1). 

Was  schliefslich  den  leeren  Raum  in  mechan  is  eher  Hinsicht 
anbetrifft,  so  ist  darunter  jenes  gehäufte  Leere  zu  verstehen,  worauf 
die  freie  Bewegung  der  AVeltkörper  beruhen  soll.  Allein  wenn  man 
annimmt,  dafs  sj)eziiisch  verschiedene  Stoffe  bei  gleicher  Quantität 
unendlich  verschiedene  Ausdehnungen  haben  können,   so  wird  auch 

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B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


405 


diese  Annahme  unnötig,  „weil  der  Widerstand,  selbst  bei  gänzlich 
erfüllten  Räumen,  alsdann  doch  so  klein,  als  man  will,  gedacht 
werden  kann"  (ebd.). 

Die  Frage,  ob  es  einen  leeren  Raum  giebt,   hängt  also  letzten 
Kndes  davon  al).  wie  man  sich  die  „Mögliclikeit  der  Zusammensetzung 
einer  Materie  überhaupt"  erklärt  (4G0).     „Wenn  man  die  letztere  nur 
besser  einsähe"  (ebd.).  und  die  Art,  wie  die  Materie  ihrer  eigenen 
ausdehnenden   Kraft  Sciiraiiken   setzt,    nicht  ein    so  „schwer   aufzu- 
schlielsendes  Naturgehennnis  wäre"  (4GI)!     In  diesem  Falle  würde 
man  es  auch  hier  zu  apodiktischer  Gewifsheit  bringen;  so  aber  bleibt 
die  Unmögliclikeit  des  leeren  Raumes  eine  Hypothese,  die  mit  ihrer 
Voraussetzung  steht  und  fällt.     ,.Dafs  es  indessen  mit  dieser  Weg- 
schaffung des  leeren  Raumes  ganz  hypothetisch  zugelit,  darf  Niemand 
befremden,  geht  es  doch  mit  der  Behauptung  desselben  nicht  besser 
zu"  (461).     Man  kann  diese  Frage  dogmatiscli  zu  entscheiden  suchen, 
wie  der  Atomismus,    aber  dann  stützt    man    sich    auf   lauter    meta- 
physische,   und   zwar   transcendent  -  metaphysische  Voraussetzungen, 
die  auf  Sicherheit  keinen  Anspruch  machen  können.     Aus  der  Er- 
fahrung  kann,    wie    schon    die  Vernunftkritik    gelehrt    hat.    niemals 
ein  Beweis   für   den  leeren  Raum  erbracht  werden.     Dabei    müssen 
wir  uns  beruhigen.     Wenn  es  die  Natur  der  metaphysisclien  Körper- 
lehre   so   mit   sich  bringt,    „niemals   etwas  Anderes,    als   sofern   es 
unter  gegebenen  Bedingungen    bestimmt  ist,    zu  begreifen"   (461  f.)» 
für  den  leeren  Raum  es  aber  „an  allen  derartigen  Bedingungen"  fehlt, 
so  bleibt  mithin  jener  Lehre  nichts  übrig,    als  „anstatt  der  letzten 
Grenze  der  Dinge  die  letzte  Grenze  ihres  eigenen  sich  selbst  über- 
lassenen  Vermögens  zu  erforschen  und  zu  bestimmen"  (462). 


b-  Die  Teleologie. 

„Jetzt  gehe  ich  ungesäumt  zur  völligen  Ausarbeitung  der 
Metaphysik  der  Sitten."  So  schrieb  Kant  in  dem  früher  bereits 
erwähnten  Briefe  an  Schütz  vom  13.  September  178:3  kurz  nach 
Vollendung  seiner  „Metaphysischen  Anfangsgründe"  (VIII.  734). 
Die  Ausführung  dieser  Absicht  unterblieb.  Die  Metaphysik  der 
Sitten  erschien  erst  zwölf  Jahre  später  im  Jahre  1797.  Statt 
ihrer  liefs  Kant  1788,  als  Seitenstück  zur  „Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft", seine  „Kritik  der  praktischen  Vernunft"  erscheinen, 
obwohl  er  in  seiner  „Grundlegung"  ausdrücklich  bemerkt  hatte, 
wie  viel  mehr  an  der  Abfassung  einer  Metaphysik  der  Sitten  ge- 
legen sei.  „Zwar  giebt  es  eigentlich  keine  andere  Grundlage  der- 
selben," hatte  Kant  gesagt,  „als  die  Kritik  einer  reinen  praktischen 


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Vernunft,    so   wie    zur  Metaphysik   die   schon  geheferte  Kritik  der 
reinen   spekulativen  Vernunft.     Allein    teils    ist   jene    nicht   von    so 
äufserster  Wichtigkeit,  als  diese,  weil  die  menschliche  Vernunft  im 
Moralischen    selbst    beim    gemeinsten   Verstände    leicht    zu    grofser 
Richtigkeit  und  Ausführlichkeit  gebracht  werden  kann,  da  sie  hin- 
gegen im  theoretischen,  aber  reinen  Gebrauch  ganz  und  gar  dialek- 
tisch   ist;    teils    erfordere    ich    zur   Kritik   einer   reinen  praktischen 
Vernunft,    dafs,    wenn  sie  vollendet  sein  soll,    ihre  Einheit  mit  der 
spekulativen    in    einem    gemeinschaftlichen    Prinzip    zu- 
gleich   müsse    dargestellt    werden   können,  weil  es  doch 
am  Ende  nur  eine  und  dieselbe  Vernunft    sein    kann,    die    blofs    in 
der   Anwendung    unterschieden   sein    mufs.     Zu    einer    solchen 
Vollständigkeit    konnte    ich    es    aber   hier  noch  nicht 
bringen,  ohne  Betrachtungen  von  ganz  anderer  Art  herbeizuziehen 
und  den  Leser  zu  verwirren"  (IV.  239). 

Den    Grund,    weshalb    Kant    von    seinem  ursprünglichen   Plane 
abging  und  zunächst  die  Kritik  der  praktischen  Vernunft  bearbeitete, 
hat  A  dick  es  richtig  angegeben.     Die  Art  der  Behandlung  in  den 
„Metaphysischen  Anfangsgründen"   wurde    zum  Vorbild  für  weitere 
Arbeiten  Kants.     „Hier  war  zum  erstenmal    ein   ganzes  Werk  mit 
Erfolg  auf  Grund  der  Kategorieentafel  aufgebaut.    Es  mufste  Kant 
reizen,  auch  seine  Ethik    in    eine    systematische  Form    zu 
bringen."*)     Dafs    dabei    auch    das   Verhältnis    von    Moral    und 
Religion  näher  entwickelt  werden   konnte   und  Gelegenheit  gegeben 
wurde,   die  aus  der  theoretischen  Vernunft  hinausgewiesenen  Ideen 
durch  die  praktische  sicher  zu  stellen,  dies  Motiv  fiel  um  so  schwerer 
ins    Gewicht,    als    gerade    die    Stellungnahme   Kants   zu  den  Ideen 
„der  eigentliche  Stein  des  Anstofses"  war,  der  viele  nötigte,   „lieber 
die  unthunlichsten,  ja,  gar  ungereimte  Wege  einzuschlagen,  um  das 
spekulative  Vermögen  bis  aufs  Übersinnliche  ausdehnen  zu  können, 
ehe    sie    sich    jener    ihnen    ganz   trostlos  erscheinenden  Sentenz  der 
Kritik    unterwürfen"    (Kants    Brief   an   Schütz   vom  25.  Januar 
1787.  VIII.  735). 

Wer  nach  der  obigen  Bemerkung  Kants  in  seinem  Brief  an 
Schütz  erwartet,  in  der  „Kritik  der  praktischen  Vernunft"  die 
geforderte  Einheit  der  letzteren  mit  der  theoretischen  Vernunft  zur 
Darstellung  gebracht  zu  sehen,  der  wird  zu  seiner  Verwunderung 
finden,  dafs  Kant  sich  hierüber  in  diesem  Werke  gänzlich  aus- 
schweigt. Erst  in  seiner  „Kritik  der  Urteilskraft"  vom 
Jahre  1790  ist  Kant  auf  diese  Frage  näher  eingegangen.     Danach 


•)  Ad  ick  es:  a.  a.  0.  140. 


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406 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


407 


besteht  „eine  unübersehbare  Kluft"  zwischen  dem  Gebiete  des 
Naturbegriffs  unter  der  sinnlichen  Gesetzgebung  des  Verstandes 
und  dem  Gebiete  des  Freiheitsbegriffs  unter  der  übersinnlichen 
Gesetzgebung  durch  Vernunft,  so  dafs  von  dem  ersteren  zum 
anderen  (also  vermittelst  des  theoretischen  Gebrauchs  der  Vernunft) 
kein  Übergang  möglich  ist,  gleich  als  ob  es  so  viel  verschiedene 
Welten  wären,  deren  erste  auf  die  zweite  keinen  Einflufs  haben 
kann"  (V.  182).  „Das  Gebiet  des  Naturbegriffs  unter  der  einen 
und  das  des  Freiheitsbegriffs  unter  der  anderen  Gesetzgebung  sind 
gegen  allen  wechselseitigen  Einiiufs,  den  sie  für  sich  (ein  jedes  nach 
seinen  Grundsätzen)  auf  einander  haben  können,  durch  die  grofse 
Kluft,  welche  das  Übersinnliche  von  den  Erscheinungen  trennt, 
gänzlich  abgesondert.  Der  Freiheitsbegriff  bestimmt  nichts  in  An- 
sehung der  theoretischen  Erkenntnis  der  Natur;  der  Naturbegriff 
ebensowohl  nichts  in  Ansehung  der  praktischen  Gesetze  der  Frei- 
heit, und  es  ist  insofern  nicht  möghch,  eine  Brücke  von  einem  Ge- 
biete zudem  andern  hinüberzuschlagen"  (201).  Und  doch  sollen 
beide  sich  gegenseitig  beeinflussen.  „Der  Freiheitsbegriff  soll  den 
durch  seine  Gesetze  aufgegebenen  Zweck  in  der  Sinnenwelt  wirklich 
machen,  und  die  Natur  muCs  folglich  auch  so  gedacht  werden 
können,  dafs  die  Gesetzmäl'sigkeit  ihrer  Form  wenigstens  zur  Mög- 
lichkeit der  in  ihr  zu  bewirkenden  Zwecke  nach  Freiheitsgesetzen 
zusammenstimme"  (182).  Welches  ist  der  Grund  der  Einheit  des 
Übersinnlichen,  wne  es  der  Natur  zu  (ii-unde  liegt,  mit  dem,  was 
der  Freiheitsbegrift'  i)raktisch  enthält?  Vor  diese  Frage  sah  sich 
Kant  naturgemäfs  durch  den  Parallelismus  seiner  beiden  Kritik 
gestellt,  und  ihre  Beantwortung  mufste  ihm  deslialb  so  besonders 
wichtig  scheinen,  weil  der  einheitliche  Charakter  des  Systems 
gegenüber  dem  Dualismus  der  theoretischen  und  der  ]jraktischen 
Vernunft  von  ihr  abhing. 

Zwischen  dem  Wahren  und  dem  Guten  in  der  Mitte  steht  das 
Schöne,  zwischen  Natur  und  Freiheit  die  Kunst.  Die  künstlerische 
Idee  ents})ringt  dem  freien  Spiel  der  menschlichen  Verstandeskräfte 
und  bedarf  doch  der  natürlichen  Vermittelung.  um  sich  im  Kunst- 
werk zur  Erscheinung'  zu  bringen.  Es  lag  nahe,  nach  dieser  Kich- 
tung  hin  das  Bindeglied  zu  suchen,  das  die  Kluft  zwischen  dem 
Natur-  und  dem  Sittengesetz,  zwisclien  der  sinnlichen  und  über- 
sinnlichen Welt  aufhebt.  Diesen  Weg  vermochte  Kant  nicht  zu 
beschreiten.  Um  dem  Schönen  eine  solche  Vermittlerrolle  einzu- 
räumen, dazu  hätte  es  der  Anerkennung  bedurft,  dafs  eine  Be- 
urteilung desselben  nach  Vernunftprinzipien  möglich  sei.  Kant 
jedoch    war    der    Ansicht,    und    er    hatte    dies   zuletzt   noch  in  der 


zweiten  Auflage  seiner  Vernunftkritik  wieder  ausgesprochen,  die 
kritische  Beurteilung  des  Schönen  nach  derartigen  Prinzipien  sei 
vergeblich,  „denn  gedachte  Regeln  oder  Kriterien  sind  ihren  vor- 
nehmsten Quellen  nach  blofs  empirisch  und  können  also  niemals 
zu  bestimmten  Gesetzen  a  priori  dienen,  wonach  sich  unser  Ge- 
schmacksurteil richten  müfste"  (III.  56).  Ein  solches  Urteil  näm- 
lich ist  blofs  subjektiv,  es  giebt  keine  Beschaffenheit  des  Gegen- 
standes selber  an,  sondern  enthält  blofs  eine  Beziehung  der  Vor- 
stellung des  Gegenstandes  auf  das  Subjekt,  wodurch  es  in  ihm  Lust 
erweckt;  und  da  kann  man  nicht  hoffen,  apodiktische  Gewifsheit 
zu  erlangen. 

Aber  man  braucht  sich  ja  nur  klar  zu  machen,  dafs  die  Frei- 
heit nur  dann  ihre  Zwecke  in  der  Natur  realisieren,  die  Natur  nur 
dann  dieser  Kealisation   gleichsam    entgegen    kommen    kann,    wenn 
sie  auch  selbst  der  Idee  des  Zwecks  sich  unterwerfen  läfst.    Nicht 
als  ob  die  Natur  wirklich  von  Zwecken  beherrscht  wäre  —  es  handelt 
sich  ja  blofs  um  die  Möglichkeit  einer  Idee,  und  somit  genügt  es  schon, 
dafs    die   Natur    wenigstens    dem  Begriff   des  Zwecks    nicht   wider- 
streitet.    Allein  wenn  man  sich  ein  solches  Reich  der  Zwecke  vor- 
stellen soll,  wie  die  Ethik  befugt  ist,  es  als  ihren  Schlufsstein  hin- 
zustellen,   ein  Reich,    worin  Keiner  vor  dem  Anderen  etwas  voraus 
hat,    sondern    alle    selbständige   und  gleichberechtigte  Glieder  eines 
einheitlichen    Organismus    bilden,     wenn    man    diesen    moralischen 
Glauben    haben    soll,    dann   niufs   die   Natur   auch    als    eine  solche 
wenigstens    sich    denken    lassen,    welche    selbst   zweckmäfsig    ein- 
gerichtet  ist.     Der    Gegensatz    von    theoretischer    und    praktischer 
Verimnft  leitet  somit  von  selbst  aus  der  Etliik  auf  die  Naturphilo- 
soj)hie  zurück,    worin  die    Teleologie    ursj)rünglich    heimisch  ist. 
Der    Gedanke    eines    moralischen    Reichs    der    Zwecke    verschmilzt 
mit    demjenigen   des  natürlichen  Reichs    der  Zwecke  zum    natur- 
pliilosoj)hisch  en    Problem,    und  von  dem  Seitenpfade  seiner 
ethischen  Spekulationen  biegt  Kant  wieder  in  seinen  ursprünglichen 
llauptpfad  ein. 

Man  erimiere  sich,  wie  die  Teleologie  von  jeher  ein  Lieblings- 
gedanke Kants  gewesen,  und  man  wird  sich  vorstellen  können,  wie 
begierig  er  die  Gelegenheit  ergreifen  mufste,  ihr  einen  Platz  im 
System  anzuweisen.  Kants  tief  religiöse  Natur  liefs  es  nicht  zu, 
diesen  sinnvoll  eingerichteten  Kosmos  lediglich  als  das  Werk  blind 
waltender  Kräfte  sich  vorzustellen.  Auf  der  andern  Seite  durfte 
er  aber  auch,  als  Anwalt  der  Naturwissenschaft,  dem  Mechanismus 
nicht  die  Berechtigung  absprechen ;  er  durfte  nicht  zugeben,  dafs 
der  Kausalzusammenhang  der  Welt  irgendwo  eine  Lücke  aufweise. 


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B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


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besteht    „eine    unübersehbare    Kluft"    zwischen    dem    Gebiete    des 
Naturbegriffs    unter    der    sinnlichen    Gesetzgebung    des    Verstandes 
und    dem    Gebiete    des    Freiheitsbegriffs  unter    der    übersinnlichen 
Gesetzgebung    durch    Vernunft,    so    dafs    von    dem    ersteren    zum 
anderen  (also  vermittelst  des  theoretischen  Gebrauchs  der  Vernunft) 
kein  Übergang  möglich  ist,    gleich    als    ob    es    so   viel  verschiedene 
Welten    wären,    deren   erste    auf   die   zweite  keinen  Einfiufs  haben 
kann"  (V.  182).     „Das  Gebiet  des   Naturbegriffs    unter   der   einen 
und  das  des  Freiheitsbegriffs  unter  der  anderen  Gesetzgebung  sind 
gegen  allen  wechselseitigen  EinÜufs,  den  sie  für  sich  (ein  jedes  nach 
seinen  Grundsätzen)  auf  einander  haben  können,    durch    die    grofse 
Kluft,    welche    das    Übersinnliche    von   den    Erscheinungen    trennt, 
gänzhch  abgesondert.     Der  Freiheitsbegriff  bestimmt  nichts  in  An- 
sehung   der   theoretischen  Erkenntnis  der  Natur;    der  Naturbegriff 
ebensowohl    nichts   in  Ansehung  der  praktischen  Gesetze  der  Frei- 
heit, und  es  ist  insofern  nicht  möglich,  eine  Brücke  von  einem  Ge- 
biete zudem  andern  hinüberzuschlagen"  (201).     Und  doch  sollen 
beide  sich  gegenseitig  beeinflussen.     „Der  Freiheitsbegriff    soll  den 
durch  seine  Gesetze  aufgegehenen  Zweck  in  der  Sinnenwelt  wirklich 
macheu,    und    die    Natur    mufs    folglich    aucli    so    gedacht   werden 
kiHinen,  dafs  die  Gesetzmäfsigkeit  ihrer  Form  wenigstens  zur  Mög- 
lichkeit   der    in    ihr  zu  bewirkenden  Zwecke  nacli  Freiheitsgesetzen 
zusammenstimme"    (182).     Welches  ist    der  Grund  der  Einheit  des 
Übersinnlichen,    wie   es    der  Natur  zu  Grunde  liegt,    mit  dem,  was 
der  Freiheitsbegrifl'  praktisch    enthält?     Vor  diese  Frage    sah  sich 
Kant    naturgemäis    durch    den    Parallelismus    seiner  beiden  Kritik 
gestellt,    und    ihre  Beantwortung   mufste   ihm  deshalb  so  besonders 
wichtig    scheinen,    w^eil    der    einheitliche    Charakter    des    Systems 
gegenüber    dem    Dualismus    der  theoretischen    und  der  praktischen 
Vernunft  von  ihr  abhing. 

Zwischen  dem  Wahren  und  dem  Guten  in  der  Mitte  steht  das 
Schöne,  zwischen  Natur  und  Freiheit  die  Kunst.  Die  künstlerische 
Idee  entspringt  dem  freien  Spiel  der  menschlichen  Verstandeskräfte 
und  l)edarf  doch  der  natürhchen  Vermittelung.  um  sich  im  Kunst- 
werk zur  Erscheinung  zu  bringen.  Es  lag  nahe,  nach  dieser  Kich- 
tung  hin  das  Bindeglied  zu  suchen,  das  die  Kluft  zwischen  dem 
Natur-  und  dem  Sittengesetz,  zwischen  der  sinnlichen  und  über- 
sinnlichen AVeit  aufhebt.  Diesen  Weg  vermochte  Kant  nicht  zu 
beschreiten.  Um  dem  Schönen  eine  solche  Vermittlerrolle  einzu- 
räumen, dazu  hätte  es  der  Anerkennung  bedurft,  dafs  eine  Be- 
urteilung desselben  nach  Vernunftprinzipien  möglich  sei.  Kant 
jedoch    war    der    Ansicht,    und    er   hatte    dies  zuletzt  noch  in  der 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


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zweiten  Auflage  seiner  Vernunftkritik  wieder  ausgesprochen,  die 
kritische  Beurteilung  des  Schönen  nach  derartigen  Prinzipien  sei 
vergeblich,  „denn  gedachte  Eegeln  oder  Kriterien  sind  ihren  vor- 
nehmsten Quellen  nach  blofs  empirisch  und  können  also  niemals 
zu  bestimmten  Gesetzen  a  priori  dienen,  wonach  sich  unser  Ge- 
schmacksurteil richten  müfste"  (III.  56).  Ein  solches  Urteil  näm- 
lich ist  blofs  subjektiv,  es  giebt  keine  Beschaffenheit  des  Gegen- 
standes selber  an,  sondern  enthält  blofs  eine  Beziehung  der  Vor- 
stellung des  Gegenstandes  auf  das  Subjekt,  wodurch  es  in  ihm  Lust 

erweckt;    und    da   kann   man  nicht  hoffen,    apodiktische  Gewifsheit 
zu  erlangen. 

Aber  man  braucht  sich  ja  nur  klar  zu  machen,  dafs  die  Frei- 
heit nur  dann  ilire  Zwecke  in  der  Natur  realisieren,  die  Natur  nur 
dann  dieser  Eealisation  gleichsam    entgegen    kommen   kann,    wenn 
sie  auch  selbst  der  Idee  des  Zwecks  sich  unterwerfen  läfst.    Nicht 
als  ob  die  Natur  wirklich  von  Zwecken  beherrscht  wäre  —  es  handelt 
sich  ja  blofs  um  die  Möglichkeit  einer  Idee,  und  somit  genügt  es  schon, 
dafs   die  Natur    wenigstens   dem  Begriff   des  Zwecks   nicht  wider- 
streitet.    Allein  wenn  man  sich  ein  solches  Keich  der  Zwecke  vor- 
stellen soll,  wie  die  Ethik  befugt  ist,  es  als  ihren  Schlufsstein  hin- 
zustellen,   ein  Eeich,    w^orin  Keiner  vor  dem  Anderen  etwas  voraus 
hat,    sondern    alle   selbständige   und  gleichberechtigte  Glieder  eines 
einheitlichen    Organismus    bilden,     wenn    man    diesen    moralischen 
Glauben    haben    soll,    dann   mufs   die   Natur   auch    als    eine  solche 
wenigstens    sich    denken   lassen,    welche    selbst   zweckmäfsig    ein- 
gerichtet  ist.     Der    Gegensatz    von    theoretischer    und    praktischer 
Vernunft  leitet  somit  von  selbst  aus  der  Ethik  auf  die  Naturphilo- 
sophie zurück,    worin  die   Teleologie    ursprünglich   heimisch  ist. 
Der    Gedanke    eines    moralischen    Keichs    der   Zwecke    verschmilzt 
mit    demjenigen    des  natürlichen  Reichs    der  Zwecke  zum    natur- 
philosophischen   Problem,    und  von  dem  Seitenpfade  seiner 
ethischen  Spekulationen  biegt  Kant  wieder  in  seinen  ursprünglichen 
Hauptpftxd  ein. 

Man  erinnere  sich,  wie  die  Teleologie  von  jeher  ein  Lieblings- 
gedanke Kants  gewesen,  und  man  wird  sich  vorstellen  können,  wie 
begierig  er  die  Gelegenheit  ergreifen  mufste,  ihr  einen  Platz  im 
System  anzuweisen.  Kants  tief  religiöse  Natur  liefs  es  nicht  zu, 
diesen  sinnvoll  eingerichteten  Kosmos  lediglich  als  das  Werk  blind 
waltender  Kräfte  sich  vorzustellen.  Auf  der  andern  Seite  durfte 
er  aber  auch,  als  Anwalt  der  Naturwissenschaft,  dem  Mechanismus 
nicht  die  Berechtigung  absprechen;  er  durfte  nicht  zugeben,  dafs 
der  Kausalzusammenhang  der  Welt  irgendwo  eine  Lücke  aufweise. 


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B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


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Aus  diesem  doppelseitigen  Bedürfnis  entsprang  das  Streben  Kants, 
zwischen  Teleologie  und  Mechanismus  zu  vermitteln,  wie  es  bereits 
in  dem  Grundgedanken  seiner  „Naturgeschichte  und  Theorie  des 
Himmels"  hervortrat,  um  seinen  vorläufigen  Abschlufs  in  der  Ver- 
nunftkritik  zu  finden  in  der  Lehre,  dafs  die  Teleologie  nicht  ein 
konstitutives,  sondern  ein  blofs  regulatives  Prinzip  sei,  und  dafs  dem 
einheitlichen  Weltgrund,  wodurch  sie  bedingt  ist,  nur  die  Bedeutung 
einer  subjektiven  Idee  zukomme. 

Die  Vernunft  giebt  die  Idee  des  absoluten  Wesens  an  die  Hand 
und  berechtigt  uns  dadurch,  die  Natur  als  eine  zweckmäfsige  an- 
zusehen. Aber  die  nämliche  Vernunft,  die  das  Mannigfaltige  des 
uns  vom  Verstände  gelieferten  Erkenntnismaterials  dadurch  ordnet, 
dafs  sie  uns  nötigt,  es  auf  jene  Idee  zu  beziehen,  zwingt  uns  auch, 
ins  Innere  der  Natur  hinabzusteigen,  den  Besonderungen  derselben 
nach  Gattungen,  Arten  u.  s.  w.  nachzugehen  und  scheint  damit 
einer  einheitlichen  Auffassung  des  Naturganzen  auf  der  einen  Seite 
ebenso  zu  widerstreben,  wie  sie  dieselbe  auf  der  anderen  verlangt. 
Das  Prinzip  der  Honiogeneität  ist  der  Vernunft  nicht  weniger 
eigentümlich,  wie  das  Prinzip  der  Spezifikation.  Wie  kann  die 
Vernunft  so  Entgegengesetztes  zugleich  gebieten?  Wie  kommt  sie 
dazu,  deren  Aufgabe  es  doch  ist,  systematische  Einheit  unserer 
Erkenntnis  herzustellen,  das  Zustandekommen  einer  solchen  Einheit 
dadurch  zu  erschweren,  dafs  sie  uns  anweist,  nichts  als  Letztes 
anzusehen?  Woher  überhaupt  die  Spezifikation,  da  doch  der  ganze 
Apparat  unserer  geistigen  \'ermögen  darauf  ausgeht,  die  Mannig- 
faltigkeit der  sinnhchen  Empfindungen  unter  einheitliche  Beziehungen 
zu  brintren? 

Der  Verstand  gieht  die  allgemeinen  Gesetze  der  Natur. 
Er  drückt  den  empirischen  Faktoren  der  Empfindung  den  Stempel 
seiner  synthetischen  Intellektualfunktionen  auf  und  erhebt  sie  eben 
damit  zu  Momenten  der  Erfalirung.  „Allein  es  sind  so  mannig- 
faltige Formen  der  Natur,  gleichsam  so  viele  Modifikationen  der 
allgemein  transcendentalen  Naturbegriflfe,  die  durch  jene  Gesetze, 
welche  der  reine  Verstand  a  priori  giebt,  weil  dieselben  nur  auf 
die  ^Möglichkeit  einer  Natur  (als  Gegenstandes  der  Sinne)  überhaupt 
gehen,  unbestimmt  gelassen  werden,  dafs  dafür  doch  auch 
Gesetze  sein  müssen,  die  zwar,  als  empirische,  nach  unserer 
Verstandeseinsicht  zufällig  sein  mögen,  die  aber  doch,  wenn  sie 
Gesetze  heifsen  sollen  (wie  es  auch  der  Begriff  einer  Natur  erfordert) 
aus  einem,  wenngleich  uns  unbekanntem  Prinzip  der  Einheit  des 
Mannigfaltigen  als  notwendig  angesehen  werden  müssen"   (V.  18ö). 


In  der  Vernunftkritik  hatte  Kant  diese  Frage    noch   bei  Seite 
geschoben.     Zwar   seien,    wie    er   bemerkt    hatte,    alle    empirischen 
Gesetze  nur  besondere  Bestimmungen  der  reinen  Gesetze  des  Ver- 
standes, allein  er  hatte  ausdrücklich  betont,  dafs   es  unmöglich  sei, 
sie   aus  diesen   a  priori   abzuleiten.     Als    er    nun    aber    durch    die 
Teleologie    darauf   geführt    wurde,    die    Stellung    des  Prinzips    der 
Spezifikation  innerhalb  der  Vernunft  ins  Auge  zu  fassen,  wo  er  es 
früher  einstweilen  untergebracht  hatte,  indem  er  bei  der  Beziehung 
der  Teleologie    zur  Idee    der    Einheit   und    dem  Gegensatze    dieser 
Einheit  zum  Prinzip   der  Spezifikation    auch    auf  das    letztere   auf- 
merksam wurde,    wobei  auch  noch    der  Umstand    mitgewirkt  haben 
mag,    dafs    die    „Metaphysischen  Anfangsgründe"    ihre    Unfähigkeit 
hatten  eingestehen   müssen,    die  Besonderungen    der  Materie    zu  er- 
klären   und    dieses    Problem    ihn    seither   nicht    wieder    losgelassen 
hatte,  da  lag  es  nahe,  beide  Probleme  mit  einander  zu  verschmelzen. 
Es  eröffnete   sich   die  Möglichkeit,    nicht    blofs   den   Gegensatz    der 
beiden   Vernunftprinzipien    auszugleichen,    sondern    auch    die    obige 
Frage  zu    lösen,    wie  überhaupt   die  Spezifikation    der  Naturgesetze 
möglich  sei. 

In    dem    nunmehrigen  Zusammenhange    der    letzteren    mit  dem 
Problem    der    Teleologie    konnte    es    nicht   schwer  fallen,    eine  Ant- 
wort zu  finden.    Die  beiden  verschiedenartigen  Funktionsweisen  der 
Vernunft,  die  Homogeneität  und  die  Spezifikation,  können  nur  dann 
sich  nicht    gegenseitig  auflieben,    wenn  sie  in    irgend  einem  Punkte 
übereinstimmen,  von  dem  aus  betrachtet  sie  nur  als  die  verschiedenen 
Seiten  eines  und  des  nämlichen  Prinzips  erscheinen.     Dieser  Punkt 
aber    kann    nur    die  Zweckmäfsigkeit    sein.     Die  Idee    der    Einheit 
legt  sich  in  die   Vielheit  ihrer  Besonderungen  auseinander,   um  sich 
in  der  Zweckmiilsigkeit  der  letzteren  zu  offenbaren,  und  die  Zweck- 
mäfsigkeit in  der  Vielheit  der  Besonderungen  leitet  uns  auf  die  Idee 
der  Einheit  hin,  welche  den  Schlufsstein  unserer  systematischen  Er- 
kenntnis   bildet.      Die    Zweckmäfsigkeit    ist    das    gemeinschaftliche 
Prinzip,  das  sich  nach  der  einen  Seite  als  Prinzip  der  Homogeneität, 
nach    der    andern    als  Prinzip    der    Spezifikation    besondert.     Damit 
gewann  sie  eine  ganz  andere  Bedeutung,  wie  sie  ihr  Kant  bis  dahin 
zugeschrieben  hatte.    War  sie  ihm  bisher  nur  als  eine  blofse  Folge 
aus  der  Idee  der  Einheit  erschienen,  so  trat  sie  nun  als  ein  selb- 
ständiges Prinzip  dieser  letzteren  an  die  Seite,   wurde  sie  nun 
selbst  zum  Prinzip  a  priori,  das  eine  eigene  Betrachtung  nötig 
machte. 

Hätte  Kant    den   Begrifi'   des    Zweckes    unbefangen    betrachtet, 
so  wäre    kein  Grund  gewesen,    ihn    nicht  in    seiner  Kategorieentafel 


,J^ 


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410 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


iL  Die  kritische  Naturphilosophie, 


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aufzuführen,    da    er    alle    Eigenschaften    eines    reinen    Verstandes- 
begriffes besitzt.  *)    Aber  einerseits  hat  Kant  das  ganz  richtige  Ge- 
fühl, dafs  er  alsdann  seine  früheren  Werke  gänzlich  hätte  umarbeiten 
müssen,  und  andererseits  sollte  ja  der  Zweck  dazu  dienen,  die  Kluft 
zwischen  Natur  und  Freiheit  auszufüllen,   durfte  mithin  selbst  nicht 
zu    den    Naturbegriffen,    wie    der    Verstand    sie    enthält,    gerechnet 
werden.     Dem  Verstände    glaubte  Kant    den  Zweck    schon  deshalb 
nicht  zuschieben  zu  kcinnen,  weil  er  nicht  eigentlich  wahrgenommen, 
nicht  aus  der  Erfahrung  gezogen,   mithin  seiner  objektiven  Realität 
nach    gar  nicht   eingesehen,    sondern  von    uns    nur    erschlossen  oder 
zur  Erfahrung  hinzugedacht  werden  kann   (V,  408.  409.  412.  195). 
Erweist  sich    der  Zweck  hiernach  als  ein    blofs  regulatives  Prinzip, 
so  scheint  er   mithin    der  Vernunft  anzugehciren,    und  Kant  vermag 
auch  nicht  zu  leugnen,  dafs  der  Begriff  eines  Naturzwecks  mit  dem 
Charakter  der  Vernunftidee  insofern  übereinstimmt,  als  die  Ursache 
der  Miigliehkeit    eines    solchen    Prädikats    nur    in    der  Idee    liegen 
kann.    „Aber  die  ihr  gemäfse  Folge  (das  Produkt  selbst)  ist  doch  in 
der  Natur  gegeben,  und  der  Begriff  einer  Kausalität  der  letzteren, 
als  eines  nach   Zwecken    handcdnden  Wesens,    scheint    die  Idee    des 
Naturzwecks  zu    einem  konstitutiven  Prinzip   desselben  zu    machen; 
und  darin  liat  sie  etwas  von  allen  anderen  Ideen  Unterscheidendes" 
(418).     Dieses  Unterscheidungsmerkmal    ist    nun    freilich    keins,    da 
ja    das    Eigeiitüniliche    der     Ideen     i^anz    allgemein    darin     bestehen 
soll,    den    Schein    der    Konstitutivität    bei    sich    zu    füliren.      Kant 
wäre    auch   wohl    niemals    auf   den  Einfall    gekommen,    dem  Zweck 
eine  derartige  Besonderheit  anzudichten,   hätte  er  ihn  eben  nicht  zur 
Brücke  zwischen  Natur  und  Freiheit  benutzen  wollen  und  damit  sich 
selbst    in    die  Zwangslage  versetzt    gehabt,    ihn    auch    als  Freiheits- 
begrilV  nicht  gelten  zu  lassen.     Gehörte  aber  der  Zweck  weder  der 
Natur,   noch  der  Freiheit,  weder  der  Vernunft,   noch  dem  Verstände 
an,  dann  blieb  nichts  übrig,    als  einen    anderen  Platz    für    ihn  aus- 
findig zu  machen,   der  ihm  zugleich    eruK »glühte,    seine  Vermittler- 
rolle auszuüben. 

Der  Verstand  enthält  konstitutive  ]*rinzii)ien  a  priori  für  das 
E  r  k  e  n  n  t  n  i  s  v  e  r  in  ö  g  e  n ,  die  zugleich  allgemeine  Naturgesetze 
sind  und  den  Begriff'  der  theoretischen  Vernunft  begründen.  Die 
Vernunft  enthält  ebensolche  Gesetze  für  das  Begehrungsvermögen, 
die  Gesetze  der  Freiheit  sind  und  die  Unterscheidung  der  praktischen 
Vernunft  bedingen.  „Da  nun  m  der  Zergliederung  der  Gemüts- 
vermögen überhaui)t  ein  G  e  f  ü  h  1  d  e  r  L  u  s  t  unwiderstehlich  gegeben 


*j  V.  Hartmann:  Kants  Erkenntnistheorie  u.  Metaphysik  228  ff. 


ist,    zu    der  Verknüpfung    desselben   aber    mit    den    beiden  anderen 
Vermögen  in  einem  Systeme  erfordert  wird,  dafs  dieses  Gefühl  der 
Lust,    so  wie  die    beiden  anderen   Vermögen    nicht  auf  blofs    empi- 
rischen Gründen,    sondern  auch   auf  Prinzipien  a  priori  beruhe,    so 
wird  zur  Idee  der  Philosophie,  als  eines  Systems,  auch  eine  Kritik 
d  e  s  G  e  f  ü  h  1  s  d  e  r  L  u  s  t  u  n  d  U  n  1  u  s  t ,  sofern  sie  nicht  empirisch 
begründet  ist,  erfordert  werden"  (VI.  880).     Es  war  dies  zunächst 
eine    blofse  Forderung   der  Systematik,    die   aber   doch    unerfüllbar 
schien,  weil  die  „Verlegenheit  wegen  eines  Prinzips"  (V.  170)  nirgends 
so  auffällig  war,  wie  gerade  beim  Gefühlsvermögen.     Oder  welches 
'    andere  Gefühl  bot  noch  am  ehesten  die  Gewähr,    dafs  es.  obschon, 
als  Gefühl,  rein  subjektiver  Natur,    dennoch  einen    mehr  objektiven 
Ciiarakteran  sich  trage  als  das  ästhetische  Gefühl?  —  und  gerade 
die  ästhetischen  Urteile   hatte  ja  Kant  aus  dem  Bereiche  der  apo- 
diktischen Erkenntnis  ausgeschlossen,    weil  ihnen  die  Allgemeinheit 
und  Notwendigkeit   zu  mangeln  schien.     Und    doch    mui's    entweder 
die  Einteilung  der    sogenannten    „Gemütsvermögen"  in  Erkenntnis-, 
Gefühls-  und  Begehrungsvermögen,  die  Grundvoraussetzung  des  ganzen 
Vernunftsystems,  falsch  sein,  oder  es  mufs  auch  das  Gefühl  der  Lust 
und   Unlust    auf    einem   Prinzip    a    ])riori    beruhen,    das    ihm  seine 
Selbständigkeit  neben  den  beiden  anderen  Vermögen  sichert. 

Diese  rein  systematischen  Erwägungen  begegneten  sich  mit  dem 
Suchen  Kants    nach    einem  Platze    für    die  Teleologie.    um    ihn  die 
Entscheidung  treffen  zu  lassen.     Was    die  Ästhetik  für    sich   allein 
nicht  hatte  erreichen  können :  den  Philosophen  zum  Aufsuchen  eines 
Prinzips  a  priori  für  das  Gefühlsvermögen  zu  veranlassen,  das  brachte 
die  Natur])hilosophie  vermittelst  des  teleologischen  Problems  zustande. 
Kant  legte  sich  die  Frage  vor,  ob  nicht  am  Ende  die  Zweckmäfsig- 
keit  jenes  apriorische  Prinzip  des  Gefühlsvermögens  sei.  und  er  wird 
für    seiner   Person    wenigstens    dieselbe    schon    mit   Ja    beantwortet 
haben,    noch  ehe  er  die  innere  Beziehung  der  beiden  Prinzipien  zu 
einander  entdeckt  hatte.    Nun  galt  ihm  die  Zweckmäfsigkeit  für  das 
Prinzip    der   Besonderungen    der   Natur.     In    dieser  Ilichtung    also 
niufste  ihre  Verbindung  mit  dem   Gefühlsvermögen  gesucht  werden. 
Die    allgemeinen    Gesetze   der  Natur   sind    der   letzteren  not- 
wendig, denn  es  sind  die  apriorischen  Gesetze  des  Verstandes,  die 
den  Begriff  der  Natur  konstituieren.     Die  besonderen  Naturgesetze 
dagegen  sind  blofs  bedingt  notwendig  oder  zufällig,  und  da  „läfst 
es  sich  wohl  denken,  dafs,   ungeachtet  aller  der  Gleichförmigkeit  der 
Naturdinge  nach  den  allgemeinen  Gesetzen,    ohne  welche  die  Form 
einer  Erfahrungserkenntnis    überhaupt   gar  nicht    stattfinden  würde, 
die  spezifische  Verschiedenheit   der   empirischen  Gesetze  der  Natur 


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412 


ß.    Kant  als  Naturphilosoph. 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


413 


samt    ihren  Wirkungen    dennoch  so  grofs   sein  könnte,    dafs  es    für 
unseren  Verstand  unmöglich  wäre,  in  ihr  eine  fafsliche  Ordnung  zu 
entdecken,    ihre  Produkte  in  Gattungen  und  Arten  einzuteilen,    um 
die  Prinzipien  der  Erklärung  und  des  Verständnisses  des  einen  auch 
zur  Erklärung   und  Begreifung   des  andern  zu  gebrauchen  und  aus 
einem  für  uns  so  verworrenen  (eigentlich  nur  unendlich  mannigfaltigen, 
unserer  Fassungskraft    nicht    angemessenen)  Stoffe    eine    zusammen- 
hängende Erfahrung  zu    machen"  (191  f.).     Wenn  es  nun  trotzdem 
gelingt,    Einheit  der  Prinzipien  in  sie  hineinzuhringen,    so  ist    diese 
Übereinstimmung   der  Natur    mit  unserem  Bedürfnis  blofs  zufällig; 
weil  sie  aber  doch    die  einzige  Bedingung  bildet,    unter  der  Natur- 
erkenntnis  möglich  ist,    so   müssen    wir   eine  Zweckmäfsigkeit 
darin    erblicken,    dais    die  Natur    unserem    Bedürfnis    so    gleichsam 
entgegenkommt,    und  das  Bewul'stsein  dieser   Ubereinstininunig 
derselben    mit    unserer    auf  Erkenntnis    gerichteten  Absicht    ist   es, 
was  in  uns  ein  Gefühl  der  Lust  erweckt  (193).     „In  der  That, 
da  wir  von  dem  Zusammentreffen  der  Wahrnehmungen  mit  den  Ge- 
setzen nach  allgemeinen  Naturbegritfen  (den  KategorieenJ  nicht  die 
mindeste  Wirkung  auf  das  Gefühl  der  Lust  in  uns  antreffen,  auch 
nicht  antreffen  können,  weil  der  Verstand  damit  unabsichtlich  nach 
seiner  Natur  notwendig  verfährt;    so  ist  andererseits    die  entdeckte 
Vereinbarung  zweier  oder  mehrer  empirischen  heterogenen  Naturgesetze 
unter  einem  sie  beide  befassenden  Prinzip  der  Grund  einer  sehr  merk- 
lichen Lust,  oft  sogar  einer  Bewunderung,  sell)st  einer  solchen,   die 
nicht  aufhört,  ob  man  schon  mit  dem  Gegenstande  derselben  genug 
bekannt  ist"  (ebd.  f.).    Zwar  mufs  Kant  einräumen,  dafs  wir  an  der 
Einheit  der  Natur,  soweit  sie  sich  auf  ihre  Einteilung  in  Gattungen, 
Arten   u.   s.  w.    bezieht,    eigentlich    keine  merkliche  Lust  verspüren. 
Auch  ist  es  nicht  richtig,  dafs  die  llbereinstimmung  unserer  Wahr- 
nehmungen   mit   der    kategorialen  Gesetzmäfsigkeit,    also    z.   B.    die 
Entdeckung    des    Kausalzusamnu'nhanges    verschiedenartiger    Natur- 
erscheinungen, unser  Gefühl  nicht  aftiziere.    Allein  Kant  tröstet  sich 
damit,    die  Lust   sei    „zu  ihrer  Zeit"    doch  einmal    dagewesen,    sie 
werde  bloTs  infolge  der  Alltäglichkeit  nicht  mehr  bemerkt;   und  was 
das  zweite  anbetrifi't,  so  durfte  er  hier  einfach  ein  Lustgetuhl   nicht 
zugeben,    wofern    nicht    sein    ganzes   Bäsonnement    hinfällig   werden 
sollte. 

Jedenfalls  ist  das  Gefühl  der  Lust  durch  einen  Grund  a  ])riori 
und  für  Jedermann  gültig  bestimmt.  Dann  hat  ja  also  das  Gefühls- 
vermögen ein  Prinzip  a  priori,  was  Kant  bis  dahin  stets  geleugnet 
hatte;  und  wenn  auf  der  Beziehung  zu  ihm  das  ästhetische 
Urteil  beruht,  dann  mufs  es  ja  auch  eine  „Kritik  des  Geschmackes" 


geben,  so  gut,  wie  es  eine  Kritik   der  theoretischen   und  der  prak- 
tischen Erkenntnis  gab.    Die  Ästhetik,  die  er  bisher  nur  immer  als 
einen  der  Philosophie  unwürdigen  Gegenstand  bei  Seite  geschoben  hatte, 
hörte  damit  auf,  ein   blofses  Feld  geistreicher  Einfälle  zu  sein,  und 
rückte,  mit  dem  Pafs  der  Wissenschaftlichkeit  ausgerüstet,  in  den  Kreis 
der  philosophischen  Disziplinen  ein!    Als  Kant  sich  dies  klar  machte, 
fing  das  naturphilosophische  Problem  an,  in  seinem  Bewufstsein  zu  ver- 
blassen, und  die  Teleologie  hatte  ihm  zunächst  nur  insofern  Interesse, 
als  sie  zum  Prinzip  für  eine  Kritik  des  Geschmackes  dienen  konnte. 
Auf   diesem   Punkte    seiner    Gedankenentwickelung    war    Kant 
angelangt,    als    er   in    seinem  Briefe   an  Rein  hold    vom    18.    De- 
zember 1787  schrieb:    „Wenn  ich  bisweilen  die  Methode  der  Unter- 
suchung über    einen  Gegenstand   nicht  recht  anzustellen  weifs,  darf 
icli    nur  nach    jener  allgemeinen   Verzeichnung    der  Elemente    der 
Erkenntnis  und  der  dazu    gehörigen  Gemütskräfte  zurücksehen,  um 
Aufschlüsse    zu  bekommen,    deren  ich   nicht   gewärtig  war.     So  be- 
schäftige ich  mich  jetzt  mit  der  Kritik  des  Geschmacks,   bei  welcher 
Gelegenheit   eine   andere  Art  von  Prinzipien  a  priori  entdeckt  wird 
als    die    bisherigen.     Denn    die  Vermögen    des   Gemüts    sind    drei: 
Erkenntnisvermögen,  Gefühl  der  Lust  und  Unlust  und  Begehrungs- 
vermögen.    Für  das  erste  habe  ich  in  der  Kritik  der  reinen  (theo- 
retischen),   für   das    dritte    in    der  Kritik    der  i)raktischen  Vernunft 
Prinzipien  a  priori    gefunden.     Ich  suchte   sie  auch    für  das    zweite 
und,  ob  ich  es  zwar  sonst  für  unmöglich  hielt,  dergleichen  zu  finden, 
so  brachte    das  Systematische,    das    die  Zergliederung 
der  vorher    betrachteten  Vermögen    mich   im    mensch- 
lichen Gemüte  hatte  entdecken  lassen,  mich  doch  auf 
diesen  Weg,   sodafs  ich  jetzt  drei  Teile  der  Philosophie  erkenne, 
deren  jede  ihre  Prinzipien  a  priori  hat,  die  man  abzählen  und  den 
Umfang  der  auf  solche  Art  mciglichen  Erkenntnis  sicher  bestimmen 
kann :   —  theoretische  Philosophie,  Teleologie  und  praktische  Philo- 
sophie, von  denen  freilich  die  mittlere  als  die  ärmste  an  Bestimmungs- 
gründen   a  priori    befunden  wird"  (VIII.   739  f.).     Hier   giebt   also 
Kant  selbst  zu,  blofs  aus  systematischen  Gründen  auf  den  Gedanken 
einer  Ästhetik  gekommen  zu  sein,    die  natürlich    nun  gleichfalls  auf 
dem  Prinzi])  der  Teleologie    beruhen   mufste.     Es    kam    jetzt    blofs 
noch  darauf  an,  eine  Beziehung  des  ästhetischen  Urteils  zur  Teleologie 
ausfindig  zu  machen,  so  schien  auch  für  die  Ästhetik  ein  siclieres  Funda- 
ment gewonnen. 

Eine  solche  Beziehung  wurde  hergestellt,  sobald  Kaiit  das  Gefühls- 
vermögen mit  demjenigen  unter  den  sogenannten  Erkenntnisvermögen 
in   Verbindung  gesetzt  hatte,  welches  bisher  noch  unberücksichtigt  ge- 


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414 


B.   Kant  als  Naturpbilosoph. 


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blieben  war,  und  dem  er  docb  eine  ebensolche  Selbständigkeit  zuge- 
schrieben hatte,  wie  dem  Gefühl  der  Lust  und  Unlust.  Dieses  Ver- 
mögen war  die  Urteilskraft.  Irgend  ein  Prinzip  „mufs  sie 
a  priori  in  sich  enthalten,  weil  sie  sonst  nicht,  als  ein  besonderes 
Erkenntnisvermögen,  selbst  der  gemeinsten  Kritik  ausgesetzt  sein 
würde"  (V.  175).  Aber  ein  solches  Prinzip  für  sie  zu  finden,  das 
unterlag  doch  ,,grorsen  8cliwierigkeiten",  wenn  man  die  Natur  dieses 
Vermr>gens  in  Betraclit  zog  (ebd.). 

