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Full text of "Kant-Studien"

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KANT- 
STUDIEN. 


PHILOSOPHISCHE ZEITSCHRIFT 


UNTER MITWIRKUNG VON 
E. ADICKES, E. BOUTROUX, EDW. CAIRD, 
J. E. CREIGHTON, W. DILTHEY, B. ERDMANN, R. EUCKEN, M. HEINZE 
A. RIEHL, F. TOCCO, W. WINDELBAND 
UND MIT UNTERSTÜTZUNG DER ,KANTGESELLSCHAFT* 


HERAUSGEGEBEN VON 


D® HANS VAIHINGER um D BRUNO BAUCH 


PROFESSOR IN HALLE, PRIVATDOCENT IN HALLE, 


ZWÖLFTER. BAND. 


BERLIN, 

VERLAG VON REUTHER & REICHARD 
WILLIAMS & NORGATE, 1907. LEMCKE & BUECHNER, 
LONDON, NEW YORK, 

XL LE SOUDIER, CARLO CLAUSEN, 

PARIS, TORINO, 





INHALT. 


Kant und dle moderne Mathematik. (Mit Bezug auf Bertrand 
Russells und Louis Couturats Werke iiber die en 
der Mathematik). Von Ernst Cassirer . . 

Kant und die pentrwartie Aufashe der Panik: Von Fritz 
Medicus . . 5 aus 

Die Grenzen des Empirismus und des ‘Rationalismus in 
Kants Kritik der reinen Vernunft. Von Oskar Ewald 

Das Christusbild bei Kant. Von H. Staeps. . . . . 

Kant’s Critique of Judgment. Von W. B. Waterman . 

Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 
Aus dem Nachlass von Walter Zschocke, heraus- 
gegeben von Heinrich Rickert . . 

Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoretiachon 
Verhältnis. Von Bruno Bauch . . . Er. 

Kuno Fischer +. Von Bruno Bauch. . . 

Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. Von Obkar Ewald 

Kants Lehre vom radikalen Bösen. Von Gottfried Fittbogen 

Die unabhängigen Realitäten. Von Alois Höfler. . . . 

Sinnlichkeit und Denken, ein Beitrag zur Kantischen Ee 
kenntnistheorie. Von Felix Kuberka. 3 

Aus Hegels Frühzeit. Von Anton Thomsen . . . . . 

Kant und Fries. Von W. Reinecke . . 

Neue Darstellung und Deutung der Lehre Kants vom | Glauben. 
Von E. Singer. . 

Eine neue Ausgabe der Werke | Nietzsches. Von Bruno 
Bauch. . . 

Der 7. Band der Berliner Kant- "Ausgabe. Vou E. Y. Aster 


Recensionen: 

Raya, Adolfo, I cémpiti della filosofia di fronte al diritto. 
Von Fritz Medicus 

Vorlinder, Karl, Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 
herausgegeben mit Einleitung, Personen- und Sachregister; 

— Kants Kritik der praktischen Vernunft, herausgegeben mit 
Einleitung, Personen- und Sachregister. Von RHénigswald 

valentines, Theodor, Kants Kritik der reinen Vernunft (revi- 
dierte Auflage). Von R. Hönigswald 

Höfler, Alois, Zur gegenwärtigen A tee Von W. 
Reinecke 





Inhalt, 


De RE SRE an und None Von W. 
einecke. . . 
Baumann, J., Welt- und Lebensansicht i in ihren Tealwissen- 
schaftlichen und philos. Grundlagen. Von W. Reinecke. 
Talbot, Ellen, Bliss, The fundamental principle of Fichtes 
philosophy. Von Fritz Medicus. . 
Delbou Victor Le philosoplie pratique de Kant. Von A, Messer 
Paulsen, ee eae David Hume, Dial über natürliche 
ion. Über Selbstmord und Unster! it der Seele. 
Ins deutsche übersetzt und u einer Einleitung versehen, 
Von R. Hönigswald 
Wyneken, Ernst Fr., Das Netix ite der Seele ned die 
menschliche Freiheit. Von H. Staeps . 
Schrader, Ernst, Elemente der Psychologie des "Urteils, 
I. Band: Analyse des Urteils. Von K. Denicuraiat RN 
Ben eus a PT pe ee a 
a träge zu Lösung. — Derselbe, 
Krilk der reinen Vernunft er in verkürzter 
Form (mit Abschnitten aus den Prolegomena) herausgegeben. 
— Derselbe, Kants Ethik und Religionsphilosophie. Aus; 
wählte Abschnitte aus: Grundlegung zur Metaphysik 
Sitten; Kritik der en Vernunft; Religion Tonschaib 
der Grenzen der blossen Vernunft, herausgegeben. = aye 
Bruno Bauch . 
Vorländer, K., Kant, Schiller, "Goethe. Von I. Cohn 
Hoffmann, A., René Descartes. Von B. Christiansen 
Dupréel, E., Essai sur les Catégories, Von P. Hauck . 
Böhm, P., Die vorkritischsn Schriften Kants, Von E. v. Aster 
Dorner, A., Individuelle und soziale Ethik, Von E. Franz . 
Falter, G., "Beiträge zur Geschichte der Idee. Teil I. Philon 
und Piotin. Von E. Franz . . . 
Raich, M., Fichte, seine Ethik und seine Stellung som Problem 
des Individualismus. Von O. Braun. . : 
Leclöre, A., Le mysticisme patholiane, et à l'âme ‘de Dante. 
Von K. Oesterreich . 


Selbstanzeigen: 
Hönigswald, Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methoden- 
lehre. S, 132. — Elsenhans, Kant und Fries, II. TI. 8. Frs 
— Talbot, The Fundamental ‘Principle of Fichtes Philosoph; 
S. 133, — Fischer, Die geschichtlichen Vorlagen zur Diale! tik 
in Kants Kr.d.r.V. S. 135, — Romundt, Der Professor: 
kant. S, 136, — Wernicke, Kant und kein Ende. S. 138. 
Habrucker, Rechtsempirie und Rechtstheorie. S. 139. 
Braun, Schellings Vorlsaan ger: über die Methode des aka 
Studiums. S. 140. — Derselbe, ‘Boch, geistige Wand- 
lungen von 1800—1810, S. ler hm, Die vorkritischen 
Schriften Kants. S.141.— Flü b sd. 
S. 141. — Derselbe, Religionsphi 
S. 142. 
= enson, Die Ursache der Widersprüche im chopenhauerschen 
feme (Schopenhauers Philosophie als | 
isler, Einführen in die Erkenn 
Eleutheropulos, infthrung in eine 
losophie, S. 256, — Weissfeld, Kants Gese 





Inhalt. 


S. 257. — Kern, Das Wesen des menschlichen Seelen- und 
Geisteslebens als Grundriss einer Philosophie des Denkens. 
S. 258. — Marcus, Die Philosophie des Monopluralismus. 
S. 259. — Camerer, Philosophie und Naturwissenschaft. 
S. 261. — v. Brockdorff, Die Geschichte der Philosophie 
- und das Problem ihrer Begreiflichkeit. S. 262. — Feugère, 
Lamennais avant l’,Essai sur l’Indiff&rence“, d’après des docu- 
ments inédits. S. 262. 
Levy, Kants Lehre vom Schematismus. S. 454. — Schultz, 
Die drei Welten der Erkenntnistheorie. S. 455. — Jacoby, 
Herders und Kants Ästhetik. S. 457. — Hoffmann, Die 
Umbildung der Kantischen Lehre vom Genie in Schellings 
System des transscendentalen Idealismus. S. 458. — Willems, 
Die Erkenntnislehre des modernen Idealismus. S. 459. 


Mittellungen: 

Eine Kantstatue von Johannes Schilling. S. 148. — Studien 

zur Geschichte des Protestantismus. S. 144. — Lan Ge- 

schichte des Materialismus. S. 145. — Hamanns Nachlass. 

S. 145. — Eine Kantstiftung. S. 145. 

Kant-Kritiken aus dem Jahre 1799. S. 268. — Ein unbe- 

kanntes Gedicht auf die Kantische Philosophie. S. 263. — 

Kants Grabstätte. S. 264. 

Ein ungedruckter Brief Kants. S. 460. — Berichtigungen. 460. 
Kantgesellschaft. III. Jahresbericht. 1906 . . . . . 
Mitgliederverzeichnis der Kantgesellschaft . . . . . 
Kantgeselischafti. Erste Preisaufgabe der Kan 

gesellschaft: Kants Begriff der Erkenntnis, ver- 

glichen mit dem des Aristoteles. Bericht der Preis- 
richterkommission über die zur Preisbewerbung eingegangenen 
Mew eee . . … 


Kantgesellschatt: Generalversammlung vom 22. April 1907 . 
Revidierte Statuten der Kantgeselischaft . . 


Register : 
Sach-Register . . . e . e . . ry . D . ® e e e e 
Personen-Register . . . . . . . . . 
Besprochene Kantische Schriften 
Verfasser besprochener Novitäten 
Verzeichnis der Mitarbeiter 


Seite 


146 
158 





Kant und die moderne Mathematik. 


(Mit Bezug auf Bertrand Russells und Louis Couturats Werke 
über die Prinzipien der Mathematik.) 
Von Ernst Cassirer, 


Das Schicksal und die Zukunft der kritischen Philosophie 
wird durch ihr Verhältnis zur exakten Wissenschaft bedingt. Wenn 
es geliinge, das Band zwischen ihr und der Mathematik und ma- 
thematischen Physik zu zerschneiden, so wäre sie damit ihres 
Wertes und Inhalts beraubt. Wie hier die geschichtlichen 
Wurzeln ihrer Entstehung liegen, so kann auch ihre Fortdauer 
nur durch diesen lebendigen Zusammenhang gesichert werden. 


Der Bestand ihrer Sätze bildet somit keinen fertigen und ein 
für alle Mal gesicherten Besitz, sondern er muss sich gegenüber 
den Wandlungen der wissenschaftlichen Überzeugungen und Be- 
griffe stets von Neuem rechtfertigen. Hier giebt es keine selbst- 
sicheren Dogmen, die auf ihre „unmittelbare Evidenz“ hin ange- 
nommen und für alle Zeiten festgestellt werden könnten: dauernd 
ist allein die Aufgabe der ständig erneuten Prüfung der wissen- 
schaftlichen Grundbegriffe, die für die Kritik zugleich zu strenger 
subjektiver Selbstprüfung wird. 

Von diesem Gesichtspunkt aus darf jeder Versuch einer lo- 
gischen Vertiefung und Klärung der Grundlagen der Mathematik 
von vornherein des grössten philosophischen Interesses gewiss 
sein, — gleichviel in welcher Tendenz er unternommen wird, 
Die Methode der Untersuchung allein kann über ihren wissen- 
schaftlichen Charakter entscheiden. Wenn die Grundfrage mit 
Sicherheit und Gründlichkeit erfasst, wenn ihre Verzweigungen in 
die besonderen Gebiete des Wissens mit voller Sachkunde verfolgt 
werden, so liegt, wie immer man über das schliessliche Ergebnis 
urteilen mag, schon in dieser Art der Forschung ein dauernder 
Gewinn. Alle diese Eigenschaften aber vereinen sich in Lonis 

Kantstndien XII. 7 





3 B. Cassirer, 


Couturats neuem Werke über die Prinzipien der Mathematik.!) 
Für alle die, die den erkenntniskritischen Diskussionen der letzten 
Zeit gefolgt sind, ist Couturat kein Fremder: verfolgt er doch 
seit einem Jahrzehnt in all seinen Schriften und Abhandlungen 
unablässig das Ziel, weitere philosophische Kreise für die Teil- 
nahme an den Errungenschaften der neueren Mathematik zu ge- 
winnen. Wie er sich in seinem Werke „De l'Infini mathématique**) 
vor allem die Aufgabe gestellt hat, den Cantorschen „transfiniten“ 
Zahlen das Bürgerrecht in der Philosophie zu erkämpfen, so hat 
er seither jede wichtige nenere Leistung auf dem Gebiet der 
mathematischen Prinzipienlehre mit ausführlichen und anregenden 
Kommentaren begleitet. Auch sein historisches Werk über Leibniz 
liegt wenigstens mittelbar in der Richtung dieser Studien, indem 
es an einem typischen geschichtlichen Beispiel die philosophische 
Fruchtbarkeit der mathematischen Logik, die Leibniz in seinem 
Gedanken der allgemeinen Charakteristik zuerst begründet hat, zu 
erweisen sucht.) Wenn Couturat nunmehr aus all diesen bis- 
herigen Arbeiten die Summe zieht und wenn er dabei überall zu 
schärfstem Widerspruch gegen die Grundgedanken der Kantischen 
Philosophie geführt wird, so fordert dieses Ergebnis eingehende 
Beachtung und Prüfung. Handelt es sich doch um einen Denker, 
der ursprünglich der kritischen Philosophie keineswegs fern 
stand, und der, wenn er manche ihrer besonderen Resultate be- 
kämpfte, doch ihre allgemeine Auffassung der Mathematik durch- 
aus zu teilen schien. Die Wahrheiten der Mathematik, selbst die 
der reinen Arithmetik, sind ihm, in seinen ersten Schriften, „syn- 
thetische Sätze a priori“. „Es war vielleicht nicht ohne Inter- 
esse, zu konstatieren* — so schreibt er in seiner Kritik der 
Schröderschen Definition der Zahl — „dass die übrigens sehr 
berechtigte Tendenz der modernen Mathematiker, die ursprüng- 
lichen Daten ihrer Wissenschaft auf rein logische Begriffe zurück- 
zuführen und die Rolle der „Anschauung“ so viel wie möglich 
einzuschränken, die Kantische Theorie der mathematischen 


1) Les Principes des Mathématiques, avec un appendice sur la philo- 
sophie des Mathématiques de Kant. Paris (F. Alcan) 1905. 

2) Paris (Alean) 1906. 3 

3) La Logique de Leibniz d'après des documents inédits. — Vgl. 
über dieses Werk das ausführliche kritische Referat in meiner Schrift 
„Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen“, Marburg 1902. 
8. 541—48. 





fant und die moderne Mathematik. 3 


Urteile, indem sie sie einer strengen Kontrole und einer Art 
Gegenprobe unterwirft, nur umsomehr bestätigt und festigt.“!) 
Wenn Couturat, wenige Jahre darauf, dahin geführt wird, in eben 
dieser Theorie den Grundmangel der kritischen Philosophie zu 
sehen, wenn er Kant vorwirft, dass seine gesamte Erkenntniskritik 
in einer beschränkten und engen Auffassung der Mathematik und 
ihres Geltungswertes wurzle, — so müssen es wichtige und be 
achtenswerte Motive sein, die diese Umkehr bewirkt haben. 


I. 


Wer den Fortschritten der modernen Mathematik auch nur 
von fernher mit philosophischem Interesse gefolgt ist, der muss 
von Bewunderung iiber die Kraft und Reinheit des begrifflichen 
Denkens erfüllt werden, die sich hier bekundet. Wenn es eine 
Zeit lang schien, als ob die Strenge der antiken Beweismethoden 
nach der Entdeckung der Infinitesimalrechnung verlassen und ver- 
dunkelt sei, so zeigte es sich im weiteren Fortschritt immer deut- 
licher, dass erst in dieser Erweiterung ihres Gesichtskreises die 
Mathematik ihre volle Freiheit und Sicherheit zu gewinnen ver- 
mochte. Wie die allgemeine Funktionentheorie, in der scharfen 
und strengen Bedeutung, die sie dem Begriff der Grenze gab, 
die Analysis auf ein festes Fundament stellte, so wurde auch die 
Geometrie durch die allgemeinere Fassung des Raumbegriffs zu 
immer tieferer Einsicht in den Zusammenhang und in die Not- 
wendigkeit der einzelnen Axiome geführt. Wenn früher, um eine 
Lücke im begrifflichen Beweisverfahren zu decken, auf irgend 
eine evidente „Anschauung“ zurückgegriffen wurde: so hat dieses 
Verfahren längst alles Recht verwirkt. Nur was sich aus den 
ersten Definitionen, aus den ursprünglichen Setzungen des Denkens 
in lückenloser deduktiver Folge gewinnen lässt, darf Anspruch 
auf Anerkennung erheben. So ist die neuere Mathematik im 
tiefsten platonischen Sinne des Wortes ,dialektisch“ geworden: 
ihre „Hypothesen“ sind ihr nicht beliebig aufgegriffene Ansatz- 
punkte, die sich nur in der bunten Fülle ihrer Folgerungen mittel- 
bar bewähren, sondern sie stellen die notwendigen und hinreichen- 
den gedanklichen Bedingungen dar, die ein bestimmtes Gebiet von 


1) „Sur une definition logique du nombre“. Revue de Métaphysique 
et de Morale VIII (1900). S. 86. ed 
1” 


4 E. Cassirer, 


Lehrsätzen vollständig begründen, die aber ihrerseits wieder nur 
dann als begründet gelten können, wenn es gelingt, sie aus all- 
gemeineren logischen Ursprungsbegriffen abzuleiten.1) 

Diese Grundtendenz, die sich bisher nur im Aufbau der be- 
sonderen mathematischen Disziplinen bethätigte, verlangt immer 
stärker nach einem einheitlichen philosophischen Ausdruck. 
Aus dieser Forderung heraus ist das Werk Bertrand Russells 
über die Prinzipien der Mathematik entstanden, das es — gestützt 
auf die Vorarbeiten Peanos und Cantors — zum ersten Male unter- 
nimmt, das Gesamtgebiet der modernen Mathematik nach einem 
strengen Plane darzustellen.?) In diesem Werke, das er all seinen 
Ausführungen durchweg zu Grunde legt, erblickt Couturat die 
Krönung und die Synthese aller kritischen Untersuchungen, mit 
denen die Mathematiker seit einem halben Jahrhundert beschäftigt 
sind. Hier sind Logik und Mathematik zu wahrhafter, fortan un- 
löslicher Einheit verschmolzen; und aus diesem ihrem inneren Zu- 
sammenhang erwächst für beide ein neuer Begriff ihrer Aufgabe 
und ihres Gegenstandes. Die Mathematik ist nicht länger — wo- 
für sie Jahrhunderte lang gehalten wurde — die Wissenschaft 
von Grösse und Zahl, sie erstreckt sich fortan auf alle Inhalte, 
in denen vollkommene gesetzliche Bestimmtheit und stetige deduk- 
tive Verknüpfung erreichbar ist. Analog erfährt die Logik, die 
bisher kaum irgend ein anderes Verhältnis, als die Subsumption 
eines bestimmten Subjekts unter einen umfassenden Prädikats- 
begriff betrachtete, eine Erneuerung und Erweiterung ihres Ge- 
haltes: sie wird zur allgemeinen Logik der Relationen, die 
die verschiedenen möglichen Grundtypen der Beziehung analysiert 
und auf ihre formalen Momente zurückführt. Dieser Aufgabe aber 
kann sie erst genügen, nachdem sie sich eine feste Zeichensprache 
geschaffen hat, in der sie die Grundbegriffe selbst und ihre Ver- 
knüpfungsformen zu fixieren und auszudrücken vermag. Die Um- 
wandlung der Logik in die „Logistik“ — wie Couturat fortan den 
symbolischen Logikkalkül benennen will — ist der entscheidende 
und notwendige Schritt, der ihr erst ihre positive wissenschaftliche 
Fruchtbarkeit sichert. 

Es kann hier nicht versucht werden, den Beweisgang, den 
Couturat einschlägt, um diese seine Grundthese zu erhärten, im 

1) Vgl. Platon, Republ. 511 A u. B. 


2 Bertrand Russell, The Principles of Mathematics, t. I (Cambridge 
University Press, 1903). 


Kant und die moderne Mathematik. 5 


Einzelnen zu verfolgen. Seine Schrift ist bereits eine knappe 
und prägnante Übersicht über die Probleme, die Russells ümfassen- 
des Werk ausführlich behandelt; man würde ihren Inhalt unkennt- 
lich machen, wenn man versuchen wollte, ihn von Neuem in einen 
kurzen Bericht zusammenzudrängen. Mathematische Entwickelungen 
können nicht im Auszug dargeboten werden: sie müssen als 
Ganzes erfasst und beurteilt werden. So muss es genügen, im 
Folgenden nur die leitenden philosophischen Gesichtspunkte 
aus Russells und Couturats Entwickelungen herauszuheben. Was 
den eigentlichen Logikkalkül angeht, der van Boole begründet, 
von Ernst Schroeder weitergebildet und ausgebaut worden ist, so 
lässt er sich im Ganzen unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten 
betrachten, je nachdem man die Elemente, die in die Formeln 
eingehen, als Begriffe oder als Urteile ansieht. Im ersteren 
Falle besteht die fundamentale logische Beziehung zwischen zwei 
Inhalten a und b darin, dass der eine als eine besondere Spezies 
des anderen betrachtet und unter ihn als Gattungsbegriff sub- 
sumiert wird: dass somit vom Standpunkt des Umfangs aus, die 
Klasse der a in der Klasse der b enthalten gedacht wird, während, 
vom Standpunkt des Inhalts aus, das Merkmal a als eine Be- 
dingung angesehen wird, die das andere Merkmal b notwendig 
nach sich zieht. Fasst man dagegen die beiden Glieder der Ver- 
knüpfung als Urteile auf, so bedeutet der Satz, dass a in b 
„eingeschlossen“ ist, (a <b), dass die Wahrheit des Urteils a 
diejenige von b verbürgt und mit sich führt.‘) Neben dem Kalkül 
der Urteile und dem der Klassen aber steht eine dritte Form, 
die für die logische Analyse der Mathematik von ungleich grösserem 
und allgemeinerem Werte ist. Es handelt sich um den Rela- 
tionskalkül, der namentlich in Russells Werk eine erweiterte 
und vertiefte Bedeutung gewonnen hat. Da wir es in der Mathe- 
matik beständig mit Beziehungen zu thun haben, so entsteht 
die Aufgabe, die verschiedenen Relationstypen gesondert zu stu- 
dieren und sie in bequemen und leicht zu handhabenden Symbolen 
zu verkörpern. Wenn Schroeder und Peirce hierbei davon ausge- 
gangen waren, die Relation selbst einzig durch ihre beiden Ter- 
mini definiert zu denken, wenn sie sie also lediglich durch 
„Paare“ von Elementen (x, y) (u, v) (z, w) bezeichneten, so 

1) Vgl, hierzu Couturats kurzes Handbuch über die Algebra der 
Logik, dus zur ersten Rinführung in den Logikkalkul vortrefflich geeignet 
ist, (L’Algébre de la Logique. Paris, Gauthier Villars, 1905.) 





6 E. Oassirer, 


schliesst dies, wie Russell hervorhebt, vom philosophischen Stand- 
punkt, einen Zirkel ein. Denn die Paare, die hier zur Be- 
stimmung der Relation verwendet werden, sind nicht als Klassen 
im gewöhnlichen Sinne zu behandeln, sondern schliessen eine be- 
stimmte Ordnung ein: da es z. B. nicht erlaubt ist, die beiden 
Glieder umzukehren, und an Stelle der Beziehung (x, y) die andere 
(y, x) zu setzen. Der Begriff der Ordnung selbst aber ist nur 
eine besondere Art der Beziehung, sodass diese Definition das 
Moment, das sie zur Bestimmung bringen will, implieit bereits 
voraussetzen muss. Nicht die „Klasse* ist somit der erste und 
ursprüngliche Begriff; sondern umgekehrt ist es die bestimmte 
Eigenart einer Relation, die es erst ermöglicht, feste Klassen 
zu setzen und abzugrenzen.') 

Es ist, wie mir scheint, in der That ein neuer und frucht- 
barer Gesichtspunkt, der hier von Russell in die Behandlung der 
formalen Logik eingeführt wird. Die gesamte „klassische“ Logik 
hat es seit Aristoteles mit nichts anderem als mit der Sub- 
sumption von Inhalten, mit der Über- und Unterordnung der 
„Sphären“ zweier Begriffe zu thun. Diese Fragestellung erklärt 
sich zwanglos aus den metaphysischen Grundlagen der ari- 
stotelischen Lehre: weil die höchste Wirklichkeit die der Sub- 
stanz ist, alles andere aber nur nachträglich und sekundär 
an ihr in die Erscheinung tritt, darum kann auch das Urteil, 
das keinen anderen Beruf hat, als die Verhältnisse des Seienden 
zu wiederholen und nachzubilden, nur von festen Subjekten 
ausgehen, um ihnen nacheinander verschiedene Prädikate zuzu- 
sprechen. Es ist ein merkwürdiges Geschick, dass diese Grund- 
anschauung, die, wie man sieht, im System des Aristoteles ihr 
Recht und ihre natürliche Stelle hat, die Lebenskraft dieses 
Systems selbst bei weitem überdauert hat. Von der Renaissance 
an beginnt in der Philosophie, wie in der Wissenschaft der 
Kampf gegen die substantielle Weltansicht. Immer deutlicher 
spricht sich die Erkenntnis aus, dass nicht die absoluten Sub- 
stanzen, sondern die Gesetze den eigentlichen Inhalt und Vor- 
wurf der wissenschaftlichen Forschung zu bilden haben. Kepler 
und Galilei arbeiten in Gemeinschaft mit Descartes an dieser 


1) Russell, §27—28; Couturat 8.27 f. — Das Werk von Russell wird 
im Folgenden durchweg nach der Paragrapheneinteilung, | 
Couturat nach der Seitenzahl eitiert, Hr 





Kant und die moderne Mathematik. 7 


neuen Einsicht.!) Aber je mehr die aristotelische Anschauung. in 
der Wissenschaft und in der allgemeinen Weltansicht zurück- 
gedrängt wird, um so unumschränkter bleibt ihre Herrschaft in 
der Logik. An diesem einen Punkte kann sich die scholastische 
Denkart, die überall sonst beständig an Boden verliert, dauernd 
behaupten. So erscheint die Syllogistik überall als das eigentlich 
reaktionäre und hemmeude Moment, Die Logik bleibt an den 
Gesichtspunkt der Substanz und somit an die Grundform des Urteils 
der Prädikation gebunden,?) während das lebendige wissenschaft- 
liche Denken immer deutlicher auf den Funktionsbegriff als 
seinen eigentlichen systematischen Mittelpunkt hinzielt. Man er- 
kennt in diesem Zusammenhang den Wert und die Notwendigkeit 
der neuen Grundlage, auf die Russell die Logik zu stellen sucht, 
Die Mathematik ist in seiner Darstellung nichts anderes als eine 
spezielle Anwendung der allgemeinen Logik der Relationen; der 
Relationsbegriff aber geht seinerseits auf den fundamentaleren 
Gedanken der „Funktionalität“ zurück.) Es ist für die ge- 
schichtliche und sachliche Problemlage charakteristisch, dass über- 
all, wo auf eine strenge deduktive Ableitung der mathematischen 
Prinzipien gedrungen wird, dieser Gedanke an die Spitze tritt. 


In diesem Sinne hat Dedekind versucht, die gesamte Arithmetik 
auf die einzige Operation der Beziehung und gegenseitigen 
Zuordnung von Inhalten zu gründen.) Überblickt man das 


1) Vergl. hierzu die ausführliche Darstellung in meiner Schrift „Das 
Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit“, 
Bd. I, Berlin 1906. 

®) Als Beweis dafür, wie sehr dieser Gesichtspunkt auch in der 
neueren Gestaltung der Logik noch herrschend geblieben ist, hätte Russell 
die eigentümlichen Schwierigkeiten anführen können, die die Logiker 
sich mit der Darstellung und Einordnung der sog. ,Impersonalien* ge- 
macht haben. Das Problem, das man hier gesehen hat, verschwindet, so- 
bald allgemein eingesehen ist, dass es grosse Klassen von Urteilen giebt, 
die sich dem gewöhnlichen Schema, kraft dessen einem bestimmten „Sub- 
jekt* eine Eigenschaft als Prädikat beigelegt wird, in keiner Weise ein- 
fügen lassen, dass vielmehr dieses Schema gerade gegenüber den wich- 
tigsten Grundurteilen der Mathematik versagt. — Vgl. Russell §§ 214, 
215, 426 u. s. 

3) Über die allgemeinste Bedeutung des Funktionsbegriffs vgl. 
Russell § 254 sowie Revue de Métaphysique XIII (1905), 906 ff, 

4 „Verfolgt man genau, was wir bei dem Zählen der Menge oder 
Anzahl von Dingen thun, so wird man auf die Betrachtung der Fähigkeit 
des Geistes geführt, Dinge auf Dinge zu beziehen, einem Ding ein 





8 E. Cassirer, 


Ganze dieser Entwickelungen, so kann man schon hier, in den 
ersten Anfängen, ein vorläufiges Urteil über den Wert der „Lo- 
gistik“ fällen. Wie immer man über ihre Bedeutung für die Ge- 
samtheit der philosophischen Probleme denken mag: es lässt 
sich nicht leugnen, dass sie die „formale Logik“ erneuert 
und sie wiederum mit dem Lebenssaft der Wissenschaft erfüllt 
hat. Auch mit Rücksicht auf die Kantische Lehre ist dieses 
Ergebnis von Wichtigkeit. Die Logistik kann — aus Gründen, 
die später entwickelt werden sollen — die „transscendentale* 
Logik niemals verdrängen oder ersetzen; aber es ist nicht zu 
bezweifeln, dass sie in ihrer modernen Gestalt für die eigentlichen 
erkenntniskritischen Probleme reichere Anregungen bietet und 
einen sichereren „Leitfaden“ enthält, als Kant ihn in der tradi- 
tionellen Logik seiner Zeit besass. 


IL. 


1. Der konstraktive Aufbau der mathematischen Prin- 
zipienlehre beginnt bei Russell und Couturat mit einer eingehenden 
Zergliederung des Zahlbegriffs. Die Ansicht zwar, die hier 
das einzige Fundament der Mathematik sieht, und die es unter- 
nimmt, das gesamte Gebiet der Analysis aus dem blossen Begriff 
der Zahl, ja der ganzen Zahl, aufzubauen, darf heute, wie beide 
betonen, als überwunden gelten. Die modernen Mannigfaltigkeits- 
untersuchungen, sowie die Gruppentheorie lassen klar erkennen, 
dass es dem wahren Charakter der Mathematik widerstreitet, wenn 
man sie auf das Gebiet der Quantität einzuschränken sucht. 
Die Mathematik ist — nach einer Definition, die Gregor Itelson 
vorgeschlagen und die Couturat angenommen hat!) — „die 
Wissenschaft der geordneten Gegenstände“: sie erstreckt sich auf 
alle qualitativen Beziehungen überhaupt, sofern sie nach einer 
strengen begrifflichen Regel erkennbar sind. Es entspricht somit 


Ding entsprechen zu lassen, oder ein Ding durch ein Ding abzu- 
bilden, ohne welche Fähigkeit überhaupt kein Denken möglich ist. Auf 
dieser einzigen auch sonst ganz unentbehrlichen Grundlage muss nach 
meiner Ansicht...die gesamte Wissenschaft der Zahlen errichtet werden.“ 
(Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen? 2. Aufl. Braunschweig 
1893, S. VIII.) 

1) S. Couturats Bericht über den Genfer Philosophen-Kongress, 
Rev. de Métaphys, XII (1904), 


Kant nnd die moderne Mathematik. 9 


dem logischen Rangverhältnis der Probleme, wenn wir — im 
Gegensatz zu der Darstellung Russels und Couturats — sogleich 
den Begriff der Ordnung an die Spitze stellen und erst von ihm 
aus den Zugang zum Begriff der Zahl zu gewinnen suchen.!) 

Hierbei gilt es zunächst, die allgemeinsten Bestimmungen zu 
betrachten, die der Logik der Relationen zu Grunde liegen.?) In 
jeder Relation zwischen zwei Gliedern x und y bietet sich zu- 
nächst ein Unterschied des „Sinnes“ dar, je nachdem wir die Be- 
ziehung von x zu y oder die entgegengesetzte von y zu x ins 
Auge fassen; wir werden — wenn wir die erstere Beziehung mit 
x Ry bezeichnen — die zweite als ihre Umkehrung oder ihre 
„converse“ Relation auffassen und durch das Symbol y Rx zum 
Ausdruck bringen. Die Elemente, zwischen denen eine bestimmte 
Relation stattfindet, zerfallen nun in zwei Klassen, deren erste 
die „sich beziehenden“, deren zweite die „bezogenen“ Glieder 
oder, mit anderen Worten, die Vorder- resp. die Hinterglieder der 
Relation (,referent“ und „relatum“) umfasst. Bezeichnen wir 
jetzt als den „Bereich“ (domain) einer Beziehung R den Inbegriff 
ihrer Vorderglieder, so wird der Inbegriff ihrer Hinterglieder den 
Bereich der zugehörigen conversen Beziehung R ausmachen: die 
Gesamtheit der Vorder- und Hinterglieder soll das „Gebiet“ (field) 
der betreffenden Beziehung genannt werden. Eine Relation (x Ry) 
heisst „symmetrisch“, wenn sie mit ihrer Umkehrung identisch 
ist, d. h. wenn x Ry stets und notwendig y Rx nach sich zieht, 
sie heisst „nicht-symmetrisch“, sobald dies nicht der Fall ist und 
„asymmetrisch“, sobald aus x R y die Unmöglichkeit vony Rx 
hervorgeht. Wir bezeichnen sie ferner als „transitiv“, wenn 
daraus, dass sie zwischen je zwei Gliedern x und y und y und z 
besteht, stets auch ihre Geltung für x und z folgt, während sie 
im entgegengesetzten Falle als „nicht-transititiv“ oder, wenn das 
Zusammenbestehen von xRy und yRz mit xRz nicht nur 
nicht notwendig, sondern unmöglich ist, als „intransitiv“ be- 
zeichnet wird.) 


1) Auf die logische Definition der Kardinalzahlen, insbesondere 
der Null und der Eins, die ein schwieriges und strittiges Kapitel der Lo- 
gistik bildet, soll hier nicht eingegangen werden; ich denke in anderem 
Zusammenhang auf sie zurückzukommen. 

2) Zum Folgendem vgl. Russell $ 94 ff; Couturat S. 27 ff. 

®) Als bequeme Beispiele für diese verschiedenen Relationstypen 
führt Russell ($ 208) die mannigfachen Verwandtschaftsbeziehungen an: 





10 E. Cassirer, 


Nachdem diese allgemeinen Festsetzungen getroffen sind, 
können wir den Begriff der Ordnung schärfer umgrenzen. Wir 
müssen zunächst erkennen, dass die Ordnung in einer bestimmten 
„Schar“ von Elementen niemals schon als fertige Eigenschaft an 
den einzelnen Elementen selber haftet und mit ihnen mitgegeben 
ist, sondern dass sie erst durch die erzeugende Relation, aus 
der die einzelnen Glieder hervorgehen, bestimmt wird. Mit dieser 
Relation ist auch ihr „Gebiet“ und somit der Inbegriff der Ele- 
mente gegeben; nicht aber bestimmt umgekehrt das Gebiet die 
Art und den Charakter der Relation (Russell $ 231). Wir werden 
somit vor allem die verschiedenartigen erzeugenden Relationen, 
aus denen irgendwelche geordnete Reihen sich ergeben können, 
ins Auge zu fassen und näher zu zergliedern haben, Diese Ana- 
lyse, die Russell im Einzelnen durchführt, führt nun insofern zu 
einem einfachen Ergebnis, als sich zeigt, dass jede bestimmte 
Ordnung im letzten Grunde stets auf eine transitive und asym- 
metrische Beziehung zurückzuführen und in ihr erschöpfend 
darzustellen ist (Russell $ 195 ff). Betrachten wir nun zwei ge- 
ordnete Folgen u und v, so werden wir sie „ähnlich“ nennen, 
wenn zwischen ihnen eine eindeutige und umkehrbare Entsprechung 
der Art besteht, dass, wenn in der Folge u ein Element a, einem 
anderen b; vorangeht, auch in v das entsprechende Element a 
dem entsprechenden b, vorangeht. Genauer gesprochen, betrifft 
diese Definition der Ähnlichkeit nicht sowohl die Inbegriffe u und 
v selber, als ihre erzeugenden Relationen: zwei Relationen P 
und Q heissen ähnlich, wenn zwischen ihren beiderseitigen Ge- 
bieten eine eindeutige und umkehrbare Entsprechung von der 
Art besteht, dass zwei Elementen, die in der Beziehung P stehen, 
stets zwei andere entsprechen, die zueinander die Beziehung Q 
besitzen. Bezeichnen wir die beiderseits eindeutige Relation, 
kraft deren die Glieder von u denen von v zugeordnet sind, mit 
8, so können wir uns das Verhältnis in folgendem schematischem 
Bilde veranschaulichen: 

a, Ph Py Pd... 
Oras s Ss 
% QQ Qh... 


so ist die Beziehung zwischen ,Geschwistern* symmetrisch und transitiv, 
die Beziehung „Bruder“ nicht symmetrisch, aber transitiv; die Beziehung 
„Nachkomme“ asymmetrisch und transitiv, die Beziehung „Vater“ asym- 
metrisch und intransitiv u. 8, w. 





Kant und die moderne Mathematik. it 


Da ferner die Relation der Abnlichkeit kraft ihrer Definition 
symmetrisch und transitiv ist, so werden alle Reihen, die irgend 
einer ursprünglichen Reihe ähnlich sind, damit auch untereinander 
in bestimmter einzigartiger Weise verknüpft: wir können sie so- 
mit sämtlich — sofern sie die Eigenschaft besitzen, sich unter 
Wahrung der Ordnung ihrer Elemente wechselseitig eindeutig 
einander zuordnen zu lassen — unter einen gemeinsamen Begriff 
befassen, indem wir ihnen denselben ,Ordnungstypus“ zu- 
sprechen. — 

Die Untersuchungen der bedeutendsten modernen Mathe- 
matiker — insbesondere die Theorieen von Helmholtz, Kronecker 
und Dedekind — haben gezeigt, dass es zur Begründung der 
gesamten Arithmetik genügt, wenn wir die natürliche Zahlenreihe 
lediglich als eine Folge von Elementen definieren, die durch eine 
bestimmte Ordnung miteinander verknüpft sind, — wenn wir 
also die einzelnen endlichen Zahlen, ohne sie als „Vielheiten“ von 
Einheiten zu betrachten, lediglich durch die „Stellung“, die ihnen 
innerhalb der Gesamtreihe zukommt, charakterisiert denken, Die 
elementaren Rechnungsoperationen, wie Addition und Multiplikation, 
können unter dieser Voraussetzung definiert und ihre formalen 
Eigentümlichkeiten, wie das associative und kommutative Gesetz, 
vollständig bewiesen werden.*) Auch die Verallgemeinerung des 
Zahlbegriffs lässt sich durchaus innerhalb dieser Grenzen voll- 
ziehen und erklären. Was zunächst die Brüche angeht, so 
handelt es sich in ihnen nicht sowohl um ein neues Gebiet von 
Zahlobjekten, als vielmehr um Ausdrücke für bestimmte Opera- 
tionen, die wir innerhalb der ganzen Zahlen vollziehen: also um 
„Verhältnisse“ oder Relationen, die zwischen ganzen Zahlen statt- 
finden. Analog ergiebt sich der Unterschied positiver und nega- 
tiver Zahlen, sobald wir darauf achten, dass die erzeugende Re- 
lation, aus der die Glieder der natürlichen Zahlenreihe entstanden 
sind, wie jede Beziehung doppelseitig ist, und eine Verschieden- 
heit des ,Sinnes“ einschliesst. (Siehe oben S. 9.) Nennen wir 
R die beiderseitig eindeutige Relation, die zwischen einer Zahl 
und der ihr zunächst folgenden besteht, so ist unmittelbar mit 
ihr auch ihre Umkehrung R (d.h. die Beziehung, die zwischen 


1) Vgl. bes. Helmholtz, Zählen und Messen, erkenntnistheoretisch 
betrachtet, sowie Kronecker, Über den Zahlbegriff (Philosoph. Aufsätze: 
Ed. Zeller zu seinem 50jähr, Doktorjubiläum gewidmet, Leipzig 1887). _ 








12 E. Cassirer, 


einer Zahl und der ihr vorangehenden stattfindet) gegeben. 
Die positive Zahl + a soll alsdann die Operation anzeigen, die 
der Relation R* entspricht, während die negative Zahl — a die 
Operation angiebt, die der ,conversen“ Relation R* entspricht: 
die erstere besagt somit, mit anderen Worten, dass man in der 
Zahlenreihe um a-Stellen fortschreiten, die letztere, dass man in 
ihr um a-Stellen zurückschreiten soll.) Diese Erklärung entspricht, 
wie Couturat betont, völlig der populären Auffassung des Nega- 
tiven und den anschaulichen Beispielen, die man von ihm zu geben 
pflegt: aber sie ist nichtsdestoweniger auf den reinen Begriff der 
Relation gegründet und somit von jeder geometrischen Betrachtung 
und jeder Anschauung unabhängig.?) 

2. Die gleiche Erwägung bestätigt sich in der Betrachtung 
der Irrationalzahl, in deren Einführung Russell und Couturat 
im wesentlichen der bekannten Dedekind’schen Erklärung folgen, 
nach welcher die Irrationalzahl durch den „Schnitt“, den sie 
innerhalb der Reihe der rationalen Zahlen hervorbringt, definiert 
wird. Betrachten wir zunächst eine beliebige rationale Zahl a, 
so sehen wir, dass durch sie das Ganze der übrigen Rationalzahlen 
in zwei Klassen A, und A, geteilt wird, von denen die erste 
alle Zahlen umfasst, die kleiner als a sind, während die zweite 


1) Couturat S. 80; vgl. hierzu besonders die Ausführungen von 
Natorp in der ,,Bibliothéque du congrès international de Philosophie“: 
„Nombre, Temps et Espace dans leurs rapports avec les fonctions primi- 
tives de la pensée“ $ 20. S. auch die Ableitung der negativen Zahlen in 
Natorps „Logik in Leitsätzen zu akadem, Vorlesungen“, Marb. 1904, § 23. 

2) Mit diesen Sätzen giebt Couturat die Ansicht auf, die erin seinem 
Werke „De l'Infini mathématique“ verfochten hatte: dass nämlich die ne- 
gativen und die irrationalen Zahlen nur als Symbole konkreter Grössen 
zu verstehen seien, und dass somit die Verallgemeinerung der ganzen Zahl 
keine natürliche und spontane Entwickelung ihrer Idee, sondern ihr von 
aussen durch die Rücksicht auf die kontinuierliche Grösse aufgezwungen 
sei (a. a. O. S.179 u. d.). Dagegen scheint es allerdings an einer späteren 
Stelle, als solle diese frühere Auffassung wieder in ihr Recht treten, da 
hier ausdrücklich gelehrt wird, dass die Erweiterung des Zahlbegriffs 
nicht aus einer immanenten Notwendigkeit, sondern aus der Idee der 
Grösse stammt (S. 116). Ich vermag indes diese Auffassung mit der 
Grundtendenz, von der Couturats Werk beherrscht wird, nicht zu ver- 
einen: denn da nach Couturat die Grösse ein empirisches Element ein- 
schliessen soll, so würde auch die Zahl, sofern sie sich auf sie stützt und 
sie voraussetzt, in die gleiche Bedingtheit hineingezogen; sie wäre somit 
nicht mehr aus rein „logischen Konstanten“ ableitbar, 





Kant und die moderne Mathematik. 13 


alle diejenigen, die grösser als a sind, in sich enthält, sodass 
weiterhin auch jede Zahl der Klasse A, kleiner als jede Zahl der 
Klasse A, ist. Bewirkt somit jede rationale Zahl einen „Schnitt“ 
der Zahlenreihe, so gilt doch nicht der umgekehrte Satz, da es, 
wie man sich leicht überzeugt, unendlich viele Schnitte der 
Zahlenreihe giebt, die durch keine Rationalzahl hervorgebracht 
werden. Sei z. B. D eine positive ganze Zahl, die aber nicht das 
Quadrat einer ganzen Zahl sein soll, so giebt es eine positive 
ganze Zahl À von der Art, dass ?<D<(+1)%. Nimmt 
man also in die erste Klasse A, jede positive rationale Zahl auf, 
deren Quadrat <D ist, in die zweite Klasse A, dagegen alle 
übrigen rationalen Zahlen, so ist damit wiederum eine voll- 
ständige Einteilung des gesamten Systems der Ratio- 
nalzahlen gegeben, ohne dass sich doch — da es keine rationale 
Zahl giebt, deren Quadrat gleich D wäre — in diesem System 
selber ein Element aufweisen liesse, das diese Einteilung bewirkte 
und dass somit grösser als alle Zahlen der ersten und kleiner als 
alle Zahlen der zweiten Klasse wäre.!) Trotzdem weisen alle 
diese Schnitte, wenn man sie untereinander und mit den übrigen, 
durch Rationalzahlen hervorgebrachten Einteilungen vorgleicht, 
eine eindeutige und vollständige Bestimmtheit auf, sodass sie 
sich sämtlich voneinander unterscheiden und gemäss der Art, 
wie sie aufeinander folgen, in eine Reihe ordnen lassen, Damit 
aber — und dies ist der entscheidende logische Gesichtspunkt — 
haben wir an ihnen genau diejenigen Momente wiedergefunden, 
die auch das wesentliche begriffliche Charakteristikum der uns 
bisher allein bekannten Rationalzahlen ausmachen: wir sind somit 
berechtigt, fortan nur diese allgemeine Eigentümlichkeit festzu- 
halten und überall dort, wo sie vorliegt, eine neue Zahl durch sie 
definiert anzusehen. Während wir anfangs von gegebenen 
Zahlen ausgingen und an ihnen bestimmte Merkmale feststellten, 
erschaffen wir jetzt umgekehrt, wo immer uns eine analoge 
Bestimmtheit entgegentritt, für ihren Ausdruck ein neues 
Zahlensymbol. Wir sehen somit, dass wir, um zum Begriff der 
Irrationalzahl zu gelangen, nirgends auf die anschaulichen geo- 
metrischen Verhältnisse der Grössen zu reflektieren brauchten, 
sondern vielmehr dieses Ziel innerhalb des rein arithmetischen 


1) Dedekind, Stetigkeit und irrationale Zahlen, 2. Aufl, Braun- 
schweig 1892, $ 4. 





À. Oassiret, 


Gebietes zu erreichen vermochten.:) Die Zahl bedeutet, als reine 
Ordnungszahl angesehen, ihrem ganzen Inhalt nach nichts anderes 
als eine „Stelle“: ist somit eine notwendige und konsequente 
Weiterführung, dass wir überall dort, wo es uns gelingt, kraft 
einer bestimmten begrifflichen Vorschrift eine Stelle als einzelne 
zu fixieren, umgekehrt eine neue Zahl als „gegeben“ betrachten. 
Denn Gegebenheit kann hier, wo wir uns ganz im Bereich rein 
ideeller Setzungen bewegen, nichts anderes bedeuten, als völlige 
logische Bestimmtheit, als die Eindeutigkeit einer gedanklichen 
Operation.?) 


1) Um die Stetigkeit des Gebietes der reellen Zahlen zu definieren, 
war Dedekind ursprünglich von der Betrachtung der Punkte auf einer 
Geraden ausgegangen, um erst nachträglich die begrifflichen Bestimmungen, 
die er hier verwirklicht fand, in die Sprache der reinen Arithmetik zu 
übersetzen. Wenn somit auch bei ihm geometrische Betrachtungen die 
erste Anregung gebildet haben, so gehen sie doch — wie er später mit 
Recht hervorgehoben hat — nicht als logische Gründe in die Ableitung 
der Irrationalzahl ein; diese bleibt vielmehr ohne jede Einmischung der 
messbaren Grössen in sich völlig verständlich und zureichend. 

2 Ich habe in der obigen Darstellung von der Änderung, die Russell 
an Dedekinds Theorie vorgenommen hat, abgesehen, da sie mir in rein 
logischer Beziehung kein wesentlich neues Moment zu enthalten scheint. 
Nach Russells Anschauung wird, wenn irgend eine vollständige Einteilung 
des Gebietes der Rationalzahlen in eine „untere“ und eine „obere“ Klasse 
gegeben ist, nicht sowohl eine einzelne Zahl postuliert, die diesen 
„Schnitt“ hervorbringt, als vielmehr der Inbegriff aller Elemente der 
unteren Klasse betrachtet. Bei den Einteilungen des Systems der Ratio- 
nalzahlen kann nun ein doppelter Fall eintreten: sofern einmal die Glieder 
der unteren Klasse sämtlich kleiner als eine bestimmte Rationalzahl 
sind, während sie ein anderes Mal zwar nicht kleiner als ein einzelner 
Wert, aber kleiner als eine bestimmte Klasse von unendlich vielen ra- 
tionalen Werten sind. In beiden Fällen betrachten wir lediglich die Ge- 
samtheit derjenigen Glieder, die der kleineren Klasse angehören, und be- 
zeichnen jede dieser Gesamtheiten durch eine „reelle Zahl“, sodass diese 
letztere also in jedem Falle eine ,Zahlenstrecke“, einen unendlichen 
Inbegriff rationaler Zahlen bedeuten soll. Auch in die nführung liegt 
indessen der Nery des ganzen Gedankenganges darin, dass die so ge- 
schaffenen Zahlenstrecken miteinander vergl 
irgend zwei verschiedene von ihnen gegeben 
anderen als „Teil“ enthalten ist; dass wir somit 
faltigkeit der Hablauntegcken: in eine Reihe. ordn 


in ihrer Funktion, eine mögliche Eint 
zahlen und damit eine mögliche „Stelle‘ 





Kant und die moderne Mathematik. 15 


Dedekind selbst spricht das entscheidende Ergebnis seiner 
Theorie dahin aus, dass ,der Mensch ohne jede Vorstellung von 
messbaren Grössen, und zwar durch ein endliches System ein- 
facher Denkschritte, sich zur Schöpfung des reinen stetigen Zahlen- 
reiches aufschwingen“ könne, und dass es ihm erst mit diesem 
Hilfsmittel möglich werde, „die Vorstellung vom stetigen Raume 
zu einer deutlichen auszubilden“.?) Die gleiche Grundansicht ist 
es, die auch in den Definitionen des Continuums, die Georg Cantor 
fortschreitend entwickelt hat, zu immer schärferer Ausprägung 
gelangt ist. Nicht die „Anschauung“ des Raumes oder der Zeit 
ist es, in der wir die Erklärung und Begründung der Stetigkeit 
zu suchen haben, sondern umgekehrt können wir zum eigentlichen 
Verständnis des räumlichen und zeitlichen Continuums erst dann 
gelangen, wenn wir den allgemeinen Begriff der Stetigkeit zuvor 
entwickelt und auf einen klaren logischen Ausdruck gebracht 
haben.?) Gelingt es, diese Auffassung durchzuführen, so wäre 
damit in der That dem „reinen Denken“ ein Gebiet erobert, das 
— seit den Zenonischen Aporien — immer wieder als seine 
Schranke und als sein Widerpart erschien. An diesem Punkte, 
der für Russells und Couturats Beweisführung eine entscheidende 
Instanz darstellt, müssen wir daher länger verweilen. Mit Recht 
hebt Couturat es als eines der wesentlichen Verdienste von Cantors 
Erklärung hervor, dass sie nicht nur auf alle besonderen sinn- 
lichen Daten, sondern selbst auf den reinen Begriff der Grösse 
verzichtet, um lediglich den allgemeinen Begriff der Ordnung zu 
Grunde zu legen. Wir können von einem stetigen Zusammenhang 
von Elementen selbst dann sprechen, wenn wir lediglich ihre 
wechselseitige Stellung und Abfolge betrachten, ohne zwischen 
ihnen irgend eine metrische Beziehung des Abstandes anzu- 
nehmen. Um dies im Einzelnen zu erweisen, muss zunächst — 
wie es übrigens dem geschichtlichen Gang von Cantors Unter- 


tion zur Setzung eines eigenen gedanklichen Inhalts Anlass giebt, ist 
freilich ein Vorgang, der von höchstem erkenntnistheoretischen Interesse 
ist; — das Recht dieser logischen „Ablösung“ eines Denkinhalts von der 
Beziehung, in der er ursprünglich wurzelt, aber kann nicht bestritten’ 
werden, da hier eine allgemeine Voraussetzung vorliegt, die insbesondere 
die mathematische Begriffsbildung überall beherrscht. 

1) „Was sind und was sollen die Zahlen ?“ S. XIII. 

2) Georg Cantor, Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeits-. 
lehre, Leipzig 1883, S. 29. | 


16 E. Cassiret, 


suchungen entspricht — die ,metrische“ Definition des Continuums 
festgestellt und sodann die Umformung aufgezeigt werden, kraft 
deren sie von allen Grössenbegriffen befreit und in eine rein 
„ordinale* Erklärung übergeführt werden kann. Eine Mannig- 
faltigkeit ist, nach Cantors früheren Erklärungen, als stetig anzu- 
sehen, wenn sie „perfekt“ und ,zusammenhängend“ ist. Die 
letztere Bedingung ist für eine Menge T dann erfüllt, wenn für 
je zwei ihrer Punkte t und t’ bei vorgegebener beliebig kleiner 
Zahl e immer eine endliche Anzahl Punkte t,, ts, ...t, von T 
vorhanden ist, sodass die Entfernungen tt}, tite, tats, . . . t t’ 
sämtlich kleiner sind als e;!) wenn also zwischen zwei Punkten 
niemals ein endliches Intervall besteht, dem kein Punkt der Menge 
mehr angehört. „Perfekt“ dagegen heisst eine Menge, wenn alle 
ihre Punkte Grenzpunkte sind und wenn sie ferner alle ihre 
Grenzpunkte selbst enthält.?) Die Erklärung der Stetigkeit läuft 
also auf diejenige des „Grenzpunktes* hinaus. Nun heisst ein 
Punkt x der Grenzpunkt einer Menge T, wenn sich, — gleichviel 
ob er selbst T angehört, oder nicht — in seiner Nachbarschaft 
jedenfalls unendlich viele Punkte angeben lassen, die der Menge 
angehören: wenn sich also für jede vorgegebene beliebig kleine 
Zahl e zum Mindesten ein Punkt von T angeben lässt, dessen 
Abstand von x kleiner als e ist. Man sieht, dass beide Attribute, 
die hier in die Erklärung der Stetigkeit eingehen, dass sowohl die 
Definition der „perfekten“ wie der „zusammenhängenden“ Menge 
den Begriff der Grösse und des Grössenabstandes notwendig 
einschliessen. 

Soll diese Bestimmung eliminiert werden, so muss eine 
veränderte Fassung des Grenzbegriffs eintreten. Betrachten wir 
vorerst das Ganze der rationalen Zahlen, so haben wir hier 
einen Inbegriff vor uns, der durch drei wesentliche Eigenschaften 
charakterisiert ist: er ist abzählbar (sofern sich alle seine Ele- 


1) G. Cantor, a. a. O. S. 31 f. 

2) Das System der rationalen Zahlen R erfüllt die erste Be- 
dingung, ohne der zweiten zu genügen: alle seine Punkte sind Grenz- 
punkte, — da sich, wenn eine bestimmte rationale Zahl gegeben ist, in 
jeder noch so kleinen Entfernung von ihr andere rationale Zahlen angeben 
lassen —; dagegen giebt es unendlich viele Reihen rationaler Zahlen, deren 
Grenze nicht dem System R selber angehört. (Auf die Modifikation der 
Cantorschen Erklärung, die durch Russells Begriffsbestimmung des Irratio- 
nalen notwendig wird, soll hier der Kürze wegen nicht eingegangen 
werden. Vgl. hierzu Russell § 274 f.) 


Kant und die moderne Mathematik. 17 


mente den Gliedern der natiirlichen Zahlenreihe eindeutig zuordnen 
lassen),!) er besitzt weder ein erstes, noch ein letztes Glied, 
und er ist „überall dicht“, sofern sich zwischen zwei noch so 
nahen Rationalzahlen immer wieder eine Rationalzahl angeben 
lässt. Diese drei Merkmale — die, wie sich zeigen lässt, ledig- 
lich die Ordnung der Elemente untereinander angehen — kon- 
stituieren einen bestimmten Ordnungstypus 7, der somit nach 
einer früheren Erklärung auch jedem Inbegriff, der dem System 
der rationalen Zahlen „ähnlich“ ist, zuzusprechen ist (vgl. o. S. 11). 
Legen wir nun irgend eine Menge E vom Ordnungstypus 7 zu 
Grunde und greifen wir aus ihr eine beliebige unendliche Folge von 
Gliedern heraus, von denen wir der Einfachheit halber annehmen 
wollen, dass sie alle in aufsteigender Ordnung aufeinander folgen, 
so sagen wir von einer derartigen „Fundamentalreihe“ S, dass 
sie eine Grenze besitzt, wenn es in der Menge E ein Glied giebt, 
das das erste nach allen Gliedern von S ist. Das Glied x heisst, 
mit anderen Worten, die Grenze der Fundamentalreihe S, wenn 
alle Elemente der Reihe „unter“ x bleiben, wenn aber anderer- 
seits jedes Element von E, das x vorangeht, von den Gliedern 
der Reihe S schliesslich irgend einmal überschritten wird; — 
wobei, wie wir festhalten müssen, nirgends von der „Entfernung“ 
der einzelnen Glieder die Rede ist, sondern lediglich die Ordnung 
ihrer Abfolge ins Auge gefasst wird. Nachdem diese Festsetz- 
ungen getroffen sind, soll eine Punktmenge perfekt heissen, wenn 
alle ihre Fundamentalreihen Grenzen haben und wenn alle ihre 
Glieder Grenzen von Fundamentalreihen sind; sie heisst stetig, 
wenn sie ausserdem noch die Bedingung erfüllt, dass sie eine 
Mannigfaltigkeit E vom Grundtypus y derart in sich schliesst, 
dass es zwischen zweien ihrer Glieder immer wenigstens ein 
Glied von E giebt. 

Ein einfaches Beispiel, dass Couturat anführt, mag genügen, 
um den Unterschied der beiden Erklärungen der Stetigkeit, die 
hier gegeben wurden, zu veranschaulichen.?) Betrachten wir den 
Inbegriff der reellen Zahlen von 0—2, den wir durch eine gerade 
Linie dargestellt denken, 


++ 
0 1 2 


1) S. hierüber weiter unten No. III. 
3) Vgl. zum Folgenden den Aufsatz Couturats: „Sur la définition du 
continu“, Revue de Metaphysique VIII (1900), 157 ff. 
Kantetudien XII. 2 


al 


i8 B. Cassirer, 


so haben wir eine Menge vor uns, die sowohl nach der metrischen, 
wie nach der ,ordinalen* Erklärung als stetig zu bezeichnen ist. 
Denken wir uns indessen jetzt die Strecke 0—2 in zwei Stücke 
zerlegt, derart, dass das erste Stück alle Punkte von 0—1, jedoch 
mit Ausschluss des Punktes 1 selbst enthält, während das 
zweite die Punkte von 1—2 (inklusive) in sich fasst, und denken 
wir uns weiterhin beide Stücke gesondert gegeben, 
u 7 4 
0 1 2 

so bilden sie im metrischen Sinne kein Continuum mebr.!) Legt 
man jedoch diejenige Definition der Stetigkeit zu Grunde, die aus 
der Betrachtung der Ordnung entspringt, so sieht man, dass sie 
nach wie vor in kraft bleibt. Denn in der Abfolge der Ele- 
mente ist durch die Zerlegung, die wir vorgenommen haben, er- 
sichtlich nichts geändert: der Punkt 1 ist noch immer die Grenze 
der Punkte, die ihm voraufgehen, da er der erste ist, der 
innerhalb der Menge auf sie folgt. Der Unterschied der 
beiden Betrachtungsweisen beruht, wie man sieht, darauf, dass 
wir in der letzten Erklärung lediglich die inneren Beziehungen 
zwischen den Elementen selbst berücksichtigt haben, während in 
der ersten gleichsam die „Lage“ einer Punktmenge mit Bezug 
auf ein äusseres Medium betrachtet wurde. Die „Trennung* 
der beiden Stücke, die wir vorgenommen haben, konnte nur da- 
durch geschehen, dass wir andere Elemente zwischen ihnen ein- 
geschoben dachten, dass wir somit unsere Betrachtung nicht auf 
die immanenten Verhältnisse des durch Definition abgegrenzten 
Inbegriffs beschränkten, sondern diesen stillschweigend mit einer 
anderen stetigen Mannigfaltigkeit verglichen, die wir als gegeben 
betrachteten. Damit aber kehrt die Forderung einer tieferen Ab- 
leitung der Stetigkeit von Neuem zurück: sie riehtet sich jetzt, 
statt auf den besonderen Inbegriff, von dem wir ausgingen, auf 
das allgemeine Substrat, das wir ihm unterbreiten mussten, um 
ihn völlig zu bestimmen. Die metrische Definition schliesst einen 
Zirkel ein: denn sie muss den Begriff der Distanz, damit aber 
den Begriff des — Continuums bereits voraussetzen. Soll diese 
petitio principii vermieden werden, so giebt es keinen anderen 


1) Denn die Punktmenge, die sie darstellen, ist nicht mehr „zu- 
sammenhängend“, da jetzt zwischen dem Punkt 1 und allen ihm vorauf- 
gehenden Punkten ein endlicher Abstand besteht, in den kein Punkt der 
Menge hineinfällt (vgl. 0. S. 16). 


Kant und die moderne Mathematik, 19 


Weg, als die „ordinale“ Erklärung an die Spitze zu stellen: der 
Begriff der Stetigkeit muss aus reinen Ordnungsverhältnissen ab- 
geleitet werden, um erst mittelbar auf die Verhältnisse der 
Grössen übertragen zu werden. Dass mit dieser Ableitung bereits 
alle Probleme, die dieser Begriff in sich birgt, erledigt sind, ist 
damit freilich nicht erwiesen, — und auch Couturat und Russell 
scheinen es nicht behaupten zu wollen; es genügt, dass für sie 
eine allgemeine logische Vorbereitung geschaffen worden ist, 
die sich später an den komplexeren Fragen der Kontinuität der 
Grösse und der Veränderung bewähren kann. 

Ein Moment aber tritt in dieser gesamten Entwickelung 
unbestreitbar hervor: die Herrschaft, die der reine und abstrakte 
Zahlbegriff in ein Gebiet hinein erstreckt, das gewöhnlich 
schlechthin der sinnlichen Anschauung zugewiesen wird. Der 
Gedanke insbesondere, dass der mathematische Begriff der Stetig- 
keit nach dem Muster und Vorbild eines irgendwie vorhandenen 
physischen Continuums geformt und aus ihm durch die Er- 
fahrung abgelesen werde, ist nunmehr völlig unbaltbar geworden. 
Wir mögen die Schärfe unserer Beobachtung ins Ungemessene 
gesteigert denken, so könnte sie uns doch niemals zu einer wirk- 
lichen empirischen Konstatierung eines objektiv vorhandenen 
Continnums verhelfen. Denn wie sehr wir auch die Zwischen- 
werte zwischen zwei Elementen, die die Beobachtung uns liefert, 
häufen wollten, ja wenn wir zwischen ihnen ins Unendliche 
neue Elemente eingeschaltet denken wollten, so wäre uns doch 
damit niemals eine stetige Mannigfaltigkeit im strengen mathe- 
matischen Sinne des Wortes gegeben. Wir würden selbst in 
diesem Falle nur zu einem Inbegriff gelangen, der — wie das 
System der rationalen Zahlen — zwar „überall dicht* und somit ins 
Unendliche teilbar wäre, ohne indessen continuierlich zu sein (vgl. 
S. 16 Anm. 2). Um diese erkenntnistheoretische Grundeinsicht 
völlig klar zu stellen, können wir uns auf das Urteil eines der 
ersten modernen Mathematiker berufen, dem niemand eine Ver- 
kennung der Rechte der wissenschaftlichen Erfahrung wird zu- 
schreiben wollen. In einem interessanten Aufsatz über „Cournot 
und die Prinzipien des Infinitesimalkalküls‘ hat neuerdings 
Poincaré das Problem, das hier in Frage steht, auf einen scharfen 
und prägnanten Ausdruck gebracht.) Die unmittelbare Be- 


1) Revue de Métaphysique XIII, 298 ff. 





20 E. Gassirer, 


obachtung liefert uns, wie er ausführt, niemals einen exakten 
Zahlenwert; denn Alles, was sie uns giebt, ist eine Em- 
pfindung, die niemals durch eine strenge Zahl ausdrückbar ist, 
da sie — nach dem psychologischen Gesetz der Unterschieds- 
schwelle — von anderen, sehr nahen Empfindungen nicht mehr 
unterscheidbar ist. So können wir, wie bekannt, den Druck 
eines Gewichtes von 10 Gramm und denjenigen eines Gewichtes 
von 11 Gramm, in der blossen Wahrnehmung auf keine Weise 
mehr auseinander halten; wollten wir also hier eine zahlenmässige 
Fixierung versuchen, so müssten wir den beiden Sensationen, die 
den Gewichten von 10 und 11 Gramm entsprechen, aus demselben 
Grunde aber auch denen, die durch Gewichte von 11, 12, 13, 
14 Gramm in uns hervorgerufen werden, notwendig einen und 
denselben numerischen Wert zusprechen. Damit aber würden 
wir uns in einen offenbaren Widerspruch verwickeln: denn da die 
beiden extremen Fälle des Druckes von 10 und 14 Gramm von 
uns sehr wohl unterschieden werden können, so können sie nicht 
durch denselben mathematischen Ausdruck wahrhaft bezeichnet 
werden. Diese Schwierigkeit kann auch nicht dadurch behoben 
werden, dass wir immer schärfere und feinere Massmethoden ein- 
führen, dass wir also z. B. das Verhältnis der Gewichte, statt 
beide in der blossen Hand zu prüfen, mittels einer Präzisionswage 
bestimmen. Denn auch hier müssen wir, um das Ergebnis fest- 
zustellen, zuletzt doch auf irgend ein sinnliches Datum zurück- 
greifen, womit sich die Schranken unserer Unterscheidungsfähig- 
keit wiederum geltend machen. Aber was der Sinnlichkeit für 
immer versagt bleibt, das leistet der mathematische Begriff. Er 
fordert die durchgängige Unterscheidung der Zustände des Seins, 
wie nahe sie einander in Raum und Zeit auch stehen mögen; er 
geht auf die punktuelle Bestimmung und Abgrenzung der Ele- 
mente, die durch keine Erfahrung jemals geleistet werden kann. 
So bleibt die Kontinuität im echten wissenschaftlichen Sinne immer 
ein Idealbegriff, den wir der Beobachtung als Regel vorhalten, 
nicht ein Ergebnis, das wir unmittelbar aus ihr ziehen könnten. 
Was die Einsicht in diesen Zusammenhang immer von Neuem 
verdunkelt, ist nur die vage und unklare Vorstellung der Stetig- 
keit, bei der das populäre Denken sich begnügt. „Stetig“ heisst, 
ihm eine Mannigfaltigkeit, wenn ihre einzelnen Bestandteile zu 
einem lückenlosen sinnlichen „Ganzen“ zusammenfliessen, wenn die 
Grenzen der Elemente sich nivellieren und verwischen. Der 


Kant und die moderne Mathematik. 21 


wissenschaftliche Begriff der Stetigkeit indessen besagt das genaue 
Gegenteil: er fordert, dass die Sonderung und die einzigartige 
Bestimmtheit der Elemente allen sinnlichen Schranken unserer 
Unterscheidungsfähigkeit zum Trotz, logisch aufrecht erhalten 
wird. So ist jeder „Schnitt“ der Zahlenreihe von jedem anderen, 
so nahe er ihm immer liegen mag, gedanklich völlig geschieden: 
die Eindeutigkeit der begrifflichen Vorschrift, durch die wir den 
Schnitt definiert denken, leistet uns, was die Empfindung, soweit 
wir ihre Befugnis auch ausgedehnt denken wollten, uns für 
immer versagen müsste.!) 


III. 


Nachdem wir die Vervollständigung betrachtet haben, die 
das Zahlgebiet „nach innen hin“ durch die Setzung der Irrational- 
zahlen erfährt, wenden wir uns nunmehr der nicht minder bedeut- 
samen Erweiterung seines ursprünglichen Bereichs zu, die 
durch die Einführung der Cantorschen trausfiniten Zahlen 
erfolgt. Versuchen wir zunächst, die Gründe dieser Erweiterung 
in möglichst elementarer Form zur Darstellung zu bringen, so 


1) Eine schärfere erkenntnistheoretische Zergliederung des Stetig- 
keitsbegriffs, die hier nicht versucht werden kann, würde zu 
zeigen haben, dass dieser Begriff auf zwei verschiedene und scheinbar 
entgegengesetzte Operationen des Denkens zurückgeht, sofern er das eine 
Mal die durchgängige und strenge Sonderung der Elemente, sodann 
aber ihre synthetische Verknüpfung zu einer Grösse verlangt. Die 
Elemente, die es zu einer Einheit zusammen zu fassen gilt, sind nicht 
schon ursprünglich vorhanden; sondern sie werden durch begriffliche Akte 
der Unterscheidung erst gesetzt und gewonnen. Aus dieser zwiefachen 
Bedingtheit der Stetigkeit erklärt es sich auch, dass wir, um ihren Begriff 
festzustellen, zunächst aus dem Gebiet blosser Zahlbetrachtungen 
nirgends herauszugehen brauchen; dass also — was zunächst vom erkennt- 
nistheoretischen Standpunkt aus äusserst paradox erscheinen muss — das 
reine Prinzip der „Diskretion“ in seiner unbeschränkten Verallgemeinerung 
von selbst zum Begriff des Stetigen hinleitet. Zugleich aber wird es in 
diesem Zusammenhange deutlich, dass die rein numerische Ableitung der 
Kontinuität nicht allen Problemen, vor die die allgemeine Grössenlehre, 
wie insbesondere die mathematische Physik uns stellt, gleichmässig zu 
genügen vermag, sondern dass zur Lösung dieser Probleme neue logische 
Synthesen erforderlich werden. Ich hoffe, auf diese Fragen, sowie auf 
Russells Darstellung der Prinzipien der Infinitesimalmethode demnächst 
in einem Aufsatz „Das Problem der Kontinuität und der Grenzbegriff“ 
ausführlich zurückzukommen, 


22 E. Oassirer, 


werden wir wiederum von dem Begriff der wechselseitigen ein- 
deutigen Zuordnung zweier Mannigfaltigkeiten auszugehen haben.*) 
Wir nennen zwei Inbegriffe „äquivalent“ oder von gleicher 
Mächtigkeit, wenn die Elemente des einen sich denen des an- 
deren auf irgend eine Weise gegenseitig eindeutig zuordnen lassen. 
Legen wir diese Definition zu Grunde, so ergiebt sich aus ihr 
zunächst eine charakteristische Unterscheidung zwischen endlichen 
und unendlichen Inbegriffen: während nämlich bei den ersteren 
irgend ein Teil, den wir aus ihnen herausgreifen, mit dem 
Ganzen, aus dem er entnommen ist, niemals von gleicher 
Mächtigkeit ist, so bildet es eine wesentliche Eigenschaft der un- 
endlichen Mannigfaltigkeiten, dass sie sich einem echten Teile 
ihrer selbst eindeutig zuordnen lassen.) Betrachten wir etwa — 
um ein bekanntes, schon von Galilei angewandtes Beispiel zu 
brauchen — den Inbegriff aller Quadratzahlen, so sehen wir, dass 
jeder positiven ganzen Zahl eine und nur eine Quadratzahl ent- 
spricht, dass somit dieser Inbegriff der Reihe der natürlichen 
Zahlen, die ihn doch als Teil in sich enthält, äquivalent ist. 
Nennt man nun jede Menge, die sich der Reihe der positiven 
ganzen Zahlen, gemäss irgend einer Vorschrift, eindeutig zuordnen 
lässt, „abzählbar“, so entsteht die Frage, ob alle uns bekannten 
Mannigfaltigkeiten unter diesen Begriff fallen, ob sie mit anderen 
Worten, untereinander und mit der natürlichen Zahlenreihe sämtlich 
von gleicher Mächtigkeit sind, oder aber ob sich andere „höhere“ 
Mächtigkeiten definieren lassen. 

Denken wir uns nun zunächst die Mannigfaltigkeit der posi- 
tiven ganzen Zahlen zum System der Rationalzahlen, also zu 
einer überall dichten und somit ins Unendliche teilbaren Menge 
erweitert, so lässt sich zeigen, dass trotz der unendlichen Be- 
reicherung an Elementen, die die Zahlenreihe hierdurch erfährt, 
die Mächtigkeit des neuen Inbegriffs keine grössere geworden ist: 
das Ganze der Rationalzahlen bleibt nach wie vor abzählbar. Ja 
das Gleiche gilt selbst dann, wenn biet, das auf diese 


suchungen findet man ausser inSchoen 
(Jahresbericht der deutschen Mathematil 
Couturat (De l'Infini mathématiqu 
System einer Theorie der Grenzb 

%) Vgl. Dedekind, Was 





Kant und die moderne Mathematik. 23 


hinzufügen, die die Wurzeln irgend einer algebraischen Gleichung 
bestimmten Grades mit ganzzahligen positiven oder negativen 
Coefficienten sind: auch die Vielheit der reellen „algebraischen 
Zahlen“, die auf diese Weise definiert ist, lässt sich noch immer, 
auf Grund einer einfachen Vorschrift, der Folge der positiven 
ganzen Zahlen eindeutig zuordnen. Sobald man indessen von 
hier aus zu dem Inbegriff aller Zahlen irgend eines Intervalls 
fortschreitet — sobald man also neben den algebraischen Zahlen 
auch die ,trausscendenten“ einführt und betrachtet —, so erweist 
es sich, dass der frühere Modus der Zuordnung nicht länger fort- 
bestehend gedacht werden kann: der so geschaffene Inbegriff ist 
in der That von höherer als von erster Mächtigkeit. Es zeigt 
sich mit anderen Worten, dass die Gesamtheit der reellen Zahlen, 
die zwischen zwei reellen Werten « und £ liegen —, so nahe diese 
übrigens sein mögen —, sich niemals durch irgend eine einfache 
unendliche Reihe ausdrücken und erschöpfen lässt; während an- 
dererseits jede stetige Mannigfaltigkeit von n Dimensionen dem 
linearen Continuum oder irgend einem endlichen und stetigen Teil 
von ihm äquivalent ist. Wenn wir somit nunmehr, um die Unter- 
schiede der Mächtigkeit unendlicher Mannigfaltigkeiten zu be- 
zeichnen, zur Schöpfung neuer „transfiniter Zahlen“ schreiten, 
so werden wir allen „abzählbaren“ Mengen eine kleinste trans- 
finite Zabl a) als gemeinsames Merkmal zusprechen müssen, 
während wir die Mengen zweiter Mächtigkeit durch die „nächst- 
höhere“ Zahl a, bezeichnen werden. 

Eine reichere Entfaltung des neuen Zahlgebietes tritt uns 
entgegen, wenn wir die unendlichen Mannigfaltigkeiten, die wir 
miteinander vergleichen, nicht nur mit Rücksicht auf ihre Mächtig- 
keit, sondern auch mit Rücksicht auf die Ordnung ihrer Ele- 
mente betrachten. Zwei Mengen hiessen uns äquivalent, wenn 
sich zwischen ihren Elementen auf irgend eine Weise eine 
gegenseitig eindeutige Zuordnung herstellen liess, Auf die Art, 
in der diese Entsprechung aufgewiesen wurde, auf die Ordnung, 
in die die Glieder der beiden Inbegriffe gebracht wurden, um den 
Nachweis dieser ihrer wechselseitigen Beziehung zu erbringen, 
wurde hierbei nicht besonders reflektiert: es genügte, wenn sich 
unter all den unendlichen möglichen Anordnungen der Glieder 
der beiden Inbegriffe nur überhaupt eine aufzeigen liess, die uns 
der Möglichkeit der eindeutigen Entsprechung der Elemente ver- 
sicherte. Von diesem allgemeinsten Gesichtspunkt, unter 





24 E. Cassirer, 


welchem unendliche Inbegriffe sich vergleichen lassen, gelangen 
wir zu einer spezielleren Betrachtungsweise, wenn wir uns die 
beiden Mannigfaltigkeiten in einer festen Rangordnung ge- 
geben und einander gegenüber gestellt denken. Wir nennen als- 
dann, wie wir bereits gesehen haben, zwei Inbegriffe ähnlich 
oder von gleichem „Ordnungstypus“, wenn sie sich unter 
Wahrung dieser ihrer festgesetzten Rangordnung ein- 
ander gegenseitig eindeutig zuordnen lassen (s. oben S. 10f.). Auch 
hier nun zeigt sich sogleich ein wichtiger Unterschied zwischen 
endlichen und unendlichen Inbegriffen. Sind nämlich zwei end- 
liche Reihen einander ähnlich, so bleiben sie dies auch, wenn 
man die Elemente in ihnen in beliebiger Weise umstellt und mit- 
einander vertauscht, sodass also sämtliche Reihen, die aus einer 
gleichen Anzahl von Gliedern bestehen, auch ein und denselben 
Ordnungstypus aufweisen. Bei unendlichen Mannigfaltigkeiten 
dagegen zeigt sich das Gegenteil: zwei Mengen, die von gleicher 
Mächtigkeit sind, und denen demgemäss dieselbe „transfinite 
Kardinalzahl* zukommt, können von ganz verschiedenem Ordnungs- 
typus sein. So bildet z. B. das System der Rationalzahlen, wenn 
wir es im gewöhnlichen Sinne „der Grösse nach“ geordnet denken, 
eine überall dichte Menge, die weder ein erstes, noch ein letztes 
Glied besitzt, während es in derjenigen Ordnung, die wir zu 
Grunde legen müssen, um seine „Abzählbarkeit“ zu erweisen, der 
natürlichen Zahlenreihe ähnlich ist und somit deren völlig ab- 
weichenden Ordnungstypus aufweist (vgl. Russell § 293). Be- 
zeichnen wir den zuletzt erwähnten Ordnungstypus, der also allen 
abzählbaren Mengen gemeinsam zukommt, mit w, so lassen sich, 
hieran anschliessend, die verschiedenen Typen 
o+-1,0o+23,..,.o-+n... 

definieren, weiterhin aber Reihen aufweisen, die vom Typus 

20,30,...n0... 
ja auch vom Typus 

wo, w?, 2. 2 ww... wo 
sind u. s. f£ Damit ist ein neues grosses Zahlengebiet: das der 
transfiniten Ordnungszahlen, geschaffen, die, wie man sieht, 
nicht willkürlich erdacht sind, sondern zum Ausdruck wahrhafter 
Beziehungen zwischen unendlichen Inbegriffen dienen. Da ferner 
für die neuen Zahlen auch bestimmte Rechnungsgesetze festge- 
stellt werden können, — die freilich von denjenigen, die für die 
endlichen Zahlen gelten, wesentlich abweichen — so hindert 


Kant und die moderne Mathematik. 25 


nichts, sie im logischen Sinne als völlig bestimmt anzusehen und 
ihnen somit die gleiche ideale „Existenz“ einzuräumen, die wir 
den endlichen Zahlen zusprechen. 

Auf die einzelnen technisch-mathematischen Probleme, die 
zur Schöpfung der transfiniten Zahlen geführt haben, kann hier 
nicht weiter eingegangen werden: dagegen muss versucht werden, 
den logischen Grundgedanken, der hierbei leitend ist, in seiner 
Allgemeinheit zu erfassen. Cantor selbst giebt hierzu die klare 
Anweisung, indem er ein doppeltes Prinzip der Zahlbildung unter- 
scheidet. „Die Reihe der positiven realen ganzen Zahlen 1, 2, 
3...,%,... hat ihren Entstehungsgrund in der wiederholten 
Setzung und Vereinigung von zu Grunde gelegten als gleich an- 
gesehenen Einheiten; die Zahl » ist der Ausdruck sowohl für eine 
bestimmte endliche Anzahl solcher aufeinander folgender Setzungen, 
wie auch für die Vereinigung der gesetzten Einheiten zu einem 
Ganzen. Es beruht somit die Bildung der endlichen ganzen 
Zahlen auf dem Prinzip der Hinzufügung einer Einheit zu einer 
vorhandenen schon gebildeten Zahl; ich nenne dieses Moment... 
das erste Erzeugungsprinzip. Die Anzahl der so zu bilden- 
den Zahlen » der Klasse (I) ist unendlich und es giebt unter ihnen 
keine grösste. So widerspruchsvoll es daher wäre, von einer 
grössten Zahl der Klasse (I) zu reden, hat es doch andererseits 
nichts anstössiges, sich eine neue Zahl, wir wollen sie w nennen, 
zu denken, welche der Ausdruck dafür sein soll, dass der ganze 
Inbegriff (I) in seiner natürlichen Succession dem Gesetze nach 
gegeben sei ... Die logische Funktion, welche uns (diese 
Zahl w) geliefert hat, ist offenbar verschieden von dem ersten 
Erzeugungsprinzip, ich nenne sie das zweite Erzeugungs- 
prinzip ganzer realer Zahlen und definiere dasselbe näher dahin, 
dass, wenn irgend eine bestimmte Succession definierter ganzer 
realer Zahlen vorliegt, von denen keine grösste existiert, auf 
Grund dieses zweiten Erzeugungsprinzips eine neue Zahl geschaffen 
wird, welche als Grenze jener Zahlen gedacht, d. h. als die 
ihnen allen nächst grössere Zahl definiert wird.“') Aus dieser 
Darstellung erkennt man bereits, dass die „unendliche Zahl“ ein 
Problem von allgemeinster philosophischer Bedeutung in sich birgt. 
Sie macht es völlig deutlich, dass der Begriff der Zahl nicht aus 
der wirklichen Abzählung irgend einer gegebenen empirischen 


1) Cantor, Mannigfaltigkeitslehre § 11, S. 82 f. 