In  der  Vernunt'tkritik  hatte  Kant  die  Urteilskraft  als  das  Vermögen 
bestimmt,  „unter  Kegeln  zu  subsumieren,  d.  i.  zu  unterscheiden,  ob  etwas 
unter  einer  gegebenen  Kegel  stehe  oder  nicht"  (III.  138).  Der  Verstand 
wendet  seine  Begriffe  a  priori  auf  die  Anschauungen,  welche  die  Ein- 
bildungskraft aus  den  sinnlichen  Empfindungen  formiert  hat,  nicht  be- 
liebig an,  sondern  vermittelst  der  „Schemata*',  d.  li.  der  Bestimmungen 
jener  Anschauungen  in  der  Zeit,  und  hierbei  ist  es  die  Urteilskraft, 
welche  die  Anschauungen  den  ihnen  entspreclienden  Begriffen  unter- 
ordnet. Dieselbe  Urteilskraft  bringt  aber  auch  die  Bedingung  desSchlufs- 
satzes  unter  eine  allgemeine  Kegel  (Obersatz)  (III.  21^2)  und  stellt 
damit  ebenso  eine  Verbindung  zwischen  dem  Verstände  (als  dem 
Vermögen  der  Begriffe  und  Kegeln)  und  der  Vernunft  (als  dem 
Vermögen  der  Schlüsse)  her,  wie  sie  den  V^erstand  mit  der  Ein- 
bildungskraft, d.  h.  dem  Vernuigen  der  Anschauungen,  verbindet. 
Die  Schwierigkeit  beruht  nun  darin,  dafs  die  Urteilskraft  einen 
Begrifi'  angeben  soll,  „durch  den  eigentlich  kein  Ding  erkannt  wird, 
sondern  der  nur  ihr  selbst  zur  Kegel  dient,  aber  nicht  zu  einer 
objektiven,  der  sie  ihr  Urteil  anpassen  kann,  weil  dazu  wiederum 
eine  Urteilskraft  erforderlich  sein  würde,  um  unterscheiden  zu  können, 
ob  es  der  Eall  der  Kegel  sei  oder  nicht"   (V.   175). 

Jedenfalls  nimmt  die  Urteilskraft  eine  mittlere  Stellung 
zwischen  der  V^ernunft  und  dem  Verstände  ein,  ganz  ebenso  wie 
das  Gefühlsvermögen  zwischen  dem  Erkenntnis-  und  Begehrungs- 
vermögen. Dies  legt  es  ohne  Weiteres  nahe,  „nach  der  Analogie" 
eine  Beziehung  zwischen  beiden  anzunehmen  (183).  Es  „hat  das 
Erkenntnisvermögen  nach  Begriffen  seine  Prinzipien  a  priori  im 
reinen  Verstände  (seinem  Begriffe  von  der  Natur),  das  Begehrungs- 
vermögen in  der  reinen  Vernunft  (ihrem  Begriffe  von  der  Ereiheit), 
und  da  bleibt  noch  unter  den  Gemütseigenschaften  überhaupt  ein 
mittleres  Vermögen  oder  Empfänglichkeit,  nämlich  das  Gefühl  dvv 
Lust  und  Unlust,  sowie  unter  den  oberen  Erkenntnisvermögen  ein 
mittleres,  die  Urteilskraft,  übrig.  Was  ist  natürlicher,  als  zu  ver- 
muten, dafs  die  letztere  zu  dem  erstem  ebensowohl  Prinzipien  a  priori 
enthalten    werde?"    (VI.   360).      Auch    das    Gefühl    der    Lust    und 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie.  ^^^ 

Unlust  ist  ja  nur  „die  EmpfängHchkeit  einer  Bestimmung  des  Sub- 
jekts," ebenso  wie  die  Urteilskraft  sich  lediglich  aufs  Subjekt  bezieht 
und  für  sich  allein  keine  Begriffe  von  Gegenständen  hervorbringt, 
„sodafs,  wenn  Urteilskraft  überall  etwas  für  sich  allein  bestimmen 
soll,  es  wohl  nichts  Anderes  als  das  Gefühl  der  Lust  sein  könnte. 
und  umgekehrt,  wenn  dieses  überall  ein  Prinzip  a  priori  haben  soll, 
es  allein  in  der  Urteilskraft  anzutreffen  sein  werde"  (ebd.  381).  Ist 
aber  dies  der  Eall,  dann  mufs  auch  das  Prinzip  der  Urteilskraft 
mit  demjenigen  des  Gefühlsvermögens  identisch  sein,  und  die  Be- 
ziehung auf  das  Gefühl  der  Lust  und  Unlust,  „die  gerade  das 
Rätselhafte  in  dem  Prinzip  der  Urteilskraft  ist"  (17G),  kann  nirgendwo 
anders  als  in  der  Zwei;kmäfsigkeit  gefunden  werden. 

Kant    brauchte    nur    die    obigen    Reflexionen,    wodurch    er    die 
Zweckmäfsigkeit  auf  das  Gefühlsvermögen  bezogen  hatte,    auch  bei 
der  Urteilskraft  zu  wiederholen,  so  konnte  er  seine  Vermutung  be- 
stätigt finden.  ,.  Urteilskraft  überhaupt  ist  das  Vermögen,  das  Besondere 
als  enthalten  unter  dem  Allgemeinen  zu  denken"  (185).     Dabei  sind 
zwei  Fälle  möglich :  entweder  das  Allgemeine  (die  Kegel,  das  Prinzip, 
das  Gesetz)  ist  gegeben,  und  die  Urteilskraft  hat  darunter  das  Be- 
sondere   zu  subsumieren,    oder    es  ist    nur    das  Besondere    gege])en, 
wozu  sie    das  Allgemeine    finden    soll.     In    der  „Kritik    der    reinen 
Vernunft"    war    die    Urteilskraft    blofs    nach    der   ersten  Eorm    l)e- 
trachtet,    sofern    sie    vor    allem    die  empirischen  Anschauungen,    als 
das  Besondere,  unter  das  Allgemeine  der  a])riorischen  Naturgesetze 
bringt.     Die  Urteilskraft  in  dieser  Weise  ihrer  Funktion  nennt  Kant 
bestimme  n  d.    Die  Gesetze,  die  ihr  a  priori  gegeben  werden,  tragen 
den  Charakter  der  Notwendigkeit  an  sich,  weil  ohne  sie  Natur  über- 
haupt nicht  denkbar  ist.     Nun  ist  aher,  abgesehen  von  jenen  allge- 
meinen Naturgesetzen,  die  Natur  noch  auf  mannigfache  Art  bestimmt, 
und  obschon   diese  Bestimmungen    für  uns  blofs  zufällig    sind,    weil 
wir  sie  nicht  a  priori  einzusehen  vermögen,  so  müssen  wir  sie  doch 
als  gesetzmäfsige  betrachten,    die  mithin  an    sich  ebenso  notwendig 
sind,    wie    die   allgemeinen   Naturgesetze,    wenn   anders   Erkenntnis 
möglich    sein    und    ein    durchgängige!'    Zusammenhang    empirischer 
Erkenntnisse    zu    einem    Ganzen    der    Erfahrung    zustande   kommen 
soll.     Wir  müssen  annehmen,  dafs  die  Natur  bei  aller  Zufälligkeit 
ihrer  Besonderungen   dennoch  eine  gesetzliche  Einheit    in  der  Ver- 
bindung ihres  Mannigfaltigen  zu  einer  an  sich  möglichen  Erfahrung 
enthält,    dafs    sie    mithin    für    unser    Erkenntnisvermögen    zweck- 
mäfsig  eingerichtet  ist.     „Diese  Zusanimenstimmung  der  Natur  zu 
unserem  Erkenntnisvermögen    wird  von  der  Urteilskraft  zum  Behuf 
ihrer  Keilexion  über  dieselbe  nach  ihren  eni})irischen  Gesetzen  a  priori 


I 


i. 


ah- 


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^Iß  ß.   Kant  als  Naturphilosoph. 

vorausgesetzt,  indem  sie  der  Verstand  zugleich  objektiv  als  zufällig 
anerkennt  und  blols  die  Urteilskraft  sie  der  Natur  als  transcendentale 
Zweckniafsigkeit  (in  Beziehun-  auf  das  Erkenntnisvermögen  des 
Subjekts)  beilegt,  weil  wir,  ohne  diese  vorauszusetzen,  keine  Ordnung 
der  Natur  nach  empirischen  Gesetzen,  mithin  keinen  Leitfaden  für 
eine  mit  diesen  nach  aller  ihrer  Mannigfaltigkeit  anzustellende  Er- 
fahrung und  Nachforschung  derselben  haben  würden"  (11)1). 

Da  es  sich  hier  also  darum  handelt,  zu  den  Besonderungen  der 
Materie    ein  allgemeines  Prinzip    zu  finden,    welchem    sie    ihre  Ent- 
stehung verdanken,    so  haben  wir  es  m  diesem   Falle  nicht  mit  der 
bestimmenden,  sondern  mit  der  reflektierenden  Urteilskraft  zu 
thun,  so  genannt,  weil  sie  über  die  Verknüpfung  der  Erscheinungen, 
die  nach  empirischen  Gesetzen  gegeben  sind,   reflektiert.     „Weil  nun 
der  Begriff    von  einem  Objekt,    sofern    er  zugleich    den   rirund    der 
Wirklichkeit  dieses  Objekts  enthält,    der  Zweck  und  die  Überein- 
stimmung eines  Dinges  mit  derjenigen  Beschalfeidieit  der  Dinge,  die 
nur  nach  Zwecken  nu.glicli   ist,  die  Zweckniafsigkeit  der  Form  der- 
selben heilst,    so  ist  das  Prinzip  der   Urteilskraft  in  Ansehung    der 
Form  der  Dinge   der  Natur  unter  emi)irischen  Gesetzen    überhaupt 
die  Zweckmäfsigkeit    der   Natur    in    ihrer  Mannigfaltigkeit; 
d.  i.   die  Natur  wird  durch  diesen  Begriff  so  vorgestellt,  als  ob  ein 
Verstand  den  Grund  der  Einheit  des  IVIannigfaltigen  ihrer  empirischen 
Gesetze  enthalte"  (1S7).     Ein  solcher  Verstand  wird  also  nicht  als 
wirklich  angenommen.     Der  BegritY  einer  Zweckmäl'sigkeit  der  Natur 
ist  weder  ein  Naturbegriff,    nocli  ein   Freiheitsbegriff,    weil    er    gar- 
nichts  dem  Objekte  (der  Natur)  beigelegt,    sondern  er  ist  „nur  die 
einzige  Art,    wie    wir    in    der  Kellexion    über    die  Gegenstände    der 
Natur    in    Absicht    auf    eine    durchgängig    zusammenhängende    Er- 
fahrung verfahr(^n  müssen"   (190).     „Die  Urteilskraft  hat  also  auch 
ein  Prinzip    a  priori    für    die  Möglichkeit    der  Natur,    aber    nur   in 
subjektiver  Kücksicht  in  sich,  wodurch  sie  nicht  der  Natur  (als 
Aut(')nomie),  sondern  ihr  selbst  (als  Heautonomie)  für  die  Jlellexion 
über  jene  ein  Gesetz  vorschreibt,    welches    man    das  Gesetz    der 
Spezifikation  der  Natur  in  Ansehung  ihrer  empirischen  Ge- 
setze nennen  könnte"  (19'J).     Dieses  eigentümliche  Prinzi])  aber  lautet: 
„Die  Natur  spezifiziert  ihre  allgemeinen  Gesetze   nach  dem   Prin/.ip 
der  Zweckmäfsigkeit  für  unser  Erkenntnisvermögen"   (ebd.),  oder  wie 
Kant    auch    sagt:     „Die     Natur    spezifiziert     ihre    allge- 
meinen Gesetze  zu  empirischen  gemäfs  der  Form  eines 
logischenSystems  zum  Belnif  der  U  rt  ei  1  sk  raft  "  (VI.  385). 
Es  sind  nur  besondere  Formulierungen  dieses  Prinzips,  dafs  es 
in  der  Natur    eine    für    uns  fafsliche   Unterordnung    von  Gattungen 


1  I 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


417 


und  Arten  giebt,  dafs  dieselben  sich  einander  wiederum  nach  einem 
gemeinschaftlichen  Prinzip  nähern,  damit  ein  Übergang  vonjeiner  zu 
der  anderen  und  dadurch  zu  einer  hölieren  Gattung  möglich  sei, 
dafs  die  Mannigfaltigkeit  der  Naturursachen  sich  schliefslich  auf  eine 
geringe  Zahl  zurückführen  läfst.  '  Alle  diese  Prinzipien,  die  als 
„Sentenzen  der  metapliysischen  Weisheit"  bei  Gelegenheit  mancher 
Eegeln  im  Laufe  dieser  Wissenschaft  „oft  genug,  aber  nur  zerstreut" 
vorkamen  (188,  vgl.  oben  183.  205  f.)  —  offenbar  nur  weil  Kant 
sie  in  seinem  Schema  nicht  unterzubringen  wufste  —  das  Gesetz 
der  Homogeneität,  der  Spezifikation,  der  Kontinuität,  die  Bestim- 
mungen über  liiatus  und  saltus  u.  s.  w.,  sie  alle  kamen  nun  endlich 
zur  Buhe  und  fanden  in  der  Urteilskraft  ein  sicheres  Unter- 
konunen  (1!M). 

Damit  war  nun  erwiesen,    dafs  die  Urteilskraft  vermittelst  des 
ihr    eigentümlichen    Prinzips    der   Zweckmäfsigkeit   im    selben    Ver- 
hältnis  zum    Gefühlsvermögen,    wie    der  Verstand    zum   Erkenntnis- 
vermögen, wie    die  Vernunft  zum  Begehrungsvermögen   steht.     Auf 
der  Brücke  der  Teleologie  war  Kant  zur  Urteilskraft  vorgedrungen 
und  damit  auf  denjenigen  Standi)unkt  angelangt,  auf  dem  sich  ilim 
nun  auch  die  Beziehung  der  Zweckmäfsigkeit  zum  ästhetischen  Urteil 
offenbaren  mul'ste.      In  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntnis  sollte 
sie    in    der    Angemessenheit    der    Natur    zu    unserem    Erkenntnis- 
vermögen beruhen.     Nun  gehören  zum  Begriffe  der  Natur  sinnliche 
Em])Hn(lungen.   welche  durch  die  Einbildungskraft  zu  Anschauungen 
formiert  werden,  und  Begriffe,   sowie  liegein.  die  der  Verstand   auf 
die  Anschauungen  anwendet.     Aus  dem  Gesichtspunkte  der  Urteils- 
kraft betrachtet,  lag  mitiiin  hier  jene  Zweckmäfsigkeit  in  der  Über- 
einstimmung   des   Verstandes    (iiicl.    der   Einbildungskraft)    mit    den 
systematischen  Ideen  der  Vernunft.    Beim  ästhetischen  Urteil  dagegen 
handelte  es   sich  einerseits  nicht  um  Anschauungen    als   solclie,    da 
ilim  ja  nur    an    dem  apriorischen   Urteile    etwas    gelegen    und  Kant 
folglich  das  Material   der  sinnlichen  Empfindungen  unberücksichtigt 
lassen  mufste.     Es  handelte  sich  andererseits  auch  nicht  um  syste- 
inatische  Ideen,  da  es  ja  bei  jenem  nicht  um  die  Gewinnung    einer 
Erkenntnis  ankam.      Es    handelte    sich    vielmehr    um  Anschauungen 
nur  insoweit,  als  sie  die  blofse  Form  eines  Gegenstandes  betreffen, 
ohne  Beziehung  auf  einen  (abstrakten)  Begriff.     Aus  dem  Gesichts- 
punkte der  Urteilskraft  betrachtet,  konnte  folglich,  wenn  anders  das 
ästhetische  Urteil  durch  die  in  ihm  enthaltene  Zweckmäfsigkeit  ein 
Gefühl  der  Lust  in  uns  erwecken  sollte,   jene  nur    in  der  Überein- 
stimmung der  Einbildungskraft  mit  unserem  Verstände,  d.  h.  in  der 
Möglichkeit  für  unseren  Verstand  gefunden  werden,  die  ihm  von  der 

U  r  e  WS,  Kants  Naturphilosophie.  •  27 


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418 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


11.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


419 


Einbildungskraft  dargebotenen  Anschauungen  unter  Begriffe  zu  sub- 
sumieren. „Denn  jene  Auffassung  der  Formen  in  der  Einbildungs- 
kraft kann  niemals  gescheher,  ohne  dafs  die  reflektierende  Urteils- 
kraft auch  unabsichtlich  sie  wenigstens  mit  ihrem  Vermögen,  An- 
schauungen auf  Begriffe  zu  beziehen,  vergliche.  Wenn  nun  in  dieser 
Vergleichung  die  Einbildungskraft  (als  Vermengen  der  Anschauungen 
a  priori)  zum  Verstände,  als  Vermögen  der  Begriffe,  durch  eine 
gegebene  Vorstellung  unabsichtlich  in  Einstimmung  versetzt  und 
dadurch  ein  Gefiilil  der  Lust  erweckt  wird,  so  mufs  der  Gegenstand 
alsdann  als  zweckmäfsig  für  die  reflektierende  Urteilskraft  angesehen 
werden.  Ein  solches  Urteil  ist  ein  ästhetisches  Urteil  über  die 
Zweckmäfsigkeit  des  Objekts,  welches  sich  auf  keinem  vorhandenen 
Begrifl'e  vom  Gegenstande  gi-iindct  und  keinen  von  ihm  verschafft. 
Wessen  Gegenstandes  Form  (nicht  das  Materielle  seiner  Vorstellung, 
als  Empflndung)  in  der  blofson  Reflexion  über  dieselbe  (ohne  Ab- 
sicht auf  einen  von  ihm  zu  erwerbenden  Begriff')  als  der  Grund 
einer  Lust  an  der  Vorstellimg  eines  solchen  Objekts  beurteilt  wird, 
mit  dessen  Vorstellung  wird  diese  Lust  aucii  als  notwendig  ver- 
bunden geurteilt,  folglich  als  nicht  blofs  für  das  Subjekt,  sondern 
für  jeden  Urteilenden  überhaupt.  Der  Gegenstand  heifst  alsdann 
schön,  und  das  Vermögen,  durch  eine  solche  Lust  (folglich  auch 
allgemeingültig)  zu  urteilen,  der  Geschmack"  (1!)G). 

Das  AV'esentliche  dieser  ästhetischen  Bestimmung,  die  im  Grunde 
nur  auf  die  bekannte  formalistische  Erklärung  des  Schönen  als  Ein- 
heit in  der  IVIannigfaltigkeit  hinausläuft,  und  von  Kant  in  der  Aus- 
führung seiner  Asthethik  selbst  nicht  festgehalten  wird,*)  besteht 
darin,  dafs  nach  ihr  die  Zweckmäfsigkeit  eine  rein  subjektiv- 
formale  ist,  in  der  blofsen  Harmonie  der  beiden  Erkenntniskräfte, 
der  Einbildungskraft  und  des  Verstandes,  liegt  und  dafs  sie.  ohne 
abstrakt  herausgehoben  und  zur  objektiven  Bestimmung  des  Gegen- 
standes selbst  gemacht  zu  werden,  eben  als  diese  formale  Zweck- 
mäfsigkeit im  Spiel  der  Kräfte,  den  Grund  des  ästhetischen  Wohl- 
gefallens bildet.  Daher  deflniert  Kant  die  Schönheit  auch  als  „Form 
der  Zweckmäfsigkeit  eines  Gegenstandes,  sofern  sie  ohne  Vorstellung 
eines  Zweckes  an   ihm  wahrgenonunen  wird*'   (24'i). 

Es  k()nnte  auffallen,  dafs  Kant  bisher  nur  immer  die  subjektiv- 
formale Zweckmäfsigkeit  berücksichtigt  hatte,  obwohl  doch  die 
Teleologif»  in  der  Naturi)lnl()S()phie.  in  der  sie  ursprünglich  heimisch 
war  und  der  sie  im  Anfang  auch  wohl  nur  hatte  dienen  sollen,  eine 
objektive  und  nuiteriale  Bolle  spielt.  Es  lag  dies  aber  in  dem  Gange 
seiner  Gedankenentwickelung    begründet,    in    der  ]S'otwendigkeit,    in 


<)  Vgl. 


V.  Hartmann:  Ästhetik  I.   1 — 24. 


die  er  sich  versetzt  fand,  die  Teleologie  zunächst  überhaui)t  nur  ein- 
mal in  das  allgemeine  Schema  der  subjektiven  Seelenkräfte  einzu- 
gliedern. Als  er  jedoch  seine  nächste  Absicht  erreicht,  als  er  eine 
apriorische  Grundlage  für  die  Ästhetik  gewonnen  und  in  der  ästhetischen 
Zweckmäfsigkeit  die  subjektivste  Fassung  dieses  Begriffes  formuliert 
hatte,  da  wandte  er  sich  auch  wieder  seinem  ursprünglichen  Aus- 
gangspunkte zu  und  stellte  er  der  subjektiven  ästhetischen 
Zweckmäfsigkeit  den  naturphilosophischen  Begriff  der  objektiven 
Zweckmäfsigkeit  gegenüber. 

Die  objektive  Zweckmäfsigkeit  besteht  in  der  „Übereinstimmung 
seiner  Form  mit  der  Möglichkeit  des  Dinges  selbst  nach  einem  Be- 
griffe von  ihm,    der  vorhergeht    und    den  Grund    dieser  Form    ent- 
hält"    (1<J8).     War   die    subjektive    Teleologie   recht    eigentlich    der 
Bestimmungsgrund  des  Gefühlsvermögens   und  unaufhishch    mit  der 
Lust  ver(iuickt,    so    konnte   freilich  Kant   der  objektiven  Teleologie 
eine  gleiche  Bedeutung   für  das  Gefühlsvermfigen    nicht  zugestehen, 
ohne    die    ästhetische    Beurteilung    mit    der    Erkenntnis    der  Natur- 
zwecke   zu    verwirren.      Die    objektive    Zweckmäfsigkeit    ist    keine 
ästhetische,  sondern  eine  intellektuelle  Zweckmäfsigkeit,    d.  h. 
sie  „hat  nichts  mit  einem  Gefühle  der  Lust  an  den  Dingen,  sondern 
mit  dem  Verstände  in  Beurteilung  derselben  zu  thun-'   (1{)9).      Die 
objektive  Zweckmäfsigkeit    ist  auch    kein  konstitutives  Prinzip,    wie 
die  ästhetische  Zweckmäfsigkeit  es  für  das  Gefühlsvermögen  ist  (208), 
sondern  sie  ist  nur  ..ein  Prinzip  mehr,"  die  Erscheinungen  der  Natur 
unter  Regeln  zu  bringen,   wo  die  Gesetze  der  Kausalität  nach  dem 
blofsen  Mechanismus  derselben  nicht  zulangen  (872),  ein  regulatives 
Prinzip  „zum  Behuf  der  Vernunft,"  wovon  die  Urteilskraft  Gehrauch 
machen  darf,  „nachdem  jenes  transcendentale  Prinzip  (der  ästhetischen 
Zweckmäfsigkeit)  schon,    den  Begriff  eines  Zwecks  (wenigstens    der 
Form  nach)  auf  die  Natur  anzuwenden,  den  Verstand  vorbereitet 
hat"  (2(J0).     Das  Verhältnis    hat   sich  also  gerade  umgekehrt:    die 
objektive  Zweckmäfsigkeit,    die,  als  nalurphilosophisches  Prinzip,  die 
Ästhetik  aus  sich  hervorgetrieben  hat,  ist  jetzt  selbst  nur  ein  Prinzip 
von  der  ästhetischen  Zweckmäfsigkeit  Gnaden  und  mufs  sich  damit 
begnügen,  unter  dem  Namen  einer  „  K  r  i  t  i  k  d  e  r  t  e  1  e  o  1  o  g  i  s  c  h  e  n 
Urteilskraft"    erst    an    zweiter    Stelle    von    Kant    behnndelt    zu 
werden,  obwohl  sie  im  Anfang  die  Hauptsache  gewesen    war.     Die 
ästhetische  Zweckmäfsigkeit   dagegen  nimmt  in    der  „Kritik    der 
ästhetischen    Urteilskraft"    schon    ihrem   Umfang    nach    die 
erste  Stelle   ein,    woher  es  dann  gekommen  ist,  dafs  man  dem    ur- 
sprünglich   naturphilosophischen  Charakter   der    „Kritik 
der  Urteilskraft"  eine    viel  zu    geringe  Bedeutung  beigemessen  hat. 


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27* 


420 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


421 


So  stiefmütterlich  nun  auch  Kant  in  dieser  Hinsicht  die  ohjektive 
Teleologie  gegenüber  der  subjektiven  behandelt,  gerade  sie  ist  es 
doch,  welche  den  Übergang  von  der  Natur  zur  Freiheit  ermöglicht, 
indem  sie  die  Kluft  zwischen  beiden  überbrückt,  deren  Vorhandensein 
Kant  den  ersten  äufseren  Anstofs  zur  Abfassung  seiner  ,. Kritik  der 
Urteilskraft"  gegeben  hatte.  Zwar  läfst  sich  nicht  leugnen,  dafs 
auch  die  subjektive  ästhetische  Zweckmäfsigkcit  ihr  Scherflein  zur 
Überbriickung  jenes  Gegensatzes  beiträgt,  indem  die  von  ihr  bewirkte 
ästhetische  Lust  „zugleich  die  Empfänglichkeit  des  Gemüts  für  das 
moralische  Gefühl  befr^rdert"  (20H).  Allein  die  Haui)tsache  bleibt 
doch  der  objektiven  Teleologie  zu  thun  übrig,  weil  sie  die  Gewähr 
giebt,  dafs  [Natur  und  Freiheit  beide  auf  einander  angewiesen  sind. 
„Die  Wirkung  nach  dem  Freiheitsbegriffe  ist  der  Endzweck,  der 
(oder  dessen  Erscheinung  in  der  Sinnenwelt)  existieren  soll,  wozu 
die  Bedingung  der  Möglichkeit  desselben  in  der  Natur  (des  Subjekts 
als  Sinnenwesens,  nämlich  als  M(?nsch)  vorausgesetzt  wird.  Das, 
was  diese  a  priori  und  ohne  Rücksicht  auf  das  Praktische  voraus- 
setzt, die  Urteilskralt,  giebt  den  vermittelmh'n  Begriif  zwischen  den 
Naturi)egriifeu  und  dem  FreiiieifebegrilVe,  der  den  Übergang  von  der 
Gesetzmäfsigkeit  nach  der  ersten  zum  Endzwecke  nach  dem  hetzten 
möghch  macht,  m  dem  Begriff  einer  Zweckmäfsigkcit  der 
Natur  an  die  Hand;  denn  dadurch  winl  die  Möglichkeit  des  End- 
zweckes, der  allein  in  der  Natur  und  mit  Einstimmung  ihrer  Gesetze 
wirklich  werden  kann,   erkannt"   (202). 

AVenn  man,  wie  Kant,  die  Natur  i)lofs  als  subjektive  Erscheinung, 
die  Freilieit  blofs  als  Bethätigung  des  übersinnlichen  llealen  gelten 
läfst,  wenn  man  an  der  Natur  ihr  übersinnliches  Substrat  (die  Dinge 
an  sich),  an  der  Sittlichkeit  ihre  sinnliche  Vermittelung  aufser  Acht 
läfst,  so  wird  damit  natürlich  eine  Klnit  zwischen  beiden  aufgerissen, 
wie  sie  zwischen  dem  Sinnliclien  und  dem  Übersinnlichen  besteht; 
diese  Kluft  aber  vermag  auch  die  Zweckmäfsigkcit  nicht  zu  über- 
brücken, am  wenigsten  wenn  sie  selbst  blol's  subjektiv  ist  und.  als 
reguhitives  Prinzip,  nur  eine  rein  äufserliche  Betrachtungsart  der 
Dinge  bildet.  Versteht  man  dagegen  unter  Natur  in  transcendental- 
realistischem  Sinne  den  Inbegriff  der  übersinnlichen  Monaden  und 
ihrer  Gesetze  und  erkennt  man  an,  dafs  auch  die  moralischen  Wesen 
nur  als  natürliche,  sittlich  hamU'hi  können,  dann  besteht  zwar  noch 
ein  Gegensatz  zwischen  den  realen  Gesetzen  der  Natur,  die  wirklich 
sind,  und  den  idealen  Gesetzen  der  Sittlichkeit,  die  erst  wirklich 
werden  sollen,  aber  dieser  Gegensatz  lallt  innerhalb  der  Sphäre 
des  Übersinnlichen  selbst  und  kann  auch  ganz  wohl  duich  die  Teleo- 
logie gehoben  werden,  wofern  man  nur  anerkennt,  dafs  die  letztere 
selbst  ein  übersinnliches  und  reales  Prinzip  ist. 


Dafs  die  Teleologie  kein  blofs  regulatives  Prinzip,  dafs  sie  ebenso 
gut  konstitutiv  ist,   wie  die  allgemeinen  Naturgesetze,  zu  dieser  An- 
nahme   wird  Kant   sich    notwendig   selbst   dann   bequemen    müssen, 
wenn  er  bei  seiner  phänomenalistischen  Auffassung  der  Natur  beharrt. 
Denn  mögen  wir  auch,    wenigstens    was  jene    allgemeinen  Naturge- 
setze  anbetriff't,    den    Mechanismus    des   Zustandekonmiens   unserer 
Erkenntnis    mit  Sicherheit  durchschauen  können,    wie    er  gleichsam 
hinter  den  Koulissen  unseres  Bewufstseins  sich  abspielt :  wir  können 
nicht  undiin,  nach  einem  konstitutiven  Prinzip  auch  für  die  besonderen 
Naturgesetze  zu  suchen,  deren   Vorhandensein  nun  einmal  nicht  zu 
leugnen   ist.     Von    aufsen  können    wir  jene  Gesetze    nicht    erhalten 
haben :  von  dorther  empfangen    wir  ja    nach  Kant    blofs    das  unge- 
ordnete Material    unserer   sinnlichen  Emjjündungen ;    es    müfste   ein 
sonderbarer  Zufall  sein,   wenn  jene  äufserlichen  Gesetze  sich  so  ein- 
fach in  den  Grundrifs  der  allgemeinen  Naturgesetze  einordnen  sollten, 
welche  nachweislich    nur    aus   unserm  Innern  stammt.     Was    Ijjeibt 
übrig,  als  den  Ursprung  der  besonderen  Naturgesetze  in  eben  dem 
nämlichen  Prinzip  zu  suchen,  das  auch  den  Grundrifs  der  allgemeinen 
Naturgesetze    in    uns    entwirft?     Dafs    wir    den    Prozefs    der  Spezi- 
fikation in  uns  nicht  a  priori  durchschauen  können,  wie  die  Funktion 
der  allgemeinen  Naturgesetze,    und  dafs   wir  darum   nicht  imstande 
sind,   die  Teleologie  mit  der  gleichen  Sicherheit  für  das  konstitutive 
Prinzip  der  besonderen  Gesetze  anzugeben,  wie  wir  dies  für  die  all- 
gemeinen Gesetze  von  den  Kategorien  hehau})ten  konnten,  ist  freilich 
richtig.    Aber  diese  „Zufälligkeit*'  der  Teleologie  gegenüber  der  Not- 
wendigkeit der  Kategorien    beweist    doch  nicht,    dafs    sie    ein    kon- 
stitutives Prinzip  nicht  ist,  es  sei  denn,    dafs  man  es  mit  Kant  als 
Grundsatz  hinstellt:   „Wahrscheinlichkeiten  fallen  hier  ganz  weg,  wo 
es  auf  Urteile  der  reinen  Vernunft  ankommt"  (41'^J.      Nun  hat  aber, 
wie  wir  dies  früher  gesehen  haben,   auch  die  Erkenntnis  der  Kate- 
gorien, ihres  Wesens  und  ihrer  Funktionsart,  blofs  Wahrscheinlichkeit; 
es  war    eben    der  fundamentale  Irrtum   Kants,   zu  glauben,    dafs    er 
die  unbewufste  Thätigkeit  derKategorialfunktionen  mit  seinem  Bewufst- 
sein  unmittelbar  durchschauen  könnte.     Mögen  also  auch  immerhin 
die  allgemeinen  Naturgesetze  deduktiv  und  folglich  mit  apodiktischer 
Gewifsheit  aus  den  Kategorien  abgeleitet  sein :   sie  bleiben  für  uns 
doch  nur  mehr  oder  minder  wahrscheinlich,  d.  h.  zufällig  im  Sinne 
Kants,  weil  eben  ihren  logischen  Gründen  blofs  Wahrscheinlichkeit 
zukommt,  d.  h.  aber  der  ganze  künstliche  Gegensatz  von  notwendigen 
und  zufälligen  Naturgesetzen  ist  überhaupt  hinfällig,  und  es  besteht 
mithin  gar    kein  Grund,    die  ZweckmäCsigkeit  darum  von    den  kon- 
stitutiven Prinzipien  a  priori  auszuschliefsen,  weil  sie  für  uns  blofs 


^. 


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4.99 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


ff" 


„zufällig,"  d.  h.  wahrscheinlich,  ist.  Mufs  aher  durch  diese  Aner- 
kennung der  Zweckmüfsigkeit  als  eines  konstitutiven  Prinzips,  die 
garnicht  zu  umgehen  ist,  der  AVahrscheinlichkeit  doch  einmal  Ein- 
gang in  das  System  gewährt  werden,  was  kann  uns  dann  noch  veran- 
lassen, die  Natur  für  eine  blofse  (subjektive)  Erscheinung  anzusehen, 
da  dieser  ganze  Phänomenalismus  Kants  ja  nur  aus  dem  Streben  ent- 
standen ist,  die  Annahme  einer  blofs  wahrscheinlichen  Erkenntnis 
zu  umgehen? 

Die  Zweckmäfsigkeit  ist  ein  konstitutives  Prinzip  zur  Formierung 
der  Erfahrung,  und  zwar  ein  unbewufst-konstitutives  Prinzip  in  dem 
iiiimlichen  Sinne,    wie   es    auch  die  Kategorieen    sind.     Die  Urteils- 
kraft ist  sojuit  in  ihrer  Anwendung  des  Prinzips  der  Zweckmäfsig- 
keit  nicht  reliektierend,    sondern  bestimmend;    folglich  ist    auch  die 
Annahme    einer    objektiven    Zweckmäfsigkeit    in    den    Naturerschei- 
nungen nicht  eine  rein  subjektive  Retiexion  über  dieselben,  sondern 
sie  ist  die    bewufste  Heraushebung  dessen,    was    das    konstitutive 
Priiizi])  dieser  Erscheinungen  vorher    unbewufst   in    sie  hineingelegt 
hat.      Gewifs    kann    die  bewufste  Reflexion    sich    hierbei    irren  und 
dort    auf    den  Gedanken    einer   Kinalität    geraten,    wo    doch    l)l()fse 
Kausalität  nach  mechanischen  Gesetzen  vorliegt.     Gewifs    ist    diese 
ganze  Annahme    einer    objektiven    Finalität    überhaupt    ])lofs  wahr- 
scheinlicli.     da    wir    nur    den  Mechanismus    der    sinnlichen    Erschei- 
nungen unmittelbar  wahrnehmen,  die  gleichzeitige  Zweckverknüi)fung 
der  letzteren  jedoch    nur  mittelbar    durch  Induktion    aus    einer  ge- 
w^issen  Anzahl  von  Erscheinungen  erschliefsen    und  folglich  ihr  nur 
denjenigen    Wahrscheinlich keitsgrad   zuschreiben  dürfen,   welcher  der 
jeweiligen    Stufe    der    Induktion    entspricht.     Allein    die    Teleologie 
aus  eben  diesem  Grunde  als  objektives  Prinzip  nicht  gelten  zu  lassen, 
dazu  hat  man  nur  dann  ein  Recht,   wenn  man,  wie  Kant,  aHe  hy})0- 
thetische  Erkenntnis  verachtet,  wenn  man   nur  solche  Urteile  gelten 
läfst,    die    aus  Prinzipien    a  priori   hervorgehen,     d.   h.  rein    formale 
!^]rkenntnis  ohne   reale  Bedeutung.     „Man  hat    nur  die  Wahl,    ent- 
weder   auf  alle    reale  Erkenntnis    zu  verzichten  und    sich    mit    der 
formalen  der  Mathematik  und  Logik    zu  begnügen,    oder  aber    sich 
bei  der  wahrscheinlichen  realen  Erkenntnis  hypothetischer  Induktions- 
urteile zu  bescheiden.    Da  nun  die  ganze  Entwickelung  der  modernen 
Wissenschaft  auf  letzterer  Seite  der  Alternative  steht  und  da  Kant 
keinen  anderen  Grund  zu  seiner  entgegengesetzten  Entscheidung  hat, 
als  das  wolftsche  Vorurteil,    dafs   nur    a])riorische  Wissenschaft  von 
apodiktischer  Gewifsheit  Phil()S()j)hie  heifsen  dürfe,  so  erhellt  daraus, 
wie    weit    die  von    den   Empiristen    zum   Uberdrufs    wiederholte  Be- 
hauptung berechtigt  ist,    dafs  Kant  die   blofs  subjektive  Bedeutung 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


423 


des  Zweckbegriffs  und  seinen  Unwert  als  Erkenntnisprinzip  ein  für 
alleraal  unwiderleglich  erwiesen  habe."*)  — 

Betrachten    wir    die    objektive    intellektuelle    Zweckmäfsigkeit 
selbst,  so  unterscheidet  Kant  „die  oft  bewunderte  objektive  Zweck- 
mäfsigkeit, nämlich  der  Tauglichkeit  zur  Auflösung  vieler  Probleme 
nach  einem  einzigen  Prinzip,    und  auch  wohl    eines  jeden  derselben 
auf  unendlich  verschiedene  Art",  wie  sie  sich  an  den  geometrischen 
Figuren  zeigt,  von  der  Naturzweckmäfsigkeit  im  eigentlichen  Sinne. 
Die  erstere  ist  zwar  objektiv  und  intellektuell,  allein  sie  macht  doch 
den  Gegenstand    selbst    nicht    möglich,    wird    uns    überhaupt   nicht 
durch  einen  empirischen  Gegenstand,  der  von  ihrem  Begriff  abhängig 
ist,    gegeben,    sondern    l)eruht    nur    auf    der   (Übereinstimmung    der 
Raumanschauung  und  des  A^erstandes.  der  a  priori  die  mathematLhen 
Bestimmungen  gleichsam  in  sie  hineinzeichnet.    Diese  Zweckmäfsig- 
keit ist  also  blofs  formal  (874-378).    Die  objektive  und  materiale 
oder   reale  Zweckmäfsigkeit   dagegen  offenbart   sich  überall  dann, 
„wenn  ein  Verhältnis   der  Ursache  zur  A\^irkung    zu    beurteilen  ist, 
welches  wir  als  gesetzlich    einzusehen   uns  nur    dadurch  vermögend 
linden,  dafs  wir  die  Idee  der  Wirkung  der  Kausalität  der  Ursache, 
als  die  dieser  selbst  zum  Grunde  liegende  Bedingung  der  i\Iöghch- 
keit  der  ersteren  unterlegen"   (379).     Aber  auch    hier  ist   noch  ein 
Unterschied    zu    machen    zwischen    der   äufseren    und    inneren 
Zweckmäfsigkeit.    Jene  ist  eine  rein  zufällige  Nutzbarkeit  oder  eine 
„Zuträglichkeit    gewisser  Naturdinge  für   andere  Geschöpfe"   (ebd.), 
die    blofs    relativ  ist    und  daher    zu  einem    absoluten    teleologischen 
Urteil  nicht  berechtigt  (381).    Dagegen  wenn  die  Lebensbedingungen 
gewisser  Wesen  in  anderen  Arten  von  Wesen  liegen  und  sie  dieser 
notwendig  zu  ihrer   eigenen   Existenz  bedürfen,    so  wird    man    auch 
hierin  einen,    obschon  äufseren  Naturzweck  sehen  müssen,  der  aber 
doch  nicht  zufällig  ist;  Voraussetzung  dabei  ist  nur,  dafs  die  Existenz 
desjenigen,   was  den  Nutzen  hat,    für  sieh    selbst  Zweck    der  Natur 
sei,    was    aber    durch    blofse  Naturbetrachtung    nicht   auszumachen 
ist  (381). 

Von  einer  wirklichen  Naturzweckmäfsigkeit  kann  man 
mit  völliger  Sicherheit  nur  bei  der  inneren  Zweckmäfsigkeit  reden, 
und  d[iher  ist  auch  nur  diese  der  eigentliche  Gegenstand  der  Natur- 
philosophie und  gleichsam  der  Typus  aller  zvveckvoll  bestimmten 
Naturerscheinungen  überhaupt  (388).  Dazu  gehört,  dafs  ein  Wesen 
erstens  durch  FortpHanzung  sich  selbst  der  Gattung  nach,  zweitens 
durch  Wachstum  sich  als  Individuum  erzeugt  und  drittens  sich 

*)  v.  Hartmann:  Kants  Erkenntnistheorie  u.  Metaphysik  239. 


Sit-- 


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rif  . 


424 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


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selbst  dadurch  erhalt,  dai's  seine  einzelnen  Teile  in  ihrer  Fortdauer 
einander  wechselseitig  bedingen  (388  f.).    Mit  anderen  Worten:  als 
Katurzweck  kann  etwas  nur  dann  betrachtet  werden,   w^enn  erstlich 
die  Teile    ihrem  Dasein    und    der  Form   nach    nur  durch  ihre  Be- 
ziehung   auf  das  Ganze   miiglich  sind ;   aber  so    könnte  es  auch  ein 
Kunstwerk,    d.    h.  -das    Produkt    einer    von    der  Materie    desselben 
unterschiedenen    vernünftigen    Ursache    sein,    deren    Kausalität    (in 
Herbeischaflfung    und  Verbindung    der  Teile)   durch,    die   Idee   von 
einem    dadurch     möglichen   Ganzen    bestimmt    wird.      Es    ist    also 
zweitens  erforderlich,   dal's  seine  Teile  sich  dadurch  zur  Einheit  eines 
Ganzen  verbinden,  indem  sie  von  einander  wechselseitig  Ursache  und 
Wirkung  ihrer  Form    sind    (885).     Die  Form    und   Verbindung  der 
Teile  bringt  also  aus  eigen(>r  Kausalität  ein  Ganzes  hervor:    umge- 
kehrt ist  es  auch  wiederum  die  Idee  des  Ganzen,  welche  die   Form 
und  Verbindung  der  Teile  bestimmt.     Bezeichnet  man  eine  Kausal- 
verbinduug,  die  eine  Ixeihe  von  Ursachen  und  Wirkungen  ausmacht^ 
welche  immer  abwärts  geht,  als  die  der  wirkenden  oder  realen 
Ursachen    (nexus    etfectivus);     eine    Kausalverbindung    dagegen, 
welche,  als  Keihe  betrachtet,  sowohl  abwärts,  als  aufwärts  Abhängig- 
keit   bei    sich   führt,    als    die    der   Endursachen    oder  idealen 
Ursachen    (nexus    finalis),    so    läfst    sich    mithin    sagen,    etvvas    sei 
Naturzweck  dann,    wenn  die  Verknüpfung    der  wirkenden  Ursachen 
zugleich    als  Wirkung    durch  Endursachen    beurteilt  werden    kann. 
Nun  heifst    ein  jeder  Teil,    der,    wie  er   nur  durch  alle  übrigen  da 
ist,  auch  nur  um  der  anderen  und  des  Ganzen  willen  existiert,  ein 
Werkzeug  oder  Organ.    Also  wird  nur  ein  organisiertes,  und  zwar 
sich  selbst  organisierendes   Wesen,   d.h.  ein  Organismus, 
Naturzweck  heifsen  können  (o8G). 

Wenn  der  j\lr)gliclikeit  des  Organismus  eine  Idee  zu  Grunde 
liegt,  die  als  solche  eine  absolute  Einheit  der  Vorstellung  ist,  statt 
dafs  die  Materie  eine  Vielheit  der  Dinge  ist,  die  für  sich  keine 
bestimmte  Einheit  der  Zusammensetzung  liefert,  so  mufs  auch  der 
Organismus  durch  und  durch  nacli  eben  diesem  Prinzip  als  Natur- 
zweck beurteilt,  d.  h.  der  Zweck  der  Natur  mufs  auf  alles,  was 
nur  in  ihrem  Produkte  liegt,  ausgedehnt  werden.  In  einem  Orga- 
nismus ist  nichts  umsonst,  zwecklos  oder  einem  blinden  Mechanismus 
zuzuschreiben,  sondern  in  ihm  ist  alles  Zweck  und  wechselseitig 
zugleich  auch  .Mittel.  „Es  mag  immer  sein,  dal's  z.  B.  in  einem 
tierischen  Körper  numche  Teile  als  Konkretionen  nach  bloi's  mecha- 
nischen Gesetzen  begriffen  werden  könnten  (als  Häute,  Knochen, 
Haare).  Doch  mufs  die  Ursache,  welche  die  dazu  schickliche  Materie 
herbeischafft,    diese    so  moditiziert,    formt    und    an    ihre    gehörigen 


1  I 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


425 


Stellen  absetzt,  immer  teleologisch  beurteilt  werden,  sodafs  alles  in 
ihm  als  organisiert  betrachtet  werden    mufs.  und    alles  auch  in  ge- 
wisser Beziehung  auf  das  Ding  seihst  wiederum  Organ  ist"   (389  f.). 
Ist  aber  dies  der  Fall,  was  hindert  uns,  die  Zweckbetrachtung 
auch  auf  die  Natur  als  Ganzes  auszudehnen,    da  doch  der  einzelne 
Organismus  das  mikrokosmische  Abbild  der  Natur,  als  Makrokosmus, 
ist?     Wir    haben    keine     hinreichende    Berechtigung,    von    Zweck- 
mäfsigkeit  zu  reden,    solange  wir  die  Wesen  nur    in  ihrer  äufseren 
Beziehung  zu  einander,    losgelöst  von    ihrem  Verhältnis  zum   Welt- 
ganzen,  betrachten;    in    dieser    abstrakten  Isolierung    kann  nur  das 
Individuum    an    und    für    sich    als    Naturzweck    angesehen    werden. 
Wenn    jedoch    das  Ganze    selbst    wiederum    Organismus    ist,    dann 
werden    ja    die    vorher    äufseren  Beziehungen    der  Organismen    auf 
einander    selbst    zu    inneren,    und    wir    gelangen    notwendig    auf  die 
Idee  der  gesamten  Natur   als   eines  „Systems    nach   der  Regel    der 
Zwecke,"  welcher  nun  aller  Mechanisums  untergeordnet  werden  mufs. 
Damit  erweitert  sich  der  Satz,  dafs  in  einem  (einzelnen)  Organismus 
etwas  Zweckloses  nicht  vorhanden  ist,  zu  dem  anderen:   „Alles  in 

der  Welt  ist  irgend  wozu  gut,  nichts  ist  in  ihr  umsonst, 
und  man  ist  durch  das  Beispiel,  das  die  Natur  an  ihren  organischen 
Produkten  gieht,  berechtigt,  ja  l)erufen,  von  ihr  und  ihren  Gesetzen 
nichts,  als  was  im  Ganzen  zweckmäfsig  ist,  zu  erwarten"  (o91). 