— 


26 E, Cassirer, 


Violhelt erwiichst, sondern dass er vielmehr auf der allgemeinen 

Funktion beruht, vermöge deren wir ein Maunig- 
faltiges kraft seines erzeugenden Gesetzes, dass wir uns ganz und 
wif einmal vergegenwärtigen können, zur Einheit verknüpfen. 
Wenn man die unendliche Zahl als widersprechend ansieht, so 
beruht dies zuletzt immer auf dem empiristischen Vorurteil, 
dass man irgend ein „Ganzes“ erst dann erfassen könne, wenn 
man zuvor alle seine Teile einzeln durchlaufen und aneinander 
gefligt habe. Jeder echte logische Begriff aber vermag uns be- 
reits das Gegenteil zu lehren. Um zu wissen, was irgend ein 
allgemeiner Begriff bedeutet, brauchen wir nicht sämtliche 
Exemplare, die unter ihn fallen, einzeln vorzustellen, um aus ihrer 
Gesamtheit sodann ein gemeinsames Merkmal zu „abstrahieren“; 
sondern es genügt hierzu, wenn wir uns — ohne den Umfang 
des Begriffs irgend in Betracht zu ziehen — lediglich seinen In- 
halt, d. h. die konstitutiven Merkmale, die seine Definition 
enthält, vergegenwärtigen. Dieser Inhalt erst ist es, der seiner- 
seits den Umfang bestimmt und umgrenzt, sofern er uns von 
jedem beliebigen Gegenstand, der uns nur immer gegeben 
werden mag, mit Sicherheit zu entscheiden gestattet, ob er unter 
den betreffenden Begriff fällt oder nicht, Wir müssen somit — 
um diesen Gedanken in der Sprache Russells auszudrücken — 
Ganze, die vermöge ihrer „Extension“, d.h. durch die Aufzählung 
ihrer einzelnen Elemente definiert werden können, von anderen 
unterscheiden, die sich nur durch ihre „Intension“ begreifen lassen. 
Eine „Klasse“ ist völlig bestimmt und von jeder anderen unter- 
schieden, wenn wir irgend eine allgemeine Beziehung denken, in 
der alle ihre Glieder zu einem bestimmten gegebenen Terminus 
stehen; es genügt, diese Beziehung in einem einzigen geistigen 
Akte zu überschauen, um in und mit ihr die Allheit der Ele- 
mente der Klasse zu erfassen. Diese einfache logische Grund- 
erkenntnis ist auch der Schlüssel des ganzen Geheimnisses der 
„unendlichen Zahlen“. Es wäre freilich absurd, unendliche Inbe- 
griffe in Bezug auf ihre Mächtigkeit und somit auf ihre „Kardinal- 
zahl“ vergleichen zu wollen, wenn es hierzu erforderlich wäre, 
sie einzeln durchzugehen und sie Glied für Glied einander gegen- 
über zu stellen. Aber wir begreifen nach allem Früheren auch, 
dass dieses primitive Verfahren hier verlassen und überboten ist: 
wir erkennen den Zusammenhang der beiden Reihen, indew wir 
sie nicht nach ihrem Umfaug, sondern nach ihrer erzeugenden 


Kant und die moderne Mathematik, 27 


Relation betrachten. Das Gesetz der Relation ist es, das ihr 
„Gebiet“ — es sei endlich oder unendlich — eindeutig feststellt 
und zu einem in sich bestimmten Inhalt des Denkens macht (vgl. 
bes. Russell §§ 330, 338, 342). Die transfiniten Zahlen bringen 
somit nur eine logische Grundeinsicht, die von aller mathematischen 
Erkenntnis überhaupt, insbesondere von der Analysis des Unend- 
lichen, beständig vorausgesetzt werden muss, zu klarstem und 
prägnantesten Ausdruck: sie sind ein neuer unzweideutiger Beleg 
dafür, dass der Zahlbegriff kein Dingbegriff, sondern ein reiner 
Funktionsbegriff des Denkens ist, 


IV. 

Wir mussten bei der Entwickelung des Zablbegriffs linger 
verweilen, da hier die Frage nach dem Verhältnis von Mathematik 
und Logik zum eigentlich typischen Ausdruck gelangt. Die 
neue Wendung, die diese Frage beim Übergang zur Geometrie 
erhält, kann hier nicht im Einzelnen verfolgt werden; es muss 
genügen, auf die ausführlichen Darlegungen Couturats und Russells 
zu verweisen. Insbesondere müssen wir hier von den schwierigen 
Prinzipienfragen der Metageometrie absehen, da Couturat selbst 
sie nicht im Zusammenhang behandelt und keine endgiltige 
Lösung für sie zu geben versucht hat. Die Geometrie stellt sich 
uns in dreifacher Gestalt: als projektive, deskriptive und metrische 
Geometrie dar, deren jede sich in lückenlosem Fortschritt aus be- 
stimmten Definitionen, die wir hypothetisch zu Grunde legen, ge- 
winnen lässt. Allen drei Formen ist der Begriff des Punktes 
gemeinsam: aber während die projektive Geometrie daneben die 
unbegrenzte projektivische Grade voraussetzt, geht die deskriptive 
vom Begriff der begrenzten geraden Strecke, die metrische von 
den Begriffen der Entfernung, der Kongruenz oder der Bewegung 
aus. Die Sätze der verschiedenen Geometrien sind nichts anderes, 
als die vollständige analytische Entwickelung des Gehalts ihrer 
Grundbegriffe und Postulate. So besitzt die Geometrie fortan, 
neben den allgemeinen logischen Axiomen keine selbständigen, 
unbeweisbaren Lehrsätze mehr: was man die „geometrischen 
Axiome“ zu nennen pflegt, sind vielmehr lediglich verhüllte 
Definitionen. Die Geometrie sagt nichts anderes aus, als dass, 
wenn gewisse Bedingungen, die wir willkürlich fixieren, erfüllt 
sind, sich an sie bestimmte Folgerungen knüpfen. Ihre „Wahr- 





28 E. Cassirer, 


heit“ besteht einzig in diesem hypothetischen Urteil: sie ist 
somit völlig unabhängig davon, ob den Elementen, von denen 
dieses Urteil spricht, irgend welche „Realität“ zukommt. Die 
geometrischen „Punkte“ bedeuten nichts anderes, als die Termini 
bestimmter Beziehungen; sie haben keinen anderen Inhalt als 
denjenigen, den ihnen eben diese Beziehungen selbst verleihen. 
„Man weiss nur, dass, wenn irgendwelche Inhalte (man mag sie 
nun Punkte oder anders benennen) untereinander gewisse funda- 
mentale Relationen besitzen (die sich in den Axiomen aussprechen), 
alle Theoreme, die sich hieraus logisch ableiten lassen, von ihnen 
gelten müssen. So behauptet die reine Geometrie, da sie nichts 
anderes als ein System formaler Verknüpfungen ist, nichts über 
die Natur der Punkte: sie kennt sie, streng genommen, nicht und 
bedarf ihrer nicht“ (Couturat S. 206). 

Die Bedeutung dieser Grundansicht mag hier nur an einem 
einzelnen charakteristischen Beispiel erläutert werden. Das Ge- 
setz der Dualität in der projektiven Geometrie besteht bekannt- 
lich darin, dass jeder projektivische Satz wahr bleibt, auch wenn 
man in ihm die Worte „Punkt“ und „Ebene“ miteinander ver- 
tauscht, während man die Geraden mit allen denjenigen Be- 
ziehungen, die sie zu den Punkten oder Ebenen besitzen, unver- 
ändert beibehält. Der eigentliche logische Grund dieser Rezi- 
prozität liegt darin, dass in der geometrischen Theorie, die wir 
hier vor uns haben, die Begriffe des „Punktes“ und der „Geraden“ 
als undefinierbar zu Grunde gelegt wurden, dass also ihr Inhalt 
für die Wahrheit der Theorie nicht massgebend sein kann, diese 
vielmehr auch dann giltig bleiben muss, wenn man diesen Wesen- 
heiten eine andere Bedeutung beilegt; vorausgesetzt, dass man 
ihnen nur genau die nämlichen Beziehungen zuspricht, die sie 
zuvor besassen. „Es muss in der That“ — wie Pasch ausführt —, 
„wenn anders die Geometrie wirklich deduktiv sein soll, der 
Prozess des Folgerns überall unabhängig sein vom Sinn der 
geometrischen Begriffe, wie er unabhängig Sein muss von den 
Figuren; nur die in den benutzten Sätzen bezw. Definitionen 
niedergelegten Beziehungen zwischen den geometrischen Be- 
griffen dürfen in Betracht kommen. Während der Deduktion ist 
es zwar statthaft und nützlich, aber keineswegs nötig, an die 
Bedeutung der auftretenden geometrischen Begriffe zu denken; 
sodass geradezu, wenn dies nötig wird, daraus die Lückenhaftig- 
keit der Deduktion (und wenn sich die Lücke nicht durch Ab- 


Kant und die moderne Mathematik. 29 


änderung des Raisonnements beseitigen lässt), die Unzulängliehkeit 
der als Beweismittel vorausgeschickten Sätze hervorgeht.“!) 
Diese Bemerkungen bezeichnen in der That schlagend, wie sehr 
die ganze Tendenz der wissenschaftlichen Geometrie darauf ge- 
richtet ist, die anschaulichen Elemente, die sie zur ersten An- 
knüpfung nicht entbehren kann, im Fortgang der Untersuchung 
mehr und mehr zurückzudrängen, ja sie für die eigentliche Me- 
thode des Beweises entbehrlich zu machen. Es muss anfangs 
äusserst paradox scheinen, wenn dem Geometer zugemutet wird, 
vom „Sinn“ seiner Begriffe zu abstrahieren: denn scheint dadurch 
nicht seine gesamte Deduktion zu einem Spiel mit sinnleeren 
Symbolen zu werden? Aber man sieht leicht ein, dass sich hinter 
dieser Paradoxie vielmehr eine Umgestaltung dessen verbirgt, was 
eigentlich, in wissenschaftlicher Hinsicht, als die „Bedeutung“ 
einer bestimmten Figur zu bezeichnen ist. Der wahrhafte „Sinn“ 
einer geometrischen Gestalt besteht nicht in ihrem sinnlich-an- 
schaulichen Sein; er ergiebt sich erst aus den begrifflichen Eigen- 
thümlichkeiten, die wir ihr mittelst der Definition zusprechen und 
aus den logischen Beziehungen, in die wir sie eingehen lassen. 
Hier wie in der gesamten übrigen Mathematik handelt es sich 
nicht darum, an einem Inhalt, der uns irgendwie fertig und als 
unauflöslicher Bestand gegeben wäre, bestimmte Eigenschaften zu 
entdecken: sondern der Begriff ist nichts anderes als das, wozu 
wir selbst kraft der Bedingungen, die wir ihm auferlegen, ihn 
machen.*) Die Elemente, die wir anfänglich der Anschauung ent- 


1) Pasch, Vorlesungen über neuere Geometrie, Leipzig 1882, S, 98, 

%) Über diesen Punkt lässt sich, wie ich glaube, auch mit dem „Em- 
pirismusé, zu einem Einverständnis gelangen, sofern er nicht, wie bei 
Mill, als dogmatische Behauptung auftritt, sondern lediglich auf der Be- 
obachtung und Zergliederung der psychologischen Thatsachen ruht. Denn 
auch durch die psychologische Theorie der Relation, wie sie z. B. 
Meinong vertritt, wird das Ergebnis, zu dem die logische Analyse der 
Mathematik an dieser Stelle führt, mittelbar durchaus bestätigt. Die 
Forderung zwar, dass jeder Beziehung zuletzt irgendwelche absolute 
Elemente zu Grunde liegen müssen, wird hier zunächst in aller Schärfe 
betont. „In letzter Linie ist niemals die Relation der Ausgangspunkt, 
von dem man zu den Fundamenten gelangt, vielmehr sind es die Funda- 
mente, die ihrer Natur nach zuerst gegeben sein müssen, ohne welche die 
Relation gar nicht gegeben sein kann, die daher auf die Relation führen. 
Eine Relation ohne absolute Elemente wäre ein Vergleich, in dem nichts 
verglichen wird“ (Meinong, Hume-Studien II: Zur Relationstheorie, — 
Sitzungsber. d. Wiener Akad. d. Wissensch. Bd. 101 (1882) S. 616). Nun 





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Kant und die moderne Mathematik. 3 


anzuschmiegen und ihr, ohne jede fremde Vermittelung von Mass 
und Zahl zu folgen scheint, hat erst das Ideal wahrhafter lo- 
gischer Strenge verwirklicht. 

Die Überzeugung von dem reinen rationalen Charakter 
der mathematischen Begriffe und Grundsätze hält also auch hier 
vollkommen Stand. Um sie allseitig zu bewähren, und zu festigen, 
braucht man nur das Ganze der modernen mathematischen Pro- 
bleme, wie es sich in Russells Werk oder in Whiteheads „Allge- 
meiner Algebra“ darstellt, kurz zu überblicken.) Was hier ge- 
leistet ist, das liegt in der That durchaus in der Richtung 
des Ideals, das Leibniz in seinem Gedanken der allgemeinen 
Charakteristik der Philosophie und Wissenschaft vorgezeichnet 
hat. Die Einheit der Mathematik liegt fortan nicht mehr in 
ihrem Objekt — vermag sie doch die Lehre von Grösse und 
Zahl, die Ausdehnungslehre, wie die allgemeine Mannigfaltigkeits- 
lehre, die Theorie der Bewegung, wie die der Kräfte gleichmässig 
zu umfassen —: sie liegt in der deduktiven Methode, die in 
all ihren Anwendungen die nämliche bleibt und auf denselben 
Grundlagen beruht. Dieser Gedanke, den schon die Begründer 
der neueren Wissenschaft, den Descartes und Galilei erfasst und 
in schlichter Klarheit ausgesprochen haben, hat jetzt seine kon- 
krete und wahrhafte Erfüllung gefunden, Die moderne Ent- 
wickelung der Mathematik hat somit in der That ein neues „Fak- 
tum“ geschaffen, an dem die kritische Philosophie, die die 
Wissenschaften nicht meistern, sondern verstehen will, nicht mehr 
vorbeigehen kann. Und es ist wichtig und bezeichnend, dass die 
immanente Fortbildung der Kantischen Lehre von selber zu 
dem gleichen Ergebnis geführt hat, dass durch den Fortgang der 
Wissenschaft immer deutlicher gefordert wird. Wie die „Logistik“, 
so ist auch die moderne kritische Logik über Kants Lehre von 
der „reinen Sinnlichkeit“ hinweggeschritten. Auch ihr bedeutet 
die Sinnlichkeit zwar ein erkenntniskritisches Problem, nicht 
aber einen selbständigen und eigentümlichen Quell der Ge- 
wissheit mehr?) So stimmt sie in ihrem Grundgedanken mit 
der Tendenz, von der die Werke Russells und Couturats erfüllt 
sind, überein: in der Forderung einer rein logischen Ableitung 


3 Whitehead, A Treatise on Universal Algebra with applications. 
IT. I. Cambridge (University Press) 1898. 

?) S. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis (System der Philosophie I), 
Berlin 1902, bes, S, 11 f., S. 128 n. 6, 





39 R. Cassirer, 


der mathematischen Grundprinzipien, durch die wir die ,An- 
schauung“ selbst, durch die wir Raum und Zeit erst völlig ver- 
stehen und begrifflich beherrschen lernen. 


V. 


Muss somit die Aufgabe, die die Logistik sich stellt, ohne 
Einschränkung anerkannt werden, so könnte es müssig erscheinen, 
mit ihr über die Deutung der Kantischen Philosophie und über 
die Kritik, die sie an ihr übt, rechten zu wollen. Denn wie hoch 
man die Kantische Lehre auch stellen mag: die Sorge um ihre richtige 
historische Würdigung und Auslegung muss zurücktreten gegen- 
über dem Bemühen, zu einer Verständigung über das Ziel und 
über die Wege der philosophischen Forschung der Gegenwart zu 
gelangen. Es ist indessen nicht nur eine Forderung geschicht- 
licher Gerechtigkeit, die uns zwingt, auf Couturats Einwände 
näher einzugehen. Die Sache selbst verlangt, dass wir bei ihnen 
verweilen: denn hier handelt es sich nicht mehr bloss um die 
Philosophie der Mathematik, sondern um die Grundansicht vom 
Wesen und von der Bedeutung der kritischen Methode. Kants 
Auffassung der Mathematik mag, nach dem heutigen Stande der 
Wissenschaft, mannigfach modifiziert werden müssen: dennoch 
bleibt das Problem, das er als Erster der Philosophie gestellt 
hat, nach wie vor in Kraft. Indem die Logistik, bei aller Schärfe 
der Einzeluntersuchung, dieses allgemeinste Problem ausser Acht 
lässt, muss sie damit notwendig die Bedeutung verkennen, die 
die Kantische Lehre für das Ganze der wissenschaftlichen Welt- 
auffassung und der ethischen Lebensanschauung besitzt. 

Zunächst lässt sich nicht verkennen, dass die Lehre von 
der Sinnlichkeit bei Kant selbst keinen festen und unverrück- 
baren systematischen Bestand darstellt, sondern dass sie, noch 
innerhalb der kritischen Periode, mannigfache innere Wandlungen 
erfährt. Die Trennung von Verstand und Sinnlichkeit ist in der 
Art, wie sie in der transscendentalen Ästhetik eingeführt wird, 
zunächst durchaus überzeugend: denn hier handelt es sich nur 
darum, die mathematischen Begriffe von den allgemeinen Gat- 
tungsbegriffen der traditionellen Logik, die durch Genus und 
Differenz definiert werden, zu unterscheiden.!) Dass die Defini- 


ı) Eine Unterscheidung, die Couturat selbst anzuerkennen scheint, 
da er ausdrücklich erklärt, dass die geometrischen Begriffe nicht „per 
genus et differentiam“, sondern „per generationem“ zu definieren sind 
(S. 290). 


Kant und die moderne Mathematik. 33 


tionen der Mathematik der reinen Anschauung entstammen, das 
bedeutet hier nur, dass sie nicht, wie die „diskursiven“ Begriffe 
der formalen Logik, aus einer Vielheit verschiedener Inhalte als 
deren gemeinsames Merkmal abstrahiert sind, sondern in einem 
völlig bestimmten, einzigartigen Akt der Konstruktion ihren 
Ursprung haben. Dieser Gegensatz zwischen der blossen Sub- 
sumption und der „synthetischen“ Erschaffung eines Inhalts ist 
in sich völlig klar: aber er betrifft, wie man sieht, nur die Ab- 
grenzung gegen die herkömmliche logische Technik, nicht gegen 
die neue positive Auffassung der Begriffsbildung, die Kant selber — 
in seiner eigenen „transscendentalen“ Logik begründet. Die 
reinen Verstandesbegriffe, die hier festgestellt werden, sind 
nicht minder, als zuvor die mathematischen „Anschauungen“ ihrem - 
ganzen Sinne nach von den logischen „Allgemeinbegriffen* völlig 
geschieden, sofern auch sie nicht von irgendwelchen, an sich be- 
stehenden Einzelinhalten nachträglich abgezogen sind, sondern 
vielmehr einer ursprünglichen Funktion des Denkens ent- - 
stammen, die allem fertigen Sein als Bedingung seiner Möglichkeit 
voranliegt. Der Unterschied zwischen Anschauung und Begriff 
kann also — wenn wir den neuen kritischen Sinn des „Begriffs“ 
festhalten wollen — nur die Verschiedenheit zweier Arten der 
„Synthesis“ besagen wollen: eine erste Stufe der Objektivierung 
der Erscheinungen wäre durch Raum und Zeit, eine zweite durch 
die reinen Kategorien, wie Einheit und Vielheit, Substanz und 
Kausalität bezeichnet. Diese Trennung ist methodisch wichtig \ 
und unanfechtbar: müssen sich doch in der That alle Begriffe, 
um gegenständliche Erkenntnis zu geben, nicht sowohl un- 
mittelbar auf die Inhalte der Empfindung, als auf die reinen 
ideellen Grundordnungen von Raum und Zeit beziehen, in die 
jene Inhalte zunächst eingehen.') J 
Wenn indessen die Verstandesbegriffe, um irgend einen 
empirischen Gegenstand zu bestimmen, zuletzt notwendig auf 
Raum und Zeit hingewiesen sind, so ware doch ihr eigent- 
licher Rechtsgrund lediglich im Denken selbst zu suchen. Die 
Anschauung wäre dann nicht der Ursprung der logischen und 
mathematischen Prinzipien, sondern würde sie vielmehr bereits 
involvieren und nur zu konkreter Darstellung bringen. Dass 


1) Vgl. hierzu die Ausführungen Kinkels in seiner Einleitung zur 
Ausgabe der Kantischen Logik (Philos. Bibl, Bd. 43, Leipzig 1904 
8. XV f). 

Kantrtndien XII. 3 





34 E. Cassirer, 


Kant selbst sich dieser Auffassung wiederholt genähert bat, 
ist unzweifelhaft. Ausdrücklich betont die transscendentale De- 
duktion der Kategorien, dass die reine intellektuelle 
„Synthesis der Apprehension“ die Bedingung ist, ohne welche 
wir weder die Vorstellung des Raumes noch der Zeit a priori 
haben könnten (Kritik der reinen Vernunft, S. 99 f.). Und die 
Prolegomena ziehen hieraus die Schlussfolgerung fiir die Charakte- 
' ristik der geometrischen Erkenntnis. Liegen — so wird hier ge- 
fragt — die geometrischen Gesetze, die weiterhin auf die Natur 
ausgedehnt werden können, „im Raume und lernt sie der Ver- 
stand, indem er den reichhaltigen Sinn, der in jenem liegt, bloss 
zu erforschen sucht, oder liegen sie im Verstande und in der 
Art, wie dieser den Raum nach Bedingungen der synthetischen 
Einheit, darauf seine Begriffe insgesamt auslaufen, bestimmt?“ 
„Der Raum“ — so lautet die Antwort — „ist etwas so Gleich- 
förmiges und in Ansehung aller besonderen Eigenschaften so Un- 
bestimmtes, dass man in ihm gewiss keinen Schatz von Natur- 
gesetzen suchen wird. Dagegen ist das, was den Raum zur 
Zirkelgestalt, der Figur des Kegels und der Kugel bestimmt, der 
Verstand, sofern er den Grund der Einheit der Konstruktion 
‚derselben enthält“ (Proleg. § 38). Und wie hier zum mindesten 
jede Bestimmtheit der geometrischen Gestalt auf eine reine 
Operation des Denkens zurückgeleitet wird, so macht analog die 
transscendentale Analytik die Entstehung der einzelnen Zahl- 
begriffe, also mittelbar die gesamte Arithmetik, von einer synthe- 
tischen Leistung des Intellekts abhängig. „Die reine Synthesis, 
allgemein vorgestellt, giebt nun den reinen Verstandesbegriff. Ich 
verstehe aber unter dieser Synthesis diejenige, welche auf einem 
Grunde der synthetischen Einheit a priori beruht: so ist unser 
Zählen eine Synthesis nach Begriffen, weil es nach einem 
gemeinschaftlichen Grunde der Einheit geschieht (z. B. der Deka- 
dik)“ (B. 104).*) Couturat hat diese Stellen, nebst manchen an- 


ı) Wenn Kant sonst allgemein die arithmetischen Begriffe und 
Sätze aus der reinen Zeitanschauung ableitet, so hat auch diese 
Lehre, wieviel sich immer gegen sie einwenden lassen mag, doch zweifel- 
los nicht den lediglich psychologischen Sinn, den die meisten ihrer 
Kritiker ihr beigelegt haben. Enthielte sie nicht mehr als den trivialen 
Gedanken, dass der empirische Akt des Zählens Zeit beansprucht, so liesse 
sie sich freilich mit dem bekannten Einwand, den z. B. Beneke formuliert 
hat, völlig erledigen: „Dass über dem Zählen Zeit verfliesst, kann keinen 


4 


Kant und die moderne Mathematik. 35 


deren verwandten Ausserungen, selbst hervorgehoben; aber er 
sieht in ihnen nur gelegentliche, vom Standpunkt Kants ungerecht- 
fertigte Zugeständnisse an den „Intellektualismus“, statt in ihnen 
eine Fortbildung der ursprünglichen Ansicht zu erkennen, die 
um so deutlicher hervortritt, je entschiedener und bewusster der 
kritische Grundgedanke sich durchsetzt. Für die Entwicke- 
lungsgeschichte des Systems ist es von hoher Bedeutung, 
dass die scharfe Betonung der Sinnlichkeit als eines selbst- 
genügsamen Erkenntnisprinzips vor allem denjenigen Teilen der 
Vernunftkritik angehört, die, wie die transscendentale Ästhetik 
oder wie einzelne Kapitel der Methodenlehre, mit früheren vor- 
kritischen Schriften — wie insbesondere der Dissertation 
und der Abhandlung über die Deutlichkeit der Grundsätze der 
natürlichen Theologie und Moral — fast vollständig überein- 
stimmen: während gerade diejenigen Abschnitte, die, wie die 
transscendentale Deduktion der Kategorien, das eigentlich neue 
und originale Ergebnis der Vernunftkritik enthalten, die Funktionen 
des reinen Verstandes als Vorbedingungen der „Sinnlichkeit“ 
erscheinen lassen. 

Sehen wir indessen von diesen schwierigen und strittigen 
Fragen der inneren gedanklichen Entwickelung völlig ab, und 
betrachten wir das System nur als ein fertiges und geschlossenes 
Ganzes: so wird doch, wie sehr man die rein logische Natur 
der mathematischen Urteile betonen mag, damit keineswegs ihr 
analytischer Charakter erwiesen. Es ist der Grundmangel von | 
Couturats Kritik, dass sie diese beiden Gesichtspunkte nirgends 
auseinanderhält: „synthetisch* heissen ihr solche Begriffe und 


Beweis abgeben, denn worüber verflösse wohl nicht Zeit!“ („System der 
Logik“ I, 279; Näheres bei Husserl, Philosophie der Arithmetik, I (1891), 
S. 28 ff). Man sieht indes leicht, dass es sich für Kant hier nur um die 
„transscendentale“ Begriffsbestimmung der Zeit handeln kann, nach welcher 
sie als der Typus einer geordneten Folge erscheint — wie denn auch 
William Hamilton, der Kants Lehre annimmt, die Algebra als „Science of 
pure time or order in progression“ definiert. Dass aber der gesamte 
Inbegriff der arithmetischen Begriffe sich in der That aus dem Grund- 
begriff der Ordnung in lückenloser Entwickelung gewinnen lässt, wird 
gerade durch Russells Darstellung durchweg bestätigt. Allerdings muss 
dann gegenüber der Kantischen Theorie betont werden, dass nicht die 
konkrete Form der Zeitanschauung den Grund des Zahlbegriffs aus- 
macht, sondern, dass in dieser vielmehr die rein logischen Begriffe der 
Folge und der Ordnung bereits implizit enthalten und verkörpert sind. 
8* 


36 FE. Cassirer. 


Sätze. die sich nur ans der Anschauung gewinnen. „analytisch“ 
solche, die sich ams reinem Denken begründen lassen. Diese Be- 
griffsbestimmung aber enthält eine deutliche petitio principii: sie 
nimmt die Entscheidung über das Problem schon in der Art der 
Fragestellung vorweg. Denn zweifellos kennt doch die kritische 
Lehre Formen der reinen intellektuellen Synthesis, die 
sich zwar, um empirische Erkenntnisse zu ermöglichen, auf die 
Anschauung von Raum und Zeit beziehen müssen. die aber ihre 
Wahrheit und Geltung nichtsdestoweniger dem „reinen Verstande* 
verdanken. Und betrachtet man das System der „Logistik“, wie 
es sich bei Russell and ‘outurat darstellt. so sieht man. dass es 
nichts anderes. als eben ein Inbegriff derartiger svnthetischer 
(srundformen ist. Verstehen wir. nach der Erklärune Kants, 
unter „Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, 
verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzuthun und ihre Mannig- 
faltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen*. so lässt sich diese 
Begriffsbestimmung zeradezu als eine Umschreibung des Verfahrens 
bezeichnen. das der logische Kalkül überall za Grunde legt. In 
der That — was bedeutet der Kalkül der Klassen oder der Rela- 
tionskalkül anderes. als dass wir eine Vielheit von Elementen 
dureh die gemeinsame Beziehung auf den Klassenberriff oder auf 
die Relation. deren (yebiet sie darstellt. zu einer gedanklichen 
Einheit zusammenschliessen? Und betrachten wir weiterhin die 
speziellen Denkmittel der Logistik: fassen wir etwa die Beziehung 
des (sanzen zum Teil oder den allgemeinen Begriff der Funk- 
tion. oder die Begriffe der Identität und Verschiedenheit 
Auge. so handelt es sich in ihnen allen — nach Russells 
eigener Auffassung — um fundamentale. nicht weiter ableitbare 
Grundverhaltnisse.': deren Bedeutung indes nicht ledizlich darin 
besteht. dass sie dem Satz des Widerspruchs genügen. sondern 
die vielmehr neue und eigentümliche Setzungen und Ver- 
knüpfungsweisen des Denkens bilden. und einen neuen Inhalt 
konstruktiv erschaffen. Die mathematischen Begriffe auf derlei 
Voranssetzungen zurückführen. heist also sie in allgemeinsten 
primitiven Synthesen begründen Und um diesen Satz gegen 
Couturat zu erweisen. brauchen wir uns auf keinen anderen Ge- 


t Über „Ganzes* und „Teil“ s bes Russell $ 134 und 135: über 
den Funktionsbegriff « $ 204: über den Begriff der Relation und des 
verschiedenen „Sinnes“ einer Relation s $ 317: über _Identirät- und 
„Verschiedenheit“ s. 28.3335 u sf 


Kant und die moderne Mathematik. 37 


währsmann, als auf — Russell selber zu berufen. Während Cou- 
turat beständig betont, dass Kant die bloss analytische Bedeutung 
der mathematischen Sätze verkannt habe, sieht Russell umgekehrt 
die Schwäche der kritischen Philosophie darin, dass sie, die die 
synthetische Natur der mathematischen Urteile zuerst ans 
Lieht gestellt habe, die gleiche Bestimmung nicht auch für die 
logischen Urteile durchgeführt habe, In dem ganzen Gebiet 
der Erkenntnis giebt es, wie er einwirft, keine Wahrheit, die 
sich lediglich aus dem Satze des Widerspruchs und ohne ver- 
mittelnde „synthetische“ Ober- und Hilfssätze gewinnen liesse.!) 
Man muss gestehen, dass — wenn man einmal die Alternative, 
die hier gestellt ist, annimmt — dieser letztere Standpunkt in 
sich durchaus berechtigt und verständlich ist. In der That muss 
jedes Urteil, das irgendwelchen Wert für den Fortschritt der 
Wissenschaft besitzen soll, seinem letzten Ursprung nach syn- 
thetisch heissen. Kant selbst hat keinen Zweifel darüber gelassen, 
dass iu seiner Unterscheidung Analysis und Synthesis nicht als 
gleichberechtigte Faktoren nebeneinander stehen, sondern dass 
vielmehr die erstere stets nur auf Grund der letzteren möglich 
sei: „denn wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da 
kann er auch nichts auflösen“ (B. 130). Wenn dennoch bei 
ihm das analytische Urteil noch als ein selbständiges Problem 
erscheint, so erklärt sich dies wesentlich aus der geschichtlichen 
Bedingtheit und aus der geschichtlichen Mission der Vernunft- 
kritik. Der Ausdruck des „analytischen Urteils“ richtet sich nicht 
sowohl gegen die formale Logik, als gegen die logische Meta- 
physik der Wolffschen Schule. Die metaphysischen Urteile sind 
analytisch, weil sie von irgend einem feststehenden dogma- 
tischen Begriff, ohne sich auf dessen Ursprung zu besinnen, ihren 
Ausgang nehmen und aus ihm nur immer weitere und complexere 
Folgerungen abzuleiten suchen. Nur wenn man diesen pole- 
mischen Gesichtspunkt dauernd festhält, gewinnt die Unter- 
scheidung zwischen analytischem und synthetischem Urteil ihre 
kritische Schärfe und ihre spezifische Bedeutung. Es ist daher 
freilich begreiflich, wenn ein moderner Mathematiker, der den 
Einzelheiten der Geschichte der Metaphysik fern steht, Mühe hat, 
sich in Kants eigentümliche Fragestellung zu versetzen: aber es 


1) Russell § 434; vgl. bes. Russells Schrift: „A critical exposition of 
the Philosophy of Leibniz“, Cambridge 1900, $ 11 und 12, 





38 E. Cassirer, 


liegt hierin keine Widerlegung, sondern ein Triumph der Kan- 
tischen Lehre. Denn ihr Verdienst ist es, wenn die strenge 
Scheidung zwischen Metaphysik und Wissenschaft immer 
mehr zum Gemeingut des wissenschaftlichen Bewusstseins geworden 
ist: so sehr, dass man darüber, wie es scheint, allmählich die 
entscheidende Leistung der kritischen Philosophie zu vergessen 
beginnt. 

Wenn indessen zwei Denker, wie Russell und Couturat, die 
in all ihren Prämissen völlig übereinstimmen, an diesem einen 
Punkte zu durchaus entgegengesetzten Ergebnissen gelangen — 
ein Gegensatz, der übrigens von Couturat selbst nicht bemerkt 
worden zu sein scheint — so weist schon dies darauf hin, dass 
es sich im Grunde zwischen ihnen nur um einen verschiedenen 
Wortsinn handeln kann, den sie beide der Kantischen Unter- 
scheidung beilegen. In der That zeigt es sich, dass Couturat 
diese Unterscheidung durchweg in einem viel zu engen Sinne 
aufgefasst hat. Er geht von der bekannten Erklärung, die sich 
zu Beginn der Vernunftkritik findet, aus: und auch weiterhin 
bleibt sie ihm der Mittelpunkt, auf den all seine Einwände zielen. 
Diese Erklärung aber — nach der ein Urteil analytisch heisst, 
wenn der Prädikatsbegriff im Subjekt enthalten ist, synthetisch 
dagegen, wenn er ganz ausserhalb des Subjektes liegt — enthält 
keineswegs Kants letzte und endgiltige Entscheidung, sondern be- 
deutet nur eine erste vorläufige Anknüpfung; sie will das neue 
Problem anzeigen, ohne es schon seiner ganzen Bedeutung nach 
aussprechen, geschweige lösen zu können. Die Sonderung der 
analytischen und synthetischen Urteile hat hier lediglich den 
Wert einer Nominaldefinition, die zunächst völlig willkürlich 
scheinen kann: ihr Sinn und ihr realer Gehalt erschliesst sich erst 
in der positiven Ausführung der synthetischen Grundsätze.!) 
Gerade diese letzteren aber hat Couturat nirgends berücksichtigt: 
seine Kritik macht vor dem System der Grundsätze 
Halt. Und doch weist er selbst deutlich auf den Grund hin, aus 
welchem die anfängliche Erklärung Kants unvollkommen geblieben 
ist, ja unvollkommen bleiben musste. Diese Erklärung — so 
wendet er ein — setzt voraus, dass alle Urteile in nichts an- 
derem bestehen, als darin, 'irgend einem Subjekt ein bestimmtes 


1) S. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, 2. Aufl, Berlin 1885, 
S. 400. 


Kant und die moderne Mathematik. 39 


Prädikat zuzuordnen; während die moderne Logik uns Urteile 
kennen gelehrt hat, die sich der Zurückführung auf diese Form 
prinzipiell entziehen (vgl. oben S. 7). So treffend dieser Einwurf 
ist: so zeigt es sich doch bei näherer Betrachtung sogleich, dass 
gerade diejenigen Verknüpfungsweisen, die für Kant im eigent- 
liehen und typischen Sinne synthetisch heissen, eben dieser letz- 
teren Gattung angehören. Sie alle — wie etwa der Grundsatz 
der Kausalität oder der Wechselwirkung — sagen Verhältnisse 
aus, die innerhalb des gewöhnlichen Schemas der „Prädikation“ 
niemals ihren vollen logischen Ausdruck finden können: wollen 
sie doch nicht irgendwelchen festen Dingen bestimmte Eigen- 
schaften zuschreiben, sondern die Geltung reiner gesetzlicher 
Beziehungen zwischen Erscheinungen feststellen. Hier gilt 
also der umgekehrte Schluss: die allgemeine systematische Be- 
deutung der Synthesis kann sich in der Charakteristik des Urteils 
der Prädikation niemals erschöpfend darstellen. Kant hat seine 
Erläuterung an diese Urteilsart, die er in der überlieferten Logik 
überall herrschend fand, angekniipft; aber man sieht zugleich, wie 
das Schema, das diese Logik ihm aufzwingt, sich alsbald zu eng 
erweist, um seinen neuen erkenntniskritischen Grundgedanken 
zu fassen und zum adäquaten Ausdruck zu bringen. 

Um zu einer giltigen Entscheidung über den analytischen 
oder synthetischen Charakter einer Aussage zu gelangen, genügt 
es daher niemals, die Verknüpfung von Subjekt und Prädikat 
bloss nach ihrer formalen Seite ins Auge zu fassen; sondern es 
muss hier stets zugleich auf den „transscendentalen“ Ursprung 
derjenigen Erkenntnis reflektiert werden, die im Subjektbegriff 
selber niedergelegt ist. Nicht darauf kommt es an, ob der Be- 
weis sich in lauter identische Sätze auflösen lässt, sondern ob 
die Prämissen, auf denen er ruht, der gleichen Zerlegung fähig 
sind. Dass „die Schlüsse der Mathematiker alle nach dem Satze 
des Widerspruches fortgehen“, ja dass eben hierin die „Natur einer 
jeden apodiktischen Gewissheit“ bestehe, dies hat Kant selbst klar 
ausgesprochen. Aber er findet in diesem Verhältnis keine Gegen- 
instanz gegen seine Grundansicht: „denn ein synthetischer Satz 
kann allerdings nach dem Satze des Widerspruchs eingesehen 
werden, aber nur so, dass ein anderer synthetischer Satz voraus- 
gesetzt wird, aus dem er gefolgert werden kann, niemals aber an 
sich selbst“ (B 14). Man kann diese unzweideutigen Kantischen 





40 E. Cassirer, 


Sätze nur dann ablehnen und der Inkonsequenz zeihen,!) wenn | 
man, wie Couturat, darauf beharrt, lediglich den Wortlaut der 
ersten populären Erklärung gelten zu lassen und sich gegen alle spä- 
teren Erläuterungen und Ergänzungen zu verschliessen. Die Ent- 
scheidung kann — was immer Couturat hiergegen einwenden 
mag — nicht aus der Technik des mathematischen Beweises, 
sondern lediglich aus der Natur der mathematischen Definitionen 
und Axiome gewonnen werden.) Legen wir aber einmal diesen 
Massstab an, so muss es, wie ich glaube, möglich sein, zu einer 
klaren Verständigung mit Couturat zu gelangen. Denn er selber 
ist es, der beständig betont, dass eine mathematische Definition, 
wenngleich sie zunächst als willkürliche und conventionelle Setzung 
eingeführt werden mag, doch ihre wissenschaftliche Bedeutung und 
Geltung nicht einer blossen formalen Verknüpfung von Namen 
verdankt, Jede Erklärung eines mathematischen Grundbegriffs 
schliesst vielmehr — in rein logischem Sinne — eine „Existen- 
tialbehauptung“ ein: sofern sie gleichzeitig aussagt, dass unter 
den definierten Begriff irgend ein „Gegenstand“, d. h. ein ein- 
deutig bestimmter Inhalt des Denkens, überhaupt fällt. Dieses 
Existenztheorem aber, das nach Couturat zur Rechtfertigung der 
Definition erforderlich ist und das den eigentlichen Quell ihrer 
„Wahrheit“ bildet,®) ruht ersichtlich nicht auf dem blossen Satze 
des Widerspruchs; es ist, im Sinne Kants, ein synthetischer Satz. 
Couturat selbst hat sich hierüber neuerdings mit aller wünschens- 
werten Deutlichkeit erklärt. In seiner Polemik gegen Poincaré 


3) Couturat nennt diese Sätze ein „unvorsichtiges Zugeständnis an 
diejenigen, die die mathematischen Urteile für analytisch halten“, während 
sie schon äusserlich als bewusste methodische Erläuterungen erkennbar 
sind, die zuerst in den „Prolegomena“ ($ 2c) auftreten, um sodann der 
zweiten Auflage der Vernunftkritik eingefügt zu werden (vgl. Couturat, 
S. 261). 

2) Wenn Couturat einwirft, dass es sich nicht darum handle, wie 
das Subjekt des Urteils gebildet worden sei, sondern darum, ob es, wenn 
wir es als fertig und gegeben voraussetzen, das Prädikat enthält, — 
wenn er ferner alle mathematischen Urteile für analytisch erklärt, weil 
sie apriorisch erzeugt sind, und somit nichts anderes enthalten können, als 
was der Geist selber in sie gelegt hat, so wird das Missverständnis sehr 
deutlich: denn eben jener Akt des ursprünglichen »Hineinlegens“ ist es, 
den Kant — dem wir zum mindesten das Recht zuerkennen müssen, sein 
eigenes Problem zu fixieren und zu benennen — fort und fort als „Syn- 
thesis“ kennzeichnet (s. Couturat S. 249, 261, 267). 

8) Vgl. Couturat S. 39 f,, ferner S. 83 Aum. 2, 8. 178 u. s, f. 


Kant und die moderne Mathematik. 4 


kommt er auf die Frage von Neuem zurück, um sie eingehender 
zu analysieren.') Wenn Poincaré behauptet hatte, dass jede De- 
finition die Bürgschaft der „Existenz“ in sich trage, sobald wir 
sicher sind, dass in ihr keine unvereinbaren Bestimmungen mit- 
einander verbunden seien, so weist Couturat diese Erklärung mit 
Entschiedenheit ab. Die logische und mathematische Existenz sei 
etwas völlig anderes, als die blosse „Abwesenheit des Wider- 
spruchs“. „Der Widerspruch ist ein rein negatives Kriterium 
der Existenz: er ist das Kriterium der Nichtexistenz. Nicht das 
Fehlen des Widerspruches ist es, was die Existenz eines Begriffs 
beweist, sondern umgekehrt ist es die Existenz eines Begriffs, die 
seine Widerspruchslosigkeit verbürgt.“ Ist es Couturat ent- 
gangen, dass es die Grundanschauung Kants ist, die er hier — 
entgegen der sonstigen Stellung der beiden Gegner — gegen 
Poincaré verteidigt?) In der That genügt es nicht, dass eine 
Definition sich nicht selber widerstreitet, solange wir nicht sicher 
sind, ob sie nicht völlig leer ist, sodass kein bestimmter gedank- 
licher Inhalt unter sie fällt. Um aber hierüber zur Klarheit 
zu gelangen, müssen wir die Synthese, die sie uns zu- 
mutet, vollziehen und uns ihres eindeutigen Sinnes und ihrer 
eigentümlichen spezifischen Bedeutung bewusst werden. So 
lässt sich z. B. irgend ein mathematischer Satz, wie 7 +5 = 12, 
in der That vollständig auf analytischem Wege beweisen; aber 
der Begriff der Summe selbst, den wir hierfür zu Grunde 
legen müssen, enthält eine synthetische Voraussetzung, da er das 
associative Gesetz (d. h. den Satz, dass a+(b+1)—=(a+b)-+1) 
in sich enthält. Man kann dieses Gesetz weiterhin abzuleiten ver- 
suchen, man kann den Begriff der mathematischen Summe auf den 


1) S. Couturats Abhandlung „Pour la Logistique“ (Revue de Méta- 
physique XIV, No. 2, März 1906), 

®) „Von welchem Inhalt auch unsere Erkenntnis sei und wie sie 
sich auf das Objekt beziehen mag, so ist doch die allgemeine, obzwar nur 
negative Bedingung aller unserer Urteile überhaupt, dass sie sich nicht 
selbst widersprechen; widrigenfalls diese Urteile an sich selbst (auch ohne 
Rücksicht aufs Objekt) nichts sind. Wenn aber auch gleich in unserem 
Urteile kein Widerspruch ist, so kann es demungeachtet doch Begriffe so 
verbinden, wie es der Gegenstand nicht mit sich bringt, oder auch, ohne 
dass uns ein Grund weder a priori, noch a posteriori gegeben ist, welcher 
ein solches Urteil berechtigte; und so kann ein Urteil bei allem dem, dass 
es von allem inneren Widerspruche frei ist, doch entweder falsch oder 
grundlos sein“ (B. 189 £.). 





A2 E. Cassirer, 


der „logischen Summe“ stützen und zurückführen: immer muss 
dabei doch das Recht eines allgemeinen Verfahrens behauptet 
werden, das uns gestattet, die Elemente einer Vielheit, ohne ihre 
Ordnung ins Auge zu fassen, zusammenzufassen und zu einem 
neuen Inhalt zu vereinen. Dass ein solches Verfahren möglich 
ist, und dass es ein eindeutig bestimmtes Ergebnis liefere, 
kann aus dem Satz der Identität oder des Widerspruchs niemals 
eingesehen werden: es ist eine neue schöpferische Setzung des 
Denkens, die wir in der Behauptung einer derartigen Möglichkeit 
vollziehen. 


VI. 


Wird indessen einmal die Zurückführbarkeit der mathema- 
tischen Urteile auf logische Operationen zugestanden, so könnte 
der Streit darüber, ob man diese letzteren selbst als „analytisch“ 
oder „synthetisch“ anzusehen habe, wie ein blosser Wortstreit 
erscheinen. Und in der That dürfte man diese Frage fortan 
völlig auf sich beruhen lassen, wenn sie innerhalb des Systems 
der kritischen Philosophie keine andere Bedeutung besässe, als 
diejenige, die Couturat ihr beilegt. Die Trennung von Analysis 
und Synthesis, von „Anschauung“ und „Denken“ aber greift bei 
Kant über jede bloss logische oder psychologische Problemstellung 
hinaus. Sie betrifft die Grundfrage der Erkenntniskritik: 
sofern sie nicht ein blosses Verhältnis der Begriffe untereinander 
angeht, sondern das Verhältnis unserer logischen und mathema- 
tischen Begriffe zur Erfahrung und zum Gegenstand der 
Erfahrung feststellen will. Dass alle unsere gedanklichen Ver- 
knüpfungsformen sich schliesslich auf die Grundordnungen des 
Raumes und der Zeit beziehen und in ihnen „schematisieren“ 
müssen: dies besagt für Kant nichts anderes, als dass sie ihre 
Geltung letzten Endes in der Bestimmung des empirischen 
Gegenstandes zu bewähren haben. Hier liegt das eigentliche 
Feld ihrer Thätigkeit und die Probe ihres Wertes. Wenn es 
nicht gelingt, den Nachweis zu führen, dass das System der 
reinen Verstandesbegriffe die notwendige Bedingung ist, unter der 
wir allein von einer Regel und Verknüpfung der Erscheinungen, 
unter der wir somit von einer empirischen „Natur“ sprechen 
können, — so müsste dieses System, bei all seiner Konsequenz 
und Geschlossenheit, doch wie ein blosses ,Hirngespionst“ er- 


Kant und die moderne Mathematik. 43 


scheinen. Dass unsere Begriffe sich auf Anschauungen zu be- 
ziehen haben, bedeutet daher, dass sie sich auf die mathema- 
tische Physik zu beziehen und in ihrer Gestaltung fruchtbar 
zu erweisen haben. Die logischen und mathematischen Begriffe 
sollen nicht länger die Werkzeuge bilden, mit denen wir eine 
metaphysische „Gedankenwelt“ aufbauen: sie haben ihre Funk- 
tion und ihre berechtigte Anwendung lediglich innerhalb der 
Erfahrungswissenschaft selbst. Diese ihre Begrenzung erst 
ist es, die ihnen ihre Realität sichert. In diesem Sinne hat Kant 
den „obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile“ formuliert: 
„Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind 
zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Er- 
fahrung und haben darum objektive Giltigkeit in einem synthe- 
tischen Urteile a priori“ (B. 197). 

Damit aber ist ein Problem gestellt, das völlig ausserhalb 
des Gesichtskreises der „Logistik“ liegt und das somit von ihrer 
Kritik auch nicht berührt wird. Alle empirischen Urteile liegen 
jenseit ihres Bereiches: sie macht an der Grenze der Erfahrung 
Halt. Was sie entwickelt, ist ein System hypothetischer Voraus- 
setzungen, von denen wir aber niemals wissen können, ob sie 
sich jemals in irgend einer Erfahrung verwirklicht finden, ob sie 
daher jemals irgend eine mittelbare oder unmittelbare konkrete 
Anwendung verstatten werden. So fällt nach Russell schon der 
allgemeine Begriff der Grösse aus dem Umkreis der reinen Mathe- 
matik und Logik heraus: er enthält ein empirisches Element, das 
uns nur durch die sinnliche Wahrnehmung gegeben werden kann. 
Nach der Grundansicht der Logistik ist die Aufgabe des Denkens 
beendet, wenn es gelungen ist, unter all seinen Gebilden und Er- 
zeugungen eine strenge deduktive Verknüpfung herzustellen. Die 
Sorge um die Gesetzlichkeit der Welt der Objekte dagegen bleibt 
gänzlich der direkten Beobachtung überlassen, die allein uns 
innerhalb ihrer eigenen, sehr eng gesteckten Grenzen zu lehren 
vermag, ob auch hier bestimmte Regelmässigkeiten sich finden, 
oder aber ein reines Chaos herrscht. Logik und Mathematik 
haben es nur mit der Ordnung der Begriffe zu thun; die Ordnung 
oder Verwirrung unter den Gegenständen ficht sie nicht an und 
braucht sie nicht zu beirren. 

So bleibt, wieweit man auf diesem Standpunkt die Analyse 
der Begriffe auch treiben mag, das empirische Sein ein ewig un- 
begriffenes Problem. Je deutlicher der Wert und die Kraft der 








4 E. Cassirer, 


Deduktion im Gebiete der Mathematik sich vor uns offenbart, um 
so weniger verstehen wir die gewaltige und entscheidende Be- 
deutung, die der Deduktion im Gebiet der theoretischen Natur- 
wissenschaft zufällt; — eine Bedeutung, die übrigens mE 
nach der ganzen Richtung seines Denkens am allerwenigsten be- 
streiten wird. Die logischen und mathematischen Sätze mögen 
von rein hypothetischer Geltung sein: aber ist es lediglich ein 
„glücklicher Zufall“, dass diese Hypothesen sich zureichend er- 
weisen, die empirischen ,Thatsachen* zu meistern und ihren Ver- 
lauf im Voraus zu bestimmen? Wäre es so, dann liesse es sich 
wohl denken, dass dieser Zusammenhang mit einem Schlage jäh 
unterbrochen würde, dass also etwa unsere künftige Erfahrung 
uns niemals mehr mit irgendwelchen objektiven Daten bekannt 
machen würde, die die begrifflichen Postulate der Grösse erfüllten 
und die damit der Messung zugänglich wären. Die Allgemein- 
heit und apriorische Notwendigkeit der mathematischen Wahr- 
heiten sucht Couturat mit ihrem rein „formalen“ Charakter zu 
erklären: „diese Wahrheiten sind objektiv, nicht weil sie aus dem 
Studium der Objekte hervorgegangen sind, sondern weil sie sich, 
öhne von irgend einem besonderen Objekt zu handeln, auf alle 
möglichen Objekte überhaupt beziehen“ (S. 207). Diese Lösung 
aber mag für die kritische Erkenntnistheorie und für ihre Be- 
griffsbestimmung der „möglichen Erfahrung“ zulässig und ver- 
ständlich sein: für die Logistik ist sie es nicht. Wie vermöchte 
sie es zu rechtfertigen, dass wir die logischen Gesetze, die wir 
gänzlich unabhängig von der Betrachtung der Dinge gewonnen 
haben, nachträglich den Dingen aufzwingen; wie vermöchte sie 
zu beweisen, dass die künftige Erfahrung den Folgerungen ge- 
mäss sein werde, die wir aus rein logischen Prämissen und ohne 
jede Rücksicht auf Anschauung und Beobachtung gezogen haben? 

So beginnt an dem Punkte, an dem die Logistik endet, eine 
neue Aufgabe. Was die kritische Philosophie sucht und was sie 
fordern muss, ist eine Logik der gegenständlichen Erkennt- 
nis. Nur vom Standpunkt dieser Fragestellung kann der Gegen- 
satz zwischen analytischem und synthetischen Urteil ganz ver- 
standen und gewürdigt werden. „Die Erklärung der Möglichkeit 
synthetischer Urteile ist* — wie Kant selbst scharf hervorhebt — 
„eine Aufgabe, mit der die allgemeine Logik gar nichts zu 
schaffen hat, die auch sogar ihren Namen nicht einmal 
kennen darf, Sie ist aber in einer transscendentalen 


Kant und die moderne Mathematik. 4 


Logik das wichtigste Geschäft unter allen, und sogar das einzige, 
wenn von der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori die Rede 
ist, imgleichen den Bedingungen und dem Umfange ihrer Gültig- 
keit. Denn nach Vollendung desselben kann sie ihrem Zwecke, 
nämlich den Umfang und die Grenzen des reinen Verstandes zu 
bestimmen, vollkommen ein Genüge thun“ (B. 193). Erst wenn 
wir begriffen haben, dass dieselben Grundsynthesen, auf denen 
Logik und Mathematik beruhen, auch den wissenschaftlichen Auf- 
bau der Erfahrungserkenntnis beherrschen, dass erst sie es uns 
ermöglichen, von einer festen gesetzlichen Ordnung unter Er- 
scheinungen und somit von ihrer gegenständlichen Bedeutung zu 
sprechen: erst dann ist die wahre Rechtfertigung der Prinzipien 
erreicht. Conturats Werk zeigt von Neuem, wie dieses Problem 
sich noch heute gegen dieselben widerstrebenden Denkrichtungen 
durchzusetzen hat, die Kant zu seiner Zeit entgegenstanden. Der 
kritische Gedanke, dass die Grundlagen unserer Erkenntnis zwar 
nicht aus der Erfahrung stammen, aber nur für diese und inner- 
halb ihres Bereichs gelten wollen, wird heute, wie damals, sei es 
in „rationalistischer“, sei es in ,empiristischer“ Tendenz verkannt 
und bestritten. In der That trifft Couturat, der gegen Kant den 
Vorwurf erhebt, dass er „zu wenig Rationalist* gewesen sei, in 
seiner Auffassung, nach der alle mathematischen Urteile analytisch, 
alle empirischen synthetisch seien, mit einem Empiristen wie 
Paulsen zusammen. Und diese Übereinstimmung ist nicht zu- 
fällig, sondern eine innere, wenngleich unbeabsichtigte Konsequenz 
seines Gedankens: indem er die Mathematik, um ihre Reinheit zu 
wahren, zu immer abstrakteren Höhen hebt, wird er immer mehr 
dazu gedrängt, die Erfahrung nur noch als ihren Gegensatz, nicht 
als ihr Korrelat oder als das konkrete Gebiet ihrer Anwendung 
zu denken. So entsteht, je selbstbewusster und selbstgenügsamer 
die Vernunft ihr Recht behauptet, eine um so grössere Kluft 
zwischen dem Vernunftgesetz und den Thatsachen, wodurch 
der Triumph des Empirismus auf dessen eigenstem Gebiete vor- 
bereitet wird. Es ist ein wesentliches Verdienst von Couturats 
früheren Werken, dass sie die unverbrüchliche Einheit der 
wissenschaftlichen Methode in voller Schärfe und Klarheit aus- 
sprechen und durchführen. Die Erfahrangswissenschaften besitzen 
— wie er insbesondere in seiner Schrift über Leibniz ausführt — 
im letzten Grunde keine anderen theoretischen Denkmittel als die 
rationalen Wissenschaften: denn in beiden ist es zuletzt die De- 





46 E. Cassirer, 


duktion, die ein einzelnes Urteil dem systematischen Zusammen- 
hang der Erkenntnis einreiht und die ihm damit erst seine Wahr- 
heit verbürgt.!) Gerade diese Grundeinsicht jedoch ist es, die 
sich in seiner neuesten Schrift zu verdunkeln droht: indem die 
mathematischen und die empirischen Sätze unter zwei völlig ver- 
schiedene Urteilsklassen subsumiert werden, scheinen damit 
zwei heterogene Grundmethoden zugelassen, deren Beziehung und 
deren Zusammenwirken nicht ersichtlich wird.) 

Und selbst innerhalb des Gebietes der reinen Mathematik 
bleibt zuletzt der „Anschauung“ dennoch ein weiterer Bereich und 
eine grössere Bedeutung, als die Logistik ihr zugesteht. So 
sehr sie im Fortschritt der Wissenschaft als selbständiges Be- 
weismittel zurücktritt, so unerlässlich ist sie, um die Aufgabe, 
die unseren logischen Synthesen zuletzt gestellt ist, zu bezeichnen 
und damit deren Richtung zu bestimmen. So bleibt ihr gegen- 
über dem reinen Denken etwa dieselbe Funktion, die der „Er- 
fahrung“ im physikalischen System Descartes’ zukommt: so wenig 
sie die mathematischen Begriffe für sich allein begründen und 
rechtfertigen kann, so sehr dient sie dazu, sie näher zu deter- 
minieren und zwischen den verschiedenen möglichen Prinzipien, 
die wir mit gleichem logischen Recht an die Spitze unserer De- 


1) Couturat, La Logique de Leibniz. S. 271; vgl. Principes des 
Mathém. S. 306 f. 

* Den gleichen Einwand gegen die Logistik hat, wie ich nachträg- 
lich sehe, M. Winter in seinem Aufsatz ,Métaphysique et Logique 
mathématique (Revue de Métaphys. XIII (1905), S. 589 ff.) erhoben. ,Das 
Schicksal der Transscendentalphilosophie* — so bemerkt er mit Recht — 
ist mit der Philosophie der Mathematik nicht unlöslich verbunden, 
Selbst wenn dieser Teil der Kritik hinfällig würde, so würde sich das 
transscendentale Problem von neuem erheben, wenn man sich fragt — 
und diese Frage ist unvermeidlich —, wie der mathematische Formalismus 
mit der Erfahrung zusammenstimmt. Dies ist ohne Zweifel der tiefe Sinn 
der Kantischen Philosophie, die vor allem eine Theorie der Erfahrung 
bleibt.“ ... „Es hiesse den Geist der Logik der Wissenschaften völlig 
verkennen, wenn man in ihr etwas anderes, als das erste Kapitel der posi- 
tiven Wissenschaften sähe. Der schwache Punkt in Couturats schönen 
Studien über Russell besteht zweifellos darin, dass man nicht deutlich er- 
kennt, ob man es hier mit einer Philosophie, oder nur mit dem abstrak- 
testen Zweige der Mathematik zu thun hat. ... Man kann, ohne die Ein- 
heit des Denkens zu verletzen, nicht zwei verschiedene Methoden der 
Wissenschaft schaffen, deren eine für ihren allgemeinen Teil, deren andere 
für ihren besonderen Teil bestimmt wäre.“ 


Kant und die moderne Mathematik. 47 


duktionen stellen könnten, eine Auswahl zu treffen. Würden 
wir diese ihre Funktion bestreiten, so gerieten wir in Gefahr, die 
geometrischen Grundbegriffe jedes eindeutigen Sinnes zu be- 
rauben; so besässen wir kein Mittel, zwischen den verschieden- 
artigsten komplexen Gebilden, sofern sie nur alle die Bedingungen 
erfüllen, die wir in den Axiomen niedergelegt haben, noch irgend 
einen Unterschied zu treffen. In der That ist es diese Konse- 
quenz, die Russell und Couturat mit aller Entschiedenheit ziehen. 
„Da die Grundbegriffe, mit denen die Geometrie arbeitet, undefi- 
nierbar sind, so ist ihr Sinn nicht bestimmt und geht auf 
keine Weise in die deduktive Verknüpfung der Einzelsätze ein; 
man kann diese Begriffe somit als reine Symbole ansehen, deren 
Bedeutung unbestimmt und gleichgiltig ist“ (Couturat S. 37), 
Das relative logische Recht dieser Auffassung haben wir früher 
bereits hervorgehoben: sie will im Grunde nur besagen, dass uns 
in der Mathematik nichts als „an sich“ bestimmt gelten darf, was 
wir nicht vermöge einer reinen begrifflichen Setzung selbst be- 
stimmt haben (vgl. 0. S. 29). Aber ebenso unbestreitbar ist es, 
dass in der Art dieser Setzung nicht lediglich Willkür waltet, 
dass sie nicht völlig wahllos erfolgt, sondern dass die „Anschauung“ 
als das letzte Ziel vor uns steht, dem unsere Begriffe ein Genüge 
leisten sollen. Zweifellos haben doch bisher die Geometer, wenn 
sie von Punkten, Geraden und Ebenen sprachen, etwas Bestimmtes 
„gemeint“; zweifellos haben sie, gleich dem Platonischen Demiurgen, 
auf eine bestimmte „Idee“ hingeblickt, die sie zum Ausdruck zu 
bringen trachteten. Wenn diese ibre „Meinung“ noch nicht ge- 
nügend expliziert war, so gilt es, sie logisch weiter zu klären; 
wobei jedoch unsere Begriffe so genau und eindeutig umschrieben 
werden müssen, dass sie dem Spezifischen dieser Grundgestalten 
mehr und mehr gerecht werden. Wollte man auf diese Forderung 
zu Gunsten einer unbestimmten logischen „Allgemeinheit“ ver- 
ziehten, so hiesse dies das Band zwischen reiner und angewandter 
Mathematik zerschneiden. Das „paradoxe und humoristische Wort“ 
Russells, das Couturat zitiert: dass nämlich die Mathematik eine 
Wissenschaft sei, in der man niemals wisse, wovon man spricht, 
noch ob das, was man sagt, wahr sei, würde dann zur buchstäb- 
lichen Wahrheit werden. 

Freilich handelt es sich an diesem Punkte um einen allge- 
meinen, heute noch ungeschlichteten Widerstreit. Wenn man die 
Entwickelung der modernen Mathematik betrachtet, so sieht man, 





48 E, Cassirer, 





wie iiberall in ihr die Tendenz hervortritt, bei der At 
einer Theorie sich lediglich durch die Forderung innerer 
Widerspruchslosigkeit leiten zu lassen, ohne sich durch die 
der möglichen Anwendbarkeit beirren zu lassen. So strebt si 
immer deutlicher und bewusster dem Ziele zu, für welches 
Cantor den Begriff der „freien Mathematik“ geprägt h 
lediglich die immanente gedankliche Folgerichtigkeit, nicht = 
Darstellung und Bewährung in irgend einer „transienten“ objek- 
tiven Realität ist der Massstab, den sie für ihre Prinzipien an- 
erkennt.!) Niemand wird das Recht dieses Anspruchs bestreiten, 
niemand wird aus philosophischen Gründen versuchen dürfen, der 
Freiheit der Mathematik, die die Bedingung ihrer Fruchtbarkeit 
ist, Schranken zu setzen. Und dennoch beginnt die Erkennt- 
niskritik erst mit derjenigen Frage, die der Mathematiker nicht 
kennt und nicht zu kennen braucht. Ihr eigentliches Problem ist 
nicht sowohl der Inhalt der mathematischen Prinzipien, als die 
Rolle, die sie im Aufbau unseres Begriffs einer ,gegenständlichen* 
Wirklichkeit spielen. Der Blick der Philosophie darf — wenn 
man dieses Verhältnis einmal schroff und paradox ausdrücken 
will — weder auf die Mathematik, noch auf die Physik gerichtet 
sein; er richtet sich einzig auf den Zusammenhang beider Gebiete, 
Es wäre vergeblich, dieses Problem als „metaphysisch“ von den 
Schranken der Mathematik und der Logistik zu verweisen. Denn 
damit wäre nur von neuem bewiesen, dass beide das systema- 
tische Ganze der notwendigen Grundfragen nicht zu bewältigen 
vermögen: haben wir es doch hier in keinem Sinne mit irgend 
einem transscendenten Gegenstande, sondern nur mit der ob- 
jektiven Gewissheit unserer Erfahrungserkenntnis selbst zu thun. 
So wenig daher die kritische Philosophie der Logistik das Recht 
zur selbständigen Ableitung und Formulierung der mathematischen 
Prinzipien verkürzen darf: so wenig wird sie von ihr die end- 
giltige Lösung ihrer Schwierigkeiten erwarten. Für das Ver- 
hältnis beider Forschungs- und Betrachtungsweisen gilt heute 
vielleicht das Wort, das Schiller über die Beziehung von Natur- 
forschung und Transscendentalphilosophie gesprochen hat: erst 
wenn sie sich im Suchen trennen, kann die Wahrheit, auf die sie 
gemeinsam hinzielen, erkannt werden. 

Aber dass diese Trennung nicht zu einer Verkennung und 
zu einem wechselseitigen Missverstehen führe: dazu will dieser 
98. Cantor, Mannigfaltigkeitslehre § 8. 


==‘ 








om 


Kant und die moderne Mathematik. 49 


Bericht über Russells und Couturats Arbeiten beitragen. Man 
kann den Leibnizschen Satz, den Couturat Kant entgegenhält: 
dass nämlich sein System in allem, was es positiv behaupte, wahr, 
— in allem, was es negiere, falsch sei, gegen seine eigene Dar- 
stellung zurückwenden: so wichtig sein Hinweis auf die reine 
logische Ableitung der mathematischen Prinzipien ist, so sehr ver- 
fehlt sein Angriff auf die Kantische Philosophie deren eigentlichen 
und entscheidenden Grundgedanken. Mögen trotzdem die Anhänger 
der kritischen Lehre sich nicht bestimmen lassen, an den Leist- 
ungen Russells und Couturats achtlos vorbeizugehen: denn wo 
immer mit solchem Scharfsinn und solcher Gründlichkeit an der 
rationalen Vertiefung der wissenschaftlichen Prinzipien gearbeitet 
wird, wie hier, da wird auch für ihre eigene Aufgabe die Vorbe- 
reitung geschaffen und der Boden bereitet. 


Kantstudien XIf, 4 


Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 


Von Fritz Medicus. 


Man weiss, dass Kant der Logik überhaupt keine gegen- 
whrtige Aufgabe mehr zugesteht. Sie habe seit Aristoteles keinen 
Schritt rückwärts zu thun gebabt und keinen Schritt vorwärts 
thun können; sie erscheine als geschlossen und vollendet (Kr. d. 
r, V. B. VEIL). Kant stellt diese These nicht ohne Begründung 
auf: Die Logik, sagt er, sei „eine Wissenschaft, welche nichts als 
die formalen Regeln alles Denkens (es mag a priori oder empi- 
risch sein, einen Ursprung oder Objekt haben, welches es wolle) 
ausführlich darlegt und strenge beweist“. Und darum habe die 
Logik ihre Sicherheit und Geschlossenheit nur „ihrer Einge- 
schriänktheit zu verdanken, dadurch sie berechtigt, ja verbunden 
int, von allen Objekten der Erkenntnis zu abstrahieren, und in 
ihr also der Verstand es mit nichts weiter als sich selbst und 
seiner Form zu thun hat“. Wogegen in den übrigen Disziplinen 
die allgemeine Verworrenheit eben daher komme, dass dort die 
Vernunft „nicht bloss mit sich selbst, sondern auch mit Objekten 
zu schaffen hat“. 

Allein schon als Kants Leben zu Ende ging, war es kaum 
mehr möglich, seine Ansicht von der Logik festzuhalten. Jäsche, 
der im Jahre 1800 in Kants Auftrag dessen Logik herausgab, ist 
in seiner Vorrede bemüht, den Standpunkt des Meisters zu ent- 
schuldigen. Fichtes Wissenschaftslehre hat die Grundsätze des 
Denkens in einem neuen Lichte gezeigt; und Jäsche hat von 
Fichtes Deduktionen doch zu viel verstanden, als dass er ihre 
Bedeutung werzuleugnen vermöchte. So sucht er bescheiden 
lavierend der Logik Kants die Unbestreitbarkeit eines relativen 
Rechtes zu sichern! mag es um die letztentscheidende Einsicht in 
die logische Gesetzmassigkeit wie auch immer bestellt sein — 
genug, dass innerhalb des herkömnlicher Weise der Logik zuge- 


Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 51 


billigten Rahmens die formalen Beziehungen ihre Geltung be- 
haupten, 

Bescheiden in der That .war diese Vorrede Jäsches. Denn 
wenn die Frage nach dem Verhältnis von Logik und Erkenntnis- 
theorie, die Frage nach der Einheit des theoretischen Bewusstseins 
in dubio gelassen wurde, so war damit auch gar manches integ- 
rierende Lehrstück der Kr. d. r. V. in die Schwebe geraten. 
Die Kr. d. r. V. steht auf der Voraussetzung, dass die formal- 
logischen Prinzipien selbstevident sind und den erkenntnistheore- 
tischen Untersuchungen zugrunde liegen; Die Form des Denkens 
steht für sich selbst fest. Richtet sich aber die intellektuelle 
Thätigkeit auf Gegenstände, so kommt etwas neues hinzu: die 
Denkformen genügen nicht, es bedarf spezifischer Erkenntnis- 
formen, die die (unter dem Gesichtspunkt der einheitlichen Ord- 
nung der Vorstellungen) möglichen Beziehungen der intellektuellen 
Thätigkeit auf einen Gegenstand überhaupt, den „transscendentalen 
Gegenstand“ ausdrücken. Wie sehr hierbei die formallogischen 
Denkformen vorausgesetzt sind, zeigt z. B, der vielberufene Um- 
stand, dass die Tafel dieser möglichen Beziehungen des transscen- 
dentalen Bewusstseins auf den transscendentalen Gegenstand ihr 
Deduktionsprinzip in der formallogischen Tafel der Urteile findet. 
Oder man denke daran, wie in der Kr. d. r. V. die traditionelle 
Stufenfolge Begriff — Urteil — Schluss den Aufbau der trans- 
scendentalen Logik bestimmt.') 

Das sind Beziehungen, die offen am Tage liegen und einen 
äusserlichen Charakter tragen. Aber in Wahrheit reichen die 
Konsequenzen der Unterordnung unter die formale Logik bis in 
die letzten und entscheidenden Aufstellungen der Kr. d. r. V. 
hinein. Hier sei vor allem an die Lehre von den Dingen an 
sich erinnert: es ist kein Zufall, dass Fichte und Hegel, die Be- 
kämpfer der formalen Logik, zugleich Bekämpfer der Dinge an 
sich waren. Denn in der Position einer sich selbst genügenden, 
in sich selbst geschlossenen Logik, die keinerlei Beziehung auf 
Gegenstände hat, liegt bereits der Dualismus von Bewusstsein und 
Wirklichkeit: das Bewusstsein ist für sich schon etwas, es braucht 
um seinetwillen keine Wirklichkeit, auf die es sich bezieht. So 
fordert die formale Logik ein von den Dingen unabhängiges Ich 

1) Über die vollständige Wertlosigkeit dieser Disposition der lo- 
gischen Gebilde muss man Schuppes „Erkenntnistheoretische Logik“ 
(8. 117 ff.) nachlesen. 

4 





b9 F Medicus, 


und als den anderen Grundfaktor der Welt die vom Ich unab- 
hängigen Dinge. Auf der anderen Seite schliesst die Ablehnung 
der Dinge an sich auch die Ablehnung einer selbständigen for- 
malen Logik ein: Denn giebt es keine Dinge an sich, so ist auch 
keine Rede mehr davon, dass dem Bewusstsein die Vorstellungen 
„gegeben“ würden. Das Erkennen der Wirklichkeit ist mithin 
nichts Sekundäres, sondern es ist — nicht nur der Zeit sondern 
auch der logischen Reihenfolge nach — primär, und die Grund- 
sätze der aristotelischen Logik erhalten den Charakter blosser 
Abstraktionen. Als selbständige, in sich gegründete Prinzipien 
kommen sie nicht mehr in Frage. 

Und noch eine weitere höchst wichtige Thatsache hängt — 
allerdings in loserer Konsequenz — mit der von Fichte und Hegel 
vollzogenen Degradation der formalen Logik zusammen: das Streben 
nach einheitlicher, streng systematischer Erfassung der theore- 
tischen Funktionen, d. h. nach dialektischer Entwickelung. 
Dieses Streben ist hintangehalten, so lange die formale Logik als 
ein Gebiet für sich gilt. Sowie aber bestimmt ist, dass die for- 
malen Denkbeziehungen ihre Stelle erst innerhalb einer transscen- 
dentalen Logik zu finden haben, ist auch das Problem der 
Systematik brennend geworden. Was in der Kr. d. r. V. an 
Systematik vorhanden ist, setzt die Selbständigkeit der formalen 
Logik voraus, ist also nicht mehr brauchbar. Das Verhältnis der 
Kategorien zu einander, ihr Verhältnis zu den Grundsätzen der 
aristotelischen Logik, zu Raum und Zeit, zu den von Kant als 
»dialektisch“ bezeichneten Problemen — kurz, der ganze Umfang 
der theoretischen Philosophie erscheint mit einem Male als eine 
ungeheuere Aufgabe, die ihre architektonische Lösung fordert. 
Wer die Eigengesetzmässigkeit des Bewusstseins in der formalen 
Logik sieht und konsequenter Weise den Dualismus von Bewusst- 
sein und Wirklichkeit bekennt, wird sein Bedürfnis nach syste- 
matischem Aufbau im Wesentlichen befriedigt sehen, wenn er für 
die formallogischen Funktionen ein schematisches Gerüst hat (wie 
etwa die Stufenfolge Begriff — Urteil — Schluss). Denn weiter 
reicht ja das Gebiet des von der Wirklichkeit unbehelligten 
Geisteslebens nicht, und deshalb wird dieses Schema Grundlage 
jeder weiteren rationalen Architektonik. Man vergleiche die 
‘Kr. d. r. V. 

Dieser alten Auffassung gegenüber bedeutete die Emanzipa- 
tion der transscendentalen Logik, wie sie zuerst in Fichtes 


Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 53 


Wissenschaftslehre erfolgte, eine eminente Erweiterung des Reiches 
der Vernunft, und es war darum nicht etwa scholastische Pedan- 
terie sondern Notwendigkeit, dass die Aufgabe einer umfassenden 
Systematik in Angriff genonmen wurde. Dass aber die eigentüm- 
liche Gestalt der neuen Systematik bei beiden grossen Logikern 
jener Zeit, bei Fichte und bei Hegel, trotz tiefgreifender Unter- 
schiede die Dialektik gewesen ist, kann nur dann auffallen, 
wenn man verkennt, dass auf dem Boden der Transscendental- 
philosophie überhaupt kein anderes Prinzip zulässig ist als das 
dialektische. Denn Transscendentalphilosophie bedeutet Über- 
windung alles bloss Faktischen durch teleologische Notwendigkeit; 
die Transscendentalphilosophie lässt in ihren Grenzen nichts zu, 
was als blosse Thatsache hinzunehmen wäre, sondern alles muss 
kritisch eingesehen werden — eingesehen als notwendig für den 
Zweck der Wahrheit. Wird nun die Frage nach dem System der 
Logik gestellt, so ist auch hier festzuhalten, dass die einzelnen 
Funktionen nicht in willkürlicher Ordnung verlangt werden, 
sondern in derjenigen Ordnung, von der eingesehen werden kann, 
dass sie die notwendige ist. Der Philosoph soll die Verbindung 
zwischen den einzelnen Denkbestimmungen nicht schaffen, 
sondern er soll nur „zusehen“, wie die einzelnen Denk- 
bestimmungen im notwendigen Wesen der Vernunft mit einander 
verbunden sind. Denn die Vernunft ist selbst nichts Faktisches, 
nichts Thatsächliches, nichts, was nun einmal so und nicht anders 
ist und in seinem Sosein hingenommen werden muss, sondern 
Vernunft ist durch und durch nur Notwendigkeit; nichts an ihr 
kann anders sein als so, wie es ist, und die ganze Aufgabe der 
Philosophie besteht eben darin, diese Notwendigkeit zu geson- 
dertem Bewusstsein zu bringen. 

Nun erfasst sich, wie Kant gezeigt hat, das notwendige 
Wesen der Vernunft darin, dass es die Mannigfaltigkeit des bloss 
Faktischen einheitlich zusammengreift. Aus dem bloss Mannig- 
faltigen gestaltet die Vernunft eine synthetische Einheit des 
Mannigfaltigen. Alles eigentliche Begreifen, alles Einsehen reicht 
gerade so weit, wie es jeweils möglich ist, trotz des Mannig- 
faltigen Einheit zu erfassen: denn gerade so weit ist die Vernunft 
ihrer Identität mit sich selbst gewiss. Die Denkbestimmungen 
der Logik sind Identitätsfunktionen, Einheitsfunktionen. 

Gesetzt nun, der Philosoph stehe mitten in seinen Bemüh- 
pogen um das System der Logik bei irgend einer dieser Denk- 


54 F. Medicus, 


bestimmungen und frage jetzt nach der vernunftnotwendigen 
Überleitung zur nächsten. Nach dem Gesagten ist klar, dass sich 
der methodische Fortgang in folgender Weise bestimmt: Es ist 
festgestellt worden, was die soeben untersuchte Funktion positiv 
leistet. Diese Feststellung erforderte eine Beziehung der be- 
treffenden Funktion auf die Idee des Wissens. (Die apriorische 
Idee des Wissens ist Voraussetzung, axiomatischer Anfang der 
Philosophie. Wir müssen wissen, was Wissen oder Wahrheit ist. 
Wer nach einer Definition der Wahrheit fragen wollte, setzte in 
der Frage schon das Wissen davon, wonach er fragt, voraus.) 
Eben diese Beziehung der fraglichen Denkbestimmung auf die 
Idee des Wissens zeigt aber notwendiger Weise zugleich auch, in 
wiefern diese Idee selbst hier noch nicht erreicht ist, warum also 
das System der Logik hier noch nicht seinen Abschluss hat; d.h. 
es ergiebt sich, dass die geforderte Überwindung des Mannig- 
faltigen noch keine vollkommene ist. Selbstverständlich erfolgt 
diese Feststellung in keinem Sinne auf Grund von Erfahrungsthat- 
sachen, z. B. der Thatsache, dass wir mit dem Dingbegriff allein 
nicht auskommen, da es bekanntlich auch Veränderungen giebt, 
denen gegenüber die Kategorie der Dinghaftigkeit versagt; sondern 
es kommt darauf an, den logischen Charakter der gewonnenen 
Denkbestimmung so weit zu entwickeln, dass deutlich wird, warum 
die ihre Selbstgewissheit (absolute Identität) suchende Vernunft 
hier zwar etwas von ihrem Wesen, aber doch nicht ihr ganzes 
Wesen selbst findet. Diese Besinnung auf die Eigenart des un- 
überwunden gebliebenen Mannigfaltigen (der Antithese) aber stellt 
in bestimmter Form die Aufgabe der nun geforderten neuen, 
höheren Synthese. 

Das ist die Idee der Dialektik, die in soweit nichts ist 
als Ausdehnung der Kantischen Konzeption, dass in der Philo- 
sophie nur das in seiner Notwendigkeit Einzusehende eine Stelle 
finden darf. auf die Methode des Philosophierens und damit auf 
den Zusammenhang der philosophischen Sätze unter einander. —. 
Wie wenige Klarheit bei Kant selbst in dieser Beziehung vor- 
handen ist. wird von der charakteristischen Thatsache grell be- 
leuchtet, dass das „Kant-Friessche Problem” von den Anhängern 
Kants ernst genommen zu werden pflegt. 