Und    so    wäre    denn    die  Zweckmäfsigkeit    als  ein  naturwissen- 
schaftliches    Prinzip     erwiesen?     Keineswegs;     denn     die     Natur- 
wissenschaft oder  die  Physik  in  weiterem  Sinne  behandelt  nur  das- 
jenige, was  wir  unserer  Beol)achtung  oder  dem  Experimente  unter- 
werfen können,    sie  hat    es  also  blofs    mit  der  sinnlichen  Seite    und 
demnach   mit   dem  Mechanismus    der  Natur    zu   thun.     Die  Be- 
ziehung  der  Naturerscheinungen    auf   Zwecke   jedocli,    sofern    diese 
eine  zur  Ursache  notwendige  Bedingung  sein  soll,  fällt  gänzlich  aufser- 
halb    ihrer  Spiiäre,    weil    diese  Notwendigkeit    der  Verknüi)fung    an 
der    unmittelbaren    sinnlichen    Seite    der    Naturerscheinungen    nicht 
aufzuzeigen  ist  Q]^H)).    Wenn  es  ein  Grundprinzip  einer  jeden  Wissen- 
schaft ist,  die  Grenzen  des  ihr  angewiesenen  Gebietes  nicht  zu  über- 
schreiten, und  die  Physik  ihrem  Wesen  nach  Erfiihrungswissenschaft 
ist,    so  darf  sie  ein  Prinzip  nicht    als  konstitutiv    ansehen,    das    auf 
dem  Wege  der  Erfahrung  umnittelbar  nicht  zu  erhärten  ist.      Wohl 
aber  kann  die  Naturwissenschaft  dieTeleologie  als  ein  „heuristisches 
Prinzip"  benutzen,    um    den  besonderen  Gesetzen    der  Natur   nach- 
zuforschen (423).    Wenn  ein  solcher  „Leitfaden,   die  Natur  zu  stu- 
dieren" einmal  aufgenommen  ist,  so  kann  sie  ferner  nicht  blofs  die 
einzelnen  Erscheinungen,  sondern  auch   die  Natur  im  Ganzen  nach 


i 


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426 


B,   Kant  als  Naturphilosoph. 


dieser  liegel  beurteilen,  ,,\veil  sicli  nach  derselben  noch  manche 
Gesetze  dürften  auffinden  lassen,  die  uns  nach  der  Beschränkung 
unserer  Einsichten  in  das  Innere  des  Mechanismus  derselben  sonst 
verborgen  bleiben  würden"  (4 10  f.)-  ^ur  unentbehrlich  ist  dies 
Prinzip  im  letzteren  Pralle  nicht,  weil  uns  die  Natur  im  Ganzen  als 
organisiert  nicht  gegeben  ist.  Bei  den  organisierten  Wtsen  hingegen 
ist  es  nicht  blofs  erlaubt,  sondern  sogar  „unentbehrlich  nötig,"  ist 
es  eine  „schlechterdings  notwendige  Maxime."  der  Natur  den  Begriff 
einer  Absicht  unterzulegen,  „um  auch  nur  eine  Erfahrungserkenntnis 
ihrer  inneren  Beschalfenheit  zu  bekommen,  weil  selbst  der  Gedanke 
von  ihnen,  als  organisierten  iJingen,  ohne  den  Gedanken  einer  Er- 
zeugung mit  Absicht  damit  zu  verbinden,  unmöglich  ist"  (411).  „Es 
ist  nämlich  ganz  gewiis,  dafs  wir  die  organisierten  Wesen  und  deren 
innere  Möglichkeit  nach  bloCs  mechanischen  Prinzipien  der  Natur  nicht 
einmal  zureichend  kennen  lernen,  viel  weniger  uns  erklären  können; 
und  zwar  so  gewil's,  dafs  man  dreist  sagen  kann:  es  ist  für  Menschen 
ungereimt,  auch  nur  einen  solchen  Anschlag  zu  fassen  oder  zu  hoflen, 
dafs  noch  dereinst  ein  Newton  aufstehen  könne,  der  auch  nur  die 
Erzeugung  eines  Grashalms  nach  Naturgesetzen,  die  keine  Absicht 
geordnet  hat,  begreiflich  machen  werde,  sondern  man  mufs  diese 
Einsicht  dem  Menschen  schlechterdings  absprechen"  (412  f.). 

Indessen  wenn  es  auch  „ganz  unentbelu-lieh  ist,  selbst  um  diese 
nur  am  Leitfaden  der  p]rfahriinij^  zu  studieren"  (422),  dafs  man  bei 
gewissen  Naturerscheinungen  in  der  teleologischen  Verknüj)fung  der 
Ursachen  und  Wirkungen  das  Prinzip  ihrer  Möglichkeit  erblickt:  „es 
liegt  der  Vernunft  unendlich  viel  daran,  den  Mechanismus  der  Natur 
in  ihren  Erzeugungen  nicht  fallen  zu  lassen  und  in  der  Erklärung 
derselben  nicht  vorhei  zu  gehen,  weil  ohne  diesen  keine  Einsicht  in 
die  Natur  der  Dinge  erlangt  werden  kann"  (423).  Die  Aufgabe 
des  Naturforschers,  als  eines  solchen,  ist  es  eben,  die  Natur  aus  dem 
Gesichts})unkte  des  Mechanismus  zu  betrachten.  Der  Erfolg  beweist, 
dafs  er  selbst  dort  nicht  zu  verzagen  und  mutlos  allen  Ansj)ruch 
:iuf  Natureinsicht  in  diesem  Eelde  aufzugeben  braucht,  wo  sein 
Prinzij)  im  ersten  x\ugenblick  nicht  hinzulangen  scheint.  So  beruht 
der  Nutzen  einer  „komparativen  Anatomie"  nicht  blofs  darin,  dafs 
sie  uns  die  Gesamtheit  der  organischen  Wesen  als  etwas  einem 
Systeme  Ahnliches  erkennen  läfst,  sondern  wir  bekommen  (ladur(!h 
sogar  einen  Einblick  in  die  Entstehung  der  verschiedenen  Arten 
überhaupt,  ohne  dafs  wir  es  nötig  hätten,  übernatürliche  Prinzipien 
dabei  zu  Hilfe  zu  nehmen.  „Die  Übereinkunft  so  vieler  Tiergattungen 
in  einem  gewissen  gemeinsamen  Schema,  das  nicht  allein  in  ihrem 
Knochenbau,  sondern  auch  in  der  Anordnung  der  übrigen  Teile  zum 


1  ( 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


42 


Grunde    zu    liegen    scheint,    wo   bewunderungswürdige    Einfalt    des 
Grundrisses    durch    Verkürzung    einer    und    Verlängerung    anderer, 
durch  Einwickelung    dieser    und  Auswickelung   jener  Teile    eine    so 
grofse  Mannigfaltigkeit  von  Spezies  hat  hervorbringen  können,  läfst 
einen,  obgleich  schwachen  Strahl  von  Hoffnung  in  das  Gemüt  fallen, 
dafs  hier  wohl  etwas  mit  dem  Prinzip  des  Mechanismus  der  Natur, 
ohne   welches   es   überhaupt    keine   Naturwissenschaft   geben    kann, 
auszurichten  sein  möchte.     Diese  x\nalogie   der  Formen,    sofern  sie 
bei  aller   Verschiedenheit    einem  gemeinschafthchen  Urbilde    gemäfs 
erzeugt  zu  sein  scheinen,  verstärkt  die  Vermutung  einer  w  i  r  k  1  i  c  h  e  n 
V  e  r  w  a  n  (1 1  s  c  h  a  f  t  derselben  in  der  Erzeugung  von  einer  g  e  m  e  i  n  - 
schaftlichen     Urmutter     durch    die     stufenartige     An- 
näherung   einer  Tiergattung  zur  anderen    von    derjenigen    an,    in 
welcher  das  Prinzip  der  Zwecke  am  meisten  bewährt  zu  sein  scheint, 
nämlich  dem  Menschen,    bis    zum  Polyp,    von  diesem    sogar   l)is    zu 
Moosen  und  Flechten  und  endlich  zu  der  niedrigsten  uns  merklichen 
Stufe  der  Natur,  zur  rohen  Materie,  aus  welcher  und  ihren  Kräften 
nach    mechanischen  Gesetzen  (gleich  denen,    wonach  sie  in 
Krystallerzeugungen  wirkt),   die  ganze  Technik  der  Natur,    die  uns 
in  organisierten  Wesen  so  unbegreiflich  ist,    dafs  wir  uns  dazu  ein 
anderes  Prinzip  zu  denken  genötigt  glauben,  abzustammen  scheint" 
(431  f.). 

Der  „Archäologe  der  Natur"  kann  aus  dem  Mutterschofse  der 
Erde  „anfänglich  Geschöpfe  von  minder  zweckmäfsiger  Form"  hervor- 
gehen lassen;  er  kann  sich  vorstellen,  dafs  „diese  wiederum  andere, 
welche  angemessener  ihrem  Zeugungs])latze  und  ihrem  Verhältnisse 
unter  einander  sich  ausbildeten,  gebären"  und  dafs  auf  solche  AVeise 
die    Ver.schiedenheit    und    Mannigfaltigkeit    der  Arten    sich    heraus- 
gebildet habe,  wie  sie  uns  heut  im  Reiche  des  Organischen  entgegen- 
tritt   (4o2).      Er    braucht    dahei    nur    eine    „generatio    heteronyma" 
vorauszusetzen,    d.  h.    die    M()glichkeit.    dafs    ein    Produkt    entsteht, 
welches    dem  Erzeugenden    nicht  gleichartig  ist.     Von    dieser   zeigt 
uns  zwar  die  Erfahrung  kein  Beispiel,  wonach  vielmehr  alle  Zeugung, 
die  wir  kennen,  generatio  homonyma  ist,  sie  ist  jedoch  durchaus  nicht 
unwahrscheinlich,   „z.  P>.  wenn  gewisse  Wassertiere   sich    nach    und 
nach    zu  Sumpftieren    und    aus   diesen    nach    einigen  Zeugungen    zu 
Landtieren  ausbildeten"  (4oo).     Dabei  mag  auch  noch  diejenige  Ver- 
änderung,  „welcher  gewisse  Individuen  der  organisierten  Gattungen 
zufälliger  Weise  unterworfen  werden,"  eine  KoUe  im  Prozesse  der 
organischen  Entwickelung  gespielt  haben  ;  jedoch  ist  Kant  der  Ansicht, 
wenn  ihr  so  abgeänderter  Charakter  erblich  und  in  die  Zeugungskraft 
aufgenommen  sei,  so  könne  sie  nicht  füglich  anders,  denn  als  „gelegent- 


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428 


B.    Kant  als  Natur})liilosoph. 


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liehe  Entwiekelung  einer  in  der  Spezies  ursprünglich  vorhandenen 
zweckmäfsigen  Anlage  zur  Selbsterhaltung  der  Art  beurteilt 
werden"  (ebd.     Vgl.  oben  S.  44  —  50). 

Kant  ist  mithin,  wie  wir  dies  schon  früher  gesehen  haben,  weit 
entfernt,    mit  dem  Prinzip    des  Mechanismus    allein  auskommen    zu 
wollen.     Mag    auf   dem    erwähnten    rein    mechanischen  Wege    auch 
vieles  bei  der  Herausbildung  der  verschiedenen  Arten  sich  erklären 
lassen:    der  Forscher  mufs    doch    der  Mutter  Natur    ,,eine  auf   alle 
diese  Geschöpfe  zweckmäfsig  gestellte  Organisation  beilegen,  widrigen- 
falls die  Zweckforni  der  Produkte  des  Tier-  und  Pflanzenreichs  ihrer 
:\Ioglichkeit  nach  gar  nicht  zu  d<Miken  ist"   (482).      Wenigstens  der 
Anfang    des    ganzen   Entwickelungsprozesses    ist    ohne  Zuiiilfenahme 
eines  teleologischen  Prinzips  nicht  zu  erklären  ;  denn  ist  schon  über- 
haupt die  mechanische  Entwickelungsliypothese   „ein  gewagtes  Aben- 
teuer der  Vernunft,"   so  ist  es  vollends   „ungereimt,"   eine  generatio 
aequivoca  anzunehmen,    wofern    man  darunter    die  Erzeugung    eines 
oriranisierten  Wesens  durch  die  Mechanik  der  rohen  unorganisierten 
Materie  versteht"   (432.  437).     Kant  verwirft    den   Occasionalismus, 
wonach  Gott    bei  Gelegenheit  einer  jeden  Begattung  der  in  ilir  sich 
mischenden  Materie  unmittelbar  die  organische  Bildung  giebt,  wonach 
mithin   jede    Zeugung    eine    neue    Schöpfung    und    der    Prozel's    der 
Zeugung    nur    (Mue   äurserliche  Formalität    ist.      Er    verwirft    ebenso 
„das  System    der  Zeugungen    als  blofser  Edukte,"    die  involutions- 
oder   Einschachtelungstheorie,    w^onach  der  Keim  schon  von  Anfang 
an  alle  individuellen  Besonderheiten    in    sieh   enthält,    die  dann   mir 
bei  Gelegenheit  des  AVachstums    in  die  Erscheinung  treten.     Beide 
Annahmen   sind  hyperphysischer  Natur  und  machen  eine  natürliche 
Erklärung  der  organischen  Fntwickelung  unmöglich.     Dagegen  stellt 
sich    Kant    auf    die    Seite    des  ,. Systems    der  Epigenesis"    oder    der 
Zeugungen  als  wirklicher  Produkte.     Nach  diesem  ist  die  spezitische 
Form  in  den  Keimen  zwar  auch,  aber  blofs  virtualiter  j)räformiert, 
und  die  Natur  wird   in  ilini    als  selbst  hervorbringend,    nicht    blofs 
als  entwickelnd   betrachtet,  iudvm  es  mit  dem  kleinstmöglichen  Aul'- 
wande  des  tjbernatürlicluMi    alles  Folgende  vom  ersten  Anfange    an 
der  Natur  überläfst,  „ohne  aber  über  diesen  ersten  Anfang,  an  dem 
die  Physik   überhaupt  scheitert,  sie  mag  es  mit  einer  K(4te 
der  Ursachen  versuchen,  mit  welcher  sie  wolle,  etwas  zu  bestimmen" 
(437).     In  dieser  Hinsicht  schliefst  sich  Kant  an  den  Naturforscher 
Blumenbach   an   und  ist  mit  dem   letzteren  der  Ansicht,  dafs  zu 
den   allgemeinen  Eigenschaften    und  Kräften  der  Materie    noch    ein 
teleologischer  „B  i  1  d  u  n  g  s  t  r  i  e  b ,"  als  ininuiterielles,  metapliysisches 
Prinzi]),  hinzukommen  mufs,  wenn  anders  die  Entstehung  und  Ent- 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


429 


Wickelung  der  organischen  Wesen  auch  nur  auf  mechanischem  Wege 
möglich  sein  soll  (435—438). 

Daraus    geht    hervor,    dafs    die    mechanische  Verknüpfung    der 
Ursachen  und  Wirkungen   nur  die  Eine  Seite   des  wirklichen  Vor- 
gangs,    und    zwar    dem    „absichtlichen    Technicismus"     der    Natur 
untergeordnet  ist.  der  sich  ihrer  nur  bedient,  um  seine  Zwecke 
in  der  Natur  zu  realisieren.      „Denn    wo    Zwecke    als    Gründe    der 
Möglichkeit    gewisser    Dinge    gedacht    werden,    da    mufs   man   auch 
Mittel  annehmen,  deren  AVirkungsgesetz  für  sich  nichts  einen  Zweck 
Voraussetzendes    bedarf,    mithin    mechanisch    und  doch    eine   unter- 
geordnete Ursache  absichtlicher  Wirkungen  sein  kann"  (427).    ..Weil 
nun  aber  ganz  unbestimmt  und  für  unsere  Vernunft  auch  auf  immer 
unbestimmbar  ist,   wie  viel  der  Mechanismus  der  Natur,  als  Mittel 
zu  jeder   Endabsicht  in  derselben,  thue,    so  wissen    wir    auch  nicht, 
wie    weit    die  für  uns  mögliche  mechanische  Erklärungsart  gehe" 
(ebd.).      Für    die  Naturwissenschaft    entspringt  daraus  die  unerläfs- 
liclie   Forderung:    „alle  Produkte  und  Ereignisse  der  Natur,    selbst 
die  zweckmäfsigsten,  so  weit  mechanisch   zu  erklären,    als 
es  innner  in  unserem   Vermögen  steht"  (428.431).     Weil 
jedoch  für  die  Möglichkeit    organischer  Wesen    in    der  Natur    „der 
blofse   Mechanisnms   der  Natur    zur  Erklärung  dieser  ihrer  Pro- 
dukte gar  nicht  hiidänglich   sein"  kann  (42()),  die  unendliche  Menge 
derselben  uns  aber  wiederum  veranlafst,  die  teleologische  Erklärungs- 
art auch  für  das  Naturg  a  nze  anzunehmen,  daher  müssen  wir  eine 
„allgemeine  Verbindung  der  mechanischen  Gesetze  mit  den  teleo- 
logischen   in    den  Erzeugungen    der  Natur"   uns  denken,    „ohne  die 
Prinzipien  der  Beurteilung  derselben    zu   verwechseln    und  eines  an 
die  Stelle    des    anderen    zu    setzen"    (427).      Wir  müssen  also  „be- 
hutsam verfahren  und  nicht  jede  Technik  der  Natur,  d.  i.  ein  pro- 
duktives A'ernüigen  derselben,   welches  Zweckmäfsigkeit  der  Gestalt 
für    unsere    blofse    Ap])rehensi()n    an    sich    zeigt    (wie  bei  regulären 
KörpernJ  für  teleologisch  zu  erklären  suchen,  sondern  immer  so  lange 
für  blofs  mechanisch  möglich  ansehen.  Allein  darüber  das  teleologische 
Prinzip  gar  ausschliefsen  und,   wo  die  Zweckmäfsigkeit  für  die  Ver- 
nunftuntersuchung   der    Möglichkeit    der    Naturformen    durch    ihre 
Ursachen   sich   ganz  unleugbar  als  Beziehung   auf  eine  andere  Art 
der  Kausalität  zeigt,  doch  immer  den  blofsen  Mechanismus  befolgen 
wollen,    mufs    die    Vernunft    ebenso    phantastisch    und    unter  Hirn- 
gespinnsten  von  Naturvermögen,   die  sich    gar  nicht  denken    lassen, 
herumschweifend  machen,  als  eine  blofs  teleologische  Erklärungsart. 
die   gar   keine    Kücksicht    auf   den    Naturmechanismus    nimmt,    sie 
schwärmerisch  machte"  (424). 


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430 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


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Man  kann  das  Verliältnis  von  Mechanismus  und  Teleologie,  als 
Prinzipien  der  Erkenntnis,  nicht  unzweideutiger   und  treffender  zur 
DarsteUung  bringen,  als  es  von  Kant  in  seiner  „Kritik  der  Urteils- 
kraft'' geschehen  ist.     So  sehr  wir  auch  die  kantische  Philosophie, 
und  gerade  in  ihren  Fundamenten  angreifen  mufsten,    so  rückhalt- 
lose Bewunderung    müssen    wir  dem  Denker  zollen,    der  mit  seiner 
klaren  Einsicht    in    den  wesentlichen  Unterschied  der  Naturwissen- 
schaft   von    der    Naturphilosophie    auf   diesem  Gebiete    thatsächlich 
Grenzen  abgesteckt  und  mit  seiner  Feststellung  ihrer  beiderseitigen 
methodologischen  Prinzipien  ebenso  hoch  über  seinen  eigenen  Zeit- 
genossen, wie  über  den  oftiziellen  Vertretern   der  heutigen  AVissen- 
schaft  dasteht.     Wären  die  Naturforscher,   die  heute  die  Teleologie 
mit  grofsen   Worten  totschlagen,    auch   nur    ein  wenig  tiefer  m  die 
Philosophie  eingedrungen   und   lilltten  die  modi^-nen  Philosophen  sich 
bemüht,    dem    eigentlichen  Ziel    und   Wesen    der  kantischen  Plnlo- 
sopliie  gerecht  zu  werden,  anstatt  sich  nur  für  die  phänomenalistische 
und    positivistische    Seite    von     Kant     zu     interessieren,    weil     diese 
ihnen    bei  ihrer  eigenen  Al)kehr  von   allem   Metaphysischen  zufällig 
gerade    sympathisch  war,    es    hätte    wahrlich    nicht    dahin   kommen 
k(")nnen,  dafs  die  Verachtung  teleologischer  Prinzipien  heute  geradezu 
für  das  Zeichen  eines  „wissenschaftlichen"  Geistes  gilt,  so  hätten  wir 
auch  schon  längst  eine  wirkliche  Naturphilosophie,  die  beider 
spezialistischcn   Zersplitterung    in    der    modernen  AVissenschaft  und 
der    täglich    mehr    anwachsenden  Fülle    des   Materiales   nachgerade 
wohl  von  allen  Seiten  als  ein  schreiendes  Bedürfnis  emi^fuiuhMi  wird, 
.letzt   besitzen    wir  z.  B.    in    den  Arbeiten    Hack  eis    nur    Bruch- 
stücke einer  Naturphilosophie,   die  keine  Philosophie  siiul,    weil  sie 
bei  ihrem  Hasse  gegen  die  Teleologie  ganz  und  gar  in  der  Beschränkt- 
heit des  naturwissenschaftliclien  Standpunktes  befangen  bleiben,  keine 
Naturwissenschaft,  weil  sie  ihren  Mechanismus  zum  absoluten  (philo- 
sophischen) Prinzip  aufbauschen.  Bruchstücke,  die  in  wissenschaftlicher 
Hinsicht  reine  jVlonstra  sind  und  daher  weder  die  exakten  Forscher, 
noch     die    Philosophen     befriedigen     kihmen.       Damit    jedoch    dem 
Ganzen  der  Humor  nicht  fehle,  so  sind  wir  jetzt  glücklich  auf  dem 
Standpunkt  angelangt,  dafs  von  Naturforschern  und  Philosophen  Kant 
als  derjenige  gepriesen  zu  werden  ptlegt,  welcher  der  Teleologie  den 
Garaus  gemacht  habe!     Und  doch  ist  niemand  mehr  als  Kant,  und 
zwar  gerade  im  Interesse  einer  metaphysischen  Natur- 
philosophie   bestrebt    gewesen,    der  Teleologie  eine    objektive 
AVahrheit  zu  sichern,  und  es  liegt  nur  an  seinen  unglücklichen  erkenntnis- 
theoretischen  Voraussetzungen,    an    die    wenigstens    von    den 
Naturforschern   Keiner  glaubt,  wenn  er  dies  Ziel  nur  zum 


1  / 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie.  431 

Teil  erreicht  und  die  Objektivität  des  Zweckbegriffes  sich  ihm  unter 
der  Hand  in  den  widerspruchsvollen  Begriff  einer  blofs  subjektiven 
Objektivität  umgebogen  hat.  — 

Mag    es    nun    um   den  Zweckbegriff   bestellt  sein,    wie  es  will 
so  viel    ist    durch   die  bisherige  Untersuchung   jedenfalls    bewiesen' 
dafs    er    als    solcher   nicht    in    die   Naturwissenschaft   hineingehört. 
Ob  die  Naturzweckmäfsigkeit  blofs  subjektiv  gültig,  nämlich  blofse 
Maxime  unserer  Urteilskraft,  oder  ob  sie  ein  objektives  Prinzip  der 
Natur,  wonach   dieser  aulser  ihrem  Mechanismus  (nach  blofsen  Be- 
wegungsgesetzen)  noch  eine  andere  Art  der  Kausalität   nach  End- 
ursachen  zukommt,    ob  sie  ein  konstitutives    oder  blofs    regulatives 
Prinzip,  absichtliche  oder  unabsichtliche  Zweckmäfsigkeit    ("technica 
intentionalis  oder  naturalis)  (403)  sei,   das  sind  Fragen,  w.-lche  die 
Naturwissenschaft  zu  entscheiden  nicht  fähig  ist.  die  vielmehr  nur  auf 
djm  Boden  der  Metaphysik  ausgefochten  werden  können.     Wenn 
Kant    sich    hier    überall    für    die    letzte  Seite  der  Alternative  ent- 
scheidet   und  die  Teleologie    auf  das  Niveau  eines  blofs  regulativen 
Prinzips    herabdrückt,    so    tliut    er    dies,    wie   gesagt,    nur  aus  dem 
Grunde,    weil    der    Zweckbegriff    in    der    Erfahrung    uns    nicht  un- 
mittelbar gegeben  und  folglich  nur  mit  einer  gewissen  AVahrschein- 
lichkeit  vorauszusetzen  ist.     Wir    haben    aber    auch    schon    hervor- 
gehoben,  dafs  dieser  Einwand  gegen  die  Teleologie  jedenfalls  nicht 
stichhaltig     ist.       Ebenso     wenig     ist    Gewicht     darauf     zu      legen, 
wenn  er  diese  Behauptung  auf  indirektem  Wege  auch  noch  dadurch 
zu  begründen    sucht,    dafs    die    Annahme    der  Zweckmäfsigkeit.  als 
eines    konstitutiven    Prinzips    neben    dem    konstitutiven   IVinzip    des 
Mechanismus,  eine  Antinomie  ergebe,   die    überhaui)t    nur   zu    leisen 
sei,     wenn  man    jene    nls    ein    bh)fs    regulatives    Prinzip    betrachte 
(398—401).      Hier  haben   wir  es  zu  offenbar  nur  mit  einer  Parallele 
zu   den  Antinomieen  der  Vernunftkritik  zu  thun,   die  Kant  nur  aus 
systematischen    Gründen    erfunden    hat.    als  dafs   es  sich  verh)hnte, 
näher  darauf  einzugehen.*)      AVnndern  mufs  man    sich    nur,     wie  er 
die    Teleologie    für    ein    blofs    regulatives    Prinzip    ausgeben    kann, 
wenn  doch  das  konstitutive  Prinzip  des  Mechanismus  ihm,  als  dem 
höheren,   untergeordnet  sein  soll.    Durch  alle  derartigen  Annahmen 
wird    die    Wahrheit    nicht    erschüttert,     dafs    auch    die    Teleologie 
konstitutiv    und    dafs    sie   ein  objektiver   Faktor  im  Naturgescheiren 
ist,  wenngleich  diese  Objektivität  wegen  ihres  unsinnlichen  Charakters 
schwerer  aufzuzeigen  und  über  die  Bedeutung  einer  Hypothese  nicht 
hinauskommt. 


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*)  Vgl.  V.  Hartiiianii:  Kants  Erkenntnistheorie  u.  Metaphysik  246— 1^48. 


1 
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432 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


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Der    Grund,    weshalb   die   Metaphysik    ihrerseits   die  objektive 
Natur  des  Zweckbegriffes  anerkennen  mufs,    liegt  darin,    weil  ohne 
diese  Annahme    die    thatsiichlich    wahrgenommene  Zweckmäfsigkeit 
uns  unverständlich  bleibt.     Der  Materialismus  eines   Epikur   und 
Demokrit,  der  alle  Erscheinungen  aus  der  blofsen  Mechanik  leb- 
loser Stoffteilchen  hervorgehen  läfst,  vermag  auch  nicht  einmal  den 
Schein  in  unserem  teleologischen  Urteil  zu  erklären  und  ist,  indem 
er  den   blinden  Zufall    zum   Erklilrungsgrunde   macht,    „so    offen])ar 
ungereimt"    (404),    dafs    nur    reiner    Unverstand    auf    den    Einfall 
kommen  kann,   aus  ihn.  die  zweckmäfsigen  Naturprodukte  abzuleiten. 
Man    kommt    aber    auch    nicht   weiter,    wenn  man  die  Leblosigkeit 
der    Materie    aufhebt    und    ihren    Elementen    Emi)findung    und  Be- 
wufstsein  beilegt.     Der  Hylozoismus  dreht  sich  im  Kreise,  wenn  er 
die  Zweckmäfsigkeit    der   Natur    an    organisierten  Wesen  aus  dem 
Leben  der  Materie  ableiten  will    und  dieses  Leben  wiederum  nicht 
anders    als    in    organisierten    Wesen    kennt.      Überdies    mufs   diese 
Annahme    einer    lebendigen   Materie    schon    an    dem    W^iderspruche 
scheitern,  dafs  Leblosigkeit,  inertia,  den  wesentlichen  Charakter  der 
Materie    ausmacht  (407).     Dies  Letztere    gilt    freilich    nur  für  den 
phänomenalen  Begriff  der  Materie,  wie  Kant  ihn  fafst.  für  die  .Materie, 
als  Objekt  unseres  Bewufstseins.  dem  sie  blofs  als  toter,  ausgedehnter 
Stoff  erscheint,  aber  es  gilt  nicht  für  die  Materie,  als  transcendentes 
Substrat    und    Ursache    dieser   subjektiven    Erscheinung;    denn    da 
ist,  wie    wir   gesehen    haben,    die  Materie  nichts  als  Kraft,    und  es 
ist  kein   AViderspruch,    ihr    auch    ein  Leben  zuzuschreiben.     Wohl 
aber    hat    Kant   Recht,    dem    Materialismus,  wie  dem  Hylozoismus. 
entgegenzuhalten,     dafs  sie  übersehen,    wie  in  einem  zweekmäfsigen 
Produkte    das    Ganze    das   Prius    seiner    einzelnen  Teile  sein  mufs, 
dafs  sie  infolgedessen  sich  vergeblich  abmühen,  bei  ihrer  Annahme 
einer  Vielheit  selbständiger  Substanzen  die  Einheit  des  Organischen 
rein  äufserhch  aus  einem  blofsen  Aggregate  abzuleiten :   „Die  Auto- 
kratie der  IVlaterie  in  Erzeugungen,  welche  von   unserem  Verstände 
nur  als  Zwecke  begriffen  werden  können"    —   daran  ist  tViatsächlich 
niclit  zu  rütteln   —    „ist  ein   Wort  ohne  Bedeutung-'   (4:U). 

Aus  diesem  Grunde  und  um  im  Interesse  der  Naturwissenschaft 
aller  Nachfrage  nach  dem  Grunde  der  Möglichkeit  von  Natur- 
zwecken überhoben  zu  sein,  hatte  Kant  früher  in  seiner  Schrift 
über  den  „Einzig  m()glichen  Beweisgrund'^  sich  der  Lehre  des 
Spinoza  zugeneigt  und  die  zweekmäfsigen  Veranstaltungen  m  der 
Natur  überhaui)t  nicht  für  Produkte,  sondern  für  einem  Urwesen 
inhärierende  Accidenzen  angesehen,  diesem  Wesen  selbst  jedoch,  als 
Substrate  der    Naturerscheinungen,   nicht    Kausalität,  sondern    blofs 


1  I 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie.  433 

Subsistenz  beigelegt.     Auf  diese  AVeise  hatte  er  zwar  die  „Einheit 
des  Grundes,    die  zu   aller  Zweckmäfsigkeit   erforderlich  ist"  (405) 
herausbekommen ;  allein  indem  er  der  allbefassenden  Substanz  nicht 
zugleich  auch  einen  Verstand    zugeschrieben    hatte,    war  jene  onto- 
logische    Einheit    darum     nicht    zugleich    auch    schon    Einheit    des 
Zweckes,    sie    war    nur   blinde  Naturnotwendigkeit    und  ebenso  un- 
fähig, die  Zweckverknüpfung  zu  erklären,  wie  es  die  blofse  Mechanik 
des  Materialismus  ist  (ebd.  f.  484).     Es    ist   gleichgültig,    ob   Kant 
Recht  hat,    jene  Ansicht   für  diejenige  des    Spinoza   auszugeben: 
mit    den    Worten   des  Letzteren  würde   er   sie  wohl  schwerlich  be- 
legen können.     Interessant  ist  es  jedenfalls,  zu  sehen,  wie  sich  seine 
eigene  Auffassung  des  Absoluten  seit  dem  Jahre  17G3  verändert  hat, 
nachdem    inzwischen    durch   seine   dauernde  Beschäftigung   mit  den 
Problemen  der  Erkenntnistheorie    und  der  Moral    der  Schwerpunkt 
seines  Interesses  mehr  und  mehr  von  der  Natur  zum  Geiste  hinüber 
sich  verschoben  hatte.     So  lange  Kant  lediglich  die  Interessen  der 
Naturi)hilosopliie  vertrat,  hatte  er  an  dem  Begriffe  eines  Absoluten 
keinen  Anstofs  genommen,    das   nur   als  blinde  Notwendigkeit,    wie 
die  Naturgesetze,  sich  bethätigte,  und  er  hatte  es  gerade  als  einen 
Vorzug  dieser  Anschauung  angesehen,    dafs  sie  die  Annahme  eines 
göttlichen  Verstandes  entbehrlich  machte.     Als  er  jedoch,  tiefer  in 
das     Wesen    des    Geistes    eingedrungen,     auf    dem    Umwege    der 
Moral    wiederum   zu  jenem  Gegenstande    zurückkehrte,    da  genügte 
ihm  seine  frühere  xluffassung   nicht   mehr.     Er  sah  sich  schon  aus 
Gründen  der  Naturphilosophie  zu  der  Anerkennung  genötigt,    dafs, 
wenn    es    ein   Absolutes    giebt,    dies    mehr    als    blofs    ontologisclier 
Natur    sein    müsse;    zugleich    aber  war    er  doch    auch    durch  seine 
Naturphilosophie  davor  geschützt,  das  zum  Begriffe  Gottes  vertiefte 
Absolute  im  Einklänge  mit  der  deistischen  Anschauungsweise  seiner 
Zeit  in  ein  unfafsbares  Jenseits  der  Natur  zu  rücken. 

Die  Zweckverknüpfung  mufs  in  einem  absoluten  Verstände 
wurzeln  und  eben  dadurch  über  die  Vielheit  der  Besonderungen 
herrschend  sein.  Eben  auf  diese  Annahme  führt  auch  die  Erwägung, 
dafs,  wie  wir  sahen,  eine  jede  zweckmäfsige  Naturerscheinung  nach 
zwei  verschiedenen  Prinzipien  beurteilt  werden  kann  und  mufs.  Dies 
ist  nämlich  nur  dann  kein  AV^iderspruch,  und  die  beiden  Erklärungs- 
arten der  Teleologie  und  des  Mechanismus  können  nur  dann  in  der 
Naturbetrachtung  neben  einander  bestehen,  wenn  sie  in  einem 
einzigen  oberen  Prinzip  zusammenhängen,  dessen  verschiedene  Seiten 
sie  repräsentieren.  „Das  Prinzip,  welches  die  Vereinbarkeit  beider 
in  Beurteilung  der  Natur  nach  denselben  möglicli  machen  soll,  mufs 
111  das,  was  aufserhalb  beiden,    mithin   auch   aufser    der  mög- 

1>  r  e  w  s ,  Kants  Naturphilosophie.  28 


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434 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


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liehen  empirischen  Naturvorstellung  liegt,  von  dieser  aher  doch  den 
Grund  enthält,  d.  i.  ins  Üher  si  n  nliche,    gesetzt    und   eine  jede 
heider  Erklärungsarten    darauf  hezogen  werden"  (425).     An   ehen- 
demselben  Dinge  der  Natur  lassen  sich  nicht  heide  Prinzipien  gleich- 
zeiti^r  von    uns    denken.     Wir    können    nicht    die    mechanische   Be- 
trachtungsart   zugleich    mit    der    teleologischen  anwenden,    die    eine 
RrkUirungsart  schliefst  die  andere  aus,  und  wenn  wir  ein  Naturding 
nach  beiden  beurteilen  wollen,  so  müssen  wir  erst  den  Gesichtspunkt 
wechseln,  wobei  denn  jene  Prinzipien  stets  gesondert  neben  einander 
herlaufende    Reihen    hiklen    (424).     AVenn    trotzdem    beide   gleich- 
berechtigt und  folglich  Mechanismus  und  Teleologie  zugleich  wirklich 
sind,  so'  steht  zu  vermuten,  dafs  ihre  Vereinigung  zu  einer  einzigen 
Gedankenreihe  nicht  an  sich,    sondern  nur  für  unsern  menschlichen 
Verstand  unm()glich  sei  (431);  dafs    es  folglich    ,.blofs  eine  gewisse 
Zufälligkeit    der   Beschaffenheit"    unseres   Verstandes   sei,    die    uns 
daran  hindert,  sie  in  ilirer  Identität  zu  fassen  (418).    Daraus  würde 
dann  folgen,    dafs  wir  nur  von  dieser  Eigentümlichkeit  unseres  Er- 
kenntnisvermögens   zu    abstrahieren    und    die  wesentlichen   Kaktoren 
des  Denkens  überhaupt  zur  Einheit  zusammenzufassen  brauchten,  um 
uns  eine  Vorstellung  von  jenem  höheren  Prinzip  zu  machen,  welches 
die  beiden  für  uns  verschiedenen  Prinzipien  als  seine  Momente  in  sich 

enthält. 

Worin  besteht  nun  diese  Eigentümlichkeit  unseres  Erkenntnis- 
vermögens?    Darin,  dafs  zum  Zustandekommen  einer  Erkenntnis  in 
uns  „zwei  ganz  heterogene  Stücke-'  gehören.    Verstand  für  Begriffe 
und    sinnliche  Anschauuni?   für  Objekte,    die   eben   diesen  Begriffen 
korrespondieren.     Infolgedessen    ist    es    für    uns    ununii^^änglich  not- 
wendig, Möglichkeit  und  Wirklichkeit  der  Dinge  zu  unterscheiden; 
denn    diese    Unterscheidung    des    blofs    Möglichen    vom    A\'irklichen 
beruht  darauf,    „dafs  das    erstere  nur   die  Position  der  Vorstellung 
eines  Dinges  respektiv  auf  unseren  Begriff  und  überhaupt  das  Ver- 
mögen zu  denken,  das  letztere  aber  die  Setzung  des  Dinges  an  sich 
selbst    (auCser    diesem  Begriffe)    bedeutet,"    sodafs  wir    also    „etwas 
immer  noch  in  Gedanken  haben  können,  ob  es  gleich  nicht  ist,  oder 
etwas  als  gegeben  uns  vorstellen,  ob  wir  gleich  noch  keinen  Begriff 
davon    haben"     (414  f.).      „Unser   Verstand    ist    ein    Vermi^gen    der 
Begriffe,  d.  i.  ein  diskursiver  Verstand,   für  den  es  freilich  zutallig 
sein  muls,    welcherlei  und  wie  sehr  verschieden  das  Besondere  sein 
mag,    das  ihm   in    der  Natur  gegeben  werden   und    das    unter  seine 
Begriffe  gebracht  werden  kann"   (411)).     Notwendig  ist  an   ihm  nur 
seine  allgemeine  Form,  und  es  besteht  eben  (bis  AVesentliche  hcines 
Funktionierens  darin,  die  Besonderheit  des  von  aufsen  emi.fangenen 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


435 


Stoffes    in    diese   Allgemeinheit    seiner  apriorischen   Begriffe   einzu- 
ordnen.    So   kommt  es,    „dafs    in  der  Erkenntnis    durch    denselben 
durch    das  Allgemeine    das   Besondere    nicht    bestimmt    wird,    und 
dieses   also  von  jenem   nicht  abgeleitet  werden  kann"  (ebd.).      Ihm 
mufs    zunächst    in    der    empirischen  Anschauung    das  Einzelne    und 
Besondere  gegeben  sein,  von  dem  aus  er  dann  zum  abstrakt-Allge- 
meinen („analytisch-Allgemeinen-')   gelangt;    er   ist    folglich   aufser 
Stande,  ein  reales  Ganze  der  Natur  sich  anders,   denn  als  Wirkung 
der    konkurrierenden    bewegenden  Kräfte    der  Materie    vorzustellen 
(•420).     Eine   solche  Vorstelluiigsart   ist  die  mechanische,    die  somit 
die  unserem  Verstände  eigentlich  gemäfse  ist.     „Aber  es  kommt  auf 
solche  Art  kein  Begriff  von  einem  Ganzen  als  Zweck  heraus,  dessen 
innere  Möglichkeit  durchaus  die  Idee  von  einem  Ganzen  voraussetzt, 
von  der  selbst  die  Beschaffenheit  und  AVirkungsart  der  Teile  abhängt, 
wie    wir    uns    doch    einen    organisierten  Körper    vorstellen  müssen" 
(421).      Denkt    sich   jedoch   unser  V^erstand  ein  Ganzes  als  bestim- 
menden Grund  der  Verknü])fung  der  einzelnen  Teile,  so  ist  dies  nicht 
das  wirkliche  Ganze,  d.  h.  dasjenige  Ganze,  welches  die  Verknüpfung 
faktisch  vollzieht,    sondern    es  ist  nur  ein    mögliches  Ganzes,   es  ist 
mit  andern  AVorten  nur  die  Vorstellung  oder  Idee  des  Ganzen, 
die  wir  als  Grund    der  Möglichkeit   jener  Verknüpfung    uns  vorzu- 
stellen vermögen,  eine  ideale,  nicht  die  reale  Ursache,  die  beide  somit 
infolge  der  eigentümlichen  Beschaffenheit  unseres  Verstandes  für  uns 
stets  getrennte  Begriffe  sind  (420). 

Nun  können  wir  uns  aber  auch  ein  von  der  Sinnlichkeit  unter- 
schiedenes  und  davon  ganz  unabhängiges  Erkenntnisvermögen,   „ein 
Vermögen  einer  vcdligen  Spontaneität  der  Anschauung."  d.  h.  einen 
„Verstand  in  der  allgemeinsten  Bedeutung"  denken,  der  mithin  nicht 
diskursiv,  wie  der  unsrige,   sondern  intuitiv  ist  (AiÜ).      Für  einen 
solchen    V'erstand  würde   jene  Zufälligkeit    nicht  existieren,    die    für 
unsern  Verstand  darin  liegt,   dafs  er  eines  ihm  selbst  fremden  Stoffes 
von    aufserhalb    bedarf,    seine    ganze    Funktionsart    wäre    vielmehr 
absolut  notwendig,   weil  er  ja  nur  mit  sich  selber  zu  thun  hat. 
Für  ihn  würden  folglich  auch  Anschauung  und  Begriif,  Möglichkeit 
und  Wirklichkeit  nicht  auseinanderfallen,  sondern  es  würde  für  ihn 
heifsen:   „alle  Objekte,  die  ich  erkenne,  sind  (existieren);  und  die 
Möglichkeit  einiger,  die  doch  nicht  existierten,  d.  i.  die  Zufälligkeit 
derselben,  wenn  sie  existieren,  also  auch  die  davon  zu  unterscheidende 
Notwendigkeit  würde  in  die  Vorstellung  eines  solchen  AVesens  gar- 
nicht    kommen    können"    (410).     Demgemäfs    würde    er    auch    vom 
konkret-  (synthetisch-)  Allgemeinen,  von  der  Anschauung  eines  Ganzen 
als  eines  solchen  zum  Besonderen,  vom  Ganzen  zu  den  Teilen  gehen; 

2Ö' 


4 


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>- 


436 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


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die  M()glicbkeit  der  Teile  (ihrer  Beschaffenlieit  und  Verbindung 
nach)  würde  bei  ihm  wirklich  vom  Ganzen  abhängen.  In  einem 
solchen  Verstände  gäbe  es  keinen  Unterschied  zwischen  der  idealen 
und  realen  Ursache,  zwischen  der  mechanischen  und  teleologischen 
Verknüpfung :  Zweck  und  Ursaclie  wären  in  ihm  Eins,  und  die  Ver- 
einigung der  kausalen  und  teleologischen  Gedankenreihe  würde  von 
ihm  als  etwas  Selbstverständliches  vollzogen,  welche  unserm  diskursiven 
Denken  ewig  unerreichbar  ist  (418 — 421). 

Giebt  es  einen  solchen  intellectus  archetypus  im  Gegensatze  zu 
unserm  diskursiven,,  der  Bilder  bedürftigen  intellectus  ectypus?  Wenn 
es  ilm  giebt.  so  wäre  die  Frage  gelöst,  wie  Mechanismus  und  Teleo- 
logie    neben  einander  bestellen  und    doch    sich    nicht    widersprechen 
können.     Sie  wären  nändich  alsdann    nur   die  herausgesetzten,    ver- 
selbständigten    Momente     eines    und     des     nändichen    l'rinzips     der 
logischen  [Notwendigkeit,,   ,. welches  sich  von  der  einen  Seite 
gesehen    als  (anscheinend  tote)  Kaus:dität  der  mechanischen  Natur- 
gesetzlichkeit, von  der  anderen  Seite  als  Teleologie  darstellt.     Was 
dort  gesetzmäl'sige  AVirkung  einer  Ursache  genannt  wird,  heii'st  hier 
beabsichtigte  Folge  des  angewandten  Mittels;  die  Finalität  von  hinten 
gesehen  erscheint  als  Kausalität,   und  die  Kausalität,  so  wie  sie  mit 
ihrem    Wirken    zu    einem    gewissen  (interimistischen)  Abschlufs    ge- 
diehen ist,  erweist  sich  hinterdrein  allemal  als  Finalität,  wenn  man 
auch  während  des  mechanischen  Prozesses  gar  nichts  davon  gemerkt 
hatte.*'*)      Wir  köimen  nur  sa^\en:  ein  solclier  Verstand  läfst  sich  blol's 
denken;  die  Idee  desselben  enthält  keinen  Widerspruch  (421).  Ja,  wir 
müssen  ihn  sogar  denken  (41!i)'  er  ist  eine  für  uns  ..unentbehr- 
liche Vernunftidee''  (41  f),  423):  er  giebt  den  beulen  verschieden- 
artigen Erklärungsprinzipien,   die  zur  v()lligen  Erkenntnis  der  Natur 
gleich  unerläfslich  sind,    erst    ihre  objektive  Berechtigung,    insofern 
durch  ihn   „wenigstens  die  Möglichkeit,   dafs  beide  auch  objektiv  in 
einem    Prinzip    vereinbar    sein  möchten    (da    sie  Erscheinungen    be- 
treffen, die  einen  übersinnlichen  Grund  voraussetzen),  gesichert  ist" 
(42(3).     Wir  sollen  die  Natur  sowohl  nach  mechanischen,  wie  nach 
teleologischen  Prinzipien    beurteilen,    sie    also    für    ein   linalkausales 
System  ansehen.      „Wenn   der  archetypische  Verstand  die  Natur  als 
ein   einheitliches    hnnlkausales  System  schauend    denkt,    und    alles 
was  er  denkt,   zugleich  als  wirklich  setzt,   dann  wird  sie  eben  dadurch 
auch  als  reales  tinalkausales  System  geschaffen."**) 

Oben  liatte  uns  die  zweckmäfsige  Beschaffenheit  der  Natur  rein 


*J  V.  Hartmanii:  Philosophie  d.  Unbewufsten  III.  46(H'.  II.    i4.^— 451. 
**)  Ders.:   Kants  Erkenntnistheorie  u.  Metaphysik  259. 


.1 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


437 


als  solche  zur  Annahme  eines  übersinnlichen  Grundes  derselben  ge- 
führt,   ohne    welche    die  Beschaffenheit    der  Organismen    wenigstens 
sich  nicht  erklären   liefs.     Wir  hatten  aber  auch  gesehen,    dafs  die 
Frage    nach    der   Einheit    in    der   Zweckverbindung   schlechterdings 
unbeantwortet  bleibt,   ,.wenn  wir  jenen  Urgrund  der  Dinge  nicht  als 
einfache  Substanz  und    dieser  ihre  Beschaffenheit  zu  der  spe- 
zifischen Bescliaffenheit    der  auf  sie    sich  gründenden  Naturformen, 
nämlich  der  Zweckeinheit,  nicht  als  einer  intelligenten  Sul)stanz, 
das  Verhältnis  aber  derselben  zu  den  letzteren   (wegen  der  Zufälli<T_ 
keit,  die  wir  an  allem,  was  wir  uns  nur  als  Zweck  möglich  denken) 
nicht  als  das  Verhältnis  einer  Kausalität  vorstellen"  (4:U).     AVir 
sind    nun,    indem    wir    unseren    Ausgangspunkt    von    der   Erwägung 
nahmen,    dafs  Mechanismus  und  Teleologie    in    einem  gemeinschaft- 
lichen   übergeordneten    Prinzip    wurzeln    müssen,    zu   einer    näheren 
Vorstellung  jener  Intelligenz  gelangt,  die  wir  der  einheitlichen  Substanz 
zuschreiben  müssen.     Da  Kant    den  Pantheismus  nur  in    der   Form 
des  Spinozismus  kennt  und  diesen  zur  Erklärung  des  Problems  un- 
brauchbar findet,    so    bezeichnet   er   seine   eigene  Anschauung   vom 
Absoluten  einfach  als  Theismus,  obwohl  ilm  eine  genauere  Erwäffunf»- 
dieses  Punktes  darauf  hätte  führen  müssen,  dafs  der  göttliche  Ver- 
stand,   wie  er    ilm  bestimmt    hat.    nicht    bewufst   funktionieren, 
und  folglich  das  Absolute  auch  nich  t  Pe  rs  ön  lichkeit 
sein   k  ö  n  n  e. 