Wohl zu unterscheiden von der Idee der Dialektik sind die 
Ausführungen. die ibr zu Teil zeworden sind. Die weitaus grösste 
historische Wirksamkeit unter diesen Versuchen hat, wie man 


Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 55 


weiss, die Logik Hegels gehabt. Ihre Gedanken sind heute 
nicht mehr modern; doch fühlt man sich vielfach noch immer ge- 
drungen, ihr, wenn es die Gelegenheit gerade mit sich bringt, die 
Ehre einer kurzen Widerlegung zu geben. Dass diese Wider- 
legungen sich ihre Sache meist viel zu bequem machen, kann 
allerdings niemandem entgehen, der Hegels Logik kennt; dem von 
manchen Seiten prophezeiten und gefürchteten Wiederaufkommen 
des Hegelianismus würde daher kaum ein ernstlicher Widerstand 
drohen. — Hegel schaut auf die unaufhörliche Bewegung alles 
Endlichen, und dieses heraklitische Fliessen will er begrifflich 
einfangen. Seine Logik sucht die „objektiven Gedanken“, und 
das können nur solche sein, die dem steten Wechsel gerecht 
werden. Ein Begriff rein als solcher (z. B. „Tier“ oder „Leben“) 
drückt eine zeitlos ewige Wahrheit aus: aber kein endliches 
Einzelding thut dieser begrifflichen Ewigkeit genug. „Gott allein 
ist die wahrhafte Übereinstimmung des Begriffs und der Realität; 
alle endlichen Dinge aber haben eine Unwahrheit an sich, sie 
haben einen Begriff und eine Existenz, die aber ihrem Begriff 
unangemessen ist. Deshalb müssen sie zu Grunde gehen, wodurch 
die Unangemessenheit ihres Begriffs und ihrer Existenz mani- 
festiert wird. Das Tier als Einzelnes hat seinen Begriff in seiner 
Gattung, und die Gattung befreit sich von der Einzelnheit durch 
den Tod“ (Encykl. $ 24, Zusatz 2). Die Logik hat die Aufgabe, 
in ihren objektiven Gedanken die „wahrhafte Auffassung“ der 
objektiven Verhältnisse zu leisten, und im vorliegenden Beispiel 
ist die wahrhafte Auffassung diese, „dass das Leben als solches 
den Keim des Todes in sich trägt, und dass überhaupt das End- 
liche sich in sich selbst widerspricht und dadurch sich aufhebt“ 
(Encykl. § 81, Zusatz 1).!) Lotze, gewiss keiner der sorglosesten 
unter den Kritikern Hegels, hat in offenbarem Hinblick auf diese 
Stellen gegen Hegel eingewendet: „Das Leben als solches stirbt 
nicht, und der allgemeine Begriff des Lebens verpflichtet das 
Lebendige nur zum Leben, aber nicht zum Tode; nur die einzelnen 
lebendigen Körper tragen den Keim des Todes in sich. Und auch 
sie nicht vermöge der Idee des Lebens, die sich in ihnen reali- 


1) Vgl. auch die „Lineamenti di una logica come scienza del con- 
cettu puro“ des geistvollen Neuhegelianers Benedetto Croce (Napoli 
1905): „La morte non è la semplice antitesi della vita, ma é la condizione 
stessa della vita, la quale si esplica come vita mediante Ja morte. La 
morte & intrinseca alla vita“ (98). 


56 F. Medicus, 


siert hat, sondern nur um des äusserlichen Umstandes willen, weil 
die Verknüpfung der realen Elemente, durch die sich auf der 
Oberfläche der Erde das Leben allein verwirklicht findet, im Zu- 
sammenhang mit den allgemeinen hier wirksamen Naturbedingungen 
nicht ausreicht, oder im Zusammenhang mit einem universalen 
Weltplan nicht ausreichen soll, um der Idee des Lebens ein . . . 
ewig dauerndes Beispiel zu geben“ (Logik ? 250/51). Allein diese 
Kritik trifft nicht, und zwar darum nicht, weil sie gar nicht auf 
die Absicht der Hegelschen Logik eingebt, sondern die Begriffe 
in der arglosen Sphäre der blossen Verständigkeit belässt. Und 
wenn Lotze weiter bemerkt, dem Begriff des Lebens würde ein 
Beispiel ewiger Lebensdauer durchaus nicht widersprechen, so ist 
doch zu sagen, dass dies zwar in der Sphäre der Verständigkeit 
wiederum zweifellos gilt, aber doch nur darum, weil der in Be- 
tracht kommende Widerspruch in dieser Sphäre nicht vorkommt; 
der Verstand wäre ohnehin nicht in der Lage, die vorgebliche 
Ewigkeit des Einzeldinges zu konstatieren. Was aber Hegel in 
der Logik fordert, ist die Vernunfteinsicht, dass in diejenigen 
Denkbestimmungen, durch die das Einzelding zu begreifen ist, 
notwendig nur Vergängliches eingeht. 

Die wirklich prinzipiell bedenkliche Seite der dialektischen 
Methode Hegels liegt anderswo. Hegel lehrt ein „eignes Sich- 
Aufheben der endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre 
entgegengesetzte“ (Encykl. § 81). Alle Verstandesbestimmungen 
gelten ihm (nicht mit Unrecht) als einseitig und beschränkt, und 
in ihrer Einseitigkeit und Beschränktheit, meint er, haben sie ihre 
eigene Negation in sich, durch die sie sich selbst aufheben. „Das, 
wodurch sich der Begriff selbst weiter leitet, ist das Negative, 
das er in sich selbst hat; dies macht das wahrhaft Dialektische 
aus“ (Wissenschaft der Logik, Nürnberg 1812, I, 1, S. XXI). 
Diese Stellen sollen hier zeigen, dass Hegel über die oben dar- 
gelegte Idee der Dialektik dadurch hinausgeht, dass er ein 
selbsteignes Sich-Weiterleiten der endlichen Denkbestim- 
mungen behauptet. Dagegen aber ist geltend zu machen, dass 
das Weitertreibende nur das lebendige Bewusstsein von der über- 
greifenden Bedeutung der Idee des Wissens sein kann. Hegel 
nennt die Verstandesfunktionen einseitig und beschränkt: gewiss 
sind sie das; aber sie sind es doch nur insofern, als sie auf die 
Idee des Wissens bezogen sind — und zwar auf die Idee des 
Wissens nicht, sofern sich diese in ihnen realisiert, sondern so- 


Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 57 


fern sie über die gegenwärtige Leistung hinausweist. Also die 
Denkbestimmungen negieren sich nicht selbst, sondern die Idee 
des Wissens negiert — nun wiederum nicht die Denkbestimmungen 
selber sondern — den Anspruch der einzelnen Denkbestimmungen, 
die Aufgabe des Wissens zu erschöpfen. Nichts anderes liegt 
in der Idee der Dialektik. Aus dieser Einsicht aber ergiebt sich,. 
dass die Auffassung vom Umschlagen der Denkbestimmungen in 
ihre entgegengesetzte erheblich modifiziert werden muss: Die 
Entgegensetzung, die allein in Betracht komnit, ist die kontradik- 
torische; diese aber führt hier so wenig wie anderwärts zu einer 
inhaltlich bestimmten Position: sie besagt nur, dass die erreichte 
Denkbestimmung nicht der Abschluss ist. Das antithetische 
Moment kann mithin keine andere Bedeutung haben als die, dass 
es vor eine neue Aufgabe stellt. Die bisherige Synthese ist 
nicht die letzte, es gilt diejenige höhere zu finden, die von dem 
erreichten Stadium der Selbsterfassung des logischen Bewusstseins 
aus, d. h. dem nunmehr noch vorliegenden Mannigfaltigen gegen- 
über notwendig ist. Wie es aber zu machen sei, um die Eigen- 
art dieser höheren Synthese zu entdecken, mag der Logiker selbst 
„zusehen“; ohne eigene Thätigkeit geht es beim philosophischen 
Zusehen nicht ab. 

Man hat Hegels Logik emanatistisch genannt (Emil 
Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte, Tübingen 1902, 
S. 56 ff). Der Ausdruck trifft genau diejenige Eigentümlichkeit 
seiner dialektischen Methode, gegen die sich diese Ausführungen 
wenden. Es ist nicht so, dass die eine Synthese aus der anderen 
hervorginge; sondern die einzelnen Synthesen sind Produkte des 
von der Idee des Wissens geleiteten Strebens, und jede Synthese 
bleibt das, was sie ist: die höhere Synthese wird dadurch ge- 
wonnen, dass das Streben auf der erreichten Stufe nicht Halt 
macht, sondern den Kampf um die Idee weiter kämpft. — 

Es hat nach der Ablehnung der Methode Hegels in diesem 
Zusammenhang kein Interesse mehr, nun noch den Ausgangspunkt 
seiner dialektischen Entwickelungen zu untersuchen. Dagegen ist 
es nunmehr dringend nötig, an die noch immer nicht beantwortete 
Frage heranzutreten, ob es überhaupt geboten ist, die formale 
Logik zu Gunsten einer dialektischen aufzugeben. Die Antwort 
sei im Folgenden in der Weise gegeben, dass an den logischen 
Grundsätzen selbst die immanente Beziehung auf das dialek- 
tische Wesen der Vernunft gezeigt wird. Die formale Logik be- 


1 



























58 F. Medicus, 


trachtet ihre Grundsätze für die allerersten 
theoretischen Bethätiguug, gleichviel ob sich diese 
ständliches Erkennen oder auf reines Denken bezieht. 
allerersten Prinzipien sind auch hier in Frage. Ob 
kannten Grundsätze der formalen Logik diesen Platz 
können, wird sich bald ergeben. 
Man kann als die grundlegende, ganz allgemeine 
aller theoretischen Bethätigung die Überzeugung vom W 
Wahrheit, den Glauben an die Wahrheit, an die 
Wissens bezeichnen. Wo diese Willensfunktion nicht 
wird, ist kein Wissen möglich. Kantianer werden 
hier einzuwerfen, das sei zwar psychologisch richtig, g 
die Logik nichts an. Allein dieser Einwand übersieht, d: 
von der Wahrheit nicht wie von einer von der lebend 
wegung des Denkens unabhängigen Sache reden kann. W: 
ist nichts Totes, Gegenständliches, was man jemandem 8 
könnte, sondern sie besteht nur in jener lebendigen Th 
die ein jeder nur für sich selbst vollziehen, zu der ni 
zwungen werden kann. Man kann darum nur sehr uneige 
sagen, dass etwa in einem Buche Wahrheiten gedruckt zu 
seien; die Wahrheit kann nie gedruckt werden; was 
werden kann, kann nur der Niederschlag der lebendigen T 
keit sein, in der allein die Wahrheit wirklich da ist. Und 
das gedruckte Buch liest, kann sich die Wahrheiten, deren Ni 
schlag es enthält, nur dadurch aneignen, dass er die Bede 
dessen sucht, was er gedruckt vor sich hat. Diese Be t 
aber hat er nicht gedruckt vor sich, sondern sie muss er 
sich suchen, und die Beschäftigung mit dem gedruckten 


Wahrheiten kennen lernt. Im Buch stehen die Wahrheiten 
denn Wahrheiten sind lebendig, und die Bedingungen dieses « 
tümlichen Lebens hat der Leser in sich selbst zu erzeugen. 
deutung ist ichhaft, und es macht in dieser Hinsicht 
Unterschied, ob das Buch von Logik, von Mathematik, von N 
wissenschaft, von Geschichte handelt. Nicht nur die e 
des Begriffes Identität sondern auch die des Begriffes Tintenfis 
besteht ausschliesslich in einer bestimmten Thätigkeit des 


wissbar ist. Alles Wissen ist ein Wissen von Bedeutungen. — 
theoretische Bewusstsein sucht nie etwas anderes als dieses 


Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 59 


hafte — das Ich sucht immer nur sich selbst. Alle theoretische 
Bethätigung hat zum Ziel die Identität des Ich mit sich 
selbst. Auch am Gegenstand sucht das Ich nur sich, „Bei der 
Erforschung der Wahrheit steht nicht in Frage, den nackten Be- 
fund der Sinnlichkeit zur abspiegelnden Wiederholung in das Be- 
wusstsein aufzunehmen, sondern es wird ein neues Weltbild heraus- 
gearbeitet, das nur im Geiste seinen Bestand hat“ (Eucken, Die 
Einheit des Geisteslebens in Bewusstsein und That der Mensch- 
heit 374). Das Ich will nicht das Objekt ergreifen, das da 
draussen im Raume steht, sondern es will die Bedeutung des 
Objektes im Bewusstsein erfassen, und diese Bedeutung eignet es 
sich an in einem Akt der Selbstvergewisserung, durch Bethätigung 
einer Identitätsfunktion. 

Diese Erwägungen sind entscheidend für die Auffassang des 
ersten Grundsatzes der Logik, des Prinzips der Identität. 
Das, was in allem Wissen als identisch behauptet wird, ist die 
Bedeutung, das Ichhafte, niemals etwas anderes. Darum hat 
Fichte mit vollem Recht betont, dass der Grund der Giltigkeit 
der Formel A— A in jener absoluten Thesis liegt, die als 
Ich =Ich formuliert werden müsste. Identisch ist die ichhafte 
Bedeutung. Solche Identität aber ist in allem Wissen vorhanden. 
Eine Veränderung erkennen z. B. heisst: das Identische trotz der 
Veränderung erkennen. Bei einer elektrolytischen Verbindung 
sind nicht die sinnlichen Erscheinungen der einzelnen Elemente 
mit der sinnlichen Erscheinung der unzerlegten Verbindung iden- 
tisch, aber die beiden Zustände bedeuten in einer bestimmten 
Beziehung dasselbe. Die Handlung eines Menschen verstehen 
heisst: verstehen, inwiefern sie aus dem in allen Handlungen 
dieses Menschen identischen Charakter geflossen ist: jede einzelne 
Handlung bedeutet diesen Charakter. 

Da nun, wie gezeigt, die Identität, das eigentliche Ziel des 
Wissens, lediglich in der Bedeutung liegt, die Bedeutung aber 
niemandem aufgenötigt oder „gegeben“ werden, sondern nur durch 
eigene That erzeugt werden kann, ist es niemals möglich, den 
Skeptiker zu überführen. Die Skepsis hat ihr Wesen in süffis- 
santem Verzichten auf jene Thitigkeit, die die Bedeutung sucht. 
Wenn jemand dem chemischen Experiment zusieht, um nachher 
zu erklären, er habe wohl gesehen, dass die ursprüngliche Sub- 
stanz verschwunden sei und nun ein paar andere Substanzen da 
seien; aber niemand könne ihm beweisen, dass das, was er jetzt 





60 F. Medicus, 


sehe, mit dem vorhin Gesehenen identisch sei, — so kann man 
ibm nur recht geben. Die Identität kann ihm nicht gezeigt 
werden: denn sie ist nichts als die Bedeutung des ganzen Experi- 
ments. Bedeutung aber ist etwas Ichhaftes, und das Ich ist 
nichts als Thätigkeit. Der Unthätigkeit des Skeptikers erschliesst 
sich keine Wahrheit. Eine selbstlose Aufnahme von Eindrücken 
ist nie Erkenntnis; dem Philosophen, dem die Seele einem unbe- 
schriebenen Blatt Papier, einer tubula rasa vergleichbar war, 
musste die Substanzialität zum Welträtsel werden.!) 

Fichte hat bekanntlich den für den Charakter seines ganzen 
Systems entscheidenden Unterschied zwischen der formalistischen 
Auffassung des Identitätsprinzips (A — A) und der von ihm ge- 
lehrten Zurückführung der logischen Form auf die Selbstgewiss- 
heit des sich setzenden Ich dahin ausgesprochen, dass er erklärte: 
Während in der Formel A=A nichts über Existenz des A aus- 
gesagt, sondern nur eine denknotwendige Beziehung behauptet ist, 
ist die Formel Ich = Ich gleichbedeutend mit Ich bin. A=A, 
das bedeutet nur: wenn A ist, so ist A; Ich = Ich aber kann 
nicht gedacht werden, ohne dass das Ich seine Wirklichkeit setzt 
— diejenige Wirklichkeit, die das Wesen des Ich ausmacht, 
lebendige Thätigkeit, Überzeugung vom Werte der Wahrheit, 
Glaube an die Idee des Wissens. Es wurde oben (58) darauf 
hingewiesen, dass der Kantianismus den Glauben an die Wahrheit 
für ein psychologisches Phänomen ausgeben möchte. Man erkennt 
hier, wie genau dieser Versuch damit zusammenhängt, dass die 
Kr. d. r. V. mit der alten Schullogik noch eine Selbstevidenz der 
formalistischen ,Grundsätze“ annimmt. Hat man aber eingesehen, 
dass die Formel A == A durchaus nicht aus eigener Kraft fest- 
steht, sondern dass sie das mit sich identische wirkliche Ich vor- 
aussetzt, ja dass diese Identität des wirklichen Ich überhaupt 
ihren eigentlichen Sinn ausmacht, so muss man auch zugeben, 
dass die Logik keine rein formale Wissenschaft in dem Sinne 
sein kann, dass sie die Wirklichkeit überhaupt nichts anginge. 
Die Logik hat es mit der wirklichen Wahrheit zu thun, nicht 
mit der toten Wahrheit, wie sie in gedruckten Büchern steht. 
Und die wirkliche Wahrheit ist nur da, wo auch der lebendige 





ı) Feinsinnige Bemerkungen hierzu in F. Lassalles Festrede „Die 
Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes“ (Berlin 
1862), S. 9, 


Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 6i 


Glaube an die Wahrheit ist. Wenn der Kantianismus hier psy- 
chologistischen Einschlag wittert, so verrät er damit nur, dass er 
die Grenzlinie zwischen Philosophie und Psychologie nicht scharf 
genug hat bestimmen können. Der lebendige Glaube an die 
Wahrheit ist vom Sinn des Wortes Wahrheit unabtrennlich, und 
deshalb gehört er in die Logik. — 

Im Grundsatz der Identität (Ich — Ich) findet der Glaube an 
die Wahrheit oder an die Idee des Wissens seine erste Fixierung. 
Allein diese Fixierung ist nicht die abschliessende. Der Glaube 
an die Wahrheit ist Glaube an die Freiheit des theoretischen Ich; 
das Bewusstsein der Freiheit aber ist Bewusstsein eines Wert- 
unterschiedes zwischen wahr und falsch. Die Wahrheit 
kann nur eine sein, und es kommt in jedem Falle darauf an, 
dass die freie intellektuelle Thätigkeit richtig entscheidet und 
demgemäss eine Vorstellungsverknüpfung entweder bejaht oder 
verneint.!) Darin eben wirkt sich die Freiheit des theoretischen 
Ich aus: in der Bethätigung des Glaubens an die Wahrheit durch 
selbstbewusstes Bejahen oder Verneinen. Natürlich lassen sich 
Fragen stellen, auf die nicht mit einfachem Ja oder Nein geant- 
wortet werden kann: aber in solchem Falle hat auch die Frage 
nur einen vorbereitenden Wert, und der Antwortende hat die Auf- 
gabe, erst so weit Klärung zu schaffen, dass eine Entscheidung 
zwischen Ja und Nein möglich ist. Abschliessende Antworten 
sind stets glatte Bejahungen oder glatte Verneinungen. Denn die 
Wahrheit liegt nie in der Mitte, sondern sie ist die schroffste 
aller Einseitigkeiten. 

Indem durch Reflexion auf den Freiheitscharakter der Idee 
des Wissens oder der Wahrheit dieses Bewusstsein eines Wert- 
unterschiedes von wahr und falsch entsteht, der in jedem ein- 
zelnen Falle eine Entscheidung zwischen Bejahung und Verneinung 
nötig macht, entdeckt sich die Grenze des Prinzips der 
Identität. Denn dieses kennt nur das seiner selbst gewisse 
Ich; die Verneinung aber ist eine Handlung des Ich, die ihrer 
logischen Bedeutung nach nur da möglich ist, wo dieses eine lo- 
gische Situation anerkennt, in der es sich nicht erfasst hat, — 
sie ist nur da möglich, wo eine Beziehung auf ein Nicht-Ich 


1) Vgl. W. Windelband, „Beiträge zur Lehre vom negativen Urteil“ 
in den Strassburger Abhandlungen zur Philosophie, E. Zeller gewidmet 


(Tübingen 1884). 





63 F. Medicus, 


vorliegt. Von hier aus erhellt die ursprüngliche Bedeutung des 
zweiten Grundsatzes, des Satzes vom Widerspruch. Das 
theoretische Ich kann ein Sich-nicht-erfasst-haben, d. h. ein 
Nicht-erfüllt-sein von logischer Bedeutung unmöglich als etwas 
Letztgiltiges anerkennen: denn sein ganzes Wesen und Leben be- 
steht nur darin, dass es sich selbst erfasst. Es kann darum das 
Nicht-Ich nur insofern gelten lassen, als es in ihm etwas zu 
Überwindendes setzt: es giebt ihm die Bedeutung der zu über- 
windenden Aufgabe, der Schranke (wie die sehr treffenden 
Ausdrücke der Wissenschaftslehre lauten. Das also will der 
Satz des Widerspruchs ursprünglich sagen, dass sich das Ich bei 
einem Befund, in dem es sich nicht findet, nie beruhigen kann, 
sondern dass es an ihm eine zu überwindende Schranke hat. Das 
Nicht-Ich ist nicht — Ich, das Ich aber will seine Selbstgewissheit 
behaupten und kann darum nichts zugeben, was diese Selbst- 
gewissheit aufhebt. Es hält an der Überzeugung von seiner un- 
bedingten Selbstgewissheit fest; diese aber gewinnt die neue Ge- 
stalt, dass das Nicht-Ich nichts Letztgiltiges, sondern dass es 
Aufgabe ist. — Jedes negative Urteil hat die Bedingung seiner 
Möglichkeit in dieser logisch ursprünglichen Stellung des Ich zum 
Nicht-Ich. Jede Negation (Non-A) setzt voraus, dass die ent- 
gegengesetzte positive Grösse (A) schon bekannt ist. Die logische 
Bedeutung von A muss feststehen: erst von dieser ichhaften Posi- 
tion aus erhält Non-A überhaupt einen Sinn. Affirmation und 
Negation sind nicht logisch gleichwertig. Nur eine Affirmation 
kann selbständige Bedeutung haben; die Negation hingegen be- 
zeichnet stets nur dasjenige, worin sich das Ich noch keine selbst- 
gewisse Position geschaffen hat. Darum kann, wie schon Kant 
(Kr. d. r, V. B. 737) bemerkt hat und wie Sigwart und Windel- 
band eingehend gezeigt haben, das negative Urteil niemals ab- 
schliessendes Wissen enthalten. 

Auch vom Grundsatz des Widerspruchs selbst muss das 
gelten: er hat seine Bedeutung nicht in sich, sondern in seiner 
Beziehung auf den positiven Wert der absoluten Identität. Be- 
deutung ist nie etwas Negatives. Darum die Bedeutungslosigkeit 
jener ekelhaften Schwätzer, die nur zu widersprechen wissen und 
aus der Negation nicht herauskommen; die witzig zu sein meinen, 
wenn sie der Kritik der reinen Vernunft die wohlfeile Antithese 
Kritik der reinen Unvernunft oder dem Wesen des Hegelianismus 
das Unwesen des Hegelianismus gegenüberstellen. Fichte hat 





Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 63 


diesem Typus in der Konstruktion des Nicolai dasjenige unver- 
gängliche Denkmal gesetzt, das er verdient. Das Ziel des Wissens 
ist nie die Negation; ihre Bedeutung, ihre positive Bedeutung liegt 
jenseits ihrer selbst, da, wo sie überwunden ist und das Ich sich 
selbst erfasst hat. So ist die Negation ein selbst zu Negierendes; 
soweit sie vom Wissen negiert, d. h. überwunden ist, ist die Auf- 
gabe gelöst und eine neue Position vom Ich errungen. Das Ich 
treibt über jede Negation hinaus, weil es sein Streben nach Be- 
deutung in ihr nicht erfüllen kann. Ein Urteil wie „Die Blind- 
schleiche ist keine Schlange“ genügt ihm nicht; es fordert zu 
wissen, was die Blindschleiche denn nun in Wahrheit sei. Erst 
das Urteil „Die Blindschleiche ist keine Schlange, sondern eine 
Echse“ befriedigt. Was nicht in seiner Bedeutung bekannt ist, 
ist Aufgabe. Das Bekannte und das Aufgegebene sind einander 
ausschliessende und zur Totalität des Wissbaren ergänzende 
Gegensätze — sie stehen in kontradiktorischer Disjunktion: 
alles nicht Bekannte ist Aufgabe, dass nicht Aufgegebene ist nur 
das Bekannte, 

Unter Abstraktion von der teleologischen Beziehung hat die 
formale Logik aus diesem logischen Grundverhältnis ihren dritten 
„Grundsatz“, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten ab- 
geleitet — abgeleitet natürlich, ohne es zu wissen. Während es 
für das lebendige Denken zunächst heisst: „Die Blindschleiche ist 
nicht Schlange sondern ... eine Aufgabe für die Erkenntnis- 
bethätigung“, heisst es für die phlegmatische Schullogik: „Die 
Blindschleiche ist nicht Schlange, sondern Nicht-Schlange“, und 
sie philosophiert weiter: „Wie die Blindschleiche, ist auch alles 
andere, was nicht Schlange ist, Nicht-Schlange — omne A aut B 
aut Non-B.“ Offenbar setzt dieser formale Satz jene Gestalt der 
Selbstgewissheit des Ich voraus, in der dieses trotz des Negativen 
sich nicht aufgiebt. Und nur in dieser Selbstgewissheit liegt der 
Grund der Giltigkeit des Satzes, Denn wie könnte von einem 
Non-B, von dieser bestimmungslosen Unendlichkeit des vom 
Wissen nicht Durchdrungenen doch etwas gewusst werden, wenn 
sich nicht das Ich eines ursprünglichen logischen Rechtes darauf 
bewusst wäre? Die Logik hat die Aufgabe, ein Verständnis dieses 
Rechtes zu schaffen: deshalb ist gezeigt worden, dass jene Selbst- 
gewissheit in der Stellung wurzelt, die der in seinem ursprüng- 
lichen Sinne genommene Satz des Widerspruchs dem Ich in Be- 
ziehung auf das Negative zuweist. Indem der Satz des Wider- 





64 F. Medicus, 


spruchs das Negative als das noch zu Erobernde, die Schranke, 
die Aufgabe, etwas nicht Letztgiltiges auffassen lehrt, setzt er 
Ich und Nicht-Ich in das Verhältnis der kontradiktorischen Dis- 
junktion zu einander. 

Die formale Logik stellt ihr Principium exdusi tertii als 
selbständigen „Grundsatz“ neben ihr Principium contradictionis, 
weil sie keines aus dem andern herleiten kann. Richtig ist auch, 
dass sich die beiden Formeln nicht aus einander herleiten lassen; 
allein es giebt eine übergeordnete und prinzipielle Betrachtung 
dieser Verhältnisse, und diese lehrt, dass beide derselben Wurzel 
entstammen, dem ursprünglichen (nicht formalistisch verblassten) 
Grundsatz des Widerspruchs, der das Beharren beim Negativen, 
vom Ich nicht Bewältigten verbietet und so das Ich auf die Auf- 
gabe hinweist, in deren Erfüllung es sich selbst findet. 

Der zweite Grundsatz ist damit dargelegt. Er steht der 
absoluten Thesis des mit sich identischen Ich als Antithese gegen- 
über: das Ich ist nicht mit sich identisch, wo es nein zu sagen 
hat, und deshalb hat es überall da noch Aufgaben vor sich. Die 
absolute Identität ist ein im Unendlichen liegendes Ideal. Aber 
alles endliche Denken ist mit Negativem behaftet, omnis deter- 
minatio est negatio. Alles Erkennen ist ein Identisch-setzen, jeder 
Erkenntnisakt ein Schritt in der Richtung auf das geforderte 
Ziel hin: aber es kann nie gelingen, die Negativität rein in 
Wissen aufzulösen und dadurch die absolute Identität des theore- 
tischen Ich zu realisieren; und zwar eben darum nicht, weil Er- 
kennen Identisch-setzen ist. Das Nicht-Ich wird nie in dem Sinne 
erkannt, dass es mit dem Ich identisch gesetzt werden dürfte: 
dies ist durch den Satz des Widerspruchs ausgeschlossen. Viel- 
mehr muss sich die Erkenntnisbethätigung dem Nicht-Ich gegen- 
über darauf beschränken, durch zweckmässig geschaffene Modifika- 
tionen der Verstandesgesetze (d. h. durch logische Gebilde) die 
Selbstgewissheit des Ich in solcher Weise zur Geltung zu bringen, 
dass das Nicht-Ich in seinen Daseinsweisen vom Ich umklammert 
wird. Damit wird nun allerdings das Nicht-Ich in seinem Wesen 
erfasst. Denn es ist in Wahrheit das Wesen des Nicht-Ich, dem 
die Wissenschaft nachgeht und das sie in ihren Urteilen festzu- 
legen bestrebt ist. Es giebt keine Dinge an sich, die das Inn’re 
der Natur den erschaffnen Geistern entzögen. Freilich ist richtig, 
dass die Erkenntnis des Nicht-Ich eine relative bleibt, dass es 
niemals dahin kommen kann, dass eine historische Thatsache oder 


Kant und die gegenwirtige Aufgabe der Logik. 6B 


ein spezielles Naturgesetz in seiner Notwendigkeit eingesehen 
würde, wie etwa der Pythagoreische Lehrsatz in seiner Not- 
wendigkeit einzusehen ist. Aber der Grund dieses Unterschiedes 
zwischen empirischen und rationalen Erkenntnissen liegt aus- 
schliesslich darin, dass alles Wissen auf Identitätsfunktionen be- 
ruht und es niemals erlaubt sein kann, ein Nicht-Ich mit dem Ich 
identisch zu setzen. Darum wird das rein Faktische nie in ein 
Rationales umgewandelt. Durch die Erkenntnis, dass NaCl eine 
elektrolytische Verbindung ist, wird nichts von der Thatsächlich- 
keit des Kochsalzes in reine Vernunft aufgelöst. Das Thatsäch- 
liche kann immer nur insofern begriffen werden, als es sich durch 
Bethätigung von Identitätsfunktionen auf anderes Thatsächliche 
zurückführen lässt, und die Hoffnung, dass zuletzt alle „zufälligen 
Wahrheiten“ in den „notwendigen Wahrheiten“ aufgehen müssten, 
wäre trügerisch.!) 

Es bleibt also in jeder Thatsache auch selbst für einen voll- 
kommenen Verstand ein undurchdringliches Moment, etwas nicht 
Rationales, etwas, was nicht in ein blosses Thun des Verstandes 
aufgelöst werden kann. Und wenn Leibnitz aus dieser Einsicht 
heraus lehrte, die verites eternelles hätten ihren Ursprung im gött- 
lichen Verstande, die verites de fait im göttlichen Willen, so ist 
von dieser Formulierung mindestens so viel anzunehmen, dass eine 
rein theoretische Position kein Weltverständnis giebt. Darum 
waren die Eleaten konsequent, wenn sie von dem Gedanken der 
Rationalität ausgehend die Möglichkeit der Sinnenwelt leugneten 
oder sie doch zum blossen trügerischen Schein herabsetzten; sie 
ist in der That etwas nicht Rationales. (In jüngster Zeit hat 
namentlich Rickert die hiermit zusammenhängenden logischen 
Fragen lichtvoll erörtert.) 

Wollte man mit den Voraussetzungen und Denkgewöhnungen 
der Schullogik an diese Ausführungen herantreten, so müsste 
man den Eindruck bekommen, dass zwischen diesen letzten von 
der Ergänzungsbedürftigkeit des Rationalismus handelnden Sätzen 
und dem unmittelbar vorher über das Wesen des Nicht-Ich Ge- 
sagten ein schroffer Widerspruch bestehe. Allein in der Logik 
„handelt es sich nicht sowohl darum, die Grenzen der mensch- 


1) Sehr gute Bemerkungen hierüber bei Windelband in der Rek- 
toratsrede „Geschichte und Naturwissenschaft“ von 1894 und besonders in 
dem Aufsatz „La science et l’histoire devant la logique contemporaine“ in 
der Revue de Synthése historique, 1904, 

Kantstudion XII, 5 


66 F. Medicus, 


lichen Erkenntnis festzustellen (wie man mit einer Wendung zu 
sagen pflegt, die etwas Absurdes an sich hat), als vielmehr um 
die Frage, was die Erkenntnis sei“ (B. Croce, Lineamenti di 
una logica come scienza del concetto puro 111). Wer — wie 
jeder, der Dinge an sich annimmt — von Grenzen der Erkenntnis 
spricht, setzt das eigentliche Wesen der Dinge in ein unzugäng- 
liches Reich jenseits des Bewusstseins. Die Behauptung, dass das 
Wesen der Dinge unerkennbar sei, kann nur bedeuten, dass die 
letzte nnd höchste Wahrheit über die Dinge deshalb unerreichbar 
ist, weil es eine vom Bewusstsein unabhängige Wahrheit ist. Es 
würde nicht genügen, zu formulieren, dass es eine vom Bewusst- 
sein unabhängige Wahrheit sein müsste: denn damit wäre die 
Realität jenes an sich seienden Wesens geleugnet. Wer an Dinge 
an sich glaubt, glaubt an eine Wahrheit, die das Wesen dieser 
Dinge an sich ausdrückt: nur dass uns diese Wahrheit unzugäng- 
lich ist, weil wir an die von der Gesetzmässigkeit des Bewusst- 
seins abhängigen Wahrheiten gebunden sind. Wesen und Wahr- 
heit können nicht von einander getrennt werden. Eben deshalb 
aber hat es auch keinen Sion, von einem an sich seienden Wesen 
zu reden, und die Dinge an sich entpnppen sich als wesenlose 
Gespenster. Wie das Wort Wahrheit nur Sinn hat in Beziehung 
auf ein erkennendes Bewnsstsein, so nicht minder das Wort 
Wesen. Das Wesen der Dinge ist es, das in wahren Urteilen 
ausgesprochen wird. Ein prinzipiell unbegreifliches Wesen wäre 
der Gegenstand einer prinzipiell dem Bewusstsein unzugänglichen 
Wahrheit. Dies die Absurdität, von der der italienische Denker 
spricht. Wollte man einen letzten Rettungsversuch der Dinge an 
sich wagen, so müsste man deren Unerkennbarkeit auf die 
mangelhafte Organisation des menschlichen Bewusstseins ab- 
schieben: damit aber wäre man ee sychologismus, über den 


Objekte des Wissens. Die L 
nicht das in sondern das Wissen, 





Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 67 


Grenzen dieses Wissens zu fragen, ist, wie gezeigt, in sich 
widersprechend; die thatsächlichen Grenzen aber, die sich in der 
Geschiehte der Wissenschaft fortwährend verschieben, können für 
die Logik nur erst in gewissen viel spezielleren Zusammenhängen 
in Betracht kommen, Also nicht das ist die Frage, wo die 
Grenzen der menschlichen Erkenntnis liegen, sondern was die Er- 
kenntnis ist, wie sich diejenige Stellungnahme zur Wirklichkeit 
charakterisiert, die diese in ihrem Wesen zu erfassen strebt. 

Diese Frage kann nach zwei Seiten hin verstanden werden: 
einmal handelt es sich um eine immanente Charakteristik, eine 
Darlegung des organischen Zusammenhangs der einzelnen Er- 
kenntnisfunktionen; dann aber auch um eine Charakteristik der 
Stellung, die die Erkenntnis im System der Freiheitsbethätigungen 
einnimmt. Diese zweite Aufgabe weist offenbar über den Umfang 
der logischen Untersuchungen hinaus; doch wird die Logik nicht 
umhin können, wenigstens die Grundzüge dieses Verhältnisses zu 
fixieren; wie auch die oben gemachte Bemerkung über die Er- 
gänzungsbedürftigkeit des rein theoretischen Standpunktes in diese 
Richtung deutet, — 

Die Unmittelbarkeit des Erlebens also wird von der Erkennt- 
nis nieht ausgeschöpft. Doch ist die Erkenntnis, auch wo sie sich 
auf das Nicht-Ich bezieht, in uneingeschränkter Bedeutung 
Wesenserkenntnis. Freilich war hierbei zu erinnern, dass das 
Ich mit seiner Erkenntnisbethätigung niemals über sich hinaus- 
greifen kann: erkannt; wird, um genau zu sprechen, nie etwas 
ausser dem Ich Gelegenes, sondern erkannt wird immer nur die 
Bedeutung des Erkenntnisobjektes; die Bedeutung aber ist, wie 
längst festgestellt, ichhaft. In den unendlich mannigfachen Modi- 
fikationen der Verstandesgesetze, in denen das Ich das Wesen 
des Nicht-Ich erkennt, hat es nie etwas anderes als sein eigenes 
‚Wesen vor sich. So ist mithin auch die Erkenntnis des Nicht-Ich 
Selbstvergewisserung der Identität des Ich mit sich selbst. Das 
Ich erkennt ein bestimmtes Objekt, heisst: das Ich wird sich 
diesem Objekt gegenüber seiner Identität mit sich selbst gewiss. 
Nur in solcher Fassung ist die Aufgabe begreiflich, deren allge- 
meinste Form in den beiden ersten Grundsätzen, in Thesis und 
Antithesis, enthalten war. 

Nun erst ist es möglich, von dem Prinzip zu sprechen, das 
die Lösung dieser Aufgabe beherrscht. Offenbar geben die beiden 
ersten Grundsätze dieses Prinzip noch nicht. Der Satz der Iden- 

oF 





68 F. Medicus, 


tität zeigt das unendlich ferne Ideal, das absolute Bei-sich-selbst- 
sein. Der Satz des Widerspruchs verbietet, beim Negativen, Be- 
deutungsleeren stehen zu bleiben. Es fehlt der Zusammenhang. 
Man sieht, dass der zweite Grundsatz auf den ersten hindeutet, 
aber man sieht nicht, kraft welchen Vernunftgesetzes die ge- 
forderte Überwindung des Negativen geschehen und mithin nach 
welchem Kriterium sie gemessen werden soll. Wie werde ich 
dessen gewiss, dass und inwiefern mich meine intellektuellen An- 
strengungen wirklich dem Ziel der absoluten Identität entgegen- 
bringen? Der Satz der Identität rein als solcher kann hier nicht 
als Kriterium dienen; er ist kein Massstab, der ans Endliche an- 
gelegt werden könnte. Darum aber handelt es sich: ein Prinzip 
zu finden, das die Selbstgewissheit des Ich in der Be- 
schränkung auf Endliches (d. h. gegenüber den Daseinsmög- 
lichkeiten des Nicht-Ich) ausdrückt. Die vorigen Ausführungen 
haben gezeigt, dass dieses gesuchte Prinzip der synthetischen 
Einheit des Bewusstseins die Selbstmodifikationen (Selbst- 
beschränkungen) des theoretischen Bewusstseins begründen soll, in 
denen dieses die möglichen Daseinsweisen des Nicht-Ich umspannt, 
und die Frage ist also diese: welche reinen Verstandeshandlungen 
thun der Forderung Genüge, das Ich in der Selbstbeschränkung 
auf ein endliches Ziel seiner selbst zu vergewissern? Wie man 
sieht, spezifiziert sich damit die Frage nach dem dritten Grund- 

i Das allgemeine Prinzip 


der einzelnen Kategorien, der Rechtsgi md ‚ihrer Giltigkeit liegt 
darin, dass die Aufgabe als notwendig 
Lösung sich in der Bethätigung der 


Aufgabe, trotz des Nicht-I 
nichts aufzugeben, die unend! 
Erkenntnis zu überwinden 
des Nee das Ich 


stituieren. 





Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 69 


Diese Fassung des Kategorienproblems beriihrt sich nahe 
mit der Kantischen, ist aber nicht mit ihr identisch. Kant 
nämlich hat zwar zur Überwindung der Abbildtheorie den ent- 
scheidenden Anstoss gegeben;!) aber auch an diesem Punkte ist 
ihm sein Schicksal treu geblieben, das ihm nirgends gönnen wollte, 
den gewaltigen Umfang zu sehen, den die neuen Einsichten mit 
ihren Konsequenzen erfüllten. Der nicht abgestreifte Rest der 
Ahbildtheorie nun macht sich beim Problem der transscendentalen 
Analytik entscheidend darin bemerklich, dass als der eigentliche 
Gegenstand der Erkenntnis das vorgestellte oder vorstellbare 
„Gegebene“ betrachtet wird. Es fehlt ein klares Bewusstsein 
davon, dass das Ich sich nichts anderes aneignet als Bedeutung: 
Bedeutung aber wird nicht vorgestellt, nicht abgebildet, sondern 
nur erlebt, erlebt durch lebendige Bethätigung. Kant meint, in 
der Erkenntnissynthese bekomme das Gegebene Bedeutung, und 
die Erkenntnissynthese selbst hält er für eine einheitliche Ver- 
knüpfung des mannigfaltigen Gegebenen. Man sieht, wie die 
Auffassung zu Grunde liegt, die Wahrheit sei etwas, das gedruckt 
werden kann (vgl. oben 58), wie also der Ausgang nicht bei den 
lebendigen Urteilssynthesen genommen wird, die allein Bedeutung 
und Wahrheit haben, sondern bei den objektivierten Urteilssyn- 
thesen, die erst in das lebendige geistige Thun zurückübersetzt 
werden müssen, wenn sie etwas bedeuten sollen. Es ist begreif- 
lich, wie man das Urteil im gedruckten Buch eine synthetische 
Einheit des gegebenen Mannigfaltigen (oder der Vorstellungen) 
nennen kann; aber niemand wird diese Formulierung passend 
finden, nachdem er sich klar gemacht hat, dass Erkenntnis eine 
lebendige Bethätigung der Urteilsfunktion ist, aktives Erleben der 
durchaus unvorstellbaren — nur erlebbaren Bedeutung. Die „ge- 
gebenen Vorstellungen“ kommen im ursprünglichen Erkenntnisakt 
überhaupt nicht vor (es sei denn als spezielle Objekte etwa der 
psychologischen Erkenntnis, was aber im gegenwärtigen Zusammen- 
hang völlig belanglos ist); in der Unmittelbarkeit des intellektuellen 
Erlebens weiss ich nichts davon, dass mir Vorstellungen gegeben 
wären. Das Gegebene ist erst Resultat einer Objektivierung.?) 
Für die Logik, die es mit dem Denken nur insofern zu thun hat, 


1) Vgl. Windelband, Präludien, Artikel „Immanuel Kant“. 
3) Vgl. hierzu besonders die ausgezeichneten Untersuchungen 
Münsterbergs in den ,Grundztigen der Psychologie“ Bd. I, S, 48 u. 5, 


70 F. Medicus, 


als es etwas bedeutet, giebt es kein Gegebenes, sondern an dessen 
Stelle ein Aufgegebenes, d. h. etwas, dessen Bedeutung noch Auf- 
gabe ist. Nun ist schon gezeigt worden, dass das rein Faktische 
in diesem Aufgegebenen niemals in ein blosses Thun des Ich auf- 
gelöst werden kann; denn das Ich kann sich nie mit ihm identi- 
fizieren. In einem Erkenntnisurteil wie „das Kochsalz ist eine 
elektrolytische Verbindung“ enthalten die empirischen Begriffe 
Kochsalz, Elektrolyse, chemische Verbindung unendliche Aufgaben, 
die nur teilweise durch kategoriale Thätigkeit gelöst sind und 
niemals ganz gelöst werden können; wirkliche Erkenntnis ist das 
Urteil nur so weit, als es lebendige Thätigkeit des Ich, kate- 
goriale Thätigkeit ist. Das Ich kann sich nur mit sich selbst 
identifizieren: der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis, das was 
wirklich erkannt wird, sind die Kategorien: die einzelnen Be- 
griffe Kochsalz und Elektrolyse sind, so weit die in ihnen ge- 
stellten Aufgaben gelöst sind, Modifikationen der Kategorien Sub- 
stanzialität und Kausalität, Selbstbeschränkungen kategorialer 
Thitigkeiten. Alle Erforschung von Substanzen hat zum Ziel 
die Substanz, alle Untersuchung kausaler Zusammenhänge strebt 
nach Erkenntnis der Kausalität. Und damit kommt der Unter- 
schied von der Kantischen Lehre auf seinen schärfsten Ausdruck: 
für Kant sind die Kategorien blosse Mittel der Erkenntnis; 
mittels der Kategorie der Substanzialität, meint er, werde das 
Salz erkannt und mittels der Kategorie der Kausalität seine 
elektrolytische Natur. Wogegen die völlige Beseitigung jeder 
transscendenten Beziehung, die völlige Beseitigung der Abbild- 
theorie das Verhältnis gerade umkehrt: am Salz oder mittels des 
Salzes wird etwas von der Kategorie der Substanzialität erkannt 
und mittels der elektrolytischen Erscheinungen etwas von der 
Kategorie der Kausalität. — 

Damit seien diese Erörterungen abgebrochen. Das Wesen 
der logischen Grundsätze ist hinlänglich festgelegt, die weitere 
Entwiekelung würde zunächst das System der Kategorien geben 
müssen. Es ist deutlich geworden, dass die von der forma- 
listischen Logik proklamierten „Prinzipien“ sekundären Ursprungs 
sind, da sie den Grund ihrer Giltigkeit in den übergeordneten 
Vernunfthandlungen haben, in denen das Ich seine Selbstgewiss- 
heit setzt. Zugleich hat sich gezeigt, dass diese Selbstgewissheit 
nur insofern behauptet werden kann, als die Notwendigkeit einer 
jeden Handlung eingesehen werden kann: was nicht in seiner 


Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. [ei 


Notwendigkeit eingesehen werden kann, ist Nicht-Ich. Die Ver- 
nunft ist nur soweit ihrer selbst gewiss, als sie ihrer absoluten 
Rationalität gewiss ist. Darum können die einzelnen Vernunft- 
funktionen nicht in zufälliger Ordnung neben einander stehen, 
sondern die Logik hat die Aufgabe, den vernunftnotwendigen Zu- 
sammenhang zwischen ihnen klarzustellen. Die damit geforderte 
dialektische Entwickelung ist an den Grundsätzen des Denkens 
aufgewiesen worden, und es versteht sich von selbst, dass auch 
die weiteren Kapitel der Logik nur nach dieser Methode be- 
handelt werden können. Jeder Versuch einer anderen Behandlung 
ist unvermeidlich mit empirischen Voraussetzungen belastet, thut 
also dem Verlangen einer kritischen Philosophie kein Genüge. 
Der durchgeführte Kritizismus ist die Dialektik. — 

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts war die Philosophie 
einer tiefen „Verschlackung durch die Materie“ verfallen. Lang- 
sam aber unaufhaltsam hat sie dann daran gearbeitet, wieder frei 
zu werden und sich selbst zu gewinnen. Physiologische und psy- 
chologische Erkenntnisse und Meinungen wurden anfangs noch 
arglos als integrierende Bestandstücke der „kritischen“ Philosophie 
mitgenommen; in Anbetracht der damaligen historischen Lage 
wäre es thöricht, wollte man das Verdienst solcher „Kantianer“, 
wie Helmholtz einer gewesen ist, gering schätzen!) In den 
letzten Jahrzehnten aber ist mehr und mehr die Einsicht durch- 
gedrungen, dass empirisch begründete Erkenntnisse keine philo- 
sophische Argumentation tragen können. In Husserls „Lo- 
gischen Untersuchungen“ ist zuletzt der Psychologismus mit 
Scharfsinn und Gründlichkeit zerfasert worden. Aber noch immer 
drängt der lebendige Trieb, der die Entwickelung der kritischen 
Philosophie bis zur Überwindung des Psychologismus geführt hat, 
vorwärts. Die empirischen Voraussetzungen sind noch nicht rest- 
los beseitigt: auf die Kautianer von heute macht die Philosophie 
des absoluten Thuns, die Dialektik, den Eindruck einer nebelhaften 
Schwärmerei nur aus denselben Motiven, aus denen die transscen- 
dentale Apperzeption, das gehirnlose Subjekt der Kantischen 
_ Lehre, auf die Psychologisten den gleichen Eindruck macht. — 
Carlyle sagt einmal, dass im Tode des Gerechten Zeit und Ewig- 
keit zusammenfliessen und der verklärende Glanz dieser letzten 


1) Vgl. A. Riehl, Hermann von Helmholtz in seinem Verhältnis zu 
Kant (KSt. IX.). 


72 F. Medicus, 


hervorstrahlt (Sartor Resartus III, 3 „Symbols“). Solchen Death 
of the Just muss auch die Philosophie Kants sterben, und sie 
stirbt ihn, wenn sich die Überzeugung durchsetzt, dass es die 
gegenwärtige Aufgabe der Logik sein muss, das System der 
Denkbestimmungen in der Notwendigkeit seines von der Idee des 
Wissens bestimmten Zusammenhangs zu entwickeln. 

Die Denkbestimmungen aber sind die Bethätigungsweisen, in 
denen Bedeutung erfasst wird. Da nun die Besinnung auf den 
logischen Charakter dieser Bethätigungsweisen nicht geleistet 
werden kann ohne sachliche Einsicht in die Wirklichkeit, an deren er- 
kennender Überwindung sich die betreffenden Funktionen zu bethä- 
tigen bestimmt sind, da m. a. W. die Aufgabe des Logikers ein leben- 
diges Bewusstsein von der Eigenart der Bedeutungen voraussetzt, 
die eine jede Funktion dem Erkennen erschliesst, so kann es 
nicht fehlen, dass die geforderte restlose Durchführung des kri- 
tischen Programms in ihren höchsten dialektischen Synthesen 
wieder wie bei Fichte und Hegel zur Frage nach der Bedeutung, 
d. h. nach dem Gehalt oder Sinn des Daseins selbst 
führen muss, 

Gewiss hat die Logik nur mit der reinen Vernunft zu thun 
— aber die Vernunft ist keine leere Form; der Offenbarungseid, 
den ihr der seiner selbst erst halb bewusst gewordene Kritizismus 
zuschieben wollte, wird nicht geleistet: die eigenen Konsequenzen 
des Kritizismus haben die Philosophie auf eine Bahn geführt, auf 
der die Unzulänglichkeit des blossen Formalismus deutlich ge- 
worden ist. Fichte ist der erste gewesen, der den Kritizismus 
aus der „Beschränkung auf den halben Teil“ befreit hat, und zu- 
gleich der erste, dem die „Materie der Ichheit“ sichtbar geworden 
ist. Es ist eigentlich eine seltsame Thatsache, dass sich nach 
der Hegelschen Epoche niemand mehr um die logische Eigenart 
dieser Begriffe bekümmert hat, in denen die rie der Ichheit 
(der Persönlichkeitsgehalt) erfasst wird, der inhaltlich be- 
stimmten Begriffe wie Treue oder I ıheit oder Musik, deren 
logische Bedeutung nicht als-Resulta Denkoperationen 
konstruiert werden, sonder! n 


der Pre ihrer inha 
gesamt nichts als Freiheit, 
ihrer unendlichen Mannigf: 





Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 73 


reinen Vernunft für das diskursive Bewusstsein differenzieren; 
jener Begriffe, für die sich auf induktivem Wege zwar ein not- 
dürftiger und keineswegs zu sicherer Beurteilung der zugehörigen 
Erfahrungsthatsachen ausreichender Ersatz gewinnen lässt, die 
aber ihre eigentümliche Bedeutung lediglich dem offenbaren, der 
sie durch die That der Selbstbesinnung gesucht und sich damit 
den bedingungslosen Glauben an sie erstritten hat. Man kann die 
Ideen nicht schauen, ohne vom Glauben an sie in dem Masse er- 
griffen zu werden, dass sich die guten Werke von selbst ver- 
stehen. — Die Frage nach der logischen Bedeutung dieser Be- 
griffe fordert, wie man sieht, Stellungnahme zu einem Grund- 
problem der praktischen Philosophie, und zwar eine nicht bloss 
theoretische, sondern selbst praktische Stellungnahme. Und diese 
lebendige Überzeugung von der Materie der Ichheit oder vom 
Sinn des Daseins, die hiermit vom Logiker verlangt wird, und die 
bei dem berührten Problem entscheidend zur Geltung kommt, zieht 
sich doch in Wahrheit durch seine gesamte Arbeit hindurch: sie 
beherrscht den systematischen Aufbau. Denn die Idee des 
Wissens erweist im dialektischen System nur so lange ihre orga- 
nisierende, die Antithesen bestimmende und von Stufe zu Stufe 
weiter treibende Kraft, als das Bewusstsein davon lebendig ist, 
dass in den bereits erfassten Vernunftfunktionen die Aufgabe der 
Wahrheitserkenntnis noch nicht begriffen ist. Wer etwa der 
Meinung wäre, in mathematischen und naturwissenschaftlichen 
Begriffen die Wirklichkeit so einfangen zu können, dass die letzten 
Welträtsel gelöst werden, wird auch an der dialektischen Methode 
kein Hilfsmittel haben, das ihn weiter bringen könnte. Es ist 
für den Logiker unerlässlich, dass er sich durch persönliche That 
den Blick öffne für die Bedeutung des Daseins, dass er sich ver- 
tiefe in das „Wesen“ der Wirklichkeit, dass ihm der Gehalt der 
Vernunft nicht fremd bleibe Im System der Denkbestimmungen 
liegt aller begriffliche Gehalt, alle logische Bedeutung überhaupt 
eingeschlossen. Es ist Sache der wissenschaftlichen Spezialarbeit, 
diesen Gehalt explizite zu entbinden; aber Sache der logischen 
Besinnung, die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen eben in 
dieser Hinsicht zu begreifen, also zu zeigen, dass und inwiefern 
es sich bei der Arbeit einer jeden von ihnen um ein Herausstellen 
des Gehaltes der Ichheit handelt. Oder, um mit Fichte zu 
reden: die Logik hat zu zeigen, inwiefern die gelehrte Bildung 


14 F. Medicus, Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 


zur Erkenntnis der göttlichen Idee führt (Erlanger Vor- 
lesungen über das Wesen des Gelehrten). 

Den meisten Logikern mag heute eine solche Auffassung 
ihrer eigentlichen Aufgabe abenteuerlich vorkommen. Doch ist 
gerade unter denjenigen Antrieben, die sich in der derzeitigen 
philosophischen Arbeit als wirklich lebendig und fruchtbar er- 
weisen, ein starker Zug in der angegebenen Richtung nicht zu 
verkennen. Hier muss der Name Euckens genannt werden, 
dessen gewaltig angelegtes Werk „Die Einheit des Geisteslebens 
in Bewusstsein und That der Menschheit“ der wertvollste Beitrag 
ist, den die auf Ergreifen des Gehaltes der Wirklichkeit hin- 
strebende Philosophie!) nach Hegel bekommen hat. Das Werk 
ist in seinem dialektischen Aufbau eine Phänomenologie des 
Geisteslebens, die so wuchtig und zwingend grosse Probleme 
wachgerufen hat, dass ihr eine dialektische Durcharbeitung der 
logischen Fragen folgen muss. So bedeutet jenes Buch für die 
Gehaltslogik Aufgabe und Aufmunterung zugleich. 


1) Vgl. a. a. O. 3: „Unsere Arbeit stellt sich lediglich in den Dienst 
der Aufgabe, Wirklichkeit zu entdecken und Wirklichkeit zur Anerkennung 
zu bringen. Wir wollen . . . durch eine den Dingen immanente Dialektik 
uns von einer bloss scheinenden zur echten Wirklichkeit führen lassen.“ 


Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus 
in Kants „Kritik der reinen Vernunft“. 


Von Dr. Oskar Ewald. 


1. Das Ding an sich. 

Wohl der dunkelste Punkt der Kantischen Philosophie ist der 
Begriff des Dinges an sich. Ein tragisches Schicksal will es, dass 
eben dieser Punkt dennoch zu dem einen Brennpunkt des kritischen 
Systems wurde, Alle späteren Auslegungsversuche und Fortbildungen 
haben ihre natürliche Beziehung zu ibm und müssen in erster 
Reihe an ihm orientiert werden, 

Wie ist es zu erklären, dass ein weltumwälzender Denker 
wie Kant eben über diesem Kardinalteil seiner Lehre ein dämmer- 
haftes Zwielicht walten liess, darin die entgegengesetztesten Theorien 
und Motive ineinander zu verschwimmen scheinen? Der naive Ver- 
stand, der hungrig nach Rätsellösung und Realität in das Gehege 
des Kritizismus tritt, weicht enttäuscht zurück, wenn er dieses 
scheinbar gleichgewichtslosen Schwankens in den Grundfragen der 
Metaphysik inne wird. Für ihn gibt es kein höheres Interesse als 
die geradlinige metaphysische Entscheidung zwischen Immanenz und 
Transscendenz, Dass Kants Bedeutung wenigstens, zum Teil darin 
wurzelt, seine Methode in relativer Unabhängigkeit von aller Meta- 
physik begründet und entfaltet zu haben, diese fundamentale Er- 
kenntnis erschliesst sich ihm schwer. 

Dennoch darf das Transscendenzproblem nicht verstopft werden. 
Und Kant selber würde einer derartigen Verkürzung der Philosophie, 
sei es auch bloss als Moraltheoretiker, keineswegs das Wort 
geredet haben. Bald scheint ihm das Ding an sich zum problema- 
tischen Phantasma zusammenzuschrumpfen, bald wieder zum Träger 
aller Wirklichkeiten zu erwachsen : immer bleibt es ihm ein be- 
deutungsvoller Gegenstand des Nachdenkens, dem gegenüber er 
weder den Standpunkt des wissenschaftlichen Indifferentisten noch 
den des antimetaphysischen Positivisten einnimmt. 





su | 


76 0. Ewald, 


Vor allem biirgt die Philosophie des 19. Jahrhunderts von 
ihren idealistischen Anfängen bis zur Gründung des Neukantianismus 
für die eminente Bedeutung jenes Begriffes. Für Fichte, für 
Schelling, für Schopenhauer bot er den unmittelbaren Ausgangs- 
punkt zu neuen Systemschöpfungen. Der Neukantianismus hat 
ihn teilweise wohl zu verschleiern, zu entwerten gestrebt. Gleich- 
wohl erhielt sich seine Bedeutung, und man kann sagen, dass eben 
die schillernde Vieldeutigkeit seines problematischen Inhalts den 
Denkern ein neuer Sporn zur Entfaltung ihrer kritischen Fähigkeiten 
war. Der weiteste Abstand zwischen den verschiedenen Interpreta- 
tionen ist zunächst dadurch bezeichnet, dass die einen im Ding 
an sich einen störenden Fremdkörper erblicken, der die Einheit des 
Kantischen Systems bedroht, die anderen darin den schützenden 
Anker suchen, der sie von phänomenalistischem und solipsistischem 
Verderbnis zu retten vermag. Jenen ist besagter Begriff ein 
ewiges Ärgernis, diesen erscheint die Stellungnahme wider ihn als 
ein Skandal der Philosophie. Aber sogar innerhalb des Kantianis- 
mus, zumal des Neukantianismus, mangelt es nicht an ähnlichen 
Konflikten. Auch diejenigen, die den Begriff anerkennen, ihm eine 
zentrale Stellung innerhalb des Transscendentalismus einzuräumen 
bereit sind, gehen in seiner Anwendung und Deutung unendlich 
weit auseinander. Als allgemeiner Orientierungspunkt dient ihnen 
eine fundamentaleBehauptungKants: „Alles erkennbareSein, äusseres 
wie inneres, objektives wie subjektives Sein ist Erscheinung. Nicht 
allein die Dinge ausser uns, sondern auch wir selber sind uns bloss 
als Erscheinung gegeben.“ Selten sind so divergente Standpunkte 
in der Anerkennung und Übernahme eines so prinzipiellen Grund- 
satzes zusammengekommen. An der phänomenalistischen Wendung, 
die Kant hierin nahm, fanden Realisten nicht weniger als Idealisten 
und Mystiker reichlich Erbauung. Das machte: sie hatten den 
Satz insgesammt in verschiedenem Sinn interpretiert. Die Realisten, 
insbesondere Eduard von Hartmann, erblickten darin einen unver- 
kennbaren Fingerzeig auf das Ding an sich. Wenn Kant nicht 
einmal die Unmittelbarkeit innerer Erlebnisse zur absoluten Realität 
erklärte, so musste er den Wirklichkeitsbegriff wohl im Sinn des 
metaphysischen Realismus gefasst haben. Auch der Mystiker meint, 
dass damit eine Scheidewand zwischen Erscheinung und Ansichsein 
aufgetürmt ist. Ihm aber ist der Kern der Realität, dem gegenüber 
die empirische Welt zur „blossen Erscheinung“ zusammenschrumpft, 
nicht mehr wie dem Realisten durch Verstandesschlüsse, sondern im 


Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus ete. vi 


Wege innerer Ahnung und Erleuchtung zugänglich. Der Idealist 
schliesslich, der mit besserem Rechte Phänomenalist genannt werden 
dürfte, schränkt sich ruhig auf die Erscheinung ein. Kants Leistung 
in jenem Grundsatz besteht für ihn darin, dass er auch der zweiten 
metaphysischen Möglichkeit, einer Metaphysik der Innenwelt, der 
Seele, des Geistes, den Weg gewehrt hat. Objekt und Subjekt 
sind Erscheinung, weder dort noch hier ragt der Schatten eines 
Dinges an sich in unsere Erfahrung und Wahrnehmung herein. 

Das sind weite Gegensätze: sie zu überbrücken ist unmöglich, 
und so bleibt es beim naiven Erstaunen darüber, dass Kant seine eigene 
Metaphysik nicht in klar umrissenen Zügen festgelegt und damit der 
Willkür eigenmächtiger Interpreten von vornherein vorgebeugt hat. 
Es ist in Wahrheit kein Leichtes, der Vernunftkritik eine bestimmte, 
unumstössliche Lehrmeinung über das Ding an sich zu entnehmen. 
Bald ist die Rede von Gegenständen, die uns affizieren und dadurch 
erst Vorstellungen in uns wecken. Dann wiederum von einem 
Noumenon in negativer und in positiver Bedeutung. In der trans- 
scendentalen Dialektik erfährt das Ding an sich die Transformation 
zum Absoluten. In der praktischen Vernunft tritt es als intelligibles 
Subjekt auf. Und es ist nirgends völlig klar, ob es sich um nichts 
anderes als einen Begriff oder ob es sich um eine Realität handle. 

Wir sehen hier von letzterem ab und beschränken uns auf 
das erstere. Soviel ist sicher: wenn es auch ein Ding an sich als 
transscendente Wesenheit geben sollte, zunächst ist es ein Begriff, 
der seinen Ort in unserem Bewusstsein findet. Es birgt sich darin 
ein ontologisches Problem von unermesslicher Tragweite. Zuvürderst 
aber eignet ihm als Begriff seine immanente logische Bedeutung. 
Und mit dieser haben wir uns nunmehr zu beschäftigen. 

Woraus entspringt der Begriff eines Dinges an sich? Aber 
hier heisst es, einem Missverständnis vorbeugen. Die Frage könnte 
falsch ausgelegt werden. Nicht von dem psychologischen Ursprung, 
sondern von dem logischen ist die Rede. Es giebt ja eine Menge 
psychologistischer Definitionen und Erklärungen, unter denen man 
nach Belieben wählen könnte, will man die Physiologie des Trans- 
scendenzproblems betreiben, So hat man das Ding an sich zuweilen 
als subjektive Projektion der Empfindungen auf einen unsichtbaren 
‚Hintergrund betrachtet. Die Einheit der Seele spiegelt sich wieder 
in einer fiktiven Einheit äusserer Gegenständlichkeit. EineErklärung, 
die durch Schopenhauer vorbereitet, in Wundt von Neuem Ausdruck 
fand. Andere haben dieser Spiegelung das Phänomen des Willens 





78 6. Ewald, 
zugrumde gelegt. So Maine de Biran, der in der aus Berührung 


äusserer Objekte entspringenden Widerstandsempfindung eine 
Willenshemmung und damit den Hinweis auf eine den Dingen wie 
dem Menschen innewohnende metaphysische Willenskraft erblickte. 
Bei Herbart, wiederum bei Wundt kehren ähnliche Motive wieder. 
Aber all das sind psychologistische Entscheidungen, da sie den An- 
lass für die Entstehung des Dingansichbegriffes in seelischen Vor- 
gängen, nicht in logischen Beziehungen suchen. 

Das letztere fassen wir hier ins Auge. Überlassen wir die Be- 
antwortung der Frage nach transscendenten Wesensgründen dem 
Metaphysiker, dessen eigentliche Aufgabe sie bildet. Und ebenso 
entäussern wir uns der psychologischen Analyse, die uns lediglich 
subjektive Zusammenhänge, keine objektiven Prinzipien zu gewähr- 
leisten vermag. Die Logik des Begriffes obliegt uns, nichts anderes. 
Wir haben bereits bemerkt, dass dem Ding an sich eine lange 
Reihe möglicher Bedeutungen entspricht, die der Reihe nach in der 
Kantforschung Ausdruck gefunden haben. Windelband hat eine 
treffliche Übersicht dieser verschiedenen Deutungsmöglichkeiten 
gegeben. Alle einzelnen Punkte abzustecken, ist hier nicht von- 
nöthen. Wir wollen bloss die am meisten charakteristischen, die 
überdies am stärksten von einander abweichen, hervorheben. Ihre 
markante Bedeutung, desgleichen ihre Diskrepanz ist bereits dadurch 
bezeichnet, dass sie in der Vernunftkritik durch den grössten räum- 
lichen Abstand von einander getrennt sind, sich an beiden entgegen- 
gesetzten Enden finden. Die eine beherrscht vor allem die trans- 
scendentale Ästhetik, die andere äussert ihren Einfluss erst in der 
Dialektik, Jene redet vom Ding an sich als der Affektionsquelle. 
Das berühmte Wort von den Gegenständen, die uns affizieren und 
in uns Vorstellungen hervorbringen, erscheint im Rahmen besagter 
Erklärung. Sie nähert sich für den ersten Aspekt dem naiven 
und dogmatischen Realismus. Diese im Gegenteil trägt streng 
idealistisches Gepräge. Das Ding an sich tritt als das Absolute, 
Unbedingte auf und wird als höchste Vernunfteinheit, als ein 
synthetisches Prinzip des Geistes gefeiert. 

Idealismus und Realismus bilden aber nicht die eigentliche 
Korrelation, um die es sich hier handelt. Vielmehr Rationalismus 
und Empirismus. Denn es handelt sich uns nicht um transscendente 
Probleme sondern um immanente Methode. Wir wollen dem Begriff 
des Dinges an sich nicht sein metaphysisches Geheimnis ent- 
locken, wir wollen seine inwendige, logische Bewusstseinsstruktur 


Die Grenzen des Empirismus und des Rationalistius etc. 79 


prüfen. Die rationalistische Auffassung des Dinges an sieh, die 
wir zuvor die idealistische nannten, lernen wir erst begreifen, wenn 
wir das Ding an sich nicht mehr als Begriff, sondern als Idee 
würdigen. 


Da zeigt sich zunächst, dass das Ding an sich als das Un- 
bedingte nicht etwa eine Idee neben den anderen, der Seele, der 
Welt, der Gottheit koordiniert, darstellt, sondern die Idee der Ideen, 
das gemeinsame Mass und die gemeinsame Wurzel aller Ideen ab- 
giebt. Denn das Unbedingte, somit das Ding an sich, sollen sie ins- 
gesamt realisieren, jede in ihrer; Sphäre. Seele ist ein Ding an 
sich, Welt und Gott desgleichen. Das Ding an sich ist also 
der unmittelbarste Ausdruck des rationalistischen Prinzips, es ist 
der Kern und immanente Sinn der Vernunftfunktion selber, 

Demgegenüber verdichten sich andere Hinweise und Aus- 
führungen des Denkers zu einer entgegengesetzten Auffassung des 
Begriffes. Das Ding an sich wird zu demjenigen Moment, das sich 
grundsätzlich dem rationalistischen Erkenntnisprinzip entzieht. An 
ein mystisches, ausserweltliches Sein zu denken, verbietet uns zwar 
hier die immanente Tendenz vorliegender Erörterung. Aber davon 
sollte und musste gar nicht die Rede sein, um den Begriff der 
Erkenntnisgrenze zu legitimieren. Es handelt sich Kant um eine 
‚Grenze desrationalen Erkennens, um eine der transscendentalen 
Methodik gesetzte Grenze. Man erwäge, dass Kant die Materie 
der Empfindung in unmittelbarste Relation gesetzt hat zur Rezep- 
tivität oder, wie er es mit einer metaphysischen Wendung nennt, 
zur Fähigkeit affiziert zu werden und diese Fähigkeit wiederum 
zu dem Ding an sich als Affektionsquelle. Man pflegt besagte 
"Wendung mit Vorliebe zu unterdrücken, bleibt bei der Rezeptivitat 
stehen und schneidet die Frage nach deren metaphysischen Vor- 
bedingungen ab. Es ist auch richtig, dass die Wendung zum 
„transseendentalen Realismus“ hin ein Wagnis ist. Aber auch ohne 
ihm Raum zu geben, kann man jene Erörterung sinnvoll inter- 
pretieren. Was einen daran hindert, dem naiven Bedürfnis nach 
Realität nachgehend, in Dingen an sich die Ursachen der Empfind- 
ungen zu suchen, ist die kritische Überlegung, dass die Kategorie 
der Kausalität bloss von Erscheinungen zu Erscheinungen leitet 
a keine Brücke zwischen Transscendenz uni Immanenz baut. 
Wohl ist dagegen Protest erhoben worden: aber der Geist der 
Kantischen Philosophie scheint denen Recht zu geben, die sich 
innerhalb der Phänomene bescheiden. Gleichwohl bleibt hier Raum 





86 O. Ewald, 


fiir einen Begriff des Dinges an sich, deutlicher gesagt, fiir den 
Grenzbegriff des Dinges an sich. Diese wichtige Umdeutung 
hat Maimon geleistet. Nicht jenes naiv realistische Ding an sich 
ist gemeint, das von aussen auf unsern Organismus stösst und in Ge- 
meinschaft mit diesem die Empfindungen erzeugt, sondern das Ding an 
sich figuriert hier bloss als Symbol des Unbegreiflichen. Es bezeichnet 
ein Etwas, das die Vernunft nicht zu deduzieren aber auch nicht zu 
durchdringen vermag. Es bezeichnet eben deswegen das schlechtweg 
Gegebene. Dasjenige, das nicht innerhalb des Bewusstseins nach den 
Gesetzen des Bewusstseins gebildet ist, sondern von demselben als 
ein Faktum vorgefunden wird. Und dies ist die Empfindung 
selber, beziehungsweise der Ursprung der Empfindung. Er ist un- 
ergriindlich, für den Intellekt unfassbar. Alle Denkgesetze und 
Erkenntnisformen sind einsichtig gegeben, unser Verständnis ver- 
mag ihrer sich zu bemächtigen, und damit werden wir auch ihres 
Entstehungsgrundes inne. Die Empfindung dagegen, das Materiale 
unserer Erkenntnis, der Stoff des Universums entzieht sich dieser Ein- 
sichtnahme. Er ist, er erzwingt sich unsere Anerkennung, ohne 
seine Existenzberechtigung vor höherer logischer Instanz zu er- 
weisen. Wir sind nicht imstande zu erklären, weshalb es Töne, 
Farben gebe. Weshalb wir mit Lust und Unlust auf aussenwelt- 
liche Vorgänge reagieren. Es sind Fakta, die bloss sich selber 
künden, und auf keinen höheren, rechtfertigenden Grund hinweisen. 
All unser einsichtiges Denken und Erkennen vollzieht sich in Be- 
griffen: hier, vor der Frage nach dem Ursprunge der Empfindungen 
ist die untere Grenze erreicht, wo der Begriff der dinglichen Realität 
der Materie gegenüber seine Macht verliert. Entstehung und Her- 
kunft der Empfindung in unserem Bewusstsein ist kein rationales 
Problem mehr, kein Problem, dem die Vernunft gewachsen wäre. 
Es bezeichnet eigentlich keinen Grenzbegriff, denn es bezeichnet über- 
haupt keinen Begriff. Wohl aber bezeichnet es eine Grenze für 
das begriffliche Denken. Aus eben demselben Grunde nennt es 
Maimon ein Differentiale des Bewusstseins. (Gedankliche, formale 
Beziehungen werden von unserem Geiste geschaffen und vermögen 
so von ihm gemeistert zu werden. Die Empfindungen sind gegeben: 
ihr Gegebensein widersetzt sich jeder logischen Deduktion. Sehr 
deutlich hat neuerdings Simmel in seiner Kantschrift diesen Stand- 
punkt präzisiert. „Es sind also bloss Unterschiede innerhalb 
des Vorstellens überhaupt, die Kant durch den Gegensatz von Ding- 
an-sich und Erscheinung charakterisiert, nicht der absolute, zwischen 


Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus ete. 81 


dem Vorstellen überhaupt und dem, was innerhalb des Vorstellens 
liegt. Behält man diese Wendung des Interesses ausschliesslich nach 
dem Innern des Erkennens zu im Auge, so beantwortet sich ohne 
weiteres die alte Frage der Kant-Deutung: mit welchem Rechte 
er denn Dinge-an-sich als Ursache der Sinnesempfindung bezeichne, 
da die Kategorie der Ursache bloss auf sinnliche Erscheinungen, 
ausdrücklich aber nicht auf Dinge an sich anwendbar sei? That- 
sächlich wird hier durch die „Verursachung“ unsrer Empfindungen 
bloss eine innere Qualität ihrer ausgedrückt, sie kommen uns in einer 
eigentümlichen Weise zum Bewusstsein, die wir als Passivität oder 
Rezeptivität bezeichnen, gegenüber der Färbung des Denkens, das 
das Gefühl des Schöpferischen, Spontanen mit sich bringt. Diese 
psychologische Färbung der Empfindungen wird so ausgedrückt, 
dass sie von etwas schlechthin Äusserlichem verursacht sind. Die 
Beziehung des Dinges-an-sich zum Subjekt ist also ausschliesslich 
von der Seite des Subjektes her erfasst. Wie sich jenes Äussere 
auch an sich verhalten möge: die Bedeutung dieses Verhaltens für uns 
kann bloss als Verursachung von Empfindung ausgedrückt werden, dies 
ist unser Anteil an dem Verhältnis zwischen uns und ibm.“ Hier 
erscheint der Gedanke, von der psychologischen Wendung abgesehen, 
rein und klar herauskrystallisiert. Das Ding an sich als Affektionsquelle 
ist bloss ein Symbol für die Grenze unseres Begreifens. Es bezeichnet 
den Punkt, vor dem der Verstand notgedrungen halt machen muss, 

So haben wir jene zwei Bedeutungen des Dinges an sich 
herausgehoben, die von einander um den weitesten Abstand ent- 
fernt sind. Das eine Mal erhob es sich als das Absolute, Unbe- 
dingte, als höchste Vernunfteinheit, als Schöpfung des denkenden 
‚Geistes, als reinste Form, als Inbegriff aller Form, das andere Mal 
tauchte es zur Materie, zum Relativen der Empfindung nieder, und 
stellte sich demgemäss dar als absolute Grenze des vernünftigen 
Geistes, als Inhalt, als Inbegriff aller Inhalte. Dort war es der 
Triamph, hier ist es der Bankerott des Intellekts und des 
Rationalismus. Aber wir begnügen uns nicht mit solch effekt- 
voller Gegenüberstellung, sondern nutzen dieselbe lediglich als 
Ausgangsort höherer Problemstellungen. Vom Ding an sich, das 
uns erst als rationalistisches Erkenntnisprinzip, dann als absolut 
irrationalistisches Element begegnete, ergiebt sich ungezwungen 
der Übergang zur Frage nach den Grenzen des Rationalismus 
überhaupt, nach seinem Verhältnis zum Irrationalismus. Aus 
dem Vorigen ging hervor, dass es etwas gebe, was schlechterdings 

Kantstudien XL, 





42 oO. Ewald. 


sient dedinzier za werden vermockie: Een jenes Ding an sich der 
zona Bolestanzg. das Ding an sict aix Expiiedangsqueile. Es 
At aahasetr gerne. Sch iter die Bedeutung und den Umfang 
Kaya (Muzuerys zu orientieren. Lenn es könzte wohl sem, dass 
ith wine pegative Wirkungesphire anf den verbältaismässig eng 
keurkun Kaum der Empfindanzen beschränkt. Aber auch die 
Wigtirbkeit steht offen, dass er von da aus gleichsam in die Region 
dew Verstandes, selbst der Vernunft überfliesst, ihnen von seinen 
Maagein mitteilt. Die trotz der Dualität von Anschauung und 
Denken im (srunde einheitliche Organisation unseres Geistes legt 
di: haztere Auffassung nahe. Der reine Rationalismus, das reine 
Lenken bliebe dann ein Ideal, ein Grenzwert nach oben, sowie auf 
der andern Seite die reine, ungeformte Empfindung einen unteren 
Grenzwert bedeutet. 


2. Die Grenzen des Rationalismus und Empirismus. 
Die empirische „Behbaftung“. 


Wir wenden uns zum historischen Kant und fahnden nach 
«einem Anker zur Beantwortung der vorgelegten Frage. Dass es 
Grenzen für den Rationalismus giebt, ist Kants unumstössliche 
Meinung gewesen. Eben dieser entscheidende Umstand trennt ihn 
von Hegel, der solche Grenzen nicht anerkennen mochte. Aber 
nicht bloss von Hegel oder Schelling, sondern ebensowohl von all 
denen, die das Erkenntnisvermögen des menschlichen Geistes ins 
Unbegrenzte ausdehnen und ein Welträtsel leugnen: einerlei ob 
der Höhenflug eines ontologischen Rationalismus sie zu so über- 
schwänglichen Ansprüchen begeistert, oder die nüchterne Begrenzt- 
heit der positivistischen Forschung ihnen die transscendenten Sphären 
verdunkelt. Kant selber war trotz seines unerschütterlichen Glaubens 
an die Macht der menschlichen Vernunft nicht frei von erkenntnis- 
theoretischem Pessimismus. 

Indem wir nunmehr von Terminologie und Definition des 
Kantischen Dinges an sich absehen, wenden wir uns den rein sach- 
lichen Gesichtspunkten zu, die daraus zu gewinnen waren. Wir 
wurden auf eine Grenze rationalen Erkennens verwiesen: und wir 
fanden dieselbe in Inhalt der Empfindung geborgen. Aber die 
Frage geht weiter, sie geht danach, ob dieser irrationale Faktor 
sich nicht nach oben bemerkbar macht und im Bereich des Denkens 
und Erkennens Ausdruck erhält, 


Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus ete. 83 


Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft sind die drei Sphären der 
Kantischen Philosophie und zugleich die drei Etappen seiner er- 
kenntniskritischen Analyse. Alle drei haben ihr reines Apriori 
und Kant giebt der Annahme Ausdruck, es könne dieses Apriori im 
letzten Wesensgrunde überall dasselbe sein. Es könnten auch 
Raum und Zeit aus der reinen produktiven Vernunft erfliessen, 
aus der die Ideen und die Kategorien hervorgehen. Daneben steht 
das Aposteriori, das der einsichtigen Verstandesdeduktion spottet. 

« Solch ein Aposteriori stellten uns, wie erwähnt, zunächst die 
Empfindungsqualitäten dar. Dass wir auf eine bestimmte Zahl von 
Ätherschwingungen just mit der Farbe Grün reagieren, dass wir 
jenen Temperaturgrad mit einem Gefühl der Unlust, diesen mit 
einem Lustgefühl perzipieren, vermögen wir nicht zu erklären 
sondern lediglich als Faktum anzuerkennen. Dagegen scheinen 
Verstand und Vernunft von solcher Beschräukung frei, Allerdings 
auch in dem unerschöpflichen Inventar der empirischen Begriffe ist 
der Verstand an die empirische Sinnlichkeit gewiesen, aus der der 
Stoff zu derartigen Begriffen gezogen wird. Aber der reine Ver- 
stand, der seine Grundzüge in die Kategorientatel einzeichnet, sollte 
dieser Bedingung enthoben sein. 

Ist er es in Wirklichkeit? Die Frage lässt sich von Kantischem 
Standpunkte schwer beantworten, weil das Wesen der Kategorien 
im Dunklen liegt. Eine völlig befriedigende Deduktion vermag uns 
die Kritik nicht eigentlich zu bieten. Die metaphysische Deduktion 
aus den Urteilsformen ist, wie Herbart richtig erkannt hat, keine 
zulängliche. Im Grunde ist sie wohl auch provisorisch gedacht: 
bloss als Vorbereitung der transscendentalen, die ihrerseits indessen 
lediglich auf die Kategorie im Allgemeinen, nicht auf die einzelnen 
Kategorien gerichtet ist. Auch die vorausschauende Bezugnahme 
auf die Grundsätze, auf die Cohen so viel Gewicht legt, verleiht 
keine sichere Stütze. Denn woraus entnimmt man die Gewähr, dass die 
Kategorientafel unfehlbar und komplet, dass ihre Zwölfteilung un- 
trüglich sei? Die Grundsätze der mathematischen Physik oder der 
Aligemeinerfabrung, die die beiden Hälften, Physik und Physiologie, 
in sich befasst, sind ja auch nicht so völlig geschlossen und in 
sich vollendet, auch sie mögen der Ergänzung und Vervollkommnung 
gewärtig sein. Die schematische Geschlossenheit der Kategorien 
wird sonach von keinem unumstösslich fixen Prinzip bestimmt. Man 
wird des Gefühles nicht ledig, dass die Art und Gestaltung der 
einzelnen Kategorie kein Apriori im strengsten Sinn darstelle; 

6° 





84 O. Ewald, 


Als ein solches Apriori erscheint uns lediglich die transscendentale 
Apperzeption, die synthetische Vernunfteinheit selber, die die Quelle 
aller einzelnen und bestimmten Synthesen ist. Die Vernunft 
allein gewährleistet jenen idealen Apriorismus: die Vernunft, in 
der die höchste, universale Einheit sich birgt. Bereits dem Über- 
gang zum Verstande haftet eine unleugbare Schwierigkeit an. Was 
ist der Verstand, dieser Verstand, der auf der einen Seite so viel 
konkreter ist ‘als die reine Vernunft, auf der andern Seite sich 
gleichwohl des Attributes der Reinheit nicht entäussern mag? Wie. 
ist sein Ursprung, wie sein inneres Wesen zu denken? An Defini- 
tionen hat es Kant nicht mangeln lassen. Es herrscht aber keine 
durchgreifende Harmonie unter diesen und sie geben keine Antwort 
auf unsere Frage. 