Es  ist  im  Interesse  der  Naturphilosophie  sehr  zu  bedauern,  dafs 
Kant  diese  Folgerung  nicht  selbst  gezogen  liat,  obwohl  dieselbe  doc'h 
unzweideutig    in  seinen  Prämissen  enthalten    ist.     Denn    das    ist    ja 
gerade    einer    der    Haupt.ii^ründe,    der    die  Naturforscher    gegen    die 
Natur})hil()S()pliie  mifstrauisch  macht  und  sie  gegen  ;dle  Si)ekidation 
auf  Grund  naturwissenschaftlicher  Pesultate  einzunehmen  pllegt,  dafs 
sie  fürchten,  dem  theologischen  Begriffe  des  Wunders  anheimzufallen, 
wenn  sie  die  Perscinlichkeit  des  Absoluten  anerkennen.      Ein  ])ersön- 
liches  Absolutes    ist   ein  willkürliches  Absolutes,    wenn  anders    dies 
Wort  einen  Sinn  haben  soll;    ein  solches  aber  schliefst  alle  Natur- 
gesetzmäfsigkeit    aus  oder  macht  sie    doch  zu  einer   l)lofs  zufälligen 
Gesetzmäfsigkeit,  wobei  man  niemals  sicher  sein  kann,  dal's  sie  nicht 
im    nächsten  Augenblicke  aufgehoben    oder    von  Gott  durchbrochen 
wird.    Aber  selbst  abgesehen  hiervon,  macht  der  innere  Widerspruch, 
woran  jener  Begriff  leidet,   ihn  absolut  ungeeignet,  als  abschliefsendes 
Resultat  in  einer  Wissenschaft  zu  dienen.     Gesteht  doch  selbst  ein 
Theologe,   wie  A.  E.   Biedermann  ein:   „Die  Naturforschung,  die 
als  Wissenschaft  mit  dem  Begriff  des  Naturgesetzes  steht  und  fällt, 
hat    es  in  allem   Einzelnen    nur  mit  dem  Naturgesetz    und  nirgends 


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ff 


438 


B.    Kant   als   Naturphilosoph. 


mit  dem  Willen  Gottes  zu  thun.  Diesen  setzt  der  Naturforscher, 
wenn  er  zugleich  religiös  und  ein  vernünftiger  Denker  ist,  als  ein- 
heitlichen Grund  für  alle  Naturgesetzmäfsigkeit  voraus.  Thut  er  es 
in  der  Form,  Gott  habe  am  Anfang  bei  der  Weltschöj)fung  das 
Naturgesetz  gegeben  und  darnach  laufe  sie  nun  mit  innerer  Not- 
wendigkeit, so  hat  er  den  göttlichen  AVillen  wohl  als  persönlichen, 
aber  nicht  zugleich  als  absolut  gedacht.  Thut  er  es  aber  in  der 
Form,  dafs  er  den  göttlichen  Willen  als  den  in  sich  einheitlichen 
durch  die  Totalität  aller  Momente  des  endlichen  Daseins  sich  ver- 
mittelnden Grund  der  gesamten  Bildlichkeit  auffafst,  so  hat  er  den 
göttlichen  Willen  wohl  absolut,  aber  nicht  mehr  persönlich  gefafst. 
Nur  eins  von  beiden,  aber  nicht  beides  zusammen."*)  Der  theistische 
Begriff  des  persönlichen  A  bsoluten  ist  ü  b  e  r  h  a  u  p  t  kein  wisse  n  - 
s  c  h  a  f  1 1  i  c  h  e  r  ,  sondern  ein  vermeintlich  religiöser  Begriff, 
der  nur  deswegen  für  notwendig  ausgegeben  wird,  weil  die  lleligion 
derjenigen,  die  eine  solclie  Behauptung  auss[trechen,  sich  zufällig 
gerade  zu  dieser  Vorstellung  bekennt.**) 

Sieht  man  hiervon  ab,  so  kann  freilich  auch  der  Theismus,  wie 
Kant  ihn  nennt,  die  Möglichkeit  der  Xaturzwecke,  als  einen  Sclilüssel 
zur  Teleologie,  nicht  dogmatisch  begründen;  „denn  da  müfste  aller- 
erst die  Unmöglichkeit  der  Zweckeinheit  in  der  Materie  durch  den 
blofsen  Mechanismus  derselben  bewiesen  werden"  (407).  Wir  können 
die  Existenz  des  Urwesens  nicht  mit  apodiktischer  Sicherheit  er- 
harten, weil  uns  das  nur  bei  Erfahrungsbegriffen  möglich  ist,  das 
ürwesen  uns  jedoch  nicht  in  der  Anschauung  gegeben  ist,  ja,  über- 
haupt niemals  gegeben  werden  kann  (4  ];")),  oder  weil  der  „archi- 
tektonische Verstand"  eine  ganz  andere  Art  von  ursprünglicher 
Kausalität  als  die  Erfahrungskausalität  des  Mechanisnms  darstellt, 
eine  Kausalität,  die  gar  nicht  in  der  materiellen  Natur  oder  ihrem 
intelligiblen  Substrat  (den  transcendenten  Monaden)  enthalten  sehi 
kann  (401).  Der  übersinnliche  RealiJ'rund  ist,  wie  schon  sein  Begriff 
sagt,  transcendent  (426),  er  ist  „überschwänglich"  (410);  nichts- 
destoweniger ist  es  eine  „unerläfsliche  Forderung  der  Vernunft,"  ihn 
als  unbedingt  notwendig  existierend  anzunehmen  (ebd.).  „Objektiv 
können  wir  also  nicht  den  Satz  darthun :  es  ist  ein  verständiges 
ürwesen,  sondern  nur  subjektiv"  für  unser  Erkenntnisvermcigen  (41 1). 
Aber  das  genügt  auch  völlig,  um  ihn  in  die  Keihe  der  wissenschaft- 
lichen Begriffe  mit  aufzunehmen  und  ihm  auch  eine  indirekte  objektive 


*j  A.  E.  Biedermann:  Christliche  Dugmatik  (löGf-.  2.  Auli.  1^84—85.) 
13d.  11.  463  1. 

**)  Vgl.    mein    Werk:     „Die    deutsehe    Spekulation    seit   Kant"    u.    s.    w. 


•  1 


II.    Die  kritische  Naturphilosophie. 


439 


Realität  zu  sichern,  wofern  wir  uns  nur  nicht  mit  dem  Rationalisten 
Kant  darauf  versteifen,  hypothetische  Annahmen  überhaupt  aus  der 
Wissenschaft  auszuschliefsen.  Entschieden  unrichtig  jedoch  ist  es, 
wenn  Kant  den  übersinnlichen  liealgrund  deshalb  als  Erklärungs- 
prinzip  verwirft,  weil  wir  uns  von  ihm  ,. nicht  den  mindesten  be- 
jahenden Begriff  machen,"  „ihn  durch  kein  Prcädikat  näher  bestimmen" 
könnten  (425).  Jener  Begriff  ist  so  wenig  gänzlich  unbestimmt,  und 
Kant  selbst  hat  ihn  mit  den  oben  angegebenen  Prädikaten  so  aus- 
reichend bestimmt,  dafs  dieser  Einwand  nicht  besser  ist,  als  >venn 
Jenmnd  die  Annahme  eines  ursächlichen  Zusammenhanges  zwischen 
zwei  Erscheinungen  aus  dem  Grunde  glauben  würde,  leugnen  zu 
müssen,  weil  wir  ja  die  Kausalität  nicht  eigentlich  wahrnehmen, 
sondern  dasjenige,  was  wir  wahrnehmen,  immer  nur  die  blofse  Auf- 
einanderfolge der  Erscheinungen  ist  (Hu nie). 

Wir  gingen  von  der  Untersuchung  der  Natur,  als  subjektiver 
Erscheinung,  aus  und  fanden,  dafs  alles,  was  Kant  an  Resultaten  zu 
Tage  fördert,  nur  einen  Sinn  bekommt,  wenn  man  das  Wort  Natur 
in  transcendentem  Sinne  als  Reich  der  Dinge  an  sich  betrachtet,  das 
als  solches  den  bestimmenden  Grund  und  das  Wesen  der  Natur  in 
immanentem  Sinne  bildet.  Wir  gelangten  auf  diesem  Wege  zu  einer 
(wenngleich  hypothetischen)  Erkenntnis  der  transcendenten  Welt  und 
bestimmten,  indem  wir  in  der  Richtung  der  kantischen  Gedanken 
weiter  gingen,  das  Ding  an  sich  als  Monade,  d.  h.  als  individualisierten 
Willensakt,  der  eine  gewisse  (auf  Raumverhältnisse  bezügliche)  Vor- 
stellung (Idee)  realisiert.  Jetzt  erfahren  wir,  dafs  auch  die  trans- 
cendente  Natur  noch  nicht  das  „Wesen"  in  eigentlichem  Sinne  ist, 
dafs  also  auch  die  Bestimmung  als  Monade  nur  eine  vorläufige 
Geltung  hatte,  wofern  man  die  Monade  als  Substanz  versteht,  dafs 
es  in  der  transcendenten  Natur  überhaupt  keine  Substanzen  giebt  — 
wir  erfahren,  dafs  auch  die  transcendente  Natur  oder  das  Reich  der 
Dinge  an  sich  nichts  weiter  als  Erscheinung  ist,  eine  Erscheinung, 
die  nunmehr,  als  Gegensatz  und  im  Unterschiede  von  der  subjek- 
tiven Erscheinung,  nur  als  ob  j  ektive  P]rscheinung  bezeichnet  werden 
kann. '')  Das  übersinnliche  Substrat  der  Natur,  sagt  Kant,  ist  „das 
Wesen  an  sich,  von  welchem  wir  blofs  die  Erscheinung  kennen" 
(435.  421  f.).  Das  eigentliche  Wesen,  der  letzte  Grund  auch  der 
objektiven  Erscheinungswelt,  dies  ist  jenes  Ürwesen,  worin  .Mecha- 
nismus und  Teleologie,    subjektive    und   objektive  Erscheinungswelt, 


*)  Vgl.  über  den  Unterschied  der  subjektiven  und  objektiven  Erscheinung: 
V.  Hart  mann:  Krit.  Grundig.  d.  transc.  Realismus  lo — 15.  Thilosojjhie  d. 
Unbewufsten  II.    171. 


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440 


B,   Kant  als  Naturphilosoph. 


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worin  überhaupt  alle  Gegensätze  aufgehoben  und  zur  konkreten 
Einheit  zusammengefafst  sind,  dies  ist  diejenige  Substanz,  der  gegen- 
über alle;  übrigen  Substanzen  nur  unselbständige  Scheinsubstanzen 
sind,  ist  mit  einem  Worte  die  absolute  Substanz,  und 
alles,  was  wir  aufser  ibr  betrachtet  haben,  sind  nur  Modi.  Glieder, 
Funktionen     derselben,     in    denen    jene    ihren     iinieren    Reichtum 

offenbart. 

Solange  wir  diesen  höchsten  Begriff  nocli  nicht  gewonnen  hatten 
und    das  Ding    an    sich  in    seiner  Isolierung    betrachteten,    solange 
erschien  uns  die  lebendige  Monade  als   der  Träger  alles  Seins  und 
der    Hylozoismus   als    der  Weisheit    letzter   Schlufs.     Mit    der  Er- 
kenntnis, dafs  auch  die  Monade  blofs  Erscheinung,   nicht  selbst  ein 
substantielles    AVesen    ist,    sinkt    auch    der  Hylozoismus  von    seiner 
vermeintlich    aljsoluten    Höhe    zu    einer    blofs    relativen  Bedeutung 
herab,  und  wir  sehen  uns  genötigt,  die  einzelnen  Momente,  die  wir 
früher    an    der    Monade    unterscheiden    mufsten,    als    Momente    des 
all-  einen  Wesens  zu  begreifen,    das  die   V^ielheit    der  Monaden    als 
seine  Besonderung  in    sich  entiiält.     Nun  sahen  wir,    wie  dasjenige 
an   der  Monade,    was   eigentlich    iliren  Unterschied   gegenüber   den 
anderen   ^lonadcn  ausmacht  oder  was  ihr  individuelle  Bestimmtheit 
verleibt,  wir  sahen,  wie  dieses  principium  iudividuationis  der  Monade 
die  Idee,    d.  h.    die  bestimmte  Vorstellung   ist,    die   nur    sie   und 
keine  andere  als  ihren  Inhalt  trägt.    Diese  bestimmte  Individiialidee 
ist,  wie  sich  jetzt  zeigt,   nicht  die  Idee  eines  individuellen    Wesens, 
sondern  sie  ist  eine  Idee  des  Absoluten  selbst,  und  die  Gesamtheit 
aller  Tndividualideen  der  Monaden  ist  die  Universalidee  oder  abso- 
lute Idee,  soweit  sie  sich  auf  die  Monaden  bezieht,  die  als  solche 
einen   Inhalt  der  göttlichen  Intuition,  ein  ewiges  Objekt  des  absoluten 
intuitiven  Verstandes    darstellt.     Die    Individualideen    stim^men,    als 
Ideen,  sämtlich  darin  überein,  dafs  sie  nur  J^irtialideen  in  der  einen 
absoluten    Idee,    Bestimmungen    eines    einheitlichen    absoluten   An- 
schauungsnktes  ])ihlen.    Darum  mufs  auch  ihre  Realisation  einheitlich 
ausfallen,  und  ist  die  ^atur,  auch  im  Ganzen  betrachtet,  ein  einheit- 
liches System  oder  Makroorganismus.    Aus  demselben  (Trunde  müssen 
auch,    obwohl    doch   jede    einzelne  Monade   ihren  besonderen  Raum 
realisiert,    alle  Monaden    zusammen    nur    einen  einzigen  kontinuier- 
lichen Raum,    nämlich  den  objektiv-realen  Raum    aus    sich    heraus- 
setzen.    Die  Materie    aber   ist  darum    der  Grund  und   so  zu  sagen 
die  Unterlage    aller  Wirklichkeit,    weil   sie    das    erste    unmittelbare 
Produkt  der  einfachsten   und  darum  abstraktesten  Partialideen,  d.  h. 
der    Elementar-    oder    .Monatlenideen    darstellt,    worin    die    absolute 
Idee  sich  letzten  Endes  ghedert. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


441 


So  können  wir  Hegel  beistimmen:  „Es  ist  Eine  Idee  im 
Ganzen  und  in  allen  ihren  Gliedern,  wie  in  einem  lebendigen 
Individuum  Ein  Leben,  Ein  Puls  durch  alle  Glieder  schlägt.  Alle 
in  ihr  hervortretenden  Teile  und  die  Systematisation  derselben  geht 
aus  der  Einen  Idee  hervor;  alle  diese  Besondern  sind  nur  Spiegel 
and  Abbilder  dieser  Einen  Lebendigkeit,  sie  haben  ihre  AVirklich- 
keit  nur  in  dieser  Einheit,  und  ihre  Unterschiede,  ihre  verschiedenen 
Bestimmtheiten  zusammen  sind  nur  der  Ausdruck  der  Idee  und  die 
in  derselben  enthaltene  Form.  So  ist  die  Idee  der  Mittelpunkt,  der 
zugleich  die  Peri])lierie  ist.  der  Lichtquell,  der  in  allen  seinen 
Expansionen  nicht  aufser  sich  kommt,  sondern  gegenwärtig  und 
immanent  in  sich  bleibt;  so  ist  sie  das  System  der  Notwendigkeit, 
die  damit  ebenso  ihre  Freiheit  ist."*) 

Aber    die    Monade    ist    nicht    blofs    Idee,    sie    ist    ebenso   gut 
zugleich  auch  W  i  1 1  e ;  die  Idee  würde  niemals  real  sein,  w^enn  sie 
nicht    durch    diesen  Willen    erst    zur  Wirklichkeit    erhoben    wäirde. 
Wir  haben  früher  auseinandergesetzt,  wie  Idee  und  Wille  gleichsam 
wie  Inhalt  und  Form  sich  zu  einander   verhalten,  wie  eins  ohne  das 
andere  nicht  wirklich  sein  kann.     Wenn    wir    uns    damals    genötigt 
fanden,  diese  Momente  cds  verschiedenartige  auseinanderzuhalten  und 
die  Monade   als  die  Vereinigung  beider  sich  ergab,    so  werden    wir 
nuinnehr  nicht  anstehen,  dem  Absoluten,  als  dem  Träger  der  Monade, 
neben  der  absoluten  Idee  zugleich  auch  den  absoluten    Willen 
zuzuschreiben,    der   die  Gesamtheit   der  einzelnen  Monadenwillen  in 
sich  schliefst.      Was  Kant    nur  aus  Gründen   der  Moral    aus    dem 
Begriff  des  Absoluten  folgert,  dafs  Verstand  und  Wille  seine  beiden 
notwendigen  Attribute  seien   (V.    J:U.   148),    das  haben   wir    sonach 
mit    dem    gleichen    Rechte    auf   dem   Boden    der    Naturphilosophie 
abgeleitet   und    sind    damit    ein  für  alle  Mal    davor  geschützt,    den 
Begriff    des    Absolutc^n    in    einseitiger    W^eise    blofs    als    Idee,    wie 
Hegel,  oder  blofs  als  Wille,  wie  Schopenhauer,  zu  bestimmen. 
Sind  aber  Idee  und  W^ille,  die  konstituierenden  Momente  der  Monade, 
beide  Bestimmungen    im  Absoluten  selbst,    dann  erst  verstehen  w^ir 
v(;llig,    wie    die  Monade  ihrem    ganzen  Dasein    nach    im    Absoluten 
hängt,  wie  die  Natur,  als  das  Reich  der  Monaden,  ganz  und  gar  in 
der  Sphäre  des    absoluten  AVesens  beschlossen  bleibt,    ohne   jemals 
aus  ihr  herausfallen    zu    können,    dann  erst    ist   die  Einheit  von 
Natur    und    Gott    wirklich    begriffen,    die    zu    erkennen    und    in 
Worten  auszudrücken,  das  unbewufste  Ziel  aller  philosophischen  Be- 
trachtung bildet. 


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')  Hegel:  Werke  XIII.    iJ. 


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442 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


c.   Der  Übero-ang   von    den    metaphysischen   Anfangs- 
gründen  der   XaturAvissenschaft   zur   Physik. 

Nach  Abfassung  seiner  „Kritik  der  Urteilskraft"  wandte  sich 
Kant  zunäclist  der  näheren  Ausarbeitung  seiner  praktischen  Philo- 
sophie zu.  Die  Schrift  über  „Die  Religion  innerhalb  der 
Grrenzen  der  blofsen  Vernunft"  vom  Jahre  1793  enthielt 
seine  Eehgionsphilosophie.  und  mit  der  schon  erwähnten  „Meta- 
physik der  Sitten"  brachte  er  endlich  im  Jahre  1797  das  Ge- 
bäude seiner  Etliik  zur  Vollendung.  Die  Ausarbeitung  dieser  und 
anderer  Schriften,  z.  B.  über  den  „Streit  der  Fakultäten," 
(ITHS)  zehrte  seine  von  jeher  nur  schwachen  Kräfte  auf.  Bereits 
im  selben  Jahre  1798  nahm  der  Pbilosoph  in  seiner  „Anthro- 
pologie in  pragmatischer  Hinsicht"  vom  grofsen  Publikum 
für  immer  Abschied,  nachdem  er  seine  Privatvorlesungen  nn  der 
Universität  im  Jahre  179;"),  seine  Lehrthätigkeit  überhaupt  im  Jahre 
1797   eingestellt  hatte. 

Überblickt   mau,    was  Kant  bis  dahin  zustande  gebracht  batte, 
so  glaubt  man,    vor    einem    in    sich   vollendeten   Ganzen   zu  stehen, 
und   K  u  n  o  F  i  s  c  h  e  r  scheint  Recht  zu  haben  :   „  Es  ist  nicht  abzu- 
sehen,  was  zu  leisten  ihm  noch   übrig  geblieben  war."*)     „Mit  der 
Kritik    der    reinen    Vernunft,    der    praktiscben    Vernuuit    und    der 
Urteilskraft  waren  seit  dem  Jahre  17!)()  die  Grundlagen  der  kantischeii 
Lehre  gelegt  und  (iüenthch  beurkundet.    Man   braucbt  nur  die  Ein- 
leitungen   zur  Kritik    der  Urteilskraft    zu   lesen,    um    sich  zu  über- 
zeugen,   dafs  Kant    selbst  sein  System  in    der  Haui)tsache    für   ge- 
scblossen   und    aus.^ebaut  liielt,    nachdem    er    die    darin    befindliche 
„Lücke"   zwischen  der  Kritik  der  reinen  und  der  pr:iktischen   Ver- 
nunft,   zwischen    seiner  Natur-  und    seiner  Freiheitslehre  durch  die 
Kritik  der  ITrteilskraft  ausgefüllt  hatte."**)  Deimoch  ist  diese  Ansicht 
nur  aus  einem  gründlichen  Verkennen  des  treibenden  Prin/ii)S  und  des 
ursprünglichen  und  eigentlichen  Zieles  der  ganzen  kantischen  Philo- 
sophie   entsprungen.      Gerade    die    „Kritik    der   Urteilskraft"    hätte 
Fischer    vor    einem    solchen    Urteil    bewahren    sollen.     In    ihrer 
„Vorrede"     leugnet     Kant,     dafs    eine    derartige    Kritik    in    einem 
„System  der    reinen  Pliilosophie"    einen    besonderen  Teil    ausmache 
und    meint,    sie    gehöre    nur    zur  Vollständigkeit    einer  Kritik    der 
reinen  Vernunft,   d.   i.   unseres  Vermögens,   nach  Prinzi])ien  a  priori 
zu  urteilen.     „Denn",  fährt  er  hier  fort,   „wenn  ein  solches  System 


*)  Kuno  Fischer:  Uesch.  d.  neueren  Philosophie   Bd.  II I.  84. 
**)  Ders.:  „Das  Streber-  und  Oründertuin  in  der  Litteratur:   Vade  mecuni 
für  Herrn  Pastor  Krause  in  Hamburg"  (1884)  14. 


U.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


443 


unter  dem  allgemeinen  Namen  der  Metaphysik  einmal  zustande 
kommen  soll  (welches  ganz  vollständig  zu  bewerkstelligen,  möghcli 
und  für  den  Gebrauch  der  Vernunft  in  aller  Beziehung  höchst 
wichtig  ist),  so  mufs  die  Kritik  den  Boden  zu  diesem  Gebäude 
vorher  so  tief,  als  die  erste  Grundlage  des  Vermögens  von  der  Er- 
fahrung? unabhängiger  Prinzipien  liegt,  erforscht  haben,  damit  es 
nicht  an  irgend  einem  Teile  sinke,  welches  den  Einsturz  des  Ganzen 
unermeidlich  nach  sich  ziehen  würde"  (V.  174  f.).  Also  auch  die 
„Kritik  der  Urteilskraft",  jLJ^anz  ebenso  wie  die  der  praktischen  und 
der  reinen  Vernunft,  ist  blofse  Vorarbeit  zum  „System  der 
reinen  Philosophie"  und  keineswegs  schon  die  Ausiülirung  selbst, 
woraus  sich  denn,  da  jene  Ausführung  „höchst  wichtig"  sein  soll, 
der  nahe  liegende  Schlufs  ergie])t,  dal's  Kant  bei  allen  diesen  Arbeiten 
als  eigentliches  Ziel  nur  immer  jene  allgemeine  Metaphysik  im  Auge 
hatte.  So  spricht  er  es  denn  am  Schlüsse  jener  Vorrede  auch 
geradezu  selbst  aus :  „Hiermit  endige  ich  also  mein  ganzes  kritisches 
Geschäft.  Ich  werde  ungesäumt  zum  Doktrinalen  schreiten, 
um,  wo  möglich,  meinem  zunehmenden  Alter  die  dazu  noch  einiger- 
mafsen  günstige  Zeit  noch  abzugewinnen.  Es  versteht  sich  von 
selbst,  dafs  nach  der  Einteilung  der  Philosophie  in  die  theoretische 
und  praktische  und  der  reinen  in  eben  solche  Teile,  die  Meta- 
physik der  Natur  und  die  der  Sitten  jenes  Geschäft  ausmachen 
werden"  (ITl).  vgl.  auch  Kants  Brief  an  M.  Herz  vom  2().  Mai  1 7SJj 
Vin.  714). 

Im  xVnfange    seiner  philosophischen   Entwickelung   batte  Kant, 
der    von    der  Naturwissenschaft    ausging,    nur    die    apriorische    Be- 
gründung dieser  letzteren  im  Auge,  und  sein  Streben  ging  lediglich 
auf    die    (irewinnung    einer    Naturpbilosophie.     Wesentlich  im  Hin- 
blick auf   diese,  die,    eben    als  Pliilosophie,   aus  lauter  apriorischen 
Sätzen  bestehen  sollte,  stellte  Kant  seine  berühmte  Frage  nach  der 
Möglichkeit  synthetischer  Urteile  a  priori    und    ])eantwortete  er  sie 
durch  seine  pliänomenalistische  Theorie.    Aber  gerade  dieser  Phäno- 
menalismus, der  die  Grundlagen  der  Moral  und  Ileligion  zu  unter- 
graben    schien,     rückte    ihm     zugleich     das     Problem     der     Ethik 
näher  und  bewirkte,    dafs  von  nun   an  seinem   naturphilosophischen 
Interesse  das  ethische  an  die  Seite  trat    und    beide    eine    durchaus 
gleichmäfsige  Behandlung  in  einem  System  aller  apriorischen  Prin- 
zipien überhaupt  verlangten.     Damit  sank  die  Metaphysik  der  Natur, 
die  ursprünglich  gleichsam  selbst  Substanz  gewesen  war,  neben  der 
Metaphysik  der  Sitten  zu  einem  blofsen  Attribut  an  jenem  System 
der    reinen    Philosophie   herab,    und   dieses  wurde  nunmelir  in  den 
Augen  Kants  zum  Absoluten. 


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444 


B.    Kant  als  Naturphiloscph. 


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Die  „Metaphysik    der  Sitten"    zerfiel    in   die    „Metaphysischen 
Anfangsj> runde  der  Rcchtslelire"    und    in    die   „Metaphysischen  An- 
fangsgründe der  Tugendlelire."     Beide    verhielten    sich  zur  „Kritik 
der  praktischen  Vernunft*',  wie  die  „metaphysischen  Anfangsgründe 
der  Naturwissenschaft"  sicli  zur  „Kritik  der  reinen  Vernunft"   ver- 
liielten.  d.  h.  sie  stellten  die  Anwendung  der  allgemeinen  theoretischen 
und  praktischen  Prinzipien  auf  die  l)esonderen  Fälle  dar.    Und  doch 
bestand    hier    noch    «nn    Unterschied.       Denn    den    Prinzipien    der 
praktischen    Vernunft    lieisen    sich    die    Ersclieinungen    des    Rechts- 
lebens  und    der    privaten  Tugenden   ohne  weiteres  unt(U'ordnen,    so 
dafs    die    Darstellung    ihrer    metaphysischen     Anfangsgründe     den 
Begriff  einer  Metaphysik    der  Sitten   überhaupt  erschöpfte;    konnte 
aber   dasselbe    aucii    von    den    metaphysischen    Anfangsgründen    der 
Naturwissenschaft  behauptet  werden?    Wie  dort  in  der  Metaphysik 
der  Sitten  ein  System  der  Rechte  und  Tugenden  errichtet  war.    so 
hatte   Kant    auch    in    seinen    metaphysischen    Anfangsgründen    der 
Naturwissenschaft  den  Begrifi*  der  Materie  a  ])riori  zu  konstruieren 
und  auf  mathematisch-mechanischen  Prinzii)ien    ein    ganzes    System 
der  Physik    aufzubauen    versucht;    aber   w^a-   dieser  Versuch   schon 
als    vollendet    zu  ^betrachten ?     Zur  Physik    im    weiteren  Sinne  ge- 
hr)rten    doch    aucli    die    organischen    Naturgesetze,    und   von  diesen 
war   in  jenen  Anfangsgründen  nicht  die  Rede  gewesen.    Allein  selbst 
wenn  man  die  Kritik  der  teleologischen  Urteilskraft,  wo  Kant  den 
Begriff  des  Organismus    entwickelt    und    die  Zweckbetrachtung  auf 
das   teleologische    Urteilsvermögen    der   menschlichen  Vernunft    ge- 
gründet hatte,    selbst  wenn   luan  diese  mit    zu  den  Anfangsgründen 
rechnete  und  alles,  was  sich  auf  die  besonderen  Gesetze  der  Natui- 
bezog,     allgemein    als    metaphysische    Anfangsgründe    der    Natur- 
wissenschaft verstand,    so  erschöpften  die  letzteren  doch  noch  nicht 
den  Begriff  der  Metaphysik  der  Natur  überhaupt. 

Die  „Metaphysischen  Anfangsgründe"  hatten  nur  die  allgemeinsten 
Bewegungsgesetze  und  die  allgemeinsten  Eigenschaften  der  ^Materie 
am  Iji^tfaden  der  alli-emeinen  Naturgesetze,  wie  die  reine  Natur- 
wissenschaft sie  dargeboten  hatte,  abzuleiten  vermocht,  aber  sie 
hatten  Halt  machen  müssen  vor  den  Besonderungen  der  ^Materie  und 
mit  aller  ihrer  a])riorischen  F]rkenntnis  wieder  die  Miiglichkeit  der 
A^^gregatzustände,  noch  die  der  Kohiision.  lux  h  die  des  Chemis- 
mus u.  s.  w.  einsehen  kihinen.  Die  Kenntnis  all  dieser  Erschei- 
nuni^en  hatte  sie  vor  der  Emi)irie  erborgen  müssen  und  sie  hatte 
froh  sein  müssen,  wenn  sie  sich  wenigstens  hatte  sagen  kr>TineTi. 
dafs  ihre  eigene  allgemeine  Theorie  zu  <h  r  Erfahrung  nicht 
'Tcradezu  im  Widerspruche  stände.     Und  doch  hatte  es  die  Physik 


II.  Die  kritische  lSJalurphilosox)hie. 


445 


fast  ausschliefslich    mit  jenen  Besonderungen  der  Materie  zu  thun. 
und  es  schien   wenig  damit  für  sie  erreicht  zu  sein,   dafs  die  Materie 
nur  ganz  im  allgemeinen  nebst  ihren  Bewegungsgesetzen  a  priori  ab- 
geleitet w^ar.     Die  metaphysischen  Anfangsgründe  der  Naturwissen- 
schaft   standen    mit    denen    der  Rechts-  und  Tugendlehre  nicht  auf 
einer    Stufe;    sie    reichten    in   die  Sphäre   der  Besonderungen  nicht 
hinab.     Es    klaffte    ein  Abgrund  zwischen  Mt^taphysik   und  Physik, 
und    ehe    hier    keine    „Brücke"    geschlagen    war.    konnte   die  Meta- 
physik der  Natur  nicht  als  vollendet  angesehen  werden  und  war  nicht 
daran  zu  denken,  die  sämtlichen  bis  dahin  entwickelten  apriorischen 
Prinzipien  zur  Einheit  eines  vollständigen  Systems  zusammenzufLissen. 
Dafs  Kant  in  den  letzten  Jahren    seines  Lebens  mit  der  Aus- 
füllung jener  Lücke  in  seinem  System  beschäftigt  war,  hat  er  selbst 
bestätigt.     So  klagt  er  in  seinem  Brief  an    Garve   vom  21.  Sep- 
tember 1798,    dafs    es    ihm    nicht   vergönnt  sei,    „den  völligen  Ab- 
schlufs   seiner  Rechnung    in    Sachen,    welche    das  Ganze  der  Philo- 
sophie betreffen,  vor  sich  liegen  und  es  noch  immer  nicht  vollendet 
zu  sehen"  und  nennt  es  einen  „tantaHschen  Schmerz,   der  indessen 
doch  nicht  hoffnungslos  ist."     „Die  Aufgabe,  mit  der  ich  mich  jetzt 
beschäftige,  betrifft  den  ,.Uhergang  von  den  metaphysischen  Anfangs- 
gründen   der    Naturwissenschaft    zur    Physik."     Sie    will    aufgelöset 
sein,    weil    sonst    im  System    der  kritischen  Philosophie  eine  Lücke 
sein  würde.     Die  Ans])rüche  der  Vernunft  darauf  lassen  nicht  nach; 
das  Bewufstsein    des  Vermögens    dazu    gleichfalls    nicht ;    aber    die 
Befriedigung    derselben    wird,    w^enngleich  nicht  durch  völlige  Läh- 
mung   der    Lebenskraft,    doch  durch  immer  sich  einstellende  Hem- 
mungen    derselben     bis    zur    hcichsten    Ungeduld    aufgeschoben."*) 
Und  ebenso  schreibt  Kant  in  seinem  Brief  an   Kiese wetter   am 
Pj.  Oktober   ITDS:    „Mein  Gesundheitszustand    ist  der    eines  alten, 
nicht  kranken,  aber  doch  invaliden,   vornehmlich  für  eigentliche  und 
öffentliche    Amtspllichten    ausgedienten    ]\Iannes,    der    dennoch    ein 
kleines  Mafs  von  Kräften    in    sich    fühlt,    um    eine   Arbeit,    die  er 
unter  Händen  hat,  noch  zustande  zu  Ijringen,  womit  er  das  kritische 
Geschäft  zu  beschliefsen    und    eine    noch   übrige  Lücke  auszufüllen 
denkt:    nämlich    „den   l'bergang  von   den  metaphysischen  Anfangs- 
gründen der  Naturwissenschaft  zur  Physik*'    als  einen  eigenen  Teil 
der  philosophia  naturalis,    der  im  System  nicht  niangeln  darf,    aus- 
ztiarbeiten"  (VI IL  .Sl3). 

Neben    diesen   Belegen    von  Kants    eigener   IJand    besitzen  wir 
aber  auch  noch  die  Zeugnisse  verschiedener  Zeit-  und  Hausgenossen 


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^)  Altpreufsische  Monatsschrift   1^83.    342. 


44ß 


13.    Kant  als  Naturphilosoph. 


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Kants,    die    uns    von    jenem  letzten  AVerk    des  Philosophen  Kunde 
geben.    W  a  s  i  a  n  s  k  i .  der  frühere  Scliüler  und  später  intimste  Haus- 
freund Kants,  derschliefslich  alleAno^elegenheiten  des  letzteren  besorgte, 
berichtet  in  seinem  Schriftchen  über  „Kant  in  seinen  letzten  Lebens- 
jahren" (1804):     „Sein    letztes    und    einziges   Manuskript,,    das  vom 
Übergange  von  der  Metaphysik  zur  J'hysik    handeln    sollte,    hat    er 
unvollendet    hinterlassen.     So    frei    ich    von    seinem  Tode    und  von 
allem   dem,    was   er    nach    demselben    von    mir    wünschte,    sprechen 
konnte,    so  ungern    schien  er  sich  darüber  erklären   zu  wollen,    wie 
es  mit  diesem  Mjuiuskrii)t  gehalten  werden  sollte.     l>;ild  glaubte  er. 
da    er    das   Geschriebene    selbst    nicht    mehr    beurteilen    konnte,    es 
wäre  vollendet    und  bedürfe    nur  noch  der  letzten  Feile,    bald  war 
wieder    sein    Wille,    dals    es    nach    seinem  Tode   verbrannt    werden 
sollte.     Ich  hatte  es  seinem   Freunde,   Herrn   II.  W  S.  (Hofprediger 
Schultz)   zur  Beurteilung  vorgelegt,    einem  Gelehrten,    den  Kant 
nächst  sich   sell)st    für  den  besten  Dolmetscher  seiner  Schriften  er- 
klärte.    Sein    Urteil    ist    dahin    ausgefallen,    dafs    es   nur  der  erste 
Anfang  eines  AVerkes  sei,    dessen  Einleitung    noch    nicht    vollendet, 
und    das    der    Redaktion    nicht    fähig    sei.     Die    Anstrengung,    die 
Kant  auf  die  Ausarbeitung  dieses  AVerkes  verwandte,  hat  den  Rest 
seiner  Kräfte  schneller  verzehrt.     Er  gab  es  für  sein  wichtigstes 
AVerk    aus;    wahrscheinlich    aber    hat    seine    Schwäche    an    diesem 
Urteile  grofsen  Anteil. ""■•=)     Ebenso  schreibt    Borowski    in  seiner 
„Darstellung   des  Lebens    und  Charakters  Kants*'   (1S()4):    „Da  in 
Deutschland    die    Epoche    eintrat,    in    der    man    seine    Spekulation 
nicht  für  spekulativ  genug  erklärte  und  über  ihn  hinaus  (wie  irgend- 
wo nur  vor  kurzem  gesagt  ward)    bis    zur    absoluten    Konstruktion 
des  gnifsten  Unsinns    und   Mystizismus    hinaufstieg,    war  sein  Kopf 
nicht    mehr    iti   der  Lage,    an  dem  AVirrwarr  den  mindesten  Anteil 
nehmen  zu  können.     AVohl  ihm,   dafs  er  nicht  weiter  Anteil  daran 
nehmen  durfte!  —   Er    konnte    auch    das    lange    projektierte 
Werk  „Übergang  der  Tliysik  zur  Aletaphysik",  welches  den  Schlul's- 
stein    seiner  i)hilosophischen  Arbeiten  sein  sollte,   nicht   beendigen: 

antwortete  denen,  die  ihn  fragten,  was  man  noch  von  gelehrten 

Arbeiten  von  ihm  zu  liofteii  liätte:  „Ach,  was  kann  das  sein. 
Sarcinas  colligerel  Daran  kann  ich  jetzt  nur  noch  denken!"**) 
Die  dritte  direkte  Äurserung  ül)er  das  unvollendete  Kantwerk  end- 
lich stammt  von  doh.  Gottfr.  Hasse,  der  in  seinen  ..Alerk- 
wiirdigen  Äusserungen  Kants  von  einem  seiner  Tischgenossen"  (Jb04) 


*)   Wasiaiisk  i:   m.  a.  O.   li)  I. 
**j  Borowski:  a.  a.  O.  1S;U'. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie.  ax- 

schreibt;    „Schon  seit  mehren  Jahren  lag  auf  seinem  Arl)eitstische 
em  handschriftliches  Werk  von  mehr  als  hundert  Foliobo-eu    dicht 
beschrieben,    unter    dem    Titel:    „System  der  reinen  Plulosophie  in 
ihrem  ganzen  Inbegriff",  an  dem  ich  ihn  oft.  wenn  ich  zum  Essen 
kam,  noch  schreibend  antraf.     Er  liefs  mich    es   mit   Willen   mehre 
Male  an-  und  einsehen  und  durchblättern.     Da  fand  ich  denn,  dafs 
es  sich  mit  sehr  wichtigen  Gegenständen:   Philosophie,  Gott.  Frei- 
heit,    und    wie    ich    hörte,    Iiauptsächlicli    mit    dem  Übergange   der 
Physik  zur  Metaphysik  beschäftige.     Dieses  AVerk  pflegte  Kant  im 
vertraulichen  Gespräch  „sein  Hauptwerk,  ein  chef  d'amvre"  zu 
nennen    und    davon    zu    sagen,    dafs   es    ein   absolutes,    sein  Svstem 
vollendendes  Ganze,    vcillig    bearbeitet    und  nur  noch    zu  redigieren 
sei  (welches  letztere  er  immer  noch  selbst  zu  thun  hoffte).    Gleich- 
wolil  wird  sich  der  etwaige  Herausgeber  desselben  in  Acht  nehmen 
müssen,    weil   Kant   in    den    letzten  Jahren  oft  das  ausstrich,    was 
besser    war,    als    das,    was  er   überschrieb,    und  auch  viele  AHotria 
(z.  E.  die  Gerichte,    die   für    denselben    Tag    bestimmt    waren)  da- 
zwischen setzte.     Damals  hiefs  es,  dafs  es  unsrein  Herrn  Professor 
Gensichen    zur  Herausgabe   übergeben  werden  sollte.     Jetzt  ist 
es  vorläufig  dem  Herrn  Hofprediger  Schultz  (Kants  Kommentator, 
einem    kompetenten    Richter)    zur    Beurteilung    kommuniziert,    der 
mich    aber    versicherte,    dafs    er    darinnen     niclit    fände,     was    der 
Titel    verspräche,    und    zu    der   Herausgabe    desselben    nicht    raten 
könne.  "'^) 

Nach  dem  Tode  Kants  am  12.  Februar  1804  ging  das  Manuskript 
über  in  den  Besitz  des  Konsistorialrats  Schön,  der  mit  einer 
Tochter  von  Kants  Bruder,  Johann  Heinrich  Kant,  ver- 
lieiratet  war.  Dieser  nahm  es  als  rechtniäfsiger  Erbe  zu  sich  nach 
Dürben  in  Kurland.**;  In  die  ()ffentlichkeit  drang  jedoch  hiervon 
keine  Kunde,  so  dafs  Schubert,  der  Herausgeber  von  Kants 
Werken,  in  seiner  Biographie  Kants  im  Jahre  1842  das  Vorhanden- 
sein jenes  AVerkes  zwar  erwälmte,  sich  jedoch  veranlafst  sah,  hinzu- 
zusetzen: „Dies  Manuskript  ist  aber  jetzt  spurlos  verschwunden."***) 
Es  war  ein  glücklicher  Zufall,  der  demselben  Schubert  bei  seiner 
Anwesenheit  in  Berlin  im  Oktober  ISf)?  das  verloren  geglaubte 
Manuskript  in  die  Hände  spielte.  Schubert  beeilte  sich,  über 
den  Fund  r)ffentlich  Bericht  zu    erstatten,    der    im  folgenden  Jahre 


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*)  H  asse:  a.  a.  0.  19. 

**)  Aibr.  Krause:  Das  nachgelassene  Werk  Immanuel  Kants  vom  Über- 
gange von  den  metaph.  Anfangsgr.  d.  Naturw.  zur  Physik,  mit  Belegen  i.opulär- 
wissenseliaftl  dargestellt  (l.s8«)  XV.  XVI. 

***)  Kants  Werke  hrsg.  v.  Kosenkrantz  u.  Schubert  Bd.  XL  'J,  JGl. 


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448 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


in  den  „Neuen  Preufsischen  Provinzial-Blättern«'  erschien.*)  „Die 
ganze  Ar])eit,''  lieifst  es  hier,  „ist  als  ein  Bruchstück  oder  eine 
Vorarheit  zu  betrachten,  über  die  ich  ein  vollständiges  Urteil  ab- 
zugeben bei  der  Kürze  der  mir  zur  Durchsicht  des  Manuskriptes 
vergönnten  Zeit  mir  nicht  verstatten  mag.  Aber  der  erste  Ein- 
druck    scheint     ein    Urteil     zu     unterstützen,     wie     Schultz     und 

Gensichen  es  l)ereits  vor  58  Jahren  gefällt  haben." 

Noch  im  selben  Jahre  verkündigte  ein  anonymer  Artikelfvon  H  a  y  m) 

in  den  „Preufsischen  Jahrbüchern"   als  das  Ergebnis  einer  genaueren 
Durclisicht   jener    schätz])aren    Keste,    dafs    es    sich    hier    thatsäch- 
lich    um    den    von    Kant    geplanten    C'bergang    von    der  :\Ietaphysik 
zur    Physik     handle:     zugleich    gab    derselbe    eine    genauere    Be- 
schreibung   des  Manuskriptes:    „Das  Ganze,    um    zunächst  bei  dem 
Äufserlichen   zu  verweilen,    besteht  aus  12  Konvoluten  ungehefteter 
Foliobogen  von  festem,  grauem  Konzeptpapier.     Die  Bogen,  zum  Teil 
äufserst  eng   und  voll  beschrieben,   sind  sorgfältig  geordnet  und  be- 
zitVert:    ihre  Zahl    wechselt    in    den    verschiedenen  Konvoluten    von 
etwa  fünf  bis   zu  dreizehn;    in    einigen  befinden    sich    halbe  Bogen: 
dazwischen  liegen  zahlreiche  Blättchen  mit  Verweisungen  und  ander- 
weitigen  Notizen.     Als  Umschläge  dienen  akademische  Einladungen, 
Programme,  Intelligenzblätter  u.  s.  w.,  deren   Data  auf  die  Gleich- 
zeitigkeit  der  Arbeit  hinweisen.     Auch    diese  Umschläge    sind    fast 
vollständig,    wo  sich  nur   eine  weifse  Stelle  finden  wollte,    und    eng 
beschrieben,    wie  nicht  minder  zu    jenen  Notizen    alle  zufällig    dem 
Autor  in  die  Hand  geratenen  Schnit/el  Streifen,  Briefkouverts  u.  s.  w. 
aufs    Sparsamste    benutzt    sind.     Nun    aber    hat    der    Inhalt    dieser 
Bhittchen  nichts  weniger    als  einen  stetigen  Bezug    auf   das  Thema 
des   Werkes.     Zuweilen    wohl   st(")fst    man   auf  Digressionen,    die   m 
einem    (entfernten  Zusammenhang    mit  demselben    stehen,    aber    viel 
öfter  doch    auf  ganz  selbständige  Betrachtungen    und  Emiälle.     Es 
linden  sich  Lesefrüchte  aus  der  physikalischen,  journalistischen,  poli- 
tischen Tageslitteratur ;  es  finden  sich  endlich  reine  Tagebuchs-  und 
Kalendernotizen,  als  z.  B.  Beschlüsse  und  Erörterungen  über  Demarchen 
in    akademischen   Verhältnissen.    Herzenserleichterungen    gegen    den 
famosen  Lampe,  den  Diener  des  Plnh)S(»pheii,  Einladungen  lind  Namen- 
verzeichnisse    von    Tischgästen    nebst    Angabe    der    zu    wählenden 
Schüsseln,    kleine  Geldangelegenheiten,    milde    Spenden.     OÜenbar : 
Alles,  was  während  der  vormittägigen  Arbeit  am  Schreibtisch  dem 
Alten  durch  den  (allmählich  der  Vergefslichkeit  verdächtigen)  Kopl 
criii.r.   ist  hier  sogleich  schriftlich  festgehalten  worden,  um  nur  durch 


*)  a.  a.  U.  58— Ül. 


J 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


449 


Federzüge  von  dem  übrigen  Inlialt  gesondert  zu  werden.  Es  war. 
wie  Hasse  berichtet,  die  Hoffnung  des  Alten,  die  Herausgabe 
seines  Chef  d'o'uvre  noch  selbst  besorgen  zu  können.  Damit  nun 
stimmt  es  durchaus,  dafs  wir  im  Gegensatz  zu  den  eben  erwähnten 
Allotriis  auch  auf  Manuskript  stofsen,  welches  entschieden  den 
Charakter  des  Druckfertigen  an  sich  trägt.  Es  sind  dies  Rein- 
schriften von  ganzen  Kapiteln,  und  zwar  mehrmals  von 
einer  zweiten  Hand,  mit  hin  und  wieder  übergeschriebenen  eigen- 
händigen Emendationen."*j 

über  den  Inhalt  des  xAranuskriptes  will  der  Verfasser  des  Artikels 
sich  kein  Urteil  erlauben,  gesteht  jedoch:    „Unstreitig    ist  hier    die 
Anstalt  gemacht    und    ein    gleichsam    ununterbrochener  Anlauf   ge- 
nommen zur  Lösung  der  höciisten  Fragen,   welche  die  denkende  Ver- 
nunft interessieren  können.     Es  wird  bei  diesen  Versuchen   mit  jener 
Gewissenhaftigkeit    zu   Werke  gegangen,    die  für  immer    nach   Kant 
genannt    zu  werden    verdient.     Kein  Schritt    wird  gethan    ohne    die 
strengste,    stets  wieder  von  vorn  anfangende  Rechenschaft    vor    sich 
selbst."**)     Allein  der  Verfasser  kann  zugleich  nicht  leugnen,   wie 
eben  diese  Gewissenhaftigkeit  den  Thilosophen  zu  endlosen  Wieder- 
holungen geführt   hat,    wie  er  immer   neuere    und    schärfere  Unter- 
suchungen anstellt  und  sich  in  der  Lösung  gewisser  Aufgaben  gar- 
nicht  erschöi)fen  zu  wollen  scheint.     „Ebendeshalb  jedoch:  wie  an- 
ziehend für  den  Scharfsinn  diese  mannigfachen  Zergliederungen,  diese 
grüblerischen  Unterscheidungen  sein  mögen  ~  eben  um   ihretwillen 
und  mit  ihnen  scheint  die  Untersuchung  zwar  sich  zu  vertiefen,  aber 
nicht  von  der  zuStelle  rücken.     Weit  entfernt,  dafs  hier  ein  extensiver 
Portschritt  und  Gewinn  oder  gar  ein  höher  abschliefsendes   Resultat 
geboten  würde:    selbst  bei  den  gegebenen  xlnalysen  wäre  sorgfältig 
zu  prüfen,  ob  und  wieviel  wir  in  Kants  Werken,  namentlich  in  den 
„Metaphysischen  Anfangsgründen    der  Naturwissenschaft^'    von  dem 
Inhalt  jener  Entwickelungen  bereits  besitzen.      Wie  dem  jedoch  sei, 
selbst    blofse    Variationen    über    einige    der    höchsten    Themata    der 
Naturphilosophie    müfsten    für    das  Studium    der    kantschen    Lehre, 
noch  mehr  für  das  Verständnis  des  Geistes  ihres  Urhebers  in  holiem 
Grade  instruktiv  sein.      Es  ist  derselbe  Fall  mit  dem  übrigen  Inhalt 
unseres  ^Manuskriptes    und    vielleicht    nicht    am    w^enigsten     mit    den 
schon  erwähnten  Digressionen  und  gelegentlichen  Äufserungen.     Die- 
selben führen  der  Sache  nach  nicht  über  dasjenige   hinaus,  was  als 
die  Ansicht  der  kritischen  Philosophie  hinreichend  bekannt  ist.     Sie 


*)  Preufs.  Jahrbüclier  (1858)  81. 
*♦)  Ebd.  S->. 