Die Kategorien sind die Verstandeswelt. Das Problem, das 
uns bewegt, ist also schlechtweg dieses: ist ein direkter Über- 
gang von der Vernunft zum Verstande denkbar? Denn die Ver- 
nunft, als höchstes Prinzip synthetischer Einheit, markiert selbst- 
verständlich den äussersten antipolaren Gegensatz zu jeglicher 
Erfahrung. Der Verstand aber, der durch die Vielzahl der Kate- 
gorien repräsentiert wird, schien jener aprioristischen Reinheit zu 
entbehren. Wodurch unterschiede sich übrigens der Verstand von 
der Vernunft, wenn nicht eben durch dies eine Moment? Dass 
beide aus derselben Wurzel entspringen, ist Kants eigene Ansicht, 
der sogar von einer uns unbekannten Einheit der sinnlichen 
und der intellektuellen Spontaneität redet. Dass jener in sich 
die Grundbegriffe der Natur, der allgemeinen Erfahrung, diese die 
Ideen der intelligiblen Welt konstituiere, darf nicht als das 
trennende Merkmal angesehen werden, da eben nach dem Grunde 
dieses Unterschiedes in ihrer Funktion gefragt wird. Es wäre 
die krudeste und simpelste Wiederaufnahme der alten Vermögens- 
theorie, wollte man jene beiden Sphären, Natur und Geisteswelt, 
aus Verstand und Vernunft, wie aus einem Gehäuse hervorgehen 
lassen. So wäre das Moment der Unterscheidung am nächsten 
wohl darin zu suchen, dass der Verstand bereits eine besondere 
Anwendung der Vernunftfunktion auf empirisches Material bedeute, 
nicht im Sinne der psychologistischen Projektionstheorie, sondern 
in der rein logischen Bedeutung, dass in die konkreten Einheits- 
formeln der Kategorien bereits die irrationalistischen Elemente 
der sinnlichen Realität sich eingenistet haben. Wie in jedem 
konkreten Urteil über Phänomene zweierlei enthalten ist, die syn- 


Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus etc. 85 


thetische Einheit der Verstandeshandlung und der sinnliche Stoff, 
der zur Einheit gebunden werden soll, so könnte auch in den 
Kategorien selber diese Duplizität auf entsprechend höherer Stufe 
gedacht werden. Freilich liessen sich die zwei Elemente hier 
nicht so säuberlich sondern und von einander isolieren. Die Kate- 
gorien wären vielmehr in ihrer Besonderheit als ein Produkt ge- 
geben, dessen einen Faktor die reine transscendentale Einheit der 
Apperzeption bildet, dessen anderer Faktor bereits irgendwie von der 
irrationalen Mannigfaltigkeit empirischer Anschauung imprägniert 
ist. Die höchsten Synthesen wären demnach noch nicht in den 
Kategorien zu suchen, vielmehr in der reinen Vernunfthandlung 
der transscendentalen Apperzeption, die die Synthese aller Syn- 
thesen darstellt. Man wird gegen diese Deutung schwere Be- 
denken äussern. Sondert denn Kant nicht selber die Kategorien 
als abstrakte Verstandesbegriffe von aller Sinnlichkeit ab, um sie 
erst durch die Schematisierung in konkrete Grundsätze münden 
zu lassen, die auf Erfahrung angewandt werden können? Von 
uns aber wird der Einfluss der Erfahrung auch auf die Kate- 
gorien ausgedehnt. Der Vorwurf wäre gerecht, würde der Stand- 
punkt vertreten, die Kategorien seien aus der Erfahrung abstra- 
hiert, in ihr also vorfindbare Elemente. Das ist aber keineswegs 
behauptet worden. Bloss dies ist behauptet worden, dass auf die 
Konfiguration des Kategoriensystems, man möchte sagen: unsicht- 
bar das irrationale Moment der Sinnlichkeit einwirkt. Dass sich 
die Vernunft nicht von selber, einem rätselhaften Drange ge- 
horchend, in die Kategorien verästelt, sondern dieser Differenzierung 
und Spezialisierung einer ursprünglich elementaren Vernunfteinbeit 
ein Zwang von aussen zu Grunde liegt. So lässt sich auch der 
Raum als sinnliches Ordnungsprinzip der Erscheinungen nicht em- 
pirisch erklären, sondern in transscendentaler Beweisführung als 
apriorisches Element nachweisen. Aber der bestimmte dreidimen- 
sionale Raum, der in unserem Kosmos ruht, lässt sich nicht logisch 
deduzieren, sondern ist ein Faktum, das wie jeder andere Erfah- 
rungsinhalt vorgefunden und geglaubt wird. Ebenso könnten die 
Kategorien mit Empirie behaftet sein, ohne deswegen vollinhaltlich 
zu empirischen Daten degradiert zu werden. Sie wären empirisch, 
soweit sie irrational, in ihrer Vielheit und Qualifikation nicht 
deduzierbar sind, sondern ein Urfaktum abgeben. Sie wären 
apriorisch, sofern . sie Spielarten der einen reinen transscenden- 
talen Synthese sind, Und der Verstand, ihr Inbegriff, dürfte 


a 0. Ewald, 


Apperzeption, die synthetische Vernunfteinheit selber, die die Q 
aller einzelnen und bestimmten Synthesen ist Die | 
allein gewährleistet jenen idealen Apriorismus: die Vern 
gang zum Verstande haftet eine unleugbare Schwierigkeit an. 


tionen hat es Kant nicht mangeln lassen. Es herrscht aber keine 
auf unsere Frage, 

Die Kategorien sind die Verstandeswelt. Das Problem, da: 
uns bewegt, ist also schlechtweg dieses: ist ein direkter Über- 
gang von der Vernunft zum Verstande denkbar? Denn die Ver- 
nunft, als höchstes Prinzip synthetischer Einheit, markiert selbst- 
verständlich den äussersten antipolaren Gegensatz zu jeglicher 
Erfahrung. Der Verstand aber, der durch die Vielzahl der Kate- 
gorien repräsentiert wird, schien j jener prioristischen Reinheit zu 


beide aus derselben W 
der sogar von einer 


3 einen Erfabrung, diese die 
nstituiere, darf nicht als das 


A 





Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus etc. 85 


thetische Einheit der Verstandeshandlung und der sinnliche Stoff, 
der zur Einheit gebunden werden soll, so könnte auch in den 
Kategorien selber diese Duplizität auf entsprechend höherer Stufe 
gedacht werden. Freilich liessen sich die zwei Elemente hier 
nicht so säuberlich sondern und von einander isolieren. Die Kate- 
gorien wären vielmehr in ihrer Besonderheit als ein Produkt ge- 
geben, dessen einen Faktor die reine transscendentale Einheit der 
Apperzeption bildet, dessen anderer Faktor bereits irgendwie von der 
irrationalen Mannigfaltigkeit empirischer Anschauung imprägniert 
ist. Die höchsten Synthesen wären demnach noch nicht in den 
Kategorien zu suchen, vielmehr in der reinen Vernunfthandlung 
der transscendentalen Apperzeption, die die Synthese aller Syn- 
thesen darstellt. Man wird gegen diese Deutung schwere Be- 
denken äussern. Sondert denn Kant nicht selber die Kategorien 
als abstrakte Verstandesbegriffe von aller Sinnlichkeit ab, um sie 
erst durch die Schematisierung in konkrete Grundsätze münden 
zu lassen, die auf Erfahrung angewandt werden können? Von 
uns aber wird der Einfluss der Erfahrung auch auf die Kate- 
gorien ausgedehnt. Der Vorwurf wäre gerecht, würde der Stand- 
punkt vertreten, die Kategorien seien aus der Erfahrung abstra- 
hiert, in ihr also vorfindbare Elemente, Das ist aber keineswegs 
behauptet worden. Bloss dies ist behauptet worden, dass auf die 
Konfiguration des Kategoriensystems, man möchte sagen: unsicht- 
bar das irrationale Moment der Sinnlichkeit einwirkt. Dass sich 
die Vernunft nicht von selber, einem rätselhaften Drange ge- 
horchend, in die Kategorien verästelt, sondern dieser Differenzierung 
und Spezialisierung einer ursprünglich elementaren Vernunfteinheit 
ein Zwang von aussen zu Grunde liegt. So lässt sich auch der 
Raum als sinnliches Ordnungsprinzip der Erscheinungen nicht em- 
pirisch erklären, sondern in transscendentaler Beweisführung als 
apriorisches Element nachweisen. Aber der bestimmte dreidimen- 
sionale Raum, der in unserem Kosmos ruht, lässt sich nicht logisch 
deduzieren, sondern ist ein Faktum, das wie jeder andere Erfah- 
rungsinhalt vorgefunden und geglaubt wird. Ebenso könnten die 
Kategorien mit Empirie behaftet sein, ohne deswegen vollinhaltlich 
zu empirischen Daten degradiert zu werden. Sie wären empirisch, 
soweit sie irrational, in ihrer Vielheit und Qualifikation nicht 
deduzierbar sind, sondern ein Urfaktum abgeben. Sie wären 
apriorisch, sofern sie Spielarten der einen reinen transscenden- 
talen Synthese sind, Und der Verstand, ihr Inbegriff, dürfte 




























88 0. Ewald, 


Einheit im Allgemeinen zu, nicht aber die der einzelnen 
Dieselben sind danach wenigstens als ein Singuläres, 
als Faktisches gesetzt, und von da ist der Übergang zur Beh 
sie seien empirisch behaftet, nicht mehr weit. Es soll 
hervorgehoben werden, dass sie auch hier keineswegs als 
einer Abstraktion aus der Sinneserfabrung erscheinen, 
mit dem Grundgedanken der transscendentalen Analytik un 
lich wäre, Deswegen sollte ausdrücklich bloss von e 


Wesen der sinnlichen Realität überhaupt auf das Kategorie 
unsichtbar einwirken. Wir wollen uns hier auf Simmel b 
der eine dieser nahe kommende Ansicht vertreten hat. Er ni 
für das Erfahrungsurteil die Möglichkeit eines kontinuierlichen 
ganges von blosser Wahrnehmungsfolge zu apriorischer Allg 
heit an. „Schon das flüchtigste Wahrnehmungsurteil dürfte 
einem ersten Ansatz an den Erfahrungsformen teilhaben, und d 
gefestetste empirische Urteil, dem mathematischen sich ins U: 
liche nähernd ist gegen Umänderung durch neue Wahrnehmung 
niemals vollständig gesichert.“ Dies könnte man aber auch 
die einzelnen Kategorien ausdehnen und in ihnen nicht den reinsten 
Ausdruck rationaler Einheit und Gesetzlichkeit sehen, den vielmehr 


gorien bedeuteten ein strenges Apriori, sofern sie an dieser Anteil 
haben, sie wären aber empirisch behaftet zu nennen, sofern man | 
ihrer spezifischen Eigentümlichkeit Rechnung‘ trägt. 4 
Diese Auffassung mag grossem Widerspruch begegnen: wir 
vertreten sie hier auch keineswegs als Dogma, sondern bloss als 
eine erkenntniskritische Möglichkeit. Man wird ihr besser gerecht 
zu werden vermögen, wenn man zwischen empirischer Ableitung, 
Deduktion aus einzelnen Erfahrungen, und empirischer 
im Allgemeinen unterscheiden gelernt hat. Einer Ableitung in erster 
Bedeutung entziehen sich die Kategorien freilich. Aber sofern sie 
auch nicht rational zu deduzieren sind, sondern uns als ein Faktum À 
gegenübertreten, das wir übernehmen müssen, ohne einsichtig seiner — 
Entstehungsgründe gewahr zu werden, ist es wohl nicht so ver- 
fehlt, von empirischer Behaftung zu reden. Denn im strengen 
Kantischen Sprachgebrauch ist es so ziemlich dasselbe, als Faktum — 


oder empirisch gegeben sein. Man sehe auch von dem Einwand 
ab, die Kategorien seien Formen und somit nicht empirisch behaftet. 


Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus ete. 89 


Denn fürs erste giebt es empirische Formen, zweitens ist die 
Trennung von Inhalt und Form nicht psychologisch, sie ist trans- 
scendental zu verstehen. Form bedeutet einen einsichtig gegebenen, 
gesetzlichen Zusammenhang, Inhalt das irrationale Element, das 
jederzeit gegeben sein muss als ein Äusserliches, den Gesetzen des 
Verstandes nicht Zugängliches. Was wir in Bezug auf die gegen- 
ständliche Wahrnehmung als Form und Inhalt auseinanderhalten, 
hat mit jener Distinktion wenig gemeinschaftlich. Es könnten der- 
selben demnach auch die Kategorien teilweise wenigstens als Inhalte 
gesetzt sein, soweit ihr spezifischer gesetzlicher Ausdruck nicht 
aus dem allgemeinen Gesetz der Apperception einsichtsvoll hervor- 
leuchtet, vielmehr ein nicht weiter rational zu durchdringendes 
Faktum abgiebt. 

Diese Deutung, die hier nicht dogmatisch vertreten, sondern 
bloss gekennzeichnet wird, würde den reinen Rationalismus dem 
Empirismus gegenüber am wirksamsten beschränken. die Grenzen 
des letzteren dagegen am höchsten hinaufrücken. Nicht bloss Sinn- 
lichkeit und Verstand, sondern sogar die Vernunft wiese sich als 
empirisch behaftet. Darin entfaltete sich sonach die stärkste 
empiristische Möglichkeit des Kritizismus. 

‘Wenden wir uns nunmehr ihrem Gegenpol, der rationalistischen 
Möglichkeit zu. Da wechselt auch das Gebiet, in dem sich der 
Grenzkonflikt zwischen Rationalismus und Empirismus abspielt. 
Es liegt jetzt unterhalb der Ideen und Kategorien, in der Sphäre 
der Empfindungen, der Sinnesinhalte. Die Schwierigkeit scheint 
hier viel geringer, die Lösung derselben viel mehr auf der Hand 
gelegen. Dem äusseren Aspekt nach. ist die Grenzbestimmung 
zwischen Rationalismus und Empirismus hier in Wesen der Sache 
begründet. Insbesondere für den Kantischen Kritizismus. Das 
rationalistische Prinzip vermag offenbar in der Sphäre der Em- 
pfindungsmannigfaltigkeit keinen Halt zu gewinnen. Der Gegen- 
stand, als Gewebe begrifflicher Beziehungen, wird gedacht. Der 
Gegenstand, als ein Bündel von Empfindungselementen ist gegeben. 
Das Gegebensein markiert den Zwang des Bewusstseins, sich in 
ein Faktum zu fügen, das es nicht zu produzieren noch zu deduzieren 
vermag, das es einfach vorfindet und acceptieren soll. Die Empfindung 
ist ein Urfaktum, an das der Verstand als ein ihm Fremdes heran- 
tritt. Sie entzieht sich der Deduktion, der bloss die Form, nicht 
der Inhalt zugänglich ist. Wenn es ein gesichertes Ergebnis der 
Kantinterpretation giebt, so scheint es dies eine zu sein, an dem 





90 0. Ewald, 


sich der Unterschied zwischen dogmatischer Metaphysik und Kritizis- 
mus emporrankt. Im iibrigen hebt sich Kant eben durch diese 
Grenzsetzung auch von seinen Epigonen, den Identitätsphilosophen 
ab, die die Grenze nicht anerkennen wollten und auch die Welt- 
materie, die Inhalte der Natur zu begreifen und zu deduzieren 
erstrebten. Aber der Sachverhalt liegt dennoch so einfach nicht. 
Kant hat die Empfindung nicht deduzieren wollen, aber er hat sie 
dennoch von der Deduktion nicht völlig ausgeschlossen. In den 
Antizipationen der Wahrnehmung hat er dem eigentümlichen 
Verhältnis, das sich an dieser Stelle zwischen Rationalismus und 
Empirie entfaltet, einen präzisen Ausdruck geliehen. Die Empfindung 
lässt sich nicht begreiflich machen, rationalistisch verarbeiten. 
Aber etwas an ihr, der Grad ihrer Realität lässt sich a priori 
antizipieren. Kant drückt selber sein Erstaunen über diesen höchsten 
Trumpf aus, den der Intellektualismus der Erfahrung gegenüber 
ausspielt. Es sieht beinahe so aus, als könne man, mit der Gesetzes- 
tafel des Kategorienschemas in Händen, das Wunder aller Wunder 
leisten und einen Blick um die Ecke werfen. 

Der Grad der Realität wird antizipiert, die Realität selber, 
das heisst, die Empfindung lässt sich nicht apriorisieren. So ein- 
leuchtend dies zu sein scheint, so zweideutig giebt es sich für 
den Anfang. Die Empfindung lässt sich nicht apriorisieren. Der 
Verstand hat kein Kriterium, wonach einem bestimmten Tone, 
einer bestimmten Farbe ein prinzipieller Vorrang vor den übrigen 
zukäme. Die inhaltliche Qualifikation eines Objektes, sein Em- 
pfindungsmaterial lässt sich in kein kategoriales Gefüge zwängen. 
Aber das Urfaktum der Empfindung, die Empfindung über- 
haupt scheint in der Kategorie der Qualität und ihren Teil- _ 
momenten, der Realität, Negation, Limitation a priori einsichtig 
zu sein. Denn mit dem Grade der Empfindung ist die Em- 
pfindung ihrem Begriff nach bereits vorausgesetzt, freilich 
ohne Rücksicht auf ihre qualitative Bestimmtheit. Somit erfährt 
das rationalistische Prinzip eine ungeahnte Erweiterung. Wenn 
ihm auch die sinnliche Fülle der Erscheinungen verschlossen 
bleibt, an das Thor der Erscheinungswelt vermag es dennoch vor- 
zudringen. Der Verstand begreift nicht die einzelnen Erschein- 
ungen, die einzelnen Empfindungen. Aber er deduziert ihr be- 
griffliches, abstraktes Sein. Es nimmt sich indessen wie ein selt- 
samer Widerspruch aus, dass der Verstand auf der einen Seite 
nicht die Kraft besitzen sollte, aus sich heraus die Kategorien zu 


Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus ete. 9 


deduzieren, auf der anderen Seite gewürdigt wird, das Faktum 
der empirischen Empfindung in seinen eigenen Tiefen zu be- 
gründen. Dieser Widerspruch löst sich freilich, sofern man ihn 
an der Wurzel fasst. Wir leugnen jenes dem Verstande zuge- 
schriebene Vermögen, ein ihm so völlig Fremdes, wie die Em- 
pfindungsmannigfaltigkeit, den Stoff der Sinnenwelt, zu deduzieren. 
Ein so unfassbares Heraustreten aus seinem Bereich wäre ein 
Mysterium. Der Verstand ist nichts als die Einheit jener Funk- 
tion, die sich in der Systematik der Kategorien zu bewähren hat. 
Wie er sich im Sinne Kants der Empfindung, eben desjenigen, 
das ausserhalb der Kategorien ruht, sollte bemächtigen, wäre kaum 
zu begreifen. Das Argument, die Aktivität des Verstandes, 
könne bloss an ihrem Gegenteil sichtbar werden, bedinge also als 
Korrelat das passive Gegebensein der Empfindungsmaterie ist purster 
Psychologismus. Für die subjektive, psychologische Auffassung 
mag es sich dergestalt verhalten, und so wie die Aufnahme einer 
einzigen Empfindung losgelöst von allen anderen Empfindungen 
ein Ding der Unmöglichkeit ist, so wird die innere Erfassung der 
Spontaneität des Verstandes bloss in seinem Kontraste zur Rezep- 
tivität der sinnlichen Inhalte vor sich gehen können. Aber ein 
Rekurs auf psychische Verhältnisse ist keine transscendentale De- 
duktion. Logisch ist eine Realität nicht erst durch Entgegen- 
setzung einer anderen bedingt. Ebenso könnte man zum Exempel 
argumentieren, der Begriff des Bewusstseins setze zugleich ein 
ausserhalb der Bewusstseinssphäre Gegebenes voraus, die imma- 
nente Philosophie sei also auch analytisch, nach dem Satz des 
Widerspruchs, ein Unbegriff. Und so liesse sich Metaphysik 
gleichsam aus der hohlen Hand schöpfen, aus vermeintlichen Denk- 
notwendigkeiten würden fadenscheinige Seinsnotwendigkeiten her- 
vorgesponnen. Zum Überflusse darf noch bemerkt werden, dass 
jenes Gegenstück, an dem sich in seiner Eigenart der Verstand 
erst durchsichtig werden müsse, ebenso gut in der Vernunft als 
in der Sinnlichkeit gesucht werden könne. 

Auf dem Wege einer sinnlichen transscendentalen Deduktion 
gelangt man also niemals zum Begriff eines Etwas, das als Em- 
pfindungsinhalt qualifiziert erscheint. Dieser Begriff kann der 
transscendentalen Logik bloss vorausgesetzt, nicht erst von ihr 
geschaffen werden. Erst an diesem vorausgesetzten, in der Er- 
fahrung vorgefundenen Etwas vermag die transscendentale Methode 
anzusetzen und aus ihm das apriorische Element der Intensität 





| 


92 0. Ewald, 


herauszuziehen. Allerdings ist dies ein Apriori zweiten Grades, 
denn es ist nicht bloss aus der Möglichkeit der Gegenstände, viel- - 
mehr aus deren Wirklichkeit gezogen. Man suche dem nicht mit 
dem Einwand zu begegnen, Kant habe in seiner Abweisung der 
Theorie vom leeren Raum als einem blossen Hirngespinnste die 
Erfüllung des Raumes mit Materie, also mit Empfindungsinhalten 
a priori deduziert. Denn eben jene Abweisung gründet sich auf 
keine abstrakte Vernunfthandlung, sondern auf die konkrete Be- 
rücksichtigung der empirischen Wirklichkeit, die sich immer auch 
als Empfindung nicht bloss als Anschauung manifestiert. 

Die Empfindung bildet die untere Grenze der transscenden- 
talen Logik. Aber sie ist nicht einmal als Grenzbegriff aus 
der transscendentalen Logik selber gezogen. Sonst ergäbe sich 
der seltsame Widerspruch, dass sie, die dem Kantischen System 
den Ort der Realität zu vertreten hat, ein logisch völlig imagi- 
näres, bloss methodisch wertvolles Element repräsentierte, ähnlich 
der Idee des Dinges an sich, dem oberen Grenzbegriff. Also ist 
sie unmittelbar aus der Anschauung geholt, in der Breite und 
Fülle eines empirischen Faktums gesetzt. Das steht in vollem 
Einklange mit Kants Erörterung seiner Methode in den „meta- 
physischen Anfangsgründen“, wo die Materie, der Gegenstand der 
Physik als etwas empirisches hingestellt wird, das der Transscen- 
dentalismus zwar nicht aus eigenen Begriffen erzeugen, wohl aber 
seinen Begriffen entsprechend bearbeiten könne. Dieser Methode 
der „metaphysischen Anfangsgründe“:) gehen die Antizipationen 


‘) „Diese muss nun zwar jederzeit lauter Prinzipien, die nicht em- 
pirisch sind, enthalten — denn darum führt sie eben den Namen einer 
Metaphysik — aber sie kann doch sogar entweder ohne Beziehung auch 
irgend ein bestimmtes Erfahrungsohjekt, mithin unbestimmt in Ansehung 
der Natur dieses oder jenes Dinges der Sinnenwelt, von den Gesetzen, 
die den Begriff einer Natur überhaupt möglich machen, handeln, und als- 
dann ist es der transscendentale Teil der Metaphysik der Natur; oder 
sie beschäftigt sich mit einer besonderen Natur dieser oder jener Art 
Dinge, von denen ein empirischer Begriff gegeben ist, doch so, dass ausser 
dem, was in diesem Begriff liegt, kein anderes empirisches Prinzip zur 
Erkenntnis derselben gebraucht wird, z. B. sie legt den empirischen Be- 
griff einer Materie oder eines denkenden Wesens zum Grunde und sucht 
den Umfang der Erkenntnis, deren die Vernunft über diese Gegenstände 
a priori fähig ist, und da muss eine solche Wissenschaft noch immer eine 
Metaphysik der Natur, nämlich der körperlichen oder denkenden Natur 
heissen, aber es ist alsdann keine allgemeine, sondern besondere meta- 
physische Naturwissenschaft — Physik und Psychologie — in der jene 


Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus etc. 93 


der Wahrnehmung in der Kritik der reinen Vernunft wegweisend 
voran. Auch sie setzen mit dem transscendentalen Apparat an 
empirische Werte an und apriorisieren sie, soweit dies sich mög- 
lich zeigt. 

Es stünde im seltsamsten Widerspruche mit der früher vor- 
gebrachten Auffassung der Kategorien als empirisch behafteter 
Vernunftfunktionen, wenn die Vernunft, die einerseits in ihrer 
eigenen Domäne eine breite Einflusssphäre der Sinnlichkeit ein- 
räumen muss, dennoch andererseits sogar über die Empfindung 
Macht besässe. Wenn aber das letztere Verhältnis in unserem 
Sinn interpretiert wird, schwindet der offenkundige Widerspruch. 
Beide Auffassungen treten sodann vielmehr zu harmonischer Er- 
gänzung zusammen, verdeutlichen und vollenden einander. Wie 
die reine Vernunfthandlung der transscendentalen Apperzeption 
den Urbegriff schafft, so stellt die Materie der Empfindung 
das Urfaktum dar. Die Macht dieses Urfaktums würde sich 
dann einerseits in seiner unsichtbaren Einwirkung auf die Kon- 
stituierang der Kategorien und der von denselben abgeleiteten 
Begriffe, die Macht des Urbegriffes in der transscendentalen Be- 
handlung der Empfindungsmaterie äussern, wie sie vornehmlich in 
den Antizipationen zu Tage tritt. Es fände zwischen den beiden 
Gebieten, dem der Vernunft und dem der Sinnlichkeit eine Art 
Wechselwirkung statt, die sich in Verstandesbegriffen und Grund- 
sätzen kundgäbe. 

Das sind die äussersten Aspekte, in die Kants Methodologie 
einmündet. Rationalismus und Empirismus stehen sich nicht mehr 
fremd und unnahbar gegenüber, den Blick auf eine in gerader 
Richtung verlaufende Grenzlinie geheftet, sondern durchdringen 
einander und lösen wechselseitig neue Kräfte aus. Es darf uns 
nicht mehr Wunder nehmen, dass einerseits von empirischer Be- 
haftung der Kategorien gesprochen wurde, andererseits das irra- 
tionale Element der Materie, der Empfindung in einer bestimmten 
Beziehung rationalisiert, kategorial fixiert wurde: solche schein- 
bare Gegensätzlichkeit der Resultate soll uns keineswegs zu einem 
unzersetzbaren Widerspruch gerinnen. Aus der vermeintlichen 
Dissonanz erwächst uns in Wahrheit eine neue Harmonie. Es ist 


transscendentalen Prinzipien auf die zwei Gattungen der Gegenstände 
unserer Sinne angewandt werden.“ Vorrede zu den „Metaphysischen An- 
fangsgründen der Naturwissenschaften“, 





9 O. Ewald, 


eine Bestätigung für die empirische Behaftung der Kategorien, 
keine Widerlegung derselben, wenn sogar ein Element der Wabr- 
nehmung. nämlich das intensive Element apriorisiert werden durfte. 
Denn darin ist nicht die Zusicherung entbalten, dem Verstande 
eigne eine geheimnisvolle Macht über die Sinnenwelt, jene Macht, 
die Schelling und Hegel im Zeichen der Dialektik sich entfalten 
liessen, sondern im Gegenteile das einfache Geständnis, der Ver- 
stand setze dort, wo er in kategoriale Wirksamkeit trete, bereits 
die Empfindung als Urfaktum voraus, wenngleich lediglich als 
abstraktes Urfaktum und nicht in bestimmter, inhaltlicher Quali- 
fikation. Es lässt sich für dies eigentümliche Wechselverhältnis 
ein zwiefacher Ausdruck finden, ein rationalistischer und ein em- 
piristischer, die aber im Grunde das Gleiche besagen. Jener 
würde lauten: der Verstand apriorisiert mit der Intensitätsskala 
der Empfindung zugleich das allgemeine, abstrakte Urfaktum der 
Empfindung. Dieser: der Verstand ist an das Faktum der Em- 
pfindung gewiesen, um an ihr apriorisierend in Funktion zu treten 
und ihre Intensität zu antizipieren. Letzterer Ausdruck ist kor- 
rekter und erreicht den Kern der Sache. Er charakterisiert deut- 
lich die Aufgabe und Bestimmung des Verstandes in seiner Rich- 
tung auf die Möglichkeit der Erfahrung. Nicht die besondere 
Beschaffenheit der Sinnenwirklichkeit, ihre Inhaltsfülle, der Reich- 
tum an Tönen und Farben, die Nuancen von Licht und Schatten, 
sondern einzig dies eine, dass es sinnliche und empirische Inhalte 
giebt, das dürre Faktum der Existenz ist ibm Voraussetzung. 
Aber auch dies bereits muss empirische Behaftung und Beschrän- 
kung genannt werden. Denn ein völlig reines Apriori weiss sich 
auch frei von dem blossen Dasein eines anders gearteten, erfah- 
rungsmässig zu bestimmenden Etwas. Die transscendentale Ana- 
lytik weist uns demnach keinerlei ideale Apriorität, sondern 
höchstens eine approximative, sie zeigt uns wohl den reinen Ver- 
stand, der aus der Apperzeption entspringt und sich in kategorialen 
Einheitsformen bewährt, aber sie zeigt uns zu gleicher Zeit die 
absolute Grenze des Verstandes, jenes Differenziale des Bewusst- 
seins, Maimons Ding an sich, den irrationalen Faktor der Em- 
pfindung in seiner Einwirkung auf jenen ersteren. Und besagte 
Einwirkung liesse sich wohl in allen einzelnen Kategorien und 
Grundsätzen, nicht bloss in den Antizipationen der Wahrnehmung 
nachweisen. Hier ist es von Interesse, auf Kants Unterscheidung 
zwischen mathematischen und dynamischen Kategorien hinzuweisen, 


Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus etc. 95 


und seine Erläuterung, dass jene auf Gegenstände der Anschauung, 
der reinen sowie der empirischen gehen, diese auf die Existenz 
besagter Gegenstände gerichtet seien. Es scheint für den ersten 
Augenblick einzuleuchten, dass die dynamischen Kategorien einer 
noch stärkeren empirischen Behaftung unterworfen sind, da das 
Dasein ein Faktum ist, und über den blossen Begriff hinausgeht. 
„In der Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf mögliche 
Erfahrung ist der Gebrauch ihrer Synthesis entweder mathema- 
tisch oder dynamisch; denn sie geht teils bloss auf die An- 
schauung, teils auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt. 
Die Bedingungen a priori der Anschauung sind aber in Ansehung 
einer möglichen Erfahrung durchaus notwendig, die des Daseins 
der Objekte einer möglichen empirischen Anschauung an sich bloss 
ig. Daher werden die Grundsätze des mathematischen Ge- 
brauches unbedingt notwendig, apodiktisch lauten, die aber des 
dynamischen Gebrauches werden zwar auch den Charakter einer 
Notwendigkeit a priori, aber bloss unter der Bedingung des empi- 
rischen Denkens in einer Erfahrung, mithin bloss mittelbar und 
indirekt bei sich führen, folglich diejenige Evidenz nicht enthalten 
— obzwar ihrer auf Erfahrung allgemein bezogenen Gewissheit 
unbeschadet — die jenen eigen ist.“ Diese Sätze sind ein klassi- 
scher Ausdruck für jene Relation, die in der empirischen Behaf- 
tung der Kategorien gegeben war. Es mag einen wundern, dass 
wir sie nicht als wirksamen Stützpunkt an die Spitze unserer 
Ausführungen gesetzt haben. Aber Kant spricht ja lediglich von 
den dynamischen Kategorien: und wir redeten von den Kategorien 
im Allgemeinen. Die dynamischen sind nicht mehr in jener ideal 
aprioristischen Reinheit gegeben, weil sie ein empirisches Denken 
und sonach einen Gegenstand des empirischen Denkens voraus- 
setzen. Das offenbart sich insbesondere am Relationsbegriff, in 
den Analogien der Erfahrung. Hier wird das Zeitverhältnis näher 
bestimmt, das Zeitverhältnis zwischen Dingen, Phänomenen, Gegen- 
ständen der Wahrnehmung. Das letztere leuchtet von selber ein. 
Wo von Zeitverhältnissen die Rede ist, da handelt es sich natur- 
gemäss um das Verhältnis einzelner Phänomene zu einander, da 
die Zeitform von Kant nicht auf die Sphäre der Dinge an sich 
bezogen wird. Wenn also diese Verhältnisse auch an sich apriori- 
siert werden können, in den Begriffen der Kausalität, der Sub- 
stanz, der Wechselwirkung, so bedeutet ihre unvermeidliche Bezug- 
nahme auf Erfahrung eine empirische Behaftung. . 








sich 
auch die erstere Gruppe, wenn auch wieder in anderem Sinn, als 
es sich bei den Analogien der Erfahrung und den Postulaten des 


die einzelnen dynamischen Kategorien, für Kausalität, für Substanz 
und Wechselwirkung, für Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit, 
der Dinge Dasein selber, als ein sie konstituierender Faktor in An- 
betracht kommt. Denn was ist „Ursächlichkeit“ oder „Möglichkeit“ 
anderes als eine bestimmte Daseinsform, nach der nicht gefragt 
werden kann, ohne dass zugleich nach dem Dasein der Objekte 
gefragt würde? Die dynamischen Kategorien sind ihrem Bestande 
nach somit nicht bloss an das Faktum gebunden, dass es Inhalte, 
Gegenstände der Erfahrung giebt, sondern sie zeigen sich von 
diesem Faktum gleichsam innerlich imprägniert, sie sind ihrer 
Wesensart nach von jener empirischen Voraussetzung bestimmt. 
Betrachten wir dagegen die mathematischen Kategorien und unter 
diesen zunächst die Qualität als Basis für die Antizipationen der 
Wahrnehmung. Hier hat sich die empirische Behaftung in anderem 
Ausmasse, in anderer Gestalt gewiesen. Das stoffliche Etwas, der 
empirische Inhalt ist auch hier Voraussetzung: eine Intensitätsskala 
muss ja auf Empfindungselemente bezogen werden, sie kann nicht 
losgelöst von diesen gleichsam im Freien schweben. Aber wie 
bereits hervorgehoben, diese Abhängigkeit wächst nicht in die innere 
Struktur der genannten Kategorie ein, wie bei den Analogien der 
Erfahrung und den Postulaten des empirischen Denkens. Und 


—k 


Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus etc. 9 


ebenso verhält es sich im Prinzip mit den Axiomen der Anschauung, 
bei denen vom Stoffe völlig abgesehen wird und bloss die räum- 
liche Konfiguration der Dinge, ihre Gestaltung in Erwägung kommt. 
Der Unterschied ist somit keineswegs darin gegeben, dass die 
mathematischen Kategorien vollständig jeglichen empirischen Mate- 
riales ledig sind, im Gegensatz zu den dynamischen. Es sind viel- 
mehr beide an jenes sinnliche Etwas gewiesen, das nicht zu dedu- 
zieren ist, Das ist auch bereits in der Problemstellung vorbereitet, 
die auf die Möglichkeit der Erfahrung abgeht. Indessen die mathe- 
matischen Kategorien haben, die einen an der Kontinuität räum- 
licher Gestalt, die anderen an der Kontinuität des Empfindungs- 
grades, ausserhalb jenes Etwas ein Mannigfaltiges der reinen An- 
schauung, an dem ihre Arbeit, von jedweder empirischen Materie 
absehend, ansetzen kann. Wogegen die dynamischen Kategorien mit 
besagtem Etwas so völlig verwoben sind, dass sie sich nicht bloss von 
aussen darauf, als ein Mögliches, beziehen, an dem mathematische 
Verhältnisse statuiert werden, sondern es völlig in sich aufnehmen, 
in seiner Rationalisierung, die ebenso seine Existenzialisierung 
bedeutet, sich erschöpfen. 

Bei dieser Untersuchung muss man allerdings den zwiefachen 
Begriff der Anschauung im Auge behalten und zwischen reiner 
und empirischer Anschauung unterscheiden. Dass die Kategorien 
ein bestimmtes, konstantes Verhältnis zu ersterer haben, und zwar 
zunächst zur Zeitanschauung, das sich in den Schematismen und 
auch in den Grundsätzen entfaltet, bedeutet noch keineswegs eine 
empirische Behaftung derselben. Denn diese Anschauung ist 
a priori vorhanden wie das Kategorienschema, Dasselbe ist fest- 
zuhalten, wenn man auf Kants am Abschlusse der Lehre von den 
Grundsätzen verzeichnete Bemerkung hinweist, es sei in letzter 
Linie nicht innere, sondern äussere Anschauung, auf die die Kate- 
gorien bezogen werden müssten. „Noch merkwürdiger aber ist, 
dass wir, um die Möglichkeit der Dinge zufolge der Kategorien 
darzuthun, nicht bloss Anschauungen, sondern immer sogar äussere 
Anschauungen bedürfen.“ Sind diese äusseren Anschauungen rein, 
dann gehören sie der Apriorität des Raumes an und die Beziehung 
des Verstandes auf sie ist keinerlei empirischer Behaftung gleich- 
zusetzen. Allerdings handelt es sich nieht bloss um reine, sondern 
auch um empirische äussere Anschauung. Kant schreibt: „Wenn wir 
zum Beispiel die reinen Begriffe der Relation nehmen, so finden wir, 
dass 1., um dem Begriff der Substanz korrespondierend, etwas 

Kantstudien X11, % 





98 0. Ewald, 


Beharrliches in der Anschauung zu geben... wir eine Anschauung 
im Raum, der Materie bedürfen, weil der Raum allein beharrlich 
bestimmt ist, die Zeit aber, mithin alles, was im innern Sinn ist, 
beständig fliesst.“ Noch klarer im Folgenden: „Um Veränderung 
als die dem Begriff der Kausalität korrespondierende Anschauung 
darzustellen, müssen wir Bewegung als Veränderung im Raum 
zum Beispiele nehmen, ja sogar dadurch allein können wir uns 
Veränderungen, deren Möglichkeit kein reiner Verstand begreifen 
kann, anschaulich machen.“ Wenn Kausalität auf Bewegung be- 
zogen wird, so ist sie zu einem empirisch sinnlichen Datum in Be- 
ziehung gesetzt, denn Kant nennt bereits in der transscendentalen 
Ästhetik die Bewegung zum Unterschiede von Raum und Zeit ein 
bloss Empirisches. Indessen, diese Beziehung auf empirische 
Sinnlichkeit bleibt durch die reine Sinnlichkeit vermittelt, wie es 
der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe zeigt. Die Kate- 
gorien werden unmittelbar bloss auf die Formen reiner Zeitlichkeit 
bezogen, und aus diesem Verhältnis, das naturgemäss keine em- 
pirische Behaftung bedeutet, erwächst das transscendentale System 
der Grundsätze. 

Dass jene reinen Anschauungsformen, Raum und Zeit, selber 
wiederum der empirischen Vertretung bedürfen, bestimmter räum- 
licher und zeitlicher Gebilde, ist eine Angelegenheit, die in 
höherem Masse die Ästhetik als die Analytik interessiert. Und 
wenn von einer empirischen Behaftung hier überhaupt die Rede 
sein dürfte, würde sie die Sinnlichkeit angehen, nicht Verstand 
noch Vernunft. Denn dies berührt bloss die Anwendung der Ver- 
standesbegriffe, nicht auch ihre Entstehung und innere Struktur. 
Die Frage, die uns angeht, ist nicht die, ob die Kategorien auf 
Gegenstände der Sinnenwelt angewendet und dadurch auf empi- 
risches Niveau herabgezogen werden, denn die Beantwortung 
dieser Frage lässt die genetische Apriorität der Kategorien unbe- 
rührt und berücksichtigt eigentlich bloss die nachträgliche Ver- 
wendung im Dienste der Erfahrung. Der Kausalitätsbegriff könnte 
in völlig aprioristischer Reinheit entsprungen sein, und dennoch 
auf sinnliche Objekle bezogen werden. Entstehung und Ver- 
wendung sind zweierlei, Der Intellekt wäre gleichsam sein 
Heimatsort, die Sinnlichkeit das Gebiet seiner praktischen Wirk- 
samkeit. Aber hier ist die Frage nicht nach der Anwendung der 
Kategorien, nicht nach dem Weg, den sie nehmen, um sich in 
sachlich bestimmte Erkenntnisse umzusetzen, vielmehr nach ihrer 





Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus etc. 99 


inneren, ursprünglichen Struktur. Die Entscheidung jener Frage 
gehört also mehr in den Rahmen der Ästhetik, als in den der 
Analytik. 

Wir müssen aber noch einen tieferen Einblick in das Wesen 
der empirischen Behaftung gewinnen. Dass dieselbe nicht mit 
empirischer Herkunft verwechselt werden darf, ist bereits erwähnt 
worden. Die Kategorien sind nicht durch Übung noch durch 
Assoziation entstanden. Kant selber hat eine empirische Deduk- 
tion derselben als ein Missverständuis bezeichnet. Diese Physio- 
logie des Verstandes, die Locke betrieben habe, scheint ihm 
frachtlos für die Aufgabe der Vernunftkritik. Auch wenn es ge- 
länge, die psychologische Gelegenheitsursache für die reinen Be- 
griffe zu entdecken, so bliebe das immer bloss eine Gelegenheits- 
ursache, keineswegs wäre es als erschöpfender Grund ihrer Aprio- 
rität anzuschen. Die letztere ist nicht empirisch, nicht genetisch 
zu erklären, eben um ihrer logischen Bedeutung, um ihrer lo- 
gischen Ursprünglichkeit willen, sondern ist uns einsichtsvoll 
gegeben. 

Wenn wir dennoch das Apriori nicht als ein völlig Reines 
bezeichnen, so ist das keine Annäherung an den trivialen psycho- 
logistischen Empirismus. Die empirische Behaftung will anders 
verstanden sein. Zu diesem Zwecke werden wir eine kurze Über- 
sicht über die einzelnen aprioristischen Geistesgebilde halten. 

Ein vollkommen reines Apriori gewährleistet uns die formale 
Logik. Der Satz der Identität ist frei von jedwedem Empirismus 
und es kommt ihm unbegrenzte Allgemeinheit zu. Desgleichen 
der Satz des Widerspruches, der Satz des ausgeschlossenen Dritten, 
Zumeist wird auch der Satz vom zureichenden Grunde in diese 
Reihe aufgenommen. Kein empirischer Faktor kann bier nach- 
gewiesen werden. Dass ein Ding mit sich selber identisch ist, 
sich nicht selber widerspricht, ist ein Grundsatz, der von der be- 
sonderen Eigenart jenes Dinges absicht, es als ein beliebiges Et- 
was betrachtet. Der Satz AA und die anderen Axiome der 
formalen Logik bleiben, so paradox es klingt, zu Recht bestehen, 
auch wenn es gar keine konkreten Inhalte giebt, durch die der 
Begriff A erfüllt werden könnte. Was durch A bezeichnet wird, 
das ist dem axiomatischen und apodiktischen Charakter des Satzes 
gegenüber völlig unwesentlich. Dieser Satz hat seinen Sinn und 
Wert in sich selber. Er rührt unmittelbar an eine innerliche 
Wesensart des Geistes und der Welt. Man kann dies charakte- 





100 0. Ewald, 


ristische Verhältnis auch folgendermassen ausdrücken: Für die 
Grundsätze der analytischen Logik fungiert jeglicher konkreter 
Gegenstand lediglich als Symbol, als nichts mehr denn als Symbol. 
Es ist bloss die sinnliche Schwäche unserer Sprache und unseres 
Denkens, die uns nötigt, für jenes völlig allgemeine und abstrakte 
x irgend ein besonderes, bestimmtes Element, sei es auch bloss 
den Buchstaben A, einzusetzen, das die Stellvertretung für die 
höchste formale Abstraktion zu übernehmen hat. Denn auch „A* 
ist, sofern es ein akustisches Lautbild oder ein optisches Schrift- 
zeichen bedeutet, für den völlig allgemeinen Inhalt des Satzes der 
Identität bereits ein sinnlicher Überfluss, ein Superplus über seine 
rein rationale Bedeutung, ein blosses Symbol. 

Anders die Lehrsätze der Mathematik. Auch sie tragen das 
aprioristische Gepräge des sie ursprünglich in freier Schöpferkraft 
darstellenden und konstruierenden Geistes. Aber die sinnliche 
Darstellung, das Bildhafte der Anschauung ist ihnen wesentlich: 
nicht mehr Symbol oder Stellvertretung. Die geometrischen 
Formeln, die die Eigenart des Kreises, der Ellipse beschreiben, 
sind ohne Ellipse oder Kreis sinnlos und leer. Ihr Wert, ihre 
Bedeutung entsteht gleichzeitig mit dem geometrischen Gebilde, 
dessen Wesensart sie kennzeichnen. Freilich ist damit nicht die 
empirische, sondern die reine, ideale Anschauung gemeint. Einen 
absoluten Kreis, eine absolute Ellipse sehen wir nirgends, viel- 
mehr konstruieren wir sie bloss nach den Prinzipien reiner Sinn- 
lichkeit. Aber wie gesagt: an die anschauliche Realität dieser 
Konstruktion bleiben wir gebunden. \n ihr gestaltet sich das 
Gebäude der Philosophie. Immerhin ist das noch keine empirische 
Behaftung, da es die freie 1 
die mit ihren Gebilden zugleich das ogisch ( 


ree 


unterscheidet: sic] 
Logik. V 
Unterlage 





Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus etc. 101 


markieren, sich darauf besinnen, dass die adäquaten Objekte der 
letzteren reine Formen, die der ersteren hingegen empirische Ma- 
terien sind. Das Gesetz des Kreises ist der Kreis selber, gleich- 
sam von einer anderen Seite betrachtet, Das Gravitationsgesetz, 
das Gesetz der Massenanziehung, dagegen hat mit der Masse selber 
nichts zu schaffen, es konstruiert eine mechanische Beziehung 
zwischen abstrakten Massenpunkten, nicht aber die Masse in ihrer 
sinnlichen Mannigfaltigkeit. Dennoch ist auch diese Logik an 
ihren Gegenstand gebunden. Nicht bloss das Newtonsche Gesetz, 
das nicht mehr der transscendentalen Logik, sondern der speziellen 
Physik angehört, auch der allgemeine Satz der Kausalität hätte 
keinen Sinn mehr, wenn es nicht sinnliche Gegenstände gäbe, die 
ihm entsprechend sich wechselweise verketten. Man kann freilich 
sagen, dass ein Gesetz zu Rechte bestehe, unabhängig von dem 
Stoffe, auf den es Bezug nimmt. Denn es sei das Wesen der 
Norm, nicht an die einzelnen, die individuellen Vorkommnisse ge- 
bunden zu sein. Dem Gravitationsgesetz eigne vollster Wahr- 
heitswert, auch wenn es nirgends eine Materie gäbe: da seine 
Richtigkeit in eben dem Augenblicke, in dem die letztere in 
Existenz träte, erhellen müsste. Das ist allerdings wahr, aber 
nieht im Widerspruch mit unseren Behauptungen. Eben das be- 
sagt der überindividuelle Wert jedweden Gesetzes, eines 
apriorischen oder empirischen, dass es sich nicht in einem ein- 
zelnen Faktum und auch nicht in der Summe aller Fakta er- 
schöpft. Es ist eine Formel, eine Norm für jegliches mögliche 
Faktum und daher nicht im strengen Sinn an deren Wirklich- 
keit gebunden. Diese Unabhängigkeit indessen ist bloss eine 
formale, keine inhaltliche. Da ein Gesetz die einsichtvolle Erfassung 
bestimmter, innerer, bestimmter wesentlicher Zusammenhänge 
"bedeutet, die individuelle, die vergängliche Existenz eines Dinges 
nicht aber das ihm Wesentliche, seine Essenz bedeutet, so ist dem 
Gesetz seiner Allgemeinheit entsprechend seine formale Reinheit, 
seine Unabhängigkeit vom einzelnen Dasein garantiert. Wir aber 
fordern eine viel höhere Reinheit und Idealität, als diese Freiheit 
in der äusseren Form und Anwendbarkeit. Wir fordern eine 
materiale Reinheit und Unabhängigkeit. Und diese vermag bloss 
ein apriorisches Gesetz zu gewährleisten, in das keinerlei empi- 
rische Faktoren aufgenommen worden sind. Die Erfüllung jener 
Forderung bot im strengsten Sinn bloss die formale Logik, deren 
Prinzipien eben wegen ihrer vollkommenen Erfahrungsreinheit 


{ 





102 0. Ewald, 


„metalogische“ genannt werden dürfen. Sie sind um 

siehtig gegeben, wie das Wesen des Geistes selber, sie sind 
Essenz, an gar keine Existenz gebunden. Die Logik de 
matik kommt dieser Apriorität nahe, aber sie setzt auch, 
man von ihrer Darstellung im empirischen Raum absieht, den 
Raum überhaupt, die Zeit überhaupt voraus, im Besonderen f 
den dreidimensionalen Raum und die eindimensionale Zeit. In 
weit Raum und Zeit ihrerseits selber als apriorische Daten, it 
wieweit sie als Erfahrungsfakta zu betrachten sind, das ist eit 
Frage, die anderswo zu entscheiden ist. Sicherlich aber ist h 
das Mass von Voraussetzungen ein grösseres, als in der foru 
Logik, auch wenn es nicht angeht, von empirischer Behaftu 
zu reden. Die transscendentale Logik aber ist unzweifelhaft 

pirisch behaftet. Sie hat vor sich eine Welt der Gegens 
der Gegenständlichkeit, eine Natur in weitester Bedentung, 
der sie nieht absehen kann. Und zwar setzt sich die Stufe: 
der Behaftung hier kontinuierlich fort. Die transscendentale 


















sätzen darstellt; hohl und leer, wenn man von der Sinnlichkeit | 
und ihren Formen, von Raum und Zeit absehen will. Aber reine 
Raumbestimmungen und Zeitbestimmungen, wodurch transscenden- 
tale Analytik in Mathematik aufgehoben würde, erschöpfen ihr 
Wesen keineswegs, Wir liefern ein Beispiel. Die Kausalität ist 
nicht reine mathematische Topik, Fixierung zweier Zeitpunkte in 
ihrem wechselseitigen Verhältnis. Raum und Zeit sind hier eben | 
bloss sinnliche Medien und Schematismen, unerlässlich für konkrete | 
Darstellung der Verstandesbegriffe, keineswegs aber wesenseins i 
mit ihnen, sie vollinhaltlich definierend. Dass dem so ist, lehrt — 
bereits die Einleitung der „Kritik“, „Man nehme den Satz: Alles, | 
was geschicht, hat seine Ursache. In dem Begriff von Etwas, | 
das geschieht, denke ich zwar ein Dasein, vor dem eine Zeit vor- 
hergeht, und daraus lassen sich analytische Urteile ziehen. Aber 
der Begriff einer Ursache liegt ganz ausser jenem Begriff und 
zeigt etwas von dem, was geschieht, Verschiedenes an, ist 
also in dieser letzteren Vorstellung gar nicht mit enthalten.“ 
Es ist also nicht lediglich reine abstrakte Zeitbestimmung, 
sondern die Bestimmung von einem Etwas, das einem andern 
vorhergeht. 


Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus etc. 103 


Hierin also ist das gelegen, was wir als empirische Be- 
haftung charakterisierten, in der Unmöglichkeit, die Kategorien, 
nicht bloss ihrer Anwendung, sondern auch ihrer begrifflichen 
Struktur nach von aller empirischen Materie abgelöst zu halten. 
Wenn unsere Ausführungen etwas langwierig und schleppend er- 
schienen, so beruht das auf der Schwierigkeit, vor allem der 
Zweideutigkeit des Themas. Denn eine drohende Verwechselung, 
die uns dem empfindlichen Vorwurf der Verflachung ausgesetzt 
hatte, war unbedingt abzuwehren, die von empirischer Behaftung 
und von empirischem Ursprunge. Das letztere wäre müssiges Be- 
ginnen. Es wäre damit behauptet, dass sämtliche logischen Fle- 
mente der Kategorien sich aus Erfahrungen, wohl aus Em- 
pfindungen, zusammensetzen, sowie ein Gestein unter der Lupe 
eine geschlossene, bestimmte Menge von Mineralien als seine Be- 
standteile aufweist, in die es sich restlos zerlegen lässt. Derlei 
Komposita sind dem Empirismus die Verstandesbegriffe. Wir 
hielten uns indessen geflissentlich fern von dieser Deutung. Em- 
pirische Behaftung war uns lediglich eine Grenzvorstellung, ein 
Ausdruck dafür, dass das synthetische Bewusstsein nicht alles zu 
deduzieren vermag, was innerhalb der Kategorien Gesetzesform 
erhält. Dass diese Theorie noch der Vervollkommnung bedarf, 
soll keineswegs geleugnet werden. Unsere Ausführungen bean- 
spruchen nicht mehr zu sein, als ein Fingerzeig. 


Das Christusbild bei Kant. 


Von Pfarrer Dr. H. Staeps in Theningen (Baden). 





Dass der Stifter der wahren Kirche, der Lehrer des Evan- 
geliums, die Person Christi bei Kant wohl eine historische Be- 
deutung hat, das Historische an dieser Person aber sehr un- 
wesentlich ist, diirfte jedem Leser Kants gewiss sein. In einer 
Religion der reinen Vernunft hat ein historisches Christusbild 
keinen Platz. Zwar hat E. Troeltsch ,Das Historische in Kants 
Religionsphilosophie* (Kantstudien 1904, Bd. IX) eingehend ge- 
würdigt als eine „Lösung der praktischen Aufgabe, wie die Reli- 
gionsphilosophie sich zu dem die Praxis beherrschenden Element, 
dem christlichen Landeskirchentum zu verhalten habe“, und hat 
die Einflüsse, unter denen die religionsphilosophischen Arbeiten 
Kants gestanden haben, und damit die Religion i. d. bl. V. als 
eine Kompromissschrift gekennzeichnet, betrachtet aber dennoch 
diese Schrift als eine „Fortbildung und Vertiefung des Kantischen 
Religionsbegriffes“ und bringt als Ergebnis den Kantischen Satz: 
„Das Historische dient nur zur Illustration, nicht zur Demonstra- 
tion.“ In genanntem Aufsatz ist auch das Historische bei Kant 
über die Person Jesu kurz gezeichnet. Wollte man aber die Be- 
achtung, die Kant der christlichen Religion zollt, auf die wenigen 
historischen Notizen darüber beschränken, so würde man damit 
der religiösen Vertiefung und der moralphilosophischen Deutung, 
namentlich der Person Jesu bei Kant einfach aus dem Wege 
gehen. In seiner religiösen Tiefe ist das sog. Christusbild bei 
Kant im Unterschied von einem Christus der Geschichte ein 
Christus des Glaubens, dieser aber wiederum nicht ein zu den 
vielen historischen Glaubensvorstellungen über die Person Christi 
neu hinzugefügtes Bild, sondern ein in der reinen, von der Ge- 
schichte unverfälscht bleibenden, Vernunft liegendes, göttliches 
Urbild. Über dieses Urbild redet Kant in der Sprache der Bibel. 


Das Christusbild bei Kant. 105 


Die biblischen Ausdriicke aber sind ihm Sinnbilder fiir allgemein 
gültige, reine Vernunftwahrheiten; sie dienen dazu, solche aus 
Vernunft und Gewissen notwendig sich ergebende Wahrheiten für 
den praktischen Gebrauch anschaulich zu machen, die uns auf 
spekulativem Wege nicht erreichbar sind. Das bleibend Wert- 
volle an dem sog. Christusbild bei Kant dürfte sich leicht erkennen 
lassen, nachdem dasselbe einmal aus der Umrahmung der Kan- 
tischen Religionsphilosophie herausgestellt ist. 

Das Sittengesetz ist der diamantene Felsen, auf dem und in 
den hinein Kant den Bau seiner Religionslehre baut. Religion ist 
Moral. Oberstes Weltgesetz ist das Sittengesetz, wie es lediglich 
formal ursprünglich ins Herz des Menschen geschrieben ist und 
im Innern der Person wurzelt. Zweck und Ziel des Menschen ist 
die Herstellung einer gottwohlgefälligen, d. h. guten, nach den 
‚Vorschriften ihrer Pflicht handelnden Menschheit gemäss dem 
Ideal des in unserer Vernunft liegenden Urbildes eines moralisch 
vollkommenen Menschen. Zwei Mächte, ein gutes und ein böses 
Prinzip, liegen im Kampf um die Herrschaft über den Menschen. 
Jedes hat einen Anspruch geltend zu machen; das gute als 
das ältere, weil es die ersten Anrechte auf den Menschen hat, 
das böse, weil es der Mensch mit Freiheit in seine Grundsätze 
aufgenommen hat — und zwar mit Freiheit deshalb, weil die 
‚bösen Thaten dem Menschen sonst nicht zugerechnet werden 
könnten, solches aber das im Gewissen offenbar werdende Sitten- 
gesetz fordert und mit dem Sollen auch das Können zugleich ge- 
geben ist. Nun ist dieses radikal Böse weder eine Unterlassung 
des Guten, noch eine Schwäche der menschlichen Natur, sondern 
eine Umkehr der sittlichen Maximen in die gesetzeswidrigen. 
„Denn wie auch sein voriges Verhalten gewesen sein mag, und 
welcherlei auch die auf ihn einfliessenden Naturursachen sein 
mögen, imgleichen ob sie in oder ausser ihm anzutreffen seien, 
so ist seine Handlung doch frei und durch keine dieser Ursachen 
bestimmt, kann also und muss immer als ein ursprünglicher Ge- 
‚brauch seiner Willkür beurteilt werden. Er sollte sie unterlassen 
haben, in welchen Zeitumständen und Verbindungen er auch immer 
gewesen sein mag; denn durch keine Ursache in der Welt kann 
er aufhören, ein frei handelndes Wesen zu sein.“ Diese selbst 
verschuldete Willensthat darf nicht in der Zeitfolge empirischer 
Erscheinungen zu suchen sein, man kann also nicht nach irgend 
einem zeitlichen Ursprung fragen, da eine sog. Erbsünde uns nicht 





106 H. Staeps, 





zugerechnet werden kann. Die Freiheitsthaten haben ihren Ur- 
sprung im intelligiblen Charakter, und dieser ist ebenso wie das 
Sittengesetz ausserzeitlich, übersinnlich, deshalb unerklärbar. Hier 
heisst es vielmehr: in Adam haben alle gesündigt; denn wir 
machen es täglich ebenso. „Die Geschichte vom Sündenfall be- 
trifft dich, nur unter anderem Namen. Mutato nomine de te 
fabula narratur.“ Solche und ähnliche biblische Ausdrücke dienen 
nicht dazu, um unsere Erkenntnis über die Sinnenwelt hinaus zu 
erweitern, sondern nur, um den Begriff des für uns Unergründ- 
lichen für den praktischen Gebrauch anschaulich zu machen. Ge 
nug, das gute Prinzip fordert die ‚Wiedergeburt, d. h. die Umkehr 
zu einem dem Sittengesetz entsprechenden guten Lebenswandel. 

Es liegt nun in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft 
oder religiös ausgedrückt auf dem Grunde unserer Seele das Ur- 
bild eines moralisch vollkommenen Menschen. „Dieser allein Gott 
wohlgefällige Mensch ist in ihm von Ewigkeit her; die Idee des- 
selben geht von seinem Wesen aus; er ist sofern kein erschaffenes 
Ding, sondern sein eingeborener Sohn; das Wort (das Werde!), 
durch welches alle anderen Dinge sind, und ohne das nichts 
existiert, was gemacht ist.“ (Denn um seinet- d. i. des vernünf- 
tigen Wesens in der Welt willen, so wie es seiner moralischen 
Bestimmung nach gedacht werden kann, ist alles gemacht.) „Er 
ist der Abglanz seiner Herrlichkeit. In ihm hat Gott die Welt 
geliebt und nur in ihm und durch Annehmung seiner Gesinnungen 
können wir hoffen, Kinder Gottes zu werden.“ 

Dieses Ideal einer Gott wohlgefälligen Menschheit hat objek- 
tive Realität nur in unserer Vernunft und ist durch kein Beispiel 
in der Erfahrung zu belegen. Wenn es auch nie einen Menschen 
gegeben hätte, der diesem Urbild vollkommen adäquat oder dem 
Sittengesetz unbedingten Gehorsam geleistet hätte, so ist doch die 
objektive Notwendigkeit, ein solcher zu sein, von selbst einleuch- 
tend, Ja es kann überhaupt in der Erfahrung keinen mit diesem 
Vorbild sittlicher Gesinnungen übereinstimmenden Lebenswandel 
eines Menschen geben, da das Innere der Gesinnungen nicht auf- 
zudecken, die Tiefen des Herzens nie zu durchschauen sind, man 
niemals von der Lauterkeit und Festigkeit der sittlichen Grund- 
sätze (Maximen) sichere Kenntnis erlangen kann. Jenes Urbild 
kann nicht empirisch werden, es bleibt was es ist, ein Ideal, eine 
Idee, aber mit objektiver Realität in der menschlichen Vernunft, 
Die Vereinigung mit dieser unserer menschlichen Vernunft kann 


ee 5 


Das Christusbild bei Kant. 107 


als ein Stand der Erniedrigung des Sohnes Gottes angesehen 
werden, und weil wir nicht die Urheber dieser Idee sind, so kann 
man sagen, jenes Urbild ist vom Himmel zu uns herabgekommen. 
Wir könuen es uns freilich nicht anders als personifiziert denken, 
nur unter der Idee eines Menschen, der durch Lehre und Leben 
das Gute trotz allen Anlockungen zum Bösen durch Leiden bis 
zum schmählichen Tode um des Weltbesten willen zu verwirk- 
lichen bestrebt ist. Gleichwohl musste ein solcher Mensch kein 
übernatürlicher Heiliger, sondern ein natürlich erzeugter Mensch 
sein. Denn ersterer wäre der praktischen Durchführung im 
Lebenswandel eher hinderlich als förderlich. Ein göttlicher 
Mensch mit einer angeborenen, unveränderlichen, nicht errungenen 
Heiligkeit des Willens könnte für den natürlichen Menschen nicht 
mehr als Beispiel aufgestellt werden. „Der letztere würde sagen: 
man gebe mir einen ganz heiligen Willen, so wird alle Versuchung 
zum Bösen von selbst an mir scheitern; man gebe mir die innere 
vollkommenste Gewissheit, dass, nach einem kurzen Erdenleben, 
ieh (zufolge jener Heiligkeit) der ganzen ewigen Herrlichkeit des 
Himmels sofort teilhaftig werden soll, so werde ich alle Leiden, so 
schwer sie auch immer sein mögen, bis zum schmählichsten Tode, 
nicht allein willig, sondern auch mit Fröhlichkeit übernehmen, da 
ich den herrlichen und nahen Ausgang mit Augen vor mir sehe,“ 
Eine solche Liebesthat, um Unwürdige, ja Feinde vom ewigen 
Tode zu erretten, würde unser Gemüt wohl zur Bewunderung, 
Liebe und Dankbarkeit stimmen, nicht aber als Beispiel der Nach- 
ahmung für uns aufgestellt werden, ja für uns überhaupt nicht 
erreichbar sein. — Die Hoffnung, durch die Aufnahme dieses 
Ideals in unsere Gesinnung ein gottwohlgefälliger Mensch zu 
werden, das Vertrauen auf sich selbst, man könne dem Urbilde 
der Menschheit in treuer Nachfolge ähnlich bleiben, nennt Kant 
den praktischen Glauben an den Sohn Gottes, (Dieser Glaube ist 
also nicht ein Fürwahrhalten eines irgendwo und -wann geschicht- 
lieh dargestellten Ideals, kein Glaube an ein historisches Faktum.) 
In diesem Glauben ist der Ursprung für die Herzensänderung des 
Menschen zu suchen. Die moralische Anlage in uns ist zwar 
unbegreiflich, wir fragen vergebens, was es ist, was uns, durch 
so viele Bedürfnisse von der Natur abhängige Wesen, doch zu- 
gleich über die Natur erhebt; aber die Hoheit des Sittengesetzes, 
‚das nichts verheisst und nichts droht, gebietet uns einfach dieses 
„Stirb und Werde“; dadurch seine göttliche Abkunft verkündend, 








108 H. Staeps, 


muss es auf das Gemüt des Menschen bis zur Begeisterung 
wirken und es zu den Aufopferungen stärken, welche ihm 
Achtung für seine Pflicht auferlegt, und stellt die unl ngte 
Forderung, die Anlage zum Guten im menschlichen Herzen in 
ihrer Reinheit wiederherzustellen. „Eines ist in unserer Seele, 
welches, wenn wir es gehörig ins Auge fassen, wir nicht aufhören 
können, mit der höchsten Verwunderung zu betrachten, und wo 
die Bewunderung rechtmässig, zugleich auch seelenerhebend ist, 
und das ist: die ursprüngliche moralische Anlage in uns über- 
haupt.“ In solchen Gedanken Kants sind die Triebe und Wurzeln 
der Herzensänderung im Menschen zu suchen. Möglich, dass eine 
höhere Mitwirkung das Streben nach einem guten Lebenswandel 
ergänzt, aber das zu wissen ist nicht notwendig; wesentlich aber 
ist, zu wissen, was wir selbst zu unserer Erlösung und Seligkeit 
thun müssen. Die Wiedergeburt soll eben eigene That sein und 
ist daher zu allererst das Erfordernis für eine Gottwohlgefälligkeit. 
In der moralischen Besserung muss der Anfang nicht bei Gott 
gemacht werden, sondern bei uns, bei dem, was wir thun sollen; 
erst die Tugend, dann die Begnadigung — nicht umgekehrt. 
Diese Besserung ist aber nicht eine Besserung der Sitten, nicht 
ein Kampf wider einzelne Laster, sondern eine innere Umwand- 
lung der Denkungsart, eine Charaktergründung. Durch eigene 
Entschliessung kehrt der Mensch das Böse um in die vom Sitten- 
gesetz gewollte Ordnung, d. h. fortan soll das Sittengesetz oberster | 
Grundsatz, Maxime aller unserer Handlungen sein. So wird aus | 
einem radikal bösen ein radikal guter Mensch. In dieser neuen 
Gesinnung nun kann er hoffen, ein des göttlichen Wohlgefallens 
nicht ganz unwürdiger Mensch zu sein. — Man bezeichnet diese 
Lehre Kants am besten mit dem Schlagwort: Autonomie der sitt- 
lichen Persönlichkeit. — Indes erheben sich bei der Verwirklichung 
des Ideals einer gottwohlgefälligen Menschheit drei Schwierig- 
keiten. Die erste betrifft die menschliche Unvollkommenheit trotz 
der Wiedergeburt. Der Mensch bleibt, obwohl er den Grundsatz 
des Guten in sich aufgenommen hat, stets hinter dem Ideal der 
Heiligkeit zurück. Er soll heilig sein, so gebietet das Gesetz, er 
ist es aber in keinem Zeitpunkt wirklich; es besteht zwischen 
diesem und jenem nicht nur ein unendlicher Abstand, sondern ge 
nau genommen, eine unüberbrückbare Kluft. Die zweite Schwierig- 
keit besteht in der wankelmütigen Gesinnung. Wie sind wir vor 
einem Rückfall ins Böse geschützt? Die dritte betrifft die Schuld. 


Das Christusbild bei Kant, 109 


Selbst der Wiedergeborene hat dennoch nicht die alte Schuld be- 
zahlt, selbst wenn er keine neuen Schulden mehr macht. — Wie 
löst Kant diese drei Schwierigkeiten? Die erste: der fortwährende 
Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit, der Mangel eines gott- 
wohlgefälligen Lebenswandels bleibt bestehen. Aber Gott nimmt 
die Gesinnung für die That. Ist nur die Gesinnung gut, so wird 
sie vom Herzenskündiger als ein vollendetes Ganze auch der That 
nach angesehen. Die Gesinnung verbürgt einen unendlichen Fort- 
schritt im Guten. Wir können deshalb erwarten, im Ganzen und 
überhaupt Gott wohlgefällig zu sein. — Die zweite: Bei allem 
Wankelmut und dem steten Unvermögen, zu wissen und zu be- 
urteilen, ob wir wirklich im Guten Fortschritte machen, giebt uns 
Beharrlichkeit das Zutrauen zur guten und lauteren Gesinnung. 
Dieses ist wie ein guter uns regierender Geist, ein Tröster (Para- 
klet), der uns schützt vor Trostlosigkeit, oder wilder Verzweiflung. 
Schaffet eure Seligkeit mit Furcht und Zittern, trachtet unaufhör- 
lich nach dem Reiche Gottes! Daran knüpft sich dann das 
Vertrauen an die Festigkeit der Gesinnung, der Glaube, dass sie 
beharren werde. — Die dritte Schwierigkeit endlich stellt die 
Frage: wer büsst die alte Schuld auch im wiedergeborenen 
Menschen? Ein Überschuss guter Werke im neuen Leben ist 
ausgeschlossen. Jeder hat die Pflicht, alles Gute zu thun, was 
in seinem Vermögen steht und bleibt dabei nur ein unnützer 
Knecht. Aber doch erfordert die göttliche Gerechtigkeit Strafe 
für alle Sünden. Eine Geldschuld kann wohl durch einen andern 
bezahlt werden, niemals aber eine Sündenschuld. Denn diese ist 
die allerpersönlichste und nicht übertragbar. Vor der Wieder- 
geburt kann die Strafe nicht stattfinden, da sie zugleich den 
Menschen bessern soll. Letzteres wird aber erst nach der Wieder- 
geburt erreicht. Nach der Wiedergeburt aber ist der Mensch 
nicht mehr strafbar, da er doch den neuen Menschen in seiner 
Gesinnung angezogen hat. Dennoch muss der höchsten Gerechtig- 
keit ein Genüge geschehen. Dies geschieht, indem der neue 
Mensch für den alten leidet. Die schmerzvollen Opfer, die Übel, 
die Leiden, die Entbehrungen und Entsagungen, die der neue 
Mensch nach der Wiedergeburt auf sich nimmt, sind die Strafen, 
die er an Stelle des alten übernimmt. Diese Übel und Leiden 
sind sowohl gefühlte Strafen, die der alte Mensch verdiente, als 
auch Anlässe der Prüfung und Übung der guten Gesinnung des 
neuen Menschen, Im Absterben des alten Menschen leidet der 





| 


Rechtfertigung, wie Kant sie nennt, hat nach ihm nur ein 








Aber Kant giebt ihm doch einige lebensvolle Farben, da, wo das 
gute Prinzip als Darstellung der Menschheit in ihrer 
moralischen Vollkommenheit in dem geschichtlichen Stifter 
er 2 
geliums erklärt den moralischen Glauben des Herzens für 

alleinseligmachenden; der allein macht die Menschen heilig, 
ihr Vater im Himmel heilig ist, und beweist seine Echtheit nur 
durch den guten Lebenswandel. Nicht die Beobachtung äusserer 
Kirchenpflichten, sondern nur die rein moralische Herzensgesinnung 
macht den Menschen Gott wohlgefällig. Heiligkeit soll das Ziel 
seines Strebens sein. Sünde in Gedanken ist vor Gott der That 
gleich, im Herzen hassen, soviel als töten. Ein dem Nächsten 
zugefügtes Unrecht kann nur durch Genugthuung an ihm selbst, 
nicht durch gottesdienstliche Handlungen vergütet werden. Der 
Eid ist ein bürgerliches Erpressungsmittel und thut der Achtung 
vor Wahrheit im gewöhnlichen Leben nur Abbruch, Der böse 
Hang des Herzens muss gänzlich umgekehrt werden, das süsse 
Gefühl der Rache muss in Duldsamkeit, der Hass gegen die 
Feinde in Wohlthätigkeit übergehen. Die wahre moralische 
Pflichterfüllung ist der schmale Weg im Evangelium, sich schad- 
los balten durch Erfüllung äusserer Kirchenpflichten, um sich an 
der engen Pforte vorbeizudrücken, heisst den breiten Weg gehen. 
Denen, die den Mangel ihrer guten Werke durch Anrufung und 
Hochpreisung des Gesandten des höchsten Gesetzgebers ersetzen 
und sich dadurch nur seine Gunst erschmeicheln wollen, spricht 
der Gottessohn die Erfüllung ihrer hinterlistigen Hoffnung ab. — 


1 


Das Christusbild bei Kant. tit 


Die guten Werke sollen in fröhlicher Gemiitsstimmung, nicht als 
knechtisch abgedrungene Handlungen ausgeübt werden. Alle 
Pflichten werden in einer allgemeinen Regel zusammengefasst, in 
den bekannten zwei Geboten: Liebe Gott und einen jeden 
Menschen als dich selbst, d. h. erstens: „Thue deine Pflicht aus 
keiner anderen Triebfeder als der unmittelbaren Wertschätzung 
derselben,“ zweitens: „Befördere das Wohl deines Nächsten aus 
unmittelbarem, nicht von eigennützigen Triebfedern abgeleitetem 
Wohlwollen!“ Letzteres schliesst jegliche Lohnsucht aus. That- 
kräftig mit den gegebenen guten Anlagen Wucher treiben, nicht 
das Gute von Oben herab ganz passiv mit der Hand im Schosse 
erwarten, das ist der Wille des Stifters unserer Religion, nein, 
nicht unserer Religion, sondern der christlichen Kirche. Denn 
jene war eher da, als diese. Das gute Prinzip als Ideal der 
gottwohlgefälligen Menschheit war längst schon vom ersten Ur- 
spring des Menschengeschlechts an vorhanden, ehe Jesus Christus 
in die Welt kam, und der reine, von allen Satzungen freie Reli- 
gionsglaube ist allen Menschen von jeher ins Herz geschrieben; 
wird er an die Vernunft unbelehrter, aber auch unverdorbener 
Menschen gebracht, so ist er für diese von selbst einleuchtend, 
fasslich und überzeugend. — So hat Christus den Anlass gegeben, 
die reine Vernunftreligion in der ersten wahren Kirche historisch 
darzustellen. Die darin zum Ausdruck gekommene christliche 
Glaubenslehre nennt Kant die gelehrte Religion, jene die natür- 
liche. Letztere bedarf weder einer äusseren Beglaubigung durch 
Wunder, noch kann sie jemals durch eine historische Urkunde er- 
setzt werden, da sie unauslöschlich in jeder Seele aufbehalten ist. 
Die gelehrte Religion dagegen führt zum Wissen, Glauben, Be- 
‚kennen und Nachsagen unbegreiflicher Dinge, die für sich noch 
keinen guten Menschen machen. — Da also das gute Prinzip 
nieht bloss zu einer gewissen Zeit, sondern von dem Ursprung 
“des menschlichen Geschlechtes an unsichtbarer Weise vom Himmel 
in die Menschheit herabkommt, so kann man sagen: „Der Sohn 
Gottes kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht 
auf, denen aber, die ihn aufnahmen, hat er Macht gegeben, 
Gottes Kinder zu heissen, die an seinen Namen glauben, d. i. 
durch das Beispiel desselben (in der moralischen Idee) eröffnet er 
die Pforte der Freiheit für Jedermann, die ebenso wie er allem 
dem absterben wollen, was sie zum Nachteil der Sittlichkeit an 
das Erdenleben gefesselt hält, und sammelt sich unter diesen ein 





112 H. Staeps, 


Volk, das fleissig wäre in guten Werken, zum Figentum und 
unter seine Herrschaft, indessen dass er die, so die moralische 
Knechtschaft vorzieben, der ihren überlässt.” — Der moralische 
Kampf zwischen dem guten und dem bösen Prinzip um die Herr- 
schaft über den Menschen führt zwar nicht zu einer Besiegung 
des bösen Prinzips durch den Helden, in dem sich das gute Pnir- 
zip darstellt, sondern nur zu einer Brechung seiner Macht über 
die menschlichen Gemüter. Diejenigen, die sich nun der Herr 
schaft des guten Prinzips vermöge ihrer Freiheit unterstellen, 
haben wiederum die Pflicht, sich Alle unter einer gemeinsamen 
Fahne zu sammeln, um ein ethisches Reich nach Tugendgesetzen, 
eine Gemeinschaft Aller, die das Gute lieben, ein Reich Gottes 
zu errichten und auszubreiten. Denn nicht anders als durch die 
Gesamtbeit ist die Herrschaft des guten Prinzips über das Böse 
erreichbar. — 

Nach dieser voraufgegangenen Darstellung des Christusbildes 
bei Kant ist ersichtlich: Kant hält sich keineswegs an das histo- 
rische Charakterbild Jesu von Nazareth. Das Historische ist das 
Zufällige, Nebensächliche, die äussere Schale, die mystische Hülle, 
die das Wesentliche, das Notwendige, das Allgemeine enthält. 
Alles Historische ist moralisch gedeutet und ausgelegt, biblische 
Erzäblungen werden ausschliesslich moralphilosophisch gedeutet. 
Setzen wir an die Stelle des biblischen Christus einfach das 
Ideal moralischer Vollkommenheit in unserer Vernunft, so haben 
wir den Kantischen Christus. Der christliche Glaube ist nicht 
ein Glaube an den sichtbar erschienenen Gottessohn, sondern: das 
sittliche Urbild in unserer Gesinnung als eine umschaffende 
Lebensmacht aufzunebmen, ist religiöser Glaube. — 

Ein kritischer Blick auf die Kantische Christuslehre dürfte 
zu dem Ergebnis führen, dass die ausschliessliche Deduktion des 
Idealbildes aus Vernunft und Gewissen zwar nicht gerechtfertigt 
erscheint, dass aber dennoch in dem Hinweis auf das in unserer 
praktischen Vernunft ruhende Idealbild einer sittlich-religiösen 
Persönlichkeit eine Wahrheit von bleibendem Wert liegt. Eine 
kurze Beurteilung des Kantischen Christusbildes möge vorliegenden 
Aufsatz beschliessen. — 

Man hat Kant den Philosopben des Protestantismus genannt, 
und zwar nicht nur von theologischer Seite, sondern auch wieder- 
holt philosophischerseits. Versteht man unter Protestantismus die 
Gesamtbezeichnung aller aus der Reformation hervorgegangenen 


Das Christusbild bei Kant. 113 


kirchlichen Richtungen, so diirfte Kant sich nirgends in den Pro- 
testantismus einreihen. Bedeutet aber dieser Ausdruck die religiöse 
Selbständigkeit, die Selbstgewissheit des Geistes, befreit von jeder 
äusseren Autorität und nur gegründet auf die selbst erkannte, 
erforschte, errungene und erlebte religiöse Glaubensüberzeugung, 
so ist Kant durchaus ein protestantischer Philosoph, der den Pro- 
testantismus auf eine philosophische Grundlage gestellt hat in der 
Autonomie der sittlichen Persönlichkeit. Gerade in der Verselb- 
ständigung der Person, in dem Bewusstsein des Wertes und der 
Autonomie des Einzelnen sieht man philosophischerseits (vergl. 
Bauch, „Luther und Kant“) das Bedeutsame und den Kern von 
Luthers Reformation. „Die Lossagung von der Unfehlbarkeit der 
Kirche, die Erklärung des eigenen Gewissens zur letzten Instanz 
in sittlichen Dingen, das ist Luthers That, das ist die Magna 
Charta der Freiheit, die auf dem Tage zu Worms erkämpft 
worden ist.“ (Paulsen, „Kant, der Philosoph des Protestantismus“.) 
„Die Selbständigkeit der Persönlichkeit gründet sich darauf, dass 
sie den Entscheid darüber, was dieser höheren Instanz des gött- 
lichen Willens gemäss sei, sich nicht durch äussere autoritative 
Bestimmungen geben lässt, sondern in ihrem eigenen Innern durch 
den Ausspruch des Gewissens empfängt.“ „In Kant ist Luthers 
sittlich-religiöses Fühlen auf den Standpunkt der Vernunft ge- 
langt.“ (Bauch, „Luther und Kant*.) Nun ist freilich diese pro- 
testantische Selbständigkeit keine so hoch gespannte, keine so 
„unerhörte Verstiegenheit“, kein „Aufruf zur Selbstanbetung“, 
keine Revolution gegen göttliche Gebote, wie die Gegner Kants 
ihm unterstellen (vergl. Otto Willmann, „Geschichte des Idealis- 
mus“, III. Band, „Der Idealismus der Neuzeit“), indessen dürfte 
Kant sowohl als Rationalist wie als Protestant doch die objektiven 
Mächte in Geschichte und menschlicher Gesellschaft unterschätzt 
haben. Das zeigt sich auch in seinem Christusbild. Kant will 
nicht in irgend einer historischen Erscheinung das Urbild gott- 
wohlgefälliger Vollkommenbeit verwirklicht finden. Wenn er den- 
noch den Stifter des Christentums als eine Darstellung des guten 
Prinzips auffasst, so soll hiermit nur die Idee veranschaulicht, 
aber nicht historisch gedeutet werden. Hier muss das Kantische 
Denken in seiner Originalität bestehen bleiben, nämlich: Die ge- 
schichtliche Religion hat zu ihrem Ausleger nur den moralischen 
Vernunftglauben. Ob dem Urbild ein Beispiel in der äusseren 
Erscheinung adäquat ist, lässt sich nicht entscheiden, ist auch 
Kantstudien XII. 8 


Christus ausser uns. Mehr als Kant wissen will, hat der letztere 
ihm die Farben zu ersterem gegeben. Im Verein mit den lebens 
vollen Bildern der Geschichte geben wir dem Ideal sowohl Kolorit 
wie Umrisse. Indem das Urbild in uns sich wieder erkennt in 
dem historischen Jesus, indem sein geschichtliches Bild wiederum 
das Urbild in uns weckt, es gleichsam anhauchend ins Leben ruft, 
ist erst der historische Christus überhaupt in dem Strom des ge- 
schichtlichen Lebens aufgetaucht. Beide, Urbild und Historie, 
können aber nicht rein von einander getrennt werden. Dass der 
historische Christus gerade dem Urbild in uns adäquat sei, hat 
Kant nicht zu entscheiden gewagt, ja auch garnicht entscheiden 
können. Die Entscheidung über i 





Das Christusbild bei Kant. 116 


eine Feder mit dem befiederten Teil nach unten gekehrt fallen 
lassen, aber sie wird sich stets umdrehen; der natiirliche Schwer- 
punkt zieht den ungefiederten Teil zur Erde hinab.) Nur eine in 
die Gesinnung aufgenommene Idee hat noch nie einen neuen 
Menschen gemacht, Dass der Herzenskiindiger die Gesinnung für 
die That nimmt, ändert daran garnichts, Um Menschen wirklich 
umzuändern — denn die Umänderung soll ja nicht bloss Idee, 
sondern historisch wirkliche Gestaltung nach der Idee sein —, 
bedarf es der wechselseitigen Einwirkung lebendiger, geschicht- 
licher Persönlichkeiten. Die realen Mächte der Gesellschaft, der 
Umgebung, des Milieu müssen ihren Einfluss auf das Individuum 
geltend machen. Die objektiven Mächte in Staat, Kirche, Gesell- 
schaft, Familie wirken umgestaltend, neubelebend auf die Einzel- 
persönlichkeit. Erst in diesen geschichtlichen Mächten, durch 
diese und trotz diesen macht sich die Selbständigkeit des Subjekts 
geltend. Das Kant-Schillersche „Du kannst, denn Du sollst“ be- 
steht zwar zu Recht, aber man darf nicht übersehen, dass das Sitten- 
‚gesetz nur innerhalb einer Gesellschaft wirksam sein kann. In dieser 
wird das Sollen verlangt, in dieser und durch diese ist zugleich 
das Können gegeben. — Ist nun Kant in der sog. Autonomie der 
reinen Vernunft zu weit gegangen, indem er die historischen 
Einflüsse verkannt und das subjektive Moment überspannt hat, so 
liegt doch in dieser Einseitigkeit der wertvolle Kern auch seiner 
Christusidee, nämlich die moralphilosophische und religiöse Be- 
gründung dieser Idee in unserer Seele (oder, wie Kant will, in 
der reinen, moralisch-gesetzgebenden Vernunft). Kant hat damit 
die Fundamente unserer sittlich religiösen Persönlichkeit aufge- 
graben. Dass diese letztere ausschliesslich moralisch gefasst ist, 
liegt an Kants einseitig moralischer Beurteilung überhaupt, dass 
sie aber auch zugleich religiös vertieft wird, weist den Weg, jene 
Fundamente noch weiter aufzudecken. Liegt nun einmal das 
Urbild einer gottwohlgefälligen Menschheit in unserer Bestimmung, 
so ist nicht einzusehen, warum nicht dieser Keim irgendwo und 
-wann einmal zur vollen Blüte gelangt sein sollte. Gar, um 
Früchte der Wiedergeburt in neuen Menschen zu bringen, bedarf 
es unbedingt der historischen Verwirklichung jener Idee als Bei- 
spiel und Wirksamkeit für alle andern. Aber, selbst wenn wir 
den historischen Jesus als das verwirklichte Menschheitsideal be- 
jahen, so wäre dieser Glaube doch nur ein historischer; jenes Ur- 
bild, wo immer es in Geschichte und Einzelerfahrung auf uns 
8+ 





116 H. Staeps, Das Christusbild bei Kant. 


wirkt, aufzunehmen in unsere Gesinnung, in unsere Grundsätze 
und in unser Handeln, erst das wäre Herzens- und Charakter- 
änderung, Wiedergeburt, Herrschaft des guten Prinzips, praktischer 
Vernunftglaube. Will man der abstrakten Idee des Kantischen 
Christus einigen Inhalt geben, so ist, in der Sprache des 
Cbristentams geredet, das Christusbild bei Kant der Christus 


in uns. — 


Kant’s Critique of Judgment. 


By W. B. Waterman, Boston (Mass.) 





My object, for the most part, is to investigate the relation of the 
Introduction of the Critique of Judgment to the two critiques of that 
book, and to set forth the outcome of the Critique of Aesthetical Judg- 
ment. I find that leading historians of philosophy have left much to be 
done here, and various errors to be swept away. 

I shall show that the first critique depends on a peculiar principle 
of Judgment that plays no part in the second, and that therefore the 
second critique is much less influenced than the first by the Judgment. 
Next, it will become clear that the second critique has nothing to do 
with feelings of pleasure and pain. I shall then set forth the extreme 
importance of the Critique of Aesthetical Judgment in relation to the 
earlier critiques. We shall see that in it, and not in the Critique of 
Teleological Judgment, Kant solves the problem of the Judgment, the 
transition from Understanding to Reason. 

Sometimes I shall make use of Kant’s essay Ueber Philosophie 
überhaupt, which was meant-in its original form-to be the introduction 
to the Critique of Judgment, but was discarded as too lengthy. It ought 
to be published with editions of the Critique of Judgment, for it throws 
a great deal of light on the relation of the parts of the Critique. I hope 
that the question of printing the original essay in its entirety in the new 
edition of Kant will be considered.) ?) 

Reflective Judgment — I disregard determinant Judgment — sub- 
sumes the particular under a universal supplied by itself. It is therefore 
not constitutive. The peculiar principle of this Judgment is: ,Nature 
particularizes its general laws to empirical ones according to the form of 
a logical principle on behalf of the Judgment“ (Kant’s Works, VI. 385 
(H. 68). Only because of this principle does Judgment belong to the 
system of the pure faculties of knowledge through concepts (VI. 400). 
The perception of nature in conformity with this principle is a source of 
pleasure (§ VI, Introduction). 


1) For the whereabouts of the Ms., see the Archiv f. d. Gesch. der 
Phil. IL 59. 

9) The remarks on taste in the Anthropology (VII. 688—664 (11-68) 
do not concern us, 


118 W. B. Waterman, 


This a priori law of specification gives rise to the concept of the 
purposiveness of nature for our cognitive faculty, to explain the 
harmony of nature with our faculty. „We thus ascribe to nature as it 
were a regard to our cognitive faculty according to the analogy of pur 
pose“ (VI. 886). This purposiveness is a concept of Judgment, peculiar to 
it, and not of Reason, for it sets the purpose in the subject, and not in 
the object. This transscendental law of purposiveness is, like the law of 
specification, a subjective principle. 

Now the law of specification is merely for the logical use of the 
Judgment, and it is left undecided in what particular case it applies 
(§ VIII, Introduction). [Translations of the Critique of Judgment are 
from Bernard. References are to him and Hartenstein] The aesthetic 
Judgment decides the concrete case of application by taste. For 
the Critique of Aesthetical Judgment „alone contains a principle which 
the Judgment places quite a priori at the basis of its reflection upon 
nature, viz. the principle of a formal purposiveness of nature, according 
to its particular (empirical) laws, for our cognitive faculty, without which 
the Understanding could not find itself in nature* (§ VIII, Introduction). 
Notice that this principle is that peculiar to Judgment. — It is only in 
‘Taste — and in relation to nature — that it shows itself, and not in 
teleological Judgment. 

The aesthetical jadgment — not of sense, but reflective — alone 
depends wholhy upon the Judgment. It only exhibits Judgment as belon- 
ging to the system of pure faculties of knowledge. 

But teleological Judgment — the other kind of reflective Judgment 
— is no special faculty, and its application comes under the heading of 
theoretical philosophy. It is ,only the reflective Judgment in general, so 
far as it proceeds, as it always does in theoretical cognition, according to 
concepts“. This judgment can only be made by combining Reason with 
empirical concepts. There is no need, therefore, of a particular principle 
of Judgment to base it on, for this possibility follows from Reason. The 
purpose of nature in this a priori judgment we learn from experience 
(VI. 397). 

This Judgment ,presupposes a concept of the ohject* — while 
aesthetical Judgment precedes the concept of the ohject—* which Reason 
brings under the principle of purposive connection, only that this concept 
of a natural purpose is used by the Judgment merely in reflective, not 
in determinant, jadgment“ (VI. 401). 

It is clear then, that the Critique of Teleological Judgment is not 
concerned with a principle peculiar to Judgment. The first critique, 
according to Kant, exhausted the subject of the a priori law of specifi- 
cation. In fact, this second critique at the most does no more than judge 
subjectively of a purpose of nature, with the help of Reason and ex- 
perience.) 








1) The Introduction should be regarded as an introduction to the 
Critique of aesthetical Judgment. It has extremely little to do with the 
second critique, 


Kant’s Critique of Judgment. 119 


Secondly, the aesthetic Judgment is alone concerned with pleasure 
and pain. For Kant says that the representation of objective purposiveness 
— the subject of the Critique of Teleological Judgment — „has nothing 
to do with a feeling of pleasure in things, but only with the Understanding 
in its judgment upon them“ ($ VIII. Introduction). Again he states-jnst 
beyond-that subjective purposiveness is judged by pleasure and pain, ob+ 
jective by Understanding and Reason. Moreover, nothing is said in the 
Critique of Teleological Judgment about pleasure and pain. Therefore 
the statement that Kant holds that purposiveness is always a source of 
pleasure is wholly false. Windelband makes this error!) We also plainly 
see how misleading he is in entitling his account of the Critique of Judg- 
ment ,Kant's aesthetical philosophy“, in spite of his subsequent ex- 
planations.?) 

From reading the Introduction of the Critique of Judgment you 
might suppose that, as the Critique is concerned so deeply with a priori 
feelings of pleasure and pain, both of these critiques would have to do 
with these feelings. We now see that it is not so, and thus discern a 
second great difference between these critiques. 

The Critique of Judgment aims, according to the Introduction, to 
connect the concepts of nature and freedom, and to inquire if there are 
a priori principles of pleasure and pain. Now I say that you would 
expect that these problems would be solved, if anywhere, in the Critique 
of Aesthetical Judgment, for it alone has to do with the principle peculiar 
to Judgment, and with the feelings of pleasure and pain. Kant tells us, 
in the preface, that it is the most important part of the Critique of 
Judgment. 

This first critique is concerned with subjective purposiveness, i. ¢., 
purposiveness for the subject, The judgment is here constitutive, and 
not merely regulative ($ IX. Introduction). It is autonomous ($ IX. Intro- 
duction and § 58), and although subjective is subjectively universal. 

I now set forth Kant’s solution of the antinomy of taste. The anti- 
nomy of taste, that its judgment does and does not depend upon a con- 
cept, is solved by the consideration that such a concept is an indeter- 
minate one. ,Such a concept is the mere pure rational concept of the 
supersensible which underlies the Object (and also the subject judging 
it) regarded as an object of sense and thus as phenomenal.“ This indeter- 
minate concept is that of the supersensible substrate of phenomena. „All 
contradiction disappears if I say: the judgment of taste is based on a 
concept (viz. the concept of the general ground [Grandes überhaupt] of 
the subjective purposiveness of nature for the Judgment); from which, 
however, nothing can be known and proved in respect of the Object, 
because it is in itself undeterminable and useless for knowledge. Yet at 
the same time and on that very account the judgment has validity, for 
every one ... because its determining ground lies perhaps in the concept 


1) Gesch. d. neueren Phil, II, 149 — not in his later History 
(ist Ed). 
* Gesch. d. neueren Phil IL 146 and 160, 





120 W. B, Waterman, 


of that which may be regarded as the supersensible substrate pf huma- 
nity“) (§ 57). 

As in the Critique of Pure and that of Practical Reason antinomy 
forces us to regard objects of sense as phenomena, with a supersensible 
substrate,?) and to seek in the supersensible the point of union of all our 
a priori faculties, by which recourse, however, no proper knowledge is 
attained to. 

Three Ideas manifest themselves as the result of Kant's deduction. 
„First, there is the Idea of the supersensible in general, without any 
further determination of it, as the substrate of nature. Secondly, there 
is the Idea of the same as the principle of the subjective purposiveness 
of nature for our cognitive faculty. And, thirdly, there is the Idea of 
the same as the principle of the purposes of freedom, and of the agree- 
ment of freedom, with its purposes in the moral sphere.“3) 

Kant’s last statement is that ,both on account of this inner possi- 
bility in the subject „[of giving the law to itself in judging the beautiful]* 
and of the external possibility of a nature that agrees with it, it finds 
itself to be referred to something within the subject as well as without 
him, something which is neither nature nor freedom, but which yet is 
connected with the supersensible ground of the latter‘) In this super- 
sensible faculty, therefore, the theoretical faculty is bound together in 
unity with the practical, in a way which though common is yet unknown.#) 

It may be added that taste „looks out to“ the intelligible, inasmuch 
as it only claims universal assent for the beautiful when the latter is 
regarded as symbol of the morally good (§ 59). 

Kant’s thought in the preceding quotations and statements is this. 
The judgment of the beautiful is only explicable through the theoretically 
undeterminable concept of the supersensible. Therefore there is a super- 
sensible substrate of subject and object regarded as phenomena. The 
three parallel critiques of Pure Reason, Practical Reason, and Aesthetical 
Judgment are all forced by antinomy to regard the world as phenomenal, 

Now for the next step. Kant states that thereis the Idea of the 
supersensible as principle of purposivenesss) This determination — which 
is not theoretical or practical knowledge, and yet a means of transition 
between them (§ II, Introductio: distinct advance on the concept 
of the substrate of nature. There is the Idea of the supersensible as the 


supersensible substrate 
r faculty of thought“ 


of taste requires 
this step. 





Kant’s Critique of Judgment. 121 


ground of the subjective purposiveness of nature for the Judgment. There 
is no mere ,purposiveness without purpose“ in this statement. It is a 
very remarkable assertion for Kant to make, and a foundation principle 
of his pbilosophy. 

Furthermore, ,the inner purposiveness in the relation of our mental 
faculties in judging certain“ of the products of nature is also to be ex- 
plained on supersensible grounds (§§ 58, 59).") We thus see what an im- 
portant part in Kant’s system the beautiful plays. 

The transcendental concept of a purposiveness of nature in the 
specifying of general laws is the concept from which is derived the con- 
cept of the purposiveness of nature in the case of the beautiful. Now this 
general concept of purposiveness in specification is a subjective maxim 
(§ V, Introduction), but it is important to notice that purposiveness in 
relation to the beautiful is explained here on supersensible grounds. If 
you are looking for teleology in Kant, this is the one place to consider. 

Kant advances from the mere rational concept of the supersensible 
implied in the Critique of Pure Reason. It should be firmly grasped that 
the Judgment accomplishes its task of furnishing a passage from Under- 
standing to Reason by effecting the transition from the sen- 
suous substrate of nature to the intelligible substrate of 
freedom.*) The Understanding implies (anzeigen) that there is a super- 
sensible substrate to object and subject. „The Judgment by its a priori 
principle for the judging of nature according to its possible particular 
laws, makes the’) supersensible substrate (both in us and without us) 
determinable by means of the intellectual faculty. But the 
Reason by its practical a priori law determines it.“ 

First, concerning the supersensible in us. Judgment makes the 
undetermined concept of it as substrate of nature determinable, and as 
follows. Kant in the quotation above holds that to explain the judgment 
of taste one is referred to ,something within the subject as well as 
without him, something which is neither nature nor freedom, but which 
yet is connected with the ground of the latter, viz. the supersensible.t) 
In this supersensible ground, therefore, the theoretical faculty, is bound 
together in unity with the practical, in a way which though common is 
yet unknown,“ 

The great aim of the Critique of Judgment is thus reached,5) for 
freedom is shown to be capable of actualization, since the laws of nature 
and freedom depend on the same supersensible substrate. That super- 
sensible which Understanding implies turns out to be identical with that 
implied in freedom. 

Secondly, I consider the supersensible substrate ,without us“. Kant 
affirms that the Judgment also makes that determinable by means of the 


!) See also the end of Remark I, § 57. 

%) VI. 408, And § IX, Introduction. 

5) „its“ is better — ihrem in the original. 

4) Not Bernard’s translation. 

5) See towards the end of 8 IX, Introduction. 


ew | W. B. Waterman, 


mtellectual faculty. Here is the bridge between the thing in itself and 
the intelligible. not merely for the thing in itself „within us“ but „without 
w*. A flood of light is thus thrown on Kant’s doctrine of the thing 
m itself. 

Kant refers, as I understand him, to the substrate without us, when 
be declares, in the previonsly cited passage that „both ou account of this 
tamer possibility and of the external possibility of a nature that agrees 
with it, it finds itself to be referred to something within the subject as 
well as without him, something which is neither nature nor freedom, 
bus which yet is connected with the ground of the latter, viz. the super- 
seusitles..) In a note to § IX, Introduction, he says directly „that intelli- 
gite . .. which Constitutes the supersensible substrate of nature“. 

The advance from the concept of Understanding is made by means 
ef the concept of purposivenes. Kant is in earnest with this concept 
ia is founded on no mere regulative principle. We are referred to a 
wpersensible which is the ground of the purposiveness of that which we 
juige as beautiful, and of the relation of our cognitive faculties in this 
judgment. 

These two purposes — do they depend ou the supersensible within 
wt without us? Taken strictly the passage just quoted seems to state 
that they both depend ,on something within the subject as well as 
without him.“ 

But in § 57 Kant says that from the concept of the general ground 
wf the suljective purposiveness of nature for the Judgment „nothing can 
be known and proved in respect of the Otject.* This passage shows that 
the concept of the supersensible mentioned refers to the substrate of the 
Object. 

Kant then reaches the Idea of a supersensible ,without us“ that is 
the ground of purposiveness. It is highly interesting that directly after 
he declares that the determining ground of the judgment of taste „lies 
perhaps in the concept of that which may be regarded as the super- 
sensible substrate of humanity“. Kant here identifies the concept of the 
general ground of the subjective purposiveness of nature for the Judgment 
with that of the supersensible substrate of humanity. What have we 
here but a unity of the world?" 5 

The relauon of the Critique of aesthetical Judgment and of Teleo- 
logical Judgment has already been considered. In the latter work Kant 
starts from the organic. Organisms are regarded a priori as purposed. 
From this position Kant is led to the statement that nature as a whole 
is purposed (§ 67, § 75 et seq.\. The explanation of the organic brings 
one to the supersensible (§ 67), and the unity of the supersensible to 
regarding the whole of nature as a system. This is a result identical 
with the presupposition which the principle pecaliar to reflective Judg- 


21 italics are mine. Not Bernard's translation at the end. 

® Cf. the deduction of the categuries in the Critique of Pure Reason. 

A I have rot cared to point out my lack of agreement with this 
writer and that in interpreting Kant. The book by Basch I have not seen. 


Kant’s Critique of Judgment. 123 


ment makes, and which lies at the basis of the Critique of Aesthetical 
Judgment. 

Kant rids himself of the antinomy between mechanism and teleo- 
logy by throwing over board the latter. We have the Idea ofan intuitive 
understanding which would not act from purpose. This result offers no 
help to the solution of the problem how freedom is actualized in nature. 

We have seen that the Critique of Aesthetical Judgment is founded 
on a principle, the law of specification, peculiar to reflective Judgment, 
and thus differs fundamentally from the Critique of Teleological Judgment. 
We have also seen that the aesthetical Judgment is alone concerned with 
pleasure and pain. In this first critique Kant is brought to the Idea of 
the supersensible as a ground of the purposiveness of nature fo the Judg- 
ment, and as a ground of the relation of the mental powers in the judg- 
ment of taste. As a result he is enabled to make the undetermined con- 
cept of the supersensible substrate of nature implied by Understanding 
determinable by means of the intellectual faculty. He thus effects the 
transition from the sensuous substrate of nature to the intelli- 
gible substrate of freedom. This is true of the substrate „both in us 
and without us“. 

Kant here — and here alone — brings the powers of the mind to 
a point of unity, into a system, and asserts a reconciliation of the dualism 
of the two earlier critiques in the union of theoretical and practical reason. 

Of the two aspects of the supersensible as ground of purposiveness 
which have been mentioned, Kant discusses more that in relation to 
the purposiveness of nature for the Judgment. By it the substrate 
„without us“ becomes determinables, but this Idea does not grant 
knowledge, yet affords transition to the realm of practical reason. Kant 
even identifies this Idea with that of the substrate of humanity. 

In the Critique of Aesthetical Judgment, and not in that of Teleo- 
logical Judgment, the transition from the concept of nature to that of 
freedom is effected. 


Recensionen. 


Rava, Adolfo, Professore di filosofia del diritto all’ Universita di 
Camerino. I cémpiti della filosofia di fronte al diritto. Roma, 
Ermanno Loescher e Co., 1907. (30 p.) 

Die kleine Schrift kann einen Deutschen stolz und beschämt zu- 
gleich machen. Stolz: denn sie ist ein schönes Dokument dafür, wie die 
Gedanken unseres Kant und der ihm folgenden Klassiker des deutschen 
Idealismus, insbesondere Fichtes, im Ausland eine Macht geworden sind; 
beschämt: denn es ist doch ein eigentümliches Gefühl, zu erfahren, dass an 
dem Universitätchen zu Camerino ein Rechtsphilosoph wirkt, der in einer 
Schrift über „die Aufgaben der Philosophie gegenüber dem Rechte“ Ein- 
sichten zu entwickeln weiss, die „ihre Wurzeln im Kantischen Kritizismus 
haben“ (29), die aber in Deutschland nur ganz wenigen Vertretern dieser 
Disziplin geläufig sind. (Auffallend ist übrigens, dass der Verfasser, der 
eine Reihe moderner deutscher Arbeiten zitiert, den Namen Stammlers 
nicht nennt.) 

Rava entwickelt zunächst die beiden Grundprobleme der Rechte- 
philosophie die Frage nach dem Begriff des Rechts (dem Prinzip, nach 
em wir bestimmten Thatsachen den Charakter juristischer Thatsachen 
zusprechen) und die nach der Idee des richtigen Rechts (dem Prinzip, nach 
dem wir ein faktisches Recht als gerecht beurteilen). Dabei zeigt sich, 
dass die Idee dessen, was das Recht sein soll, also die Idee des richtigen 
Rechts, bereits Voraussetzung dafür ist, überhaupt irgend ein Phänomen 
als juristisches Phänomen zu erkennen (11). Die Idee des Rechts gilt 
a priori (12); sie ist regulatives Prinzip oder Norm, jedoch keine meta- 
physische Wesenheit, „non un qualche cosa che é, ma solo un qualche cosa 
che vige“, wie Lotzes bekannte Unterscheidung von Sein und Gelten über- 
setzt wird (13). Also „das was das Recht sein soll, ist der Erkenntnis- 
grund für das, was das Recht ist. Der Begriff des Rechts ist abgeleitet 
aus der Rechtsidee“ (14). So enthält auch schon der blosse Begriff des 
Rechts ein normatives, „deontologisches“ Moment, und darum muss auch 
seine Feststellung der Rechtsphilosophie anheim gegeben werden, die ihre 
essentielle Aufgabe in der Spekulation darüber findet, was das Recht sein 
soll; in ein Wort zusammengedrängt: die Aufgabe der Rechtsphilosophie 
ist die Bestimmung des juristischen Allgemeinen (15). — Doch wie verhält 
sich dieses ,universale giuridico“ zu den einzelnen historisch realisierten 
Rechtssystemen? Die Antwort hält sich unter Ablehnung der Hegelschen 
Metaphysik in den Schranken des Kantischen Kritizismus (17 f.): das Uni- 
vırsale, Vernünftige ist rein formal, der jeweilige Inhalt ist empirisch- 
zufällig. Doch ist das Empirische von verschieden weitem Umfang; völlig 
allgemein ist die empirische Thatsache, dass das Recht eine Beziehung 
zwischen Menschen ist. Indem darum die Idee des Rechts auf die mensch- 
liche Natur angewendet wird, ergeben sich allgemeine Bestimmungen für 
jedes menschliche Rechtssystem; z. B. haben hier die juristischen Begriffe 
des Eigentums, der Schuldverhältnisse, der Familie, der Strafe ihren Ur- 
sprung. Rava fasst diese zwar nicht apriorischen sondern thatsächlichen, 


Recensionen (Vorländer). 125 
‚Natur- 


der 


ihre hicht- 

Al stellt dem Philosophen das neue grosse Problem des Sinnes 
der juristischen und politischen Entwickelung der Menschheit (23) 

Dies die leitenden Gedanken der Programmschrift, die bei ihren 
Lesern die zuversichtliche Hoffnung erwecken muss, dass das ausgeführte 
der Rechtsphilosophie, dessen baldiges Erscheinen sie in Aussicht 
it, ein recht tüchtiges Buch sein wird. 

Halle a. S. Fritz Medicus. 


‚Vorländer, Karl. Immanuel Kants Grundlegung zur Meta- 

hysik der Sitten. Dritte Auf . Mit einer Einleitung sowie einem 

und Sachregister, Leipzig. Verlag der n Buchhand- 
Philosophische Bibliothek Bd. 41. 

_ Wie in allen Ausgaben des hervorragenden Kant-Forschers, en 

wir auch hier dem kritisch durchgearbeiteten Texte dieser klarsten 

ıen Schrift Kants zwischen einer ausführlichen, 30 Seiten umfassen- 

und einem trefflichen Personen- und Sachregister. Die 

t in drei Abschnitte: I. Entstehun 'hichte und erste 

der Schrift. IL Zum Inhalt der Schrift. . Textphilologisches. 

klarer Entschiedenheit vertritt Vorländer — so darf man hier 

wohl anstatt des mehr farblosen Wortes „schildert“ sagen — im zweiten 

der Einleitung den Standpunkt des Philosophen. Damit ver- 

tauscht er vielfach — und zwar unzweifelhaft zum Vorteile seiner „Ein- 

leitung“ — die Zurückhaltung des Herausgebers mit der Wärme des be- 


en Interpreten. Ausdrücklich erwähnen möchte ich in diesem 
die energische a apd welche jede psycholo- 


4 Deutung der Kantischen Ethik du Vorländer erfährt, die 

des Grundsatzes also, „dass das Sittengesetz nicht bloss 

'enschen sondern für alle vernünftigen Wesen überhaupt gelte“, 

dass das setz das Naturgesetz vernünftiger Wesen überhaupt 
ringe. 


zum Ausdruck 
À Die Bedeutung der vorkritischen Periode für die End 
der on ae Ethik halt Vorländer — vielleicht nicht ganz zutreffen 
ge erzu mein Referat in Heft2 des vorigen Bandes der „Kantstudien“ 
eg ee zu re RER nn Por ee aan 
_ gering. jeichwohl enthält, seine Ausgabe ein durchaus 
zureichendes Verzeichnis der neueren Litteratur über den Entwickelungs- 
gang der Ethik Kants. Das interessante Verhältnis der „Grundlegung“ 
zur der praktischen Vernunft“ behandelt der Herausgeber in seiner 
Ben . Doch steht eine Erörterung dieses Verhältnisses in 
seiner erscheinenden Ausgabe der systematischen Hauptschrift 
Kants auf ethischem Gebiete in Aussicht. 
=. Dem Texte der Vorländerschen Ausgabe ist der der zweiten Origi- 
nalausgabe zugrunde get. Doch wurde stellenweise auch der Text der 
ersten Originalausgal ibehalten, Spätere Vorsel zu Textver- 
sind vom Herausgeber, der natürlich auch die Akademieaus- 
konnte, durchaus berücksichtigt, wenn auch nicht überall 


worden, 
R. Hönigswald. 


Vorländer, Karl, Immanuel Kants Kritik der peak lanhen 
Vernunft, Fünfte Auflage. Mit Einlei ; sowie einem Personen- und 














Recensionen (Vorländer). 


Sati Lelpsie. Verlag der Dürrschen Buchhandlung 1906. Philo- 
Ve re „Kr. d. pr. V.*, die ich in Anzeige 
der zur Metaphysik der Re a | 
ist eile en. Sie bietet dem Kenner der bisher 
on. Kant-Auagaben Vorlandanı “as mama RAR ber 
ihren Vorgän, en, die rfnisse 
al = oe Für, den Text und di x rd 
ante Vorländer die Korrekturbogen der von Natorp 
Akndemie-Ausgabe des Werkes benutzen. 
ler Spitze der Ausgabe. steht eine 47 Seiten umfassende Bir 
Yeitungn an ihrem Ende, wie in allen Kant-Ausgaben Ve aaa 
Hen un Sachregister von trefflicher ichtlichkeit und 
Der erste Teil der Einleitung umfasst die „Entstehi 
Wirkung der Schrift“. Von den Motiven Kants zur 
‚es lebt Vorländer hier mit Recht neben den systematischen 
mischen Rücksichten hervor und schliesst hieran eine Ir 
' derjenigen gegnerischen Recensionen, die Kant in seiner 
© vor allen Dingen berücksichtigt hat. — Der Passus der 
ber die erste Wirkung der Schrift ist ein interessanter Beitrag 
tr» und Wissenschaftsgeschichte der Zeit. Eine Reihe von 
[A jorurn Kants zieht, durch Briefauszüge wohl charakterisiert, an uns 
oralen, Von Interesse wäre hier vielleicht auch eine übersicht Ze 
onstellung der direkt ablehnenden Urteile über das ethische 
LAN rk Kants gewesen. 
» „weite Teil der Einleitung ist dem ,Gedank: der Schrift‘ 
widmet In grossen Zügen, aber in klarer Weise, wird bier unter steter 
ung auf den Text der Inhalt der „Kr. d. pr. V.“ geschildert. Von 
yehenden kritischen Erörterungen ist dem ausschliesslichen 
x Winleitung, das Studium der Kantschen Gedanken selbst zu fördern, 
qrochend, naturgemäss abgesehen worden. Dennoch wäre vielleicht 
we wohlmotivierte Abweisung der immer noch nicht verstummenden 
awürfe gegen Kants „ethischen Rigorismus“ an dieser Stelle nicht un- 
outed LA ator — Die tere Wirkung Kants erörtert ein kurzer 
un am lusse des zweiten Teiles der Einleitung. An diesen schliesst 
sodann die in der Einleitung zur „Grundlegung“ absichtlich ver- 
one kurze Darlegung über das Verhältnis der „Grundlegung“ und der 
», d, pr, V.*, beziehungsweise der 1797 erschienenen en = 
ten, „Die Grundlegung giebt eine umfassende Ein! g, die 
x d pr. V.* den systematischen Kern, die Metaphysik der Sitten die 
\ wondung (in Tugend- und Rechtslehre).* (XLII) — Wie Natorp in 
einer Rinleitung zur Akademie-Ausgabe, so betont auch Vorländer die 
wihodischen Differenzen zwischen ,Grundlegung“ und „Kr. d. pr. V.“: 
ie orstere im wesentlichen analytisch, die letztere synthetisch. Recht 
verweist Vorländer darauf, dass in der „Kr. d. pr. V.“ die eigentlich syste- 
matisohen Begriffe der Kantischen Ethik vor den „mehr einführenden und 
pupularen" der Grundlegung hervortreten, ein Verhalten, welches an der 
and des gerade in solchen Punkten sich besonders bewährenden Sach- 
pogisters leichtzu kontrollieren ist. 

Der dritte Teil der Einleitung betrifft „Textphilologisches“ und 
bringt aunächst eine Übersicht über die bisherigen Ausgaben des Werkes, 
sodann Beiträge zur Geschichte seines Textes und dessen Kritik, um mit 
ginem Vorseichnis der in der vorliegenden Ausgabe vorgenommenen, 
heaw. vorgoschlagenen Textänderungen abzuschliessen. Diese selbst dienen 
durchaus sachlichen Zwecken, — Am Rande der Seiten sind die Seiten- 
wahlon der Akademie-Ausgabon in zweckmässiger Weise kenntlich 
maoht, — Die Ausstattung des Bandes ist, wie alle Erscheinungen 
Dürrschon Verlages, mustergiltig. 

Breslau, R. Honigswald. 


à 








Recensionen (Valentiner—Hofler). 127 


Valentiner, Theodor, Dr. Immanuel Kants Kriti der 
reinen Vernunft. In achter Ai revidiert. Neunte Auflage. Kante 
sämtliche Werke. I.Band. Lei 'erlag der Dürrschen dlung. 
1906. Philosophische Bibliothek Band 37. 

In neunter ee erscheint wieder in der „Philosophischen Biblio- 
thek“ des Dürrschen Verlages Kants Kritik der reinen Vernunft, heraus- 
gegeben von Th. Valentiner. Dem Texte ist auch hier, gleichwie der vor 
5 Jahren erschienenen achten Auflage die zweite Ausgabe der „Kritik der 
reinen Vernunft“ von 1787 zugrunde gelegt, wobei die Abweichungen 
dieses Grundtextes von dem Texte der ersten Ausgabe in Anmerkungen 
und za verzeichnet wurde. — Die Seitenzahlen der Originalausgabe 
sind di Randziffern kenntlich. — Die textkritischen Grundsitze des 
Herausgebers und ihre Handhabung ist einwandsfrei, die Kantphilologische 
Litteratur gründlich und vollständig berücksichtigt. — Ein nicht unerheb- 
licher Vorteil gegenüber den anderen Herau: von Spezialausgaben 
der ,,Kr. d. r. V.“ erwuchs Valentiner aus der Möglichkeit, Erdmanns 
neueste Edition aus der Kant-Ausgabe der Berliner Akademie benutzen 
zu können. Aber auch dieser gegenüber ist Valentiner durchaus selb- 
ständig. Einen Nachteil der Ausgabe bildet, insbesondere im Vergleich zu 
der von K. Vorländer, der Mangel eines das Studium so wesentlich för- 
dernden Personen- und Sachregisters. 

Breslau. R. Hünigswald. 


Hafler, Alois, Dr. Zur gegenwärtigen Naturphilosophie (Ab- 
Jae M zur Didaktik und Philosophie der Naturwissenschaft, Heft 2). 
u 


pes lius Springer 1904 (136 S.) 
ist wohl nützlich, zunächst das Inhaltsverzeichnis der vorliegenden 
Schrift anzuführen: Einleitung. — I. Teil (S. 15—60): Anknüpfun; an 
Wilhelm Ostwalds Vorlesungen und Annalen. A. Naturwissenschaftliches. 
B. Philosophisches. ©. Didaktisches. IL. Teil (S. 61— Weiterfiihrun, 
— Einige Aufgaben einer Philosophie der Physik. — i 
Philosophie der Physik. a) Aus der Psychologie. b) Aus der Theorie der 
Relationen und Komplexionen. c) Aus der poet und Erkenntnistheorie. 
d) Aus der Metaphysik. e) Der physikalische Ausschnitt aus einer philo- 
sophischen Weltanschauung. —- Beilagen. 

Ernste Erwägungen über die Zukunft der Naturphilosophie und 

um das Ansehen der en Philosophie, welche aus jenen 

Erwägungen entstehen müssen, haben H. nach seinen Worten bei der 
erg der St eae Ped an un les an die 
Philosop! mit der nung, der Naturphilosophie mehr entgegen- 
zukommen und in Gemeinschaft mit den Neturforschern am Werke zu 
‚schaffen, damit nicht jetzt deren Bemühungen aus philosophischen Mängeln 
‚erfolglos bleiben, wie einst die Schellingschen durch Verstösse gegen die 
Naturwissenschaft zum Gespötte wurden, 

Bei einer Kritik der Ostwaldschen Naturphilosophie steht die Frage 
4 ob der Begriff „Energie“ ein Grundbegriff sei. Kann slso ohne den 
Kraftbegri ls Grundlage eine neue Physik gestaltet werden? Ostwald 


sucht durch „Erfahrungen“ zu einer en mechanischer Arbeit in die 
. fil 


Faktoren Kraft und Weg zu kommen. rt & n die Ableitung drei 
nee Einsprüche Poskes an und fügt selbst Bei aiken nnd 
hinzu. Dem Leser der von H. herausgegebenen „Studien zur gegen- 
> Philosophie der Mechanik“ sind sie wohlbekannt. Die phäno- 
Grundlage des kategorialen Kraftbegriffs ist die Spannung. 
Untersuchen wir dagegen etwa die Muskelarbeit beim Heben eines 
Gewichts, so finden wir zwei Teilphänomene: Spannung und Bewegung. 
Aus der „psychologischen Zusammengesetztheit* des Phänomens schliesst 
H. auf die logische Zusamme: tztheit des logischen Begriffs der mecha- 
nischen Arbeit. „Im kausalen Sinne“ interessiert uns allerdings am meisten 
„die Arbeit, nämlich die trotz ihrer Zerlegbarkeit in „Faktoren“ einheit- 





2s Reems Böen, 


Woot ande VAS ele we meemauôs exberhchea, weil in Aequi- 
cacti Sole) eebenae: BRrcoupr* 

acter! uam expt pute laareuome Imes. RS wenn wir den Vor 
sis à Liftenrciwe priber oly wwe File sa wieder der Kraft- 
Jen" siVermeidäer Ines gon fis Got Enerze treruau „Energie ist die 
By. .kcr. Artem EL oe * St wer Prnemer durch das Maximum der 
Are, das auf irre Rosen west ester werder kann Arbeit und 
Bax moe A Licht Tor Torumereı 16-771 Itesser soll man sich bewusst 
werben Went mar tor Ger Erin uni Verwandiang der Energie 
sancht. 


Lassen wir iuGewer scrim ntwrös „Zinäniapenmogtsche U mdeutang* 
der Energie zu uw Gert wire Ger Firzserrı: ror dem „alles ist Wasser‘ 
des Thales zum „us ut Evergie~ (ru 21 pit à Hinsicht 


„unendlich kkin*. is dem Sranrrecéèen ttc nach die Energetik 
siecken Was ater fist er Zur. vriemseliöe damm die „Umwandliun 
der Energies vor Sem Wındergistter Ger Transenbtantiationen? Und 
nun erbebt er iact Ge Porderurg: „Wir tranckez eme Phybik ohne Sub 
stanz. aber mit Banat Das Scisanzpectoem verweist er in cin 
künftige Meis;ı ree 

Er it zur desilie: zu erkerner dass der Gegensatz zwischen Höfler 
und Ostwaud auf eine Terseließere Ansieguzge Ger „Erfahrung* hinsus 
kommt. Aut: H. weiter sprict: datos =7d fase sein Urteil über Ostwalds 
_energetische Piiwogpiie* durs rusazmer: „Wa ar ihr energetisch ist, 
ist nicht gut. und wae ar ihr got ist, ist nicht sch_* 

Der zweite Tex kröpf: ar die friter acigeworfene Frage an: kam 
es Nsturpnilosoplie geter? Artwort: Nein die Erforschung der Natur 
ist Suche cer Naturwiussensciaft Jedoch vermag neben der Erkenntnis 

ruxie des Naturforscher eine Erkerrtristkeuorzæe bestehen, welche die 

xis zu iurem Gegenstande macht. aisv ir A:bängigkeit von jener be 

steLt. „Es giebt keine PLiicsophie der Natur. aber: es giebt eine Philo 
supLie der Physik~, d i .Püilusophie des physikalischen ens“. 

Sicher hat H damit nicht des philosoptischen Geist überhaupt aus 
der Physik sustreiben wollen. Denr gleich darauf redet er von den en, 
die sich zwischen Erkenutristheorie und -praxis hin- und herziehen, vos 
dem Nutzen der Erkeuntnistbesrie für den Physiker. Was für ein Nutzen, 
wenn das Abbängigkeiwverbältnis wirklich so einseitig wäre? Die Erkennt 
nistbesrie stebt nicht nur als System neben der Erkenntnispraxis, sondern 
ist in ihr stückweise enthalten. wie die Logik im „richtigen Denken“. 
Insofern kanı eben, wie H. sagt, eine richtige Erkenntnistheorie „den 
physikalischen Erkenntnispraktiker in hundertfacher Weise fördern“. 


Aus dieser künftigen Philosophie der Physik will H nur einige 
Proben bringen. Zunächst aus der Psychologie. Er bekämpft Machs Eir- 
teilung der Physik nacn den Sinnesgebieten, da diese z. B keinen Unter 
schied zwischen optischen und Bewegungserscheinungen zu liefern weis. 

Auf das Problem der Gestaltsqualitäten hat H. schon öfter hingewiesen. 
Es verlangt ein Fortschreiten der Psychologie über den blossen Atomismus 
hinaus — und das ist vielleicht, meint er, vorbildlich für die Physik. 

In der Theorie der Relationen und Komplexionen begegnen wir 
den Problemen der Relativität, Substantialitat und Kausalität. Letzteres 
steht im engsten Zusammenhange mit dem Energiebegriff. Jedoch das 
Bestreben Ostwalds, den leeren Kausalsatz durch den Energiesatz gleich- 
sam zu füllen, hält H. für verfehit: die apriorische Natur des Satzes „Alles 
Anfangen muss eine Ursache haben“, würde sonst verwischt. Die i 
will H trotz Husserl auch fernerhin als die Lehre vom richtigen Denken 
definieren. Ihr Verhältnis zur Erkenntnistheorie soll dem zwischen Elektro- 
technik und theoretischer Elektrizitätslehre entsprechen. Auch alle psycho- 
logischen Vorgänge der Begriffsbildung rechnet er in ihren Interessen ich. 
Da fragt man sich überrascht: kann H. psychologische Unterscheidungs- 
merkmale des richtigen und falschen Denkens angeben? Vielleicht will er 


u 

der Physiker zu der Arbeit, die von 

in Vertrauen hat, möge er H. 

lieber bei dem naiven Realismus D 

mntnistheorie Beer Bessie ais nee Tes aller- 
ÿ fen philosophischer stan . Eine harte Forderung, 
B. delbst an einen „oft geleugneten oder gescholtenen, aber 
‘lich gebändigten Trieb“ zur Metaphysik glauben, — aber doch 


rch schlimme Erfahrungen gerechtfertigt. 
die Metaphysik gehört nach H. vornehmlich die Frage nach dem 
der Materie. Denn: „Gegenstand der Metaphysik ist das Meta- 
e“, Zwei Arten des Metaphänomenalen werden unterschieden: 
und Realitäten. Zu den letzteren gehören die physikalischen 
in denen das ungelöste Problem der Materie liegt. Hier ver- 
machen von positiven Sinnesdaten ... dazu aber das Ab- 
eu vor dem Gedanken an existierende, wenn auch durch 
anschauliches Merkmal vorzustellende Realitäten, also „Dinge an 
aber das Zeug in sich haben müssen, Teilursachen für das Auf- 
Sinnesdaten zu werden.“ Nach dem Prinzip der „Relations- 
soll das Erkennen über sich hinauskommen zum „Ding an 
h an einem Brückenkopf in finsterer Nacht stehend auf einen 
its schliesse, Er erinnert an Helmholtz’ Zeichentheorie, 
Argument beigebracht wäre. Eine „phäno- 

0 Auflösung Materie in Empfindungen“ wäre also erst 

wenn in den Gesetzmässigkeiten der Empfindung kein Anzeichen 

dass diese Materie Gesetze in sich trägt“. Physik und Chemie werden 
wie die Phänomenologie auf Hypothesen über die Konstruktion 
erie verzichten können. Und wenn wir auch nicht mit den Hypo- 

ı Wirklichkeiten haben wollen, suchen wir doch damit so gut als 

Wirklichkeiten zu „treffen“. So bleibt nach H. das Reich der 
en Realitäten nur ein „Zwischenreich zwischen unseren Sinnes- 
ngen und den Dingen an sich“, 

H. hat uns scheinbar zu einer physikalischen Weltanschauung hinüber- 
Aber er selbst lengnet deren Möglichkeit, weil die Physik nach 
ihrer Gegenstände von allen anderen abstrahiert Es giebt nur 

Ausschnitt aus einer philosophischen Weltanschauung“. 

Heinrich von Stein und F. Poske zum Wort. Es liegt eine 

ile, und darum schweige der Bericht. 

rift Höflers der gegenseitigen Verständigung der Natur- 

‚Philosophen dienen kann, ist mit Freuden zu bejahen. Sicher- 

werden die geistvollen Darlegungen jeden Leser, zu welcher Partei 

nie: zu erustem Nachdenken anregen und sich Beachtung 
wissen. 


W. Reinecke. 


gegen die Annahme, dass Aufgabe der 
‚allein die Beschreibung der Erscheinungen sei, Die 


9 





190 Recensionen (Lipps). 


Naturwiasenschaft beschreibt die Dinge nicht so, wie sie uns gegeben sind. 
Dur denkende Geist geht in gesetzmässiger Weise weit darüber hinaus, 
und gwar nach dem Identitätsgesetz, aus dem bei Anwendung auf die 
Wirkliohkeit das Kausalitätsgesetz wird. Es behauptet nämlich nach L, 
uns on Clenetzmissigkeit gebe. Innerhalb dieses allgemeinen Rahmens geht 
din Naturwissenschaft auf Naturgesetze, das sind ideale „allgem-ine That- 
anvhen oder „Komponenten“, die in einen Umkreis von Thatsachen so, wie 
divan on erlauben, „hineingedacht‘ werden können. Im Zusammenhange 
mit vorkommenden Umständen schaffen sie die empirischen Thatsachen 
nach oder voraus. Darin besteht das naturwissenschaftliche „Erklären“. — 
Warum nur L. den wunderlichen Gebrauch des Ausdruckes „allgemeine 
atunchen“ mitmacht! Liegt nicht in dem „allgemein“ und „Thatsache“ bei 
whrtlicher Auffassung ein Widerspruch? Warum nennt er das Fallgesets 
nicht ruhig ein Gesetz ? 
Dass jene „Rechnung“ des denkenden Geistes in ihrem Ergebnis 
immer wieder mit den Thatsachen zusammentrifft, darin sieht L. „das 
rome Rätsel“. „Gesetzt, die Natur wäre in ihrem letzten Giunde der 
taint, ich meine der Geist, in welchem der individuelle Geist, auch des 
Naturforschers, nur ein Punkt ist, dann fre.lich, aber auch nur dann, wäre 
dies Rätsel kein Rätsel mehr.“ Diese Stelle weist auf den Schluss des 
Vortrages hin. 
ie Naturwissenschaft begnügt sich also nach L. nicht, die Er- 
acheinungen zu beschreiben, sie sucht sie umzudenken in ein System 
infinsiger Abhängigkeitsbeziehungen zwischen räumlichen, zeitlichen und 
Ynlılgrössen. Sie ist eine formale, keine materiale Wissenschaft. — Nun 
leulurf es aber zur Bestimmung des Wirklichen auch des Materialen, sonst 
wäre die Wirklichkeit imaginär. Dazu scheint vielen der Begriff der 
Munne brauchbar, andern der Begriff der Kraft oder Energie. Jedoch ver- 
flichtigen sich alle diese Begriffe in der Naturwissenschaft zu blossen 
Beriehungsbegriffen, sind „inhaltsleere Symbole“. 


Dabei kann es nach L. der Naturforscher lassen ; er wird sich mit 
dar Aufgabe begnügen, das Naturgeschehen durch mathematische Formeln 
darzustellen, d.h durch Raum-, Zeit- und Zahlgrössen. Auch die vitalistische 
Hypothese der „Zweckmässigkeit“ gehört nach L. nicht in die Naturwissen- 
achaft. Denn unerklärt bleibt. das zweckmässige Auftreten des Zweckstrebens, 
vorausgesetzt wird ein zweckmässiger Mechanismus. Der Vitalismus zeigt 
nur Gebiete an, die sich „zur Zeit“ noch nicht naturwissenschaftli 
deuten lassen, — naturwissenschaftlich, d. h. mechanistisch. 


Doch warum läst die Naturwissenschaft das Wirkliche — d. i. die 
Materie — in „Raumbegriffe“ auf? „Einfach, weil sie es kann, sagt L. — 
Nein, weil sie es muss, weil es im Begtiffe der exakten Naturwissenschaft 
liegt, halte ich dagegen für die richtige Antwort. Sie muss nur, fährt L. 
fort, behalten, dass diese „Räumlichkeitssprache“ nur eine „Anschauu 
form oder Sprache" ist, Sie kann nicht wissen, ob das Wirkliche diesel 
Sprache spricht. Ihre Sätze gelten, auch wenn es keine Räumlichkeit 
giebt, wenn nur die Ordnung des Wirklichen die gleiche ist, die wir 
als räunliche Orinung anschauen. Es härt also nach L. nicht zum 
Weseu der Naturgesetze, „Uesetze des Räumlichen zu sein“. Auch für 
die Geumetrie se1 es ganz gleichgiltig, dass sie „Räumlichkeitscharakter" 
habe. sie gehe „auf eine dreidimensionale, stetige, homogene und unendliche 
Mannizfaltigkeit überhaupt - - Dann ist doch mindestens, meine ich, der 
Raumlichkeitscharakter der Qeometrie für die Naturwissenschaft nicht gleich- 

ung, weal dadurch alleın Mathematik auf Naturvorgänge hen kann. 
wmtern hat s. RB auch Pomeare einen synthetischen Charakterzug der 
Mathematik anerkannt Vie Naturwissenschaft aber braucht sich nicht zu 
ener, „ed dem Wirklichen als solchem Raumbestimmungen zukommen“, 
da se ach doch nut der räumlichen KErscheitungsweise begnügen muss. 


Aus seinen Ausführungen schliesst L. mit sachlichem Recht, dass ein 
gewisser Materialtumnms Postulat der Naturwissenschaft ist Es ist das der 


Recensionen (Baumann). 131 


Glaube, dass sich die Gesetzmässigkeit der Wirklichkeit in die Räumlich- 
keitssprache kleiden lasse. Auch die Lebensäusserungen muss man daher 
in den mechanistischen Zusammenhang einzuordnen suchen. 

Im Gegensatz zur Naturwissenschaft darf Weltanschauung nach L. 
allein die Anschauung vom Wesen des Wirklichen heissen. Daher giebt 
es keine naturwissenschaftliche Weltanschauung. Aber das „Produkt des 
naturwissenschaftlichen Geistes“ wird Gegenstand einer Naturphilosophie 
oder Metaphysik, welche 1. eine Kritik der naturwissenschaftlichen Er- 
kenntnis giebt, 2 das formale System der Naturwissenschaft mit erlebharem 
Inhalt füllt. Als solches Erlebbare kennen wir nur das Bewusstsein, „das 
zugleich den eigentlichen Sinn der Worte Kraft, Thätigkeit, Energie u s. w. 
ausmacht“. „Dumit ist dann Zugleich die Frage nach der objektiven Wirk- 
lichkeit der Materie negativ beantwortet“ ‚Ist das Wirkliche Bewusst- 
sein, Ich, Geist, ein Weltbewusstsein, ein Welt-Ich, ein Welt-Geist, dann, 
aber auch nur dann ist es für uns etwas Bestimmtes und als wirklich 
Denkbares“. Aus der Sinnenwelt spricht das Wirkliche zum individuellen 
Bewusstsein. Somit ist der naturwissenschaftliche Materialismus — Idealis- 
mus oder Monismus. Die Versöhnung von Mechanismus und Zweckthätig- 
keit liegt in dem Gedanken, ‚dass alles Zweckthätigkeit sei, und alles dem 
naturwissenschaftlichen Denken als nutwendig sich darstelle“. 

Daraus kann man im Anschluss an weiter oben gegebene Aus- 
führungen von Lipps selbst folgern, dass dieser Mechanismus ein zweck- 
mässiger sein muss, dass also in den Dingen Vernunft liege, ja dass Natur 
und Vernunft „an sich“ dasselbe sei, — wenigstens kann man so folgern, 
wenn — um wieder an Lipps selbst anzuknüpfen — jene Zweckthätigkeit 
zweckmässig ist. Offen bliebe die Frage nach dem Zweck. Auch schillert 
der von Lipps gebrauchte Begriff „Bewusstsein“ noch in zu verschiedenen 
Farben, als dass seine (Lipps’) metaphysische Lösung allgemein befriedigen 
könnte. W. Reinecke. 


Baumann, J. Welt- und Lebensansicht in ihren real- 
wissenschaftlichen und philosophischen Grundzügen. F. A, 
Perthes, Gotha 1906. 

Auf 81 Seiten hat B. eine ungeheure Menge mannigfaltigen Materials 
aus den Naturwissenschaften zusammengetragen, so dass der Leser ver- 
mutlich nach der ersten Durchsicht mit wirrem Kopfe dasitzen wird, ohne 
recht zu wissen, was er nun als den Hauptzweck des Schriftchens ansehen 
soll. B. beschäftigt sich mit der „Realwissenschaft“. Solche „ist, wo auf 
Grund von Thatsachen, die jedermanns Nachprüfung offen stehen, nach 
logischen Regeln, die ihrer Natur nach alle anerkennen, Ansichten aufge- 
stellt werden können“. Hierher rechnet B. die Naturwissenschaften, deren 
experimentelle Methode er treffend, „keine Kunst der Sinne“, sondern eine 
„Kunst des Gedankens“ nennt. Diese realwissenschaftliche Methode stellt 
er in Gegensatz zur Kantischen Erkei:ntnislehre. Er erkennt eine Tren 
in primäre und sekundäre — oder, wie er sagt, in objektive und subjektive 
Qualitäten an, lehnt aber den weiteren Schritt Kants ab. Dafür sucht er 
die Ergebnisse der Realwissenschaften für das Verständnis und die Führung 
menschlichen Lebens auch in ästhetischer und religiöser Hinsicht auszubeuten. 

. Reinecke. 


p° 














Gesichtspunkten aus unternommene otre er zwischen Urteilsform und 

Urteilsmaterie. So setzt sich die vorliegende Arbeit in eine e 

ziehung zhr positiven Were deren höchste Interessen Gi. 

des Verfassers die i enntniswissenschaft und nicht, wie man 

s0 oft behauptet, eine auf empirischen Grundlagen aufgebaute und auszı- 

bauende Metaphysik vertritt. 2 
Die Erweiterung des Be der Methodenlehre im wesent- 

lichen im Rahmen einer Diskussion der Frage, „wie der 

Aussagen auf die Bewertung ihrer logischen Form im Zusam; 

wissenschaftlichen Erkenntnis zurückwirkt“. Das Urteil, bisher mit, 

im Brennpunkte des Interesses der Erkenntnistheorie und der Logik im 

engeren Sinne, wird damit zu einem wichtigen Problem auch der Me- 


thodenlehre und so der Begriff der letzteren über die @ welche 
ihr als Theorie des wissenschaftlichen Verfahrens gerogen ad, ar 
sprechend erweitert. — Im besonderen erörtert die vorli 
unter dem dargelegten Gesichtspunkt die methodologische der 
singulären und der partikulären Aussage, sowie, und zwar mit besonderen 
Nachdruck, die Rolle des hypothetischen Satzes, den sie in seinen 
Beziehungen zu den verschiedenen Arten der wissenschaftlichen Indaktion 
und im Zusammenba damit in seinem Verhältnis zu einer 
theoretisch, wie methodologisch eigenartigen Form wissenschaftlicher Aus 
sagen, den sogenannten Exponentialsätzen, untersucht. 

Breslau. R. Hönigswald. 


Elsenhans, Th. Fries und Kant. Ein Beitrag zur Geschichte und 
zur systematischen Grundlegung der Erkenntnistheorie. II. Kri e 
matischer Teil. Grundlegung der Erkenntnistheorie als 
einer Auseinandersetzung mit Kant vom Standpunkte 
Problemstellung Giessen, Alfred Töpelmann, 1906. (223 S.) 

Der II. Teil des Werkes knüpft zunächst an das des 
I. historischen Teiles an, um sich dann zu einer Grundle; der Erkennt 
nistheorie überhaupt zu erweitern. Massgebend ist hierbei der 
Inhalt der Friesischen Philosophie als die Problemstellung, derselben. 
Die letztere nötigt zu eingehender Untersuchung gewisser Präliminarien det 
Erkenntnistheorie, die sonst in der. Regel nur geringere Berücksichtigung 
finden. So werden in einem I. Kapitel zunächst die Voraussetzungen der 
Erkenntnistheorie erörtert, und zwar die psycholo ischen, die logischen 
und die im eigentlichen Sinne erkenntnistheoretischen Voraussetzungen 
derselben. Innerhalb der letzteren handelt es sich zuerst um Voraus- 
setzungen hinsichtlich des HAT unktes der Untersuchung, wobei 
Frage des Erkennens als „Objekt“, die Kantischen i 


i 













Selbstanzeigen (Talbot). 133: 


Erfahrung“, des „Faktums“, der „vernünftigen Wesen“ und die Frage 
des Geltungsgebietes der apriorischen Formen eine eingehende Bearbeitung ' 
erfahren, sodann um Voraussetzungen hinsichtlich der Untersuchung 
selbst, die zur Besprechung des erkenntnistheoretischen Zirkels und der 
Möglichkeiten seiner Überwindung führen, und endlich um Voraussetzungen 
hinsichtlich der Mitteilbarkeit der Untersuchung, wobei neben der 
Frage nach dem Verständnis der Wortbedeutungen die Anerkennung der 
Begründung durch andere und der Kantische „Gemeinsinn“ zur Sprache 

ommt. 

Das II. Kapitel behandelt die Methode der Erkenntnistheorie 
und sondert die Probleme in folgender Weise: A. Das Kriterium der ob- 
jektiven Giltigkeit, I. Das Evidenzgefühl als individuelles Erlebnis. U. 

as Evidenzgefühl als Massstab der Allgemeingiltigkeit. B. Die Methode 
der Untersuchung der Erkeontnisprinzipien, wobei unter anderem ein 
systematischer Entwurf der Erkenntnisprinzipien gegeben wird. C. Das 
Verfahren in der Feststellung der Grenzen des Erkennens. 

Ein IIL Kapitel beschäftigt sich mit dem Problem der Grenzen 
des Erkennens selbst. In dem I. Abschnitt dieses Kapitels werden A. 
die Grenzen der Erkenntnisthätigkeit als solcher erörtert. Hier kommt 
zunächst die Bedeutung der Lehre von der „Unerklärlichkeit der Quali- 
täten“ zur Sprache, sodann die vielerörterte Frage der Grenzen der natur- 
wissenschaftlichen Begriffsbildung und der Erkenntnis des Historischen. 

Der II. Abschnitt des letzten Kapitels: B. Die Grenzen des Erkennt- 
nisgebietes, behandelt hauptsächlich das Verhältnis der regulativen Prinzipien 
Kants zu den transscendenten Hypothesen und gelangt zu dem Resultat, 
dass regulative Prinzipien, soweit sie Substrate der von der Wissen- 
schaft anzustrebenden grösstmöglichen Einheit der Erfahrungserkenntnis 
liefern, mit Notwendigkeit zu eigentlichen Hypothesen werden. 

Einer der Grundgedanken des Buches ist, dass die einzelnen Er- 
kenntnisprinzipien stets nur empirisch ableitbar sind, während die unbe- 
dingte Giltigkeit derselben in das Gebiet der unvermeidlichen, jenseits 
aller wissenschaftlichen Beweisführung liegenden Voraussetzungen 

ört. 
#° Das Ganze der Erkenntnistheorie aber scheint mir durch die aus 
der historischen Untersuchung erwachsene Froblemstellung eine eigen- 
artige Beleuchtung zu erfahren, die da und dort einer fruchtbaren Weiter- 
bildung, den Weg bahnen mag. 
eidelberg. Th. Elsenhans. 


Talbot, Ellen Bliss. The Fundamental Principle of Fichte’s 
Philosophy. New York, The Macmillan Company, 1906. (pp. VIand 140.) 

The purpose of the book is to make a study of Fichte’s conception 
of the ultimate principle, variously designated by him as ‚the Ego‘, ‚the 
Absolute‘, ‚God‘, and so on. The relation between the two periods of his 
philosophy is considered only in so far as it has bearing upon this con- 
ception. 

P The first chapter compares the doctrines of Kant and Fichte with 
reference to the relation between human consciousness and the ideal which 
it is ever striving to realize. In the „Kritik der reinen Vernunft“ Kant's 
conception of the ideal of knowledge is represented by his doctrine of 
intellektuelle Anschauung. In its more developed form, intellek- 
tuelle Anschauung is an organic unity of subject and object. As con- 
trasted with it, human cognition is inherently dualistic; the form and 
matter which we find in human knowledge are essentially opposed, and 
their union in the act of thought is regarded by Kant as merely mecha- 
nical. Quite consistently with this view, Kant maintains that the relation 
between human knowledge and its ideal is purely negative; progress in 
cents ee can never bring us nearer to the organic unity of subject and 
object. | 


134 Selbstanzeigen Talbot). 


The later writings represent no real advance upon this position. It 
is true that in the „Kritik der prakrischen Vernunft* Kant recognizes the 
possibility ot our approximating to the ethical ideal. But this ideal, the 
moral law, is conceived ty him as parely formal: and the progress of 
morality is therefore regarded. not as an ever-growing unity of form and 
content. but as the grada-! destruction of content, the crushing out of 
natural desire. In the „Kririk der Urreilskraft- we have substantially the 
same view as in the „Kritik der reinen Vernunft“. 


Fichte conceives the relation between consciousness and its ideal 
quite differently He recognizes as readily as Kant that consciousness 
must appear to itself dualistic: he even insists that without the opposition 
of sutject and otject there could te no consciousness Nevertheless, be 
maintains that the relation between experience and its ideal is a positive 
one, that rience is steadily working toward the goal. He believes, 
in other wo that consciousness. with all its opposition, is a necessary 
stage in the self-realization of the ideal unity. 

Chapter II is devoted to a study of the self-realizing ideal as it 
appears in the earlier writings. The utimate principle is here conceived 
by Fichte as the Idea which gradually realizes itself in and through the 
world-precess. This world of human consciousness exists in order that 
the Idea of the Ego may become actual An important question here is 
whether Fichte always thinks of the ideal as organic unity of form and 
content. There are some traces, particularly in the ethical writings, of as 
tendency to regard it as mere form. and this would compel us to conceive 
of progress as the gradual disappearance of cuntent. On the whole, it 
seems necessary to admit two opposed tendencies in Fichte’s conception. 
Sometimes he seems to think of the ideal as mere form, and sometimes 
as organic unity of form and content. The second tendency is, however, 
the predominant one. 

In connection with this question, one must consider Fichte,s repeated 
statements that if the infinite, and therefore unattainable. goal were ever 
attained, individuality and consciousness would have disappeared. Tais 
doctrine does not necessarily commit him to the conception of the ideal 
as merely formal If we interpret his earlier writings in the light of what 
he says of individuality in the second period, we see that the approxims- 
tion to the goal does not mean the gradual disappearance of content and 
of individual differences. Fichte distinguishes, in one of his later works, 
between the higher and the lower individuality and declares that it is 
only the latter which will tend to disappear as the Idea is progressively 
realized. The lower individuality means devotion to one's personal interests. 
The higher individuality in the complete surrender of oneself to the divine 
Idea; and since the Idea is constantly assuming new forms, its progressive 
realization will mean the appearance of unique personalities, rather than 
the reduction of all individuals to a common level. 


The third chapter considers the ultimate principle as it is found in 
the later writings. The most striking feature of this period is the 
distinction which Fichte makes between the Sein and the Dasein of 
the Absolute. What is meant by this distinction is a question upon which 
widely different opinions have been held. The interpretation which is 
advanced in this k is as follows. The doctrine of the being of the 
Absolute is not the assertion of another actuality behind the actual world. 
In his later, as in his earlier writings, Fichte recognizes no actuality save 
that of the world-process itself. But if we say that the world of human 
consciousness is all that exists, what sort of reality can we ascribe to the 
Idea of the Ego in so far as it is still unrealized? One might say that 
its reality consists simply in the fact that we conceive it, that it is our 
ideal. hus it would have only the actuality which belongs to any 
psychical event. Again, one might say that it is simply an objective norm, 
an absolute standard of value, by which we may measure the progress 


| 
| 
| 


Selbstanzeigen (Fischer). 185. 


f the actual world. Neither of these answers, however, would satisfy 
fichte. For him, the Idea of the Ego is at once the supreme value and 
he ground of the world-process. 

We may perhaps come toa better understanding of Fichte’s doctrine 
if we consider it as an attempt to explain the presence of values in the 
real world. In common with some other Geschichtsphilosophen, 
Fichte maintains that all that is actual is the world-process, and, further, 
that in this process we see absolute values more or less fully realized. 
But how is it, one may ask, that eternal values are realized in the tem- 
poral world? Can we in any measure explain it, or is it simply a fact 
which we may accept and rejoice in, but which we cannot hupe to under- 
stand? If the latter is the case, of course we have no guarantee of any 
future realization of absolute values. Fichte maintains, however, that the 
presence of values in our world is capable of explanation. The eternal 
values are realized in human history because the absolue value — the 
Idea of the Ego — is a self-realizing principle. And since the divine 
Idea is itself the directing force in human history, we may rest assured 
that the future will bring ever new realizations of the eternal values. 

South Hadley, Massachusetts. Ellen Bliss Talbot. 


Fischer, Ernst, Dr. phil. Die geschichtlichen Vorlagen zur 
Dialektik in Kants Kr.d.r.V. Dissertation. Berlin. E. Ebering. 06. 

Die Arbeit setzt es sich zum Ziel, die metaphysischen Lehren Wolffs 
und seiner Schule — und als Gegenstück und anmerkungsweise zu den 
einzelnen Abschnitten die einschlägigen Ansichten Lockes in seinem Haupt- 
werk — im einzelnen daraufhin zu verfolgen, ob und inwieweit ihr Einfluss 
bei der Gestaltung der transscendentalen Dialektik wirksam gewesen und 
noch erkennbar ist, auch inwieweit er bei einiger geschichtlicher Orientierung 
an einzelnen Stellen wohl zum Vorteil des Ganzen hätte gewahrt und be- 
obachtet werden können. Die Untersuchung erscheint nicht uninteressant 
zunächst zur Charakterisierung des unhistorischen Standpunktes Kants, der 
hier ja in weitem Sinne berechtigt war. Es sollte keine Kritik der Bücher 
und Systeme gegeben werden. Die Nachwirkung der thatsächlichen ge- 
schichtlichen Einflüsse blieb trotzdem. Ein anderer Gesichtspunkt kommt 
hinzu. Zwei Faktoren haben auf die Gestaltung der trransscendentalen 
Dialektik eingewirkt, die Kategorientafel, die ganze Systematik Kants als 
das formgebende Prinzip, gleichsam als der Bauplan, dessen Wirkungen im 
einzelnen Adickes in seinem Werk „Kants Systematik als systembildender 
Faktor“ nachgewiesen hat, und andererseits die Wolffische Metaphysik, 
als die geschichtliche Vorlage, als das Baumaterial. Die Einflüsse beider 
Faktoren haben zusammengewirkt und müssen daher gegeneinander abge- 
wogen werden. 

Die vereinigte Wirksamkeit beider Momente zeigt uns schon die 
Kantische Kritik der alten Ontologie, die nur — Kantisch zu reden — 
.rhapsodistisch“ zu Worte kommt. (Abschnitt L) 

Aus Rücksicht auf die Kategorien der Relation hat Kant die Ontologie 
in die eigentliche Dialektik nicht mit aufgenommen. So findet sie keine 
systematische Darstellung und kommt nur gelegentlichin dertransscendentalen 

nalytik zur Geltung. rade dadurch aber bleibt hier die geschichtliche 
Vorlage, wie im einzelnen gezeigt werden kann, mehr in ihrer wahren 
Gestalt bewahrt. Bei weniger „rhapsodistischer“ Berücksichtigung bätte 
eine dieser Stellen schon hier gute Gelegenheit gegeben, auf die völlige 
Antithetik zwischen Wolff und Locke in Bezug auf den leeren Raum hin- 
zuweisen, die um so schärfer ist, als beide ihre entgegengesetzten Ansichten 
auf dieselbe Thatsache, die Thatsache der Bewegung gründen. Die An- 
nahme leerer Räume ist nach Wolff unmöglich, weil mit ihrer Setzung 
zugleich der Materie feste, ursprüngliche Gestalten vorgeschrieben würden. 
Feste, ewige Körperfiguren aber wären unvereinbar mit der Stetigkeit der 
Bewegung. Stetige Bewegung und kontinuierliche Raumerfüllung bedingen 
sich gegenseitig. Umgekehrt behauptet Locke, aus der Erfahrungsthatsache 


tibereinstimm: ‘ition der Welt als Weltreihe bin 
auf die Bedeutung der geschichtlichen Vorlage fiir die Differenzi 
dritten und vierten Antinomie. Sie hat ihr genaues Vorbild in der 
Kosmologie, insofern in der die Unmöglichkeit eines „Fatum 
und die Notwendigkeit eines ens extramundanum zwei a rl 
handelte, zwei besondere und gesondert bewiesene Lehrstücke 
Daraus erklärt sich auch zwanglos, warum Kant das Problem der 
derrechtlich“ in die Kosmologie hineingezogen hat (S. 46). — 
noch die von Kant nicht berücksichtigte „zweite Art un het 
sachenverkettung* hervorgehoben, die sich bei Wolff, Baumgarten 
örtert findet, die kreisförmige in sich zurückkehrende Ursac 
kettung. Ausführlicher als Wolff und Baumgarten bevandelt Bai 


ologie sei zunächst auf die mit | 
ie sei zu ai mit W 


Lehren über Substanzial 
eingegangen wird. er 
die Rücksicht auf die Systematik gefordert. 





Ernst Fischer. 


Romundt, Heinrich, Dr. phil. Der Professorenkant. Ein Ende 
und ein Anfang. Gotha, Verlag von E.F Thienemann. 1906, (126 Seiten.) ) 
Der Titel dieses Buches könnte Befürchtungen für öffentliche ge- 
ordnete Pflege der Philosophie veranlassen. Solche Sorgen sind 
nicht begründet. Denn unsere Schrift nimmt nicht etwa ledi, Be- 
strebungen wieder auf, wie sie in der 1850 erschienenen A} 
Schopenhaners „Ueber die Universitätsphilosophie“, Parerga I. Band, 
zu Worte kamen und dann u a. in Nietzsches 3. Unzeitgemässer Betrach- 
tung „Schopenhauer als Erzieher“ fortgesetzt wurden. „Der D 
kant“ sucht vielmehr in seiner ersten Hälfte und vor aller Polemik gerade 


1) Wir erinnern daran, dass fiir Selbstanzeigen die Autoren allein 
verantwortlich sind, Die Redaktion. 


N 


Selbstanzeigen (Romundt). 137 
festzustellen, durch welche Art von Pfl im öffentlichen Unterricht 
der Hochschule die RR Angriffen won. der Art, wie sie von Seiten 
der genannten philosophischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts gegen 
Me enge sind, in Zukunft allen Boden zu entziehen vermögen. 

Behand- 
vor- 


ringe Mängel, auf die auch 

1 le vorbereitete, deren Beseii 
der Nachwelt wohl erhoffen durfte, wenn sie ihm au 
en 


meiner Schrift von einem angesehenen Lehrer der Philosophie 
besonders genauen Kenner ihrer Geschichte an einer grossen deutschen 
Universität durch eine Zuschrift ausdrücklich bestätigt wurde. 


Derjenige, was in unserem 2. Teil, dessen I. Kapitel überschrieben ist 
„Kants Werk kann für die gesamte Universität durch Vermittelung von deren 
0 Fakultät wertvoll werden“, als eine „abgekürzte Neuausgabe 
Streits der Fakultäten“ beginnt, vervollständigt zuletzt ein 4. ab- 
Teil durch einen „Ausblick in die Zukunft der Philosophie“, 

und zwar besonders in die bisher kaum beachtete sehr überraschende Er- 


‚positiver Art ist, enthält jedoch noch gar ni von Begründung 
für den Haupttitel Schi ine solche findet sich allererst in dem 
dritten und ausführlichsten mit ihm gleichnamigen Teil: „Der Professoren- 
kant :1%87—1903 u. s. w.)* Dieser ‚Abschnitt aber bietet eine Darstellung 
eben sen in der Geschichte der nachkantischen deutschen Universitäts- 

‚was wohl geeignet war, hochstrebende geistvolle und mit 
ernsterem Sinn auf das Beste der Philosophie gerichtete Männer wie 
Schopenhauer und Nietzsche in einer völligen Beseitigung gerade des vom 


Tndessen darin haben unsere beiden Autoren doch Recht, dass gerade 
das philosophische Katheder sich als eine erhebliche Gefahr, ja als ein 
‚schweres Verderben für die Philosophie am Ende des 18. und in der ersten 
Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland erwiesen hat. Eben dieses be- 

der „Professorenkant* in seinem 3. Teile und damit auch die 
A gerade dieser Benennung. Für 
dass (und wie) aus dem „ 
der ten* 
werden konnte un 

















Prof Dr. Kant. 
Heinr. Meyer, 


Schrift will dem Verständnisse Kants 
der Frage nach dem Bleibenden und nach dem Ve 
Leistung, und zwar will sie zeigen, dass es wirklich ein 
System Kants giebt. 

Der Philosoph bekennt sich selbst zu einem 
'enesis der reinen Vernunft“, d. h. zu einem Systeme 
räformation, während er jede individuelle Präformation : 

mit ist der Spielraum gegeben für die Freiheit als Selbstbe: 
ri die er lehrt: der einzelne Mensch hat die 
Pflicht, Les Sig Reng ow Relea toe, Le 
immen, sowohl at iete issens, a a dem 
des Handelns. 
Quod petis, in te est... . ne te quaesiveris extra! 
Immung au! lem Gel es issens 
Der Selbstbestimmung auf dem Gebiete des Wissens gilt d 
Ds reinen Vernunft, tersucht hier die Leistun, 
lenschengeistes aus eigene 
voraus, den Begriff des Menschengeistes und 
Erkenntnis a igener Kraft (a Be 
Gemäss seiner Eigenart kann der Menschengeist nur 
ständliche der Sinnenwelt aus eigener Kraft erke 
tzliches Skelett, während ihm jede Erkenntnis des 
Atetaph a versagt ist, und zwar weil jede gegenständliche E 
ich-logische Erkenntnis ist und weil es für den Me 
liche „Anschauung giebt, während ihm übersinnliche Anse 


sa; E 
Damit ist die Erkenntnis-Grenze für das theoretische 
bestimmt, und diese Bestimmung hat mit chologischen 2 ni 
zu thon, die Transscendental-Philosophie verhält sich zur Si 
wie die Grammatik einer Sprache zu dieser. 
An die Feststellung der Erkenntnis-Grenze (Hauptzweck) 
sich zwei weitere Fragen an, von denen die erstere eine D 
es handelt sich einerseits darum, gemäss den vorausgesetz 
riffen den Anschluss an die Wissenschaft Newtons und an die 
fogie zu erreichen, es handelt sich andererseits darum, die zeit 
Metaphysik wirklich zu vernichten, sie nicht bloss begrifflich 
und an ihrer Stelle die praktische Erkenntnis aus Vernunft 
d. h. die Selbstbestimmung auf dem Gebiete des Handelns 
Die Behandlung der ersten Doppel-Frage bildet den 
der Kritik der reinen Vernunft, die Behendlung der zweiten wird 
nur vorbereitet und dann zunächst in der Grundlegung zur 
der Sitten weitergeführt. wor 
Auf theoretischem Gebiet besteht die Selbstbestimmung in. 
Formung der Empfindungen zu Gegenständen der Sinnenwelt 
anschaulich-logischen Gesetzen des Menschengeistes, und darum 
diese zugleich den allgemeinsten Naturgesetzen, So wird dem M 
die Notwendigkeit in seiner Sinnenwelt zu einer That seiner 
San 4 di fai rd der Pla haffe 
it dieser Auffassung wii ler tz geschaffen für eine ent- 
ee Selbstbestimmung auf dem Gebiete des Praktischen, gemäss 
em thatsächlich gegebenen „Du kannst“ und „Du sollst“, durch 
welches jede Lebeusfübrung und Lebensgestaltung bedingt ist, 






Selbstanzeigen (Habrucker). 139 


Alles in Freiheit Geformte verfällt der Sinnenwelt, 
aber das Formende selbst ist tihersinnlich. So, aber auch nur 
50 bildet die übersinnliche Welt den Grund der Sinnenwelt. 

Kants kritisches System ruht auf dem Glaubensgrund, den die 
„Träume u. 8. w‘ genauer bezeichnen, es steht, nicht bloss geschichtlich, 
zwischen den Systemen von Leibniz und Fichte (Spontaneität). Aus dem 
Intellektual-System der ersteren löst er sich, indem er jedes echte Wissen, 
von formaler Logik abgesehen, als logisch-anschauliches Wissen bestimmt, 
om von dem transscendentalen Gepräge dieses Wissens aus seine eigenen 
Wege zu gehen. 

Dem System des letzteren tritt er entgegen, weil er den Menschen 
zwar als Baumeister seiner Sinnenwelt, aber nicht als deren Schöpfer an- 
erkennen kann, dem formenden Geiste muss Stoff (Empfindung) gegeben 
werden, wenn er bauen soll. 

Die neue Auflage hält die bisherige Einteilung fest: I. Wie steht 
es um das Verständnis Kants? II. Die Aufgabe der Kritik der reinen 
Vernunft und deren Beziehung zu Kants Weltanschauung. III. Anmerkungen 
und Beilagen Während der Abschnitt II keine wesentlichen Änderungen 
aufweist, sind die Abschnitte I und III einer durchgreifenden und er- 
weiternden, dem jetzigen Stande der Kantforschung angepassten Um- 
arbeitung unterzogen worden, wobei auch die Eigenart der Kantischen 
Sprache, welche die Klarheit des Gedankens so oft verhüllt, genauer be- 
rücksichtigt wird. 

Braunschweig. Alex. Wernicke. 


Habrucker, Walther, Referendar. Rechtsempirie und Rechts- 
theorie. Inauguraldissertation zur Erlangung der juristischen Doktor- 
würde. Halle 186. 

Der Verfasser, der ein Anhänger des Kantischen Kritizismus und 
speziell der Stammlerschen Sozialphilosophie ist, geht davon aus, „dass die 
formale Jurisprudenz“ (worunter er die wissenschaftliche Beschäftigung 
mit einem konkreten Rechte, wie und weil es da ist, also als letztem 
Gegenstande der Erkenntnis, versteht) „es in der Ausbildung der formalen 
Grundsätze, nach denen sie ihren empirischen Stoff in Sicherheit und 
Gleichmässigkeit zu verarbeiten hätte, noch nicht so weit gebracht hat, 
wie andere Wissenschaften“, und sucht nun an einzelnen Beispielen aus 
der juristischen Litteratur nachzuweisen: „dass der in ihnen enthaltene 
logische Fehler gleichmässig ein und dieselbe Ursache hat: nämlich eine 
mangelnde Klarheit darüber, dass es für die wissenschaftliche Betrachtung 
eines konkreten Rechtes zweierlei Methoden giebt, die, obwohl sie sich 
notwendig ergänzen, doch in sich gänzlich verschieden sind.“ Es sei 
nämlich innerhalb der formalen Jurisprudenz von der Rechtsempirie 
zu unterscheiden die Rechtstheorie; jene gehe auf vollständiges und 
systematisches Wissen davon, was die Menschen einander in den einzelnen 

n jeweils im Thun oder Unterlassen zu leisten haben (bei welcher 
Feststellung sie ausschliesslich auf Erfahrung angewiesen sei:; diese 
suche die dadurch festgestellten rechtlichen Pflichten und Befugnisse nach 
einheitlichen Begriffen zu klassifizieren, die sie a priori gewinne. Die 
Schrift läuft aus in die Betrachtung, dass es Zeit sein dürfte, die bewährte 
Losung der kritischen Philosophie: Wie ist Erkenntnis a priori möglich? 
auch für die formale Jurisprudenz auszugeben. 

Die hierdurch präzisierte Frage: Wie es möglich, d.b. im Zusammen- 
hange unseres Bewusstseins begreiflich sei, dass wir den empirischen Stoff 
der einzelnen Rechtsordnung gleichwohl durch Begriffe a priori zu erfassen 
vermögen, sucht der Verfasser in einer zweiten Abhandlung zu lösen, die 
demnächst unter dem Titel „Über den Grund der Möglichkeit von Rechts- 
begriffen a priori innerhalb der formalen Jurisprudenz“ in der „Philoso- 
phischen Wochenschrift“ erscheinen wird. 

Blankenburg. Walther Habrucker. 








Königsberg i Pr. ©. Braun. 


Braun, O., Dr. phil. Schellings geistige Wandlungen in den 
Jahren TD 1810, Leipzig, Quelle & Meyer, 1906. (76 Ss 

Verfasser en ac um möglichst achat ee 

so merkwürdigen Wandlungsprozess in ings Geist seinen en 

Motiven nach hervortreten zu lassen. Wer Geschichte der Philosophie 

schreibt, der muss mehr thun, als bloss nüchtern die wichtigsten Lehr- 

ii ii i i en aneinanderreihen. = 


ist, seinem Weltbilde einen A! zu geben, die Welt als geschlossenes, 
ij Ganzes anzusehen. Daraus ergiebt sich der en Cha- 


durch sein Handeln sie nicht weiter bringen kann, so ibt ihm nur als 
isti Bethätigung das kontemplative Verhalten zur Welt. Hier liegt 
Grund, warum ethischen bleme bei Schelling in diesen Jahren 
so zurücktreten. Diese Periode reicht bis zum Neospinozismus des Jahres 
1804 etwa hin (vgl. S. 35 ff). Dann beginnt mit der Schrift „Philosophie 
und Religion“ eine Umbildung: durch den Begriff des „Abfalls“ der end- 
Dieser Proves, der innerlich angeregt wa durch die Eigenart der ele 
i ler innerlich angeregt war ie Eij i 
Probleme, die sich auf dem Standpunkt des absoluten Gegebenseins nicht 
lösen liessen, schreitet weiter bis zu dem ethischen Weltbilde der Frei- 
heitslehre 1809—1810: hier ist Wirklichkeit ein Idealbegriff, Gott ist 
Werden, Entwickelung, nicht ruhendes Sein. Hier ist es be cn th 
ethischen Fragen zu lösen, jetzt nimmt das Freiheitsproblem den 
Raum ein Hier findet auch das Problem des Bösen seine Ero 
Stelle des ästhetischen Optimismus macht sich eine Neigung zum 
mus bemerkbar. 