D  r  e  w  s  ,  Kants  Naturphilosophie. 


29 


ii 


H,' 


11 


[**'■ 


\:S 


...^  B.   Kant  als  Naturphilosoph. 

sind  aber,  dünkt  uns.  ein  vorzugsweise  ergreifendes  Zeugnis  dafür, 
wie  sehr  diese  Ansicht  in  den,  Geiste  des  Philosophen  das  Gepräge 
unwandelbarer  Überzeugung  erhalten  hatte,  -  um  so  ergreifender, 
da  es  die  letzten  Fragen  alles  Daseins,  Gott,  Freiheit  und  Unsterb- 
lichkeit, sind,  die  hier,  an.  Rande  des  Grabes.  ini.iuT  wieder  ge- 
fragt und  immer  wieder  so  beantwortet  werden,  dafs  die  Antwort 
zur  neuen  Frage  wird.  Ja.  in  einigen  dieser  Aphorismen  scheint 
.km  Verfasser  eine  glücklichere  un.l  präzisere  Formulierung  seiner 
Ansicht  gelungen,  als  da,  wo  dieselbe  im  Zusammenhange  längerer 
EntWickelungen  vorgetragen  wird."*) 

Viel  mehr   als    aus    diesen  allgemein   gehaltenen  Bemerkungen 
erfuhr  mau  aus    dem  genauen   Inhaltsverzeichnis    des  Manuskriptes, 
das    „ein  sachkundiger  Verwandter    des  l'lnl..snpl,en"    dem  k..n.gs- 
l,erger  Bibli.,tlu.kar  Rudolf  Reicke  mitgeteilt,  und  welches  dieser 
11.1   Jahiv    l.s(i4    in    der    „Altiireulsischen  Monatsscl.i-.lt ■'    veröffent- 
lichte.    Man  bekani  daraus  jedenfalls  die  Gewifsheit.  dafs  e...  «rofser 
Teil    des    Werkes   aus   blofsen  Wiede.liohn.gen   bestehe,    dals    eine 
Ordnung    in    ihm    nicht    vorhanden    und    keineswegs    ein    Fertiges 
gegeben"  sei.    um  es    ohne   grofse  Mühe    in    den   Druck    zu    geben, 
und  es  schien   ein  schwacher  Trost  zu  sein,  wenn  Reicke  etwaigen 
hochgesiiannton   Erwartungen   gegenüber,    welche    das   nachgelassene 
Kantwerk  erregen  könnte,    sich    dal....  äufserte :    „Auch    etwas  Un- 
fertiges von  Kant  können   wir  imiuerlui.  noch    der  Beachtung   wert 
find™,    insofern    es  uns   einen   Einblick   in    die   geistige  Werkstiitte 
des  einst   so  gewaltigen,   jetzt   alier    von  Altersschwäche   gebeugten 
Denkers  gewährt."**)     Dieser  Eindruck  wurde  in.  dahre  18S2  durch 
Reickes  Veröffentlichung  eines  älteren  Schriftstückes  nur  verstärkt, 
<las  den  Titel  führt :  „Anzeige,  den  Nachlafs  des  sei.  Kant  betreffend." 
[Nachdem    uns    ei.ie    kurze    Übersicht    des    Hauiitinl.altes    gegeben, 
beifst  es  hier:    „Jedoch    luufs  man    sich  nicht  vorstellen,    dafs  jene 
hundert  Bogen  diese  Materie  in  einem  fortlaufenden  Zusainmml.ange 
enthalten,  vielmehr  sin.l    alle  diese  Gegenstände  sehr  oft  wiederholt, 
sodafs  das,  was  wirklich  da  ist,  einzeln  genonmic.   und   i..  gehörige 
Ordnung    gebraclit.    kau...    zwanzig    Bogen    betragen    würde.      H.i. 
und  wieder  sind    auch  Reflexionen  über    andere  Dinge    angebracht, 
•üs  z    H.  über  Bufstage,  über  die  Pockeniu.t,  über  das  Fortschreiten 
der  Menschen  zum    Bessern  u.  s.  w."***)     Im  selben  Hefte  der  Alt- 
preufsischen  Monatsschrift,    in  welchem   er  diese  Anzeige  veroftent- 


■)  EIkI. 

')  a.  a.  I  >.  7  i  i  r. 
***)  Altpi-.  Moiiatsschritt  XIX  (L-^SJ)  07. 


*'C 


«t 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


451 


lichte,  schreibt  Reicke,  der  inzwischen  das  Manuskript  von  einer 
Frau  H  a  e  n  s  e  1 1 ,  der  Tochter  des  erwähnten  Konsistoriah-ats  Seh  (i  n 
nach  dessen  Tode  zur  Aufbewahrung  bekommen  hatte:  „Seitdem 
ich  zuerst  über  dieses  Manuskript  auf  Grund  eines  mir  mitgeteilten 
Inlialtsverzeichnisses  in  der  Altpr.  Monatsschr.  Nacliricht  gegeben, 
sind  r:  Jahre  verflossen;  seit  IG  Jahren  ist  das  ManuskHpt  fast 
ununterbrochen  in  meinem  Verwahrsam  gewesen.  So  sehr  icli  nun 
auch  Vorjahren  noch  der  Meinung  war,  es  müfste  sich  eine  Dar- 
stellung gleichsam  als  Kern  aus  dem  Ganzen  herausschälen  lassen, 
so  brachte  doch  bald  bei  genauerer  Prüfung  die  Frage,  welche  die 
rechte  Darstellung  sei,  die  Ansicht  ins  Schwanken.  Wiederholt 
wurde  die  Sache  überlegt,  für  günstigere  Zeit  und  gröfsere  ]Mufse 
zurückgelegt,  zuletzt  über  anderen  Arbeiten  vergessen.  Jetzt  endlich 
tritt  uns  die  Aufgabe  von  neuem  zwingender  als  bisher  entgegen; 
aber  der  Plan,  aus  den  verschiedenen  Konvoluten  ein  Buch  zusammen- 
zustellen, ist  aufgegeben ;  statt  dessen  soll  das  ganze  Manuskript  in 
einer  Reihe  von  Artikeln  in  diesen  Blättern  erscheinen.^'*) 

Dieses    Versprechen    ist    leider    nur    zum    Teil    in    Erfüllung 
gegangen.     Von  den   1:;  Konvoluten  des  kantischen  Manuskriptes  ist 

in  der  Alt])reufsischen  Monatsschrift    in  den  Jahren    |,S(S2 84    nur 

etwa  zwei  Drittel  zum  Abdruck  gelangt,  und  zwar  im   Bande  XTT 
S.  06—127   das  zwölfte  Konvolut;    S.  25:)— 80.S   und  42;')— 479, 
sowie  r)6JJ  — 62!)  das  zehnte  und  elfte  Konvolut;  im  Bande  XX 
S.  ;'){)— 122  das  zweite  Konvolut;  S.  842— 37:^  und  4ir)-4r)()  das 
n  e  u  n  t  e  Konvolut ;  S.  513  —  566  das  dritte  Konvolut:  endlich  im 
Bande  XXI  S.  Sl  — I5f)  das  fünfte  Konvolut;  S.  :>,0f)-887  und 
8S{|  — 420  das  erste  Konvolut  und  5:^)3— 620  das  siebente  Kon- 
volut.    Es  fehlen  mithin    das  vierte,    sechste,    achte  und  dreizehnte 
Konvolut,    deren  Verfiffentlichung  Reicke  zwar  zugesagt    hat,    die 
aber  aus  Gründen,    welche  nicht  hierher  gehören,    unterblieben    ist. 
Aber  auch   die  venJft'entlichten    neun  Konvolute  sind  keineswegs  in 
absoluter  Vollständigkeit    zum    Abdruck    gelangt:    Wiederholungen. 
die  nichts  Neues  mehr  enthielten,  sind  fortgeblieben,    auch  einzelne 
Stichworte  und  Bemerkungen,   die  nur  für  Kant  selbst  verständlich 
waren,  hat  Reicke  nicht  mit  aufgenommen,    dafür  jedoch  in  dem, 
was  er  giebt,    einen  so  sorgfältigen    und  alle  Eigentündichkeiten  so 
eingehend  berücksichtigenden   Text  geliefert,    dafs  wir  daraus  einen 
vollen   Einblick  in  das  Manuskript  gewinnen. 

AV^is    nun  den    Wert    des  Manuskriptes    in  })hilosophischer  Be- 
ziehung anbetrifft,    so  ist    f^r  bekanntlich  auch  neuerdings    von    den 


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')  a.  a.  O.  G7f. 


29* 


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^^2  ^-    i^a^t  a^^  Naturphilosoph. 

verschiedensten     Seiten     angezweifelt     worden.      So    schrieb    Kiino 
Fischer  bereits  in  der  ersten  Auilage  seiner  .Geschichte  der  neuern 
Philosophie"    Bd.  III,  die  im  Jalire    1 8(i0  erschien :   „Man  mufs  sicli 
den    Zustand    des  Philosophen    in    seinen    letzten    Jahren    vergegen- 
wärtigen,    wo  ihn    der  Marasmus    mit    allen    seinen  Übeln    ergriften 
hatte'und  allmählich  verzehrte      Das  Gedächtnis  erlosch  mehr  und 
mehr,  die  Muskelkraft  erschlaffte,   der  Gang  wurde  schwankend,  er 
konnte  sich  kaum  noch  aufrecht  halten  und  bedurfte  fortwährender 
Wachsamkeit  und  Unterstützung.     Dazu  kam  ein  beständiger  Druck 
auf  den  Kopf,  den  er  die  Grille  hatte,    aus  der  Luftelektnzitat   zu 
erklären,    um    das  Leiden    aus  äufseren  Umständen,    nicht    aus    der 
Erkrankung    seines  Gehirns    herzuleiten.     Die  Kraft    der  Sinne  er- 
losch,   die  Efslust  verlor  sich,    er    war    so    schwach,    dafs    er    seine 
ökonomisclien    Angelegenheiten    nicht    mehr    verwalten,    weder  Geld 
zahlen,   noch  erhaltene  Zahlungen  bescheinigen  konnte.     Zuletzt  ver- 
siegten   die    Kräfte    von  Tag    zu   Tag.      Er    vermochte    nicht    mehr 
seinen  Namen  zu  M-hn-iben,   die  Buchstaben    sah  er  nicht,    die    ge- 
schriebenen  vergafs  er  in  demselben  Augenblick,   die  Bilder  entfielen 
seiner  YorstclUingskraft.  die  gew()hnlichsten  Ausdrücke  seinem  Ge- 
dächtnisse.      In    diesem    Zustande    einer    allniiihlichen    jahrelangen 
Geistesverwelkung  war  er  so  emsig  als  m()glich  mit  der  Ausarbeitung 
jenes  \\\"rkes  beschäftigt,  das  er  mit  der  YorHebe  eines  Greises  für 
das  späteste  Kind  bisweilen  als  sein  Hauptwerk  bezeichnete.'^*) 

Gestützt  auf  diese  Thatsachen  und  die  früheren  Urteile  des  Hof- 
predigers Schultz  und  der  anderen  erwähnten  Zeitgenossen  Kants 
glaubte  nun  Fischer  den  Wert  des  kantischen  Manuskriptes,    „was 
"die  Neuheit    des  Gedankens,    wie    die  Schärfe    und   P>ündigkeit    der 
Darstellung  betrifft''   ohne  weiteres  l)ezweifeln  zu  dürfen.     Er  kannte 
ja   damals   den    genaueren  Inhalt  des  Werkes    noch    nicht,   wo    der 
obige  Jiericht  in  den  Preufsischen  Jahrbüchern  eben  erst  im  Jahre  1858 
erschienen  war.    Aber  auch  die  Veröffentlichung  des  Inhaltsverzeich- 
nisses durch  Ueicke    im  Jahre    bSbi  vermochte    sein   Urteil    nicht 
umzustofseii,  sodafs  die  zweite  Auflage  seiner  Darstellung  Kants  vom 
Jahre    Ks()!)  eine  wesentliche  Änderung   jenes  Textes  nicht  enthielt. 
Die  dritte  Auflage  des  fischerschen  Kant  erschien  zu  Ostern  1882. 
Wenn    man    bedenkt,    dafs    die    Veröffentlichung    des    Manuskriptes 
durch  Beicke    im   Anfange  desselben  Jahres  erst  begonnen  hatte, 
und    dafs  jenes    früher  v(  röti'entlichte  Inhaltsverzeichnis    niclit    eben 
geeignet  war,  eine  besonders  hohe  Meinung  von  dvm  nachgelassenen 
Kaiibverk  zu  erwecken,  so  kann  man  es  Fischer  kaum  zum  Vor- 


*)  K.  Fischer:   a.  a.  ü.  Sl>. 


11.  Die  kritische  Maturphilosophie. 


453 


wurf  machen,    dafs  er  auch  jetzt   sich    noch  skeptisch  verhielt    und 
sich  nicht  veranlafst  gesehen  hatte,  seinen  Text  zu  ändern. 

Es  lag  daher  gar  kein  Grund  vor,    sich    üher    die  Darstellung 
Fischers  in  dem  Mafse  zu  entrüsten,  wie  es  Pastor  Krause  in 
Hamburg  getiian  hat,    selbst   dann    nicht,    wenn    man  erwägt,    dafs 
auch  Fischers  „Kritik  der  kantischen  Philosophie"  vom  Jahre  1883 
das  Werk  unberücksichtigt  gelassen    hatte.     Zu  jener  Zeit    war  ja 
dessen  Verciffentlichung    in    der  Altpreufsischen  Monatsschrift   noch 
mitten  im  Gange,  und  Fischer  glaubte  bei  seiner  Kritik  mit  Hecht 
sich  nur    auf   die  allgemein  zugänglichen    und    bekannten  Zeugnisse 
des  kantischen  Geistes,  aber  nicht  auf  ein  Opus  stützen  zu  müssen, 
das  auf  die  Fortentwickelung  der  Philosophie  gar   keinen  Ein- 
flufs    geübt    hat.     Es    lag    noch     weniger    ein    Grund     vor,    den 
„grofsen  Geschichtsschreiber    der  Philosophie-'  patlietisch    als    einen 
„Ankläger"    Kants    hinzustellen,    weil   er    die    Mängel    und   Wider- 
sprüche bei  Kant,  sowie  er  dies  bei  jedem  andern  Phi]osoj)hen  auch 
getlian,  herausgearbeitet  hatte,    um  daraus  die  Notwendigkeit    einer 
AVeiterentwickelung  von  dessen  Philosophie  zu  erweisen  und  den  that- 
sächlichen  Verlauf  dieser  Entwickelung   verständlich    zu    machen.^') 
Diese  ganze  „Schani    und  Entrüstung,"    von  welcher  Krause    bei 
dem    oben    angefülirten  Zweibd   F'ischers    „gepackt"    zu    sein    be- 
hauptet,*''^) entspringt  nur  seiner  Meinung,    die  Gröfse  eines  Philo- 
sophen sei    vor    allem  darnach    zu  bemessen,    dafs    er   sich    niemals 
widersprochen   habe,   und  seiner  Ansicht,    womit  er  wohl  einzig    da- 
steht, Kant  sei  dieser  „in  sich  widerspruchslose"  Philosoph,  welcher 
das  Gebiet  der  Philosophie  so  vollständig  umgrenzt  habe,  dafs  es  un- 
möglich sei,  darüber  liinauszugehen.***) 

In  Anhetracht  dessen,  dafs  die  Veröfleiitliehung  des  .  i\l.tnu- 
skri])tes  einen  so  langsamen  Fortgang  nahm  und  aufserdem  dasselbe 
keineswegs  vollständig  erschien,  hatte  sich  Krause  im  Jalire  1883 
an  den  preui'sischen  Kultusminister  gewandt  und  ihn  für  eine 
baldige  und  unverkürzte  Herausgabe  des  nachgelassenen  AVerkes  zu 
interessieren  gesucht, f)  sich  aber  dann  seihst  in  den  Besitz  des 
Manuskrij)tes  gesetzt,  um  es,  wie  die  Tagesblätter  verkündigten,  nicht 
blofs  „ganz  und  unverkürzt"  herauszugeben,  sondern  auch  ])hoto- 
graphieren  zu  lassen.    Beides  ist  leider  nicht  geschehen.    Statt  dessen 


*)  Alhr.  Krause:  Iintnanuel  Kant  wider  Kuno  Fischer  zum  ersten  Male 
mit   Hülfe    des  verloren    orewesenen    kantischen   Hauptwerkes:    Vom  T^horgange 
von  der  Metai)hysik  zur  Physik  verteidigt  (1.S84). 
*    )  a.  a.  O.  26. 
***)  a.  a.  ().  14.  ]2:]ir. 
f  j  a.  a.  0.  27. 


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404 


B.    Kant  als  Naturphilosoi)h. 


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hat  Krause  im  Jahre  1884  seine  (unter  dem  Text  bereits  erwähnte) 
,. Anklageschrift"    wider  Kuno  Fischer  veröffentlicht    und   darin, 
gestützt  auf   das    nachgelassene  AVerk,    vor   allem  Fischers  Auf- 
fassung vom  Ding  an  sich  y.u  widerlegen  versucht.    Glaubte  er  doch 
in    jenem   Werke  eine  Bestätigung  für  seine    eigene  ganz    einseitige 
und  (wenigstens    in  Hinsicht    auf  die  früheren  AVerke  Kants)   ganz 
unhistorische    Auffassung     dieses     Kardinalpunktes     der     kantischen 
Philosophie    zu    finden,    worauf   seine  eigenen    Fortbildungsversuche 
dieser  Phik)S()phie  beruhten,  eine  Auffassung,    wie    er    sie  in  seiner 
,.P()pulären    Darstellung  von   J.  Kants  ,.Kritik  der  reinen  Vernunft«' 
vom    Jahre     1882    nälier    dargelegt     hatte'.^^O     (vgl.     oben    S.    223). 
Diesen    eigentlichen   Grund    seiner  Empörung    gegen  Fischer    hat 
Krause  selbst  ausgei)lau(lert.    „Es  ist,"   schreibt  er  in  seiner  Ver- 
teidigung Kants,    „nicht  blois  die   Liebe  zu   Imnuinuel  Kant,   welche 
mich  veranlafst,  dieses  Unternehmen  auszuführen,  sondern  es  ist  auch 
d  e  r  T  r  i  e  b  d  e  r  S  e  Ib  s  t  e  r  h  a  1 1  u  n  g  (!).  welcher  mich  dazu  zwingt. 
Meine  eigenen   AW-rke,    insonderlieit    „die  Gesetze  des  menschlichen 
Herzens"    bauen    sich    auf   den  kantischen  Lehren    auf.     Sind  diese 
unverstanden    oder    verworfen,    so    sind    es    auch    die   Erkenntnisse, 
welche  die  „formale  Logik  des  reinen  Gefühles"  darbietet."**)    Dafs 
Fischer  diesen  Angriff  nicht  auf  sich  sitzen  lassen  würde,  war  bei 
dem    Tone,    den    Krause    gegen     iim    angeschlagen    hatte,    voraus- 
zusehen ;   so   hatte  es  sich  dieser  nur  selber  zuzuschreiben,   wenn  die 
Antwort  Fischers    in    seinem    „Vade   mecum    für    Herrn  Pastor 
Krause"  nichts  weniger  als  höflich  ausfiel. 

Wir  wären  auf  diese  ganze  unerquickliche  Angelegenheit  nicht 
weiter  eingegangen,  wenn  sie  nicht  bei  der  Beurteilung  des  nach- 
gelassenen Kantwerkes  docli  mit  in  Frage  käme,  sofern  sich  durch 
das  Dazwischentreten  Krauses  und  das  Hineintragen  seiner  eigenen 
Ideen  in  die  Frage  über  den  Wert  des  ^Manuskriptes  die  Zahl  von 
dessen  Beurteilern  in  zwei  Lager  gespalten  hiit,  deren  Ansichten 
ziemlich  weit  auseinandergehen.  Da  ist  es  denn  niciiL  bedeutungs- 
los, dal's  die  unendliche  Hochschätzung,  die  Krause  dem  Manu- 
skripte zollt,  dadurch  jedenfalls  nicht  unverdächtig  ist,  weil  ihm  das 
letztere  in  mancher  Beziehung  gelegen  scheinen  mag.  iMan  kann  es  ja 
Krause  nicht  verdenken,  wenn  er  für  seine  eigene  AVeltanschauung 
einen  Halt  bei  demjenigen  Philosophen  sucht,  der  gerade  bei  den 
Zeitgenossen    die  höchste  Autorität  besitzt,    und    man    begreift    es, 


*j    \''^\.    auch    Krause:    Die    Gesetze    menschl.    Herzens,    wissenschaltl. 
dargestellt  als  d.  formale  Logik  des  reinen  Gefühls  (KsTüj. 


♦* 


)  a.  a.  O.  o. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


400 


wie  er  aus  diesem  Grunde  dazu  kommen  kann,  das  nachgelassene 
Werk  in  seinem  Briefe  an  den  Minister  als  „die  tiefste  und  folgen- 
schwerste aller  Schriften  Kants"  zu  rühmen. *j  Allein  man  mufs 
doch  Bedenken  tragen,  dieses  Urteil  ohne  weiteres  zu  unterschreiben, 
wenn  jenes  kantische  Werk  geeignet  sein  sollte,  den  eigenen  Schriften 
Krauses  als  Deckung  zu  dienen.  Besäfsen  wir  nur  die  Veniffent- 
lichung  Beickes,  und  müfste  Jeder  seine  Kenntnis  des  Manuskriptes 
aus  dieser  einzigen  Quelle  entnehmen,  so  könnte  man  die  Sache  auf 
sich  beruhen  lassen.  Da  aber  Krause  selbst  „Das  nachgelassene 
Werk  Tm.  Kants  u.  s.  w.  mit  Belegen  populärwissenschaftlich  dar- 
gestellt" im  Jalire  1888  hat  erscheinen  lassen,  und  mancher  schon 
der  Bequemlichkeit  halber  nur  hieraus  dasselbe  kennen  lernt,  so 
liegt  die  Gefahr  nahe,  es  möchte  eine  ganz  einseitige  und  üljer- 
triebene  Vorstellung  über  das  Manuskript  zumal  in  denjenigen  Kreisen 
sich  festsetzen,  für  welche  jene  ])opuläre  Darstellung  berechnet  ist.  eine 
Vorstellung,  die  sich  eben  nur  auf  das  Urteil  von  Krause  gründet. 

Auch  diese  Veröffentlichung  nämlich  ist  leider  nicht  geeignet, 
den  obigen  Verdacht  gegen  die  lleinheit  des  krauseschen  Urteils 
zu  zerstreuen.  Statt  nämlich,  wie  er  es  versprochen  liatte,  das  ganze 
Werk  unverkürzt  zum  Abdruck  kommen  zu  lassen,  hat  Krause 
nur  beliebig  aus  demselben  herausgegriffene  Stellen  veröffentlicht, 
die  auf  der  linken  Seite  stehen  und  hier  imr  der  eigenen  rechts 
abgedruckten  populären  Darstellung  korrespondieren,  sodafs  es  völlig 
zweifelhaft  bleibt,  ob  die  letztere  des  kantischen  Textes  wegen,  oder 
ob  dieser  wegen  jener  da  ist.  Dafs  hierdurch  die  historische  Kenntnis 
des  nachgelassenen  Werkes  nicht  gefördert  wird,  ist  selbstverständlich. 
Aber  auch  die  inhaltliche  Kenntnis  jenes  AVerkes  bleibt  auf  dem 
alten  Flecke  stehen,  weil  die  eigene  Darstellung  Krauses  viel  zu 
sehr  den  Stempel  ihres  Urhebers  trägt,  als  dafs  man  sie  für  eine 
objektive  und  unbefangene  Wiedergabe  der  kantischen  Gedanken 
ansehen  könnte,  wie  dies  auch  bereits  von  Vaihinger  und  anderen 
Beurteilern  der  krauseschen  Arbeit  ausgesprochen  ist.  **)  Trotzdem 
besitzt  diese  Arbeit  einen  nicht  unbedeutenden  vorläufigen  Wert, 
weil  sie  zum  ersten  IMale  eine  übersichtliche  Gruppierung  des 
kantischen  Ideenwustes  liefert  und  das  völlig  ungeordnete  Rohmaterial 
in  eine  verhältnismäfsig  einfache  Disposition  gegli(^dert  hat,  die  eine 
klare  Einsicht  in  dasjenige,  was  Kant  eigentlich  beabsichtigt  hat, 
erleichtert.    Was  aber  damit  gewonnen  ist,  das  zu  ermessen,  ist  nur 


*)  Krause:  I.  Kant  wider  K.  Fischer  2f). 
**\  V(rl     V^aihinoer    im    Archiv    f.    Geschichte    d.    Philosophie    Bd.  11. 

Heft  1.  37-39. 


456 


B.   Kant  als  Naturi)hilosoph. 


l-.id'' 


derjenige  imstande,    welcher    sich  einmal    die  Mühe  genommen  hat. 
durch  den    reickeschen  Text  voll   trockenster  Auseinandersetzungen 
mit  seiner  geradezu   lächerlichen  Unordnung  und  Weitschweifigkeit 
seinem  gräl'slichen  Satzhau  und   seinem  fortwährenden  Wiederkäuen 
eines   und  des  nämlichen    oft  ganz    nehensächlichen  Gedankens  sich 
hindurchzuwürgen,  ohne  dabei  zur  Verzweiflung  gebracht  zu  sein.  — 
Um  sich  ein  abscldiefsendes  Urteil   über  den  Wert   des  Manu- 
skriptes   und    seine    Bedeutung    für    die    kantische   Philosoi)hie    zu 
bilden,  wäre  es  natürlich  vor  allem  nötig,  zu  wissen,   wann  dasselbe 
abgefafst  ist.      Darüber  vrdHge  Gewifsheit    zu  erlangen,    ist   jedoch, 
wie  die  Dinge  gegenwärtig  liegen,  leider  ausgeschh)ssen  ;   man   bleibt 
auf  blofse  Vermutungen  angewiesen,  und  es  ist  daher  kein  \\'untler, 
wenn  die  Ansichten  hierüber  zwischen  recht  weiten  Grenzen  schwanken. 
Schubert    setzt    den  Anfang    der  Reinschrift    in  die  Jahre    1795 
bis    lilJS,  ohne  irgendwelche  Gründe  hierfür  anzugeben.-^)  eine  An- 
sicht, die  sich  weder  stützen,  noch  widerlegen  läfst,  weil  es  ihr  eben 
an  jeglichen  Beweisen  fehlt.    Für   Fischer  ist  es  ,.aufser  Zweifel'^ 
dal's    die    hinterlassene    Handschrilt    aus     des    ]?hih)s(>i)hen    letzten 
Lebensjahren    stammt    und  jedenfalls  nicht  vor    ITÜS    begonnen    ist. 
Aber  auch  er  weifs  hierfür  eigentlich  keinen  anderen  Beweis  als  den 
erwähnten   Brief  an  Garve,  sowie  die  obigen  Berichte  von   Kants 
Zeitgenossen.^'*)     Dagegen    nehmen    Krause    und    solche,    die   ihm 
nahe  stehen,***)  das  Jahr    1783  als  dasjenige  au,    worin  Kant  sein 
letztes  Werk  begonnen  habe,    und  ihnen  hat  sich   auch  v.  Ptlug- 
Hartung  angeschlossen,   der  ebenfalls  in  seinen  „Paläograi)liischen 
Bemerkungen    zu  Kants    nachgelassener   Handschrift*'   sich    für    das 
nämliche  Jahr    entscheidet. 7)     Die  (iründe,    weiche    diese  Ansicht 
für  sich  anzuführen  hat,  sind   freilich  äufserst  schwach.     Sie  stützt 
sich  lediglieh    auf   eine  Memorialnotiz,  die   sich    auf  einem  der  von 
Kant  benutzten   Papierstücke    befindet    und    einen  Brief  an    den  nn 
Sei)tember    1783    gestorbenen  Dir.  Euler    in   IVtersburg    erwähnt. 
Wer  will  aber  ausmachen,    ob  nicht  ävv   Zettel  diese   Notiz  bereits 
tnthielt    und    erst  später  wieder    in    Kants   Hände  gelangt  ist,    um 
dann  von  ihm  zur  Arbeit  verwendet  zu  werdend 

Es  ist  ja  gar  nicht  einzusehen,  wie  Kant  schon  im  Jahre  1783 
dazu  hätte  kommen  sollen,  an  ein  Werk,  wie  das  in  Frage  kommende, 
auch  nur  zu  denken.  Die  Partieen,  die  augenscheinlich  die  frühesten 
sind,    beschäftigen  sich    ausschliefslich    mit  dem    Übergange  von  der 


*)  Schubert:  a.  a.  O.  61. 

**)   Fischer:   „l^as  Streber-   u.  CTründertmii   11.  s.  w.'*   7. 
***)  z.  B.  H.  K eierstein:  Die  Grundhitrcii  d.  J*hysik  u.  s.  w.  3. 
t)  Archiv  i.  Uesch.  d.  I'hil.  Bd.   II.   Hit.    I.  J^-iiU. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


457 


Metaphysik   zur  Physik.     Nun  waren    aber    die  „Meta])h.  Anfangs- 
gründe  der  Naturwissenschaft-'   doch  erst  im  Sommer  1785  vollendet. 
In  dieser  Schrift  war  Kant  noch  aufser  Stande,  die  Besonderuniren 
der  Materie  aus    ihrem  Begriffe  abzuleiten    und  deutet    er  nur  erst 
schüchtern  die  Möglichkeit  an,  wenigstens  die  Kohäsion  mittelst  der 
Ätherhypothese    zu    erklären    (IV.    460).      In    dem    nachgelassenen 
AVerke  dagegen    ist    der  Äther   zum    allgemeinen  Erklärungsprinzip 
erhoben   und    der    Versuch    auf    allen    Punkten    durchgeführt,    mit 
ihm     die    erwähnte    Schwierigkeit     aufzuheben.       Zugegeben    also, 
dafs    Kant    auch    schon    um    1785    die    „Lücke"    empfunden,    dafs 
er  nach  einem  Prinzip,  um  auch  die  Besonderungen  der  Materie  zu 
erklären,    gesucht    und  sich    einzelne  Notizen    nach  dieser  Richtuuir 
hin  gemacht  liahe,    gefunden  kann    er  jenes  Prinzip    und  damit  die 
Idee  des   Überganges  doch  nicht  vor    17f)0  haben.     Fischer  macht 
mit  Kecht  darauf  aufmerksam,   dafs  die  hinterlassene  Schrift  in  einer 
grofsen  Keihe    von  Stellen,    die  zu    den    beachtenswerteren  geliören, 
die  „Kritik  der  Urteilskraft"  voraussetzt.*)    Es  ist  sogar  sehr  wahr- 
scheinlich,   dafs    der    Grundgedanke    seines  Werkes    ihm    nur    erst 
durch  die  Einleitung  seiner  „Kritik   der  Urteilskraft"  nahe  gelegt  ist, 
wo  Kant  fast  mit  denselben  Worten  die  Notwendigkeit  eines  Über- 
ganges   zwischen  Natur    und   Freiheit    betont.      Erwähnt    findet  sich 
der  Titel    seines  Werkes,    worauf    zuerst  Vai  hinger  aufmerksam 
gemacht    hat,    zum    ersten  Male    in    den   „Metaphysischen  Anfangs- 
gründen der  Tugendlehre"  von  171)7,  wo  Kant  bemerkt :  „Gleichwie 
von  der  Metaphysik  der  Natur  zur  Piiysik  ein  Überschritt,  der  seine 
besonderen  Regeln   hat,  verlangt  wird,    so  wird  der  Metaphysik  der 
Sitten  ein  Ähnliches  mit  Hecht  angesonnen  :  nämlich  durch  Anwendung 
reiner  Pflichtprinzipien    auf  Fälle  der   Erfahrung  jene  gleichsam  zu 
schematisieren    und    zum    moralischen    praktischen   Gebrauch    fertig 
darzulegen"    (VII.   278).     Hier    ist     sogar    der    Grundgedanke    des 
Überganges  deutlich    ausgesprochen.      Wenn    daraus  nun  auch  noch 
nicht  mit  Sicherheit  zu  schliefsen  ist,    Kant  habe  um  diese  Zeit  die 
Abfassung  seiner  letzten  Schrift  begonnen,  so  scheint  doch  Folgendes 
Ausschlag  gebend  :  bei  der  Auffindung  jenes  Prinzips,  wodurch  der 
Übergang    erst  m{)glich  wurde,    ist  Kant    offenbar  durch   Ficht  es 
Wissenschaftslehre   und   Becks   „Einzig  mci^dichen  Staiid])unkt.   aus 
welchem    die    krit.   Philosophie    beurteilt    werden    mufs"    beeinflufst 
worden;  jene  aber  erschien  zuerst  171J4  und  dieser  erst  179G,  woraus 
folgt,    dafs  Kant    nicht  vor   1797  (98)    mit    seinem   eigenen   Werke 
wirklich  den  Anfang  gemacht  haben  kann.    Die  Auseinandersetzungen 


;:'f 


*)  Fischer:  Das  Streher-  und  (Tründertuni  u.  s.  w.  7. 


M 


i' 


45b 


ß.    Kaut  als   Naturphilosoi)h. 


f. 

u.- 

f 

K 


II 


Ml" 


Kants  über  die  Möglichkeit  eines  Überganges,  die  den  interessantesten 
und  wertvollsten  Teil  des  ganzen  Manuskriptes  bilden  und  noch  am 
wenigsten  iiuf   eine  Abnahme    seiner  Geisteskräfte  schlielsen  lassen. 
siiul  im    elfteil    und  zwölften  Konvolut    enthalten;    und  thatsächlich 
betimU't  sich  aucli    in  dem  letzteren    eine  briefhche  Mitteilung  vom 
8.  August    1799    (Altpreufs.  Monatsschr.   XTX.    L>()G).     Dafs  Kant 
vor  der  angegebenen  Zeit  sich  ernstlich  mit  der  Ausarbeitung  seiner 
naturphiloso])hischen    Ideen     befafst    haben    sollte,     wird    auch    von 
Vaihinger.    wold     dem     genauesten     Kenner    des     Philosophen, 
bestritten,  und  dies  scheint  auch  ausgeschlossen,  wenn  man  die  An- 
zahl und    den  Umfang    seiner  \Vovke    ins  Auge    fafst,    die    er    von 
I7v^(5__i7()7   rreliefcrt  hat.   wenn   man  erwägt,   dafs  Kant  seine  amt- 
liche Thätigkeit  erst    1797  aufgegeben  hat  und  dann  sich  vergegen- 
wärtigt, wie  in  diesem  Jahre  seine  Arbeitskraft  rapide  abnalim  und 
das  Licht    seines    (jreistes    mehr    und    mehr    sich    selbst    verzehrte. 
(Vgl.   z.    B.    Kants    Brief   an  Rein  hold   v.   21.   Sept.    17!)  1.    VIII. 

757  f.). 

So  schwierig  es  nun  auch  ist,    die  Zeit,    m  welcher  Kant    mit 

der  Niederschrift  seines  letzten  Werkes  angefangen  hat,   mit  Sicher- 
heit zu  bestimmeiK   so  zweifellos  ist  es,    dafs  er  noch    KSO:;.  also  in 
seinem    achtzigsten    Lebensjahre    daran    geschrieben    hat.     Gewisse 
Notizen,  die  sich  auf  Gespräclie  mit  seinen  Tischgenossen  beziehen, 
ermi)gliehcn  sogar  eine  genauere  Bestimmung  des  Datums,  an  welchem 
Kant  sie  niedergeschrieben  hat,   sofern   nämlich  diese  Gespräche  bei 
Hasse  und  AVasianski  mit  Angabe  des  betreffenden  Tages  Er- 
wähnung gefumhMi   lialxMi.     Solche  Notizen  finden  sich  besonders  im 
ersten  Konvolute,  das  seiner  Anlage  nach  oirenl)ar  das  späteste  ist. 
„Bei  keinem  der  Konvolute",  sagt  lleicke,   „wird  man  so  sehr  an 
den   altersscliwachen  Kant  gemahnt,   als  bei   diesem;   keines  gewährt 
einen   traurigeren  An])!ick  als  dieses,  schon  äufserlich,  denn  nirgend- 
wo sonst  ist"  soviel  ausgestrichen.   iUmt-  und  zwischengeschrieb.'ii.  so 
dicht  und  mit  so  unleserlicher  Schrift,  dafs  das  Ganze  buntscheckig 
aussieht  und  das  Auge  beim  Lesen  ermüdet;  ebenso  ermüdend  wirkt 
auch  der  Inhalt.      Wohl   mehr    als  sechzig    mal  versucht  Kant    den 
Titel  für  sein  W(^rk  zu  fixieren,  dessen  Ausführung  weit  über  seine 
Kräfte  ging;    im  vierten   Bogen  allein  kommen  solche  Titelversuche 
wohl    gegen    dreil'si,i,^  mal  vor;    noch  viel    häufiger,     mindestens  ein- 
Imn.lertfünf/ig  mal  mülit  er  sich  ab,  eine  Definition  der  Transeendental- 
philosophii^  zu  geben  und   den  Gegenstand  derselben  zu  bestimmen. 
Die    einzige    Hrholung    in    diesem    Einerlei  gewähren    noch    die    hier 
und  da  eingestreuten  Allotria,,  allerlei  zufällige  Gedanken  über  die 
verschiedensten  Gegenstände,    wie  sie  ihm    bei    seiner  Lektüre   oder 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


4C)9 


bei  seinen  Gesprächen  mit  den  Tischgenossen  aufstiefsen,  wirtschaft- 
liche Notizen  und  allerhand  Sachen,  die  nicht  vergessen  werden 
sollten."*) 

Wären  die  übrigen  Konvolute  von  der  gleichen  Beschaffenheit, 
wie  dieses,  so  könnte  die  Philosophie  über  das  nachgelassene  Kant- 
werk  einfach  zur  Tagesordnung  übergehen,   und    Kuno   Fischer 
hätte    Recht,    es    lediglich    als    eine    ..litterarische  Merkwürdigkeit" 
hinzustellen.     Indessen    so    einfach    liegt  die  Sache  nicht.     Manche 
anderen  Bestandteile  des  Manuskriptes   zeigen  bei  aller   Unordnung 
und    Verworrenheit    einen    ganz    vernünftigen    Gedankengang,    der. 
weil  er  dem  Geiste  Kants  entstammt,  doch  w^ohl  eine  gröfsere  Be- 
achtung   verdient    hätte,    als    sie    ihm    bisher    zuteil   geworden  ist. 
Kant  selbst  hat  die  Schrift  für  sein   „Hauptwerk"  ausgegeben,   und 
Krause  steht  niclit  an.    ihm  beizustimmen  und  hat  alle  Hebel  in 
Bewegung  gesetzt,  um  die  Welt  von  der  Bedeutsamkeit  des  ,.Üher- 
ganges"    zu    überzeugen.      So    viel    werden    wir    schon    jetzt    nach 
unserer  ganzen  Darlegung   der  Entwickelung  des  kantischen  Geistes 
sagen  können  :  dafs  Kant  die  hinteiiassene  Schrift  sein  Hauptwerk 
genannt  hat.    dies  dürfte  doch  wohl  etwas  tiefer  begründet  sein  als 
in    der    Idofsen    „Vorliebe    eines    Greises    für    das    späteste   Kind." 
Das  Werk,  dessen  Torso  uns  in  der  Schrift  „vom  Übergänge  u.  s.  w\" 
vorliegt,    ist    ein    Bruchstück    jener   allgemeinen  Meta- 
physik   der   Natur,    deren  Ausführung  Kant    von  An- 
fang   an    im    Auge    hatte,    es    sollte   thatsächlich  sein 
Chef  d'ceuvre  werden.     Ob  dieses  Ziel  erreicht  ist.  wie  Krause 
annimmt,    ob  „der  Übergang"  in  der  That  „die  tiefste  und  folgen- 
schwerste   aller  Schriften  Kants"    ist.    oder  ob  sie  blofs  ein  alters- 
sclnvaches,    sich   beständig  wiederkäuendes  Aggregat    ohne    tieferen 
philosophischen    Wert    darstellt,    um    diese    Frage    zu    entscheiden, 
dazu    müssen    wir    uns  jetzt  eingehender    mit  dem  Inhalt  befassen, 
so  weit    ein    solcher    aus    dem    nachgelassenen  Kantwerk    herauszu- 
destillieren  ist.  — 

Die  ganzen  Bemühungen  Kants  um  eine  Naturphilosophie 
haben,  wie  wir  sahen,  kein  anderes  Ziel,  als  der  Naturwissenschaft 
oder  der  Physik  im  weitesten  Sinne  ein  sicheres  Fundament  zu 
liefern.  Madien  wir  uns  einmal  klar,  was  Physik  ist.  „Ai^  Wissen- 
schaft ist  sie  ein  System  der  Erkenntnis,  als  Naturwissenschaft  eine 
systematische  Erkenntnis  von  den  bewegenden  Kräften  der  Materie, 
als  Physik  endlich  ein  System  empirischer  Erkenntnis  dieser  Kräfte" 
(XIX.  2UI).     Da    zeigt    sich    sogleich   die  ganze  Schwierigkeit  und 


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')  Altpr.  Monatsschrift  XXI.  oClO  f. 


460 


B.    Kant  als  Naturphilosopb. 


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das  Problem.  Giobt  es  ein  empirisches  System?  Offenbar  ist  es 
ein  ^Viderspruch.  davon  zu  reden.  ..w(m1  ein  jedes  System  ein 
Prinzip  bedeutet,  unter  welchem  das  Mannigfaltige  gegebener  Vor- 
stellungen zusammengeordnet  ist"  (ebd.  293).  Physik  ist  Erfah- 
rungswissenschaft.  „Es  ist  aber  unmi^glich,  aus  blofs  empirischen 
Begriffen  ein  System  zu  zimnu^rn.  Es  wird  jederzeit  ein  zusammen- 
gestoppeltes Aggregat  von  Beobachtungen  dieser  oder  jener  Eigen- 
schaft der  Materie  bleiben,  was  zwar  ansehnlich,  aber  doch  immer 
nur  fragmentarisch  wachsen  kann,  und  in  welcher  Naturforschung 
man  stille  stehen  kann,  wo  num  will,  weil  es  an  der  Idee  mangelt, 
welche  ein  innerlich  begründetes  und  zugleich  sich  ^.elbst  be- 
grenzendes Ganze  ausmacht*'  (XX.  lil.  XXT.  84). 

Bei  einem   hlofs  fragmentarischen  Zusammentragen  empirischer 
Elemente  ist  niemals  eine  Ülierzeugung  von   der  Vollständigkeit  der 
Arbeit  zu  erhoffen  (XXT.  \iY2).    Tst  die  Physik  nui-  ein  solches  Aggre- 
gat —   und  unter  allen  em|)irischen    Wissenschaften  leidet  wohl  sie 
gerade  am  meisten  unter  diesem  Fehler  —  ;/^o  ist  das  ein  ,.rbel,  was 
selbst  das  Aufgefafste,   weil   es  mit   dem    Übrigen  des  Ganzen  nicht 
verglichen   werden   kann,    auch    das,    was    entdeckt    worden    ist.    in 
Gefahr  bringt,  ob  es   nicht  vielleicht  mit  dem  einerlei  sei,  was  man 
schon  gefunden  hat,     und   überhaupt,    daf-.   man   nie   weifs,    wie   und 
wonach  man  suchen  soll.      Denn    bei  allem    empirischen  Aufsuchen, 
welches  num  im  eigentlichen   Sinn(>   Xaturforscbung  nennt,    ist  doch 
zuviuderst    nötig,    belehrt    zu    werden,    wie  und     nach    welchem 
l'rinzip    num    die    manigfaltigen    bewegenden  Kr.äfte  der  Materie 
aufsuchen  soll''  ((JG).     Ximmt  man  ein  solches   Piiu/ip  aus  der  Er- 
fahrung auf,    so    berechtigt  dies    trotzdem    noch  nicht   zu   dem  Aus- 
spruch:     ..Dies    oder    jenes    lehrt    die     Krfahrung.*'      „Denn    das 
empirische    Urteil    als    ein    solches    kann    doch    nie  als  apodiktisch 
vorgestellt  werden.      Wenn  z.  B.  in   zehn  verschiedenen  Mischungen, 
die  zum    Niederschlag  einer  Auflösung  nach   chemischen  Regeln  ge- 
hören,   man    das    Experiment    gleichsam    schon    zur   Demonstration 
(um  noch  nudne  Versuche  überflüssig  zu  machen)  gediehen  zu  sein 
wähnt,    so    kann    man    im    elften,    wo  z.   B.   ein   unbemerkt  auf  die 
Instrumente    wirkender    Eintlufs    der    Luftelektrizität    im    Spiel  ist, 
wiegen  des   Erfolges  nicht  immer  die  Gewähr  leisten,  oder  ein  Arzt 
den    l)eal)sichtigten     Fafolg    bei    (scheinbarlieh)    gleichen    Individuen 
und    Zutalleu    derselben    hypokratisch    vom    Dreifufse    vorhersagen, 
ohne     bisweilen     in     seinen     Erwartungen     getäuscht     zu     werden" 
(XIX.  (JJö).     Absolute  Sicherheit  gewährt  nur  ein  apriorisches 
Pnnzip;  daher  kann  auch  die  Physik,  als  System,  nicht  anders  als 
nach  Begriffen  a  priori  zustande  kommen. 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie. 


4(ii 


„Die  Xaturforscbung  ist  kein  blindes  Herumtappen  nach  Wahr- 
nehmungen, die  sich  fragmentarisch  und  zufällig  einander  aggregieren 
lassen,    sondern  ist  an  Gesetze  gebunden,    nach  welchen  sie  aufge- 
sucht werden  müssen^'  (XIX.  2G3).     Soll  also  Physik  Wissenschaft 
und  nicht  blofs  ein  gröfseres  oder  geringeres  Aggregat  von  empirisch 
aufgesammelten   Erkenntnissen  sein,    so  mufs    der    Xaturforscher   es 
sich  zur  Aufgabe  machen,    die  bewegenden  Kräfte  der  Xatur,    die 
dem    Materiale    nach     nur    empirisch    (in    der    Erfahrung)    gegeben 
werden    können,    doch    nach    formalen  Prinzipien    ihrer   Verbindung 
zu    einem    Ganzen    des  Systems   zusammen    zu    stellen   (XXI.  ,s;)). 
Der  IMiysiker  mufs,  ehe  er  sich  an  die  Erfahrung  macht,  den  Bau- 
abrifs,  nicht  den  Bauanschlag,  entwerfen,   „obzwar  die  Materialien 
dazu  doch  nach  dem  Wesentlichen  des  Bedürfnisses  natürlicherweise 
dabei   in  Betrachtung  kommen,   so   doch,   dafs   wieviel  für  das  blofse 
Bedürfnis,    wie  viel  Aufwand    fih-  Zierde   und  Gemächlichkeit   ver- 
wandt   werden    sollen,    auf    die    Wohlliabenheit    des    Bauherrn  an- 
kommt*'  (XXI.    lOof.).      Er    mufs   dies,     ,.weil    es    sonst    an  einem 
Leitfaden  mangeln  würde,  sich  aus  der  ]\Ienge  der  sich  darbietenden 
Objekte    herauszufinden"    (ebd.    I(i4).     „Um  auch  durch  Erfahrung 
die   bewegenden  Kräfte    der  Materie   in    ihrer  Verknüpfung    zu  er- 
kennen,   müssen    vorher    Prinzipien    der   Verknüpfung   derselben   in 
einem  System  durch  den  Verstand  zum  Begriffe  des  Objektes  vor- 
hergehen   (forma   dat  esse  rei)-'  (XIX.  258),    und   diese   Prinzipien 
müssen  demnach  a  priori  gegeben,  sie  müssen  gleichsam  das  Fach- 
werk   sein,    m    welches    das    ICmpirische,    w^as    die    Xaturforscbung 
liefern  mag,  nach  Prinzipien  gestellt  w^erden  kann  (ebd.  2<5.  XX.  ()7). 
„Xicht  was  wir  aus  dem   Aggregat  der  Wahrnehmungen  ausheben, 
sondern   was  wir  zum   Beliufe  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  (folg- 
lich nach  einem   formalen  Prinzip)    hineinlegen,    bringt  die  Wissen- 
schalt der   Physik  zustande*'   (XIX.  287).     ,.Niclit  aus  Erfahrung, 
sondern    für    die   Erfahrung    nach   Prinzipien  der  Möglichkeit  der- 
selben die  Xaturforscbung  anzustellen,"  das  ist  es,   worauf  es  in  der 
Wissenschaft    vor    allem    ankommt ;    ,.denn   ohne   zu   diesem  Behuf 
Grundsätze  a  priori    bei    der    Hand    zu    haben,    wüfsten    wir    niclit 
einmal,     wie    wir    es    anfangen    sollten,    eine  Erfahrung  zu  machen, 
welche    aus    einem    blofsen    Aggregat    von    AVahrnehmungen    nicht 
hervorgeht,  weil  ihm  die  Form  der  Vereinigung  des  äufsern  Mannig- 
faltigen   zu    einem    Ganzen    (der  äufsern  Sinnenweltj  abgeht,  als 
welche  a  priori    im  A'erstande    (das    cogitabile)    angetroffen    werden 
mufs,    wemi    die    Materie,  als    Gegenstand    der  äufseren  Sinne   (das 
dabile),    in    einem    Lehrsystem    der  Physik    gedacht    werden    soll" 
(XIX.  257j. 


II 


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462 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


463 


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]\Ian  hat  wohl  geglaubt,  die  Physik  dadurch  in  den  Rang  einer 
\\'issenschaft    erheben    zu    kcinnen,    dafs  man  sie  gleichsam  mit  der 
Mathematik  vermählte;  und  zweifellos  verschafft  ja  die  Mathematik 
den  Lehrsätzen  der  Physik   erst   apodiktische  Gewifsheit.     Sie  ver- 
mag aber  eben  auch  nicht  mehr  als  dies.     Die  Mathematik  ist  kein 
Ivai^on,  sondern  nur  ein  Organon,  ein  unschätzbares  Instrument,  um 
die    Kräfte    der    ^Materie    nach    ihrer  AVirkungsweise  zu  berechnen, 
falls  nämlich  solche  schon  gegeben  sind,  —  kann  doch  die  ganze 
Bewegungslehre  rein  mathematisch  abgehandelt  werden;  allein  selbst 
Kvliite  als  wirkende  Ursachen  der  Bewegungen  aufzufinden  und   zu 
ordnen,    dazu  ist  sie  ihrer  Natur  nach  aul'ser  Stande  (XTX.  r)!)1  f. 
XX.  95).     Kant  macht  es  daher  dem  Newton  zum  Vorwurf  und 
sieht    einen    AVidersprueh    darin,    (hifs    derselbe    sein    unsterbliches 
AVerk   „philosophiae  naturalis  principia  mathematica^'   betitelt  habe, 
da    es    so    wenig    mathematische    T^rinzipien    der    Pliilosophie,    wie 
])hilos()i)hische   Prinzii)ien  der  Alathematik    geben  könne    (ebd.   r^HU. 
XIX.  (i!)f.  u.  s.  w.).    was    freilich    nur    eine    reine  Pedanterie  ist, 
indem    er    nicht    beachtet,    dafs    im    Englischen    das  AVort    Natur- 
philosophie dasselbe,   wie  bei  uns  Naturwissenschaft,  bedeutet. 

Damit  sehen    wir   uns  denn  zunächst   auf   die  ,,Metai)hysischen 
Anfangsgründe    der  Naturwissenschaft"   angewiesen,    die    als    solche 
selbst  phil(»sophisch  sind,  und  müssen  untersuchen,  ob  wir  in  iluien 
den  gesuchten   Kanon   besitzen,    um  die  Kräfte  der  Materie    in    ein 
System  zu  ordnen.     Da  zeigt    sich  denn  sofort,    dafs    auch  su^    uns 
im  Stiche  lassen.     D(Min  di(^  Kräfte,  um  welche  es  sich  in  der  Physik 
handelt,  sind  besondere,  eigentündiche ;  die  metaphysischen  Anfangs- 
gründe dagegen  umschreiben    nur  den  Kreis    der  allgemeinsten   Be- 
wegungsgesetze und  Beschaffenheiten  der  Materie,   ,.geben  jedoeli  gar 
keine  besonders  bestimmten  von  der  Erfahrung  anzugebenden  Eigen- 
schaften"  (XIX.  2r)*)).      Die  Physik  ])edarf  apriorischer  Prinzipien, 
wenn   nicht  das  zuiallige  Aggregat  ihrer  besonderen  ()l)iekte  plaidos 
auseinanderfallen  soll;    aber    sie    ist    für    sich  selbst    unfähig,    diese 
Objekte  in  die  Fesseln  notwendiger  Begriffe  zu  schlagen.     Die  meta- 
physischen Anfangsgründe  sind  ein  apriorisches  System,  sie  enthalten 
lauter  Prinzipien,  die  vor  der  IVIaterie  den  BegriiV  der  letzteren  selbst 
erst  m(-)glich  machen;  aber    dies  System  schwebt  gleichsam    in    der 
Luft    und    reicht    nicht    hinab    in    die    Mannigfaltigkeit    besonderer 


D 


Prinzipien,    w 


eiche  den  Gegenstand  der  Physik  hMvn.  Die  Physik 
kann  nicht  zur  Metaphysik,  die  Metaphysik  nicht  zur  Physik  kommen. 
Beide  sind  ganz  verschiedene  Territorien,  zwischen  denen  eine  ,.weite 
Kl  uff  besteht,  und  es  ist  ein  gefährlicher  Schritt,  von  dem  einen 
Ufer  zu    dem  anderen    den  Sprung  zu  wagen,    um    auf   dem   Boden 


der  Erfahrung  wandeln  zu  können  (XIX.  257).  „Gleichwohl  aber 
ist  dieses  Überschreiten  von  der  Metaphysik  zur  Physik  und  das 
jenseitige  Ufer  mit  dem  diesseitigen  zu  verknüpfen  notwendiger  An- 
spruch an  den  Naturpliilosophen,  weil  Physik  doch  das  Ziel  ist. 
w^ohin  dieser,  als  dem  Zweck,  streben  mufs.  und  zu  welchem 
jene  Begriffe  nur  die  Vorarbeiten  sind*'  (XX.  7J.  6:^). 
„Die  metaphysisclien  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft  sind  nur 
in  Hinsicht  auf  eine  Physik  bearbeitet  worden,  die  den 
Zw^eck  derselben  ausmacht,  und  man  erwartet  also  und  nie  Recht 
einen  Fortschritt  zu  der  letzteren  (XX.  G2.  XIX.  2GT  f.).  Dazu  kommt, 
dafs  jene  eine  „natürhclie,"  eine  ganz  „unvermeidliche,"  „notwendige 
Tendenz"  zur  Physik,  sowie  die  rationale  Naturforschung  überhaupt 
zur  eigentlichen  Naturkunde,  haben  (XIX.  207.  2()4.  2.S1).  Die 
Philosophie  „begehrt"  geradezu  den  Übergang  von  jener  zu  dieser 
AVissenschaft,  „ja,  was  noch  mehr  ist:  dieser  Übergang  selbst  mufs 
als  besondere  in  ihrem  Umfange  bezeichnete  und  in  ihrem  Inhalte 
begrenzte  Wissenschaft  aufgestellt  werden  kC.nnen"  (XIX.  257). 
AVenn  der  Übergang  unmittelbar  nicht  möglich  ist,  so  mufs  es  nocb 
eine  besondere,  und  zwar  a  j)riori  be.ijjründete  Wissenschaft  geljen, 
um  eine  A^erknüpfung  zwischen  beiden  zu  vermitteln,  .,welclie  dann 
nicht  blofse  Erfahrungsjirinzipien  (denn  die  fallen  der  Physik  anlieim), 
sondern  Gründe  der  Naturerkenntnis  enthalten  würde,  welclie  an 
l)eiden  Anteil  nehmen"  (XX.  ()2). 

Die  Frage,  um  die  es  sich  in  dieser  AVissenschaft  handelt,  kann 
also  dahin  formuliert  werden:  „AVie  ist  Physik  als  AVissenschaft 
möglich?"  (4:V2).  Zu  ihrer  Beantwortung  kommt  es  auf  nichts 
weiter  an,  als  auf  „die  vollständige  Aufsuchung  ^dler  jener  Elemente 
und  die  systematische  Anordnung  derselben  zu  einem  Ganzen,  ohne 
welche  selbst  die  Physik  ein  blofs  fragmentarisches  Aggregat  sein 
würde"  (XX.  74).  Der  Übergang  „antizipiert  nur  die  bewegenden 
Kräfte,  welche  a  priori  der  Form  nach  gedacht  werden,  und  klassi- 
fiziert das  empirisch-Allgemeine,  um  die  Aufsuchung  der  Bedin- 
gungen der  F^rfalirung  zum  Beliuf  eines  Systems  der  Naturforschung 
darnach  zu  regulieren"  (XX.  442).  Sonach  ist  er  „die  Zusammen- 
stellung (coordinatio)  der  Begrifi'e  a  priori  zu  einem  Ganzen  möglicher 
Erfahrung  durch  Antizipation  ihrer  Form,  sofern  sie  zu  einem 
empirischen  System  der  Naturforschung  (zur  Physik)  erforderlich 
ist"  (XIX.  lO.i).  Der  Übergang  ist  „die  architektonische  Einteilung 
der  bewegenden  Kräfte  der  Materie  a  priori,  als  Propädeutik  eines 
Systems  der  Physik"  (XX.  442),  indem  er  überhaupt  nur  die  Prinzipien 
a  priori  der  Naturforschung  enthält  (XIX.  21)8):  er  ist  „die  Archi- 
tektonik der  Naturforschung,"    der  „Schematismus   der  Zusammen- 


ii. 


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464 


B.   Kant  als  Naturpliiloso|)h. 


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Setzung  jener  Kräfte"  (ebd.)  und  kann,  sofern  es  ihm' lediglich  auf 
das  Formale  der  Verl)indung  der  Naturmomente  (XIX.  258)  oder 
auf  das  Formale  der  Zusammenstellung  des  Mannigfaltigen  der 
empirischen  Vorstellungen  ankonnnt  (XIX.  2<sO),  auch  als  ,As  Mofs 
Formale  des  Systems  der  bewegenden  Kräfte  der  Natur"  (XX.  HTO), 
als  die  allgemeine  „Topik"  dieser  Kräfte  bezeichnet  werden  (XIX.  2()  i  ). 

Es  ist  klar,  dafs  eine  solche  Wissenschaft  „nicht  mehr  eine 
Metaphysik,  aber  auch  noch  nicht  Physik"  sein  kann  (XIX.  ()()2.  270  f.). 
Als  ein  Mittleres  zwischen  beiden,  das  gleichwohl  die  Materie  zu 
ihrem  Objekt  liat.  kann  sie  nicht  einen  solchen  Begriff'  der  letzteren 
zu  Grunde  legen,  der  entweder  nur  der  .AIeta])hysik  oder  der  Physik 
angehr»rt,  sondern  sie  mul's  sich  auf  einen  Mittelbegriff  stützen, 
,. welcher  einerseits  an  einen  P»o-riff  des  Objekts  a  priori,  anderer- 
seits an  die  Bedingung  dvv  M()glichkeit  der  Erfalinmg.  in  der  dieser 
Begriff  realisiert  werden  kann,,  geknüpft  ist"  (XX.  r)2!)  f.)-  liegten 
nun  die  metaphysischen  Anfangsgründe  dem  Begritle  der  Materie 
überhaui)t  nur  das  Prädikat  des  Beweglichen  im  Räume  bei,  so  ist 
der  Mittelbegriif  des  Überganges  der  Begriff  von  er  Materie, 
sofern  sie  bewegende  Kräfte  hat,  oder  der  Begriff' ,.v(m  den 
bewegenden  Kräften  der  Materie  nach  besonderen  Bewegungsgesetzen 
(der  Hifalirung),  deren  spezifischer  Unterschied  aber,  als  wirkender 
Ursaehen,  sich  durch  im  i^iume  miigliche  Verliältnisse  als  Glieder 
der  Einteilung  der  Bewegung  a  priori  erkennen  lälst"  (ebd.  030.  DiVi  1.). 

Kant  scheint  nicht  bemerkt  zu  haben,  dafs  diese  nändiche 
Definition  der  Materie  bereits  in  den  ,:Metaphysischen  Anfangs- 
gründen" zur  Unterlage  der  Dynamik  gedient  hat.  und  dal's  somit 
die  letztere  eigentlich  in  den  Übergang  gehört.  Er  bleibt  dabei, 
den  Cbergang  als  eine  besondere  Wissenschaft  auf  einen  ganz  neuen 
Begrifi"  aufbauen  zu  müssen  und  teilt  darnach  die  scientifische  Natur- 
lehre (philosophia  naturalis)  in  drei  selbständige  Teile  ein:  „1.  die 
metaphysischen  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft,  die  a  priori 
begründet  sind;  2.  die  nllgeineine  physiologische  Kräftelehre,  welche 
auf  em])irischen  Prinzipien  (als  das  Materiale)  beruht,  deren  Ver- 
bindung aber  (mithin  das  Formale)  a  priori  begründet  ist;  '^.  die 
Physik,  als  Bezieliung  jener  Kräftelelire  auf  ein  dadurcli  mögliches 
System"  (XX.  WM.  WM).  548).  Die  allgemeine  Kräftelehre  oder 
der  Übergang  ist  die  physica  (physiologia)  generalis  und  ent- 
hält „blofs  die  bewegenden  Kräfte  der  Materie,  welche  zu  den 
Ert'ahrungsgesetzen  erforderlich  sind"  (XXI.  SS)  und  das  allgemeine 
Schema  derselben,  wohingegen  die  Physik,  als  AVissenschaft,  die  Ein- 
ordnung der  emjiirisch  gegebenen  Kräfte  lu  dieses  allgemeine  Schema 
darstellt.    ..Besondere  Systeme  für  eine  besondere  Klasse  bewegender 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


465 


Kräfte  werden  die  besondere  Pliysik  mit  ihren  Prinzipien  (physica 
specialis)  darstellen,  bis  dann  das  System  der  Natur  nach  ihren 
mechanischen  Kräften  einen  t'^berschritt  zu  den  der  organischen 
(physica  specialissima)  unternimmt,  deren  Form  aber  und  Gesetz 
über  die  Grenze  der  bewegenden  Kräfte  der  blofsen  Materie  hinaus- 
liegt, indem  die  bewegende  Kraft  in  eine  nach  Zwecken  wirkende 
Ursache  gesetzt  werden  mufs"  (XX.  5-)4  f.  XX.  8S). 

Es  ist  befremdlich,  es  scheint  sogar  unmöglich  zu  sein,  die 
bewegenden  Kräfte  der  Materie,  die  uns  eben  nur  in  der  Erfahrung 
gegeben  sind,  a  priori,  d.  h.  unabhängig  von  der  Erfalirung,  anzu- 
gelien  und  zu  spezifizieren,  wodurch  doch  die  Physik  erst  zur  Wissen- 
schaft erhoben  wird  (XIX.  299.  306.  454).  „Wenn  ich  statt  Materie 
(Stoffj  bewegende  Kräfte  der  Materie  und  statt  des  Objekts, 
welches  bewegbch  ist,  das  bewegende  Subjekt  nehme,  so  wird 
das  möglich,  was  vorher  unmöglich  schien,  nämlich  empirische  Vor- 
stellungen, die  das  Subjekt  selbst  macht,  nach  dem  formalen  Prinzi]) 
der  Verbindung  a  priori  als  gegeben  vorzustellen"  (XIX.  4G0). 

Die  Physik  hat  es,  als  Erfahrungswissenschaft,  zunächst  nur  mit 
äufseren  Wahrnehmungen  zu  thuii.  ,.  Wahrnehmungen  sind  Wirkungen 
bewegender  Kräfte  der  Materie  auf  das  Subjekt"  (XIX.  78. 
125.  44S  u.  s.  w.).     Wären  nun  diese  Kräfte  Dinge  an  sich  selbst. 
d.  h.  lägen  sie  gänzlich  aufserhalb  der  Sphäre  des  Subjekts,  so  wäre 
es  allerdings    unmöglich,    sie  a  priori    zu    bestimmen.     „Alles,    was 
wir  a  priori,  und    zwar  synthetisch   erkennen    sollen,    kann    nur    als 
Objekt  in  der  Erscheinung,  nicht  als  der  Gegenstand  an  sich  selbst 
beurteilt    werden"    (X.    441.    305).       „Denn    nur    die    Form    der 
em])irischen  Anschauung  kann  a  priori  gegeben  werden"  (434.  302). 
„Erscheinung  ist    das  Subjektive    der  empirischen  Ancchauung    und 
setzt  ein  cogitabile  voraus,    was,    durch  den  Verstand   objektiv   ge- 
macht,   das  dabile    in    der  Erfahrung   setzt"  (451).     Nur   weil    die 
Erscheinung  selbst  a  priori   in  der  Anschauung  gegeben  werden  kann, 
bedarf  sie  eines  Prinzips  der  Einteilung  und  Klassitlkation  a  priori, 
welche  aber  nur    als  zur  Erscheinung  gehörend  gegeben  ist  und  in 
der  Zusammensetzung  der  P^orm  nach  gedacht  wird  (304  f.).     „Das 
erste  Prinzip    der  Vorstellung   der  bewegenden   Kräfte    der  Materie 
ist  also,  sie  nicht  als  Dinge  an  sich  selbst,  sondern  als  Phänomene 
zu    betrachten    nach    dem    Verhältnisse,    welches    sie    zum  .Subjekt 
haben"  (272  f.  283.  285.  297.  304). 

Kraft  ist  causa litas  phänomenon  (XX.  93).  Ist  doch 
Bewegung  eben  nur  mciglich  in  Kaum  und  Zeit,  diese  aber  sind 
blofs  subjektive  Formen  unserer  Anschauung  und  machen  damit  auch 
die  Bewegung   zu    etwas    Subjektivem.     Wenn    daher    gesagt    wird. 

D  r  e  w  s  ,  Kants  Naturphilosophie.  3( ) 


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i^Y  ß-    Kant  als  Naturphilosoph. 

die  Wahrnehmungen  seien  Wirkungen  der  bewegenden   Kräfte   der 
Materie,   so  ist  dies  nicht  so  zu  verstehen,    als   ob  das  Subjekt   die 
Affektion  von  Seiten  des  Dinges  an  sich,  die  als  solche  ewig  unbe- 
kannt bleibt,    nur  unter    dem    ihm    geläutigen  Bilde    der  Bewegung 
auftafste,  weil  dies  eben  die  einzige  Art  ist,  um  sich  die  ^atur  des 
ii.tluxus  physicus  verständlich  zu  machen,  -  diese  Auffassung  bestand 
allenfalls    noch    in    den  Metaphysischen   Anfangsgründen    zu   Kecht, 
obwohl  es  aucli  hier  schon  zweifelhaft  schien,  inwieweit  dies  eigent- 
lich   Kants    Meinung   wäre    (s.   o.  353  f.)   -   die    Erscheinung 
affiziert    jetzt    wirklich    das    Subjekt,    und    1  hysik    ist 
demnach    die    Lehre    von    den   Erscheinungen    der   bewegenden 
Kräfte  der  Materie  oder  „die  Lehre  von  den  Erscheinungen,  insoiern 
das  Subjekt  von  diesen  Kräften  affizi.rt  wird''  (XIX.  292).     „Es  sind 
zweierlei  Arten,  Erscheinung  von   der  Sache  selbst,    das  Sub- 
jektive der  Vorstellungsart  vom  Objektiven    zu  unterscheiden.     Die 
erstere  ist  metaphvsisch,  die  andere  physiologisch,  und  beide 

bestehen  darin,  dafs  sie  die  Art  vorstellen,  wie  das  Subjekt 
affiziert  wird"  (2Sr)).  Von  den  Dingen  .-.Is  solchen  weifs  ich 
nichts  und  kann  daher  auch  nichts  dariiber  bestimmen,  wie  sie  mich, 
als  Subjekt,  aftlzieren;  von  den  bewegenden  Kiiitten  der  ^^^-^^^^'^'»^ 
dagegen  weifs  ich,  dal's  sie  blol's  Erscheinungen,  innerliche  Modi- 
fikationen meiner,  als  des  Subjekts,  sind;  und  eben  die  bewegenden 
Kräfte  in  der  Erscheinung  im  Unterschiede  von  den  Ki alten  an  sich 
bilden   den   Gegenstand   der   Physik. 

Sind    nun    diese   bewegench-n    ICräfti'   der  :^raterie  nur  Erschei- 
nungen   und    brin-en    sie    durch    empirische    Affektion    die 
Wahrnehmungen    in    uns    hervor,    so    kann    folglich  gesagt  werden, 
dafs  die  letzteren    „Erscheinungen    von     Erscheinungen,- 
indirekte"   oder,  wie  Kant  auch  sagt,    ..subjektive   Ersclieinungen" 
ün  Gegensatze  zu  den   „direkten"  oder  „objektiven^'   Erselieinungen 
seien,     welche     .Uireh    eben    jene    bewegenden  Kräfte    repräsentiert 
werden    und    die    ihren    Ursprung    selbst    wiederum    nur  der  trans- 
cendenten    Aff'ektion    durch    die    Dinge    an    sich    verdanken.      Der 
Ge-enstand  der  direkten  Erscheinung    ist    also    das   Dmg    an    sich, 
dei"  Ge^^enstand    der    indirekten    ist  die  direkte  Erscheinung  (300). 
Jene    können    auch    als    Erscheinungen    erster    Ordnung,    diese    als 
Erscheinungen    zweiter   Ordnung    bezeichnet    werden    (4:^(i).     Dann 
aber    hat    die  Physik    es  mit  Erscheinungen  von  Erscheinungen  zu 
ihun,   und  da  sie  auf  das  hinter  ihnen  liegende  Dmg  an  sich  nicht 
reflektiert,    so  kann  sie  die  Erscheinungen    (d.  h.   die  direkten   Er- 
scheinungen) als  Dinge  an  sich  selbst  betrachten  (28ÖJ,    wotern  sie 
sich  nur  nicht  anmafst,    hiermit  zugleich  ein  metaphysisches  Urteil 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


467 


auszususprechen :  „Die  Objekte  der  Sinne,  metaphysisch  betrachtet, 
sind  Erscheinungen ;  für  die  Physik  aber  sind  es  die  Sachen  an 
sich  selbst,  die  den  Sinn  affizieren"  (ebd.).  Oder  mit  andern 
Worten:  „AVas  metaphysisch  betrachtet,  blofs  zur  Erscheinung 
gezählt  werden  mufs,  das  ist  in  physiscliem  Betracht  Sache  an  sich 
selbst"  (292). 

Fallen  die  bewegenden  Kräfte  der  Materie,  als  Ursachen  der 
Wahrnehmungen,  ins  Subjekt  hinein,  so  ist  ferner  der  Akt  der 
Affektion,  wodurch  im  Subjekt  die  Wahrnelimung  entsteht,  ganz 
und  gar  nur  eine  Beziehung  des  Subjekts  zu  sich  selbst.  „Das 
Subjekt  affiziert  sich  selbst"  (28().  288.  44().  447  u.  s.  w.).  Indem 
es  sich,  als  Objekt,  affiziert,  so  wird  es  damit  sein  eigener  Gegen- 
stand, wird  es  selbst  zur  Erscheinung  oder  macht  es  sich  selbst 
zum  Objekt  (290).  „Das  Subjekt  erkennt  sich  selbst  als  Phänomen 
und  bestimmt  sein  Dasein  in  der  Erfahrung  durch  Apprehension  in 
Eaum  und  Zeit  zugleich  als  notwendig"  (44()  f.).  Sonach  ist  also 
der  Gegenstand  der  Pliysik  oder  die  Erscheinung  der  Erscheinung 
nichts  Anderes  als  „Vorstellung  des  Formalen,  wie  das  Subjekt 
sich  selbst  nach  einem  Prinzij)  affiziert  und  sich,  als  selbst- 
thätig,  Objekt  ist"    (29()). 

Hiernach  bestimmt  sich  nun  auch  der  Begriff  der  Kraft.    Die 
Kraft  wird  nur  an  der  AVirkung  erkannt.      Ist  aber  diese  A\^irkung 
nicht  ein  Empfängnis  von  aufsen,  von  einem,   was   dem   Subjekt  als 
ein    Fremdes    gegenül)ersteht,    so   ist    die  Kraft  eben  nur  eine  rein 
„subjektive  Modifikation  der  AVirkung.  welche  ein  Sinnengegen- 
stand gegen  das  Subjekt  tlmt"  (2J)2).  oder    sie    ist    nichts  Anderes 
als  „der  Akt,  durch  welchen  das  Subjekt  sich  selbst  in  der  AN^ihr- 
nehmung  aftiziert"    (447.  4(iG.  449).     Der   Aktion    von  Seiten    des 
Gegenstandes  entsi)richt    im    Subjekt    „die    Ap])rehension.    als    eine 
Reaktion    auf    das    Bewegbare    im    Baume  (die  Materie)"   (448). 
^'un    sind    nach    dem    dritten    mechanischen  Gesetze    AVirkung  und 
Gegenwirkung    einander    gleich.     Folglich   kann    für   die   W^irkung, 
die  als    solche  dem  Subjekt  doch  nur  indirekt  bekannt  ist,    einfach 
die  Gegenwirkung,    als  direkte    Bethätigung    des   Subjekts,    an    die 
Stelle  treten.     Die  indirekte  bewegende  Kraft  des  äufseren  Sinnes 
in  der  Xaturforschung  wird   dadurch  zur  direkten,  dafs  das  Subjekt 
„diejenige    Bewegung    selbst    macht    und    verursacht, 
durch    welche    es    affiziert  wird"    (28()).     „Die  bewegenden 
Kräfte  der  Materie  sind  also  das,  was  das  Subjekt  selbst  thut  mit 
seinem  Körper  an  K()r])ern.     Die  diesen  Kräften  korrespondierenden 
Gegenwii-kungeii    sind    in    den    einfachen  Akten  enthalten,    wodurch 
wir  die  Körper  selbst  wahrnehmen"  (290  f.).    Sonach  sind  auch  die 

30* 


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468 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


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Walinieliiiiungen  nichts  Anderes  als  mit  Bewufstsein  verbundene 
bewegende  Kräfte  des  Subjekts,  nicbt  insofern  es  affiziert  wird, 
sondern  sieb  selbst  nftiziert  (450.  4Ü1).  Walirnebmung  baut  sich 
nicbt  aus  Empfindungen  auf,  welche  dem  Subjekt  von  aufsen  ge- 
liefert werden,  sondern  sie  ist  ,eine  (Wirkung  oder)  Gegenwirkung 
der  bewegenden  Kräfte,  die  das  Subjekt  in  der  Apprebension  an 
sich  selbst  zum  Behuf  der  Empfindung  ausübt,  und  wodurch 
ihm  Gegenstände,  als  das  Mate  riale  der  Erfahrung,  ge- 
geben werden,  die  immer  nichts  Anderes  als  empirisch  affizierende 
bewegende  Kräfte  sein  können,  wenngleich  die  Wirkung  auch  inner- 
lich ist-'  (459). 

,J)iesem  gemäfs  läfst  sich  ])egreifen,    wie  es  möglich  ist,    dafs 
das,  was  uns  nur  als  emi)iriscb    gegeben    vorgestellt    werden    kann, 
(die   unmittelbare  Sinnenvorstellung,    intuitus)    docb    als    von    dem 
Subjekt  selbst  gemacht  (also   mittelbar  per  eonceptus)  und  a  prioi'i 
gedacht  zum  Erfalirungsobjekt  gezäblt  werden  ki'.nne :  weil   nämhch 
die  Emi)tiiHlung,    welcbe    die    selb  st  eigene    Wirkung  d.'s  walir- 
nelimenden  Subjekts  ist,    in  der  That    nichts  Anderes    als  die  sich 
selbst  zur  Zusammensetzung  l)estiinnu>nde  bewegende  Kraft  ist  und 
die  Wahrnehmung   äufserer  Gegenstände    nur   (He  Erscheinung  der 
Automatic     der     Zusammenfügung     der    das    Subjekt    afliziercnden 
l)ewegen(h^n  Kräfte  selbst  ist"  (445).     „Nicht  darin,   dafs  das  Subjekt 
vmn   (Jbjekt  empiriseh    (per  receptivitatem)    aftiziert    wird,    sondern 
dafs  es  sich  selbst  (per  spontaneitatem)   afliziert.    besteht  die  :\lr)g- 
liehkeit    des  Überganges    von    den    metaphysischc'ii  Anfangsgründen 
der  Naturwissenschaft    zur   Physik"   (45S).     „Die  Alfektibilität   des 
Subjekts,  als  Erscheinung,    ist    mit  der  Incital.ilität  der  korres})on- 
dierenden    bewegenden  Kräfte,    als   Korrelat  in    der   Wahrnehmung, 
verbunden,    d.   i.    dii^    Erseheinungen    werden    aufgefafst    durch    die 
Spontaneität  des  sich  aflizierenden  Sul))ekts  in  der  Darstellung  nach 
Gesetzen  a  priori^'  (45H).    J^i^'  Erscheinungen  der  bewegenden  Kräfte 
werden  a  priori  erkannt,    ehe    noch    diese    selbst    gekannt    und    als 
besondere  Kräftt«    anerkannt    sind-'   {^2^r2).     „Weil    die    bewegenden 
Kräfte,    welche  die  Ursachen  der   Wahrnehmungen    zum   IJrhuf  der 
empirischen    Erkenntnis    ausmachen,    als    Erscheinungen    a   i)riori 
gegeben  sind,    so    können    auch   a   priori    diejenigen    aufgezählt    und 
kkssitiziert    werden,    welche    das    empirische  Aggregat    zum^  Hi'huf 
eines  Systems  der  Sinnenobjekte  ausmachen"    (44(i).     Das  Subjekt. 
welches  durch  die  Materie,  als  dem  InhegrilTder  liewegendeii  Kräfte, 
aftiziert   wird    und  an  ihm   die    Erfahi-ung  macht,    bestimmt  ja  eben 
selbst  diese  Kräfte,  die  den  Stoff  zur  Erfahrung  hergebeii,  und  ist 
daher  natürlich  auch  imstande,  diese  a  priori  abzuzählen  (4G1J.  5.^o). 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


469 


r 


„Nur  dadurch,  dafs  das  Subjekt  sich  seiner  bewegenden  Kräfte  (zu 
agieren)  und,  da  in  dem  Verhältnisse  dieser  Bewegung  alles  wechsel- 
seitig   ist,    gleich    stark    auf   sich  Gegenwirkung    wahrzunehmen  

welches  Verhältnis  a  priori  erkannt,  nicht  von  der  Erfahrung  ab- 
hängig ist  —  bewufst  wird,  werden  die  entgegenwirkenden  bewegenden 
Kräfte  der  Materie  antizipiert  und  die  Eigenschaften  der  Mat<Tie 
festgesetzt"  (585).  „Die  Sache  verhält  sich  also  so:  Wahrnehmung 
ist  em])irische  Vorstellung  mit  dem  Bewufstsein,  dafs  sie  eine  solche 
ist  und  nicht  blofs  reine  Raumesanschauung.  Nun  stellt  die  AV^irkun"- 
des  Subjekts  auf  das  äufsere  Sinnenobjekt  diesc^n  Gegenstand  in  der 
Erscheinung  vor,  und  zwar  mit  dem  auf  das  Subjekt  gerichteten 
bewegenden  Kräften,  welche  die  Ursache  der  Wahrnehmungen  sind. 
Also  kann  man  a  priori  diese  Kräfte  bestimmen,  welche  die  AV'ahr- 
nehmung  bewirken,  als  Antizipationen  der  Sinnenvorstellungen  in 
der  emijirisehen  Anschauung,  indem  man  nur  die  Wirkum,^  und 
Gegenwirkung  der  bewegenden  Kräfte,  deren  Vorstellung  mit  der 
Wahrmdimung  identisch  ist.  a  priori  nach  Prinzipien  der  Bewegung 
überhaupt  darstellt,  die,  als  dynamische  Potenzen,  der  V^erstand 
spezifiziert  und  nach  den  Kategorieen  klassifiziert"  (5S4  f.). 

„Erfahrung    ist    die     aktive     Verknüpfung     empirischer     Vor- 
stellungen   unter    einem    Prinzip    ihrer    Verknüj)fung    a  priori    aus 
Begriffen   des   Subjekts"  (470).      Es  gehört  also  zu  ihr  ein   formales 
und  ein  m.Mteriales   Element.     ..Das  Materiale  der  Sinnenvorstellunir 
liegt  in  der  Wahi'iiehmung.    d.  i.  dem  Akt.    wodurch    das   Subjekt 
sich  sell)st  affiziert  und   ilun   sell)st  Erscheinung  eines  Objekts  wird. 
Das    Eornnde    ist    der  Akt   der  Verknüpfung  der  AVahrnehmungen 
zur  M()glichkeit  der  Erfahrung  nach  der  Tafel  der  Kategorieen.  den 
Axiomen   der  Anschauung,     den   Antizii)ationeii   der   ^^^•l]lrnehn!lln'^, 
den    Analogieen    der    Erfahrung,    uml  die  Zusammensetzung  dieser 
Prinzipien  zu  einem  System  der  empirischen  Erkenntnis  üherliaupt" 
(582  f.).      „Um  mithin  a  priori    zu    em])irischen   Erkenntnissen    und 
zu   dem   System   derselben,  der    p]rfalirung.    zu    gelangen,    mufs  das 
Subjekt    vorher    das  Verhältnis    der   bewegenden  Kräfte  gegen  sich 
selbst    in    (k^r   \"orstellung    des    inneren    Siunes    und  dem   Ai]:ffree:at 
der  AVahrnehmungen  dessell)en   (subjektiv)  fragmentarisch  auffassen 
und  111  Einem  Bewufstsein  verbinden,  welches  nicht  durch  Heruni- 
tappen  unter  AVahrnebmungen.  sondern  systematisch,  dem  Formalen 
der  Erscheinung  des  Mannigfaltigen   der  Anschauung    seiner    seihst 
gemäfs  geschehen   kann,    durch  welchen  Akt  der  Zusammensetzung 
(synthetice)  es  sich  selbst  nach  einem  Prinzip,    wie  es  sich  erscheint, 
indem  es  sich  selbst  affiziert,  zum  Objekt  macht"  (4.'^().  4'55). 

Damit  ist  nun  auch  die  Frage  beantwortet,  die  dem  Uhergange 


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470 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


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ZU  Grunde  lag:  wodurch  Physik  als  Wissenschaft  möglich  sei.    Da- 
durch  niinilich  :    „dal's  der  Verstand  aus  dem  Aggregat  der  Wahr- 
nehmungen, als  einem  Ganzen  der  Erfahrung  als  System,  nicht  mehr 
herausheben  kann,  als  wie  viel  er  selbst  hineingelegt  hat,   und  dafs 
wir    die    Erfahrung    nach    einem    formalen   Prinzip  der  Zusammen- 
setzung der    empirischen  Vorstellungen    selbst    machen,    von    der 
wir  wähnen,   durch   Observation    und    Experiment  gelernt  zu  haben, 
indem  wir  die  den  Sinn  bewegenden  Kräfte  nicht  aus  der  Erfah- 
rung^   sondern   umj^^ekehrt  für  diese  und   zum  P)ohuf  derselben  nach 
Prinzipien   zu  einem  objektiven  Ganzen  der  Sinnenvorstellungen  ver- 
binden''  (4o2f.).      „Üas  Ganze    der    em})irisch(Mi  Anschauung  kann 
nicht    von    aufsen    hinein    vermittelst    der    Wahrnehmung,    sondern 
niuls  von  Innen   hinaus,  von  dem  ]\[annigfaltigen  in  der  Erscheinung 
zu    dem    Ganzen    der    empirischen    Anschauung    durch  Zusammen- 
setzung   zu    einem  System    (Ur    Wahrnehnumgen  (ehr  Physik)   fort- 
schreitend gedacht  werden,    so  dafs  nur    was   dor  Verstand  gedacht 
liat.  der   Form  der  Anschauung  gcmiils  nach  einem  Prinzip  a  priori 
gemaclit   und  dann  alU'rerst  der  Sinnenvorstellung  als  ein  Ganzes 
möglicher  Erfahrung  gegeben  wird:   nicht  (hifs  die  Wahrnehmungen, 
fragnuuitarisch  ausgehoben,  das  Erfahrungsobjekt  zuerst  konstituieren, 
sondern  sie  zuvor  nach  einem    Prinzip  der  Vereinigung  des  Mannig- 
faltigen   der    emi)irischen    Anschauung    zum    Hehuf   der    Erfahrung 
und    ihrer    ]VI()glichkeit    a  priori    selbstthätig    hineingelegt    werden'' 
(44S).      „Die  Physik  mufs   ihr   Objekt    selbst    machen    nach    einem 
Prmzip     der     Möglichkeit    der    Erfahrung,     als    einem    System     der 
Wahrneliniungen,     indem    sie,    die    Erscheinungen    vereinigend,    die 
(liskursive    Allgemeinheit    des    Aggregats    d(M-    Widirnehmungen    in 
die     intuitive    verwandelt,     da    das    Sul)jekt    ihm    selbst    ein   Gegen- 
stand  der    empirisclien  Anschtiuung,    d.    i.    Erscheinung,    ist"   (4r).S). 
,.Erfahrung     kann     überhaupt     nicht    gegeben,     sondern    uiufs    ge- 
maclit   werden,    und  das  Prinzip  der    Einheit  derselben  im   Subjekt 
macht    es   miiglich,    dafs  auch  empirische   Data   als  Stoife.    wodurch 
das  Subjekt  sich  selbst  affiziert,   in  das  System  der   Erfahrung  ein- 
treten   und    als    bewegende  Kräfte    im  Natursystem  aufgezählt  und 
klassifiziert  werden  können"   (ebd.). 

Bisher  iialimen  wir  an,  nur  das  formale  Klement,  das  zum 
Materialen  hin/ukommen  inufs,  um  Erfahrung  möglich  zu  machen, 
sei  a  priori  gegeben  und  lediglich  im  Subjekt  selbst  enthalten,  wohin- 
gegen jenes  materiale  Element  a  i)Osteriori  uns  durch  die  Dinge  an 
sich  geliefert  werde.  Jetzt  erfahren  wir,  dafs  auch  das  letztere  seinen 
Ursprung  nur  im  Subjekt  hat  und  dafs  es  auf  ganz  die  nämliche 
Weise  vom  Subjekt  a  priori  hervorgebracht  wird,   wie  wir  dies  bisher 


JI.  Die  kritische  Naturj)hilosophie. 


471 


nur  von  dem  formalen  Elemente  wufsten.     Bisher  also  bestand  der 
Erkenntnisprozefs     in     einem    Ineinanderwirken    von    transcendenten 
und    immanenten  Faktoren,    indem    sich   jene    auf   den    rohen  Stoff, 
diese  auf  die  ordnende  Form  bezogen.  Jetzt  dagegen  heifst  es.  dafs 
der  nämliche  Prozefs  sich  rein  in  den  Grenzen    der  Immanenz    ab- 
spielt und  dafs  die  Fäden,    die  zum  Teppich   der  Erfahrung    inein- 
ander zu  weben  sind,    nur  aus  dem  Subjekt  selbst  herausgesponnen 
werden.     Bisher  kannten  wir  nur  eine  Affektion,  die  trau  sc  en- 
den te  von  Seiten  des  unräumlichen  Dinges  an  sich.    Jetzt  wird  uns 
daneben  noch  eine  immanente  oder  empiri  seh  e  Affektion  gebot(Mi, 
die  von  jener  ganz  verschieden  ist,    die  Atiektion    durch  Dinge    im 
]{aume.     Bisher  galt  die  blofse  s  in  nli  ch  e  Empfindung  für  das 
Materiale,  das  der  Verstand  in  die  Form  seiner  apriorischen  Begriffe 
kleidet.    Jetzt  soll  das  Materiale  der  Sinnenvorstellung  in  der  W  a  h  r  - 
nehmung  liegen:    „AVahrnehmung    ist    der  Erfahrungsstoff'"   (4.'>2. 
5(S2  f.),  und  der  Verstand  bringt   seine  apriorischen   Begriffe  in  ein 
Etwas  hinein,  das  selbst  schon  mit  a])riorischen  Elementen  durchsetzt  ist. 
Diese  Auffassung  ist  nicht  so  neu,  als  sie  wohl  scheinen  kcumte. 
Bereits  in    der   Vernunftkritik  hatte  Kant    von  den  Farben    gesagt, 
sie  seien   „nur  Modilikationen  des  Sinnes  des  Gesichts,  wxdches  vom 
Lichte    in   gewisser  Weise  affiziert  wird",  (III.  (33)    und    davor  ge- 
warnt, dasjenige,  was  ursprünglich  selbst  nur  Erscheinung  ist.  oder 
,.das  Ding  an  sich  selbst  im  empirischen  Verstände"  mit  den  wirk- 
lichen  Dingen    an    sich    zu  verwechseln  ((34).     So    sollten   z.   B.  die 
Regentro])fen   nur  empirische  Dinge  an  sich,    d.  i.    „empirische  Ob- 
jekte" sein,  sofern  sie  zum  Regenbogen  im  Verhältnis  des  Grundes 
zur   Erscheinung  stehen,    als  solche  aber   doch    blofs   Erscheinungen 
der    wirklichen   Dinge    an  sich   darstellen  (74),   w^orin    schon    ausge- 
sprochen   lag,    dafs    es   neben  der  Affektion  durch    wirkliche  Dinge 
an  sieh  noch    eine  solche  durch  deren  Erscheinungen  geben  müsse. 
Am   deutlichsten  aber  hatte   diese  Annahme  überall  [dort  hervorge- 
schimmert,   wo    es  sich    um    das  unmittelbare  Interesse    der  Natur- 
philoso])hie  gehandelt    hatte.      Wir  sahen,    wie  Kant    bei  den   Anti- 
zipationen der  Wabrnehmung  die  Emi)findung  unmittelbar  mit  dem 
Realen    identifiziert   und    wie    er    diesem    Realen    einen   „Grad    des 
Einflusses    auf   unsern    Sinn"    beigelegt,    obwohl    er    es    durch   jene 
Identifikation  doch  selbst  schon  für  subjektiv  und   für  nichts  als  eine 
blofse  Vorstellung    erklärt    hatte.     Bestrebt,    eine    apodiktische  Er- 
kenntnis von  der  Materie  zu  gewinnen  und  damit  der  Naturwissen- 
schaft eine  philosophische  (3rrundlage  zu  verschaffen,   mufste  er  jener 
auf  der  einen  Seite  jede  selbständige  Existenz  aufserhalb  des  Sub- 
jekts absprechen  und  durfte  er  doch   auf   der   anderen    auch    nicht 


472 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


IJ.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


473 


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leugnen,  dals  die  Materie,  als  der  Grund  aller  Realität,  den  Be- 
dingungen des  subjektiven  Denkens  nicht  unterworfen  sei,  weil  er 
sonst  der  Naturwissenschaft  ihr  notwendiges  Fundament  entzogen 
hätte.  So  kam  er  dazu,  einen  Begriff  der  objektiven  Realität  und 
überhaupt  eine  Erkenntnistheorie  zu  schaffen,  die  unklar  zwischen 
einer  rein  sul)jektiv  ideaUstischen  und  einer  transceudental  realistischen 
Bedeutung  schillert,  und  diesem  Schillern  einen  geradezu  klassischen 
Ausdruck  in  der  viel  umstrittenen  „  Wiederlegung  des  Idealismus*' 
zu  verleihen,  die  so  überaus  bezeichnend  für  das  Dilemma  ist,  in 
welches  er  durch  sein  vorgestecktes  Ziel  sich  notwendig  verwickeln 
mufste.  So  konnte  er  in  seinen  „Metaphysischen  Anfangsgründen 
der  Naturwissenschaft"  einen  subjektiven  Begriff  der  Materie  deduzieren 
und  trotzdem  diese  apriorische  Deduktion  auf  jenem,  seinem  AV(»rt- 
laute  nach  auf  das  transceudente  Gebiet  bezüglichen  und  aposteriorischen 

Satz  aufbauen:  „Die  Grundbestimmung  eines  Etwas,  das  ein  Gegen- 
stand äufserer  Sinne  sein  soll  mufs  Bewegung  sein:  denn  dadurch 
allein  kihmen  diese  Sinne  aftiziert  werden"  —  er  brauchte  sich  ja 
nur  auf  die  subjektive  Natur  der  Bewegung  zu  berufen,  dann  konnte 
auch  die  Aifektion  nur  als  empiriseh  oder  intrasubjektiv  verstanden 
werden,  und  es  bestand  gar  keine  Gefahr,  mit  diesem  Begriff  aus 
dem  Gebiete  der  Subjektivität  herauszufallen.*) 

Ob  Kant  wirklich  schon  in  (h^n  Metaphysischen  Anfangsgründen 
den  Begriü'  der  emi)irischen  Affektion  im  Sinne  hatte,  wenn  er  die 
Materie  aus  Bewegungsmomenten  zustande  konnnen  liefs,  war  aus  dieser 
Schrift  selbst  nicht  mit  Sicherheit  zu  bestimmen.  Kant  befand  sich 
bei  seiner  Konstruktion  der  Materie,  wie  erinnerlich,  in  dem  schwierigen 
Dilemma,  dafs  die  produktiven  Kräfte  der  Materie  als  solche  transcendent 
sein  mufsteii,  dann  aber  nicht  a  i)riori  konstruierbar  waren,  dafs 
sie  aber  als  a  priori  konstruierbar,  d.  h.  als  blofse  Erscheinungen, 
nicht  die  produktiven  ivräfte  der  Materie  sein  konnten.  Er  liatte 
sich  damals  über  das  Verhiiltnis  seiner  dynamischen  Theorie  zum 
transcendentalen  Idealismus  ausgeschwiegen  und  es  zweifelhaft  ge- 
lassen, ob  die  Kräfte  zu  den  Erscheinungen  oder  zu  den  Dingen  an 
sich  geh(')rten.  Jetzt  zerhaut  er  diesen  Knoten  damit,  dafs  er  sie 
einüich  füi-  Erscheinungen  erklärt.  War  der  Gedanke  der  empirischen 
Aifektion  bei  ihm  früher  nur  gelegentlich  aufgetaucht,  und  hatte  er 
ihn  dazu  benutzt,  gewisse  Schwierigkeiten  seiner  Theorie  mehr  zu 
verhüllen,  als  aufzuklären,  so  macht  er  jetzt  mit  ihm  Ernst  und  stellt 
er  ihn  geradezu  an  die  Spitze  seiner  Philosophie,  nachdem  er  auch  das 
Prinzi})    der    apriorischen  Entwickelnng    der    objektiven  Kräfte    aus 


den  eigenen  Kräften  des  Subjekts  niclit  mehr  blofs,  wie  in  der 
Dynamik,  auf  die  beiden  Grundki-äfte  der  Materie  beschränkt,  sondern 
auf  die  Kräfte  der  Materie  überhaupt  ausdehnt  (s.  o.  301— 854). 