Prinzipiell glaubt er aus seinen historischen een die Einsicht 
zu gewinnen, das Ungenügen einer bloss ästhetischen Well 


nn 


Selbstanzeigen (Bochm—Fliigel), 141 


darin seinen tiefsten Grund hat, dass sie Welt und Mensch als ein ge- 
es Ganzes auffasst. 
i. Pr, O. Braun. 


Boehm, P. Die vorkritischen Schriften Kants. Ein Beit 
ar ] ic ichte der Kantischen Philosophie. ARE 
Die Entwickelun, ichten der vorkritischen Philosophie Kants 
weichen in wichti, kten von einander ab, so im Prinzip der Ein- 
teilung, in der Zahl der Perioden, in der Stellungnahme zu Kants Ab- 
igkeit von Hume und von fremden Einflüssen überhaupt. 

Streit über die letztere Frage rechtfertigt den Versuch, den 
ra caged Kants einmal rein immanent zu versuchen, zumal wohl 
infolge dieses Streites allgemein die Bedeutung fremder Einwirkung auf 
‘Kant überschätzt worden ist. Nicht dass seiner Grösse durch solche Ab- 

keit Abbruch geschehe; die Grösse eines Mannes besteht nıcht in 

der Unberührtheit von fremdem Einfluss, sondern in der Art seiner Assi- 
milation und Verarbeitung Aber schon der Umstand, dass der Humesche 
Einfluss, wo er auch in kommt, mit derselben Entschiedenheit ge- 
leugnet wie behauptet werden konnte, schien mir darauf hinzuweisen, 
dass die Einführung dieses Einflusses nirgends derart notwendig ist, dass 
durch sein Fehlen eine unüberbrückbare Lücke in der genetischen Forschung 
der Kantischen Philosophie entsteht, ein Sprung in Kants Gedanken- 
is Re der sich aus inneren Prinzipien heraus nicht erklären 


Jassen 
Meine Schrift will den Versuch einer immanenten Entwickelungs- 
te machen und von der Herbeiziehung fremder Einflüsse nach 
keit absehen, also jedenfalls da, wo sich das geistige Wachstum 
Kants ohne diese Voraussetzung erklären lässt und wo es nach dem vor- 
den Material unentschieden bleibt, ob eine Einwirkung fremder Ge- 
beit überhaupt stattgefunden hi 
Das ist natürlich Hypothese. Ist die Durchführung gelungen, so 
eh rich, dass fremde Einflüss lenfalls nicht allzuviel 
Humes Einfluss lauten die Aussagen Kants selbst zu immt, 
als dass er geleu et werden dürfte. Man kann also nicht wohl herum 
um die Aufgabe, ihn zeitlich und seinem Umfange nach zu bestimmen. 
Anders der Leibnizsche Einfluss. Kant hat sich zu demselben nie 
bekannt. Ausserdem lässt sich der Umschwung in Kants Denken vom 
Jahre 1769, der Übergang von der sogenannten empiristischen Periode 
zum lismus der Inauguraldissertation, diese „Umkippung“, die eben 
durch die Einwirkung der „Nouveaux Essais“ Leibnizens erfolgt sein soll, 
sehr wohl aus den Motiven erklären, die Kants eigener Gedankenent- 
wickelung dieser Zeit zu Grunde lagen. Sie sind allein im Stande, diesen 


ee et zu motivieren. Den Leibnizschen Einfluss den- 
much einführen, heisst also ein Problem suchen, wo gar keines vor- 
handen ist. 

Meine Schrift will auch innerhalb des abgesteckten Gebietes keinen 
À auf Vollständigkeit machen; sie untersucht den Entwickelungs- 
ee lediglich auf die metaphysischen und erkenntnistheoretischen 


hin, Selbst von diesen sind wichtige anberücksichtigt geblieben, 
sofern sie zur Erreichung des oben bezeichneten Zwecks belanglos er: 


Achern (Baden). Dr. Paul Boehm. 


, Otto. J. F. Herbarts sämtliche Werke in chrono- 
logischer Eros herausgegeben von Karl Kehrbach + XII. Bd. 
ASS von Otto Flügel. Langensalza, H. Beyer & Söhne, 1907, 

dem 12. Bande sollte dem ursprünglichen Plane gemäss die 
Ausgabe abgeschlossen sein. Es hat sich aber so viel Material gefunden, 





142 Selbstanzeigen (Flügel). 


dass 15, vielleicht gar 16 Bände nötig werden. Der 12. Band bringt die 
Hälfte der Recensionen, darunter eine Reihe solcher, die in der Harten- 
steinschen Ausgabe fehlen 

Die hier gebotenen Recensionen Herbarts beziehen sich auf Werke 
aus allen philosophischen Disziplinen und betreffen alle philosophischen 
Richtungen seiner Zeit. | 

Für eine eingehende Darstellung der nachkantischen Philosophie 
dürften diese Recensionen eine beachtenswerte Quelle sein. 

Der 13. Band wird die übrigen Recensionen und einige Nachträge 
bringen. Dann folgen die Briefe und Herbarts Berichte über das päds- 
gogische Seminar in Königsberg. 

Wansleben. O. Flügel. 


Flügel, ©. Religionsphilosophie in Einzeldarstellungen: 
Langensalza, Beyer & Söhne, 1907. 

I. Kants Religionsphilosophie nach Thilo. VI. 66 Seiten. — IL 
Jacobis Religionsphilosophie nach Thilo. XX. 56 Seiten. — III. Die 
Religionsphilosophie der Schule Herbart’s, Drobisch und Hartenstein. 
VI 88 Seiten — IV. Die Religionsphilosophie des absoluten Idealismus. 
Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer. VI. 72 Seiten. — 
V. Schleiermachers Religionsphilosophie nach Thilo. VI. 128 Seiten. 
— VI. Die Religionsphilosophie des Descartes und Malebranche nach 
Thilo. VI. 76Seiten. — VII. Spinozas Religionsphilosophie nach Thilo. 
V. 80 Seiten. — VIII. Leibniz’ Religionsphilosophie nach Thilo. VI. 
36 Seiten. 

L. v. Ranke bemerkt: Nachdem durch die christlichen Kaiser in 
Byzanz die heidnischen Philosophenschulen in Athen geschlossen waren, 
sind in den nächsten Jahrhunderten keine bedeutenden christlichen Theo- 
logen mehr aufgetreten. Als Erläuterung dazu mag das Wort des Kirchen- 
historikers Hase hinzugefügt werden: denn Athen mit seiner heidnischen 
Philosophie war auch für die christlichen Theologen die Vorschule. Und 
so ist es nicht bloss damals gewesen. Der Zusammenhang von Philosophie 
und Theologie hat immer bestanden. Seit es wieder eine von der Theo- 
logie unabhängige Philosophie giebt, also etwa seit Descartes, ist die 
Theologie immer abhängig von der Philosophie gewesen. 

So ist denn hier die Religionsphilosophie seit Descartes bis auf un- 
sere Zeit in ihren bedeutendsten Vertretern dargestellt und zwar nach 
den trefflichen Arbeiten C. A. Thilos, diese waren grösstenteils in der 
Zeitschrift für exakte Philosophie erschienen. Ich habe sie jedem zugäng- 
lich gemacht und sie mit Einleitungen und sonstigen Ergänzungen 
versehen. 

Man wird bald erkennen, dass alle unsere gelehrten Theologen mehr, 
als sie oft selbst wissen, von den Gedankenkreisen dieser Philosophen be- 
eintlusst ‚sind, ja davon zehren. Wer die religiösen Strömungen unserer 
Zeit verstehen will, muss zu den Quellen zurückgehen, das heisst: zu den 
religionsphilosophischen Gedanken der hier dargestellten Denker. Es ist 
ja auch natürlich: in der Religionsphilosophie oder spekulutiven Theologie 
kann es keinen Fortschritt der Erkenntnis geben. Alle andern Gebiete 
des Wissens erweitern sich mit der Erweiterung und Genauigkeit der Er- 
fahrung. Aber die Gegenstände der Religionsphilosophie, also die gött- 
lichen Dinge, bleiben für unsern irdischen Standpunkt immer in gleicher 
Weise verhüllt. Die Gedanken, die sich die Menschen nach dem ganzen 
Kulturstand darüber machen, können sich also auch immer nur in einem 
verhältnismässig engen Kreise bewegen. Wo man etwa im Gefühl oder 
durch intellektuelle Anschauung diesen Kreis hat überschreiten wollen, da 
hat der Verstand alle die Schritte wieder zurückthun müssen, die er 
meinte vorwärts gethan zu haben. Ja das Geschäft der Geschichte der 
Religionsphilosophie besteht zum nicht geringen Teil in der Darstellung 
dieser Vorwärts- und Rückwärtsbewegung. 


Mitteilungen. 143 


So wird sich auch kiinftig die Religionsphilosophie und spekulative 
Theologie in dem hier beschriebenen Gedankenkreise bewegen, wird sich 
ablehnend oder zustimmend zu den von den erleuchtetsten Denkern er- 
zeugten Gedanken verhalten müssen. Diese Gedanken sind zweimal 
durchlaufen, einmal anhebend mit Descartes, dem der Pantheismus Spinozas 
und als Gegenstück der Theismus von Leibniz folgte. Ahnlich, wenn 
schon viel vertiefter, verhält sich Kant zu Fichte, Schelling, Hegel, 
Schopenhauer, Schleiermacher einerseits und zu Herbart andererseits, doch 
steht hier Jacobi noch als selbständiges Glied dazwischen. Übrigens sind 
hier die sämtlichen Hauptfragen der Religionsphilosophie nicht bloss histo- 
risch-kritisch, sondern auch positiv bearbeitet, soweit sie sich überhaupt 
positiv beantworten lassen. 

Von vielen Irrtümern ist die Rede, aber es sind Irrtümer originaler 
Denker, von denen gilt, was Goethe sagt: „Jeder Irrtum, der aus dem 
Menschen und aus den Bedingungen, die ihn umgeben, unmittelbar ent- 
springt, ist verzeihlich, oft ehrwürdig. Aber alle Nachfolger im Irrtum 
können nicht so billig behandelt werden. Eine nachgesprochene Wahrheit 
verliert schon ihre Grazie; ein nachgesprochener Irrtum erscheint abge- 
schmackt und lächerlich. Sich von eigenen Irrtümern losmachen. ist schwer, 
oft unmöglich bei grossem Geist und grossen Talenten, wer aber einen 
fremden Irrtum aufnimmt und halsstarrig dabei verbleibt, zeigt von gar 
geringem Vermögen. Die Beharrlichkeit eines original Irrenden kann uns 
erzürnen; die Hartnäckigkeit der Irrtumskopisten macht verdriesslich und 
ärgerlich.“ Und wie oft sind die Irrtümer, die hier zur Sprache kommen, 
nachgeahmt und verbreitet worden! 

Auf der andern Seite gilt es, das Forschen und Erforschte, das als 
Wahrheit Gefundene zu verstehen, festzuhalten und sich anzueignen, 
Oder hört damit die eigene Arbeit auf? Man weiss, wie Goethe darüber 
dachte. „Der thörichtste von allen Irrtümern ist, wenn junge Köpfe 
glauben, ihre Originalität zu verlieren, indem sie das Wahre anerkennen, 
was von anderen schon erkannt worden ist. Die Hansnarren wollen von 
vorne anfangen und unabhängig, selbständig, original, eigenmächtig, un- 
eingreifend, gerade vor sich hin, und wie man die Thorheiten alle nennen 
möchte, wirken und dem Unerreichbaren genugthun. 

Selbsterfinden ist schön, doch glücklich von andern Gefundenes 
Fröhlich erkannt und geschätzt, nennst du das weniger dein? 


Wansleben. 0. Flügel. 


Mitteilungen. 


\ 


Eine Kantstatue von Johannes Schilling. 


Als vor nunmehr fast 25 Jahren das grossartige neue Strassburger 
Universitätsgebäude errichtet wurde, erhielt es eine Anzahl von Statuen 
berühmter Gelehrter aller Zeiten und Völker zum Schmuck. Leider sind 
alle jene Statuen sehr hoch angebracht: sie stehen über dem dritten 
Stockwerk in freier Luft und haben in dieser Stellung nur den Charakter 
dekorativen Beiwerks zur Architektur. Von unten aus kommen die Fein- 
heiten ihrer Ausführung natürlich nicht zur Geltung. Das ist aber sehr 
schade: denn unter den Standbildern befinden sich auch einige von selb- 
ständigem Kunstwert; die bedeutendste unter diesen ist entschieden die 
Kantstatue des Altmeisters Johannes Schilling; des Schöpfers der Germania 


144 Mitteilungen. 


Re eakepb; und der „Tageszeiten* auf der Brühlschen Terrasse sc 
zu len. ar 

Ich hatte damals — wie gesagt, vor fast 25 Jahren — in 
Gelegenheit, durch Vermittelung meines Freundes Dr. Aug. Schric à 
des Verfassers der prächtigen SI : „Aus Im. Kants Leben“ (, 

Leben“ 1881) — die in französischem Kalkstein ausgeführte Kantstatue noch 
vor ihrer Aufstellung genau zu besichtigen: sie hat mir damals einen un 
auslöschlichen Eindruck gemacht. Immer hatte ich den Wunsch, eine Repro- 
duktion davon zu besitzen, aber, nachdem sie einmal in jener Höhe auf 
gestellt worden ist, war eine photographische Aufnahme 
worden. Als ich nun von der Errichtung des Sr fre in 
hörte, und in Erfahrung brachte, dass Gipsmodell der Kantstatue 
daselbst befinde, bat ich den Altmeister um die Erlaubnis der Reproduktion, 
zum Zweck der Veröffentlichung in unseren „Kantstudien“. 
Schilling war so liebenswürdig, uns zu diesem Zweck eine 
oe ras machen zu lassen, die nun hier in den Kantstudien 
und die auch gleichzeitig von mir den weitesten Kreisen durch die Leip- 
ziger Illustrierte Zeitung (No. 3317) mit fast denselben Begleitworten be 
kannt gemacht worden ist - 
3 mt ist von Schilling, der sich besonders an Schadows Büste als 
Vorbild gehalten hat, in sehr charakteristischer Weise dargestellt, ein Beweis, 
dass der Künstler sich in den Geist des Philosophen gründlich binein- 
earbeitet hat. Nicht sinnend steht der Denker da, sondern ie 
lemonstrierend, kritisieren. Das Wesen der „kritischeu® ee 
— so nannte Kant ja bezeichnender Weise seine Richtung im 
an xgivew, d. h, eben scheiden, trennen — ist in äusserst glücklicher Weise 
zum Ausdruck gebracht: die rechte Hand befindet sich in sees 
Haltung, die Gelehrte gelegentlich ihr geben, wenn sie haarscharf zwi: 
zwei verschiedenen Begriffen scheiden wollen. Es ist, als spräche der 
‚Professor Kant*, etwa am Schluss einer Vorlesung, zum Gehen bereit, schon 
den Mantel umwerfend, das Compendienbuch, nach dem er las, 
Baumgartens Metaphysica unter den Arm nehmend, noch im Weggehen zu 
seinen lauschenden Zuhörern: 

„Meine Herren! Man muss scheiden zwischen dem, was uns die 
Sinne geben, und dem, was der Verstand von sich aus dazuthut; man 
muss scheiden zwischen den Verstandesbegriffen, die die Welt der Er- 
fahrung aufbauen, und zwischen den Vernunftideen, die unserer Ei 
welt einen architektonischen, aber nur subjektiven Abschluss geben; man 
ass scheiden zwischen: der Hrscheinnng und dem Ding 80 WE 
kennbaren und dem überhaupt nicht mehr Erkenntnismässigen. Nichts ist 
verhängnisvoller, als wenn man die Grenzen heterogener Gebiete und Be- 
griffe durcheinander laufen lässt, Alles Andere ist Dogmatismus, nur dies 
allein ist kritisch.“ 

So hören wir gerne die Stimme des grossen Denkers, aufgefangen 
und im belebten und durchgeistigten Steine festgehalten durch nt nn 
Künstler. Hv: 






Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus. 

So nennt sich eine Sammlung von Arbeiten zur Geschichte der 
neueren Theologie, herausgegeben von den Herren Privatdozenten Lie, Dr. 
Heinrich Hoffmann in Leipzig und Lic. Leopold Zscharnack in Berlin. 
Es soll darin die Entwickelung der protestantischen Theologie innerhalb 
der modernen Welt behandelt werden, eine besondere Bedeutung inner- 
halb dieser Entwickelung komme der Sacer zu, die bis jetzt 
durch die vielfach noch üblichen absprechenden Urteile un- 
verstanden geblieben sei — ein Wort, das, von zwei Theologen 
sprochen, wahrhaft herzerquickend wirkt, gegenüber der heute überall, 
auch in jüngeren philosophischen Kreisen selbst, gewaltig zunehmenden 


Mitteilungen, 145 


geistigen Reaktion, gegenüber der steigenden Vorliebe für Mystik und Ro- 
manticismus, gegenüber dem ungerechten und blinden Hass selbst gegen 
das Wort „Aufklärung“. Auch sonst soll auf den Zusammenhang zwischen 
Philosophie und Theologie vom 17. bis zum 19. Jahrh. gründlich eingegangen 
werden Uns interessiert hier speziell die angekündigte Schrift von Lic. 
Dr. Paul Kalweit „Kants Einfluss auf die Theologie“. 


Lange’s Geschichte des Materialismus. 


Erfreulicherweise ist neuerdings Friedrich Albert Lange’s klassische 
Geschichte des Materialismus in Reclams Universalbibliothek aufgenommen, 
sodass das umfangreiche Werk, das bei dem bisherigen, sehr hohen Preise 
noch lange nicht die ihm gebührende Verbreitung gefunden hat, nunmehr 
ungebunden nur 2,40 M., hübsch gebunden 3,50 M. kostet. Dabei ist die 
neue Ausgabe gleich den Kant- und Schopenhauerausgaben in der gleichen 
Sammlung durchaus sorgfältig redigiert und von Lange’s verdientem Bio- 
graphen, f. Dr. Ellissen in Einbeck, Mitglied der „Kantges lischaft“, 
mit einer vortrefflichen Einleitung versehen, die über Lange’s Leben und 
Stellung in der Gesch. d. Philos. knappe, aber zuverlässige Auskunft giebt. 


Hamann’s handschriftlicher Nachlass. 


Wir entnebmen der „Saalezeitung“ vom 7. Januar folgende Nachricht: 

Der handschriftliche Nachlass Joh. Georg Hamann's, des „Magnus 
des Nordens“, ist, wie der letzte Verwaltungsbericht der Königlichen und 
Universitätsbibliothek zu Königsberg meldet, dieser Anstalt teils durch 
Ankauf, teils durch Schenkung zugefallen. Den wichtigsten Teil dieser 
Erwerbung bilden etwa 400 Original-Briefe Hamann’s, in grösserer Zahl 
an Eltern und Geschwister, an die drei Lindner und Joh. Fr. Hartknoch, 
an Joh. Fr. Reichardt, Sophie Courtan, Chr. Jakob Kraus, in geringerer 
Zahl an die Baronin v. Witten, Immanuel Kant, Heinrich Schenck, Karo- 
line Herder und viele andere. Dazu kommen Briefe anderer an Hamann 
oder an die Zeitgenossen, etwa 80 Stück, darunter auch zwei Briefe Kants 
an Hamann; ferner zahlreiche Briefentwürfe und Briefabschriften, Manu- 
skripte und Entwürfe der Schriften Hamanns, oft in drei bis vier Redak- 
tionen, Abschriften von Recensionen Hamannscher Schriften, Notizen, 
Kollektaneenhefte, auch Drucke Hamannscher und anderer Schriften, end- 
lich Porträts Hamann’s und seiner Töchter. Dazu kommen noch zahlreiche 
Schriftstiicke der Herausgeber der Hamannschen Werke, Friedrich v. Roth 
und Wiener Der Hamannsche Nachlass ist zunächst der Bearbeitung 
durch die Berliner Akademie der Wissenschaften vorbehalten, auf deren 
Programm eine Hamann-Ausgabe steht. 


Eine Kantstiftung. 


Ein ungenannt bleiben wollender Verehrer Chamberlains hat der 
Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G. in München 10000 M. zur Verfügung 
tellt, um dafür Freiexemplare von dem in demselben Verlag erschienenen 
‚antwerk Chamberlains an Bibliotheken, insbesondere an Volksbiblio- 
theken u. s w. zu verteilen. Meldungen und Anfragen sind an die ge- 
nannte Verlagsanstalt zu richten. Obwohl wir von dem Kantbuche Chamber- 
lains keine Förderung des sachlichen Verständnisses für die Kantische 
Philosophie erwarten können (vgl. die ausführliche Besprechung des Buches 
KSt. XI, S. 153—196), erblicken wir doch in der hochherzigen That des 
ungenannten Kantverehrers ein erfreuliches Zeichen des Interesses für 
Kant selbst. Jedes Interesse an Kant, das sich namentlich durch die 
That vorbildlich für weitere Kreise erweist, begrüssen wir mit aufrichtiger 
reude. 


Kantstudien X]. 40 





Kantgeselischaft. 


OL Jahresbericht. 1906. 





Mitgin À 
dieser 118 Mir betragen 2360 M; 
m Webb) bee daukenswester Weise 


i 
iE 
thal 
il 


Die Zinsen der Kantstiftans. wer am 1. April, 1. Job, 1. Oktober 


An Renkrissen für die bei der Firma H. F. Lehmann in Halle aS. 
deponierten Gelder und für das Contocorrent sind eingegangen: 162 M 10 Pf. 

Die wirklichen Neu-Einnahmen des Jahres 1906 mt: 
2364 M 35 PL + 1953 M 5 PL + 162 M 10 P£L — 3779 M 51 
tritt der oben pnte Übertrag aus dem Vogahre mit 361 ML 6 PE 
die Grsamteiunahme beträgt somit: 4190 M. 59 

NB. Ausserhalb der vorstehenden Berechn stehen die in Reserve 
gestellten IU0u M, welche, wie schon im vorigen Jahresbericht gemeldet 
worden ist, für die von der Kantgesellschaft elite Preisaufgabe ı „Kants 
Begriff der Erkenntnis, verglichen mit dem des Aristoteles“) 
worden sind. — Dasselbe gilt vun den 1600 M. welche, wie weiter unten 
erwähnt, von unserem E it Herm Stadtrat a D. Professor 
Dr. Walter Simon in Königsberg i Pr. für die von ihm 
Preissufgabe („Das Problem der Theodicee in der Philosophie des 
Jabrhunderts mit bes Räcksicht auf Kant und Schiller* uns überwiesen 
worden sind. — Beide Summen sind beim Bankhaus F. Lehmann in 
Halle auf den Namen der Kantgesellschaft deponiert. 


I. Ausgaben. 


1) Honorare für die Mitarbeiter der „Kantstudien“. Es wurden 
sn Honoraren für den Band XI im Ganzen ausbezahlt: 1062 M 3 Pf. 
Die Kantgesellschaft glaubt u. A. auch durch reichliche der 
Honorare für die Mitarbeiter der „Kantstudien“ die Ziele, die sie in ıhrem 


Satzungen niedergelegt hat, zweckmässig zu „zn fördern. Über die Honorar 
zahlungen im Einzelnen ist dem Verw usschuss Rechenschaft ab- 
ne worden. 


2) Freiexemplare der „Kantstudien“ für die Jahresmitziieder 
bezu Frektinten Davermitglieder. Nach dem zwischen der Kant 
sc und der Verlagsbuchhandlung Reuther & Reichard am Maj 


Kantgeselischaft. 147 


1905 geschlossenen Vertrag ist die letztere verpflichtet, an die Jahresmit- 
glicder und bezugsberechtigten Dauermitglieder je ein Exemplar der 

Kantstudien“ heftweise gratis und franko zu versenden. Auf Grund der 
darüber stipulierten Bedingungen erhält die Verlagsbuchhandlung für diese 
Versendung an tI Jahresmitglieder und 28 Dauermitglieder (vgl. das 
Verzeichnis unten S. 153—1ö6) an Entschädigungen: 604 M. 


8) Herausgabe von Ergänzungrheften zu den „Kantstudien®. 


a) Herstellungskosten. 


Schon im vorigen Rechenschaftsbericht (KSt. XI, S. 147), sowie im 
Bericht über die Generalversammlung vom 23. April 1906 (KSt. XL. S. 292 - 4, 
vgl. S. 484) ist mitgeteilt worden, dass der Vorstand der Kantgesellschaft 
beschlossen hat, Ergänzungshefte zu den Kantstudien herauszugeben. Es 
stellte sich als zweckmässig heraus, grössere Abhandlungen, welche der 
Redaktion zur Veröffentlichung anvertraut werden, aus dem Rahmen der 
regulären Hefte herauszulösen, und nach dem bewährten Muster anderer . 
namhafter Zeitschriften in Form von Ergänzungsheften erscheinen zu 
lassen; diese Ergänzungshefte, welche der Regel nach je eine in sich ab- 
geschlossene Abhandlung enthalten sollen, gelten buchhändlerisch als 
eigene Schriften und sind mit selbständigem Titel versehen. Gleicuzeitig 
wurde damit der Zweck erreicht, den Jahresmitgliedern der Kantgesell- 
schaft, denen diese Ergänzungshefte gratis uid franko zugesendet werden, 
eine Entschädigung zu gewähren für die Differenz des Jahresbeitrages 
zur „Kantgesellschaft“ (20 M.) gegenüber dem gewöhnlichen Abonnement 
auf die ,Kantstudien“ ‚12 M). Die Jahresmitglirder erhalten für ihre 
Mehrzahlung somit von nun an auch eine Mehrleistung, indem sie gegen- 
über denjenigen, welche bloss auf dem Buchhändlerweg auf die Kant- 
studien abonnieren, eine beträchtlich erweiterte Ausgabe der Kantstudien 
erb'lten (in diesem Berichtsjahre beträgt dieses Plus ca. 18 Bogen oder 
circa 300 Seiten). 

Die finanzielle Seite der Sache ist in folgender Weise geordnet. 
Während die Herstellungskosten der „Kantstudien“ selbst vertragsmässig 
von der Verlagsbuchhandlung Reuther & Reichard in Berlin getragen 
werden (vgl. den vorigen Rechenschaftsbericht, KSt. XI, S. 147), konnte die 
Verlagshandlung, bei dem erfahrungsmässig sehr geringen Absatz derartiger 
Publikationen, das Risiko der Herstellung nicht übernehmen. Die Kant- 
gesellschaft hat deshalb bei den Ergänzungsheften die Herstellungskosten 
selbst übernommen, und verteilt die betr. Hefte auch selbstäudig an ihre 
Mitglieder. Die übrig bleibenden Exemplare werden der Verlagshandlung 
Reuther & Reichard in Koınmissionsverlag gegeben, welche dieselben 
buchhändlerisch vertreibt; die Einnahmen für die so verkauften Exemplare 
erhält die Kantgesellschaft nach dem usancemässigen Ahzug für die Kosten 
des Kommissionsgeschäftes. Auf hohe Einnahmen dürfen wir uns, nach 
dem Gesagten, dabei nicht gefasst machen; selbst im allergünstigsten Falle 
könnten wir nur die Herstellungskosten wieder ersetzt bekommen. Aus 
diesem Grunde kann für die Arbeiten, welche als Ergänzuugshefte er- 
scheinen, kein Autorenhonorar gewährt werden. 


Für das Ergänzungsheft No. 1 (Dr. Julius Guttmann, Kants 
Gottesbegriff in seiner positiven Entwickelung, 104 Seiten) betrugen die 
Herstellungskosten: 834 M. 60 Pf. 


Für das Ergänzungsheft No. 2 (Dr. Konstantin Oesterreich, 
Kant und die Metaphysik, 129 Seiten) betrugen die Herstellungskosten: 


Für das Ergänzungsheft Nr. 8 (Dr. jur. et phil. Oskar Döring, 
Feuerbachs Straftheorie und ihr Verhältnis zur ntischen Philosophie, 
48 Seiten) betrugen die Herstellungskosten: 204 M. 90 Pf. | 


10° 






b) Remuneration an den zweiten Redakteur di 


dem die Geschäfte der Redaktion allein und 
zweiten Redakteur iche Mehrarbeit an Dur 
an 


4) Versendung verschiedener Drucksachen der Ki 
Wie im vorigen Jahresbericht (XI, S. 145) berichtet worden ist, haben wir 
Ende 1905 zum Druck der Dissertation von Dr. Johannes Wolf re 
der beiden ersten Auflagen der Kritik d. r. V. zu einander“) die 
der Kosten bei; uert, und daher auch Exem dieser Dissertation au 
die Jahresmitglieder und bezugsberechtigten Dauermitglieder versendet. 
Wie schon damals bemerkt wurde, geschah diese N T 
1906. Die Versendungskosten hierfür betrugen 27M. 70 Ferner haben 
wir Tauschexemplare der Kantstudien an eine Reihe von Redaktionen 
philosophischer Zeitschriften, sowie an die Autoren unserer Beiträge eine 
namhafte Zahl von Separatabdrucken ihrer einzelnen Aufsätze, Recensionen 
u. 8, w. versendet: Kosten 23 M. Insgesamt: 50 M. 70 Pf. 


5) Beigabe eines Kantbildes. Dem 1, Heft unseres XI. Bandes 
haben wir eine wohlgelungene Abbildung der originellen Kant-Silhouette 
von Puttrich beigegeben. Kosten: 23 M. 60 Pf. 


6) Verteilung der „Kantstudien“ an Institute und Bibliotheken. 
Wie schon im vorigen Jahresbericht (XI, S. 145) ausgeführt worden ist, 
ist die geschenkweise Überlassung der bisher erschienenen Bände der 
„Kantstudien“ an Institute und Bibliotheken, welche dieselben nicht 
selbst anschaffen können, eine sehr gigi Forderung der Ziele der 
Kantgesellschaft. Im vorigen Jahre bedachten wir das Philosophische 
Seminar der Universität Heidelberg und die Bibliothek der 

schen Sammlung in Hallea.S. — In diesem Berichtsjahre haben wir ganze 
Serien der bisher erschienenen Bände abgegeben an folgende Institute: 
1) an das unter der Leitung des Herrn Professor Dr. A. Meinong stehende 
und bekanntlich sehr blühende Philosophische Seminar der Universität 
Graz; 2) an die Bibliothek der Universität Jena, um so mehr, als an 
dieser Stätte von jeher, schon seit Reinhold, Fichte, Fries, K. Fischer, bis 
auf Liebmann und Eucken das Interesse an der Kantischen 

sehr rege gewesen ist; 3) an die Bibliothek des Evangelisch- 
logischen Seminars („Stifts‘) in Tübingen — haben doch seit Schellings 
und Hegels Zeiten, seit Strauss, Vischer und Sigwart, die phil 

Studien daselbst von j-her geblüht, welche jetzt durch Adickes noch spezieller 
auf Kant gelenkt werden. Endlich haben wir 4) der Bibliothek der Universität 
Rostock, an welcher Erhardt die Kantische Philosophie vertritt, die ihr 
fehlenden Bände I—III überwiesen. Gesamtkosten: 214 M, 78 Pf, 


a À 


Kantgesellschatt. 149 


Zuschuss zur stiftung“. In dem verflossenen Berichtsjahre 
tstiftung“ um 160 M. zugenommen, worüber noch weiter unten 
mitgeteilt ist. Da nun die „Kantstiftung“, welche nach dem 

vorjährigen Bericht die Höhe von 31700 BM. erreicht hatte, mit jenen neu- 
eingekommenen 160 M, auf 31860 M angelaufen ist, so sind, entsprechend 
unseren Satzungen, 140 M. aus den laufenden Einnahmen zur Stifeung ge- 
schlagen worden, um die runde Summe von 32000 M. zu erreichen. 


Druck verschiedener Mitteilungen, Formulare u. s. w. Seitens 

erei von ©. A. Kaemmerer & Co. sind für die Zwecke 

Gesellschaft verschiedene kleinere Druckaufträge ausgeführt worden 
ee Anzahl von Separatabdrücken des Jahresberichtes, Adress- 
re zur Versendung unserer Drucksachen, Einklebeblätter für die 

von uns an Institute und Bibliotheken verschenkten Exemplare der „Kant- 
studien“, die Berichtigung hinter S. 152 des XL Bandes [am Schluss des 
L Heftes) infolge verspäteter Einsendung der Korrektur seitens des betr. 
Autors, Separatabzüge der re der IL. Preisaufgabe, verschiedene 
Mitteilungen an Mitglieder und Mitarbeiter u. s. w). Gesamtbetrag: 


9) Verschiedene. Gerichtskosten für eine Eintragung in das Vereins- 
ov tae 90 Pf.; Beschaffung einer Mappe 3 M. 75 Pf; Beschaffun; Be 
zur Versendung von Kantbildern an die Mitglieder 7 7 

Be bite an einen Abschreiber 18 M. Insgesamt 29 M. 65 Pf. 

10) Korrespondenz. Für Korrespondenz in Sachen der Kantgesell- 
schaft aries an Postporti von dem Geschäftsführer ausgegeben: 63 M. 
57 Pf. Hierzu treten noch 12 M. 25 Pf für Couverts mit Vordruck. Zu- 
dr oi fo M.82Pf. Ein Teil dieser Korrespondenzkosten kounte gedeckt 

werden durch einen ausserordentlichen Zuschuss seitens der Verlagsbuch- 

ee für verkaufte Sonder-Exemplare unserer Kant- und 
ller-Festschrift uns 56 M. 95 Pf. zu diesem Zweck überwiesen 
Zn von der Gesellschaft selbst zu deckende Rest beträgt somit noch 


Wiederholung. 
I. Einnahmen. 
Übertrag aus dem Vorjahre . 


der Re : 
Zinsen der itstiftung‘ x 
Bankzinsen 


Summa der Einnahmen; 4030 M. 69 Pf. 


I. Ausgaben. 
1 Does an die Mitarbeiter . . . 1062 M. 20 Pf. 
plare für die Mitglieder . _ 
Fremen efte No. 1, 2, 3: 
erstellungskosten . . 
Remuneration f. d. 2. Redakteur 
pe oor “il oni eg 
4) Verschiedene Versendungen a 
Das Puttrichsche Kantbild . . 
Verteilung der KSt. an Bibliotheken 
Zusch: tiftung“ . 


dates 


yo 
ne der "Ausgaben: mt 5 PE = 3560 M. 29 Pf. 
Übertrag für 1907: 470 M. 80 Pf. 





150 Kantgesellschaft. 


Ohiger Jahresbericht ist von den Mitgliedern des Verwaltungs 
ausschusses genelimigt worden. 


* x * 


Aus der Geschichte unsererer Gesellschaft im vergangenen Jahre ist 
noch Folgendes zu berichten: 


1) Die ,Kantstiftung hat im verflossenen Jahre keinen beträcht- 
lichen Zugang mehr erfahren Ein schweres Augenleiden hinderte 
den unterzeichneten Geschäftsführer an der dazu nötigen Propaganda, so- 
dass alle Thätigkeit nach dieser Seite hin ganz unterbleiben musste. Von 
selbst sind folgende Beiträge eingegangen: 

Herr Dr. Bordes in Berlin . . . . . . . . M. % 
„ Dr. Carl Detto in Leipzig . . . . . . , 80 

. Dr. R. Jörges in Düsseldorf (3. Rate) . , 60 

„ Armin O. Lusser in Luzern . . . . . . , 20 
Frau Geheimrat Sanio in Halle a. S. 13. Rate\ „ 30 
Summa M. 160. 

Wir quittieren dankbar fiir diese erfreulichen Beweise des Interesses 
an unseren Bestrehungen. Die Geher hahen unsere Dauermitglieds- 
karte erhalten. Wir bitten unsere Freunde. auch fernerhin unausgesetzt 
auf Vermehrung dieses unseres eisernen Fonds bedacht zu sein, und be- 
merken, dass die Gesellschaft als „Eingetragener Verein* und damit als 


juristische Person auch in der Lage ist, eventuelle Legate annehmen zu 
Önnen. 


Wie schon bemerkt, haben wir aus den laufenden Mitteln noch 
140 M. zugeschossen, um, mit jenen 16 M. zusammen, 300 M. der bisher 
31700 M. betragenden „Kantstiftung* zuführen zu können. Der nunmehr 
32:00 M betragende Fonds befindet sich im Besitz der Universität Halle 
und in der Verwaltung des Königl. Universitäts-Kuratoriums daselbst. 


2 Wie den Mitgliedern aus mehrfachen Mitteilungen (Band XI, 152 
und S. 29> f.) bekannt geworden ist, hat die Kantgesellschaft eine zweite 
Preisaufgahe ausgeschrieben: „Das Problem der Theodicee in der Philo- 
sophie und Litteratur des 18. Jahrhunderts. mit besonderer Rücksicht auf 
Kant und Schiller. Wir verdanken die Anregung zur Stellung gerade 
dieses Themas unserem Ehrenmitglied, Herrn Stadtrat und Professor 
Dr. Walter Simon in Königsberg i. Pr., der uns schon so viele er- 
freuliche Beweise seiner verständnisvollen Teilnahme für unsere Bestreb- 
ungen gegeben hat. Seine grossen Verdienste nm unsere Gesellschaft. hat 
er noch dadurch vermehrt, dass er uns auch die Mittel zur Ausschreibung 
jener Preisanfyabe giitigst zur Verfügung gestellt hat Er hat uns 
Eintausend Mark als Preis für die gekrinte Arbeit überwiesen, sowie 
Sechshundert Mark zur Entschädigung für die Arbeit der Preisriclıter. 
Diese 1:00 M sind, wie schon oben mitgeteilt worden ist, bei der Firma 
H. F Lehmann in Halle deponiert worden. Herr Professor Dr. Walter 
Simon hat aber das Mass seiner Güte übervoll gemacht, indem er sich 
noch ausserdem erboten hat, falls noch weitere preiswürdige Arbeiten 


einlaufen, einen zweiten Preis von 4.0 M. und einen dritten Preis von 
300 M. zu gewähren. 


3) Einem Gönner unserer Gesellschaft. Herrn Dr. phil. Ferdinand 
Tieftrunk in Berlin-Friedenau haben wir eine wertvolle Zuwendung 
zu verdanken. Sein Grossvater war der Professor der Philosophie an der 
Universität Halle-Wittenberg, Dr. Johann Heinrich Tieftrunk ıgeb. 1760, 
gest. 1837), welcher die Kantische Philosophie und speziell die Religions 

llosophie Kants in selbständiger Weise mit grossem Erfolg vertreten 
t. Aus seinem Nachlass stammen 2 Büsten in Gips, die eine ihn 
ælbst durstellend, die andere seinen Freund, den grossen Mediziner 


Kantgesellschaft. ‘151 


und Gehirnforscher Reil, dessen Andenken in der Wissenschaft durch die 
nach ihm „Reils Insel“ genannte Gehirnwindung festgehalten wird. Nach 
Professor Tieftrunks Tod kamen diese beiden Büsten in den Besitz seines 
Sohnes, des Arztes Dr. med. Heinrich Tieftrunk in Halle, nach dessen 
Ableben in den Besitz von dessen Tochter, Fräulein Laura Tieftrunk. 
Als Letztere im Sommer 1906 verstarb, erhielten wir auf Anregung des 
Bruders derselben, des Herrn Dr. phil. Ferdinand Tieftrunk in Berlin- 
Friedenau die beiden Büsten von den Erben, deren er selbst einer 
ist, geschenkt. Ein unglücklicher Zufall wollte, dass die eine der 
beiden Büsten, gerade die Tieftrunksche, beim Transport zerbrach. 
Es ist Hoffnung vorhanden, dass die stark beschädigte Büste von 
Künstlerhand wiederbergestellt werden kann, um so mehr, als ein glück- 
licher Zufall gewollt hat, dass Herr Dr. G. Kertz, welcher der Redaktion 
der KSt. — ein merkwürdiges Zusammentreffen! — kurz zuvor gerade 
eine grössere Abhandlung über Tieftrunks Religionsphilosophie übergeben 
hatte, nicht lange vor dem Ableben von Fräulein Laura Tieftrunk auf 
Veranlassung des Unterzeichneten sie besucht und bei dieser Gelegenheit 
eine photographische Aufnahme der Büste gemacht hat. Dieses Bild ist 
der Abhandlung des Herrn Dr. G. Kertz, welche als Ergänzungsheft No. 4 
erscheint, beigegeben. (Dieses Ergänzungsheft erscheint gleichzeitig mit 
des zu. pandes erstem Hefte, in welchem dieser Jahresbericht abge- 
ruckt ist. 


Ausserdem hat Herr Dr. phil. Ferdinand Tieftrunk uns die erfreu- 
liche Aussicht eröffnet, dass wir die Kantbüste von Mattersberger, welche, 
wie KSt. X, S. 236 berichtet worden ist, einst im Besitz von Professor 
Dr. Johann Heinrich Tieftrunk war, und jetzt in seinen Händen sich be- 
findet, späterhin erhalten sollen. 


4) Über die Neueinrichtung der Ergänzungshefte ist schon oben 
das Notwendige mitgeteilt worden. Hier ist nur noch zu bemerken, dass 
schon im Laufe des verflossenen Jahres Fürsorge getragen worden ist, 
dass auch in dem neuen Jahre tüchtige und wertvolle Arbeiten als Er- 
gänzungshefte von uns herausgegeben, und den Mitgliedern zugesendet 
werden können, damit die Jahresmitglieder dauernd eine_erweiterte Aus- 
gabe der „Kantstudien“ erhalten können. 


5) Wie schon KSt. XI, S. 294 berichtet ist, haben wir mit der Ver- 
lagshandlung Reuther & Reichard in Berlin W 9, Köthenerstrasse 4, ein 
Abkommen dahin getroffen, dass unsere Jahresmitglieder und bezugsbe- 
rechtigten Dauermitglieder die früheren Bände der „Kantstudien“, welche 
sie sich zur Kompletierung "anschaffen wollen, zu dem besonderen Vor- 
zugspreis von 6 M. pro Band (statt 12 M.) erhalten. Mitglieder, welche 
von dieser Vergünstigung Gebrauch machen wollen, mögen sich an die 
genannte Verlagshandlung direkt wenden. 


6) In unserem Besitz befindet sich noch eine Anzahl von Exemplaren 
unserer Festschrift: „Zu Kants Gedächtnis“ (350 Seiten mit 4 Abbildungen). 
Auf Wnnsch erhalten Jahresmitglieder und bezugsherechtigte Dauermit- 
glieder solche Exemplare gratis und franko zugesendet, soweit der Vorrat 
reicht, auch zum Zwecke der Weitergabe an Ändere, zur Verbreitung des 
Interesses an unserer Gesellschaft und ibren Zielen. (Auch von verschie- 
denen anderen Drucksachen und Kantbildern sind noch Bestände vor- 
banden, über welche am Schluss dieses Jahres in ähnlicher Weise verfügt 
werden wird.) 


7) Die Mitglieder der Kantgesellschaft werden gehührend davon in 
Kenntnis gesetzt, dass an Stelle des am 11. September v. J. verstorbenen 
Mitherausgebers der KSt., Professor Dr. Carlo Cantoni (Nachruf, s. XI, 
S. 485) Professor Dr. Felice Tocco am „Istituto di Studi Superiori® in 
Florenz als italienischer Vertreter eingetreten ist. Professor Tocco (über 





am 23. April v.J. ordnungsgeméiss: 
Personen: 


Wie schon KSt. S. 292 berichtet worden hat unsere 


Vorsitzender: der Kurator der Univers. Geb Reg-Rat Gott fried Meyer, 
tan orig? Professor Dr. Ebbinghaus, 
re {Gite ts eed D Sanaa” 
. Ger! 
Ausschusses: | Geh. Kommerzienrat H. Lehmann. J . 
Geschäf:sführer: Professor Dr. Vaihinger. 
Sämtliche Personen wohnen in Halle. Vom 1. April an wird 
auch der nach Halle berufene Professor der Philosophie 
Dr. Ludwig Busse, jetzt noch in Minster, Mitglied des Vorstandes. | 
Za der statutengemäss am Montag, den 22 A Geburts 
tag Abende Ub, I dn Hate des Kuratonume der Univer 
allgemeinen Mitgliederversammlung wird hiermit, N 
eingeladen. 
Tagesordnung: 


a) Ablegung der Jahresrechnung für 1906. 

b) Ani auf eine formelle Änderung der Statuten, betr. dieBe- 
zeichnung „Vorstand“ mit Bezug auf das Vereinsgesetz. … 

PNA dee weeheeiniien Might SAVE 
sowie Geschäftsführers. 


d) Ve = i = Resultates des rer n 
ler enntnis, verglichen mit 
a pe der verschlethenen Zettel der x: ER 
e) Mitteilungen. 


10) Dieje Jahresmitglieder, welche bi Erscheinen dieses 
PA A ee nga eat 
üflichst gebeten, die Einsendung an den Unterzeichneten 
zu bewerkstelligen. 


Halle a. 8., den 15. Januar 1907. 


Der Geschäftsführer: 
Professor Dr. H. Vaihinger. 


Kantgesellschaft. 163 


Kantgesellschaft. 
Mitgliederverzeichnis fir das Jahr 1906. 





Ehrenmitglied. 
Stadtrat a. D. Professor Dr. Walter Simon, Königsberg i. Pr. 


Jahresmitglieder 1906. 


Dr. Berndt Alexander, Professor an der Universität Budapest IV., Franz- 
Josef-Quai 27. 

Cand. phil. Johannes Amrhein, Halle a.S., Bergstrasse 7. 

Dr. Apel, Berlin- -Charlottenburg, Uhlandstrasse 194. 


Dr. Clemens Baeumker, Professor an der Universitat Strassburg i. E., 
Wenkerstrasse 8. 

Dr. Iwan Bloch, Charlottenburg, Schlüterstrasse 78. 

Excellenz Staatsminister Dr. v. Boetticher, Oberpräsident a. D., Naum- 

burg a 

Cand. jur. G. A. E. Bogeng, Berlin W. 30, Martin Lutherstrasse 74. 

Hermann Bollmann, Olvenstedt bei Magdeburg. 

Dr. Bordes, Zahnarzt, Berlin W., Schi.lstrasse 10. 

Dr. Botte, Pfarrer, Friedewald i. Hessen (bei Hersfeld). 

Dr. Baron v. Brockdorff, Privatdozent am Polytechnikum, Braunschweig. 


Dr. phil. E. Cassirer, Privatdozent, Berlin W. 30, Hohenstaufenstrasse 46. 
Oberlehrer A. Cramer, Burg bei Magdeburg. 
Dr. B. Christiangen, Freiburg i, Br., Glümerstrasse 82. 


Dr. Delbos, Professor, Paris, Quai Henry IV 46. 

Dr. phil. Ludwig Dilles, Bielitz, Oesterr. Schlesien, Elisabethstrasse. 
Dreyer, Diakonus, Camburg a. S. 

Johannes Dürr, Verlagsbuchhändler, Leipzig, Querstrasse. 


Prof. Dr. Ebbinghaus, Halle a. S., Friedenstrasse 25. 
Dr. O. A. Ellissen, Professor, Einbeck (Hannover). 
Jacob H. Epstein, "Frankfurt a. M., Hermannstrasse 22 
Dr. phil. Os Ewald, Wien J, Getreidemarkt 10. 


Dr. Richard Falckenberg, Professor an der Universität Erlangen, Goethe- 


asse 20. 
Cand. theol. G. Fittbogen, Schineberg-Friedenau, Dürerplatz 31. 
Dr. med. Paul C. Franze, Bad Nauheim. 


Dr. R. Gaul, Sanitätsrat, Stolp i. P. 

Dr. Karl Gebert, München, kenstrasse 54 TIL. 

V. Geisler, Prediger, Friedenau, Friedrich-Wilhelmplatz 11. 

Dr. Alfred Giesecke, Verlagsbuchhändler, Leipzig, Poststrusse 8. 

Rudolf Goldscheid, Wien Ill, Richardstrasse 1 

Dr. H. Gutzmann, Privatdozent an der Universitat Berlin W., Schone- 
berger Ufer 11. 


154 Kantgeselisrhaft. 


Cand. phil Harnisch, Oberleutensdorf bei Teplitz (Böhmen). 

Eugen Hecker. Fabrikdirektor, Braunschweig, Kaïser-Wilhelmstrasse 50. 

Heidemann, Geh. Kommerzienrat. Cöln a Rh. 

Dr phil J. CU. Herz. Wien VIII, Josephstädterstrasse 29. 

Dr. phil. G Dawes Hicks, Cambridge, Cranmer Road 9. 

Dr. phil J W. A. Hickson, Montreal, Canada. 

Dr. K B. Hofmann, Professor an der Universität Graz, Schillerstrasse 1. 

Dr. A. Höfler. Professor an der deutschen Universität Prag-Smichow, 
Kinskystrasse 48. 

Dr. Richard H5nigswald, Privatdozent an der Universität Breslau, XVI, 
Uferstrasse 66. 

Friedrich Freiherr v. Hügel, London-Kensington W., Vicarage Gate 13. 


Dr. W. Jerusalem, Professor, Wien XVIII 3, Pötzleinsdorferstrasse 9. 

Dr. R. Jörges, Düsseldorf, Schamannstrasse. 

Dr. Wladimir Iwanovsky, Privatdozent, Kasan, Tschernoje Osero Haus, 
Wenetziowna. 


Privatdozent Dr. Willy Kabitz, Hannover, Bleichenstr. 4. 

Dr. Kalker, Hautarzt, Köln a. Rh, Vor St. Martin 3. 

Dr. Katzer, Pastor prim., Loebau i Sa. 

Professor Dr. Kern, Generalarzt, Subdirektor der Kaiser-Wilhelms-Aks- 
demie, Berlin NW. 7, Friedrichstrasse 141. 

Otto Kohlmann, Greiz, Elstersteig 7. 

Lic. tbeol. Dr. Koppel mann, Privatdozent an der Universität Münster iW.. 
Hereonstrasse 5. 

Dr. Felix Kuberka, Arnstadt i. Th., Marlittstrasse 4. 

Georg Küspert, Gymn.-Prakt., Schweinfurt. 


Lange, Amtsrichter, Dann i. d. Eifel 

Geh. Regierungsrat Dr. A. Lasson, Professor, Friedenau-Berlin, Handjery- 
strasse 49. 

Notar Justizrat Leibl, Düren, Westfalen. 

Dr J A. Levy, Advokat, Amsterdam. 

Dr. Levy-Brühl, Professor, Paris, Rue Lincoln 7. 

Dr. Edmund v. Lippmann, Professor, Halle a. S., Raffineriestrasse. 

D Dr. Loofs, Professor an der Universität Halle a. S., Lafontainestrasse. 
Dr. Victor Lowinsky, Berlin W, Neue Winterfeldstrasse 45. 

Emil Lucka, Schriftsteller, Wien IX., Rossauergasse 4. 


Karl Malsch, Buchdruckereibesitzer, Karlsruhe. 

M. P Mason, Boston (Mass.) U.S. A., Commonwealth Avenue Nr. 347. 
Dr. Fritz Mauthner, Freiburg i. Br., Mozartstrasse 8. 

Dr. Mengel, Pastor, Leipzig-Thonberg, Dorotheenstrasse 23. 

Dr. A. v. Meinong, Professor an der Universität Graz. 

Dr. Paul Menzer, Professor an der Universität Marburg, Wörthstrasse 50. 
Frau Bertha Meyer, Dresden A, Lennéstrasse 2. 

Frau Justizrat Meyer, Dresden A, Lennéstrasse. 

Dr. phil. Martin Meyer, Berlin W., Königin-Augustastrasse 21. 

Archivar Dr. Leo Miiffelmann, Berlin W., Eisenacherstrasse 52. 


Otto Pasquay, Königl. Bezirksamtmann a.D., München, Hermann Schmid- 
strasse 81. 
Lehrer am Realgymnasium F. Pinski, Berlin, Kniprodestrasse 118b. 


Reichardt, Stadtrat, Magdeburg, Beethovenstrasse 2. 
Dr. Johannes Reicke, Bibliothekar, Göttingen, Friedländerweg 98. 
Dr. phil. C. Reineke, Oberlehrer, Bitterfel nn 


Kantgesellschaft. 155 


Dr. R. Reininger, Privatdozent, Wien IX, Giessergasse 6. 

Dr. phil. H Renner, Berlin-Charlottenburg 4, Kantstrasse 49. 

Riedel, Geh Kommerzienrat, Halle a. S., Advokatenweg. 

Dr. jur. Francisco Rivera, Madrid (Museo Pedagégico), Daoiz 8. 

Erich Rothacker, Pforzheim, Luisenstrasse 5x. 

Dr. Maximilian Runze, Prediger und Dozent an der Humboldt-Akademie, 
Berlin N.-W. 52., Thomasiusstr. 22. 

Dr. Th. Ruyssen, Professor, Aix-en-Provence, Frankreich. 


Dr. jur. J. Sacker, Odessa, Yev. Torocul No. 9. | 

Oberlehrer Dr. Singer, Oels, Schlesien. 

Max Schersath, Versicherungsbeamter, Berlin, Warschauerstrasse 65. 

Dr. med C. J. M. Schmidt, Odessa, Boulevard 6. 

Dr. Ernst Schrader, Privatdozent am Polytechnikum, Darmstadt, Kies- 
strasse 58. 

Franz Schraube, Hauptmann a. D., Halberstadt, Voigtei 48. 

Oberlehrer Dr. Julius Schultz, Berlin NO, Friedenstrasse 111. 

Dr. Fritz Schulze, Professor am Polytechnikum, Geheimer Hofrat, 
Dresden-A., Würzburgerstrasse 44. 

A. Schulze, Direktor, Halle a. S., Raffineriestrasse 28. 

Siebert, Rittergutsbesitzer, Corben bei Mollehnen i. Ostpr. 

Dr. phil. hon. c. Ernst Sieglin, Fabrikbesitzer, Stuttgart, Felgersburg. 

Dr. E. Simon, Kommerzienrat, Berlin, Victoriastrasse 7. 

Dr. Sitzler, Regierungsreferendar, Steglitz b. Berlin, Schtitzenstrasse 53. 

Dr. H. Spitta, Professor an der Universität Tübingen. 

Gymnasialprofessor a. D Dr. Staudin ger, Darmstadt, Inselstrasse 26 

Dr. J. Hutchison Stirling, Professor, Edinburgh, Laverock Bank Road 4. 


Dr. Anton Thomsen, Privatdozent, Kopenhagen, Skindergade 29. 


Dr. Hans Vaihinger, Professor an der Universität Halle a. S., Geh. Reg.- 
Rat, Reichardtstrasse 15. 

G. Vocke, Amtsrichter, Günzburg i. B. ' 

Dr. Volkelt, Professor an der Universität Leipz , Auenstrasse 3. 

Dr. h. c. Ernst Vollert, Verlagsbuchhändler, Berlin SW, Zimmerstr. 94. 

- Dr. E. Vowinkel, Realschuldirektor, Mettmann, Rheinprovinz. 


Gustav Wagner, Privatmann, Achern. 

Julius Wagner, Tulln a. d. Donau bei Wien. 

A. Warda, Amtsrichter, Schippenbeil i. Ostpr. 

W. B. Waterman, Bosten (Roxbury) Mass. U.S. A, Waumbeckstreet 41. 
Dr. R. Wedel, Privatgelehrter, Miinchen, Prinzregentenstrasse 8. 
Lecturer C. C. J. Webb, M. A. Oxford, Magdalen College. 

Dr. Alexander Wernicke, Professor am Polytechnikum Braunschweig. 
Edmund Wirth, Kommerzienrat, Sorau N.-L. 

Dr. Erich Witte, Misdroy. 


Dr. Theobald Ziegler, Professor an der Universität Strassburg i. E. 
Magistrat der Stadt Hildesheim. 


Bibliothek des Realgymnasiums Coblenz (Direktor Dr. Goossen). 
Ein ungenaunt bleibendes Mitglied. 


Summa: 118 Jahresmitglieder. 


156 Kantgesellschaft. 


Bezugsberechtigie Dauermitglieder. 
(Einmaliger Beitrag von mindestens 400 Mark.) 


Geh. Kommerzienrat Ludwig Bethcke, Halle a. S., Burgstrasse. 

Konsul B. Brons jr., Emden. 

Frau Geh. Kommerzienrat Albert Dehne, Halle a. S., Schimmelstrasse 7. 

Verlagsbuchhändier Dr. Robert Faber, Magdeburg, Westendstrasse 13. 

Kommerzienrat Robert Frank, Ludwigsburg. 

Direktor der deutschen Bank Arthur Gwinner, Berlin W., Rauchstrasse 1. 

Professor Dr. G. H. Howison, Berkeley (Calif.), Bancroft-Way 2731. 

Fabrikbesitzer und Baumeister Friedrich Kuhnt, Halle a. S., Steinweg. 

Justizrat Dr. Lachmann, Berlin W. 10, Bendlerstrasse 9. 

Geh. Kommerzienrat Heinrich Lehmann, Halle a. S., Burgstrasse. 

Prof. Dr. Götz Martius, an der Universität Kiel, Hohenbergstrasse. 

Verlagsbuchhändler Rittergutsbesitzer Rudolf Mosse, Berlin SW. 19, 
Jerusalemerstrasse 4619. 

Professor Dr. Friedrich Paulsen, Steglitz bei Berlin, Fichtestrasse. 

Fabrikbesitzer W. v Siemens, Berlin W., Tiergartenstrasse 10. | 

Stadtrat a. D. Professor Dr. Walter Simon, Königsberg i. Pr., Kopernikus- 
strasse, Ehrenmitglied der Kantgesellschaft. 

Professor Dr. August Stadler, Zürich, Bleicherweg. 

Generalarzt Dr. med. Stechuw, Hannover, Hohenzollernstrasse 44. 

Professor Dr. Strong, New-York, Columbia University. 

Verlagshuchhändler Dr. phil hon. c. Ernst Vollert, Berlin SW. 12, 
Zimmerstrasse 94 

Fabrikbesitzer Ernst Weise, Halle a. S, Händelstrasse. 

Geh. Kommerzienrat Carl Wessel, Bernburg. 

The Philosophical Union of the University of California, 
(President: Professor G. H. Howison) Berkeley. (Calif.) 

Society of Ethical Culture, (President: Professor Dr. Felix Adler) 

ew-York 123 E, 60th Street. 


Summa: 23 bezugsberechtigte Dauermitglieder. 


Anhang. 


Neueingetretene Jahresmitglieder für 1907. 


Direktor Dr. Paul Boehm, Achern in Baden. 

Dr. Ludwig Busse, Professor an der Universität Münster (vom 1. April 
an in Halle a. S.). 

Dr. Anton Feigs, Gross-Lichterfelde, Carstennstrasse 6. 

Dr. Erich Franz, Oberlehrer, Magdeburg, Königgrätzerstrasse 2. 

Dr. P. Hauck, Oberlehrer am Lyceum, Metz. 

Dr. Gustav Kertz, Eschersheim bei Frankfurt a. M. 

Lic. Dr. Arno Pommrich, Dresden A., Fürstenstrasse 24. 

Pfarrer Strothmann, Marten bei Dortmund, Westfalen. 


Hofbuebäruckerei ©. A. Kaemmerer & Oo, Halls o 8, 


Verlag von Reuther & Reichard in Berlin W. 9. 


Für unseren Verlag belinden sich im Druck und werden 
demnächst ausgegeben: 


Eucken, R, Geh. Hofrat, Prof. a. d. Univ. Jena: Hauptpro- 
bleme der Religionsphilosophie der 


Gegenwart. ca. Mk. 1.60, geb. Mk. 2.25. 
Inhalt: 1. Die seelische Begründung der Religion. 
2. Religion und Geschichte. 3. Das Wesen des Christentums. 


Diese Schrift ist hervorgegangen aus den Vorlesungen, die der 
Verfasser bei Gelegenheit der Ferienkurse im Herbst v.J. in Jena vor 
einem großen Auditorium gehalten hat. Euckens Stellung zum Christen- 
tum ist bekannt. In einer Zeit des Suchens und Sehnens nach einem 
festen Halt und Boden in religiösen Fragen und nach einer innerlich 
befriedigenden Welt- und Lebensanschauung bietet sich hier ein 
Führer dar, dessen Stimme nicht nur auf Gehör in den Kreisen 
seiner zahlreichen Verehrer Anspruch erheben darf, sondern weit über 
diese hinaus in die gesamte gebildete Welt dringen wird! 


Lehmann, Dr. R, Prof. a. d. Königl. Akademie zu Posen: Lehr- 
buch der philosophischen Propae- 


deutik. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage. 
Mk. 3.60, geb. Mk. 4.50. 


Friedrich Paulsen sprach in seiner A in der „Deutschen 
Lit-Zeitung“ den Wunsch aus, „daß der Verfasser Freude an 
dem Buche erleben möge, vor allem die Freude, daß es 
öfters in seine Hände zurückkehre.“ Daß dieser Wunsch 
bereits nach zwei Jahren in Erfüllung geht und eine neue Auf- 

e des Buches hier angezeigt werden kann, spricht wohl besser als 
andere Empfehlung für dessen Brauchbarkeit. 


Oesterreich, Dr. Konst, Kant und die Meta- 
physik. Mk. 3.20. 
Döring, Dr. O., Feuerbachs Straftheorie 
und ihr Verhältnis zur Kantischen Philosophie. 
Mk. 1.20. 

Kertz, Dr. G, Die Religionsphilosophie 
Joh. Heinr. Tieftrunks. zur Geschichte 
der Kantischen Schule. Mit einem Bildnis Tieftrunks. 
Mk. 2.40. 

Diese drei Publikationen bilden die Ergänzun 


shefte 2—4 
der Kantstudien. Es sind Arbeiten, die für alle ‘Kantforscher bezw. 
Anhänger der Kantischen Philosophie von Wert sind. 














Verlag von Reuther & Reichard in Berlin W. = 
en Das 
Historische in Kants Religionsphilosophie, 
Zugleich ein Beitrag 
zu den Untersuchungen iiber Kants Philosophie der Geschichte 


von 


Dr. E. Troeltsch, 


ord. Prof. der Theologie a. d. Univ. Heidelberg. 
Gr. 80, VII, 134 Seiten, Mk. 3,-. 


„Das Resultat von T's Untersuchung ist der Nachweis, dass Kants 
Religionslehre nicht bloss von dem geschichtslosen Sinn ganz frei Wan 
dem sie gewöhnlich aufgefasst wird, sondern dass sie im Gogenteil 

nz die Konsequenzen der religionsgeschichtlichen Betrachtung zieht: 
‚Das Historische dient nicht zur Demonstration, sondern zur Illustration‘ 
— T's Buch ist wohl das Beste was über Kants Religionsphilo- 
sophie und Philosophie der Geschichte in den letztem Jahren 
geschrieben worden ist.“ |Theol. Jahresbericht.) 

„Das Buch ist eine hervorragende Leistung voll ein- 
dringender und anregender Gedanken; niemand wird es vernach- 
lässigen dürfen, der sich entweder mit Kant oder mit der Entwieklung 
der neueren historischen Denkweise beschäftigt. Eine nähere 
und Diskussion seines Inhalts würde aber hier viel zu weit führen — = 
jedenfalls sei die durch Selbständigkeit der Denkweise, Weite 
des Blicks, Schärfe der Analyse ausgezeichnete Schrift der 
Beachtung warm empfohlen 

(Rud. Eucken in der Histor. Zeitschrift, NF. LX, 8, 493.] 


Wille und Charakter. 
Eine Erziebungsiebre auf moderner Grundlage 


von 
Dr. J. Baumann, 
Beh. Reg-Rat und Profeffor an der Univerfität Göttingen. 
Zweite, verb. Auflage. 
Gr. 80, VI, 98 @. Me. 1.50. 
„In diefem treffliden Büchlein gibt der befannte 
Hilofoph eine Erziehungsiehre auf moderner Grundlage. Der Berfaffer 

ich erfreulicherweife nicht auf unfruchtbares Theoretifieren ein, fondern bevor 
augt Das praftifhe Moment in feiner wertvollen Unterfuhung. Da 
er fetbft Bar Lehrer war, pee Urteil von befonderer Bedeutung. "Sn Be 
ug auf die Bildbarkeit des Willens vertritt der Berfafjer den befannten Sag 
feaus, Daf alle Bildung Entwiclung der Natur fei, geht aber dann mit 
Recht aud eigene Wege. (‚Der Höhepunkt der Willensbedingung 

ift, Daf der Menfh einen Charakter habe‘) 2.” 

[£eipziger Tageblatt.) 
‚Die vorliegende Schrift . . . drängt auf geringem Raum eine Leberfiille 
wertvoller Gedanten zufammen. Tiefernfte fittliche Haltung durchzieht das Ganze. 
Es Handelt fi) um eine Der beften pädagogifhen Schriften, die 
wit haben, und Die mehr gu lernen und zu denken gibt, alé 
fonft Golianten zu geben ARTE 

[Seitfeprift für lateinlofe Schulen.) 








Verlag von Reuther & Reichard in Berlin W. 


Luther und Kant 


Dr. Bruno Bauch, 


Privatdozent an der Universität Halle. 
Gr. 8°, 1V, 192 Seiten. Mk. 4,—. 


„Das vorliegende Buch ist eine sehr gründliche klare und gediegene 
Arbeit, die den unwiderleglichen Nachweis leistet, dass Luther und Kant bei 
allem Gegensatz, der zwischen ihnen besteht, in ihren moral- und religions- 
philosophischen Anschauungen prinzipiell so sehr harmonieren, dass der eine 
als Vorläufer des anderen gelten kann.“ [Schweizer. theol. Zeitschrift 1905, 188.) 

(Die Schrift) „vergleicht beide Geistesheroen miteinander und kommt zu 
dem bemerkenswerten Resultate, dass Kant die reformatorischen Ideen Luthers 
zur Klarheit gebracht und damit die Bahn zur Verwirklichung des wahren 
Christentums vollendet, freigemacht habe. Die ganze Arbeit zeigt lebhafte 
religiöse Begeisterung und ist mit grosser, wohltuender Wärme 
geschrieben, etc.“ (Christ. Welt 1905, Bd. 20.] 

— — „über das Verhältnis vom Glaubensinhalt und Glaubensprinzip 
wird Vortreffliches gesagt — —* [Theol. Jabresbericht, 1905.) 

„Als Zeichen eines aufkeimenden tieferen religiösen Verständnisses möchte 
ich das Buch von Bauch bezeichnen.“ (Theol. Rundschau 1906.) 

„Es wäre mit Freuden zu begrüssen, wenn B.’s Abhandlung 


recht viele Leser fände — — sie hat etwas Befreiendes in sich.“ 
[Neues sächs. Kirchenblatt 1905, 9.) 


Die Philosophie in der Staatsprüfung. 
Winke für Examinatoren und Examinanden. 


Zugleich ein Beitrag zur Frage der philosoph. Propaedeutik. 
Nebst 340 Thematen zu Prüfungsarbeiten 
von 
Dr. H. Vaihinger, 
Geh. Regierungsrat, ord. Professor an der Universität Halle. 
Gr. 8°. VIII, 192 Seiten. Mk. 2,—. 


„Es braucht wohl nicht versichert zu werden, dass V.’s Buch, das sicher- 
lich zu vielen neuen Gedankenrichtungen Anlass geben wird, von 
niemandem übergangen werden darf, der sich mit der Frage nach der 
Bedeutung der Philosophie für das Staatsexamen oder sagen wir besser für die 
allgemeine Bildung befassen will.“ [Philos. Wochensehrift 1906, 6.] 

‚„Es ist unmöglich, hier auf allesInteressante und Lehrreiche 
einzugehen, was das Buch bringt. Besonders aber sei noch auf die 
kurze aber scharfe Skizzierung der Beziehungen der Philosophie 
zu den einzelnen für die Schule in Betracht kommenden Wissenszweigen 
hingewiesen. Auch aus der zum Schluss angefügten systematischen Zusammen- 
stellung der Thematen, die V. im Laufe seiner Tätigkeit als Prüfender gestellt 
hat, kann manche Anregung geschöpft werden. Das Buch kann jedem warm 
empfohlen werden.“ [Zeitschr. f. latelulose höhere Schulen XVII, 7.] 

„Prof. V. hatsich wohl verdient um die Sache der wissenschaftlichen Philo- 
sophie sowohl wie um die Schule gemacht, indem er als erster diesen Protest 
(es handelt sich um die Vorschläge der philos. Fakultät der Universität Breslau, 
die darauf hinausliefen, an die Stelle der philos. Bildung einen beschränkten 
Kreis „fachmännischer Kenntnisse" zu setzen) zu öffentlichem Ausdruck ge- 
bracht hat. Aber auch an sich verdient sein Buch, das nicht nur durch- 
weg von sachlicher Einsicht und Erfahrung zeugt, sondern auch weit 
ernsthafter — — die erzieherischen Bedürfnisse der Schule ins Auge 


fasst, in allen beteiligten Kreisen Beachtung und Verbreitung. 
(Monatssohrift £ höhere Schulen V, 8.2968.) 








Verlag von Reuther & Reichard in Berlin W. 9. 


Kant contra Haeckel. 
Für den Entwicklungsgedanken—gegen naturwissens;haftl, Dogmatismus 


von 


E. Adickes, 


ord. Prof. a. d. Univ. Tübingen. 


ss Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. == 
Gr. 8%. VII, 160 Seiten. Mk. 2,40, geb. Mk. 3,—. . 


Haeckel hat der ersten Auflage dieser Schrift die Ehre erwiesen, 
sich mit ihr zu beschäftigen, sowohl in den „Lebenswundern“ als in dem 
„Glaubensbekenntnis der reinen Vernunft“. Dass es zu keiner sachlichen 
Polemik kommen werde, war vorauszusehen. — Wenn der Nebentitel in 
dieser zweiten, vermehrten Auflage, welche sich auch mit den drei Ber- 
liner Vorträgen beschäftigt, etwas anders lautet (‚Für den Entwicklungs- 
gedanken — gegen naturwissenschaftlichen Dogmatismus’), so liegt dem 
nicht ein Stellungswechsel zugrunde — dazu war keinerlei Anlass —; es 
sollte nur auch schon im Titel der Inhalt der ganzen Schrift wenigstens 
angedeutet werden. 


[Der Verfasser] „verlangt von seinem Leser, dass er denken kann 
oder doch gewillt ist, es zu lernen, während für die Lektüre des 
Haeckel’schen Buches diese Fähigkeit nicht nur eine unnötige, sondern 
sogar eine höchst lästige und hindernde Mitgift darstellt. Anderseits 
wird man auch annehmen dürfen, dass unter den Hunderttausenden, die 
das Buch Haeckels kauften, es nicht an solchen fehlte, die aus eigener 
Kraft mit ihm so ohne Rest fertig wurden, dass sie nach der Lektüre 
von Gegenschriften kein Verlangen tragen. Daran tun sie aller- 
dings insofern unrecht, als die treffliche kleine Schrift 
von A. zweifellos auch ihnen wertvolle neue Ein- und 
Ausblicke eröffnen würde. —“ „— Ihr in musterhafter Klar- 
heitsich bewegender Gedankengang wird durch die Überschriften 
der ersten drei Kapp. bezeichnet: I. ,H.’s Weltanschauung: nicht Monismus, 
sondern Materinlismus.“ II. „Widerlegung des Maierialismus“ III. „Der 
wahre Monismus.“ Letzteren konstruirt A. über der Theorie des psycho- 
physischen Parallelismus auf demselben Boden, auf dem sich der nach- 
kantische Idealismus erhebt, der den phänomenalistischen Charakter unserer 
Erkenntnis nur auf dem Gebiete der Körperwelt gelten lässt, dagegen in 
der Welt des Bewusstseins nicht eine Erscheinung, sondern eine an sich 
seiende Wirklichkeit sieht. In seinem IV. Kap. [Ungläuhig — und doch 
gläubig] zeigt A., dass es einen intoleranteren Erzgläubigen als H. gar 
nicht geben kann. Der orthodoxen Beschränktheit setzt er 
eine andere, nicht minder verderbliche »ungläubige und doch 
gläubige« Beschränktheit entgegen..... “ 

„Die hier und da mit echtem Humor gewürzte Schrift ist, 
ihrem Zweck entsprechend, durchaus auf das Verständnis eines weiteren 
Publikums berechnet.“ 





[Deutsche Literaturzeitung 1906, Nr. 40.] 





Uber Kants Lehre 
vom Schematismus der reinen Vernunft. 
Aus dem Nachlass yon Walter Zschocke, 
herausgegeben von Heinrich Rickert. 


Vorbemerkung des Herausgebers. 


Walter Zschocke ist im Alter von sechsundzwanzig Jahren 
Sestorben. Anfänglich für die kaufmännische Laufbahn bestimmt, 
zur Jurisprudenz übergegangen, hatte er sich während der 
Jahre seines Lebens in Strassburg und hier in Freiburg 

ganz dem Studium der Philosophie gewidmet. Ihr galt schon früh, 
leben Neigungen für die bildende Kunst, vor Allem sein Interesse. 
Der Tod hat ihn verhindert, die nachfolgende Arbeit, mit der er 
hier sein Doktorexamen machen wollte, zu vollenden, Trotzdem 
schien mir und anderen Freunden sein hinterlassenes Manuskript 
der Veröffentlichung wert. Dass es druckfertig gemacht werden 
konnte, ist in erster Linie Dr. Otto Baensch zu verdanken, 
mit dem der Verstorbene in den letzten Monaten seines Lebens 
hier in Freiburg täglich zusammen war, und der seine wissen- 
schaftlichen Intentionen genau kannte. Soweit es irgend anging, 
ist der Wortlaut des Manuskripts beibehalten, inhaltlich ist fast 
nichts hinzugefügt, und nur einige Stellen, die unfertig waren 
und deshalb den Zusammenhang störten, sind fortgelassen, Gewiss 
hätte Zschocke selbst die Arbeit noch weiter ausgeführt, aber auch 
in ihrer jetzigen Gestalt ist sie gedanklich abgeschlossen und 
lässt über die Absichten des Autors keinen Zweifel. Im Übrigen 
muss die Schrift für sich selbst sprechen. Ein Urteil über das 
Einzige, was mir von einem meiner liebsten Schüler, einem Manne 
von ungewöhnlicher Reinheit der Gesinnung und des wissenschaft- 
liehen Strebens, übrig geblieben ist, gehört nicht hierher. Wahr- 
scheinlich wird Manches auf Widerspruch stossen, und besonders 
kann man meinen, dass in Kants Urteilslehre Einiges hineininter- 

Kanimudien XII. u 





158 W. Zschocke, 


pretiert ist, was dem Autor der Vernunftkritik fern lag. Mit 
Riicksicht darauf méchte ich nur das eine bemerken, dass Zschocke 
niemals beabsichtigt hat, eine rein historische Kantinterpretation 
zu geben, sondern dass ihm vor Allem an der Klärung und För- 
derung der systematischen Probleme selbst gelegen war. Unter 
diesem Gesichtspunkt muss seine Arbeit gelesen und beurteilt 
werden. 


Inhalt: Erklärung der Disposition. — L Teil. 1.Kapitel. Der Auf- 
bau des Kantischen Systems der Erfahrung. 2. Kapitel. Kants Lehre vom 
Schematismus, — II. Teil. 1. Kapitel. Der eine Stamm der menschlichen 
Erkenntnis, die Sinnlichkeit. 2. Kapitel. Der andere Stamm der mensch- 
lichen Erkenntnis, der Verstand. 3. Kapitel. Die Überwindung des Kant- 
ischen Schematismus. 


Erklärung der Disposition. 


In der Kritik der reinen Vernunft ist das Kapitel über den 
Schematismus der reinen Verstandesbegriffe oft als eins der ‘un- 
verständlichsten bezeichnet worden, und das mit Recht; denn, 
wenn man es gelesen hat, so ist man zunächst völlig ratlos da- 
rüber, was wohl Kant unter dem Worte Schematismus verstehe. 
Zur Komplikation der Schwierigkeit kommt noch hinzu, dass diese 
Lehre im Zentrum der Vernunftkritik ihre Stelle gefunden hat, 
wo die vorher begonnenen Gedankenreihen mit einander in Ver- 
bindung treten. 

Sie steht für sich zwischen der Deduktion der reinen Ver- 
standesbegriffe und den Grundsätzen der reinen Vernunft. Der 
äusseren Stelle entspricht die Funktion, welche sie zu erfüllen 
hat: sie soll zwischen den reinen Verstandesbegriffen und den 
Grundsätzen eine Lücke ausfüllen, die sich bei dem Aufbau der 
Vernunftkritik aus ihren zwei Hauptteilen, Ästhetik und Analytik, 
dort zeigte, wo beide aufeinander treffen sollten. In den Grund- 
sätzen nämlich macht Kant die Anwendung seiner Resultate der 
Analytik auf die Erscheinungswelt überhaupt, d. h. er bringt die 
apriorischen Verstandeselemente, welche er getrennt von den 
apriorischen Anschauungsformen aufgesucht und deduziert hatte, 
mit diesen wieder in lebendige Verbindung, um so ‘in wenigen 


Über Kants Lehre vom Schemetismus der reinen Vernunft. 169 


Sätzen diejenigen allgemeinsten Regeln aufzustellen, unter die 
jede allgemeingiltige und notwendige naturwissenschaftliche Er- 
fahrung sich ordnen muss. Nun hatte er aber Sinnlichkeit und 
Verstand in ihrer wesentlichen Charakteristik so streng von ein- 
ander geschieden,!) — an manchen Stellen sogar durch Disjunktion,*) 
— dass er ohne weiteres keinen Weg findet, sie wieder zu- 
sammen zu führen. Er muss also ein Drittes®) aufsuchen, welches 
beide heterogenen Elemente umspannt, damit auf diesem neutralen 
Boden eine Verständigung für gemeinsame Weiterarbeit angebahnt 
werde, und dieses Dritte ist eben das Schema. 

Dies möge ausreichen zur vorläufigen Charakteristik der 
Eingliederung des Schematismus in der Kr. d. r. V. Um sie im 
Einzelnen zu verstehen, wird es dann im ersten Teile dieser 
Arbeit nötig sein, dass wir uns etwas näher darüber orientieren, 
was Kant unter Anschauungs- und Verstandesformen versteht, und 
wie ihm auf Grund dieser seiner Voraussetzungen das Problem 
des Schematismus erwächst. Ich werde hierbei natürlich immer 
das Hauptinteresse auf die Stellung der beiden Fundamente unseres 
Erkennens zu einander legen, und das Fazit ziehen, sie seien un- 
vereinbar, so wie es Kants Meinung gewesen ist. Denn in der 
That halte ich unter den Voraussetzungen, welche die transscen- 
dentale Asthetik und die transscendentale Analytik an die Hand 
geben, die Kantische Forderung nach einem Schematismus fiir un- 
erlässlich. Dass Kants Schema dieser Forderung freilich nicht 
‘ entspricht und nicht entsprechen kann, wird der Schluss des 
ersten Teiles nachweisen. Ä 

Nach Erledigung dieser Vorarbeit werde ich in einem zweiten 
Teile zu zeigen versuchen, dass es dennoch möglich ist, innerhalb 
des Zieles, welches sich Kant in der Kr. d. r. V. setzte, nämlich 
der Begründung der mathematischen Naturwissenschaft, ohne seinen 
Schematismus auszukommen. Nun habe ich eben Kants Konsequenz 
anerkannt, die zu seinem Schematismus führte; wenn ich jetzt 
dem entgegen seinen Schematismus beseitigen will, so kann dies 
nur dadurch geschehen, dass ich die Prämissen angreife, welche 
ihn forderten. Ich werde dementsprechend nachweisen müssen, 
dass 1. die Anschauungsformen und 2. die Kategorien umgestaltet 


1) 
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W. Zschocke, 






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rechtigt war und bedurfte; und dieses Zuviel ist es, welches ihn 
nachher in die Schwierigkeiten und Unklarheiten des Schematis- 
mus verstrickte. Um ihnen zu entgehen, werde ich mich Schritt 
fiir Schritt fragen, was die einzelnen Erkenntniselemente an 
Distanz absorbieren, damit wir unseren Weg ,reinlich beschreiten* 
können; und im Anschluss daran werde ich dann die Konse 


Verstandesbegriff auch anders „entdeckt“ und anders deduziert 
werden muss als der Kantische. Es geht nicht an, die Kantischen 


sprechend zu modifizieren. 

Hiermit wäre in Kürze der Inhalt der ersten beiden Kapitel 
des zweiten Teiles angegeben. — Ein letztes drittes Kapitel hat 
endlich die Aufgabe, einen neuen Schematismus an Stelle des 
alten zu setzen; denn es wird sich ergeben, dass wir ganz ohne 
einen solchen doch nicht zum Ziele gelangen. Wenngleich auch 
Sinnlichkeit und Verstand nicht so auseinanderklaffen, wie es bei 
Kant der Fall zu sein scheint, so sind doch ihre Tendenzen nicht 
ohne weiteres so völlig in einander zu lenken, dass wir ohne eine 
Vermittelung in einem „Schematismus“ auskommen. Doch trägt 
dieser neue Schematismus eine erheblich andere Gestalt als der 
Kantische. 

Damit ist die kurze Übersicht gegeben, welche ich zur Er- 
klärung der Disposition voranschicken wollte. Zu ihrem Beschlusse 
nur noch eine Bemerkung: Wenn ich sage, ich gedächte, den 
Kantischen Schematismus durch einen andern zu ersetzen, so 
ist dieses nur zum Teile richtig; denn das neue Schema findet 
sich wörtlich angeführt in der Tafel der Schemata, wie sie bei 
Kant steht. Und doch, dass Kant es nennt, ist diesmal ein Fehler 
und eine Inkonsequenz. Er durfte dies Schema nicht haben, und 
nur die ungemessene philosophische Fähigkeit dieses „grossen 


Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 161 


Kopfes“ versichert uns überall, dass selbst seinen Irrtümern in- 
teressante und bedeutende Gedanken zu Grunde liegen. Hieraus 
erklärt sich auch, dass fast all die Umformungen, welche ich an 
den Kantischen Begriffen vorzunehmen gedenke, in ihnen selbst 
in irgend einer Hinsicht schon angelegt sind, und dass sich für 
den Beleg der wichtigsten Punkte meiner anderen Auffassung 
deutliche Zitate aus Kants eigenen Worten finden lassen. Kant 
sah so ziemlich alles, nur nicht alles klar. 


I. Teil. 


Der erste Teil soll uns zwei Fragen beantworten. 

1. Wie kam Kant dazu, einen Schematismus aufzustellen ? 

2. Was haben wir des Genaueren unter dem zu verstehen, was 
Kant ein Schema nennt? 

Als Ergebnis dieser Untersuchung werden wir zu dem 
Schlusse gelangen, dass Kants Schema ein in jeder Beziehung un- 
klarer Begriff ist, dass in ihm zwar ein richtiger Gedanke aus- 
gedrückt ist, dass er aber gerade das nicht leistet noch leisten 
kann, was Kant von ihm forderte. Dazu kommt noch, dass der 
Wahrheitsgehalt, den der Begriff des Schemas birgt, nicht erst 
durch das Kapitel über den Schematismus entdeckt zu werden 
brauchte, vielmehr schon längst in der Ästhetik und Analytik 
feststand.!) Somit wird dieser Teil zeigen: Kant braucht ein 
Schema, aber sein Schema ist kein Schema, und was es an Rich- 
tigem enthält, ist eine überflüssige Wiederholung. 


1. Kapitel. 
Der Aufbau des Kantischen Systems der Erfahrung. 

Unsere Pars destruens beginnt mit einer Rekonstruktion der 
Grundfaktoren und des Zieles der Erkenntnistheorie Kants. 

Das Material, an dem sich die Arbeit unseres Erkennens 
vollzieht, ist uns empirisch gegeben in dem Mannigfaltigen der 
subjektiven Empfindungsinhalte.*) Sie werden nach zwei ver- 
schiedenen Methoden geformt, bis sie befähigt sind, in der mathe- 






















162 W. Zschocke, 


matischen Naturwissenschaft uns als sichere, das 
wendige und allgemeingültige Erkenntnisse entge 
Durch diesen Prozess wird der Übergang vollzogen von ı 
jektivität zur Objektivität; was zunächst rein subjektiv u 
fällig sich als gegebene Empfindungen kennzeichnet, wird 
Erkennen zu einem der subjektiven Zufälligkeit En 
Entgegengestellten, ihr Objizierten, sobald es nach je 
Methoden verarbeitet ist; aus dem gegebenen Material wit 
Gegenstand der Erkenntnis, das Objekt gewonnen. Beide Met 
haben ein gemeinsames Ziel, beide ergänzen einander, und 
mit Hülfe der anderen ist es jeder einzelnen möglich, auf f 
Füssen zu stehen: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, A u 
ohne Begriffe sind blind.“ 1) 
Anschauungen und Begriffe, dies sind die beiden Me 
nach denen die Umgestaltung des Materials vor sich geht. 


Betrachten wir zunächst die Anschauungen. Ihrer 
sprechung ist die transscendentale Ästhetik gewidmet; 
unsere Zwecke können wir uns mit der Erwägung ihrer A 
begnügen. Allerdings will ich gleich bemerken, dass die 
von den Anschauungsformen innerhalb der transscendentalen 
später erheblich umgestaltet wird, aber hiervon muss ich 
absehen; denn hätte Kant diese Umgestaltung immer u 
Auge behalten und konsequent durchgeführt, so wäre er gar 
zu seinem Schematismus gekommen. Dies gerade soll in 
zweiten Teile dieser Arbeit bewiesen werden, und infolge 
dürfen wir uns jetzt nur an das halten, was unter den m 
fach variierenden Gedankenreihen gerade zu dem Schemati 
führt, wobei natürlich diese einseitige Darstellung nicht als 
definitive Meinung oder gar als das Wesentliche in Kants Lehre ; 
aufgefasst werden darf. - 


Raum und Zeit werden gekennzeichnet als rezeptive Formen“ 
der apriorischen Anschauung. Die Welt, welche wir ife 
wollen, ist Erscheinung, und sie erscheint uns. Aus diesen Be 
stimmungen ergiebt sich zweierlei: 


Einmal muss die Erscheinungswelt sich denjenigen Formen 
anpassen, welche für uns die Bedingung alles Erscheinens sind: 
Raum und Zeit. 


1) B. 7, - 


Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 163 


Dann aber können wir die Gegenstände nicht so erkennen, 
wie sie an sich selber sind, sondern allein, wie sie uns er- 
scheinen. 

Das Erscheinen ist etwas von uns sowohl unabhängiges als 
auch durch uns bestimmbares, die Erscheinung ist also als ein Ding 
mit zwei Seiten anzusehen: wir könnnen es nur rezipieren, nicht 
selber produzieren; nur in sofern es in Raum und Zeit erscheinen 
muss, um unsere Erscheinung zu sein, ist es von unseren Formen 
abhängig. 

Raum und Zeit sind demnach rezeptive Formen unserer An- 
schauung, und wir erkennen durch sie die Dinge, wie sie uns er- 
scheinen. | 

Dies haben beide, der Raum sowohl als auch die Zeit, mit 
einander gemein; doch unterscheiden sie sich im übrigen sehr 
wesentlich von einander: 

Die Form des neben einander umspannt alle sogenannten 
äusseren Verhältnisse, alle Gegenstände des äusseren Sinnes, 

Die Form des nach einander ist nicht in diese Sphäre ein- 
geschränkt; zeitlich sind ebensowohl alle äusseren wie alle 
inneren Erlebnisse. | 

Kant drückt dies dadurch aus, dass er die Zeit als die Form 
des inneren Sinnes bezeichnet; und da der innere Sinn der Sammel- 
name für alle Perzeptionen ist, sofern sie auf das Perzipiens be- 
zogen werden, so schliesst er auch diejenigen Perceptionen mit 
ein, welche noch dazu die Beschaffenheit des neben einander an 
sich tragen. Innere und äussere Anschauung sind also ebenso 
wenig Gegensätze, wie Raum und Zeit Gegensätze darstellen, 
sondern die Zeit ist lediglich eine umfassendere Form des Raumes: 
alles Räumliche ist notwendig zeitlich; aber nicht alles Zeitliche 
ist räumlich. Ebenso ist es nur eine spezielle Provinz im soge- 
nannten inneren Sinne, welche den Namen des äusseren Sinnes 
trägt; und so ist die Terminologie Kants zu verstehen, dass die 
Zeit die Form des inneren, der Raum die Form des äusseren 
Sinnes sei. 

Ich gehe jetzt zur Besprechung des zweiten Elementes für 
die Objektivität über, zur Besprechung der reinen Verstandes- 
begriffe. Raum und Zeit waren die beiden Komponenten in der 
Methode des Anschauens; dem Anschauen gegenübergestellt ist 
das Urteilen. Zum Urteilen brauche ich Begriffe. Es handelt 
sich also darum, die reinen Begriffe aufzusuchen, welche an ihrem 


164 Frise" Mn 


Teile ein Stück der Arbeit vollbringen, ee 
geleistet werden soll. Kant findet die Begriffe mit Hülfe der so 


nis nur in Synthesen stattfinden kann, gemäss seiner schon in der 
Einleitung als Grundproblem der Kritik aufgestellten Frage: Wie 
sind synthetische Urteile a priori möglich? Die objektive Syn- 
thesis hat ihrerseits wieder zur Voraussetzung die transscendentale 
Einheit der Apperzeption. Nun kennen wir die Synthesen, welche 
im Urteile stattfinden, oder Kant meint wenigstens, ohne viele 
Schwierigkeiten eine genaue Tafel hiervon aufstellen zu können. 
Indem er dann von ihr ausgeht, ergiebt sich ihm die genau ent- 
sprechende Tafel der Kategorien.') 

Doch mit ihrer Entdeckung ist es noch nicht genug, sie 
müssen auch noch deduziert werden. Hier ist es vor allem der 
Begriff der transscendentalen Einheit der Apperzeption, welche 
den Mittelpunkt der Untersuchung bildet. Ohne sie ist der Er- 
fahrung gewissermassen das Rückgrat genommen; sie „schafft“ 
überhaupt erst die Synthesis in den Urteilen der objektiven Er- 
fahrung. Wenn daher der innerliche Zusammenhang klargelegt 
wird, in dem die Kategorien mit der transscendentalen Einheit der 
Apperzeption stehen, so sind sie deduziert. Kant erweist die 
Kategorien als die Arten der transscendentalen Einheit der Apper- 
zeption,*) daher kann er mit Recht von ihnen sagen: „so sind die 
Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und gelten 
also a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung“.3) 

Das bisherige Ergebnis lässt sich folgendermassen zusammen- 
fassen. Einesteils steht die objektive Erfahrung unter den Be- 
dingungen von Raum und Zeit, das ist der reinen Sinnlichkeit, 
andererseits unter den Bedingungen der Kategorien, das ist des 
reinen Verstandes. 

Nun zieht sich durch die ganze Kritik der reinen Vernunft 
wie ein roter Faden die immer wiederkehrende Belehrung, dass 
die reinen Verstandesbegriffe nur auf das Material der Sinnesdata 
angewandt Wissenschaft ergeben, dass sie über das so begrenzte 
Gebiet hinausschweifend sich nur in unhaltbaren Hypothesen ver- 





1) B. 9. 

* Vgl. B. 143, 169 und Cohen, Kants Theorie der Erfahrung. 
2. Aufl. 369. 

*) B. 161, 


[] 


Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 166 


lieren, dass dadurch Metaphysik als Wissenschaft vom Ding an 
sich ein für alle Mal widerlegt ist. 

Kant steht jedoch noch in der transscendentalen Ästhetik auf 
einem wesentlich anderen Boden. In ihr macht sich noch stark 
der Einfluss der Inaugural-Dissertation geltend, in welcher er 
folgende Anschauungen vertrat. 

Durch die Sinnlichkeit erkennen wir die Welt der Erschei- 
nungen ; infolgedessen muss sie sich unsern subjektiven Anschauungs- 
formen anpassen, um von uns erkannt zu werden. Durch den 
Verstand erfassen wir die Welt der Noumena. Dementsprechend 
giebt es Erkenntnis zweier Welten und damit zweier Arten 
von Objekten: Erkenntnis von Phänomena und Erkenntnis von 
Noumena. Ebenso wie wir durch den Verstand erkennen, „er- 
kennen“ wir auch im Anschauen.) 

Die Kritik der reinen Vernunft steht auf einem ganz anderen 
Standpunkte. Aber Kant hat nicht vermocht, radikal in jeder Be- 
ziehung mit der Lehre von der zweifachen Wahrheit aus An- 
schauung und Verstand zu brechen. Er hatte sich zu sehr in die 
alte Anschauung hineingelebt. Daher bietet uns die Kritik der 
reinen Vernunft das Schauspiel eines stetigen Kampfes mit diesen 
alten Überresten; immer wieder werden sie glänzend besiegt, aber 
immer wieder legt der tückische Gegner Kant eine Falle. 

In der Ästhetik zunächst hat Kant sich noch wenig von den 
alten Ansichten losgerungen; anstatt allein die kritische Frage zu 
beantworten: wie sind die synthetischen Urteile der Mathematik 
möglich? wird noch nebenbei die ganze Metaphysik der Dinge an 
sich und die Behauptung vorgetragen, durch Anschauung werde 
uns eine „Erkenntnis“ von Erscheinungen gegeben. 

In der Analytik wird der dogmatische Gegner energisch zu 
Boden geschlagen dadurch, dass unausgesetzt betont wird, die 
Verstandesbegriffe müssten sich auf das durch die Sinnlichkeit 
gegebene Material beziehen, sonst sei keine Erkenntnis mög- 
lich, und nur im Urteile, das der Verstand fällt, gebe. es überhaupt 
Erkenntnis. | 

Doch ein dogmatischen Überbleibsel ist immer noch vor- 
handen, und worin dies besteht, zeigt uns das Kapitel über den 
Schematismus. 


3) Inaugural-Dissertation § 4 § 11. vgl. B. 60. 


166 W. Zschocke, 


2. Kapitel. 
Kants Lehre vom Schematismus. 

Erkenntnis giebt allein der Verstand in seiner Vi n 
mit der Sinnlichkeit, ich muss daher die Kategorie auf die Er 
scheinungen überhaupt anwenden. Aus dieser Anwendung ent- 
stehen die Grundsätze des reinen Verstandes. Aber kann ich 
denn ohne weiteres jene Subsumption ausführen? Es ist doch 
noch sehr die Frage, mit welchen Mitteln ich Sinnlichkeit und 
Verstand verbinde. Beide sind völlig getrennt von einander auf- 
gefunden worden und haben nichts gemeinsam. Der Verstand ist | 
nicht anschaulich, die Anschauung nicht diskursiv. „Nun sind | 
aber reine Verstandesbegriffe, in Vergleichung mit empirischen (ja 
überhaupt sinnlichen) Anschauungen, ganz ungleichartig, und können 
niemals in irgend einer Anschauung angetroffen werden. Wie ist 
nun die Subsumption der letzteren unter die erste, mithin die 
Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich“ . . .?}) 
Hier steckt das Problem des Schemas. Kant löst es in folgender 
Weise: Bei jeder Subsumption zweier verschiedener Elemente muss 
sich ein drittes aufdecken lassen, welches dem ersten und zweiten 
gemeinsam ist, wie zum Beispiel die Begriffe eines Zirkels und 
Tellers in der Eigentümlichkeit der Rundung einen Vereinigungs- 
punkt darbieten. Also werden wir uns zwischen dem reinen Ver- 
standesbegriff und den Anschauungen überhaupt ebenfalls nach 
einem Dritten umsehen, welches mit einem jeden dieser beiden 
Antipoden in Verbindung stehe. Dies Tertium hat demnach fol- 
gende Merkmale aufzuweisen: 

1. Es muss rein sein, weil es ja nur darauf ankommt, die 
„Sinnlichkeit überhaupt“ mit den Verstandesbegriffen zu ver- 
einigen, um die Grundsätze der reinen Naturwissenschaft zu er- 
halten, weshalb wir als das eine Extrem nur die reinen Formen 
der Anschauung erhalten, nicht aber sie mit ihrem empirischen 
Inhalt. 


Zu dem Missverständnisse, dass auch der Inhalt in Betracht komme, 
könnte die eben angeführte Stelle führen, in der Kant hervorhebt, das 
empirische Anschauungen ganz ungleichartig sind mit reinen Verstandes- 
begriffen. Aber dieses Problem, wie sich das empirisch Wirkliche, das heisst 
das Inhaltliche der Erfahrung, zu seiner apriorischen Form verhalte und 
mit ihr vereinbar sei, gehört auf keinen Fall in diesen Zusammenhang, 
welcher die Vereinigung der verschiedenen Methoden der Objektivität be- 





1) B. 176, 


Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 167 


spricht; denn der Inhalt der Erkenntnis tritt in eine direkte Beziehung 
nur zu den Anschauungsformen, wie er denn überhaupt durchgängig 
als die „Sinnesdata“ bezeichnet wird, Und wie sollte er in der Kantischen 
Philosophie auch eine Stelle finden? Kant will nur aufzeigen, welche 
Formung des sinnlich gegebenen Inhaltes objektiv sei; für ihn ist die 
Gegenständlichkeit ja keineswegs der inhaltliche Begriff eines Dinges, das 
die Erkenntnis abzubilden hätte, sondern eine gültige Relation. Er will 
in seiner formalen Philosophie nur zeigen, wodurch sich die wertvolle 
Relation von Inhalten von der wertlosen Relation unterscheide, und die Me- 
thode angeben, durch die teleologisch die Voraussetzungen der wertvollen 
Relation erfüllt werden. 

Man könnte ferner auf die Vermutung kommen, Kant habe folgen- 
des mit dem Schema gemeint: Die Sinnesdata sind empirisch und anschau- 
lich, die Verstandesbegriffe sind rein und diskursiv. Es gelte also, zwischen 
diesen beiden Extremen eine Vermittelung zu finden, und sie bestünde in 
der Zeit. Denn die Zeit hat sowohl mit den Sinnesdata etwas gemein: 
die Anschaulichkeit, als auch mit dem Verstande: die Reinheit, wodurch 
sie denn ausgezeichnet sei zu einem Bindeglied. Aber hiergegen sprechen 
folgende Erwägungen. Kant fordert selbst von seinem „Dritten“, dass es 
einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sei; die Zeit ist aber alsreine 
‚Anschauung niemals intellektuell. Und dann entsteht doch überhaupt die 
Frage, was an den Erscheinungen noch anschaulich ist, wenn man sie als 
blosse Inhaltsdata, losgelöst von unserer apriorischen Anschauungsform, 
betrachtet. Was ist denn die Anschaulichkeit der Erscheinungen anderes, 


als das Ringefasstsein in unsere Anschauungsformen? Und wenn ich ihre 


diese Frage überhaupt einen Sinn und einen Wert hat. Nein, es geht auf 
keinen Fall, den Kantischen Satz: „Nun sind aber reine Verstandesbegriffe, 
in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen, 
ganz ungleichartig ... „“ derart zu interpretieren, dass Kant das Gegen- 
satzpaar in der Weise habe bestimmen wollen, dass auf die eine Seite 
rein, er Begriff, auf die andere Seite empirisch, sinnlich, Anschau- 
ung zu setzen sei, wodurch ja freilich äusserst scharf das reine dem em- 
der Verstand der Sinnlichkeit, der Begriff der Anschauung op- 

poniert würde; man könnte vielleicht zur Verteidigung dieses Standpunktes 
noch anführen, dass Kant in den nächstfolgenden Sätzen öfters anstatt 
Anschauung den Terminus Erscheinung gebraucht; Erscheinung umfasst 
aber seiner eigentlichen Bedeutung nach immer den Inhalt mit, sodass 
also hierin eine gewisse Bestätigung für das Element des empirischen, 
inhaltlichen zu finden wäre. Aber trotzdem ist diese Auffassung ganz 
unhaltbar, denn was soll wohl in einer Philosophie der objektiven Formen 
die Frage nach einer Subsumption des Inhaltes unter die Form? Und 
vollends, sollte es gar ein Tertium geben zwischen Form und Inhalt? 
Form und Inhalt stehen überhaupt gar ni »m. Verhältnis der Sub- 
itig fordern, Wohl aber 





me 


168 W. Zschocke, 


hat es einen guten Sinn zu fragen, wie zwei verschiedene Formen in Zu- 
sammenhang gebracht werden können; und wenn man sagt, dass die Kate- 
gorien doch erst durch die Sinnlichkeit einen Inhalt bekommen, so ist | 
jedenfalls das Eine ganz gewiss, dass sie es den Anschauungsformen über- 
lassen müssen, sich mit ihrem Inhalt auseinanderzusetzen; selber aber be- | 
deutet der Verstand nur eine Form, die in der Stufenfolge zur objektiven | 
Gegenständlichkeit der Sinnlichkeitsform übergeordnet ist und zu dieser 
allein in Beziehung tritt. R | 

Wir dürfen also das „empirisch“ nicht als eins von den beiden 
Gegensatzgliedern auffassen, welche in dem dritten, dem Schema, zu ver- 
einigen sind. Das Empirische ist in diesem Zusammenhange zwar wohl 
berechtigt, denn es drückt den Gedanken aus, dass unsere reinen Ver- 
standes- und Sinnlichkeitsformen nur in einer möglichen Erfahrung Sinn 
und Bedeutung erlangen, dass sie abgezogen davon nur als ,,Hirngespinste* 
aufzufassen sind.) Aber wir müssen, um das eine fragliche Ende des 
Gegensatzes zu entdecken unsere Aufmerksamkeit auf die Klammer 
richten: „(ja überhaupt sinnlichen)“; denn durch das „überhaupt“ wird ganz 
deutlich, dass damit nur die reinen Anschauungsformen gemeint sein 
können, da es ausser der empirischen „Sinnlichkeit“ nur noch die reine 
giebt, welche Raum und Zeit ausdrücken. 

Somit ist erwiesen, dass jenes fragliche Gegensatzpaar, zwischen 
welchem wir das „Tertium“ finden möchten, einerseits in den reinen Ka- 
tegorien, andererseits den reinen Anschauungsformen besteht, und hieraus 
ergiebt sich ohne weiteres, dass das Tertium die Eigenschaft der Reinheit 
an sich tragen muss. 

2. Es muss das Tertium intellektuell sein, um mit dem 
verstandesmässigen Faktor zu harmonieren. 

3. Es muss sinnlich sein, um in Berührung mit den 
Anschauungen zu treten. 

„Schema“ soll es genannt werden, und weil es ein notwen- 
diges Glied in der Kette reiner Erkenntnisbedingungen bildet, er- 
hält es den Vornamen ,,transscendentales“ Schema.?) 

Die transscendentale Zeitbestimmung vereinigt in sich das 
Geforderte und ist daher geeignet, die Dienste des Schemas zu 
übernehmen. Unter ihr müssen wir uns eine Vereinigung von 
Kategorialem und Anschaulichem vorstellen. Die Kategorie soll 
die Einheit in ihr vermitteln, die Zeit aber ist uns als die, jede 
Anschauung umspannende, Form des inneren Sinnes bekannt. 

Nach Kants Einteilung der Erkenntnisvermögen ist das 
„Schema“ der Einbildungskraft zuzuordnen. Es ist deshalb ihr 
Produkt, weil, wie das Schema die Mittelstellung zwischen Kate- 


1) B. 196, 705. 
4) B. 177. 


Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 169 


gorie und Anschauung, die Einbildungskraft die Mittelstellung 
zwischen Verstand und Sinnlichkeit ausfüllt. 


Nun hat Kant zwölf Kategorien; ihnen entsprechend sieht 
er sich genötigt, zwölf Schemate aufzustellen, in denen er jede 
der verschiedenen Kategorien für sich eine andere Funktion der 
Einheit in der Zeitbestimmung ausführen lässt; und somit ergeben 
sich vier mal drei Schemate, die aber, bei der Verfehltheit der 
Kategorientafel, nicht einmal von Kant alle aufgezählt werden 
können. In der That, es ist ganz unmöglich, das auszuführen, 
was Kant unterliess, und wenn wir die einzelnen Schemate ge- 
nauer nachprüfen, die angegeben sind, so geraten wir in ein 
Nebelmeer von Unklarheiten hinein. 


Das Schema sollte nach Kant ein Drittes sein, zwischen 
Anschauung und Verstandesbegriff; und worin besteht es that- 
sichlich? Es ist nichts mehr und nichts weniger als die Ver- 
bindung von Anschauung und Begriff selber, die doch eben das 
Problem war: die Zeit ist die Anschauungsform, die Kategorie ist 
der Verstandesbegriff, das Schema ist eine Vereinigung beider, 
sonst nichts; anstatt eines Dritten, welches wir suchten, legt 
Kant Eins und Zwei kurzerhand zusammen. Das Problem wird 
dadurch höchst einfach gelöst, dass es ignoriert wird. So hete- 
rogen Anschauung und Begriffe sein mögen, wie Kant zunächst 
behauptete, im Schema verbindet er sie durch den Machtspruch: 
fügt euch zusammen. Das Dritte zur Anwendung wird Kant 
unter den Händen die Anwendung selber. 


Doch Kant ist nicht einmal in seiner Terminologie einheit- 
lich, wodurch denn allerdings der Begriff des Schemas zu einem 
unentwirrbaren Knäuel von Widerspriichen wird. So heisst es 
z. B.: „Wir wollen diese formale und reine Bedingung der Sinn- 
lichkeit, auf welche der Verstandesbegriff in seinem Gebrauch 
restringiert ist, das Schema dieses Verstandesbegriffes . . . nennen.“ !) 
Oder: | | | 

„Die Verstandeshandlungen aber, ohne Schemate der Sinnlich- 
keit, sind unbestimmt.“?) Oder: 

„Man sieht nun aus allem diesem, dass das Schema einer jeden 
Kategorie, als das der Grösse, die Erzeugung (Synthesis) der Zeit 


1) B. 179. 
*) B. 692. 


170 W. Zschocke, 


selbst, in der successiven Apprehension eines Gegenstandes . .. 
enthalte und vorstellig mache.“*) 

Ans diesen drei Stellen spricht deutlich, dass wir unter dem 
Schema ein sinnliches Element, also kein Zwischenglied, sondern 
die eine Seite des Gegensatzes zu verstehen haben; und wenn 
dazu noch Kant sagt: 

„Es fällt aber doch auch in die Augen, dass, obgleich die Sche- 
mate der Sinnlichkeit die Kategorien allererst realisieren, sie doch 
selbige gleichwohl auch restringieren, d. i, auf Bedingungen ein- 
schränken, die ausser dem Verstande liegen (nämlich in der Sinn- 
lichkeit).“?) 

„Also sind die Kategorien, ohne Schemate, nur Funktionen 
des Verstandes zu Begriffen, stellen aber keinen Gegenstand vor. 
Diese Bedeutung kommt ihnen von der Sinnlichkeit, die den Ver- 
stand realisiert, indem sie ihn zugleich restringiert.“®) 

Wenn also Kant dieses sagt, so müssen wir doch wohl seinen 
Gedanken derart verstehen, dass er hier durch den Begriff des 
Schemas nur die Forderung ausgedrückt wissen wollte, die Kate- 
gorien nicht auf Dinge an sich anzuwenden, sondern allein auf 
Erscheinungen, wie er ausführt: 

„So sollten die Kategorien in ihrer reinen Bedeutung, ohne 
alle Bedingungen der Sinnlichkeit, von Dingen überhaupt gelten, 
wie sie sind, anstatt, dass ihre Schemate sie nur vorstellen, 
wie sie erscheinen, jene also eine von allen Schematen unab- 
hangige und viel weiter erstreckte Bedeutung haben.“) 

Aber hat nicht schon die ganze Deduktion uns vor Augen 
geführt, dass die reinen Verstandesbegriffe unabhängig von der 
Sinnlichkeit gar keine Gegenständlichkeit ergeben?*) Im Schema- 
tismus sollten wir erfahren, un mit Hilfe der Sinnlichkeit 
der Gegenstand durch di egorien erzeugt wird, und gerade 

klärt. Weshalb Kant garnicht 





Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 171 


keiner Stelle wirklich klar erkennen lässt, dass es ein Tertium 
zwischen Begriff und Anschauung sei. 

Wenn ich ausführte, dass unter dem Schema bald die frag- 
liche Vereinigung, bald die eine Seite des Gegensatzes, die Zeit, 
bald die blosse Forderung gemeint sei, die reinen Verstandes- 
begriffe nur auf die Sinnlichkeit anzuwenden, so ist es damit noch 
nicht genug. Die Schemate sollen die Bedingung enthalten zur 
Projizierung der Kategorien in die Erscheinungswelt überhaupt, 
d. h. die Bedingung für die Grundsätze des reinen Verstandes. 
Nun aber fliesst die Bedingung zum Grundsatze mit dem 
Grundsatze selbst zusammen. In dem Kapitel „von dem 
Grunde der Unterscheidung . . .“ wird behauptet:!) „Die Grund- 
sätze des reinen Verstandes ... enthalten nichts als gleichsam nur 
das reine Schema zur möglichen Erfahrung.“ Und sehen wir 
uns doch einmal die Schemate im einzelnen etwas näher an: 

„Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des 
Realen in der Zeit, d. i. die Vorstellung desselben, als eines Sub- 
strates der empirischen Zeitbestimmung überhaupt, welches also 
bleibt, indem alles andere wechselt.“*) | 

Die erste Analogie lautet in der zweiten Auflage: 

„Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz“. 

„Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, 
und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt 
noch vermindert.“?) 

Ferner: 

„Das Schema der Ursache und der Kausalität eines Dinges 
überhaupt ist das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt 
wird, jederzeit etwas anderes folgt.“s) 

Die zweite Analogie lautet in der ersten Auflage: 

„Alles, was geschieht (anhebt, zu sein), setzt etwas voraus, 
worauf es nach einer Regel folgt.“ 5) 

Es ist klar, die Schemate enthalten eine kurze Zusammen- 
fassung dessen, was die Grundsätze leisten, und sind in der Form 
so wenig von ihnen verschieden, dass eben dieselben Wendungen 
in dem Schema und Grundsatze wiederkehren; und dabei ist wohl 


1) B. 296 f. 
) B. 183. 
5) B. 224. 
‘) B. 188. 
8) À. 189, 


172 W. Zschocke, 
zu beachten, dass in dem Schema schon alles gesagt ist, und der 


Schema vom Grundsatz; was soll es heissen, dass Kant in der 
Einleitung zur Analytik der Grundsätze ausführt, das erste Haupt 
stück handele von den sinnlichen Bedingungen, „unter welchen 
reine Verstandesbegriffe allein gebraucht werden können, d.i. von 
dem Schematismus; das zweite aber von den synthetischen Ur- 
teilen, welche aus reinen Verstandesbegriffen unter diesen Be 
dingungen apriori herfliessen . .. d. i. von den Grundsätzen des 
reinen Verstandes.“ !) 

Doch es hat keinen Wert, dass wir uns noch länger bei 
diesen inneren Widersprüchen und Unklarheiten aufhalten, welche 
sämtlich daraus entspringen, dass jenes geforderte Tertium nicht 
als ein solches scharf charakterisiert ist; lohnend wird das Ar- 
beiten mit Kants Unklarheiten erst dann, wenn man die Gründe 
aufzudecken vermag, weshalb Kant notwendig zu ihnen gedrängt 
wurde. Alsdann sind sie nur die Bestätigung dafür, dass irgend- 
wo an der Wurzel ein wunder Punkt liegen muss; und bat man 
ihn erst gefunden, so wird man in jedem Falle für die Arbeit der 
Besserung reichlich dadurch belohnt, dass man lernt, klarer in 
dem ewigen Bestand unter den Gedanken Kants zu sehen. 

Bevor ich mich jedoch zu dem positiven Teile meiner Be- 
sprechung wende, muss ich noch die frühere Behauptung be- 
weisen, dass sich in dem Schematismus ein dogmatisches Vorurteil 
geltend macht, welches aus der Inaugural-Dissertation übernommen 
wurde. 

Der Schematismus beruht auf der Entgegensetzung von 
Sinnlichkeit und Verstand. Allerdings hält Kant die Meinung für 
gründlich überwunden, dass wir durch den Verstand die Dinge an 
sich, durch die Sinnlichkeit die Erscheinung erkennen kénnten.*) 
Aber wenn er es für zunächst ganz unerklärlich hält, wie man An- 
schauungen unter Begriffe subsumiert, liegt dem dann nicht doch 
noch ein Überrest von dem Standpunkt zu Grunde, demgemäss der Ver- 
stand und die Sinnlichkeit, durch ihre Anwendung und Geltung in 
einander ausschliessenden Gebieten, selber zu gänzlich heterogenen 
Faktoren gestempelt werden? Weshalb sind sie denn heterogen? 

2) B. 176. 


®%) Vgl. B. 178. „Nach demjenigen, was in der Deduktion der Kategorien 
gezeigt worden, wird hoffentlich niemand im Zweifel stehen u. 8. w, .. # 


Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 173 


Kant meint, Niemand werde sagen, „die Kausalität, könne auch 
durch Sinne angeschaut werden und sei in der Erscheinung ent- 
balten.“ 1) Wo ist sie denn enthalten? Im reinen Verstande! 
Aber weshalb geht dieser nicht auf Erscheinungen? Doch offen- 
bar nur aus dem einzigen Grunde, weil eben die Sinnlichkeit allein 
das Prinzip der Erscheinungen ist, der Verstand, die Intelligenz, 
aber mit dem Intelligibeln ursprünglich zusammengehört. Hier 
also stehen wir wieder im engsten Zusammenhange mit der vor- 
kritischen Dogmatik. 

Die Kr. d. r. V. brauchte doch überhaupt von einem Dinge 
an sich garnichts zu wissen, wenn sie konsequent kritisch in 
allen ihren Teilen wäre! Dann aber geht es nicht mehr an, die 
Anschauungsformen als rezeptiv, die Verstandesformen als spontan 
zu betrachten. Dann fragt es sich nur, nachdem die Anschau- 
ungen des Raumes und der Zeit als apriorisch erwiesen worden 
sind, welcher notwendigen Ergänzung sie noch bedürfen, um das 
Ziel der Objektivität zu erreichen, welche Methoden das erkennende 
Bewusstsein ausserdem anzuwenden habe, um diejenigen Pro- 
bleme zu lösen, die ihm Raum und Zeit stellen, resp. übrig- 
lassen. Unter diesem Gesichtspunkte erscheinen dann Sinnlichkeit 
und Verstand nicht mehr als feindliche Antipoden, die zu ihrer 
transscendentalen Eheschliessung des schematischen Priesters be- 
dürfen, sondern im Gegenteile als ein sich ohne fremde Hülfe 
harmonisch zusammenschliessendes Paar von Methoden, deren jede 
den Teil ihrer gemeinsamen Arbeit übernimmt, welchen die andere 
nicht zu leisten vermag. So wird jenes geforderte Ineinander als 
ein teleologisches Ineinanderarbeiten verstanden, bei welchem gar 
nicht erfordert, ja nicht einmal erwünscht ist, dass jeder Teil mit 
dem andern wesensgleich gemacht werde. Keineswegs aber soll 
das Zusammen als eine teilweise Übereinstimmung gedacht werden. 

Weshalb fragt denn auch Kant garnicht danach, wodurch die 
Beziehung von Raum und Zeit zu einander ermöglicht werde? 
Das „Neben“ und das „Nach“ sind genau so ursprünglich ge- 
schieden, wie das „Nach“ und die sogen. „Kategorie“. Und was 
bedeutet der Ausdruck der „Subsumption“ im Zusammenhange des 
Schematismus? Hier steckt noch ein dogmatischer Rest; aller- 
dings ganz anderer Herkunft. In der scholastischen Logik ist 
eine Vereinigung nur als Subsumption von Begriffen denkbar, und 


1) B. 177. 
Kantetudien XII, 18 


174 W. Zschocke, 


in diesem Falle ist allerdings das Übereinstimmen in einem Merk- 
mal, wie bei Teller und Zirkel in dem der Rundung,') notwendig, 
um die Subsumption zu vollziehen. Aber will ich denn Anschau- 
ungsformen den Verstandesformen ,subsumieren“? Keineswegs! 
In dem teleologischen Zusammenhange der Erkenntnisvoraussetz- 
ungen ist von einer ,Subsumption der einen unter die andern 
keine Rede. Ergänzen sollen sie sich; die in dem einen Erkennt- 
nisfaktor vermisste und unerfüllte (gleichsam dialektisch angelegte 
und geforderte) Bedingung soll der andere hinzufügen, sodass sich 
alle zu einem einheitlichen Systeme zusammenschliessen. 

Die Darstellung dieser Zusammenhänge bildet den Inhalt des 
folgenden Teiles. Während Kant Kategorien und Anschauungs- 
formen aus Verstand und Sinnlichkeit getrennt ableitet und dann 
im Schematismus vereinigen möchte, will ich zu beweisen ver- 
suchen, dass schon in der Ableitung selbst die Vereinigung im 
Sinne der Ergänzung implieite enthalten sein müsste. Hierbei 
wird sich ergeben, dass die Darstellung, welche ich zu Anfang 
dieses Kapitels von dem Aufbau des Kantischen Systemes bis 
zum Schematismus gegeben habe, nur teilweise richtig ist; jedoch 
kam es an jener Stelle einzig darauf an, die Gedankepreihen 
herauszuheben, welche die Lehre von Schematismus tragen. 
Wenn ich jetzt abermals daran gehe, die Grundlagen der Ver- 
nunftkritik zu mustern, so werde ich nun gerade darauf mein 
Augenmerk richten, was den Schematismus überflüssig macht, und 
worin, wie ich glaube, der eigentliche Kern des Kantischen 
Denkens beschlossen liegt. Daraus resultiert meine Überzeugung, 
dass die hier vorgetragene Meinung im letzten Grunde mit Kants 
Gedanken in einer viel engeren Verwandtschaft steht, als die an- 
scheinend radikale Polemik gegen seinen Hauptbegriff, den der 
Kategorie, vermuten liesse. 


1) B. 176. 











Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 175 


IL. Teil. 


1. Kapitel. 


Der eine Stamm der menschlichen Erkenntnis: 
die Sinnlichkeit. 


Was haben wir unter Anschauung zu verstehen? Diese 
Frage scheint zunächst leicht zu beantworten zu sein: Raum und 
Zeit als die rezeptiven Formen unserer apriorischen Sinulichkeit.!) 
Des näheren führt Kant aus, dass wir es dann mit der Form 
der Anschauung zu thun haben, wenn die Anschauung nichts enthält 
„als blosse Verhältnisse.) Raum und Zeit sind also Anschauungs- 
verhältnisse oder, um es spezieller auszudrücken: Raum und Zeit 
enthalten das als mannigfaltig gegebene Material der Empfind- 
ungen,®) welche durch dieses Enthaltensein zueinander in Be- 
ziehung treten. 

Dadurch wird zweierlei mit Raum und Zeit in engere Ver- 
bindung gebracht: Einmal die Empfindungsinhalte und 
zweitens deren Form, die Mannigfaltigkeit. Wir wollen 
untersuchen, in welchem Verhältnis Raum und Zeit zu diesen 
beiden Faktoren stehen. 

Was zunächst ihr Verhältnis zu den Empfindungsinhalten 
angeht, so werden gerade in Bezug bierauf Raum und Zeit mit 
dem Prädikate der Rezeptivität ausgestattet.) Und weil nun der 
Verstand nach Kant spontan gedacht wird, so entsteht eine ge- 
wisse Stufenfolge und Überordnung zwischen reiner Sinnlichkeit 
und reinem Verstande, entsprechend ihrer Stellung zu dem Em- 
pfindungsmateriale.5) Danach wird der Verstand das „obere“ Er- 
kenntnisvermögen genannt,®) dementsprechend der Sinnlichkeit der 
Titel des „unteren“ Erkenntnisvermögens zufällt. Denn diese 
rückt dem Empfindungsmateriale dadurch näher, dass in ihr allein 
uns Gegenstände gegeben werden, wohingegen der Verstand die- 
selben denkt; „weil die Bedingungen, worunter allein die Gegen- 


13° 


angeht, so hat er allerdings in Kants System eine | 
dann aber kann er nur das bedeuten, was Kant sonst die mögliche 


anderen Worten: Sobald wir die Erkenntnismethoden als a priori, 
vor aller Erfahrung gegeben ansehen, dürfen wir sie spontan 





Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 177 


wire es überhaupt besser, diese Terminologie ganz aufzu- 
da sie gar zu leicht irre führen kann. 
| Jedenfalls ist das Verhältnis von Raum und Zeit zu den 
‘Empfindungsinhalten prinzipiell kein anderes als das der Erkennt- 
nisformen überhaupt zu den Inhalten; beide Methoden stehen als 
Formen dem Inhalte gleichwertig gegenüber. Denn beide sind 
nur in engsten Wechselbeziehungen zu einander aufzufassen. 

Wie steht es nun zweitens mit der Mannigfaltigkeitsform, 
welche mit Raum und Zeit im Zusammenhange auftritt? Sie ist 
für unsere Zwecke von ungleich erheblicherer Bedeutung. Bei 
ihrer Zergliederung sehen wir uns ebenfalls gezwungen, über die 
transscendentale Ästhetik hinauszugehen. Aber diesmal können 
wir uns auf Kant selbst berufen, da er in der transscendentalen 
Analytik die transscententale Ästhetik selber überwand. 

Wenn wir von dem gegebenen Inhalte absehen, so bleiben 
uns noch zwei Bestandteile für die reine Anschauung. Einmal 
der, den jenes nicht weiter definierbare „Nach“ und „Neben“ aus- 
drückt, und dann die Mannigfaltigkeitsform. In dem „Nach“ und 
„Neben“ müssen wir offenbar dasjenige erblicken, was spezifisch 
„anschaulich“ ist; wir können es nicht weiter zurückführen, wir 
sind uns dessen unmittelbar bewusst und wissen keinen Grund 
anzugeben, warum gerade hierin allein das Empirische gegeben 
wird. Doch folgt etwa hieraus, dass dieses „Nach“ und „Neben“ 
‘auch ein gänzlich voraussetzungsloses Bestehen für sich allein 
einschliesse? Ich meine, können wir die blosse Anschauung 
des Nach und Neben erfassen, d. h. bloss jene typische Direktion, 
welche in ihnen ausgedrückt ist, ohne dass diese Direktion ausser 
einem zugehörigen Inhalte für die Anwendung noch anderer 
Formen zur Voraussetzung bedürfe? Ist die Form des anschau- 
lichen „Nach“ und „Neben“ eine selbständige und von anderen 
Formen unabhängige Form? Nein!!) Schon in dem Ausdrucke 
der „Direktion“ ist die Bedingung angedeutet, welche die blosse 
Anschauung zur Voraussetzung hat. Eine Direktion ist nur denk- 
bar zwischen zwei Punkten, das heisst zwischen einer Mannig- 
faltigkeit! Wenn ich daher den Begriff des Neben und Nach zu 
Ende denke, stosse ich notwendigerweise auf den Begriff eines 
„Vielen“ überhaupt. Nun setzt aber die Vielheit wiederum den 


1) Dagegen Kant, B. 198: „die Anschauung bedarf der Funktionen 
des Denkens auf keine Weise.“ 





178 W. Zschocke, 


Begriff der Einheit voraus; denn ohne die Zusammenfassung ist 
das Hinausgehen über das Eine zum Vielen unmöglich.!) Vielheit 
und Einheit sind Korrelate, sie drücken ein Verhältnis aus, und 
zwar das einfachste Verhältnis unter allen möglichen, dasjenige, 
welches unumgängliche Voraussetzung aller anderen Verhältnisse 
ist. Dadurch ist dies Verhältnis auch Voraussetzung von Zeit 
und Raum, welche, wie wir vorher sahen, Kant als „Verhältnisse“ 
bezeichnet. Es ergiebt sich, dass die Anschauungsformen ganz 
spezielle Verhältnisse ausdrücken, während in dem Begriffe der 
Mannigfaltigkeit das allgemeinste Verhältnis überhaupt ange 
geben wird. 

Werfen wir jetzt noch einen kurzen Blick rückwärts auf 
jenes Prädikat der Rezeptivität, welches Kant der Sinnlichkeit 
beilegt. Wie ist es wohl zu denken, dass mit einer Verhältnis- 
vorstellung als solcher Passivität verbunden sei?! Wenn ich aus 
A in der Weise des Nach und Neben heraus- und hinübergehe zu 
B, ist dieses Verhalten mit dem Begriffe des Empfangens verein- 
bar? Im Gegenteil, es ist allein als eine Thätigkeit zu bezeichnen, 
sonst verlieren diese Worte jeden verständlichen Sinn! 

Ich gehe jetzt weiter: jene Mannigfaltigkeit in ihrem Be- 
zogensein auf Einheit nennt Kant Synthesis und im Gegensatze 
zu Affektionen der Sinnlichkeit Funktion des Verstandes.?) 

„Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Hand- 
lung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu 
ordnen.“2) 

Demgemäss wäre die Mannigfaltigkeitsform eine Funktion zu 
nennen und als solche dem Verstande zuzurechnen. Nun setzen 
Raum und Zeit diese Form voraus; folgt nicht hiernach, dass die 
Anschauungsformen den Verstand zur Bedingung ihres Bestehens 
machen? Kant hat sich selber dies Problem gestellt. In § 26 
sagt er in einer Anmerkung: *) 

„Der Raum, als Gegenstand vorgestellt, (wie man es wirklich 
in der Geometrie bedarf), enthält mehr als blosse Form der An- 
schauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach 
der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine anschauliche Vor- 
stellung, sodass die Form der Anschauung bloss Mannigfaltiges, 


1) B. 130. 
*) B. 1021108. 
SB. 98. 
‘) B. 161. 


Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 179 


die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung giebt. 
Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik bloss zur Sinnlichkeit 
gezählt, um nur zu bemerken, dass sie vor allem Begriffe vorher- 
gehe, ob sie zwar eine Synthesis, die nicht den Sinnen 
angehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit 
zuerst möglich werden, voraussetzt. Denn da durch sie (indem der 
Verstand die Sinnlichkeit bestimmt [!)) der Raum oder die Zeit 
als Anschauungen zuerst gegeben werden, so gehört die Einheit 
dieser Anschauung a priori zum Raum und der Zeit, und nicht 
zum Begriffe des Verstandes.“ 

Schon vorher!) führt Kant in Übereinstimmung mit der s0- 
eben mitgeteilten Anmerkung anfs deutlichste aus, dass der Raum 
der Geometrie unter eine synthetische Einheit des Bewusstseins 
gebracht werden müsse. „Um aber irgend etwas im Raume zu 
erkennen, z. B. eine Linie, muss ich sie ziehen, und also eine be- 
stimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu 
Stande bringen, so, dass die Einheit dieser Handlung zugleich die 
Einheit des Bewusstseins Jim Begriffe einer Linie) ist, und da- 
durch allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt wird.“?) 

B. 162 heisst es: „Eben dieselbe synthetische Einheit aber, 
wenn ich von der Form des Raumes abstrahiere, hat im Verstande 
ihren Sitz.“ Hiernach also bedarf die Geometrie eines verstandes- 
mässigen Elementes. 

Nun vergleiche man dies: „In der transscendentalen Ästhetik 
also werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren, dadurch, dass 
wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei 
denkt.“ ®) 

Und: „Zeit und Raum sind demnach zwei Erkenntnisquellen, 
aus denen a priori verschiedene synthetische Erkenntnisse ge- 
schöpft werden können, wie vornehmlich die reine Mathematik 
in Ansehung der Erkenntnis vom Raume und dessen Verhältnissen 
ein glänzendes Beispiel giebt.*“) 

Aus diesen beiden Stellen ersehen wir, dass Kant in der 
Ästhetik ohne jegliche Verstandeselemente die Geometrie dedu- 


1) B. 187|88. 

*) Vgl. Fortschritte (Dürrsche Ausgabe) S. 102, wo Raum u. Zeit nur 
durch die tr. Einht. d. App. objektiv werden, ohne welche ,wir garnichts 
von ihnen aussagen könnten.“ 

2 B. 86. 

 B. 65. 


Nun wird ihm im Fortgange seiner Untersuchung bewusst, 

der Raum, wenn man mit diesem Begriffe die Vorstellung 

„unendlichen gegebenen Grüsse“?) verbinden soll, schon die 

und Einheit der Apperzeption erfordert. Und da diese erforder- 

liche Verbindung von rezeptiven Anschauungsformen und | 

nn Urfunktion des Verstandes®) rätselhaft bleibt, so muss 
die „Einbildungskraft“ zur Hülfe gerufen werden als ein drittes 

Vermögen der Vermittlung. An einer Stelle) heisst es: „Diese 

Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Auschauung, die apriori 

— und Pine ae falls Betas ee 





Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 181 


transscendentale Einheit geht, welche in den Kategorien gedacht 
wird, muss, zum Unterschiede von der bloss intellektuellen Ver- 
bindung, die transscendentale Synthesis der Einbildungskraft 
heissen“ . .. 


Diese Stelle ist nur so zu verstehen, dass die Einbildungskraft 
von der Verstandesverbindung (synthesis intellectualis) zur Anschau- 
ung herüberleitet: Kant spricht von der „transscendentalen Synthesis 
der Einbildungskraft“, „welches eine Wirkung des Verstandes auf 
die Sinnlichkeit“ ist.!) Hier steckt schon in nuce das ganze Pro- 
blem, das der Schematismus später aufwirft; jedoch dies kann ich 
erst dann des näheren erläutern, wenn ich das Verhältnis der Kate- 
gorien zur transscendentalen Einheit der Apperzeption besprochen 
habe, da ja der Schematismus von einer Subsumption der An- 
schauungen unter reine Verstandesbegriffe redet, und hier nur die 
Einheit der Apperzeption mit den Anschauungen durch das tertium 
der synthesis speziosa verbunden wird. Soviel aber ist sicher, 
dass, wenn meine Behauptung richtig ist, es sei hier schon der 
Schematismus zu fixieren,*) Kant das in ihm enthaltene Problem 
auf jeden Fall schon in der Deduktion zu lösen hatte, nicht aber 
erst in dem zweiten Buche der Analytik, das von den Grundsätzen 
handelt. 


Jetzt möchte ich noch hervorheben, dass der Begriff der 
Einbildungskraft genau jene schwankende Bedeutung aufweist, 
welche ich oben für die Bedeutung des Schemas hervorhob. Zu 
diesem Behufe stelle ich fünf Stellen nebeneinander, welche in 
kurzem Abstande in der Analytik zu finden sind: 


„Die Synthesis überhaupt ist . . . die blosse Wirkung der 
Einbildungskraft.“®) 

„Das erste reine Verstandeserkenntnis also . . . ist nun der 
Grundsatz der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apper- 
zeption.“é) 


» Verbindung ... ist allein eine Verrichtung des Verstandes.“5) 


1) B. 162. 

3) Es stimmt hiermit übrigens auch Kants Anweisung B. 181 überein, 
wo er das Schema „Ein transscendentales Produkt der Einbildungskraft“ 
nennt. 

$) B. 108. 

*) B. 187. 

5) B. 184|188. 


182 W. Zschocke, 


„Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die 
Einbildungskraft . . . zur Sinnlichkeit.*?) 

„So ist die Einbildungskraft ... ein Vermögen, die Sinnlichkeit 
apriori zu bestimmen . . . die transscendentale Synthesis der 
Einbildungskraft..., welches eine Wirkung des Verstandes auf die 
Sinnlichkeit“ ist.?) 

Sonach vereinigt die Einbildungskraft sowohl Verstand als 
Sinnlichkeit unter sich, bald wird sie dem einen Erkenntnisfaktor, 
bald dem anderen zugezählt, und schliesslich wird sie als eine 
Wirkung des einen auf den anderen charakterisiert, woraus erhellt, 
dass in ihr nichts weiter als der Gedanke zum Ausdruck komat, 
es solle der Verstand mit der Sinnlichkeit in Beziehung gesetzt 
werden.5) Wie diese Beziehung zu denken sei, darüber finden wir 
in jenem Vermögen keinen sicheren Aufschluss. 

Jedenfalls aber hat Kant in der Einbildungskraft einen Be- 
griff gefunden, welcher es ihm ermöglicht, die Resultate und die 
Terminologie der transscendentalen Ästhetik beizubehalten, ohne 
mit den Ausführungen der transscendentalen Analytik in offen- 
kundige, unvereinbare Widersprüche zu geraten. Denn wenn man 
ihm vorhalten würde, dass doch schon Raum und Zeit ein Ver- 
standeselement erforderlich machen, sofern man deren Begriffe zu 
Ende denkt, hätte Kant die Entgegnung in Bereitschaft, dass es 
eben jene sinnliche Einbildungskraft ist, welche die Synthesis für 
Raum und Zeit liefere. 

Doch ich will diese Terminologie Kants nicht gebrauchen, 
da sie nur zu geeignet ist, Probleme zu verschleiern. Vielmehr 
fasse ich das Resultat der bisherigen Untersuchung folgender- 
massen zusammen. 

I. Die transscendentale Ästhetik kann für sich allein nicht 
bestehen bleiben, bedarf vielmehr einer Vervollständigung und 
Umgestaltung durch die transscendentale Logik.) 

Die Frage: Was haben wir unter reinen Anschauungen zu 
verstehen, darf nicht mehr im Sinne der transscendentalen Ästhe- 
thik beantwortet werden: Raum und Zeit sind gleich den rezep- 
tiven Formen unserer apriorischen Sinnlichkeit. 


1) B. 161. 
2) B. 152. 
3) A. 1. 
*) cf Riehl, Kritizismus L 885 und 386. 


Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 183 


Sondern, sofern Raum und Zeit die Mathematik begründen, 
sind sie keineswegs blosse Anschauungen; sie enthalten vielmehr 
notwendig ein verstandesmässiges Element: die Synthesis und die 
transscendentale Einheit der Apperzeption. 

„Dass sie“ (nämlich die transscendentale Einheit der Apper- 
zeption) „diesen Namen verdiene, erhellet schon daraus: dass selbst 
die reineste objektive Einheit, nämlich die der Begriffe apriori 
(Raum und Zeit), nur durch Beziehung der Anschauungen auf sie 
möglich sind.!) 

II. Ferner sind Raum und Zeit nicht als rezeptiv zu ver- 
stehen, sondern eben wegen ihrer Beziehung zur Verstandesfunk- 
tion der Synthesis sind sie ebenso spontan wie diese. 

II. Dasjenige, was im eigentlichen Sinne des Wortes reine 
Anschauung ist, d. h. was in Raum und Zeit ausschliesslich „an- 
geschaut“ wird, ist allein die „Direktion“ des „Nach“ und 
„Neben“. - 

Wohlverstanden! Nicht etwa das Nach-Einander! Das 
„Einander“ erfordert schon die Hülfe der Synthesis; das Eine 
und das Andere ist nicht zu denken ohne die Beziehung beider 
vermittelst eines Dritten. 

IV. Die Synthesis des Mannigfaltigen überhaupt, die in dem 
„Einander“ ausgedrückt wird, ist die Grundlage jedes Verhält- 
nisses.?) Demgegenüber bedeutet die Direktion des „Nach“ und 
„Neben“ eine Spezialisierung der Synthese, ein ganz bestimmtes 
Verhältnis. Dieses letztere bitte ich wohl zu beachten, da es uns 
bald von Erheblichkeit werden wird. 

Der Einfachheit halber und in Übereinstimmung mit Kants 
Formulierung in der ersten Anmerkung zu § 26 nenne ich den 
ganzen Komplex von Erkenntnismethoden, welche die reine Mathe- 
matik erstehen lassen, die formale Anschauung, d. h. also 
das Zusammen von 1. Form der Anschauung, d. i. des „Neben“ 
und „Nach“ mit 2. der Synthesis oder der Funktion der Beziehung 
einer Mannigfaltigkeit auf die transscendentale Einheit der Apper- 
zeption. 


ı) A. 107. Dies in dimentralem Gegensatz zu der Stelle: B. 133: 
„Denn die Anschauung bedarf der Funktionen des Denkens auf keine 
Weise.“ 

2) Vgl. W. Windelband, Vom System der Kategorien (Philosophische 
Abhandlungen. Chr. Sigwart zum 70. Geburtstage gewidmet. Tübingen; 
1900. 8. 48 ff.) 


184 W. Zschocke, 


Soweit es für unsere Zwecke benötigt wird, ist somit der 
Eine Stamm!) der menschlichen Erkenntnis besprochen, die Sinn- 
lichkeit als Vermögen der Anschauungen. Es bleibt noch der 
andere zu erledigen, der Verstand oder das Vermögen der Be- 


griffe. 


2. Kapitel. 
Der andere Stamm der menschlichen Erkenntnis: . 
Der Verstand. 


Was haben wir unter den reinen Verstandesbegriffen, unter 
den Kategorien, zu verstehen? 

Um diese Frage zu beantworten, wollen wir uns vergegen- 
wärtigen, woher Kant sie bekommt, und dann, welche Aufgabe 
sie zu lösen haben. 

Wie findet Kant seine Kategorien? Neben der Sinnlichkeit 
steht der Verstand, das Vermögen der Begriffe. „Von diesen Be- 
griffen kann nun der Verstand keinen andern Gebrauch machen, 
als dass er dadurch urteilt.“?) 

Das Urteil ist dementsprechend das Problem, um welches 
sich die ganze transscendentale Analytik gruppiert.5) Es gilt also, 
genau festzustellen, was ein Urteil ist. 

Nun hat aber Kant zwei verschiedene Theorien über das 
Wesen des Urteils, woraus die ausserordentliche Schwierigkeit für 
das Verständnis der Kategorien und deren mangelhafte Konstruk- 
tion resultiert. 


Kants erste Urteilstheorie. 

Um die eine von diesen Urteilstheorien, welche meiner Über- 
zeugung nach dauern wird, zu verstehen, soll uns zunächst eine 
Gegenüberstellung von Urteil und Anschauung behülflich sein. 

Die Einleitung zur transscendentalen Dialektik giebt uns den 
Kernpunkt, auf den es ankommt. Nach ihr treten Wahrheit und 
Irrtum niemals in einer Anschauung auf.*) Die Vorstellung der 
Sinne ist rein subjektiv, und da sie folglich keinen Anspruch auf 
Geltung erhebt, so kann sie nicht vor dem Richterstuble der 


93. 
94. 
360 f. 


Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 185 


Wahrheit verurteilt werden. Erst indem ich urteile, setze ich 
eine Beziehung zur Norm, erst das Urteil trägt die Vorstellungen 
aus dem Bereich der Subjektivität in dasjenige der Objektivität 
hinüber; meine Vorstellungen habe ich, meine Urteile behaupte 
ich; was ich habe, kann man nur versuchen, mir zu entreissen; 
erst und allein, was ich behaupte, kann man versuchen, mir zu 
widerlegen. Kant führt diesen Gedanken näher aus:') Eine Vor- 
stellungsbeziehung trägt nur dann die Dignität eines Urteiles an 
sich, wenn sie unter der „objektiven Einheit der Apperzeption“ 
steht: „Dadurch allein wird aus diesem Verhältnisse ein Urteil, 
d.i. ein Verhältnis, das objektiv gültig ist“?) ... Und „darauf zielt 
das Verhältniswörtchen „ist“ in denselben, um die objektive Einheit 
gegebener Vorstellungen von der subjektiven zu unterscheiden.“®) 
Das Beispiel, welches Kant giebt, ist zwar nicht in jeder Be- 
ziehung unangreifbar, aber was er meint, wird dadurch deutlich, 
und ich führe es deshalb an, weil es zugleich ein Kuriosum zur 
Widerlegung seiner eigenen Urteilstafel enthält, das genau den 
wunden Punkt trifft, an welchem die ganze Urteils- und Katego- 
rienlehre krankt: „Nach den letzteren [gemeint sind die Gesetze 
der subjektiven Assoziation in der blossen Wahrnehmung] würde 
ich nur sagen können: wenn ich einen Körper trage, so fühle 
ich einen Druck der Schwere; aber nicht: er, der Körper, ist 
schwer.“) — In dem ersten „Satze“ (wie ich ihn im Unter- 
schiede zum Urteile nennen will) meint Kant, wird nichts Objek- 
tives gesagt; und weshalb? Bloss weil ich die Behauptung hypo- 
thetisch auf mich selber eingeschränkt habe. Nun kann ich aber 
erwidern: dieses Ich, von welchem hier die Rede ist, repräsentiert 
ein Stück der empirischen Wirklichkeit. Es ist keinenfalls das 
logische Subjekt, welches in dem ganz unpersönlichen „ich denke* 
alle meine Vorstellung „muss begleiten können“.s) Folglich wird 
in dem vorliegenden hypothetischen Satze ein Verhältnis behauptet, 
zwischen einem Druckgefühl und dem einen Körper tragenden 
Ich. Man kann ohne weiteres den Sinn dieses hypothetischen 
Satzes so umformen, dass aus ihm ein Urteil entsteht, in dem auch 
jenes Verhältniswörtchen „ist“ auftritt, das auf objektive Einheit 


4) 8 19. 
2) B, 1411142. 
5) B. 142. 
+) B. 14, 
5) B. 181. 





186 W. Zschocke, 


zielt: „Das Tragen eines Körpers en 
Gefühl der Schwere.“ 

Dies ist aber zweifellos nicht derjenige Sinn des Satzes, den 
Kant meinte; dieser Sinn entspricht ja völlig allen Anforderungen, 
die er an ein „Urteil“ stellt; und aus dem hypothetischen Satze 
wäre ein Urteil geworden. Kant wollte etwas anderes ausdrücken: 
Die Vorstellungsbeziehung zwischen dem Druck der Schwere und 
dem Tragen eines Körpers sollte nicht objektiviert werden, sie 
sollte in dem Bewusstsein eines Individuums lediglich da sein. 
Aber ist dies überhaupt möglich, wenn ich die Vorstellungs- 
beziehung in die Form eines Satzes kleide? Genügt hierzu schon 
die Einschränkung durch die Form der Hypothese? Nein, denn 
jeglicher Satz, welcher Art er auch sei, wird dadurch, dass ich 
ihn aufstelle, bejaht oder verneint, damit aber in Beziehung zur 
Objektivität und Gegenständlichkeit gebracht. Denn wie durch die 
neuere Logik (Sigwart, Brentano, Lotze, Bergmann, Windelband, 
Rickert) bewiesen ist, hat die Qualität des Urteiles jedenfalls nur 
insofern zwei Seiten: die Bejahung und die Verneinung, als das 
hypothetische Urteil nicht ein drittes gleichberechtigtes Glied 
neben jenen beiden ist, sondern sich bei näherer Analyse jederzeit 
als eine positive Aussage über eine Vorstellungsbeziehung erweist. 
Ausserdem aber hat die Klasse der Qualität noch insofern eine 
ganz besondere Stellung, als in ihr dasjenige zum Ausdruck ge- 
langt, was den typischen Unterschied zwischen subjektivem und 
objektivem überhaupt ausmacht. Die Subjektivität nämlich liegt 
allein in der Sphäre des Vorstellens; die Beziehung zur Objektivi- 
tät tritt sofort auf, sobald die Vorstellungen in ein Urteil gefasst 
werden, mag in diesem Urteile inhaltlich auch immer eine hypo- 
thetische Einschränkung enthalten sein. Hier handelt es sich 
keineswegs um den Unterschied der Wahrheit und Falschheit, in 
inhaltlicher Beziehung; es kommt nicht darauf an, ob das Gefühl 
der Schwere thatsächlich auftritt oder nicht, sondern es interessiert 
uns nur die Frage, wann das theoretische Verhalten keinen An- 
spruch auf Objektivität erhebt, und wann im Gegenteile es sich 


ein blosses Vorstellen oder Bezi shen 
vorliegt. 


Verlangen ausgesprochen 
Und das Urteil, d. b. 


| 





Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 187 


jeder Satz, welcher eine Bejahung oder Verneinung enthält, be- 
zieht das rein vorstellungsmässige Gebilde auf den Wert, welcher 
die Schranken der Subjektivität überwindet; denn im Bejahen 
drücke ich aus, dass .der Vorstellungsinhalt Gültigkeit und Not- 
wendigkeit habe, in der Verneinung verwerfe ich sie. 

Kants inhaltliche Einschränkung auf das individuelle Subjekt 
ist als solche ohne Belang, wofern dieser Satz als ein gültiger 
ausgesprochen werden soll. Denn das individuelle Subjekt ist 
selber ein Stück des empirischen Seins, eine Objektivität. Also 
fällt das logische Subjekt in diesem Falle ein Urteil über ein 
Stück der empirischen Wirklichkeit, welches prinzipiell vor allen 
andern keine Sonderstellung einnimmt. Eine Restriktion im In- 
halte des Urteils hilft uns noch garnichts, um die Subjektivität 
gegen die Objektivität abzugrenzen; wir müssen vielmehr formal 
aus der Urteilsform herauskommen. Dies geschieht dadurch, dass 
wir überhaupt nicht urteilen, und nur dadurch. Bewusstseins- 
inhalte und deren Verknüpfungen sind allein subjektiv; nie aber 
Urteile, und mögen sie sich noch so sehr inhaltlich auf eine indi- 
viduelle Thatsache einschränken. Als Urteile setzen sie immer 
die Bejahung oder Verneinung des Wertvollen oder Wertwidrigen 
voraus; auch das Thatsachenurteil ist seinem logischen Sinne nach 
vom Werte abhängig; und so ist das Urteilen nur in einem Wert- 
zusammenhange möglich, dadurch aber immer auf Objektivität be- 
zogen, und Objektivität ist ein Wertbegriff.') 

Kant konnte also auf die reine Assoziation in der bloss 
subjektiven Wahrnehmung solange nicht unbedingt korrekt exem- 
plifizieren, als er sie in einem bejahten Satze formulierte. Nichts- 
destoweniger wird jedermann verstehen, was Kant meinte, nämlich 
die blosse Assoziation in der Wahrnehmung vom Tragen des 
Körpers und dem Gefühl der Schwere, im Gegensatze zu der 
Behauptung, dass Schwere und Körper im Objekte verbunden seien. 

Der Gegensatz also von subjektiv und objektiv fällt zu- 
sammen mit dem Gegensatze von Vorstellungssynthese und Be- 
jahung dieser Synthese. Wie ginge auch Kant sonst über Hume 
hinaus! Die Geltung der einzelnen assoziativen Vorstellungsver- 
knüpfungen hatte Hume zum Problem gemacht und durch eine 
Betrachtung in der Sphäre des Seins zu erledigen gesucht. Kant 
sah ein, dass das Sein von dem Gelten abhängt, dass erst im Urteile 


') Vgl. Rickert, Gegenstand der Erkenntnis, 2. Aufl., 1906, S. 105, 180. 


188 W. Zschocke, 


ein Verhältnis ausgedrückt wird, welches objektiv „gültig“ ist, dass 
im Vorstellen allein nie Objektivität auftreten kann. Die blossen 
Vorstellungsverhältnisse haben noch garnichts mit Objektivität 
zu thun. Erkenntnistheoretisch ist „objektiv“ von „gültig“ ab- 
hängig. Kant also hebt hier, streng beim Wort genommen, die 
Sphäre des Geltens über die Sphäre des Seins hinaus, giebt ihr 
die logische Priorität; d. h. er behandelt die Frage nach der 
Geltung der assoziativen Vorstellungsbeziehungen als ein Wert- 
problem. Hume sah nicht ein, dass zwischen Urteilen und Asso- 
zieren ein prinzipieller Unterschied bestünde, Kant war der erste, 
welcher ihn kritisch zu verwerten verstand. 


Kants zweite Urteilstheorie. 

Aber Kant hat diesen Unterschied leider nicht immer mit 
voller Schärfe gemacht: Urteilen und Assozieren gehen gar zu 
oft in einander über; denn Assoziation im weitesten Sinne ist 
Synthese, und die Funktion der Synthesis ist die Grundlage des 
Verstandes. Demgemäss definiert Kant anderwärts!) das Urteil 
erheblich anders als wir eben gesehen haben: „Alle Urteile sind dem- 
nach Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen.“ In dem 
ersten Zusammenhange hatte Kant unter „Urteil“ nur dasjenige Ver- 
hältnis von Vorstellungen verstanden wissen wollen, welches zur ob- 
jektiven Einheit der Apperzeption gebracht wird; keineswegs die 
blosse Einheit unter unseren Vorstellungen. Nun könnte man 
vielleicht diese letztere Bestimmung nur als eine vor! an- 
sehen, weil sie in dem Leitfaden der Entdeckung aller reinen 
Verstandesbegriffe aufgestellt wird, während die andere, strengere 
Anforderung an das Wesen des Urteils erst später, im Zusammen- 
hange der Deduktion®) auftritt. Aber diese Überlegung ist nicht 
von entscheidender Wichtigkeit; denn wir haben unser Interesse 
darauf zu richten, wo Kant seine Kategorien hernimmt; und dazu 
soll der Leitfaden der Entdeckung, nicht aber die transscenden- 
tale Deduktion die Mittel geben. Aufgefunden werden bei Kant 
die Kategorien an der Hand der Einheitsfunktion zwischen unseren 
Vorstellungen, nicht aber in derjenigen Handlung des Verstandes, 
welche die Vorstellungssynthesen zur Objektivität bringt; oder, 
um es modern auszudrücken: im Anschlusse an die rein „theore- 





Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 189 


tischen“, d. h. vorstellungsmässigen Bestandteile des Urteiles, 
nicht im Anschluss an das „praktische“ Moment der Bejahung. 
Und da die theoretischen Elemente genau ebenso in der Frage auf- 
treten wie in der Bejahung oder Verneinung, so wäre es prinzipiell 
gleichgültig gewesen, ob Kant seine Kategorien mit Hülfe einer Tafel 
der Fragen errichtet hätte oder mit einer Tafel der Urteile. Ferner 
ist es gänzlich ohne Belang, ob die Kantische Urteilstafel aus ob- 
jektiv gültigen oder ungültigen Urteilen besteht; soviel ist jeden- 
falls sicher: da einmal Kant in seiner Urteilstafel allein auf die 
rein theoretische Synthese sein Augenmerk richtete, so können die 
ihr entsprechenden Kategorien auch nur die rein theoretischen 
Beziehungsarten zum Ausdruck bringen, ohne auf die Objektivität 
der Beziehungen den mindesten Einfluss auszuüben. Dies letztere 
könnte nur dann der Fall sein, wenn in der Kategorie das trans- 
scendental-philosophische Korrelat zu dem praktischen Elemente 
des Urteils enthalten wäre, dessen logischer Ort in der Bejahung 
liegt. Bei Kant kann die Kategorientafel wohl alle die verschie- 
denen Formen aufzeigen, in denen die objektive Natur gedacht 
wird; nicht aber kann die Kategorie auch das mitenthalten, was 
jene Gedanken, jene Urteile zur Basis einer objektiv notwen- 
digen Natur macht, was sie über die subjektive Zufälligkeit 
erhebt. 

Aber geben denn überhaupt erst die Urteilssynthesen die 
gewünschten Formen der Verknüpfung? Wie, wenn wir des Ur- 
teils hierzu garnicht benötigen? Wir hatten doch in dem ersten 
Kapitel dieses Teiles gesehen, dass schon Raum und Zeit zur 
Begründung ihrer Gegenständlichkeit eine Funktion der Synthesis 
bedürfen, die der Einbildungskraft zugeschrieben wurde, jenem 
etwas unbestimmten „Vermögen“, von den wir nicht recht wussten, 
ob es zum Verstand oder zur Sinnlichkeit gehöre. Ich will ver- 
suchen, zu zeigen, dass wir die Urteile garnicht brauchen, um 
„die Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen“ zu 
entdecken, dass vielmehr hierzu die beiden Formen unserer aprio- 
rischen Anschauungen mit Einschluss der Voraussetzungen, welche 
ich als logisch gefordert darzustellen, mich bemüht habe, völlig 
genügen. Es käme also darauf an, festzustellen, ob in den „for- 
malen Anschauungen“ schon alles gegeben ist, was die Urteils- 
synthesen erst aufdecken sollen. 

Um diesen Beweis zu führen, muss ich einen Umweg über die 
Grundsätze des reinen Verstandes machen. Sie enthalten die 

Kentetudien XII, 18 


190 W. Zschocke, 


Grundurteile der mathematischen Naturwissenschaft, d. i. die An- 
wendung der apriorischen Formen des Verstandes auf die Gesamt- 
heit der empirischen Erscheinungswelt überhaupt. In ihnen ist 
das Ziel alles dessen erreicht, was sich Kant in der Ästhetik und 
Analytik erarbeiten wollte. Falls es nun gelingen sollte, fest- 
zustellen, dass diese Sätze auch dann formulierbar bleiben, wenn 
wir auf die Hülfe der Verstandessynthesen in dem Vorstellungs- 
komplexe der Urteile verzichten, uns also lediglich auf die 
Synthesen der formalen Anschauung stützen, so wäre doch offen- 
bar die Verstandessynthese überflüssig, und alles Überflüssige ist 
falsch, wenn es Anspruch auf selbständige Geltung erhebt. 


Bei diesem Geschäfte kommt uns die Beachtung einer In- 
konsequenz bei Kant sehr zu statten; denn streng genommen 
müssten wir von allen zwölf Grundsätzen den besprochenen Nach- 
weis führen. Doch obschon er ohne Schwierigkeiten zu erbringen 
ist, giebt es einen kürzeren und bequemeren Weg, den wir ein- 
schlagen wollen. Kant sagt!): „Die Funktionen des Verstandes 
können also insgesamt gefunden werden, wenn man die Funk- 
tionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann.“ 
Aber handelt er auch nach diesem Programme? Keineswegs! 
Weder Quantität noch Qualität, noch gar die Modalität eines 
Urteiles haben das geringste mit der Funktion der Einheit unter 
den Vorstellungen zu schaffen. Diese wird allein durch die Ko- 
pula hergestellt; an sie knüpft die Klasse der Relation an, in 
deren Namen schon der Hinweis ausgedrückt liegt, dass nur sie 
in Frage kommt. Infolgedessen brauche ich nur diese eine Klasse 
zum Gegenstand meiner Untersuchung zu machen; und da die 
Grundsätze über dem gleichen Schema wie die vier mal drei 
Kategorien aufgebaut sind, so darf ich mich auf die Analogien 
der Erfahrung beschränken.?) 


Die Grundsätze enthalten die Anwendung der Kategorien 
auf die empirische Erscheinungswelt überhaupt; in ihnen sollen 
sich die Verstandesformen in die Gesamtheit der inhaltlich erfüllten 
Erfahrung projizieren. Kategorien und Grundsätze unterscheiden 
sich darin, dass die Kategorien leere Formen des Verstandes sind, 


1) B. 9. 
2) Der Verfasser wollte hier noch begründen, warum er die Kate- 
gorie der Wechselwirkung zu besprechen, gleichfalls für unnötig hielt. 
Anm, des Herausgebers. 


Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 101 


die Grundsätze aber die kategorialen Begriffe in Urteile umbilden, 
welche den Inhalt der Erfahrung mitumspannen. 

Die erste Analogie lautet nun folgendermassen : 

„Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz, Bei allem 
Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum 
derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert.“!) 


Wie wird das jetzt bewiesen? Wir sollten annehmen, dass der 
Beweis nach folgendem Schema aufgebaut sein müsste: 

1. Die Kategorie der Substanz drückt eine verstandesmässig- 
begriffliche Einheit der Synthesis aus. 

2. Diese substantielle Synthesis unterscheidet sich durch 
einen gewissen Verstandesfaktor von den übrigen Kategorien, wo- 
durch gerade sie ihre Individualität erhält. Das Spezifische der 
Substanz-Synthesis wäre klarzulegen. 

3. Auf diese besondere Synthesis wäre die Gesamtheit der 
Erscheinungswelt zu beziehen. 

4. Hierbei müsste sich als Resultat der oben zitierte Satz 
ergeben. 

Anstatt dessen lautet der Beweis ganz anders: 

1. Die Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung 
ist jederzeit successiv, also immer wechselnd. 

2. Ohne ein Beharrliches ist kein Zeitverhältnis. 

3. Nun kann die Zeit an sich nicht wahrgenommen werden. 

4. Folglich muss in den Gegenständen der Wahrnehmung 
das Substrat anzutreffen sein, welches die „Zeit überhaupt“ vor- 
stellt, aber selbst nie wechseln kann. 

5. Dieses Substrat ist die Substanz. 

6. Folglich beharrt die Substanz bei unveränderlichem 
Quantum. 

In diesem Beweise Kants ist von der Anwendung eines Ver- 
standeselementes auf die Erscheinungswelt garnicht die Rede; es 

handelt sich dabei vielmehr darum, die Zeit überhaupt, d. i. ein 
Anschauungselement, in Zusammenhang mit der Erscheinungswelt 
zu setzen; wobei sich ergiebt, dass ein Beharrendes als not- 
wendige Voraussetzung für die Vorstellung der „Zeit überhaupt“ 
in den Gegenständen anzutreffen sein müsse. Dieses Beharrliche 
ist der Begriff der Substanz! 


2) B, 224, 





192 W. Zschocke, 


Hier scheint mir doch Kant einen wesentlich anderen Weg 
gewählt zu haben zur Entdeckung der Kategorie, als wie sein 
Leitfaden ihn vorschlug. Diesem entsprechend musste die Sub- 
stanz mit dem kategorischen Urteil in Verbindung gebracht 
werden; eine völlige Unbegreiflichkeit! In dem Beweise des 
Grundsatzes entpuppt sich die Kategorie der Substanz als die 
Bedingung für die Vorstellung der Zeit überhaupt. Weshalb 
konnte man da nicht kürzer gehen und direkt die „formale An- 
schauung“ weiter zergliedern, anstatt mit dem ganzen ungeheuren 
Apparat des Verstandesvermügens die ohnehin schon schwierige 
Untersuchung nur noch weiter zu belasten? Man hätte auch 
ohne die Urteilsanalyse die Substanz entdeckt! 

Weshalb aber thut Kant dies nicht? Ich habe den Grund 
schon früher genannt: Weil er nur aus demjenigen Teile des 
vollständigen Urteiles die Kategorien der Naturwissenschaft (!) 
ableitet, welcher lediglich die Synthese der Vorstellungen enthält, 
Aber ist denn die formale Anschauung nicht auch schon eine 
Synthese von Vorstellungen? Worin unterscheiden sich denn 
Kategorie und formale Anschauung? Darin auf jeden Fall nicht, 
dass in beiden eine verschiedene Funktion der Einheit anzutreffen 
wäre. Überhaupt erklärt doch Kant als das alleinige Prinzip 
jeder giltigen apriorischen Synthese die Anschauung: „Was ist nur 
aber dieses Dritte, als das Medium aller synthetischen Urteile? Es ist 
nur ein Inbegriff, darin alle unsere Vorstellungen enthalten sind, näm- 
lich der innere Sinn, und die Form desselben a priori, die Zeit.“') 
Die metaphysischen Synthesen bestehen bloss deswegen nicht zu- 
recht, weil ihnen das Band der Anschauungen fehlt. Die Mathe- 
matik aber und die Naturwissenschaft gelten nur, weil die aprio- 
rischen Ansch um gsformen ihre Synthesen möglich machen. Also 

r Naturwissenschaft (!), d. i. die aus 
aitete Kategorie, notwendig 
nschauung übereinstimmen, 

nt ja darauf an, dass die 





Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 198 


ist notwendig der Synthese gleich, die in der formalen Anschauung 
auftritt. 


Wir haben also gesehen: die Substanz lässt nach Kants 
eigner Darlegung sich gewinnen, auch ohne eine Analyse der Ein- 
heitsfunktionen des Verstandes im Urteile. 

Und die Kausalität? 

Ihr ist die zweite Analogie gewidmet: 

„Grundsatz der Erzeugung. Alles, was geschieht (anhebt 
zu sein) setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt.“!) 

Der in der zweiten Auflage hinzugekommene „Beweis“ hebt 
folgendes hervor: Wir können die Zeit selbst nicht wahrnehmen; 
daher können wir nicht gleichsam empirisch feststellen, was im 
Objekte vorhergehe, der Zustand A, oder der Zustand B; und 
ist ein scharfer Unterschied zu machen zwischen der Abfolge der 
Vorstellungen A und B in meiner Imagination und ihrer Abfolge 
im Objekte. Zum Begriffe der Erfahrung aber gehört, dass eine 
objektiv notwendige Abfolge von A und B erkannt werde. Hierzu 
verhilft mir nun nicht die blosse Vorstellung von A und B im 
inneren Sinne und in dessen Form, der Zeit. Vielmehr muss die 
zeitliche Reihe noch ein reiner Verstandesbegriff umformen und 
in die Objektivität überleiten, dadurch, dass er sie notwendig 
macht und einer Regel unterwirft. Dies leistet die Kausalität, 
folglich „geschehen“ in einer möglichen Erfahrung „alle Ver- 
änderungen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und 
Wirkung“.2) 

Hier scheint Kant den Ansprüchen viel vollkommener zu ge- 
nügen, die wir an den Beweis der Grundsätze stellen dürfen, als 
in der ersten Analogie: Hier ist es in der That der reine Ver- 
standesbegriff, welcher in seiner Anwendung auf die Erscheinungs- 
welt den betreffenden Grundsatz der reinen Naturwissenschaft er- 
giebt, und es ist zunächst nicht abzusehen, wie wir ohne ihn aus- 
kommen können. 

Doch betrachten wir einmal genauer, was denn eigentlich 
dasjenige ist, das über die formale Anschauung zur Objektivität 
hinausgeht: 

Kant unterscheidet eine zweifache Verknüpfung zwischen A und 
B durch die Einbildungskraft: 1. die unbestimmte, subjektive, in der 





194 W. Zschocke, 


es gleichgültig ist, ob der Zustand A vor B vorangeht oder um- 
gekehrt, und 2. das bestimmte objektive Verhältnis der beiden 
Zustände „dadurch als notwendig bestimmt wird, welcher derselben 
vorher, welcher nachher und nicht umgekehrt müsse gesetzt 
werden“.!) Diese Notwendigkeit fügt der reine Verstandesbegriff 
hinzu; denn nur in ihm kann sie erhalten sein, da sie nicht „in 
der Wahrnehmung liegt“*) Die subjektive Verknüpfung setzt 
also „die formale Anschauung“ voraus; die objektive Verknüpfung 
ausserdem noch die Kategorie. 