So  wurde  Kant  abermals,  zum  letzten  Male,  durch  naturphilo- 
sophische Gründe,   wenn  nicht  zu  einem  neuen  Standpunkt,  so  doch 
zu  einer  Modifikation    seiner  Erkenntnistheorie  geführt,    die    darum 
nicht  weniger  eigentümlich  ist,  weil  sie  doch  nur  auf  einem  schärferen 
Herausarbeiten    gewisser    in    keimhafter    Form    schon    früher    vor- 
handenen Ansichten  beruhte.     Dafs  es  wirklich  auch  in  diesem  Falle 
die  Natur])liilosophie  war,  die  seine  erkenntnistheoretischen  Ansichten 
beeinflufste,  und  nicht  umgekehrt,  das  ergiebt  auch  die   Erwägung, 
wie  weit  doch  im  Grunde  dieser  letzte  erkenntnistheoretische  Stand- 
])unkt.  trotzdem  er  nur  eine  Koiise(juenz  von  Kants  Grundannahmen 
darstellt,   sich  von  dem  eigentlichen  Kerne    der  Vernunftki-itik  ent- 
fernt.    Der  Widerspruch    zu    seiner  ursprünglichen  Position  lag  zu 
sehr  auf  der  Hand,    als  dafs    er  Kant  selbst    nicht    hätte  auffallen 
müssen,  ja,  es  bleibt  sogar  fraglich,   ob  Kant  jene  Konsequenz  aus 
seinen  Irüheren  Grundsätzen  überhau])t  würde  selbst  gezogen  haben, 
wenn  ihm   nicht  Fichte  und  Beck  hierin  zuvorgekommen  wären, 
die    öfter    von    ihm    in    seinem    nachgelassenen  Manuskript    erwähnt 
werden,  und  deren  Eintiufs  auf  seine  eignen  Ansichten  ganz  unver- 
kennbar ist.     Nur  weil    es  sich  um   Sein  und  Nichtsein  der  Natur- 
philosophie handelt,    der  Kant    jedes  Opfer    zu    bringen    bereit    ist, 
acceptiert  er  den  Begriff  der  emjjirischen  Aifektion  und  untergräbt 
er  damit    selbst    die  Fundamente    seines    eigenen  Lehrgebäudes,    au 
dessen    Aufrichtung    er    sein    Leben    darangesetzt    hatte.     Er    sieht 
wohl  den  Gegensatz  dieses  neuen  Gesichts])nnktes  gegen  die  Vernunft- 
kritik,   aber    er    zweifelt    auch    nicht    daran,    die    Annahmen     mit 
einander  vereinigen    zu    kcinnen,    die    doch    sich    beide  absolut    aus- 
schliefsen.     Die  vergeblichen  Anstrengungen  Kants,   über  den  AV^ider- 
spruch  hinwegzukommen,   füllen  einen  grofsen  Teil  des  letzten  Manu- 
skriptesaus. „Daher  ist  dasOpusPosthumum  ein  unerquickliches  Durch- 
einander scharfsinniger  Konse(iuenzen  und  seniler  Abmülaingen.''*  )  — 

•  •  -  - 

Überblicken  wir  das  Vorangegangene  noch  einmal,  so  sind 
folgende  Momente  bei  dem  Prozefs,  wodurch  das  Objekt  der  Physik 
in  uns  entsteht,  zu  unterscheiden.  Das  erste  ist  die  Affektion  des 
Subjekts  durch  die  Dinge  an  sich  oder  die  transceudente 
Affektion.  Ihm  entspricht,  als  zweites  Moment,  die  Reaktion 
von  Seiten  des  Subjekts  in  den  einfachen  sinnlichen  Empfindungen, 
die  nun  das  Substrat    des  ganzen  folgenden  Prozesses  bilden.     Das 


=*=)  Vgl.   Vaihinger:  iStral'shurger  Ahhundhinnun  zur  Philosophie  07—164. 


'*')  Vaihiiiger:   a.  a.  O.   IbS  i. 


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474 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


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dritte    ist    die    Kinordnung    dieser    Eiiiptiudunsen    in    die    reinen 
Formen  der  Anschauung  (Raum  und  Zeit)  und  damit  in  die  Einheit 
des  l^ewutstseins,  ivodurchausden  Eni])tindun-en  die  Wahrnehnumgen 
(im   weiteren  Sinne)  entstehen.      Das    vierte    ist    die    Affektion    des 
Suhjekts  durch  diese  Wahrnehmungen,  die  empirische  Affekti^on 
oder   die  SelhstafVektion  des  Sul)jekts.     Ihm  entspricht,    als    fünftes 
Moment,    die  lleaktion    von   Seiten    des  Suhjekts    in    den  Wahr- 
nehmungen im  eigenthchen  Sinne.      Das  sechste  endlich  ist  die  Ein- 
ordnung  dieses   Stoffes   in    die   Formen    des  Verstandes   und   die 
Zusammensetzung  und  Verhimhing  seiner  einzehien  Bestandteile  zur 
Rinheit  des  Systems,    woraus  die   Erfahrung  hervorgeht,    die  nichts 
Anderes    ist    als    die    systematische    Einheit    aller    vorangegangenen 
Momente  (^Tr).  ^^^9.  488  f.  M\:^  f.  472.  r>7:0.    .Die  reine  Anschauung 
des  Mannigfaltigen    im   Hauine  enthält  die   Form    des  Gegenstandes 
in    der   Erscheinung  a  priori    vom   ersten   Hange,    d.   i.   direkt.      Die 
Zusammensetzung    der    AValirnchmungen    (Erscheiiiun-    im    Suljekt 
zum  lieliuf  dvv  Erfahrung)  ist  wiederum  Erscheinung  des  so  affizierten 
Suhjekts,    wie  es  sich    seihst  vorstellt,    vom  zw(>iten  Hange    und    ist 
Krscheinung    von    der  Erscheinung    der   Wahnichmungen    in   Einem 
Hewufstsein,   d.  i.  Frscheinung  des  sich  seihst  afrizierenden  Suhjekts, 
mithin  indirekt  •'  (4:;<))-      J>«^^  ^^''^^e  Moment  des  Prozesses  liegt  aufser- 
halh  des  Suhjekts  und   hleiht  daher  auch  gänzlich  unhekannt.      Alle 
ührigen   ^Momente  liegen  innerhalh    des  Suhjekts  und  sind  entweder 
direkt  oder  indirekt  hekannt.      Diese  Momente  sind  sämtlich  a  priori, 
d.   h.  sie  liegen  vor  der  unmittelharen  empirischen  Anschauung,   und 
zwar  sind  sie  entweder  direkt  oder  indirekt  a  priori,  je  nachdem  oh  sie 
dem  anschauenden  Suhjekt  näher  oder  ferner  liegen;  so  ist  z.  B.  das 
sechste  Moment  unmittelhara  priori,  alle  iii)rigen  sind  eshlofs  mittelhar. 
Bei  dieser  Anschauungsweise    ist    natürlich    das    Ding    an  sich 
noch  weiter  in  den  Hintergruml  geschohen.  wi(>  es  dies  schon  sonst 
im   kantischen   System    gewesen  war.      Es    ganz    fallen    zu    lassen, 
dazu  vermag  er  sich  freilich  noch  immer  nicht  recht  zu  entschliefsen; 
vielmehr  nimmt  er  auch  jetzt  noch   eine  metaphysische  Einwirkung 
an   ('>S<)).      Das   Ding    an    sich    ist  zwar   „nicht  ein  cognoscibile  als 
intenigihile,  sondern  x,  weil  es  aufser  der  Form  der  Erscheinung  ist; 
aher  es  ist  doch   ein  cogitabile,  und  zwar  als  notwendig,    was  nicht 
gegeben  werden   kann,    aher  doch  gedacht  werden  mufs,   weil  es  in 
gewissen  andern   Verhältnissen,    die  nicht  sinnlich  sind,   vorkommen 
kann-'  (XXT.  549).     Das    ist    allerdings    eine    sehr  verdünnte  und 
problematische  Auffassung  des   Dinges  an  sich,    bei    der   nicht  ein- 
zusehen    ist,     was    sie    zur   Erklärung    der    Erfahrung    leisten   soll. 
Bedenkt  man,  wie  die  Möglichkeit  des  Überganges  darauf  beruhen 


soll,    dafs    das  Subjekt   aus   sich   selbst    und    allein    die    Erfahrung 
macht,    so    mufste    Kant    obendrein   ein  besonderes  Interesse  daran 
haben,    auch  den  letzten  geringfügigen  Einlluis  des  Dinges  an  sich 
nach  Möglichkeit  zu  leugnen,  oder  ihn  doch  wenigstens  nicht  mit  in 
Rechnung    zu    stellen.     Dazu   kam,    dafs   die  schwersten  Einwände 
gegen  das  kantische  Lehrgebäude  gerade  das  Ding  an  sich  betrafen, 
dieses  Schmerzenskind    des    transcendentalen  Idealismus,    und    dafs 
cm  Jacobi,    ein   Aenesidem,    ein  Beck  und   Pichte    es  ihm 
nalie  genug  gelegt  hatten,  sich  gänzlich  von  ihm  loszusagen.     Kein 
Wunder  also,    wenn  sich   in  dem  nachgelassenen  Manuskript  neben 
solchen,    welche    die    Annahme    einer    transcendenten    Realität    des 
Dinges  an  sidi  voraussetzen,    eine    grofse  Zahl    von   Stellen   findet, 
die    den    rein    fiktiven  Charakter    desselben    betonen!     So  heilst  es 
z.   B.:     ..Das    einem    Dinge    in    der  Erscheinung    korresjjomlii^rende 
Ding    an    sich    ist   ein  blofses  Gedankending,    aber  doch  auch  kein 
Unding"  (XIX.  574.  575.  573.  578j.    ,.Der  Begriff  von  einem  Dinge 
an  sich  (ens   per  se)   entspringt   nur   von   einem    vorher  gegebenen, 
nämlich    dem  Objekte    in    der    Erscheinung,    mithin  einer  Relation, 
darin  das  Objekt  im  Verhältnisse,  und  zwar  einem  negativen   Vei- 
hältnisse  betrachtet  wird-'   (571).     „Das  x.  als  das   Intelligible,   was 
das  Subjekt  afliziert,    ist  nicht  ein  für  sich  existierendes  gegebenes 
Diiig    oder    Sinnengegenstand,    sondern    das    im   Verstände  liegende 
ens  rationis,    was    blofs  das  Verhältnis  des  realen  Grundes  (dabile) 
ist*'  (XXI.  585).     ,.Das  Ding  an  sich  ist  nicht  ein  anderes  Objekt, 
sondern  eine  andere  Beziehung  (respectus)  der  Vorstellung  auf  das- 
selbe Objekt.     Es    ist    ens   rationis  =-  x  der  Position  seiner  Selbst 
nach  dem  Prinzip  der   Identität,    wobei  das  Subjekt  als  sich  selbst 
aftizierend,    mithin    der    Form    nach    nur    als  Erscheiiiun.i,^   gedacht 
wird^'   (ebd.  551).     „Das   Ding    an    sich    (obiectum  Xonmenen)    ist 
nur  ein  Gedankending  ohne   Wirklichkeit,    um    eine   Stelle    zu    be- 
zeichnen zum  Behuf  der  Vorstellung  des  Subjekts,  ein  verschiedenes 
Verhältnis  der  Anschauung  zum  Subjekt,    insofern  dieses  unmittel- 
bar vom  Objekt  affiziert  wird,  mithin  der  Gegenstand  als  Erschei- 
nung   nach    einer    gewissen    spezifischen  Form   vorgestellt    oder  die 
Vorstellungskraft  unmittelbar  erregt  wird*'    (554  f.  556.  557.  5()0). 
,.Das  Objekt  an  sich  (noumenon)  ist  ein   blofses  Gedankending,    in 
dessen  Vorstellung  das  Subjekt  sich  seihst  setzt"  (55!)).     Ganz  etwas 
Anderes  ist  j'ier  ,,Gegenstand  an  sich";  denn  dieser  ist  „das  Sinnen- 
objekt an  sich  selbst,  aber  nicht  als  ein  anderes  Objekt,  sondern 
eine  andere   Vorstellungsart"    (XIX.  578).     ,.Der    Unterschied    des 
Mannigfaltigen  der  Anschauung,  ob  es  dem  Gegenstand  in  der  Er- 
scheinung oder  nach  demjenigen,    was    er    an    sich    ist,    vorstellig 


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476 


ß.   Kant  als  Naturphilosoijh. 


IL  Die  kritische  Naturi)hilosophie. 


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macht,  bedeutet  nichts  weiter,  als  ob  das  Formale  blofs  subjektiv, 
d.  i.  für  das  Subjekt,  oder  objektiv  für  jedermann  geltend  gedacht 
werden  solle-'  (572).  Der  Gegenstand  an  sich  entsi)richt  der  objek- 
tiven Erscheinung  im  oben  angegebenen  kantischen  Sinne  oder  der 
Ersclieinung  vom  ersten  Range  und  ist  das  Objekt  der  Physik, 
ohne  dal's  freilich  dieser  Unterschied  von  Kant  auch  überall  fest- 
gehalten würde. 

Man  sieht,  Kant  giebt  sich  jedenfalls  alle  Mühe,  den  Wirklich- 
keitsgrad des  Dinges  an  sich  nach  M(')glichkeit  herabzudrücken  und 
der  Schwerpunkt  von  der  AfiVktion  des  Subjekts  durcli  das  Ding 
an  sich  in  diejenige  (hucli  den  Gegenstand  an  sich  zu  verlegen.  Er 
sieht  nicht,  dafs  er  jene  transcendente  Affektion  gar  ni(;ht  entbehren 
kann,  weil  ohne  sie  auch  der  Gegenstand  an  sich  nicht  mr)glich  ist 
und  sucht  die  Sache  so  darzustellen,  als  ob  aucli  dieser  Gegenstand 
ganz  und  gar  nur  aus  der  Spontaneität  des  Subjekts  hervorginge. 
Und  doch  ist  nach  seinen  eigenen  Voraussetzungen  der  erste  Akt 
des  Subjekts  die  Eeaktion  desselben  auf  die  transcendente  Affektion, 
und  diese  ganze  Gegenwirkung,  wodurcii  das  Subjekt  zuerst  die 
sinnliche  Emi)findung,  das  materiak'  Substrat  aller  folgenden 
Operationen,  in  sich  setzt,  entspricht  genau  jener  Wirkung  durch 
das  Ding  an  sich  und  em])fängt  erst  von  diesem  ihre  eigene  Be- 
stimmung. So  sehr  hält  Kant  sein  ganzes  Interesse  nui-  auf  den 
Prozefs  innerhidb  des  Subjekts  gerichtet,  dafs  er  darüber  ganz  ver- 
gifst,  wie  dieser  Prozel's  in  und  mit  seinem  Anfangsgliede  doch 
lediglich  durch  den  uufsersubjektiven  Akt  bestimmt  wird,  und  so 
kompliziert  ist  hiermit  dei*  Prozefs  geworden,  dafs  Kant,  obwohl  das 
Subjekt  seinerseits  doch  blofs  formale  Momente  zu  dem  materialen 
Momente  der  primitiven  Eniptindung  hin/uthut.  sich  einreden  kann,  es 
müsse  bei  (Hesem  mebrfacben  Operieren  des  Subjekts  mit  rein  For- 
malem am  Ende  doch  auch  wohl  ein  materiales  Moment  lieraiiskommen. 

(4e"-enüber  der  i^ewaltsamen  Auscuiuinderreifsung  von  Sinidich- 
keit  und  Verstand,  worauf  Kant  in  der  Vernunitkritik  seine  Lehren 
gebaut  hatte,  ist  es  gewifs  als  ein  Fortseluitt  anzuerkennen,  wenn 
er  in  seinem  letzten  Mamiskiipt  behaui)tet,  nicht  blofs  das  formale 
Element  der  F^rfabrung,  sondern  auch  das  materiale,  die  p]inptindung, 
werde  von  uns  sfdbst  gemacht,  sei  also  nicht  blofse  Rezeptivität. 
Indem  er  jedoch  das  Ding  an  sich  verleugnet,  gewinnt  diese  richtige 
Erkenntms  den  falschen  Sinn,  als  ol)  auch  die  Knii)tindung  blofs 
unser  eigenes  Produkt  sei,  als  ob  überhaupt  nichts  von  aufsen  ins 
Subjekt  hinein,  sondern  alles  durch  und  durch  nur  aus  unserem 
eigenen  Innern  komme,  was  dann  freilich  noch  weit  verkehrter  ist 
als  jener   Grundfehler    der  Yernunftkritik    (09(1.  T)}):}.  (301).     Giebt 


es    überhauj)t    kein    Ding    an    sich,    keine   Realität   aufserhalb    der 
Sphäre    des  Subjekts,    ist    die   immanente    oder  Vorstellungsreahtät 
die  einzige,  die  es  giebt,  dann  allerdings  gewinnt  der  kantische  Begriff 
der  objektiven   Realität    erst    seine    volle,    überragende  Bedeutung, 
dann  war  es    ein    blofses  Mifsverständnis,    wenn    Tiedemann    Tn 
seinem    „Theätet"     vom    Jahre  I7<j4    die    objektiv-reale    Gültigkeit 
des  menschlichen  AVissens    dem  transcendentalen  Ideahsmus  gegen- 
über   glaubte    in    Schutz    nehmen   zu    müssen:    „Die    AVirklichkeit 
dieser   Gegenstände    kann    selbst   durch    keinen  Theätet  bestritten 
werden  und  ist  der  Bezweifelung  des  Idealismus  überlegen"  (XIX.  O^f)). 
Aber  dieser  Realismus,  der  eine  Affektion  des  Subjekts  durch  den 
Gegenstand  der  Wahrnehmung  annimmt,  der  annimmt,  dafs  unsere 
Wahrnehmung  des  Gegenstandes  identisch  sei  mit  dem  Gegenstande 
selbst,    unterscheidet    sich    auch    nur    dadurch   mehr  vom    naiven 
Realismus,    dafs  er  innerhalb  der  Sj)häre  des  Subjekts    beschlossen 
bleibt,    und   die  Überwindung    eben  dieser  kindlichen  Anschauungs- 
weise,   das   war    doch   gerade   die  grofse  That  der  kantischen  Ver- 
imnftkritik  gewesen  I    Es  braucht  dal)ei  gar  kein   AVort  weiter  über 
die  ungeheuerliche  Voraussetzung   verloren    zu  werden,    die   diesem 
idealistischen  naiven   Realismus  zu  Grunde  liegt,  die  Voraussetzung 
nämlich,    dafs  es  die  Erscheinung,    mithin  Vorstellung  ist,    die  das 
Subjekt  aftiziert.   un.l   dafs,  da  unsere  Vorstellungen  doch  erst  durch 
die  Einwirkung   dieser  Vorstellungen  in  uns  entstehen,  unsere  Vor- 
Stellungen  auf  uns  wirken,    noch   ehe   sie  wirklich  sind.      .Alan    ver- 
kennt das  innerste  Wesen  der  Vernunftkritik  und  setzt  Kaut  herab. 
wenn   man,  wie  Krause,    diese  mehr  als  absurde  Auffassung  des 
altersschwachen  Denkers  dem  Verfasser  der  Vernunftkritik  als  seine 
eigentliche  Meinung  in   die  Schuhe  schiebt.  — 

Die   Kraft,    welche    das  Subjekt    in    der  Reaktion   auf  die  em- 
pirische Atfektion  ausübt,  entspricht  der  Kraft,  mit  der  es  auf  die 
transcendente  Affektion    reagiert,    kann    folglich    für    diese    an    die 
Stelle  gesetzt  werden.    Oder  wie  Va  i  h  i  n  g  e  r  es  ausdrückt:  ,. Findet 
zwischen  dem  empirischen  Objekt  und  dem  empirischen  Subjekt  ein 
analoges    A  f  fekt  ions  verh  äl  tnis    statt,    wie    zwischen    dem 
transcendenten  J)ing    an  sich    und  dem  transcendenten  Subjekt,    so 
bringt  auch  das  empirische  Subjekt  bei  jener  emj)irischen  Affektion 
formala])riorische  Elemente  hinzu;  und  die  systematische 
Darstellung  dieser  Formen  ist  dasjenige,  was  Kant  in  seinem  Opus 
Posthumum  leisten  will."*)     Drückt    man    den  Grundgedanken  des 
Überganges    i^i   diesc^r  Weise  aus,    so    leuchtet   nicht   blofs  die  Xot- 

*)  Vaihinger:  a.  a.  ü.  ibS. 


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478 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


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wendigkeit  der  Annahme  von  wirklichen  das  Subjekt  affizierenden 
Dingen  an  sich  ein,  sondern  es  springt  auch  nunmehr  in  die  Augen, 
worin  der  Grundfehler  der  ganzen  Darstellung  Kants  liegt.  Die- 
selbe steht  und  fällt  nämlich  mit  der  Voraussetzung,  dafs  das 
Subjekt,  so  fern  es  vom  Dinge  an  sich  afflziert  wird,  das  trans- 
cendentale  Subjekt  oder  das  Subjekt,  als  Träger  der  direkten  Er- 
scheinung, mit  dem  Subjekt  identisch  sei,  sofern  es  von  dieser 
direkten  Erscheinung  afhziert  wird,  dem  empirischen  Subjekt,  als 
dem  Träger  der  indirekten  Erscheinung.  Denn  nur  so  ist  diese 
letztere  Affektion  zugleicli  eine  Selbstaffektion  des  Subjekts.  Es  ist 
nun  aber  klar,  dafs  eben  jenes  nicht  der  Eall  ist. 

Kant  selbst  unterscheidet  ein  dreifaches  Subjekt  oder  Ich: 
„Der  erste  Akt  der  F^rkenntnis  ist  das  Verbum :  Icli  bin,  das 
Selbstbewufstsein,  da  Ich,  Subjekt,  mir  selbst  Objekt  bin. 
Hierin  liegt  nun  schon  ein  Verhältnis,  was  vor  aller  Bestimmung 
des  Subjekts  vorhergeht,  nämlich  das  der  Anschauung  zu  dem  des 
Begriffes,  wo  das  Ich  doppelt,  d.  i.  in  zwiefacher  Bedeutung  ge- 
nommen wird,  indem  ich  mich  selbst  setze,  d.  i.  einerseits  als  Ding 
an  sich  (ens  per  se),  zweitens  als  Gegenstand  der  Anschauung, 
und  zwar  entweder  objektiv,  als  Erscheinung,  oder  als  mich  selbst 
a    priori    zu    einem   Dinge    konsLituierend,    d.  i.    als  Sache    an  sich 

selbst-'  (XIX.  '7)71  f.). 

„Das  Bewufstsein  meiner  selbst  ist  blofs  logisch  und  führt 
auf  kein  Objekt,  sondiM-n  ist  eine  blofse  Bestimmung  (U's  Subjekts 
nacli  der  Regel  der  Identität"  (XXI.  T)!)!)).  „Dieser  Akt  der 
Ai)per/ei)tion  ist  noch  kein  Urteil,  d.  i.  noch  keine  Vorstellung  des 
Verhältnisses  eines  (iregenstandes  zum  Anderen,  noch  weniger  ein 
Vernunftschlufs:  Ich  denke,  darum  bin  ich  (ratiocinium  cogito 
ergo  sum).  kein  Fortschreiten  von  einer  Vorstellung,  als  Prädikats, 
zur  anderen,  als  Bestimmung  eines  Begriffs,  sondern  blols  das 
Formale  des  Urteilens  nach  der  Kegel  der  Identität;  nicht  ein  i-eales 
Verhältnis  der  Dinge,  sondern  l)lofs  ein  logisches  Verliiiltnis  der 
Begriffe  zu  einander"  (:){)S.  ;)})()).  Ich  bin  mir  selbst  ein  Gegen- 
stand durch  den  Begriff  meiner  selbst  ist  allenfalls  ein  leeres 
Frteil,  blofs  analytisch,  das  keine  Erkenntnis  begründen  kann  (liOÜj. 
„Das  Denkbare  (cogitabile)  erfordert  zum  Behuf  dei-  Erkenntnis 
ehien  Gegenstand  (dabile).  nändicli  was  als  Anschauung  einem  Be- 
griffe korrespondiert:  und  wenn  diese  rein.  d.  i.  noch  mit  keiner 
Wahrnehmung  (empirischer  Vorstellung  mit  Bewufstsein)  bemengt 
ist,  ist  der  Akt.  wodurch  das  Sul)iekt  sich  selbst  zum  Objekt  macht. 
m  e  t  a  p  h  y  s  i  s  c  b"  (oSS).  „  Es  existiert  etwas  (apprehensio  sinij)lex) : 
ich  bin    nicht    ]}lofs  logisches  Subjekt    und   Prädikat,    sondern    auch 


<  i 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie.  4-9 

Gegenstand  der  Wahrnehmung,  dabile,  non  soluni  cogitabile«'  (GOO). 
„Das  logische  Bewufstsein  führt  zum  Ilealen  und  schreitet  von  der 
Apperzeption   zur  Ap])rehension    und   deren  Syntliesis    des  Mannig- 
faltigen" (601).     „Der  erste  synthetische  Akt   des  Bewufstseins  ist 
der,    durch  welchen    das  Subjekt   sich    selbst  zum  Gegenstande  der 
Anschauung  macht,    nicht    logisch  (analytisch)   nach    der  Regel  der 
Identität,  sondern  metaphysisch  (synthetisch)-'  (593).    „Das  Subjekt 
setzt  a  priori  sich  selbst  durch  den  Verstand  als  synthetische  Ein- 
heit   des  Mannigfaltigen    der  Anschauung,    welche   unter    den  Vor- 
stellungen von  Eaum    und  Zeit    nicht  Gegenstände   der  Auffassung 
(apperceptiones)    sind"    (XIX.  öTo).     Wären    sie  Gegenstände    der 
Anschauung,    so    würden    sie  etwas  Existierendes  sein,    was  unsern 
Sinn  affizierte.    Sie  sind  aber  nur  die  blofse  Form,  worin  etwas  für 
unsern    Sinn    Gegenstand    der    empirischen  Anschauung    sein    kami 
fülilff.).    keine  Dinge    an    sich.    d.   i.    nicht    etwas   aufser    der  Vor- 
stellung   Existierendes,    sondern    dem    Subjekt    als    einem  Akte 
d  e  s  s  e  1  b  e  n  Angehöriges,  wodurcli  dieses  sich  selbst  setzt,  d.i.  sich 
selbst  zum  Gegenstande  seiner  Vorstellung  macht  (;■)()<)).     Raum  und 
Zeit  sind  so  gut  blofse  „Akte  des  Subjekts  selbst  und  ein  Produkt 
der  Einbildungskraft"  (XXI.  58G.  595).  wie  nur  durch  sie  vor  aller 
empirischen  Vorstellung  mit  Bewufstsein  syntbetische  Sätze  möglich 
sind,    welche    a  j)riori    (d.   i.    mit    dem  Bewufstsein    ihrer    absoluten 
Xotwendigkeit)    aller    unserer   Erkenntnis    zu  Grunde  liegen  (XIX. 
5ü9).     „Der    erste    Akt    des   VorstellungsvernKigens,    wodurch    das 
Subjekt  das  Mannigfaltige  seiner  Anschauung  setzt  und  sich  sell)st 
/um  Sinnengegenstande  macht,  ist  also  eine  synthetische  Erkenntnis 
des  Gegebenen  (dabile),  Baum   und  Zeit,    als    des  Formalen  der 
Anschauung,   und  des  Ged  a  ch  t  e  11  in  der  Zusammensetzung  dieses 
Mannigfaltigen   (cogitabile),    insofern  es,   blofs  als  Erscheinun-    dem 
Formalen   der  Anschauung    nach  a  priori  vorstellbar  ist''   ((i^>>s  vgl. 
auch  57().  (il7.  (J;>5.  XXL  545).     „Der  Baum,    die  Zeit,    als  An- 
schauungen,  und  die  Einheit  des  Bewufstseins,    notwendige   Einheit, 
in  der  Verkniij)fung  des  Mannigfalti,i,^en  derselben  ist  der  notwendige 
(ursi)rüngliche)  Sinnengegenstand"  (ülU).     „Ich  bin  mir  also  sowohl 
ein  (Gegenstand  des  Denkens,  als  dei-  inneren  Anschauung  ein  Sinnen- 
objekt.   <1.   i.    dvr    Anschauung,    aber    noch    nicht    der    enii)irisc}ien 
(AVahrnehmung).    sondern   der  reinen   (Kaum  und  Zeit)  als  Erschei- 
nung von  etwas,  was  blofs  Form  der  Zusammensetzung  des  Mannig- 
faltigen   ist"    (XXI.    {)[){)).      Erst    wenn    ich    in    diese    Formen    des 
Baumes  und   der  Zeit  selbst  die  Gegenstände   des  äufseren  und  des 
inneren  Sinnes  gesetzt  und  das  Aggregat  derselben  zur  systematischen 
Einheit    der  Erfahrung  verknüpft    habe,    bin  ich  mir    meiner  selbst 


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480 


ß.    Kant  als  Naturphilosoph. 


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iiuch  empirisch  als  Gegenstandes  der  Wahrnehmung  hewufst, 
ohne  dafs  es  darum  üherflüssig  wäre,  mich  selbst  vorher  oder  a  priori 
als  Aggregat  der  Wahrnehmungen  zu   wissen  (GOf).  (iOl). 

Wenn  es  hic^rnach  den  Anschein  hat,  als  oh  das  metaphysische 
oder  transcendentale  Ich  zum  Inhalte  seines  Bewufstseins  nur  die 
formalen  Elemente  hat,  die  allem  unsern  Denken  a  priori  zu  Grunde 
liegen,  das  empirische  Ich  dagegen  zu  seiner  notwendigen  Voraus- 
setzung auch  noch  der  realen  Emptiiidungselemente  (Wahrnelimuiigen) 
bedarf,  die  es  zur  Einheit  der  Erfahrung  v(Tkniipfen  kann,  so  ist 
offenbar  schon  hiermit  ein  wichtiger  Unterschied  gegeben.  Kant 
vermag  auch  nicht  zu  leugntMi.  dal's  das  transcendentale  Ich  zum 
empirisclien  sicli  wie  das  Ding  au  sich  zur  Erscheinung  vorhalte. 
„Das  Bewufstsein  seiner  selbst  (api)erceptio),  insoff^rn  es  aftiziert 
wird,  ist  die  Vorstellung  des  Gegenstandes  m  dw  Erscheinung; 
insofern  es  aber  das  Subjekt  ist,  was  sich  sell)st  aftiziert,  so  ist  es 
auch  zugleich  als  das  Objekt  an  sich  =-  x  anzusehen"  (5S7.  -:)■:>:')). 
,.I)as  Subjekt  affiziert  sich  selbst  als  Ding  ini  IvMume  und  der  Zeit 
existierend;  das  Subjekt  ist  hier  das  Ding  an  sich,  weil  es  Spon- 
taneität enthält-'  (XIX.  57:0.  Kant  glaubt  nur  deshalb  mit  (liesL>m 
Ding  an  sich  operieren  zu  kiinnen.  weil  er  es  ja  im  empirischen  Ich 
auf  mittelbare  Weise  zu  besitzen  sich  einbildet,  weil  es  ja  ein  und 
derselbe  Akt  sein  soll,  der  das  Subjekt,  als  Ding  an  sich,  zu  seinem 
eigenen  Objekt  und  zugleich  zur  empirischen  Erscheinung  macht: 
,.Xicht  Obiectuiu  Xoumenon,  sondern  der  Akt  des  Verstandes,  der 
das  Objekt  der  Sinnenanschauung  zum  blofsen  Phänomen  macht. 
ist  das  intelligible  Objekt*'   (ebd.). 

Xun  leuchtet  ein,  dal's  von  einem  metapliysischen  Ich  als  Ich 
nur  dann  die  Rede  sein  kann,  wenn  das  metaphysische  Subjekt  schon 
in  und  mit  seiner  eigenen  Thätigkeit  sich  auf  sich  selbst  bezieht, 
sich  selber  Objekt  ist.  Das  kann  aber  niemals  geschehen,  indem 
es  blofs  seine  eigenen  formalen  Momente  spontan  aus  sich  heraus- 
setzt, selbst  dann  nicht,  wenn  man  davon  absieht,  dafs  nach  Kants 
eigener  Annahme,  die  Form  nur  wirklich  ist  im  Inhalt.  Vielmehr 
bedarf  das  Subjekt  hierzu  einer  Einwirkung  von  aufsen,  von 
einem,  was  nicht  es  selber  ist,  an  dem  seine  Thätigkeit  sich  gleich- 
sam bricht  und  in  sich  selbst  zurückprallt,  wie  Kant  dies  bei  dem 
emjnrischen  Ich  auch  selbst  voraussetzt.  Empfängt  es  aber  eine 
solche  Einwirkung  etwa  durch  das  Ding  an  sich,  so  ist  das  Ich, 
was  dabei  herausspringt,  eben  nicht  ein  transcendentales  Icli,  sondern 
es  ist  schon  das  empirische  Ich.  das  nach  Kant  erst  durch  die 
Selbstatfektion  des  Subjekts  entstehen  soll.  Soweit  also  das  Subjekt 
Spontaneität  ist,  soweit  ist  es  noch  kein  Ich,  sondern  ist  es  erst  die 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


481 
thätige  Substanz   oder  der  tp^Ip  r  r^       a 

jektive)  Vorstellung     wie  sich  i.l       \  ^'"'" 

Ich   in   einen.   Bewufs't   ei„  eCr   dT"'?'^'^ 

Ich  ist  jedoch  in  W.hrheit  gar  kein  Ich  kel  R  '     ff  ''''''T^'-'^^' 
absolut  u  n  b  e  w  u  f  s  t  e  s  sT  .  ^       l    r^      -Bewulstse.n,  sondern  es  ist 

wurstsein  d.ses  s:^::::r:i^:T:t:^ ::  t '- 

so  verschieden,  wie  es  dpr  Pn^.     ,      1         .  ücshalb  ^on  diesem 

cufu,  wie  es  clei  bregenstand  m  der  Vorsfolhmn-  .-^      1 
Gegenstande  selber  i^f      n;      a        1  •  voistellung  von  dem 

welche  dennoch  beide  in  der  Einen  Vor^tMI,,         Z~'f  ^^'^   »"^ 
sollen  cVTin   -'V.    1-        .  Voistellung:  Ich  entha  ten  sein 

I;..^t.   der  beiden  Ich  .  .ehla^t.l  ^ t^^  „il  f^ 

t       des   e„.p„..schen  bei  se.ner  Arbe.t  .„  belauschen,     a  be  e 
^^^•kh  h  zw«  solche  Ich  in  einem  nnd  demselben  Ich  vore.nilt    so 
Ware  das  transcendentale  Ich    l'ür    das  emniriscl,,.  T  ''"'"*'  '° 

u^^ewnlst,  da.  .  auch  dann  noch  e'  0^:^   J^l,  ^  :  '^  J 

Kant  hat  volhg  Recht,  die  ganze  Welt  in  Raun,  und  Ze>t     tls 
moghchen    Gegenstand    unseres   en.p„,schen    ßewulstseins.    aus'd 
Spontanität    des  transcendentalen  Subjekts  hervorgehen     u  hssen 
a  er  er  hat  doch  nur  insofern  Recht,  als  d.es  transc^ulenta     Sa        t' 
selbst  noch  ke,n  Bewu.stsein  ,st.  als  es  noch  n.cht  .un,  ind,  fd       e, 
T  ager  der  en>p„.,sc:hen  Ichhcit  eingeschränkt  ist.     Xur  als  der  allein 
l.ager  aller  e.nzelnon  Subjekte  oder  als  absolutes  Subjekt         " 
Spontanität.     Als  nulividuelles  Sub.jekt  dagegen  oder  ,n  .se.ner  E„  ! 
chrankung   zu,,,   substa„tiellen  IVager   der  en.j.inschen   Ichhct   ist 

das    transcendentale    Subjekt    Spontaneität     u-ll    Rezept.vitä      1. 

glech     das  ersterc,    sofern  es  auch    als  individuelles  Subjekt    nicl,t 

eben  d.uch   d,e  h„,w„.kung   der  übngen  lndiv,dualitäten    besti„„nt 
S,,  n'ekt      .'    ^"'■""f"r     ''''f'^'^   ''-  -^«>lute  n,it   dem  relat,ven 

h  Ib    1      ^  r™'"  f "'      "■•  ''"■  ^""•^  ^^^"ItP'-el-s  spiele  s,ch  ,nner- 
halb  de,-  Sphäre    des  letzteren    ab    und  erscheint    er    ,hn,    bdd    als 

i-e,ne  Spontaneität,  bald  als  Spontaneität  gcnischt  mit  Rezeptivilät 

(."   der   transcendenten  Afiekfon).     U„d    er    verwechselt    u.ederun, 

i>T  ews,  Kants  Naturphilosophie. 

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482 


13.    Kant  als  Naturphilosoph. 


dies  relative  Subjekt  mit  der  cnipiriscben  Ichheit.  Darum  bildet  er 
sich  ein,  der  ^aiize  Prozei's  sei  nichts  als  der  Prozefs  des  Zustande- 
kommens unserer  Erkenntnis.  Man  brauchte  nur  der  ersteren  Ver- 
wechselung ein  Ende  zu  machen,  indem  man  die  Kezeptivität  durch 
das  Ding  an  sich  beseitigte,  und  die  Tchheit  unmittelbar  auf  das 
absolute  Subjekt  bezog,  so  war  damit  der  Standpunkt  der  absoluten 
Ichheit  Fi  cht  es  gegeben. 

Kant  hat  ganz  Recht,  gegen  Fichte  zu  bemerken:  „Eine 
Wissenschaftslehre  überhau})t,  iii  der  man  von  der  Materie  derselben 
(dem  Objekte  der  Erkenntnis)  abstrahiert,  ist  die  reine  Logik,  und 
es  ist  ein  vergebliches  Umdrehen  im  Kreise  mit  Begriffen,  über  diese 
sich  noch  eine  andere  und  luibere,  allgemeinere  Wissenschaftslebre 
zu  denken,  welche  doch  selber  nichts  als  das  Scientifische  der  Fh'- 
kenntnis  überliaupt  (die  Form  derselben)  entbalten  kann"  (XX.  1)4). 
Er  hat  ganz  Recht,  wieder  und  immer  wieder  zu  betonen,  dal's  aus  dem 
blofsen  Kegrifi"  des  Ich  eine  reale  oder  materiale  Erkenntnis  nicht 
herauszuklauben,  die  intellektuelle  Anschauung,  in  der  Begriff  und 
Gegenstand,  Denken  und  Sein  zusammenfallen,  mir  einem  absoluten 
Wesen,  aber  nicht  uns  Menschen  m()glich  sei.  Allein  er  seli)st  hat 
das  Ich  wie  eine  solche  intellektuelle  Anschauung  behandelt,  er  selbst 
hat  geglaubt,  in  der  blol'sen  Vorstellung  Ich  den  substantiellen 
Träger  dieser  Vorstellung  als  solchen  zu  besitzen,  er  selbst  hat  aus 
dieser  Voraussetzung  bereits  in  der  Vernunftkritik  die  allgemeinstc^n 
Gesetze  der  Xatur  a  priori  abgeleitet,  in  den  Metaphysischen  An- 
fangsgründen aus  ihr  das  Wesen  der  Materie  konstruiert  und  diesen 
Versuch  in  dem  nachgelassenen  Manuskript  sogar  auch  auf  die  be- 
sonderen Kräfte  und  Eigenscharten  der  Materie  angewendet.  Wenn 
er  darin  nicht  so  weit  gegangen  ist,  wie  seine  Nachfolger,  die  sich 
anmafsten,  mit  ihrem  endlichen,  individuellen  Denken  die  Schritte 
des  schöpferischen,  absoluten  Denkens  nachmachen  zu  können,  so 
hat  dies  seinen  Grund  nur  darin,  dal's  er  selbst  docli  niemals  wirklich 
aufgehört  bat,  an  eine  transcendente  Aifektion  durch  das  Ding  an 
sich  zu  glauben,  und  dal's  er  infolge  dessen  davor  geschützt  war, 
das  Ich  mit  dem  Subjekt  des  absoluten  Denkens  völlig  zu  iden- 
tiiizieren.  Unter  diesen  Umständen  kann  es  nur  komisch  wirken, 
wenn  Krause  die  kantische  „exakte  Wissenschaft"  gegenüber  den 
tichteschen  „Windbeuteleien"  herausstreicht  mit  den  Worten :  .,Der 
Ausspruch  Schopenhauers  ist  vollständig  richtig:  Es  giebt  keine 
kantisch-fichtesche  Philosophie,  sondern  es  giebt  nur  eine  kantische 
Philosr)[)hie  und  eine  iichtesche  Windbeutelei.  Darum  müssen  die 
Philosophen  lernen,  diese  Verirrung  zu  vergessen"  (als  ob  sie  die- 
selbe nicht  —  leider  Gottes !  —  längst  „vergessen"  hätten  —  oder 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie.  zoo 

wieviele  unter  den  modernen  Plulosopl,en  mag  es  geben,  die  Fichte 
überhaupt  gelesen,   geschweige  denn  verstanden  hätten?)    „und   aus 
dem  nachgelassenen  Werke  Kants  sehen,    dals  sie  nicht  eine  Fort- 
setzung und  Bereiclierung  der  kantischen  Philosophie  ist  (i)     Gewils 
hat  Kant  sie  n.cht    aus  Altersschwäche  nicht  verstanden    oder   aus 
btolz  ignonert,  sondern  er  hat  sie  bis  ins  innerste  Herz  verstanden, 
für  falsch  gehalten    und  l,is  in    die  fernsten  Schluptw.nkel   in    dem 
nachgelassenen  AVerke   widerlegt.     Man  hat  kein  Recht,   zu   sa-en 
dals  man  Kant  anerkennt,  wenn  man  auf  Fichtes  Wegen  geht  •'  -*) 
Der  Übergang  will  die  physikalischen  Bestimmungen  der  Materie 
aus  ihrem  Grunde  ableiten,    d.  h.    er   handelt  von  der    Materie 
ak  Basis  und  Substrat  aller  derjenigen  Besonderheiten,  welche  deii 
Cxegc^stand  der  Physik   bil.len.     Sind  uns   in  den    Wahrnehmungen 
nur  die  letzteren  gegeben,    so  versteht  es  sich  von  selbst,    dafs  die 
Unt..rsuchung   ihres  Grundes    nicht   von  <leu   Wahrnelnnungc.n  aus- 
gehen kann.     „Man  kann  nicht  vom  Objekt,  der  Materie  im  Raum 
anfangen,  als  Gegenstande  empirischer  Anschauung  und  In- 
begriff einer  unendlichen  Menge  möglicher  Wahrnehmungen  in  Einer 
empirischen  Anschauung   -   dem,    das    wäre    schon  ein' IJberschritt 
/ur  Physik,  als   einem  System    der  Erfahrung  _  sondern  von  dem 
Verstandesbegriffe  im   Subjekt,    sofern    dieses    sich    ein  Ganzes   der 
bewegenden    Kräfte    der   Materie    denkt"    (XXI.  Pjr,).     Besäfsen 
wir  von  dn-  Materie  blofs  eine  empirische  Erkenntnis,  so  würde  es 
natürlich   auch    unmöglich    sein,    deren    bewegende   Kräfte   a  priori 
abzuleiten.     „Wenn  wir  aber  a  priori   über  Erfahrungsgegenstände 
urteilen  wollen,  so  können  wir  nur  Prinzipien  der  Übereinstimmung 
der  \orstellung  von  den  Gegenständen    mit   den    Bedingungen    der 
Moghchkeit  der  Erfahrung  von  denselben  verlangen  und  erwarten- 
(AIX.    ,:,).     Die  Frage    nach    der  Existenz  der  Materie,    als  Sub- 
strats   der    bewegenden    Kräfte,    die  zunächst  im    Übergange  beant- 
wortet werden  mufs.    fällt  sonach  mit  der  anderen  zusammen     wie 
Materie  selbst  der  Grund  der  Mögli<.hkeit  der  Erfahrung  od,>r  wie 
das  oh.iektive  Prinzip  der  Einheit  unserer  Wahrnehmungen  zugleich 
das  subjektive  Prinzip   der  Zusammenstimmung   des  Mannigfaltigen 
empirischer  Anschauungen   zu  einer   und  der  nämlichen  Erlahrun'' 
sein  kann  (XXI.   Piü).  ° 

Raum  und  Zeit,  ursprünglich  nur  Formen  der  Anschauung, 
setzen  eine  Einwirkung  durcli  bewegende  Kräfte  der  Materie  voraus, 
um  auch  als  Gegenstände  der  Anschauung  für  uns  bewulst  zu 
werden.     Materie  ist  also  „das,  was  den  Raum  zum  Gegenstand  der 

*)  Krause:  Das  nachgelassene  Werk  Im.  Kants  u.  s.  w.  70. 

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484 


B.   Kant  als  Xaturphilosoph. 


Sinne  macht,"  den  an  sich  blols  intellip^iblen,  denkbaren  Eaum  zum 
apprehensiblen,  sj)ürbaren  Raum  erliebt;  sie  ist  gleichsam  selbst  der 
„hypostasierte   l^aum",    „das    Substrat    aller    äuiseren    empirischen 
Anschauung  niit  Bewufstsein".    ohne    das    es    keine  Form   der  An- 
schauung,  als  Gegenstand  unseres    Bewufstseins,    mithin    auch    kein 
Objekt  in  diesen   Formen    und    damit   überhaupt  kein  Bewufstsein, 
noch  Erfahrung  gäbe  (XIX.  294.  r)87.  590.  591.  593.  597.  005.  618. 
XX.   104).     Nun    ist    der  leere  Raum    kein  Objekt  der  Erfahrung. 
Weder  umschliefst   ein  solcher  den  erfüllten  R;iuni.    noch    kann    er 
von  diesem  eingeschlossen  werden,    weil  dei*  hlofse  Raum,    als  sub- 
jektive   Form    der    Anschauung,    nicht    wirklichen    Objekten    dieser 
Anschauung  beigeordnet  werden  darf  (XX.  151.  XXT.   111).    Folg- 
lich ist  der  Raum,  als  Gegenstand  der  Erfahrung,   mit  der  Materie 
selbst  identisch ;    und  da    es    nur    Einen    Raum,    w^ie  nur  Eine  Er- 
fahrung   giebt,    so  ist  mitliin   die  Materie  das   Prinzip   der  jM/iglich- 
keit  einer  einheitlichen   Erfahrung,    und    zwar    ein    wirkliches   Ding, 
dessen  Jjegründung  zugleich,  als  der  Basis  der  primitiven  Wirkungen 
der  Materie  im  Raum,    „d  a  s   o  berste  R  r  i  n  z  i  j)   d  e  s  Fortgangs 
der  m  e  t  a  p  h  y  s  i  s  c  h  e  n  A  n  f  a  n  g  s  g  r  ü  n  d  e  d  e  r  Naturwissen- 
schaft    zur     Physik    enthält"    (XIX.    rili).       Diese     primitive 
Materie  wird  von  Kant  gewohnlich  nls    ,.Äther-',    häutig  auch  als 
,. Wärmestoff-'   („Lichtstoff")  bezeichnet,   nielit  als  ob  er  unmittelbar 
etwas    mit    der    Wärme    zu    thun    hätte,    sondern    weil    eine  seiner 
Thätigkeiten  darin   bestehen  soll,  auch  diesen  Zustand  zu   bewirken 
(XXI.    \',U  f.    I,U)).      „Es  existiert  also    ein    W'äi-mestoff  (abgesehen 
von  der  subjektiven   Eigenschaft  der  Wärme),  d.  i.  wii-  können  nur 
durch   die   bewegenden   Kräfte    der  Materie   in  uns,    welche  Sinncn- 
vorstellungen   ihrer  Gegenstände  bewirken,    zur    subjektiven    Einheit 
der  Erfahrung    und    nicht  anders  gelangen    als  durch   die   Existenz 
der  bewegenden  Kräfte,  welche  den  Stoff  zur  Verbindung  derselben 
in    Einer    möglichen    Erfahrung    rege    machen"    (ebd.    \;V2).      „Der 
Wärmestoff  ist  wirklich,    weil   der  Begriff   von  ihm   die  Ges;imtheit 
der    Erfahrung    möglich    macht;     nicht    als    Hypothese    für    wahr- 
genommene Objekte,    um  ihre   I^hänomene    zu  erklären,    sondern 
unmittelbar,    um    die   Mii^lichkeit   der    Erfahrung    selbst  zu  be- 
gründen,  ist  er  durch  die   Vernunft  gegeben-'   (XIX.  79). 

Kant  hat  diesen  apriorischen  Bew^eis  für  die  Existenz  des 
Wärmestolfes  in  den  verschiedensten  Wendungen  wiederholt  und 
immer  wieder  mit  bestimmteren  Formulierungen  desselben  sich  ab- 
ge(iuält  —  bildete  er  doch  den  Grund,  der  festgelegt  sein  mufste, 
ehe  er  an  die  Ableitung  der  besonderen  Kräfte  denken  konnte 
(XIX.  75—79.  124-127.  293  f.  XX.  100— lli.  XXI.  105—124. 


IL  Die  kritische  Naturphilosophie.  ^ox 

126—141.  143—147).     Trotzdem  erschemt  ihm  selbst  zu  manchen 
Zeiten  der  Äther  keineswegs  als  etwas  so  Gewisses,    wie  er  ihn  in 
der  Eegel  hinzustellen  sucht.     So  sehr  er  nämlich  auch  im  zweiten 
und  zwölften  Konvolut  betont,  der  Äther    sei  „kein  hypothetischer, 
um  gewisse  Phänomene  schicklich  erklären  zu  können,    sondern  ein' 
a  priori  erweislicher  Stoff-'  (XIX.  I2r>.   I2G.  XX.  102),  so  wird  er 
doch  im  elften  Konvolut  für  einen  „blofs  hypothetischen  Stoff^^  erklärt 
(XIX.  o9(S.  604);  im  neunten  Konvolut  spricht  Kant  sogar  von  der 
blofsen  ,.Idee  einer  primitiven  Materie^  ja,  er  nennt  den  Äther  geradezu 
„ein  hypothetisches  Ding,    wohin    gleichwohl    die   Vernunft,    um  zu 
einem  obersten  Grunde  der  Phänomene  der  Körperwelt  zu  gelangen, 
greifen  mufs"   (XX.  356.  357.  359.  44U). 

Es  ist  möglich,  dafs,    wie  Kef  erst  ein  meint,  der  allmähliche 
Wechsel  in  Kants  Ansichten  über  den  erkenntnistheoretischen  Wert 
des  Ätherbegriffs  sich  erst  während  der  Niederschrift  seines  Manu- 
skiij.tes  vollzogen  hat,  so  dafs  die  zuletzt  angeführten  Stellen  auf  eine 
frühere    Abfassungszeit    hindeuten    kr>nnten.*)      Dann    müfsten    sie 
jedenfalls   schon   niedergeschrieben   sein,    noch  ehe  Kant  iiberhaui)t 
das  Prinzip  seines  Überganges  gefunden  hatte,  weil  dieser  durchaus 
auf    der  Apodiktizität    des    Wärmestoffes    beruht.       In   jedem    Fall 
scheint  Kant  auch  nach  der  Auffindung  seines  apriorischen  Beweises 
nicht  ganz    von  Zweifeln    frei  gewesen  zu   sein,     ob  er  es  auch  mit 
einem  wirklichen  Gegenstande    zu    thun    habe:    die    immer   wieder- 
kehrende Einräunmng,    der  Beweis    müsse  allerdings  „befremdlich" 
und   „bedenklich-'   erscheinen,  sieht  ganz  so  aus,  als  habe  er  selbst 
den  Verdacht    nicht    völlig    los    werden    können,    die  Existenz    des 
AVärmestoffes  blofs  erschlichen  zu  haben.     Indessen  schlägt  er  alle 
Bedenken    durch    die    Berufung    auf   die    einzigartige  Natur   seines 
Beweises    nieder,    sofern  es  sich    in  ihm    um     einen  Begriif    hnndle, 
der,  obwohl  ein  Einzel[)egriff,  dennoch  zugleich  auch  ein  Allgemein- 
begriff sei,  oder,  wie  Kant  sich  ausdrückt,   „nicht  eine  distributive, 
sondern  kollektive  Allgemeinheit  der  Gegenstände*'   bezeichne,    „die 
zur  absoluten  Einheit  aller  iiK'iglichen  Erfahrung  gehören"  (XIX.  76. 
127).     Das  ist  aber  in  der  That  nur  der  alte  ontologische  Beweis, 
der  aus  dem   Begrifl'  des  absoluten  Wesens  zugleich  dessen  Existenz 
glaubt  herausklauben  zu  k()nnen. 

Bewiesen  hat  Kant,  dafs  die  Entstehung  des  Bewufstseins  nur 
auf  Grund  äufserer  materieller  Einwirkungen  möglicher  sei;  dies 
ist  aber  ein  Schlufs  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache  und  daher 
durchaus  nicht  absolut  gewifs.     Absolut  gewifs  ist,   dafs  die  Existenz 


'')  Kef  er  stein:  a.  a.  O.  .ib 


486 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


der  Materie,  als  Inhalt  des  Bewufstseins.  nicht  fortgeleugnet  werden 
kann;    dies    stand    aber    auch    schon    vor   allem  Beweisen   fest  und 
konnte  überhaupt  normaler  Weise  nicht  zur  Frage  werden.     Wenn 
man  iVIaterie   und  Bewufstsein  einfach  identifiziert,    so  ist  natürlich 
die  Existenz  der  Materie   so  gewifs,    wie  das  Bewufstsein;    das  ist 
blol's  eine  Tautologie  und  keine  neue  Einsicht.     Aber  es  ist  Unsinn, 
die  Materie  in  diesem   Falle    noch    als    „Ursache  des  Bewufstseins" 
y.n  bezeichnen,  weil  die  Ursache  mit  der  AVirkung  nicht  uiimittel])ar 
zusammenfallen  kann.     Als  Inhalt  des  Bewufstseins  ist  die  Materie 
nicht   Ursache    desselben,    sondern    selbst  schon   Wirkung  (Erschei- 
nung) derjenigen  Materie,  welche  die  Ursache  des  Bewufstseins  ist. 
Als  Ursaclie  ist  sie  nicht  Inhalt  des  Bewufstseins,  liegt  sie  vielmehr 
vor    dem    IJewul'stsein    und    aufserhalb    desselben.     Als    solclie 
setzt  sie  mit  der   Form    des    Bewufstseins    zugleich    sich    seihst    als 
deren  Inhalt,  aber  nicht  als  Urbild,  sondern  nur  als  Abl.ild,  nicht 
als    wirkliche,    sondern    nur    als    vorgestellte    Materie.      Es    ist    ein 
Mifsbrauch  des   Wortes  ,. Ursache^',  wenn  man  der  Materie,   wie  sie 
als  Inhalt  des  Bewufstseins  absolut  gewifs  ist,   obendrein  noch  einen 
EinHufs  auf  das  Bewufstsein  zuschreibt.      Der  naive  Eealismus  ma^^ 
sich  das  Koj)fzerbrechen  darüber  ersi)aren,    wie    überhaupt  der  In- 
halt   in    unser  Bewufstsein    hereinkommt,    er    mag    annehmen,    der 
letztere    sei    uns    unmittelbar  gegeben;    aber    dann   mufs  man  auch 
ein  wenig   Rücksicht  auf  die   Logik  von  ihm   fordern,    dann   dar!'  er 
auch  nicht  den  Satz  vom  zureichenden  (irunde  mit  dem  der  Identit.'it 
vermengen.      Was  wir  erfahn^n  miu'hten,  wenn  wir  nach  der  Existenz 
der  Materie  fragen,    ist,    ob  die  Materie  noch  etwas  ist,    jiufserdem 
dafs  sie  Iidialt  unseres  Bewufstseins  ist.      Wir    müssen    es    einfach 
als  eine  Geschmacklosigkeit  bezeichnen,   wenn   man  uns  hierauf  um- 
ständlich beweist,    die  Materie    sei    als  Inhalt  unseres  Bewufstseins 
wirklich.     Doppelt  geschmacklos  aber  ist  es   und  nur  geeignet,    die 
Phih)Sophie  in  ]\Iifskredit  zu  bringen,  wenn  man  diese  ])hitte  Selbst- 
verständlichkeit als  eine  Errungenschaft  des  ])liiIos()phise}ien  Denkens 
anpreist,  wenn  man  die  Naturforscher  glauben   machen   will,    es  sei 
damit  ein  unerschütterliches  Fundament    für    ibre   Wissenschaft  ge- 
wonnen.   — 

Welche  Eigenschaften  haben  wir  nun  der  Materie  zuzuschreiben? 
Natürlich  müssen  ihre  Attribute  an  der  Hand  der  Kategorieentafel 
sich  aufzählen  lassen,  ohne  dafs  jedoch  Kant  ihre  Einordnung  in  das 
beliebte  Schema  selbst  vollzogen  hätte  (NXI.  138).  Da  der  UrstoiV 
imr  die  als  Gegenstand  hingestellte  apriorische  Form  unserer  An- 
schauung ist,  so  können  seine  Bestimmungen  an  dieser  Form  a  priori 
gleichsam  abgelesen  werden.     Er  ist  also  vor  allem  Einer  und  er 


48' 


ist    unendlich,    d.  h.    er   grenzt    nicht    irgendwo    an   den  leeren 
Raum ;    es   geht   ihm   auch  keine  Zeit  vorher,    worin  er  etwa  noch 
nicht  existierte.    Der  AYärmestoff  ist  ferner  ein  Kontinuum.    Er 
erfüllt  den  Raum  in  allen  seinen  Punkten,  ist   überallhin    ver- 
breitet  und  folglich  a  1 1  d  u  r  c  h  d  r  i  n  g  e  n  d  (permeabel).    Eben  des- 
halb ist  er  aber  auch  „kein  Gegenstand  einer  unmittelbaren  (objektiven) 
Wahrnehmung,    weil    er    auf    kein    Organ    durch   seine   Berührung 
wirkt:  er  ist  imperceptibel,    ein  Etwas,  das  ein  „Sinnenobjekt 
ist,  ohne  doch  so  wenig,  wie  der  Raum  selbst,  in  die  Sinne,  sondern 
nur  in  die  Vernunft  zu  fallen"  fXXI.  V2s.  122).    Diese  Eigenschaft 
des  Wärmestolfes,    dafs  der    Umfang   seiner  Wirkung    durch    keine 
andere  Materie  eingeschränkt  werden  kann,  weil  er  ja  selbst  durch 
alle  Materie  hindurchgeht,    bezeichnet  Kant   auch   als  die  Unsperr- 
barkeit    desselben:    der    Wärmestoff    ist    also    un  sperr  bar    (in- 
coercibel)  (XX.  !J1).     Aus    demselben    Grunde    mufs   er  auch    un- 
wägbar   (imponderabel)    sein;    denn    Wägbarkeit    ist    Gravitation 
nach  einer  bestimmten  R'ichtung  hin:  eine  solche  ist  aber  bei  dem 
Wärmestüß'e  ausgeschlossen,   weil  er  das   Universum  erfüllt  und  im 
Ganzen  nach  keiner  Direktion  zu  fallen  hinstrehen  kann  (XXI.  148). 
überhau])t  müssen  dem  Urstoff  alh^  diejenigen  i)hysikalischen  Eigen- 
schaften   abgesprochen    werden,    die   erst  durch    ihn  erklärt  werden 
sollen.     Dahin  gehört  auch  dieKohäsion;  und  so  mufs  er  auch  als 
u  n  z  u  s  a  m  m e  n  h  ä  n  g  e  n  d  (incohäsil)el)  angesehen  werden,  als  form- 
lose Masse,  die  weder  fest,  noch  flüssig  ist  (XIX.    102.    106).    Nur 
die  fundamentalen  Kräfte  dürfen  dem  AVärmestoff  nicht  abgesprochen 
werden,   ohne  welche  er  überhaupt  kein  Stoff  mehr  sein  würde:  die 
Anziehungs-  und  die  Abstofsungskraft.    und  zwar  müssen  diese  be- 
wegenden Kräfte  im  Akte  der  Bewegung,  agitierend  sein;  denn 
wenn  er  auch  kein  Gegenstand   einer  wirklichen  Erfahrung  ist,    so 
ist  er  doch  durch  eben  diese  bewegenden  Kräfte  die  Bedingung  d(^r 
Erfahrung  (XXI.  lOS).     Diese  Bewegung  kann  natürlich  keine  ort- 
verändernde (facultas  locomotiva)  sein:  eine  Materie,  die  schon  den 
ganzen  Raum  kontinuierlich  erfüllt,  kann  sich  durch  ihre  Bewegung 
nicht  von  der  Stelle  bewegen.     Die  Bewegung    mufs   vielmehr   eine 
innerliche  (interne  motiva),   eine  Schwingungsbewegung  sein,  d.  h. 
eine   solche,    die    sich    selbst    beständig  in  AVechsel  von  Anziehung 
und  Abstofsung  wiederholt  (XX.  HG.  XXI.  13()).     Dafs  sie  keinen 
Anfang    haben    kann,    folgt    daraus,    weil    der  Begriff   eines    ersten 
Bewegers,  als  der  Materialität  widersprechend,  nicht  in  die  Natur- 
wissenschaft   hineingehört    (XX.   102).     Man    kann    sich  aber  auch 
nicht  vorstellen,    dafs  sie  je  einmal  aufluirte :    ..Denn    die    Urkräfte 
der  Bewegung  können,  als  ursprünglich  agitierend,  sich  selbst  nicht 


T 

ll 


488 


B.   Kant  als  Naturphilosoph. 


in  Stillstaiul  bringen,  weil  dieser  Zustand  selbst  eine  Gegenwirkung 
agitierender  Kräfte  voraussetzt,  und  zwar  im  Akt,  nicht  blofs  im 
Vermögen,  mithin  die  Hemmung  dieser  Bewegung  in  einer  allge- 
meinen lluhe  sich  selbst  widers])richt"  (XIX.  103.  453).  „Also 
ist  das  Quantum  der  Bewegung  immer  dasselbe"  (ebd.):  die  Materie 
ist  ihrer  Substanz,  wie  ihrer  Beweguni;,  nach  alldauernd  oder 
inexhaustibel  (perennierend)  (XIX.    103.  XXI.    143).   — 

Damit    ist    das    Fundament    gelegt,     auf    welchem    Kant    das 
Elementarsystem    der  bewegenden  Kräfte    der  Materie  glaubt 
aufbauen    zu    können.     Nach    welchem  Prinzip    mul's    nun  zunächst 
die  Einteilung  dieser  Kräfte  vollzogen  werden?    Kant  scheint  hierbei 
im    Anfang    an    eine  Einteilung    nach    den    fünf  Sinnen    gedacht  zu 
haben.     Er  wirft  die  Frage  auf:  „Ob  nicht  die  fünf  Sinne,  als  Organe 
der    Em])tindung,  das  Elementarsystem    der    Materie    an    die   Hand 
geben,  in  welchem  die  AV^ärmematerie  unter  den  bewegenden  Kräften 
die  allgemeine   ist?"    (XTX.  298.  290.  306).     Aber    dann    gewinnt 
selbstverständlich  die  Kategorieentafel  wieder  die  Oberhand,   und  es 
heilst  von  der  Einteilung:   „Sie  kann  nicht  anders  nach  einem  Prinzip 
a  priori    gemacht   werden    als    nach    dem   System    der  Kategorieen. 
Also  werden  jene  Kräfte  nach  ihrer  Ordnung  der  Quantität,  (Qualität, 
Belation  und  Modalität  aufzuführen  sein*'    (XIX.  (Sl),     Diese  Ein- 
teilung  ist  von  Kant    mehrfach  versucht  worden,    wobei  jedoch  das 
Schema    der  Kategorieentafel    keineswegs  überall    inne  gehalten  ist. 
Er    unterscheidet:    eigene    (vires    interne    motivae)    und    mitgeteilte 
(v.  locomotivae).   durchdringende  und    Flächenkraft,    anziehende  und 
abstofsende,  progressive  und  oscillatorische,  perpetuierliche  und  transi- 
torische  Kräfte    (XX.   (u  f.  7;3  f.).     Interessant  ist  dabei   nur.    dafs 
Kant    insofern    von    seinen  Aufstellungen    in    den    „Metaphysischen 
Anfangsgründen-'    abgeht,    als  er    dort  die  Anziehungskraft  nur  als 
fernwirkende  Kraft,    die  Abstofsungskraft  nur  als  eine  bei  der  Be- 
rührung wirkende  Flächenkraft  auffai'st,   während  er  hier  im   Über- 
gange   durch  Kombination    zweier  verschiedenen   Gesichtspunkte  die 
Anziehung  in  der  Berührung  von  der  Anziehung  in  der  Ferne,  die 
Abstofsung    in    der  Berührung    von    der  Abstofsung    in    der    Ferne 
unterscheidet.*) 

Ist  der  sogenannte  Wärmestoff  die  Basis  der  köri)erlichen 
Welt,  so  sind  alle  wahrnehmbaren  Stoffe  der  letzteren  nur  „Modi 
jenes  Stoffes.  Die  Körperbildung  durch  si)ezifisch  verschiedene 
Elemente  bringt  nun  zusammengesetzte  Formen  hervor,  die  aber 
dem    Prinzip    der    Möglichkeit    Einer    Erfahrung    nicht    beigesellt, 


*)  Krause:  a.  a.  Ü.  138.  139. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


489 


sondern    untergeordnet   sein    müssen^'    (XXI.    147).      Die    Materie 
schlechthin    (materia    prima)    ist    der   reale   Gegensatz    der  Körper- 
materie (materia   secunda),    wie   sie   den    unmittelbaren  Gegenstand 
der  Physik  bildet.     Jene    ist  unwahrnehmbar  und  blofs    ein  Objekt 
unseres  Denkens;  diese    ist  nicht    blofs  anschaubar,    sondern  sie  ist 
der    einzige    Gegenstand    aller   äufseren    Wahrnehmung.      Jene    ist 
formlos    und    eigenschaftslos;    diese    ist  durch    und  durch  bestimmt. 
Jene  ist  nicht  durch  Grenzen  beschränkt    oder    in    sich  gegliedert;' 
diese  trägt    die  Grenzen   gleichsam    in   sich    selbst:    ein    physischer 
Körper  ist  ja  nichts  Anderes  als  „eine  Materie  zwischen  bestimmten 
Grenzen  eingeschlossene,   die  also  eine  Figur  hat"  (IV.  419),  oder 
wie  es  im  Übergänge  heilst:  ein  physischer  Körper  ist  „eine  Materie' 
die   durch    ihre    bewegenden   Kräfte    ihre  Gröfse    und  Gestalt 
selbst  bestimmt"  (XX.  448).    Wir  brauchen  somit  nur  die  a  priori 
gefundenen    Eigenschaften    der  Urmaterie    in    ihr  Gegenteil    zu  ver- 
kehren,   um  unmittelbar  auch  die  Eigenschaften  der  Körpermaterie 
zu  erhalten.     Die  Eigenschaften  der  physischen  Körper  müssen  aus 
der  Urmaterie    abgeleitet  werden:    „ Wägbai-keit.    Si)errl)arkeit.  Zu- 
sammenhängen und  Ersch(-)pfl)arkeit  setzen  bewegende  Kräfte  voraus, 
die  jenen    entgegengesetzt  wirken    und    die   Wirkung  derselben  auf- 
heben (XIX.  124).    „Es  mufs  also  eine  imponderable  Materie  sein, 
durch    deren    Bewegung    die    subjektive    Wägbarkeit    möglieh    ist" 
(Jü5).     „Die  Ursache  der  Cohäsibilität  mufs  selbst  incohäsibel  sein" 
(102).      „Das  Imponderable,  Incoercible,  Incohäsible,    Inexhaustible 
enthält    die    dynamisch  bewegenden  Kräfte,    welche   die   mechanisch 
bewegenden,  d.  i.  den  Meciianismus  der  Körper,  möglich  machen"  (<JG). 
Die    W^ägbarkeit    wird    von    Kant    unter    der    Kategorie    der 
Quantität  betrachtet.     Ein  Quantum  der  Materie  ist  nämlich  das 
Ganze  einer  Menge  beweglicher  Dinge  im  Baume,  und  die  (^)uantität 
der  Materie  ist  die  Bestimmung  dieser  Menge  als  eines  gleichartigen 
Ganzen.    Eine  solche  Quantität  kann  a})er  nicht  arithmetisch  durch 
die  Zahl  der  Kcirperteilchen,   sie  kann  auch  nicht  geometrisch  durch 
deren  liaumesinhalt   (volumcn)    gemessen    werden,    weil    man    nicht 
alle  Materie    als    gleich    dicht    annehmen    darf.     Vielmehr  ist  eine 
Messung    derselben    nur    dynamisch    möglich,    nämlich    „durch    die 
Gröfse  der  bewegenden  Kraft,  welche  ein   Volumen  von  Materie  in 
einer  und    derselben  liichtung    und  Geschwindigkeit    der  Bewegung 
auf  einen    beweglichen  Gegenstand  ausübt,    wobei    alle  Materie    als 
gleichartig,    d.  i.    nur   als  Materie    überhaupt  in  Anschlag  gebracht 
wird"    (XX.    344).     Die    Quantität    der    Materie    wird    durcli    die 
S  c  h  w  e  r  e  gemessen,  d.  h.  durch  die  bewegende  Kraft  der  Gravitations- 
anziehung, die,  als  Anziehung  in  der  Ferne,  alle  Materie,  die  sich  in 


490 


B.    Kant  als  Natur|)liilüS()[)h. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


491 


gleichen  Entfernungen  vom  Mittelpunkte  unseres  Weltkörpers  befindet, 
mit  gleicher  Geschwindigkeit  im  Anfangsaugenblick  l)ewegt,  und  das 
Mittel,  diese  Schwere  zu  bestimmen,  ist  die  Waage.  Sind  Schätzung 
der  Quantität  der  Materie  und  Wägbar keit  nach  Kant  identische 
Begriffe  (XIX.  83),  so  mufs  die  Kategorie  der  Qualität  zum 
Gesichtspunkt  dienen,  unter  welchem  die  Sperrl)arkeit  betrachtet 
wird.  Um  was  es  sich  dabei  handelt,  sind  die  Aggregatzustände 
der  Materie  und  ihre  l'hergänge,  die  auf  dem  Verhältnis  der  an- 
ziehenden und  al)stofsen(h^n  Kräfte  zu  einander  beruhen,  und  die 
Wärme  als  die  Ursache  jener  verschiedenartigen  Zustände.  Was 
die  Lehre  von  der  Wärme  anbetriftt,  so  hat  Kant  die  ursprüng- 
liche Annahme  einer  besonderen  imponderablen  Wärmematerie  all- 
mählich  fallen  lassen  und  die  Ursache  der  AV<ärme  in  Überein- 
stimmung mit  der  modernen  Naturwissenschaft  in  der  undulatorischen 
Bewegung  der  kleinsten  Teile  der  Materie  gefunden.')  Wärme  ist 
Abstofsung,  die  als  Fernkraft  wirkt.  Abstofsung  in  der  Beriüirung 
oder  als  Flächenkraft  ist  die  Elastizität,  wie  z.  B.  bei  der  elastischen 
Flüssigkeit  des  Dampfes  (XX.  4:U).  Dieselbe  lebendige  Kraft,  die 
aus  den  vibratorischen  Stöfsen  der  Elementarmaterie  entspringt,  ist 
es  auch,  welche  die  Belation  zwischen  den  verschiedenen  Teilen 
eines  materiellen  Gegenstandes  bestimmt  und  damit  die  Erscheinung 
der  Koliäsion,  als  Flächenanziehung,  begründet  (XXI.  96).  AVas 
endlich  die  Modalität  betrifl't,  so  versteht  Kant  darunter  die 
Notwendigkeit  der  Materie  zur  möglichen  p]rfahrung  und  leitet  aus 
ihr  die  Unveränderlichkeit  ilir(^r  (^)u;iiitität  und  die  Permanenz  der 
bewegenden  Kräfte    ah:    „perpetuitas    est    necessitas    i)haenomen()n" 

(Xix.  U2().  XX.  m:\). 

Kant  betont  es  mehrfach  :  „Der  Übergang  mufs  ja  nicht  in  die 
Physik  (Chemie  u.  s.  w.)  eingreifen.  Er  antizipiert  nur  die  bewegenden 
Kräfte,  welche  a  priori  der  Form  nach  gedacht  werden,  und  klassi- 
fiziert das  Empirisch-allgemeine  nur,  um  die  Aufsuchung  der  Bedin- 
gungen der  Firfahrung  zum  Behuf  eines  Systems  der  Naturforschung 
darnach  zu  regulieren"  (XX.  44'i).  Leider  wird  man  nicht  behaujiten 
können,  dafs  er  diesen  Grundsatz  selbst  inne  gehalten  habe.  Man 
mufs  schon  ganz  in  Kant  vernarrt  sein,  um  angesichts  der  darge- 
legten Auseinandersetzungen  annehmen  zu  können,  es  handle  sich 
hier  wirklich  um  eine  P]rkenntnis  aus  reiner  Vernunft.  Wenn  man 
an  seiner  Darlegung  der  ])hysikalischen  Eigenschaften  etwas  bewundern 
mufs,  so  ist  es  nur  die  unglaubliche  Selbsttäuschung  Kants,  jene 
Ansichten  wirklich  aus  den  Kategorieen  abgeleitet  zu  haben,  während 


=)  Krause:  a.  a.  ().    17^^  —  176. 


sie  doch  ganz  offenbar  nur  aus  den  Erfahrungsresultaten  der  Physik 
gewonnen  und  erst  hinterher  mit  der  Kategorieentafel  in  eine  ebenso 
willkürliche,    wie    absonderliche    Verbindung   gebracht    sind.     Kein 
vernünftig    denkender    Mensch    wird    ihm    Glauben    schenken,    seine 
Erklärung  der  Aggregatzustände  und  der  Kohäsion  aus  den  lebendigen 
Kräften    seiner  Urmaterie    könne    thatsächlich  auf  apodiktische  Ge- 
wifsheit  Anspruch  erheben.    Kein  Physiker  wird  über  die  Absurdität 
hinwegkommen,  dafs  die  Erkenntnis  des  Wesens  jener  Eigenschaften 
der  Materie    einen  gleichen  Grad    der  Sicherheit   besitzen    soll,    wie 
das  so  wohl  beglaubigte  Gesetz  von  der  Erh:iltung  der  Materie  und 
das  ihm  verwandte  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft.     Hier  hat 
ihn  blofs  seine  Kategorientafel  veranlafst,   Momente  unter  einen  und 
denselben  Hut  zu  bringen,  die  offenbar  garnichts  mit  einander  gemein 
haben.      Dabei  ist  charakteristisch,  dafs  Kant  von  dem  transcendental- 
philoso])liischen  Prinzij)  seines  Überganges,   den  eigenen  Kräften  des 
Subjekts,   überhaui)t  gar  keinen  Gebrauch  macht,  sondern  die  Eigen- 
schaften der  K()rperniaterie  einfach  aus  der  Urmaterie  erklärt.    In  der 
nämlichen  Weise  könnte  auch  jeder  Andere  das  Pr(>blem  behandeln. 
der  niemals  etwas  von  der  Selbstaifektiun  des  Subjekts  geh(')rt  hätte. 
Auf  die  obigen  Darlegungen  näher  einzugehen,  hat  darum  auch 
gar  keinen   Wert  in  philosojibisclier  Beziehung.     Kant  belegt   seine 
Erklärungsversuche    mit  zaldreichen   Beispielen  aus    der  Erfahrung. 
Dieselben  sollen   ..nur  zur  Erläuterung-'   dienen  (XIX.  (S9);  es  liegt 
aber    in  der  Natur   der  Sache,    dafs    nicht    blofs    das  Interesse    des 
Lesers    sich  unwillkürlich    von    den    angeldich  ])]iil(>sophischen  Aus- 
einandersetzungen    des    Überganges     auf     diesen    rein     empirischen 
Teil  desselben    hinüber    verschiebt.     Der  philosophische  Gehalt    des 
Werkes    ist  seiner  ganzen  Natur  nach  so  dürftig    und    rein  Ibrmal. 
dafs  schon   Kant    selbst,    was    viel  sagen  will,    schwerlich    ein   Buch 
daraus  hätte  machen  können,   wenn  er  nicht  die  leeren  Fächer  seiner 
apriorischen  Konstruktionen  mit  dem  Inhalt  rein  empirischen  Materiales 
ausgefüllt  hätte.     Dafs  dabei  im  Einzelnen  manches  Interessante  mit 
unterläuft,    ist    selbstverständlich.     Einen    Nutzen    für    seine    eigene 
Wissenschaft  wird  freilich  auch   der  Naturforscher  aus  diesen  Dar- 
legungen schwerlich  ziehen  können,  weil  sämtliche  Erklärungen,  die 
Kant  für  die  Naturerscheinungen  giebt,    auf  der  absurden    und  für 
die  Naturwissenschaft   ganz  wertlosen  Voraussetzung    eines    absolut 
eigenschaftslosen,  gestaltlosen  Kontinuums  beruhen,  wobei  schon  das 
nicht  einzusehen  ist,  wie  aus  einem  solchen  überhau])t  irgend  welche 
Modifikationen  sollten  hervorgehen  können.  — 

An   das  Elementarsystem   der  bewegenden  Kräi'te    der  Materie 
sollte  sich  das  Weltsystem  derselben  schliefsen  und  beide  sollten 


i 


492 


B.  Kant  als  Naturphilosoph. 


II.  Die  kritische  Naturphilosophie. 


493 


unter  dem  Titel  des  Überganges  von  den  metaphysischen  Anfangs- 
gründen der  Naturwissenschaft  zu  Pliysik  vereinigt  werden  (XX.  415). 
Was  Kant  in  jenem  Weltsystem  eigentlich  abzuhandeln  gedachte, 
bleibt  ziemlicli  unklar.  Es  scheint,  als  ob  hier  auch  die  Lehre  von 
den  Organismen  und  somit  die  Teleologie  hätte  ihre  Stelle  finden 
sollen.  Indessen  erweiterte  sich  ilim  der  Plan  bald  dahin,  nicht  blofs 
eine  zusammenbängende  Darlegung  seiner  natur])hiloso|)liischen  Ideen, 
sondern  eine  „Darstellung  des  absoluten  Ganzen  des  Systems 
der  reinen  Philosophie*'  zu  liefern,  eines  Systems,  das  bei  dem 
apodiktischen  Charakter,  den  es  seiner  Natur  nach  haben  niulste, 
„Alles  und  Eines  ohne  Vermehrung  und  Verbesserung"  sein  sollte 
(XXI.  315).  Dieses  System  sollte  handeln  „von  Gott,  der  Seele 
des  Menschen  und  allen  Dingen  überhaui)t''  (312).  Demgemals  sollte 
sich  an  den  l'bergang  von  den  meta])hysischen  Anfangsgründen  der 
Naturwissenschaft  zur  Physik  der  „Übergang  von  der  Physik  zur 
Transcendentalphil()so])hie/'  an  diesen  der  „Übergang  von  der  Trans- 
cendentalpbih)sophie  zum  System  zwischen  Natur  und  Freilieit,"  an 
diesen  endlich  der  „Beschlufs  von  der  allgemeinen  Verknüpfung  der 
lebendigen  Kräfte  aller  Dinge  im  Gegenverhältnis  Gott  und  Welt" 
anschliefsen  (323). 

Wie  Kant  sich  diese  einzelnen  Teile  näher  gedacht  hat,  ist 
schwer  zu  sagen.  Er  gelangte  oft'enbar  schon  bald  dazu,  sämt- 
liche Teile  unter  dem  Allgemeinbegriffe  der  ^Pranscendentalphilo- 
sophie  zu  vereinigen:  „Das,  was  die  Prinzipien  der  Logik,  Meta- 
physik.  Moral,  Physiologie  und  des  Uberschrittes  zur  Physik  in 
Einem  System  der  Erkenntnis  a  priori  vereinigt  enthält,  heilst 
Transcendentali)hih)sophie"  (iUvl).  „Die  metaphysischen  Anfangs- 
gründe der  Naturwissenschaft  und  das  Prinzip  des  Überganges  von 
ihr  zur  Physik  schreitet  nun  weiter  zu  einem  System  der  Ideen, 
wodurch  das  Subjekt  sich  selbst  a  ])riori  begründet,  und  zwar  zu 
dem  Eormalen  eines  Ganzen,  als  Objekts,  welches,  als  absolute  Ein- 
heit, Transcendentalphilosophie  genannt  wird  und  zur  Einheit  der 
Erfahrung  fortschreitet"  (387).  Besondere  Schwierigkeiten  scheint 
es  ihm  dabei  gemacht  zu  haben,  eine  umfassende  Definition  für  den 
Begriff  der  Transcendentalphilos()])hie  zu  linden.  Die  über  einhundert 
und  fünfzig  mal  unternommenen,  unendlich  er([uälten  Versuche  nach 
dieser  Kichtung  hin  machen  einen  geradezu  erbarmungswürdigen 
Eindruck.  Kaum  weniger  Mühe  bereitete  ihm  die  Auftindung  eines 
Titels  für  das  Werk.  Er  nennt  es  „das  System  der  Philosophie  in 
ihrem  ganzen  Inbegriffe"  (41^))  oder  auch  (wohl  in  Erinnerung  an 
Ei  eilte)  „Philosophie  als  Wissenschaftslehre  in  einem  vollständigen 
System*'  (418)  oder  „der  Transcendentalphilosophie  höchster  Stand- 
punkt im  System  der  Ideen :  Gott,  die  Welt  und  der  durch  Pllicht- 


gesetze  sich  selbst  beschränkende  Mensch  in  der  Welt-'  (355).  ..Gott 
über  mir,    die  Welt    aufser    mir,    der  menschliche  Geist   in    mir   in 
Einem  System  das  All    der  Dinge  befassend"  (340)  u,  s.  w.     Was 
uns  von   dem  Inhalt  dieses  Werkes   an  Bruchstücken  erthalten  ist, 
vermag  uns  kein  Bedauern    über  seinen  unvollendeten  Zustand    ab- 
zulocken.    Von    „Tiefsinn,"  wie  man  wohl  gesagt  hat,    ist  nirgends 
etwas  zu  bemerken:   findet  sich  doch  kaum  ein  wertvoller  Gedanke 
vor,  den  Kant  nicht  auch  früher  schon  ausgesjjrochen  hätte ;  es  sei 
denn,   man  sähe  eine  besondere  Errungenschaft  darin,  dafs  hier  mit 
Nachdruck  die  Idee  der  Persönlichkeit  Gottes  hervorgehoben  wird.  — 
Wenn  man  erwägt,  wie  Kant  von  Anfang  an  den  Ausbau  der 
Natur]ihilos()])hie  sich  zum  Ziele  gesetzt  hat,  wie  ihm  das  gewissen- 
hafte   Aufsuchen    eines    haltbaren    Unterbaues    für    sie    die  Arbeit 
immer    wieder     in     die    Eerne    gerückt    hat,    und    wie    er,     als    er 
nach  einem  langem  Leben  voll  unerniüdliclier  Thätigkeit  und  steter 
Hingabe  an  sein  Lebensziel    nun  endlich  das    lange  geplante  Werk 
in  Angriff  nehmen  wollte,  nicht  mehr  die  Kraft  zu  seiner  Ausführung 
besafs,    so    wird    man    sich    der  Empfindung    einer    gewissen  Tragik 
nicht    erwehren    können.       Es     ist    rührend,     zu    sehen,     wie     der 
Philoso])h    noch    am  Bande    des  Grabes    mit    unsäglicher  Ausdauer 
sich    abmüht,    ein  Bauwerk  aufzurichten,    zu    dem    er    nicht   einmal 
mehi"  die   Steine  zusammentragen  konnte.      \\'ir  brauchen  es  jedoch 
nicht    zu    beklagen,    dafs    Kant,    der    nienials    die  Absicht    aus    den 
Augen  verloren  hatte,    eine  wissenschaftlich  begründete  Naturphilo- 
sophie  zu  schaffen,    noch  ehe    er  dies  Werk  vollendet    hatte,    unter 
der  Last  des  Alters  zusammenbrach.     Dieser  P]iilosoi)h  hat  in  anderer 
B(vjehung  so  viel  geleistet,  er  hat  auch  auf  dem  Gebiete  der  Natur- 
philosophie selbst  so  mannigfache  neue  Ideen  und  fruchtbare  K(^ime 
ausgestreut,   dafs  er  sich  thatsächlich  ausgelebt  hat  und  dafs  er  an 
seiner  Bedeutung  auch  dadurch  nichts  einbüfst.   wenn  sein  Lieblin^>-s- 
kmd,   die  Natur])hilosophie,   stets  imr  ein  Torso  geblieben  ist.      Und 
auch  deshalb  kr)nnen   wir  den  unvollendeten  Zustand  dieser  Diszii)lin 
bei  ihm  verschmerzen,   weil,  auch  wenn  der  naturphil()Soj)hische  Teil 
seiner  Philosophie  zum  Abschlufs  gekommen  wäre,  die  Wissensciiaft 
dadurch  kaum  gefördert  worden  wäre.      Was  Kant  m  seinem   nach- 
gelassenen  Werke    eigentlich  anstrebte,    das    ist  thatsächlich    nichts 
Anderes,    als  was  noch  bei    seinen  eigenen  Lebzeiten  Fichte    und 
vor  allem  Seh  ellin  g  voll  iidct  haben,  und  was  heute  nisbesondere 
gerade  die  Naturwissenschalt  nicht  mehr  anzuerkennen  vermag :  die 
rein  logische  Entwickelung  auch  der  (^)ua]itaten   der  Natur  aus  ihren 
apriorischen  Formen    im   Subjekt     -   nur  dafs  jene  blamier    iii    der 
ganzen  Vollkraft  ihres  Könnens,   mit  jugendlicher  Begeisterung  und 


494 


B.    Kant  als  Naturphilosoph. 


einer  erstaunlichen  Genialität  das  zu  Ende  geführt  haben,  was  Kant 
selbst  am  späten  Abend  seines  Lebens,  ein  gebrochener  Greis,  be- 
gonnen hat.  Die  Naturphihjsophie  Schellings  ist  die  Vollendung 
der  kantischen  Naturphilosophie,  und  insofern  ist  nicht  S  c  h  e  1 1  i  n  g  , 
sondern  Kant  selbst  der  Begründer  und  Vater  derjenigen  philo- 
sophischen Disziplin,  die  heute  als  ein  abschreckendes  Beispiel  dafür 
gilt,  wie  man  Naturerkenntnis  nicht  trei})en  soll.  Wer  daher 
in  die  Verwerfung  der  schellingschen  Naturphilosophie  mit  einstimmt, 
der  weifs  nicht,  was  er  thut.  wenn  er  ihr  gegenüber  die  kantische 
NaturpliiIoso])hie  ausspielt,  und  umgekehrt:  wer  den  Weg,  den  Kant 
in  seiner  Naturphilosoj)hie,  insbesondere  in  seinem  naciigelassenen 
Werke  eingeschhigen  hat,  für  richtig  anerkennt,  der  darf  konsequenter 
Weise  auch  Schell  in  g  nicht  schmähen.  Wenn  die  Verachtung 
der  schellingschen  und  die  Lobpreisung  der  kantischen  Naturphilo- 
sophie heute  Band  in  Hand  gehen,  so  zeugt  das  nur  von  einer 
ebenso  grofsen  Unkenntnis  Schellings,  wie  v(m  einem  gründlichen 
Mifsverstehen  der  Absichten  und  Ziele,  die  Kant  sich  bei  seinem 
ganzen  i)hilosopliisclien  Entwickelungsgang  gesteckt  hat.  \\'ir  müssen 
uns  erst  von  der  einseitigen  Kantschwärmerei  wieder  losgenuicht 
und  zu  einer  gerechteren  AVürdigung  der  nachkantischen  Epoche  in 
der  Philosophie  hindurcligerungen  haben,  um  auch  hier  den  richtigen 
Mafsstab  für  die  Beurteilung  zu  finden. 

Der  erkenntnistlieoretische  Apriorismus  hat.  wozu  er  doch  wesent- 
lich ausersehen  war,  der  Natur[)hilosophi(^  einen  Nutzen  nicht  ge- 
bracht, weder  nach  der  Seite  einer  gnifseren  Gewifsheit.  noch  einer 
inhaltlichen  Bereicherung.  D  i  e  ganze  kritische  N  a  t  u  r  j)  h  i  1  o  - 
Sophie  Kants  ist  nur  die  vor  k  ritische  Naturi)hil()so])hie, 
gekleidet  in  die  K  o  r  m  ein  der  V e r  n  u  n  f  t k  r i  t  i k  und  g e - 
schaut  durcli  die  Brille  des  trau  scenden  tal  en  Idealismus. 
Wo  sie  thatsächlich  über  ilue  ursj)rüngliche  Gestalt  hinaus  geht 
und  wertvolle  neue  Gedanken  zu  Tage  gefördert  hat.  wie  in  ihrer 
genialen  Fassung  der  teleologischen  Idee,  da  verdankt  sie  diese 
Einsichten  nicht  ihrem  methodologischem  Prinzip,  auch  nicht  ihrem 
Standpunkte  des  transcendentalen  Idealismus,  sondern  hat  sie 
jene  nur  auf  dem  allgemeinen  AW^ge  einer  induktiven  Sj^ekulation 
gewonnen.  Nur  in  einem  Punkte  hat  der  transcemlentale  Idealismus 
die  Naturi)hilosophie  wirklich  auch  dem  Inhalte  nach  gefördert:  er 
hat  ilir  die  strenge  Unterscheidung  zwischen  dem  Ding  an  sich  der 
Materie  und  ihrer  Erscheinung,  er  hat  ihr  die  Einsicht  übermittelt, 
dafs  der  räumlich  ausgedehnte  Stoff  als  solcher  nur 
eine  blofs  subjektive  Vorstellungsar  t  ist.  Darin  liegt 
in  Wahrheit  die  erkenntnistheoretische  Begründung  einer  dynamischen 


II.  Die  kr?  "che  Naturphilosophie. 


495 


Auffassung  der  Materie.  Aber  diese  grofse  Einsicht  ist  durch  so 
viele  Mängel  und  Widersprüche,  welche  die  Beschränkung  der  Er- 
kenntnis auf  die  unmittelbare  Erfahrung  im  Gefolge  hat,  erkauft, 
dafs  man  darüber  streiten  kann,  ob  man  der  vorkritischen  oder  der 
kritischen  Naturphilosophie  den  Vorzug  geben  solle.  Wenn  das 
nachgelassene  Manuskript,  worin  Kant  sich  aus  Gründen  der  Natur- 
philosophie bewogen  gefühlt  hat,  die  letzten  Konsequenzen  seiner 
erkenntnistheoretischen  Prämissen  selbst  zu  ziehen,  die  früher  zum 
Teil  nur  angedeutet  blieben,  insbesondere  eine  doppelte  Affektion 
des  Subjekts  einzuräumen,  wenn  dieses  Manuskript  nur  die  eine 
Bedeutung    hat,     di('    Wertlosigkeit    des    transce  n  d  en  t  al - 

idealistischen  Stand  j)unktes  für  die  Natu  rpji  ilosophie 
zu  demonstrieren,  so  ist  seine  Veröffentlichung  nicht  umsonst  ge- 
wesen und   verdient  es  schon  deshalb  eine  allseitige  Beachtung. 


} 


A 


Nameurcffister. 


Adickes  172,  188,  190,  192, 

22(i,  277,  405. 
Aenesidcmus  475. 
d'AU^mbert  7. 

Baco  V.  Verulam  257. 
Beck  457,  473,  475. 
Berkeley2I8,  219,  221,223. 
Biedermann,  A.  E.  437,  438. 
Blumenbach  428. 
Boerhave   102. 
Borowski  2,  3,  446. 
Büchner  'J94. 
Button  22. 
Busse  252. 

Cartesius  i,  7,  8,  9,  13,  51, 
52,  55,  03,  65,  70,  75,  79, 
82,95,  106,126,  176,180, 
220,  223,  245  346,  358, 
360,  368,  372. 

Clarke   110,  272. 

Clausius  3S. 

Cohen  227. 

Copernicus   15,   136,  401. 

Crusius  53,  55,  71,  75,  76, 
215. 

Czolbe  376. 

Dalton  358. 
Darwin  4  i, 
Demokrit  432. 
Descartes  s.  Cartesius. 
Dieterich  3,   113. 
Dowe  41. 
Dubüis-Keymoüd  370,  371. 


Eberhard  222. 
Epikur  17,  432. 
Erdmann,  Benno  2,  3,  4,  7. 
Euler  456. 

Fechner  37,  100,  326,  329, 

330,  356,  378. 
Feder  180. 
Fichte,  J.  G.  239,  457,  473, 

475,  482,  483,   492,  493. 
Fichte,  J.  H.  356. 
Fischer,  Kuno    21,   54,   78, 

143,  214,  315,  442,    452, 

453,  454,  456,  457,  459. 

Galilei  73,   136. 
Uarve  1«0,  445,  456. 
Gensichen  14,  447,  448. 
Grisebach  3(>7. 
Guericke,  ( ).   v.  73. 

Hiidlcy    II. 

Haeckel  380,  381,  430. 

Haensell  451. 

Halley  41. 

Hansen  36,  37. 

Hartenstein  5. 

Hartmann,  E.  v.  100,  161, 
166,  179,  204,  228,  243, 
245,  308,  309,  311,  319, 
326,  339,  353,  359,  371, 
372,  373,  374,  376,  37M, 
379,  3,^1,  iia  il8,  423, 
431,  436,  452. 

Hasse  446,  447,  449,  458. 

Haym  448. 


Hegel  30,    239,    245,    320, 

372,  441. 
Helmholtz  21,  3ö. 
Herbart  61,  266,  290,  373. 
Herder  29. 
Herschel  15,  20. 
Herz,  Marcus  125,132,215, 

216,  443. 
Hipi)arch  36. 
Horsley  22. 

Humboldt,  A.  V.  21,  32. 
Hume  78,    108,    HO,    126, 

127,  V1\S,  130,   133,   158, 

161,   165,  1.^1,  215,  226, 

439. 
Huygens  73. 

Jacob  217,  224. 
Jacobi  181,  182,  475. 
Jagielski  226,  306,  320,  357, 

358. 
Itelson  259. 

Kant,  Joh.  Heinr.  447. 

Keferstein  289,  456,  485. 

Keppler  lv5,  383. 

Kiesewetter  445. 

Knut/en  1,  2,  3,  13,  57,  58, 
59,  215. 

V.  Kirchmann  21,  271,  282, 
283,  285,  289,  290,  299, 
302,  315,  325,   400,   401. 

Krause,  Albr.  223,  242,  442, 
447,  453,  454,  455,  456, 
459,  477,  482,  483,  488, 
490. 


Laas  153,  155,  160,  161. 

Lambert  20,  124,  286. 

Lautre,  A.  297. 

Laplace,  21,  22. 

Leibniz  1,  2,  4,  5,  7,  8,  !), 
1<»,  IK  12,  13,  17,51,57, 
58,6(1,  61,62,63,65,  68, 
70,  75,  .S7,  88,  102,  106, 
107,  los,  110,  UM,  114, 
115,  117,  118,  lli),  120, 
170,  214,  301,  313,  .123, 
327,  346,  360,  378. 

Lessinpf  29. 

Liebmann  22. 

V.  Lind   100. 

Littrow  21. 

Locke  223,  225. 

Mainliinder  38. 
Malcbranehe  58,   123,   217. 
Mauj.ertuis  47,   102. 
Mayer,    Roh.  35,  36. 
Mendelssohn  IH),    lOG. 
Meyer,  .1.  B.  225,  227,  259. 
IMieiiaelis,  C.  Th.  143. 
Müller,  Juh.  223. 

Newtcm  3,  4,  5,  11,  I2,  13, 
15,  \^,  17,  Jl,  22,23,2(1, 
29,  30,  34,  35,  51,  57,  58, 
63,  6S,  71,  73,  95,  97,  106, 
HO,  122,  131,  170,  272, 
312,  31.3,  .iiw,  426,   462. 

Nicoli.i  'IW. 


Namenreorister. 

Paulsen,  Fr.  54,  78,  80,  100. 
Fertz  4. 

V.  PHug-Hartuna  4.%. 
Fistorius  214,  224. 
Plouccjuet  259,  282. 
Foelitz   P.M. 
FopTfieiidorf  41. 
du  Frei  100. 

Ileicke  4.50,  451,  452,  458. 
Heinhold  41.;,  4.5s. 
Reuschle  21,  .36,  .37,  41. 
Hink  .39. 
Hülf  .3.59. 

Schaarschmidt  65. 
Scdialler  257,  .337,  338. 
Schellinor  29,  75,  239,  246, 

369,  373,  41)3,  494. 
Schieiden  37. 
Schön  447,  451. 
Schopenhauer  21,  143,  151», 
161,  204,  307,  .371.   ;!7.3, 
378,  441,  482. 
Schubert  447,  456. 
Schütz  252,  404,  405. 
Schulte  446,  447,  44s,  452. 
Schnitze,  Fr.  44. 
Schwab  252,  2(11,  289,  .303. 
Simmel  66. 

S})inoza  52,  70,  79,  m,  ^^, 
95,  132,  181,  245,  432, 
433. 


497 

Stadler  76,  147,  252,  261, 

262,  268,  276,   289,  292, 

297,  302,  303,  304,  307, 

331,  337,  338,  342,  352, 

3«7,  388,  389,  .392,  394, 
39.5,  401. 

Stahl,  10.3,   1.37. 

Stein  259. 

Swedenl)or<?  99,  loo,  217. 

Tiedemann  477. 
Tieftrunk   12.:. 
Thiele  5i. 
Torricelli  7.1,   137. 
Trendelenburg'  214. 

Ueberweg  352. 

Vaihinger  lli,  214,  216, 
217,  224,  271,  455,  457, 
458,  472,  47.3,  477. 

Voltaire  88. 

Wasianski    i  ii;,  4. '»8. 
Wert  her  41. 
Windelband    lOO,    Mj. 
Woltr  1,  2.  6.    l.l,  60,  62. 
Wumlt  .357,  371,  37;5,  377, 
37ö. 

V.  Zedlitz  39,  41. 

Zellei-  1)^. 

Zeno   121. 

Zr.llner  21,  .3(i.  41.  :{S(i, 


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