Da nun subjektive und objektive Verknüpfung in der Zeit 
sich nur durch den Gedanken der Notwendigkeit unterscheiden, 
welcher das Verbundensein im Gegenstande bewirkt, so folgt 
durch ein einfaches Substraktionsexempel, dass die Kategorie der 
Kausalität lediglich in diesem Gedanken der Notwendigkeit bestehe, 
herangetragen an die formale Anschauung der Zeit. 

Wie lässt sich aber dieses Resultat mit der Ableitung der 
Kategorie aus der Einheitsfunktion im Urteile in Einklang bringen? 
Nur auf einem einzigen Wege: durch die Annahme nämlich, dass 
die Synthese der vorstellungsmässigen Elemente im Urteile mit 
der Synthese in den Anschauungsformen gleichgesetzt wird; damit 
ist das Zugeständnis verbunden, dass die Synthese garnicht im 
Gebiete des „Verstandes“ liege, sondern im Bereiche der Sinnlich- 
keit, d. h. der „formalen Anschauung“; und wir können hierin 
eine Bestätigung jener strengeren Definition des Urteils erblicken, 
wonach Kant nur das als ein Urteil gelten lässt, was eine 
Vorstellungssynthese zur Objektivität führt; dem Verstande bleibt 
hiernach nicht mehr das Geschäft des Verknüpfens, er hat nur 
noch das des Objektivierens. Dies aber geschieht in Wahrheit 
durch den Gedanken der Notwendigkeit; und somit können wir 
allerdings die Kategorie dann noch aus dem Verstande und aus 
dem Urteile ableiten, wenn wir dem Verstande das „praktische* 
Moment des Bejahens und Verneinens zuzählen. Freilich, gerade 
unter „Verstand“ di Funktion des Bejahens zu verstehen, ist 


setzt sind und für das Bejahen at 
bleibt. 





Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 195 


So ist es der Kausalität nicht besser ergangen als der Sub- 
stanz: die in ihr ausgesprochene Synthese lässt sich gewinnen 
ohne Analyse der Einheitsfunktionen im Urteile: sie stammt aus 
dem, was Kant mit formaler Anschauung bezeichnet, nicht aus 
einer Urteils-Synthese des Verstandes. 


Noch einmal: die formale Anschauung der Zeit liefert uns 
schon die zeitliche Succession, die Synthesis, das Mannig- 
faltige, die Einheit desselben. Zur notwendigen Synthesis 
der Erfahrungswelt fehlt uns nichts mehr als der Gedanke 
der Notwendigkeit! Würde daher die Kategorie mehr enthalten 
als den blossen Gedanken der Notwendigkeit, so würden wir dies 
„Mehr“ garnicht brauchen können. 


In diesem Zusammenhange kommen wir auch wieder auf die 
Substanz zurück: Die formale Anschauung des Raumes nämlich 
enthält analog das räumliche Beisammen, das Mannigfaltige, die 
Synthesis und die Einheit desselben. Sollte vielleicht auch hier 
das Hinzutreten des Gedankens der Notwendigkeit die Kategorie 
ergeben, die Substanz? Wäre demnach die Substanz der Gedanke 
des notwendigen Beisammen der Accidenzen? 


In der That: was soll ich mir im Zusammenhange einer 
kritischen Erkenntnistheorie auf phänomenaler Grundlage unter 
dem Begriffe der Substanz noch anderes denken? Wenn ich 
transscendental-idealistisch nur den Standpunkt der Immanenz 
gelten lasse, so kann die Substanz garnicht mehr bedeuten als 
dieses notwendige räumliche Beisammen von Bewusstseinsinhalten; 
anderenfalls sie sich nur noch zu jenem unglückseligen Dinge an 
sich verdichten kann, das den wechselnden Accidenzen zum 
Grunde liegt. Aber die Berkeleysche Kirsche hat uns bewiesen, 
dass garnichts übrig bleibt, wenn ich von ihr alle Eigen- 
schaften abziehe. Auf dem Standpunkte der Immanenz 
lässt sich eben der Unterschied zwischen dem Zusammen 
verschiedener Accidenzen in einem objektiven Gegenstande und 
ihrem zufälligen Zusammen in dem äusseren Sinne und dessen 
Form des Raumes nur dadurch machen, dass wir im ersteren 
Falle die räumliche Synthese als eine notwendige bezeichnen. Mit 
anderen Worten: was der empirische Realist als ein ihm gegen- 
überstehendes, seiendes Ding auffasst, das analysiert der trans- 
scendentale Idealist als eine notwendige Synthese von räumlichen 
Vorstellungen. 





196 W. Zschocke, 


Der empirische Realist kennt Substanzen als Dinge, die auf 
einander wirken, d. h. die in ihnen liegenden Kräfte 
ander gebrauchen. Der transscendentale Idealist kennt 
wusstseinsinhalte und die formale Anschauung des 
der Zeit; und was für den empirischen Realisten das 
oder das Nicht-Seiende bedeutet, das ist jenem das wahre positive 
oder das wahre negative Urteil, welches der richtige Akt der 
Bejahung oder Verneinung in Harmonie mit dem notwendig gelten- 
den Werte der Wahrheit fällt. 

Wir müssen noch einen Blick auf das Verhältnis der Sub- 
stanz zur Zeit werfen, welches in dem Beweisgange der ersten 
Analogie eine solche erhebliche Rolle spielte. Vielleicht kann 
es dann auch gelingen, die erste und zweite Analogie in ein 
ebenso entsprechendes Verhältnis zu bringen, wie es zwischen 
Raum und Zeit stattfindet; denn wenn ich für die Kategorie im 
eigentlichen Sinne nur noch den Gedanken der Notwendigkeit be- 
stehen lasse, die Systhese aber in die Sinnlichkeit, d. h. formale 
Anschauung verweise, so ist [notwendig das Verhältnis zwischen 
der Anwendung der räumlichen und andererseits der zeitlichen Not- 
wendigkeit auf die empirische Erscheinungswelt überhaupt pro- 
portional dem Verhältnisse und den inneren Beziehungen von 
Raum und Zeit zueinander. 

Die Substanz soll nach Kant dasjenige sein, welches in der 
empirischen Wirklichkeit das Beharrende darstellt; und zwar soll 
sie ein Korrelat für die Zeit bedeuten; denn „die Zeit verläuft 
sich nicht“, sie ist ,unwandelbar und bleibend.“!) Diese Zusammen- 
stellung der Substanz mit der Zeit und nicht mit dem Raume 
scheint meine soeben ufgestellte Behauptung, dass wir unter 
Substanz erkenntniskriti nur das notwendige räumliche Bei- 

Aber erscheint 


' Zeit „verläuft sich das Dasein 
rerläuft h daher nicht. Wenn 
die Voraussetzung 


die Voraussetzung 





Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 197 


recht; aber die Grundlage des Fliessens ist auch Grundlage des 
‘Beharrens; denn die Korrelate des Fliessens und Beharrens liegen 
in derselben Sphäre. Solange also Kant sich bloss auf die nega- 
tive Behauptung beschränkt, die Zeit fliesst selbst nicht, so 
können wir verstehen, was er damit meint; wenn er aber daraus 
‚positiv folgert: also ist die Zeit bleibend und beharrt, so müssen 
ihm energisch widersprechen. Wir können dies um so sorg- 
Kanu) als wir eine mächtige Autorität zu unserem Schutze 
: Kant selber. In der allgemeinen Anmerkung zum System 
"Grundsätze steht wörtlich zu lesen: ,. . . die Zeit aber, mit- 
alles was im inneren Sinne ist, beständig fliesst.“1) Dazu 
man folgende Worte) „... „anstatt dass die Zeit, welche 
‚einzige Form unserer inneren Anschauung ist, nichts Bleiben- 
hat, mithin nur den Wechsel der Bestimmungen, nicht aber 
bestimmbaren Gegenstand zu erkennen giebt.* 
Wenn wir diese beiden Stellen berücksichtigen, so wird uns 
es mit der Argumentation der ersten Analogie nicht 
stimmt, dass die Substanz sicher nicht als die Vorstellung 
überhaupt“ in der empirischen Wirklichkeit angesprochen 


A 
eh He 


Aber mit der Konstatierung dieses Mangels diirfen wir uns 
begniigen: wir miissen den Grund aufdecken, der Kant not- 
wendig dazu veranlasste, und dieses bringt uns für einen Augen- 
blick wieder in Zusammenhang mit unserem eigentlichen Thema, 
dem Schematismus, zu dessen Verständnis allein ich es unter- 
nommen habe, diesen grossen Umweg über die Zergliederung von 
Kants Grundbegriffen zurückzulegen. 

Kant hatte seinen Schematismus zu dem Zwecke aufgestellt, 
die Kategorien anzuwenden; d. h. die Grundsätze zu formulieren. 
‘Um in einen Grundsatz eingehen zu können, muss sich die Kate- 
gorie in ein Schema . verwandeln. Das Schema aber war allein 
an der Zeit orientiert, weil der sog. „innere Sinn“ den äusseren 
Sinn mitumfasst; das Schema ist die transscendentale Zeitbe- 
stimmung, und nun musste Kant wohl oder übel zwölf Zeitbe- 
stimmungen finden. Die Substanz tritt lediglich deshalb in jener 
unverständlichen Beziehung zur Zeit in den Grundsätzen auf. Im 
Zusammenhange der Grundsätze durfte Kant garnicht die Substanz 


i 





198 W. Zschocke, 


als die empirisch-realistisch naturwissenschaftliche Hypostasierung 
der notwendigen Raumsynthese auffassen, eben weil der Raum 
durch das Zeitschema bereits aus seiner berechtigten Eigenstellung 
eliminiert worden war. Um so interessanter ist es, zu beobachten, 
dass Kant an keiner anderen Stelle der Zeit die Higenschaft des 
Fliessens abspricht, als nur in dieser direkten Verbindung mit da 
Schematismus. 

Wenn wir aber der Zeit das Fliessen beigesellen müsse, 
tritt dann vielleicht zum Raume das Moment des Beharrens? — 

... „80 finden wir, dass 1. um dem Begriffe der Substanz 
korrespondierend etwas Beharrliches in der Anschauung zu geben... 
wir eine Anschauung im Raume (der Materie) bedürfen, weil der 
Raum allein beharrlich bestimmt“ ist:) Hier haben wir ja voll- 
kommen ausgesprochen, was wir suchen, und den Beweis dafür, 
dass die Substanz oder das Beharrliche den Raum überhaupt und 
nicht die Zeit überhaupt zur empirisch-realistischen Erscheinung 
bringt. 

Um diese These noch weiter zu stützen, wird es von Wichtig- 
keit, wie ich früher ausführte, das Verhältnis von Raum und Zeit 
untereinander mit demjenigen von Kausalität und Substanz zu 
vergleichen, ob sich vielleicht beide Verhältnisse entsprechen 
möchten. 

Nun ist aber leider die gegenseitige Beziehung von Raum 
und Zeit zu einander bei Kant kaum besprochen, und es finden 
sich nur sehr wenige Stellen, auf die ich mich stützen könnte. 
Kant führt nur einen Gedanken da und dort?) aus, der uns hier 
behülflich sein kann. Die Zeit nämlich lässt sich, meint er, an 
der geraden Linie symbolisieren, mit deren eindimensionaler Be- 
stimmung die ihrige zusammenfällt. Wenn wir demnach anstelle 
des „neben“ im Räumlichen das „nach“ setzen, so enthüllt uns 
die Charakteristik der geraden Linie alle ‚Eigenschaften der Zeit. 
Hier sagt Kant, dass die Teile der räumlichen Linie „zugleich“, 
die der Zeit aber nacheinander seien, welches den einzigen Unter- 
schied zwischen einer Raumreihe und Zeitreihe enthält. Die 


A. 381 sogar noch klarer: 

„so hat doch 1 ) inne etwas Stehendes 
‚oder Blei de: I ein, ¢ n Bestimmungen zum Grande 
N ithin | 1 synthetischen Begriff, nämlich den 


Iben, an die Hand giebt“, 








‘Uber Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 199 


Raumreihe ist also „zugleich“, d. h. der Raum hat eine zeitliche 

E c wenn anders wir die Stelle B. 67 acceptieren wollen, 

wo es heisst, dass die Zeit schon das Verhältnis des „Zugleich- 
seins“ enthält. 

Doch hier ist etwas nicht in Ordnung. Einmal soll die Zeit 

sich gerade in dem nacheinander von dem Raume unterscheiden, 

dessen Teile allein zugleich sind; dann soll andererseits auch die 


Die ent- 
standene Verwirrung lässt sich nur so lösen, dass wir das „zu- 
gleich“ aus dem ineinander von Raum und Zeit erklären. 
Die Zeit ist das Prinzip des ewigen Flusses in dem Beharrlichen, 
der Raum ist das Prinzip des ewigen Bestehens in dem Fliessen- 
den. Fliessen und Bestehen sind Korrelatbegriffe. Beide erst in 
ihrer Verbindung gestatten den Begriff des zugleich. 

Das Verhältnis der empirisch-realistisch aufgefassten Sub- 

zur Kausalität als wirkender Kraft ist ein analoges: Die 
"Wechselwirkung setzt eine Verbindung durch den Raum voraus.) 
Der Wechselwirkung entspricht das zeitliche zugleich; das Wirken 
ist in zeitlicher Abfolge zu denken. Wirkungen aber sind nur 
zwischen Substanzen möglich, eine Wirkung, die nicht Substanzen 
mit einander verbindet, schwebt in der Luft, In dem Begriffe 
des Wirkens liegt ferner der Gedanke, dass beide Substanzen 
durch ihn verbunden werden, sich in einer Einheit zusammen- 
fassen, und doch beide in ihrem Bestande erhalten bleiben. So 
‘sehen wir auch hier wieder jene Vereinigung von dem Fliessen 
“nd Bestehen, von jenen beiden Prädikaten, welche wir eben dem 
Raume und der Zeit beigesellt fanden.?) 

‚Sollte nach all diesem noch ein Zweifel darüber bestehen, ob 
die Substanz in Verbindung mit dem Raum oder aber mit der Zeit 
zu bringen sei, so führe ich als letzten Beweisgrund meiner Be- 
hauptung, dass sie zum Raum gehöre, folgende Stelle an: „Denn 
weil er [nämlich der transscendentale Idealist] diese Materie und 
sogar deren innere Möglichkeit bloss für Erscheinung gelten 
lässt, die von unserer Sinnlichkeit abgetrennt, nichts ist: so ist 
sie bei ihm nur eine Art Vorstellungen (Anschauung), welche 
äusserlich heissen, nicht, als ob sie sich auf an sich selbst äussere 


4) B, 292/93. 
2) Vgl. B, 249 ff. über: Kausalität, Handlung, Kraft, Substanz. 





200 W. Zschocke, ‘ 


Gegenstände bezögen, sondern weil sie Wahrnehmungen auf den 
Raum beziehen, in welchem alles aussereinander, er selbst der 
Raum aber in uns ist.“1) 

In der Erörterung des transscendentalen Idealismus und em- 
pirischen Realismus, welche dieses Citat enthält, giebt uns Kant 
den Schlüssel zum Verständnis der Ausdrucksweise in dem Grund- 
satze über die Substanz. Als Grundsatz der Naturwissenschaft 
ist er empirisch-realistisch formuliert: „Bei allem Wechsel der 
Erscheinungen beharrt die Substanz . . .“,*) wobei die Substanz als 
ein Seiendes, an sich existierendes auftritt, wie es in der Seins- 
wissenschaft der Natur selbstverständlich ist. Vom Standpunkte 
des transscendental-idealistischen Erkenntnistheoretikers dagegen 
giebt es nur „eine Art Vorstellungen ..., welche äusserlich heissen, 
nicht, als ob sie sich auf an sich selbst äussere Gegenstände be- 
zügen, sondern weil sie Wahrnehmungen auf den Raum beziehen“. ..§) 
Die seiende Substanz der Naturwissenschaft entspricht daher der 
räumlichen Synthese für den Kritizisten, welche ich in einem Ur- 
teile gemäss dem Werte bejahen kann; und zwar ist die Bejahung 
nach Kant dann objektiv, wenn sie nach einer Regel geschieht, 
welche sie auf eine gewisse Art notwendig macht.) 

Hatten wir die Kausalität als die objektive Zeitsynthese er- 
kannt, so erweist sich nun also die Substanz als die objektive 
Raumsynthese. 

Die Beispiele der Apprehension eines Hauses und eines den 
Strom herabgleitenden Schiffes mögen auch hier zur Erläuterung 
dienen und die genaue Analogie zwischen Substanz und Kausalität 
einerseits und Raumsynthese und Zeitsynthese andererseits zur 
Anschauung bringen.) Die Apprehension eines Mannigfaltigen ist 
der Kausalität entsprechend und objektiv, wenn in ihrer zeitlichen 
Abfolge eine Notwendigkeit ausgedrückt wird; so bei dem Schiffe. 
Wohingegen die zeitliche Succession in der Apprehension des 
Hauses beliebig verändert werden kann; ich kann ebensogut von 


1) A.370, vgl. auch B. 18: „Denn in dem Begriffe der Materie denke 
ich... ihre Gegenwart im Raume durch die Erfüllung desselben“, und 
A.385: „Materie bedeutet . - die Ungleichartigkeit der Erscheinungen 
von Gegenständen . . ., dere rstellungen wir äussere nennen : . # 





Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 201 


der rechten Ecke ausgehend meine Betrachtungen beginnen wie 
von der linken, von oben so gut wie von unten. Aber hört darum 
das Haus etwa auf, ein Objekt zu sein? Nenne ich es darum 
weniger ein Ding mit seinen Eigenschaften? Gewiss nicht. Doch 
wenn es ein Gegenstand sein soll, so muss in ihm eine Not- 
wendigkeit, eine Regel ausgedrückt sein. Wo finde ich sie? Nicht 
in der zeitlichen Abfolge der Vorstellungen, das ist richtig; wohl 
aber in ihrer räumlichen Anordnung; denn es ist ebenso unmöglich, 
den rechten Flügel des Hauses mit dem linken zu vertauschen, 
oder das Dach mit dem Fundament, wie es bei der kausalen Ver- 
knüpfung unmöglich ist, die Ursache mit der Wirkung in zeitlicher 
Rücksicht zu vertauschen. Und was unterscheidet denn z. B. das 
prismatisch umgekehrte Haus in meiner Apprehension von dem 
Hause selber? Es ist nichts anderes als das Fehlen der Not- 
wendigkeit und Regel in der räumlichen Synthese. Genau so gut 
wie die zeitliche Succession nur dann objektiv ist, wenn sie nach 
einer Regel abläuft, ebenso hat das räumliche Beisammen nur in 
dem Gedankeu der Notwendigkeit die Gewähr. der Gegenständ- 
lichkeit. 

Nach all diesem müssen wir innerhalb der Kantischen 
Kategorie zweierlei unterscheiden: 

1. den Gedanken der „Notwendigkeit“ in Form der „Regel“; 
sie tritt in allen Kategorien in gleicher Weise auf und ist das- 
jenige, was die Gegenständlichkeit über die blosse Subjektivität 
in der Imagination erhebt. 

2. die Synthese; sie liegt in dem alleinigen Medium aller 
Synthesen, in der Sinnlichkeit, und ist schon in der „formalen An- 
schauung“ ausgedrückt. Da es zwei Formen der Anschauung 
giebt, so giebt es auch zwei Formen der Synthese in der Kate- 
gorie; und hierdurch sind die Substanz und die Kausalität ab- 
geleitet. 

Ich werde im Folgenden unter Kategorie schlechthin nur 
noch den Gedanken der Notwendigkeit verstehen, und dabei ist 
es ohne weiteres klar, dass wir in ihm ein Produkt des Ver- 
standes, des Denkens zu erblicken haben; denn dass ich den Ge- 
danken der Notwendigkeit nur denken, nicht aber auch anschauen 
kann, bedarf keines Beweises. Die Kategorie der Notwendigkeit 
unterscheidet sich von der Kantischen Kategorie dadurch, dass 
erstere eine blosse Verstandesform, letztere aber eine sinnlich an- 
gewandte Verstandesform repräsentiert. 


202 Ww. Zschocke, 


Dass im Grunde genommen diese Auffassung 
so fern steht, als man zunächst glauben möchte, 
interessante Stellen. Kant will zeigen, dass durch die 
der Kausalität Objektivität in die subjektive Suceession unserer Vor- 
stellungen komme. Wenn ich daher, die subjektive mit der objektiven 
Succession vergleichend, das Plus herausstellen kann, - e 
von jener unterscheidet, so muss in diesem Plus die Kategorie 
enthalten sein: „Wenn wir untersuchen, was denn die Beziehung: 
auf einen Gegenstand unsern Vorstellungen für eine neue Be 
schaffenheit gebe, und welches die Dignität sei, die sie da- 
durch erhalten, so finden wir, dass sie nichts weiter thue, als die 
Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig zu 
machen, und sie einer Regel zu unterwerfen; dass umgekehrt 
dadurch, dass eine gewisse Ordnung in dem Zeitverhältnisse | 
unserer Vorstellungen notwendig ist, ihnen objektive Bedeutung 
erteilt wird.“ı) u 

„Die Begriffe, welche dieser reinen Synthesis [se. der Ein- 
bildungskraft] Einheit geben, und lediglich in der Vorstellung | 
dieser notwendigen synthetischen Einheit bestehen, thun das dritte 
zum Erkenntnisse eines vorkommenden Gegenstandes, und beruhen 
auf dem Verstande.“®) 

„Man sieht bald, dass . . . Erscheinung, im Gegenverhältnis 
mit den Vorstellungen der Apprehension, nur dadurch als das da- | 
von unterschiedene Objekt derselben könne vorgestellt werden, 
wenn sie unter einer Regel steht, welche sie von jeder anderen 
Apprehension unterscheidet, und eine Art der Verbindung des 
Mannigfaltigen notwendig macht.“$) 

In allen drei Stellen ist die Rede von dem Unterschiede des 
Objektes und der subjektiven Vorstellung der Apprehension, und 
„nichts weiter“ erteilt die Objektivität, „lediglich“, „aur dadurch* 
steht die Objektivität höher, dass in ihr die Notwendigkeit als 

, Regel enthalten ist. Wenn also die Kategorie mehr enthielte, als 
den Gedanken der Notwendigkeit, so könnten wir dieses Mehr 


garnicht brauchen. | 
e t begründende Element „Begriff“. 
en Grund dieser Terminologie klar zu 





Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 203 


machen: objektiv ist das allgemeingültige und einer Regel ent- 
sprechende; nun sind nur Begriffe allgemein und enthalten eine 
Regel, Anschauungen aber individuell.) Infolgedessen ist die 
Hülfes eines Begriffes nötig, um die Objektivität zu erreichen. ?) 
Weil ferner Begriffe allein in Urteilen ihre Verwendung finden, 
und Kant die Gegenständlichkeit der synthetischen Urteile unter- 
suchen will, so bringt er die Allgemeinheit des Begriffes mit der 
Synthese des Vorstellungskomplexes im Urteile in eine, wie ge- 
zeigt, widerspruchsvolle Verbindung, auf welche Weise seine oben 
angeführte unhaltbare Theorie entsteht, dass die Urteilssynthese 
mit der Funktion der objektiven Einheit im Begriffe überein- 
stimme. Auch hieraus ersehen wir wieder das feine Gefühl Kants 
für das Richtige; denn was ibn zu seinem Fehler bewog, war die 
heute erwiesene Thatsache, dass das Urteil noch mehr enthalte, 
als den bloss theoretischen Vorstellungskomplex, dass gerade im 
Jasagen das Urteilen bestehe. Nun sollte die Kategorie die 
Gegenständlichkeit erzeugen; also durfte sie für Kant nicht mit 
einer sinnlichen Synthese erschöpft sein. Hätte Kant das Ja von 
dem Vorstellungskomplexe unterschieden, so hätte er kein Be- 
denken zu tragen brauchen, die Kategorie von der Synthese los- 
zutrennen, weil nicht in der Synthese, sondern in dem Ja Wahr- 
heit und Irrtum ruhen. 

Wir können damit den Begriff der Kategorie verlassen, und 
ich stelle als Resultat des zweiten Kapitels nochmals fest, dass 
wir unter einer Kategorie im strengen Sinne nur den Gedanken 
der Notwendigkeit zu verstehen haben; es giebt nur Eine Kate- 
gorie, und ihr gemäss ist das Sein der empirischen Wirklichkeit 
für den Erkenntnistheoretiker abhängig von der Bejahung eines 
Wertes. 


3. Kapitel. 

Die Überwindung des Kantischen Schematismus. 

Die Nutzanwendung der bisherigen Überlegungen auf den 
Schematismus ergiebt sich leicht: Kant hatte Verstand und Sinn- 
lichkeit getrennt, hatte die Kategorien immanent logischen Funk- 
tionen des Urteilens beigesellt, und als er daran gehen wollte, die 


904 W. Zschocke. 


Grundsätze zu formulieren, konnte er seinem obersten Prinzipe 
zuuächst nicht gerecht werden, Anschauungen und Begriffe zu 
verbinden, damit sie nicht blind und leer blieben. Das Schema 
half ihm, die Schwierigkeiten zu überwinden. 


Nach der hier vertretenen Überzeugung ist die Sachlage eine 
ganz andere: Die „formale Anschauung“ der Geometrie und Arith- 
metik schliesst schon eine Reihe von Bestandstücken ein, welche 
Kant zum Verstande zählt: Synthesis und Einheit der Apperzeption 
in der Mannigfaltigkeit. Ja, wir haben gesehen, dass die schlecht 
hin anschauliche, undefinierbare Direktion des „Neben“ und „Nach“ 
überhaupt die Synthesis voraussetzt, um zu Ende gedacht werden 
zu können. Dem entspricht dann genau Kants Meinung, das 
allein Anschauungen das übergreifende Band für jede gültige 
Synthese abzugeben vermögen. 

So haben wir einen überaus nahen Zusammenhang erkannt 
zwischen Sinnlichkeit und Verstand auf dem gemeinsamen Felde 
der formalen Anschauung; was die eine nicht leisten konnte, das 
liefert der andere, und beide fordern überhaupt derart einander, 
dass sie ohne gegenseitige Ergänzung des eigentümlichen Be 
stehens entbehren müssen. 

Und wie in die Sinnlichkeit der Verstand eingedrungen war, 
so schlich sich in die Kategorie die Anschauung. Was Kant 
unter einer Kategorie versteht, das setzt sich aus der Raum- resp. 
Zeitsynthese und der Kategorie im engeren Sinne, dem Gedanken 
der Notwendigkeit als Regel, zusammen: Daher denn die Kate 
gorie Kants keineswegs ein reiner Repräsentant des Verstandes ist, 
der ohne innere Beziehung zur Sinnlichkeit stünde. 


Wenn es sich demnach für die Aufstellung der Grundsätze 
darum handelt, Kategorie und Anschauungsformen mit einander 
zu verbinden, so brauchen wir auf keinen Fall hierzu die Ver- 
mittelung des Zeitschemas in Anspruch zu nehmen. Bei Kant 
leistet es das verwickelte Geschäft, die raum-zeitliche Erscheinungs- 
welt mit den Kategorien zu verbinden, welche blosse Verstandes- 
elemente sind und doch mehr als den Gedanken der Notwendigkeit 
enthalten sollen. Dies Mehr als das in unserm Sinne verstandes- 
mässige scheint mit der Sinnlichkeit unvereinbar: das Schema 
muss erst die Brücke schlagen. Haben wir dieses „mehr“ aber 
einmal als anschaulich erkannt, so ist keine Brücke und kein 
Schematismus mehr nötig. 


Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 205 


Was Kant von dem Schema verlangte, dass es ein Drittes 
sein solle, das durch seinen doppelseitigen, d. h. sowohl intellek- 
tuellen als auch sinnlichen, Charakter die schroff von einander ge- 
schiedenen Erkenntnisvermögen des Verstandes und der Anschauung 
zur Vereinigung bringe, das fällt in dem Augenblick alles fort, 
in dem wir erkannt haben, dass beide Stämme der Erkenntnis in 
dem Verhältnis gegenseitiger Ergänzung stehen. Allerdings, die 
völlige Übereinstimmung in einem Stücke, die Kant!) für die 
Möglichkeit einer Subsumption verlangt, ist nicht vorhanden und 
kann der Natur der Sache nach überhaupt nicht vorliegen; denn 
die Erkenntnismethoden durch Subsumption zu vereinigen, hat gar 
keinen Wert. Ergänzen sollen sie sich; was der einen fehlt, 
soll die andere besitzen; die Übereinstimmung in einem Punkte 
würde eine ganz nutzlose Verdoppelung bedeuten, welche uns ihre 
Vereinigung trotzdem nicht begreiflich machen würde; denn die 
Vereinigung auf Grund einer Subsumption ist immer analytisch 
und beruht auf dem Satze der Identität; die Synthese aber zweier 
heterogener Methoden wird hierdurch nimmer verständlich. Die 
Erkenntnistheorie bedient sich vielmehr zu diesem Zwecke keines- 
wegs der Subsumption, sondern der teleologischen Beziehung, und 
deren wesentlicher Kern liegt in der Funktion der Ergänzung. 
Teleologisch konstruiere ich einen Zusammenhang mit dem Ziele, 
welches ich gewinnen will, und den Mitteln, welche zu ihm führen. 
Die Verbindung sämtlicher Mittel gewährt erst die sichere Er- 
reichung des Zieles; fehlt mir eines, so werde ich gezwungen, vor dem 
Ziele nach einer bestimmten Wegstrecke halt zu machen. Jeder 
Teil des Weges aber ist absolut verschieden von dem anderen; er 
soll es sein, damit er mich näher heranführen könne. Verbunden 
werden alle Teile einzig durch die gemeinsame Richtung auf das 
eine Ziel. Dienten sie nicht dem einen gemeinsamen Zweck, Mittel 
zu sein für das eine Ziel, so würden sie völlig gleichgültig und 
beziehungslos zu einander daliegen. Genau ebenso sind die ein- 
zelnen Methoden zur Erkenntnis nur im zrélos verbunden, jede 
giebt uns ein absolut neues und verschiedenes Werkzeug für 
unsere Arbeit in die Hand. Würde man den gemeinsamen End- 
zweck zerstören, so würden sie ohne Verbindung auseinanderfallen. 
Sofern sie aber ausserdem noch durch Subsumption verbunden 
wären, hätte dies für die teleologische Beziehung keinerlei wesent- 


») B. 176 und 178. 
Kantstudien XII, 14 


206 W. Zschocke, - 


liches Interesse. Kants Methode ist durch und leologisch; 
wenn eine Bedingung aufgezeigt ist, so schreitet sie 2 
Weise fort, dass sie fragt, welche neuen Voraussetzungen 7 


wieder durch die erste gefordert, zu ihrer Ergänzung? ‘Dass auf 
diese Weise Sinnlichkeit und Verstand sich in Tag be 
ich darzustellen versucht; so allein wird ihre Vereinigung be 

lich; das Schema für die Subsumption hingegen erwies s 

jeder Beziehung als unverständlich. 

Kant braucht also das Schema PEN 
bestimmung garnicht; denn die ihm aufgetragene Leistung ist 
schon längst vollzogen, wenn man Kategorie und Anschauungen 
von all den dogmatischen Verhüllungen befreit, die ihnen Kant 
noch gelassen hat. Der Kantische Schematismus wird überflüssig 
und ist daher aus dem System der Kritik zu entfernen. u 

Dies Resultat hat die Untersuchung zu einem vorläufigen 
Abschlusse gebracht; doch können wir bei ihm nicht stehen 
bleiben; denn wenn auch die Kantische Kategorie als mit der 
Anschauungsform zusammengehörig gedacht werden kann, so erhebt 
sich doch nunmehr die Frage, wie sich denn die Kategorie der 
Notwendigkeit zu der formalen Anschauung verhalte. Soviel 
allerdings steht von vorne herein fest, dass uns der Begriff der 
Subsumption von gar keinem Nutzen sein kann, und dass wir 
auch nicht nach einem Dritten suchen dürfen, welches beiden ge- 
meinsam wäre. Es könnte nach den eben gemachten Ausführungen 
nur die Meinung nahe liegen, dass auch hier der Begriff der 
teleologischen Ergänzung alle Schwierigkeiten lösen müsste. Doch 
ist diesmal die Sachlage eine ganz andere. 

Kant hatte Sinnlichkeit und Verstand als rezeptiv und spon- 
tan, als intuitiv und discursiv, als unmittelbar und mittelbar auf 
den Inhalt bezogen, unterschieden. Diese Trennung ergab sich 
uns als falsch, und eine i 
zur Verbindung. Allerdi 
Kant hält nämlich inn 
Moment der Regel und 


Gegenständlichkeit durch di 
ist nun die Synthese die 
Aber mit ihr sind noch 
da, wie ich zeigte, dieselbe 





Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. %07 


Vorstellung vorkommt, die weder wahr noch falsch sein kann, als 
auch in dem Urteile. Nun sollte das Schema vermitteln zwischen 
der Verstandessynthese und der Anschauung. Beide aber erweisen 
sich als Faktoren der Synthese, nicht nur der Verstand, sondern 
auch die Sinnlichkeit; ja letztere enthält nur eine Spezialisierung 
der allgemeinsten Synthese überhaupt. Warum sie gerade in der 
Form des „neben“ und „nach“ auftritt, das lässt sich nicht sagen, 
noch mit der Synthese überhaupt vermitteln, das können wir nicht 
begreifen, noch begreifen wollen.!) So liegen Anschauung und 
Begriff in derselben Sphäre, und das gemeinsame Ziel verbindet 
sie ohne weiteres. Beide sind Formen im Gebiete der Synthese, 
und beide stehen dem Inhalte gleich nah und gleich fern 
gegenüber. 

Mit dem Begriffe der Regel in seinem Verhältnis zu den üb- 
rigen Erkenntnisbedingungen steht es jedoch erheblich anders: Sie 
liegen sozusagen nicht in derselben Ebene, und daher dürfen wir 
uns nicht mit der Forderung ihrer gegenseitigen Ergänzung zum 
Zwecke der Objektivität begnügen. Sondern hier ergiebt sich 
nun thatsächlich die Aufgabe, zu erörtern, wie denn das Zusammen 
von Regel und formaler Anschauung müsse gedacht werden, 
welchen Einfluss die Regel auf die formale Anschauung ausübe, 
welche Gestalt sie ihr gebe. Der Kantische Schematismus war 
dadurch überwunden, dass gewissermassen alles zum Schema 
wurde. Jetzt handelt es sich darum, zu zeigen, wie die Regel 
in das Gebiet der Sinnlichkeit herabsteige. Aber hierzu sehen 
wir uns nicht mehr nach einem Dritten um, welches vermittle; 
das Schema als Brücke ist ein Unding. Nein, ich will das Schema 
in dem genauen Sinne seines Wortes fassen, das oxjua soll uns 
die sinnliche Gestalt zeigen, welche die Regel, die Notwendigkeit, 
annimmt, sobald sie die formale Anschauung beherrscht; diejenige 
formale Anschauung soll Schema heissen, welche die Notwendigkeit 
repräsentiert. 

Unter den zwölf Kategorien Kants tritt auch diejenige der 
Notwendigkeit auf; sie steht an dritter Stelle in der Klasse der 
Modalität, so dass wir zu unserer Überraschung dasjenige als 
Ein Glied unter zwölfen angeführt finden, dem wir allein das 
eigentliche Prädikat der Kategorie im Sinne des die Gegenständ- 
lichkeit begründenden Begriffes zugestehen wollten. Doch dies 


1) Vgl. Proleg. S. 100 (Reklam). 
14° 


208 W. Zschocke, 


ist sofort begreiflich, wenn wir uns bei Kant Antwort holen, was 
die Modalität der Urteile bedeute. Kant sagt, dass sie „nur den 
Wert der Kopula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht*.') 
Dieser Ausdruck ist zunächst reichlich unklar, aber wenn in den fol- 
genden Sätzen ausgeführt wird, dass die Möglichkeit, Wirklichkeit 
und Notwendigkeit des Bejahens oder Verneinens ihre drei Modi zu- 
sammensetzen, so finden wir darin eine interessante Vorahnung der 
hier vertretenen Urteilstheorie. Ihr gemäss hatte ich die Kategorie 
dem praktischen Bejahen im Urteile angefügt, und in diesem Zu- 
sammenhange erklärt sich auch, was unter der „Beziehung auf 
das Denken überhaupt“ verstanden ist. Es ist das „ich denke* 
der transscendentalen Deduktion, und zwar das objektive „ich 
denke“, die „objektive Einheit des Selbstbewusstseins“.2) Inso- 
fern daher die theoretische Synthese im Urteile durch das Ja und 
Nein auf die Objektivität bezogen wird, ist sie modal bestimmt. 
Daraus würde aber folgen, dass die drei übrigen Kategorienklassen 
kein Verhältnis zur Gegenständlichkeit ausdrücken, dass also 
2. B. die Kausalität allein noch keine Objektivität sichern kann. 
Da dies aber Kants Meinung widerstreitet, so möge es nur neben- 
bei zum Beweise dienen, dass, wie ich sagte, Kants Grundfehler 
in seiner mangelhaften Urteilslehre angelegt ist, und ihre Ver- 
besserung notwendig auf Kants Grundbegriffe umgestaltend rück- 
wirken muss.) 

Sonach ist es nicht nur verständlich, sondern sogar notwendig, 
dass die Kategorie im engeren Sinne auch unter der Zahl der 
Kantischen Kategorien als eine besondere derselben auftrete. 
Kant musste für alle zwölf Kategorien Schemata finden, also auch 
für die Kategorie der Notwendigkeit: Und „Das Schema der Not- 
wendigkeit ist das Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit“. 

Können wir dies Schema so, wie es Kant formuliert, über- 
nehmen? Reicht es aus für unsere Zwecke, oder bedürfen wir 
noch einer Ergänzung? 

Was die erste Frage angeht, so will ich das Schema des 
„zu aller Zeit“ oder, wie wir kürzer sagen können, des „immer“ 


1) B, 100. 

2) B. 139. 

3) Hiernach könnte man übrigens die vorliegende Arbeit von einem 
anderen Ende aus aufbauei t dem Titel belegen: Kants Grund- 
begriffe der Erkenntnis im Lic modernen Urteilslehre, 

4 B. 184. 





Über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 209 


dadurch auf seine Rechtmässigkeit hin prüfen, dass ich es mit der 
Definition vergleiche, die ich vorher von dem Begriffe des 
Schemas gab: ein Repräsentant der Notwendigkeit in der Sinn- 
lichkeit zu sein. 

Für Kant kleidet sich der Begriff der Objektivität erzeugen- 
den Notwendigkeit in die Form der Regel. Notwendigkeit und 
Allgemeingültigkeit sind in seiner Philosophie derartig eng mit- 
einander verwachsene Merkmale der Vernünftigkeit, dass er an 
ihnen sogar zum grossen Teile seine praktische Philosophie orien- 
tiert. Nur was als notwendig, d.i. aber zugleich allgemeingesetzlich 
oder als unter einer Regel stehend begriffen werden kann, das 
allein ist vernünftig, objektiv und gegenständlich. Insofern nun 
alles Empirische in der Zeit liegt, die Zeit aber als continuierlich 
abfliessende Reihe im Bewusstsein die Möglichkeit der Apprehen- 
sion eines empirisch Mannigfaltigen schafft, so kann die Zeit nur 
als principium individuationis,!) nicht aber als principium genera- 
lisationis auftreten, sofern jeder einzelne Zeitpunkt und das ihn 
erfüllende empirisch Inhaltliche in Betracht kommt. Sobald wir 
aber etwas finden, das wir in jedem Zeitdifferentiale als seiend 
bejahen können, so ist klar, dass wir es bezüglich seiner sinnlichen 
Erscheinung in der Zeit als unbedingt allgemein anerkennen. Die 
Zeit als ganze unendliche Reihe ist also der sinnliche Repräsentant 
des Gedankens der Notwendigkeit, und das „Immer“ ist mit Recht 
im System Kants das Schema für ihn. 

Kant wurde es leicht, ein sinnliches Widerspiel für den Ge- 
danken der Notwendigkeit aufzuweisen, eben weil bei ihm nur das 
Allgemeine notwendig ist, und weil die Sätze der Naturwissenschaft 
allein als Gesetze auf Objekte, Gegenstände gehen. Aber hier- 
aus würde durch Umkehrung folgen, dass nur diejenigen Urteile 
wahr, d. h. gültig und wertvoll sein können, deren Bejahung sich 
auf ein Gesetz richtet, und alle Urteile der Geschichte enthielten 
dann kein Schema des Wertes, dem sie ihre Geltung verdankten. 
Doch die Erledigung dieses bloss angedeuteten Problemes, desgleichen 
eine ausführliche Besprechung der Begriffe des Zufälligen, Wirk- 
lichen und Möglichen, würde weit über den Rahmen einer imma- 


a m un 


1) Vgl. Inaugural-Dissertation $ 10: Alle unsere Anschauung ist ... 
an ein Prinzip der Form gebunden, unter der allein etwas unmittelbar 
oder als Einzelnes von dem Geiste geschaut ... werden kann; vgl. hierzu 
Schopeuhauer, W. a. W. u. V., I. Bd. § 68 und 26. 


210 W. Zschocke, 


nenten Kantkritik hinausgehen; ich muss sie daher fiir eine 
spätere Arbeit versparen. 


Reicht nun das Schema des „immer“ für die Repräsentation 
der Notwendigkeit aus, oder bedarf es noch einer Ergänzung? 


Kant begründet seine Beschränkung des Schematismus auf 
die Zeit damit, dass die Zeit, als Form des inneren Sinnes, die 
Form des äusseren Sinnes, den Raum, einschliesst; denn der 
äussere Sinn ist nur eine Provinz in dem Weltreiche der Zeit. 
Daher genügt es Kant, für die Subsumption ein Zeitschema auf- 
zustellen, da es sich nur um die Möglichkeit einer Subsumption 
der Kategorien und der Anschauung überhaupt handelt. Da 
aber Raum und Zeit beides Anschauungen sind, so ist zwischen 
ihnen keine Vermittelung mehr erforderlich, und was mit der Zeit 
vereinbar ist, lässt sich daher auch ohne weiteres auf den Raum 
beziehen. Bei Kant erscheint es also überflüssig, auch noch ein 
Raumschema aufzustellen, weil das Zeitschema restlos die gestellte 
Aufgabe erfüllte. 


Und doch, wohin dies führte, sahen wir im Zusammenhange 
der Erörterungen über die Substanz, deren Prädikat der Beharr- 
lichkeit deshalb sich um jeden Preis in der Zeit wiederfinden 
musste, weil der Schematismus nur mit Hülfe der Zeit eine An- 
wendung der Kategorien in den Grundsätzen gestattete. 


Da in dieser Arbeit aber die Kausalität und die Substanz ledig- 
lich als die notwendige Zeit- und die notwendige Raumsynthese dar- 
gestellt sind, so werden wir auch nach einem Repräsentanten der 
Notwendigkeit in Raume suchen müssen, wenn anders die Sub- 
stanz gegenüber der Kausalität ihre berechtigte Eigenstellung ein- 
geräumt werden soll. Allerdings es bleibt dabei, dass die Zeit 
nach wie vor den Raum umschliesst; aber darum gilt nichtsdesto- 
weniger für Kant der Grundsatz, dass nur äussere Erscheinungen 
Gegenstände bergen, dass zur vollkommenen Realisation der 
‘Objektivität in der mathematischen Naturwissenschaft die Dar- 
stellungsmöglichkeit im Raume unerlässliche Bedingung ist, dem- 
gemäss die empirische Psychologie keine naturwissenschaftliche 
Wirklichkeit aufzuweisen hat.!) Ausserdem muss die Substanz 
schon deshalb von der Kausalität unabhängig bleiben, weil ohne 
Substanzen, zwischen denen die Kausalität verbindet, die letzere 


1) A. 881 f. 


Uber Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 211 


völlig in der Luft schweben würde, denn die Zeit „giebt nicht 
den bestimmbaren Gegenstand zu erkennen“. ‘) 


Wie in der Zeit, so muss die Notwendigkeit daher auch 
im Raume selbst repräsentierbar sein, um die Substanz der Kau- 
salität gegenüber selbständig zu erhalten. Dem unbeschadet 
werden natürlich zwischen der notwendigen Zeit und dem not- 
wendigen Raume dieselben engen Wechselbeziehungen bestehen 
bleiben, wie wir sie überhaupt zwischen Raum und Zeit gefunden 
haben. 


Was für die Zeit das „Immer“, bedeutet für den Raum das 
„Überall“. Auch hier wird die durch das Raumdifferentiale ge- 
setzte Individualität durch Gegebensein im Raume als Totalität 
überwunden. Was in allen Räumen vorkommt, ist so wenig indi- 
viduell wie das zu allen Zeiten vorhandene, vielmehr ist ihm das 
Prädikat der absoluten Allgemeinheit zuzuerteilen. An sich würde 
allerdings bis zu einem gewissen Grade schon das Existieren in 
manchem Raum und das zuweilen der Forderung nach Allgemeinheit 
genüge leisten. Aber eine Notwendigkeit würde darin doch noch 
nicht in die Erscheinung treten; denn was nicht ausnahmslos in 
jeder Zeit und in jedem Raume auftritt, das scheint uns immer 
dem Zufalle unterworfen, endlich und beschränkt. Die Natur- 
wissenschaft handelt von den schlechthin allgemeinen Gesetzen. 
Sie sollen nicht in und unter dieser besonderen Zeit und 
diesem besonderen Raum stehen, sondern über und ausser Zeit 
und Raum. Dies aber ist nur dadurch möglich, dass sie als über- 
all und immer bestehend aufgefasst werden; denn dann verlieren 
Zeit und Raum alle Kraft über sie, dann sind sie überhaupt nicht 
mehr zeitlich und räumlich, sondern ewig und unendlich, alle 
Begrenzung ist überwunden und das Absolute erreicht. Und 
nur das Absolute, Transscendente kann uns als notwendig ein- 
leuchten. 


Die Sphäre der sinnlichen Gegebenheiten erscheint uns als 
zufällig; in ihr wollten wir einen Repräsentanten der Notwendig- 
keit finden, eine Aufgabe, die auf den ersten Blick als unlöslich 
erscheint, da sie einander ausschliessende Oppositionen vereinigen 
soll. Doch die in der Zeit und im Raum angelegte Antinomie 
giebt uns den Schlüssel zu ihrer Lösung. Raum und Zeit, als 


1) A. 381. 





212 W. Zschocke, Über Kants Lehre vum Schematismus ete. 


Totalität gedacht, überwinden durch sich selber den Charakter 
der Anschaulichkeit, der Intuition; die Gegebenheit einzelner 
Räume und Zeiten verwandelt sich für deren Totalität zu einer 
unlösbaren Aufgabe, die wir nur noch als eine Aufgabe denken, 
nicht mehr als eine Gegebenheit anschauen können. So begegnet 
sich in der Totalität der Zeit- und Raumreihe Anschauen und 
Denken, das „überall“ und „immer“ ist in Wahrheit ein echtes 
Schema, das einerseits „intellektuell“, andererseits „sinnlich“ ist. 


Erfahrung und Geometrie 
in ihrem erkenntnistheoretischen Verhältnis. 


Von Bruno Bauch. 





I. 


Bei aller Grösse des Kantischen Denkens wird man doch 
behaupten dürfen, dass es der mathematischen Erkenntnis nicht 
durchaus gerecht geworden ist. Das dürfte um so seltsamer 
klingen, als wir schliesslich wieder anerkennen müssen, dass Kant 
im System des Wissens der Mathematik doch die rechte Stelle 
angewiesen hat. Allein das betrifft eben in der That nur den 
logischen Ort, den die Mathematik innerhalb des Wissenschafts- 
umfanges überhaupt einnimmt, nicht aber die mathematische Er- 
kenntnisweise selbst. In dieser Unterscheidung haben wir das 
Mittel, Kants Leistung sowohl in ihrer Bedeutung, wie in den 
Grenzen dieser Bedeutung gerecht zu werden. 

Man kann in der That mit Cantoni sagen, Kant sei auf mathe- 
matischem Gebiete zu wenig Logiker gewesen, um den Mangel der 
Kantischen Mathemathikauffassung zu bezeichnen. In Deutschland 
hat sich diese Einsicht unmittelbar aus der Kantischen Schule selbst 
herausgebildet. Vor allem haben Cohen und Cassirer die damit be- 
zeichnete Korrektur im mathematischen Denken Kants angebracht 
und dieses fruchtbar weiter geführt. Und von der Mathematik 
selbst erhalten wir zu einer solchen Weiterführung die glück- 
lichsten Impulse. Im Auslande sind es sogar fast mehr 
die mathematischen, als die philosophischen Kreise, von denen 
für die Gewinnung eines Verständnisses für das Verhältnis von 
Philosophie und Mathematik die lehrreichsten Antriebe ausgehen. 
Und es scheint, als sollten wir Deutschen gegenwärtig gerade 
beim Auslande für dies Verhältnis recht viel lernen können, mögen 
auch wieder vielleicht zu Gunsten Kants, zu Gunsten dessen, 
worin wir die positive Bedeutung der Kantischen Mathematik- 


214 B. Bauch, 


auffassung sehen, gerade den ausländischen Forschern gegenüber 
einige Einschränkungen notwendig werden. Der Punkt aber, 
an dem wir auch hier über Kant hinausgehen müssen, und an 
dem sich die Grenze der Bedeutung seiner Auffassung zeigt, wird 
in Deutschland wie im Auslande wohl in gleicher Weise richtig 
bezeichnet. Die Anschauung spielt bei Kant eine zu grosse, weil 
der Analysis gegenüber zu verselbständigte Rolle; und ebendarun 
weist er der Analysis eine zu bescheidene Rolle an. Damit ist 
zugleich der Gegensatz, der zwischen der transscendentalen Ästhetik 
und der transscendentalen Analytik besteht, bezeichnet. Er ver- 
schuldet, wie wir noch sehen werden, seinen „Ding-an-sich“-Dog- 
matismus, der in das Ganze seiner Lehre jene schillernde Unbe- 
stimmtheit bringt, sodass wir in der That ohne das Ding an sich 
in seine Lehre nicht eintreten und mit dem Dinge an sich in ihr 
nicht verbleiben können. Diese Unbestimmtheit lässt sich allein 
erklären aus der ungenügenden Bedeutung, die der Analysis m 
Kants Lehre zufällt, sodass der berühmte Ausspruch Jacobis ds 
durch seine vollkommene, von Jacobi selbst aber wohl kaum ge 
nugsam erkannte Berechtigung erhält. So auch wird es verständ- 
lich und erscheint nicht als blosser Zufall, dass ein Mann, der 
der Mathematik gegenüber eine solche, kaum überbietbare Ver 
ständnislosigkeit an den Tag legte, wie Schopenhauer, sich für 
einen Jünger, ja den Thronerben Kants halten konnte und in dem 
Teile des Kantischen Systems, der dessen eigentliche Schwäche 
bezeichnet, den Glanzpunkt der Leistung Kants sah, eben in der 
transscendentalen Ästhetik. 

In dieser steht in der That die Anschauung als ein dem 
Begriffe Fremdes diesem gegenüber. Damit hat Kant eine der 
grössten mathematischen Thaten, eben die Analysis, in der Asthe 
tik nicht zur Geltung kommen lassen, obwohl seine eigene Ana 
lytik selber den Weg zu ihr weist. Wie wir etwa, um den Sach- 
verhalt an einem einfachen Beispiele zu verdeutlichen, das 
sogenannte physische Continuum durch den Begriff des mathe 
matischen Continuums überwinden, inden wir, was die Anschauung 
als unnnterscheidbar hinnimmt, und woran die anschauliche Unter 
scheidbarkeit scheitert, logisch nichtsdestoweniger stetig sondern, 
und wie wir dadurch die einzelnen Elemente in ihrer begriff- 
lichen Bestimmtheit und Diskretion gesondert fassen durch begriff- 
liche „Schnitte“, wie die der Zahlenreihe, so geht die gesamte 
Richtung der Analysis auf das Ziel, die Anschaulichkeit, die sie 


Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhaltnis. 215 


zwar zum Ausgangspunkte hat, begrifflich zu meistern. Mit 
Recht bezeichnet darum David Hilbert den Weg, auf dem wir zu 
den „Grundlagen der Geometrie“ gelangen, als „logische Analyse 
unserer räumlichen Anschauungen“.!) Kürzer und treffender kann 
die Unterstellung der Anschauung unter die Logik nicht bezeichnet 
werden. Hier wird vollkommen deutlich, was wir eben bei Kant 
vermissen, gefordert, dass durch die wissenschaftliche Geometrie 
die Anschauung der logischen Analyse zugänglich gemacht und 
logisch bestimmt werde. 

Dieses Ziel bestimmte in gewisser Weise ja auch schon im 
Besonderen die analytische Geometrie in dem Augenblicke, da sie 
in der genialen Erfindungskraft eines Descartes geboren. ward. 
Es ist also der Wissenschaft keineswegs erst in unserer Zeit ge- 
wiesen worden. Was aber unserer Zeit zu besonderem Verdienste 
gereicht, das ist gerade, um mit Cassirer zu reden, die allgemeine 
„Tendenz der wissenschaftlichen Geometrie, die anschaulichen 
Elemente, die sie zur ersten Anknüpfung nicht entbehren kann, 
im Fortgange der Untersuchung mehr und mehr zurückzudrängen, 
ja sie für die eigentliche Methode des Beweises entbehrlich zu 
machen“,*) und wie ich bloss explizite hinzufügen möchte, den 
Beweis wirklich logisch zu gestalten. 


I. 


1. Mit dieser Tendenz hängt sowohl logisch, als auch 
historisch, die sich zum Heil der Wissenschaft immer mehr 
durchsetzende Überwindung des Empirismus in der Geometrie, 
die Einsicht, dass die Geometrie keine Erfahrungswissenschaft sei, 
zusammen. Soweit ich sehe, sind die Versuche, die Geometrie 
auf Erfahrung zu gründen, innerhalb der letzten Jahrzehnte so 
zurückgegangen, dass sie für manchen Mathematiker kaum noch 
ernstlich in Betracht zu kommen scheinen. In der Philosophie ist 
freilich auch der mathematische Empirismus noch nicht soweit er- 
storben. Aber mancher Mathematiker, der in vorbildlicher Klar- 
heit dem Philosophen in der Überwindung des Empirismus voraus- 


1) Grundlagen der Geometrie von Dr. David Hilbert, o. Professor 
an der Universität Göttingen (Leipzig 1899), Einleitung. 

2) Ernst Cassirer: Kant und die moderne Mathematik. (Mit Bezug 
auf Bertrand Russells und Louis Couturats Werke über die Prinzipien der 
Mathematik.) Kant-Studien XII, 1, S. 29. 


916 B. Bauch, 


geeilt ist, sieht in diesem höchstens noch eine Vernunftverirrung 
und sinnlose Absonderlichkeit. „Es bleibt unmöglich, mit dem 
Empirismus in der Geometrie einen vernünftigen Sinn zu ver- 
binden.*!) Dieses Wort Poincare dürfte wohl der Ausdruck 
einer allgemeineren, um nicht zu sagen: der allgemeinen, An- 
schauung unter den bedeutenden, zugleich philosophisch gerich- 
teten modernen Mathematikern sein. Ich will, um jedem Missver- 
ständnis für die Folge vorzubeugen, schon hier bemerken, das 
ich diesem Ausspruche Poincarés rückhaltlos beistimme. Dem 
Empirismus in der Geometrie, unter dem ich das Bestreben ver- 
stehe, die Geometrie auf Erfahrung zu gründen, kann auch ich 
absolut keinen „vernünftigen Sinn“ beimessen. Und ihm zu de 
vielen bereits vorhandenen Widerlegungen noch eine weitere an- 
gedeihen zu lassen, hiesse einerseits seine Bedeutung überschätzen, 
andererseits die respektabelsten Leistungen der modernen Mathe 
matik nicht gebührend respektieren; ja nicht nur deren Leistungen, 
sondern auch die der grossen Philosophen von Kant zurück über 
Leibniz und Descartes bis letzlich hin zu Platon. Wenn ich also 
von vornherein weit davon entfernt bin, dem geometrischen Emp 
rismus das Wort reden zu wollen, so darf ich nun hoffen, gegen 
ein Missverständnis gesichert zu sein, wenn ich auf der andere 
Seite erkläre: So unabhängig die Geometrie logisch von der Er 
fahrung auch sein mag, so braucht doch keine gänzliche Be 
ziehungslosigkeit zwischen Geometrie und Erfahrung zu bestehe. 
Denn weder braucht das Verhältnis der logischen Abhängigkeit 
der Geometrie von der Erfahrung das einzig mögliche Ver- 
hältnis zwischen beiden, noch braucht das Verhältnis der ver- 
schiedenen Geometrien zur Erfahrung das gleiche zu sein. 

2. Da ich hier immer nur von einer logischen Beziehungt- 
möglichkeit rede, so brauche ich auf das faktisch-genetische 
Abhängigkeitsverhältnis der Geometrie von der Erfahrung nicht 
besonders hinzuweisen. Denn das wird ja auch von denjenigen 
Mathematikern nicht bezweifelt, die fast mit einer Art von Leider 
schaftlichkeit das logische Abhängigkeitsverhältnis leugnen und 
gerade durch die genetische Veranlassung der Erfahrung, wie dss 
Poincaré thut, die vermeintliche wissenschaftliche „Konvention“ gegen 
den Verdacht der Willkühr zu sichern suchen. Dass durch dieses 


1) Poincure, Wissenschaft und Hypothese (deutsch von F. u. L. Linde 
mann) S. 81. 


Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 217 


letzte Bestreben aber die eigene Position wieder zu Gunsten des 
Empirismus gefährdet wird, thut hier noch nichts zur Sache. Da- 
von werden wir später handeln. Zunächst kommt es nur darauf 
an, die Meinung abzuwehren, dass wir ein genetisches Verhält- 
nis, und nicht ein logisches, im Sinne hätten, und dass wir 
meinten, die geometrischen Erkenntnisse entstünden unabhängig 
von aller Erfahrung. Dass wir nur immer an der Hand der Er- 
fahrung auch zu unseren mathematischen Einsichten überhaupt 
und den geometrischen insbesondere gelangen, dass diese in uns 
immer auf Veranlassung der Erfahrung entstehen, und dass sie 
ohne alle Erfahrung auch in ihrer abstraktesten Form nicht ent- 
stehen könnten, das dürfte nur ein von Kant als philosophia 
pigrorum bezeichneter, noch an angeborene Vorstellungen glaubender 
Dogmatismus, zu dem man doch weder den modernen Mathe- 
matiker noch den kritischen Philosophen zählen darf, in Abrede 
stellen. 

Und es war selbst nur eine Verwechselung eines solchen 
mit Recht bekämpften Dogmatismus mit dem Apriorismus, des 
„Angeboren“ mit dem „A-priori“, der erkenntnistheoretischen mit 
der psychologischen Bestimmung, die einen Mann von der Be- 
deutung eines Helmholtz zu seinen Konzessionen an den Empiris- 
mus drängte. Und darüber brauchen wir uns um so weniger zu 
verwundern, als sich Kants Prophezeiung, nach hundert Jahren 
werde man ihn verstehen, sich nicht einmal an der Philosophie 
ganz erfüllt hat. Da hat also der Philosoph heute immer noch 
recht wenig Grund, auf den Mathematiker und Physiker, der vor 
Jahrzehnten jene Prophezeiung noch nicht wahr gemacht hatte, 
mit vornehmer Geringschätzung herabzublicken, wenn er auch, wie 
das vor jetzt genau dreissig Jahren noch Benno Erdmann !) ge- 


1) In seiner Schrift; „Die Axiome der Geometrie. Eine philosophische 
Untersuchung der Riemann-Helmholtzschen Raumtheorie“. (Leipzig 1877.) 
Benno Erdmann selbst dürfte, wie gesagt, schwerlich von seinem eigenen 
Standpunkte aus, den er in seinem logischen Hauptwerke (Logik, II. Aufl., 
Halle a. S. 1907) einnimmt, darin heute noch den Hauptwert jener seiner 
Schrift erblicken, worin er im Jahre 1877 ihren Hauptzweck sah; nämlich 
in dem „Nachweis, dass die neue geometrische Raumlehre lediglich in 
psychologischer Hinsicht zu positiv wertvollen Konsequenzen führt, sofern 
sie der empirischen Raumtheorie der modernen Physiologie zur Bestätigung 
dient, dass sie dagegen für die Erkenntnistheorie nur die negative Be- 
deutung besitze, die rationalistische Auffassung des Raumes als einer not- 
wendigen und allein möglichen Form der Sinnlichkeit auszuschliessen“. 


218 B. Bauch, s 


than, ohne es aber wohl in Konsequenz zu seinem jetzigen lo 
gischen Standpunkte, noch heute selbst thun zu können, jetzt 
nicht mehr mit Helmholtz’ Grundanschauungen gehen kann. 

3. Vor einer Verwechselung von genetischer mit logischer 
Abhängigkeit sind wir jetzt auf keinem Gebiete sicherer bewahrt, 
als auf dem der Mathematik überhaupt und dem der Geometrie 
insbesondere. Sowenig der wissenschaftliche Mathematiker eine 
genetische Abhängigkeit der Geometrie von der Erfahrung be 
streitet, sowenig kommt es ihm noch in den Sinn, eine logische 
Abhängigkeit der Geometrie von der Erfahrung herzustellen. 
Daran hindert ihn mit Recht die bereits von Platon gewonnem | 
Einsicht, dass wir die Inhalte mathematischer Erkenntnis schlecht- 
weg nicht „erfahren“ können. Die Erfahrung zeigt uns z. B., um 
ein bekanntes, geläufiges Beispiel zu wählen, nie eine Linie im 
mathematischen Sinne, sondern immer nur einen „Streifen“, den 
wir, wie weit wir ihn auch „zusammenschrumpfen“ lassen, nie bis 
zur breitelosen Linie in der Erfahrungswahrnehmung verschmäleru 
können, wenn er eben noch „erfahrbar“ sein soll. Freilich setzt 
seine wissenschaftliche ,Erfahrbarkeit“ seine mathematische Be | 
stimmbarkeit voraus; ebendarum aber ist sie nicht diese; sowenig 
je das, was vorausgesetzt wird, mit dem zusammenfällt, wofür es 
vorausgesetzt wird. Das eine beginnt da, wo das andere aufhört 
und umgekehrt. Das hat, wie gesagt, schon Platon gesehen. Die 
Beispiele liesen sich ins Ungezählte häufen. Um statt vieler, nur 
noch wenige zu erwähnen, so sei an die fundamentale, jedem Mathe- 
matiker geläufige Unterscheidung zwischen dem mathematischen 
Raume und dem empirischen Vorstellungsraume erinnert, von 


So wenig hier trotz der formalen Trennung der erkenntnistheoretischer 
und der psychologischen Bestimmung auch schon die scharfe inhaltliche 
Trennung erreicht ist, so sehr uns gerade diese zweite Seite der Unter— 
scheidung für den zweite: ‘Teil der Behauptung Erdmanns ge— 
rade zu entgegengesetzten equenzen führt, so sehr endlich hier noch 
der Empirismus sein Feld zu beh: | sucht, so bedeutsam ist es doch, 
dass hier überhaupt verkiimmerte, durch immanente 
Kritik eigentlich mpirismus hinausführende Unterschied 
der psychologisc! a tischen Seite auf mathema- 





Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 219 


denen diesem, wenn wir genau zusehen, gerade die wesentlichsten 
Eigenschaften jenes fehlen, nämlich: — von der Anzahl der 
Dimensionen ganz abgesehen — die Unendlichkeit, die Homogenei- 
tät, die Isotropie, die mathematische Kontinuität. Vor allem denke 
man aber auch an das Verhältnis von mathematischem und phy- 
sischem Kontinuum ‘selbst. Jeder, der auf mathematischen Gebiete 
kein ganzer Fremdling ist, wird die Beispiele nach Belieben ver- 
mehren können. Ich ‚kann hier auf weitere verzichten. Die we- 
nigen erwähnten sollten mir nur dazu dienen, dass für die fol- 
gende Darlegung der Schein vermieden würde, als ob die von den 
Mathematikern behauptete logische Unabhängigkeit nicht nur der 
Mathematik überhaupt, sondern auch insbesondere der Geometrie 
von aller Erfahrung hier verkannt würde. Sie sei also ohne 
weiteres eingeräumt, auch wenn damit nicht eine absolute Be- 
ziehungslosigkeit — und zwar jetzt selbst im logischen, nicht im 
genetischen Sinne — zugegeben werden soll. Denn, wie schon 
gesagt, wenngleich es vollkommen richtig ist, dass die Geometrie 
nicht von der Erfahrung logisch abhängig ist, so brauchte das 
doch keineswegs das einzig mögliche logische Verhältnis zwischen 
ihnen zu sein. Wäre es doch möglich, dass umgekehrt die Er- 
fahrung von der Geometrie — wenn auch nicht in deren ge- 
samten Umfange — logisch abhängig wäre; worauf wir ja bereits 
mit unserem ersterwähnten Beispiele soeben, wenigstens andeu- 
tungsweise, hinwiesen. Und wenn das der Fall wäre, hätten wir 
in der That ein innigeres erkenntnistheoretisches Verhältnis ge- 
wonnen, als es etwa ein so hervorragender Mathematiker, wie 
Poincare, wohl infolge seiner etwas leidenschaftlichen Abneigung 
gegen den Empirismus, anzuerkennen geneigt zu sein scheint. Da- 
bei sei aber auch gleich bemerkt, dass wir der Erfahrung selbst 
nicht einmal die Kraft einer „Bestätigung“ der Geometrie, etwa 
im Hinblick auf die Resultate der Astronomie, einzuräumen 
brauchen.!) 

4. Man hat dies versucht, um unter den verschiedenen Geo- 
metrien „die richtige“ herauszufinden. Poincaré sieht mit Recht 
einen solchen Versuch als absurd an. An diesem Punkte knüpfe 
ich besonders an Poincaré an. Ich thue es deshalb, weil Poin- 


1) Dazu vergleiche man: W. Meinecke, „Die Bedeutung der Nicht- 
Euklidischen Geometrie in ihrem Verhältnis zu Kants Theorie der mathe- 
matischen Erkenntnis“. (Kant-Studien XI, 2, S. 230.) 


220 B. Bauch, 


carés Anschauungen gegenwärtig ganz besonders für eine gegen- 
seitige Orientierung von Philosophie und Mathematik wirksam 
sind; zugleich aber auch, weil von diesem Punkte aus am ehesten 
deutlich wird, worin Poincarés Anschauungen einer philosophischen 
Berichtigung bedürfen. Für so wertvoll ich also auch die An- 
regungen halte, die für die Philosophie der Mathematik von ihnen 
ausgegangen sind und soviel ich diesen selbst verdanke, so ist 
diese meine Anknüpfung an Poincaré duch vorwiegend kritischer 
Absicht. Was nun den Versuch. vermittels der Bestätigung durch 
Erfahrung die „richtige Geometrie“ herauszufinden anlangt, so be 
merkt Poincaré: „Eine Geometrie kann nicht richtiger sein, als 
die andere; sie kann nur bequemer sein. Und die Euklidische ist 
die bequemste, und wird es immer bleiben: 1. weil sie die ein 
fachste ist, und das ist sie nicht nur infolge der Gewohnheit un: 
seres Verstandes oder infolge irgend welcher direkten Anschauung, 
sondern sie ist die einfachste in sich, gleichwie ein Polynon 
ersten Grades einfacher ist, als ein Polynom zweiten Grades; 2. 
weil sie sich hinreichend gut den Eigenschaften der natürlichen 
festen Körper anpasst. dieser Körper, welche uns durch unsere 
wilieder und unsere Augen zum Bewusstsein kommen, und aus 
denen wir unsere Messinstrumente herstellen.“ 

Ich habe diese Bemerkung ausführlich hergesetzt, weil sie 
ebenso interessant. wie lehrreich ist: und das wiederum ist sie, 
weil sie nach der einen Seite hin ebenso zutreffend, wie nach der 
anderen Seite bin unzutreffend ist und wir trotzdem nach beiden 
Seiten hin von ihr lernen können. Wir können den einen Grund- 
aodanken ebenso rückhaltlos acceptieren, wie wir den anderen 
pieksiehtslos um- und fortbilden müssen. Was nämlich Poincaré 
uber die Richtigkeit der Geometrien sagt, erscheint uns ebenso 
tiehtigr selber, wie uns das unannehmbar ist, was er über ihre 
„Bequemlichkeit“ bemerkt. obwohl er darin ebenfalls mit Recht 
home „Bestätigung durch Erfahrung“ sieht. 

b. Was zunächst die Richtigkeit anlangt, so ist es gewiss, 
dans der Satz! keine Geometrie kann richtiger sein, als die 
andere, durchaus zutrifft, wenn wir ihn auch vielleicht anders 
pegrtiuden, als der berühmte Mathematiker. Die Richtigkeit 
ab mule lässt aber jedenfalls, wenn wir sie streng logisch 
fanavill und nieht im psychologischen Sinne als mehr oder 


Deu ON NY. 


Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 221 


minder grosse Annäherung des Denkens an das Erkennen —, keine 
Einteilung in Grade zu. Sie duldet, wie man in der Logik ge- 
sagt hat, keinen „Kompromiss“. Es ist danach etwas nicht rich- 
tiger, als etwas anderes; sondern es ist entweder richtig oder es 
ist nicht richtig. Tertium non datur. Daraus folgt nun auch, 
dass eine Geometrie nicht richtiger sein kann, als eine andere, 
sondern eben nur, dass sie entweder richtig ist, oder dass sie es 
nicht ist, und dass es auch hier kein Drittes giebt. 


Hier scheint uns nun aber gerade die moderne Geometrie in 
Verlegenheit zu bringen. Folgt zwar auch für uns, dass keine 
Geometrie richtiger. sein kann, als die andere, so scheint sich aber 
gleich eine Schwierigkeit aus unserer Alternative: entweder richtig 
oder nicht richtig zu ergeben; eine Schwierigkeit, die uns in 
Widerspruch gerade damit zu setzen scheint, dass jede Geometrie 
„gleich richtig“ sein soll. Es erhebt sich hier doch sofort die 
Frage: wie steht es aber denn da mit jeder „anderen“, wenn man 
annimmt, dass die eine richtig ist? Muss dann eben die „andere“ 
nicht notwendigerweise nicht richtig, d. h. falsch sein, wenn es 
ein drittes nicht giebt? Nehmen wir einmal an, die Euklidische 
Geometrie sei richtig, müssen dann nicht die von Lobatschewsky 
und die von Riemann falsch sein? Oder wenn die von Lobat- 
schewsky richtig ist, müsste dann nicht die Euklidische und die 
Riemannsche falsch sein; oder wenn diese letzte richtig ist, sind 
dann nicht die beiden anderen notwendig falsch? Kurz, wenn 
man sich n Geometrien ausdenkt, müssen dann nicht immer n—1 
Geometrien falsch sein, sobald man annimmt, die eine sei richtig? 
Allein ergiebt sich, so fragen wir gleich weiter, dieser Schein 
wirklich daraus, dass etwas nicht mehr oder weniger richtig sein 
kann, weil die Richtigkeit keine Grade kennt? Wenn wir mit 
Poincaré zugeben, dass keine Geometrie richtiger sein kann, als 
die andere; wenn wir dies aber zum Unterschiede von Poincare 
deshalb thun, weil logisch die Frage nach grösserer oder geringerer 
Richtigkeit ihren Sinn verliert, folgt daraus wirklich schon gegen 
Poincar& und die ganze moderne Geometrie, dass wenn eine Geo- 
metrie richtig ist, die andere falsch sein müsse ? 


Um die Sache etwas konkreter zu wenden, diene folgende 
Überlegung, die sich auf eine bestimmte Einzelbehauptung aus 
jeder der drei erwähnten Geometrien bezieht und uns zugleich das 
Gesamtverbältnis deutlich macht. 

Kaststudion XII, 16 






























220 B. Bauch, 


seitige Orientierung von Philosophie und Mat 
sind; zugleich aber auch, weil von diesem Punkte au 
deutlich wird, worin Poincarés Anschauungen einer p 
Berichtigung bedürfen. Für so wertvoll ich also ; 


ausgegangen sind und soviel ich diesen selbst verd 
diese meine Anknüpfung an Poincaré doch For 
Absicht. Was nun den Versuch, vermittels der Bestätigung d 
Erfahrung die „riehtige Geometrie“ herauszufinden pres 
merkt Poincaré: „Eine Geometrie kann nicht richtiger sein, 
die andere; sie kann nur bequemer sein. Und die Euklidi 
die bequemste, und wird es immer bleiben; 1. weil sie 
fachste ist, und das ist sie nicht nur infolge der Gewo 
seres Verstandes oder infolge irgend welcher direkten ¢ 
sondern sie ist die einfachste in sich, gleichwie ein 
ersten Grades einfacher ist, als ein Polynom zweiten G 
weil sie sich hinreichend gut den Eigenschaften der natii 
festen Körper anpasst, dieser Körper, welche uns durch uns 
Glieder und unsere Augen zum Bewusstsein kommen, und. 
denen wir unsere Messinstrumente herstellen.“!) 

Ich habe diese Bemerkung ausführlich hergesetzt, 
ebenso interessant, wie lehrreich ist; und das wiederum ist 
weil sie nach der einen Seite hin ebenso zutreffend, wie nach der 
anderen Seite hin unzutreffend ist und wir trotzdem nach beiden 
Seiten hin von ihr lernen können. Wir können den einen Gru 
gedanken ebenso rückhaltlos acceptieren, wie wir den ande 
rücksichtslos um- und fortbilden müssen. Was nämlich car 
über die Richtigkeit der Geometrien sagt, erscheint uns ebe 
richtig selber, wie uns das unannehmbar ist, was er iiber 
„Bequemlichkeit“ bemerkt, obwohl er darin ebenfalls mit 
keine „Bestätigung durch Erfahrung“ sieht. 

5. Was zunächst die Richtigkeit anlangt, so ist es gi 
dass der Satz: keine Geometrie kann richtiger 
andere, durchaus zutrifft, wenn wir ihn auch 
begründen, als der berühmte Mathematiker, 
als solche lässt aber jedenfalls, wenn wir 
fassen — und nicht im psychologischen Sim 


1) a. a, 0.8.52 


Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 221 


minder grosse Annäherung des Denkens an das Erkennen —, keine 
Einteilung in Grade zu. Sie duldet, wie man in der Logik ge- 
sagt hat, keinen „Kompromiss“. Es ist danach etwas nicht rich- 
tiger, als etwas anderes; sondern es ist entweder richtig oder es 
ist nicht richtig. Tertium non datur. Daraus folgt nun auch, 
dass eine Geometrie nicht richtiger sein kann, als eine andere, 
sondern eben nur, dass sie entweder richtig ist, oder dass sie es 
nicht ist, und dass es auch hier kein Drittes giebt. 


Hier scheint uns nun aber gerade die moderne Geometrie in 
Verlegenheit zu bringen. Folgt zwar auch für uns, dass keine 
Geometrie richtiger sein kann, als die andere, so scheint sich aber 
gleich eine Schwierigkeit aus unserer Alternative: entweder richtig 
oder nicht richtig zu ergeben; eine Schwierigkeit, die uns in 
Widerspruch gerade damit zu setzen scheint, dass jede Geometrie 
„gleich richtig“ sein soll. Es erhebt sich hier doch sofort die 
Frage: wie steht es aber denn da mit jeder „anderen“, wenn man 
annimmt, dass die eine richtig ist? Muss dann eben die „andere“ 
nicht notwendigerweise nicht richtig, d. h. falsch sein, wenn es 
ein drittes nicht giebt? Nehmen wir einmal an, die Euklidische 
Geometrie sei richtig, müssen dann nicht die von Lobatschewsky 
und die von Riemann falsch sein? Oder wenn die von Lobat- 
schewsky richtig ist, müsste dann nicht die Euklidische und die 
Riemannsche falsch sein; oder wenn diese letzte richtig ist, sind 
dann nicht die beiden anderen notwendig falsch? Kurz, wenn 
man sich n Geometrien ausdenkt, müssen dann nicht immer n—1 
Geometrien falsch sein, sobald man annimmt, die eine sei richtig? 
Allein ergiebt sich, so fragen wir gleich weiter, dieser Schein 
wirklich daraus, dass etwas nicht mehr oder weniger richtig sein 
kann, weil die Richtigkeit keine Grade kennt? Wenn wir mit 
Poincaré zugeben, dass keine Geometrie richtiger sein kann, als 
die andere; wenn wir dies aber zum Unterschiede von Poincaré | 
deshalb thun, weil logisch die Frage nach grösserer oder geringerer 
Richtigkeit ihren Sinn verliert, folgt daraus wirklich schon gegen 
Poincaré und die ganze moderne Geometrie, dass wenn eine Geo- 
metrie richtig ist, die andere falsch sein müsse? 


Um die Sache etwas konkreter zu wenden, diene folgende 
Überlegung, die sich auf eine bestimmte Einzelbehauptung aus 
jeder der drei erwähnten Geometrien bezieht und uns zugleich das 
Gesamtverhältnis deutlich macht. 

Kantstudien XII. 15 


220 B. Bauch, 


carés Anschauungen gegenwärtig ganz besonders für 

seitige Orientierung von Philosophie und Mathematik 

sind; zugleich aber auch, weil von diesem Punkte aus am ehesten 
deutlich wird, worin Poincarés Anschauungen einer sophis 
Berichtigung bedürfen. Für so wertvoll ich also auch die An 
regungen halte, die für die Philosophie der Mathematik von ihnen 
ausgegangen sind und soviel ich diesen selbst verdanke, so ist 
diese meine Anknüpfung an Poincaré doch vorwiegend kritischer 
Absicht. Was nun den Versuch, vermittels der Bestätigung durch 
Erfahrung die „riehtige Geometrie“ herauszufinden anlangt, so be- 
merkt Poincaré: „Eine Geometrie kann nicht richtiger sein, als 
die andere; sie kann nur bequemer sein. Und die Euklidische ist 
die bequemste, und wird es immer bleiben: 1. weil sie die ein- 
fachste ist, und das ist sie nicht nur infolge der Gewohnheit un- 
seres Verstandes oder infolge irgend welcher direkten Anschauung, 
sondern sie ist die einfachste in sich, gleichwie ein Polynom 
ersten Grades einfacher ist, als ein Polynom zweiten Grades; 2 
weil sie sich hinreichend gut den Eigenschaften der natürlichen 
festen Körper anpasst, dieser Körper, welche uns durch unsere 
Glieder und unsere Augen zum Bewusstsein kommen, und aus 
denen wir unsere Messinstrumente herstellen.“1) 

Ich habe diese Bemerkung ausführlich hergesetzt, weil sie 
ebenso interessant, wie lehrreich ist; und das wiederum ist sie, — 
weil sie nach der einen Seite hin ebenso zutreffend, wie nach der 
anderen Seite hin unzutreffend ist und wir trotzdem nach beiden 
Seiten hin von ihr lernen können. Wir können den einen Grund- 
gedanken ebenso rückhaltlos acceptieren, wie wir den anderen 
rücksichtslos um- und fortbilden müssen. Was nämlich Poincaré 
über die Richtigkeit der Geometrien sagt, erscheint uns ebenso 
richtig selber, wie uns das unannehmbar ist, was er über ihre 
„Bequemlichkeit“ bemerkt, obwohl er darin ebenfalls mit Recht 
keine „Bestätigung durch | rung“ sieht. 

6. Was zunächst die Richtigkeit anlangt, so ist es gewiss, 
dass der Satz: keine Geometrie kann richtiger sein, als die 
andere, durchaus zutrifft, wenn wir ihn auch vielleicht anders 
begründen, als der berühmte Mathematiker. Die Richtigkeit 
als solche lässt aber jedenfalls, wenn wir sie streng logisch 
fassen — und nicht im psychologischen Sinne als mehr oder 


1) a. a, 0.8.52 





Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 22i 


minder grosse Annäherung des Denkens an das Erkennen —, keine 
Einteilung in Grade zu. Sie duldet, wie man in der Logik ge- 
sagt hat, keinen „Kompromiss“. Es ist danach etwas nicht rich- 
tiger, als etwas anderes; sondern es ist entweder richtig oder es 
ist nicht richtig. Tertium non datur. Daraus folgt nun auch, 
dass eine Geometrie nicht richtiger sein kann, als eine andere, 
sondern eben nur, dass sie entweder richtig ist, oder dass sie es 
nicht ist, und dass es auch hier kein Drittes giebt. 


Hier scheint uns nun aber gerade die moderne Geometrie in 
Verlegenheit zu bringen. Folgt zwar auch für uns, dass keine 
(Geometrie richtiger sein kann, als die andere, so scheint sich aber 
gleich eine Schwierigkeit aus unserer Alternative: entweder richtig 
oder nicht richtig zu ergeben; eine Schwierigkeit, die uns in 
Widerspruch gerade damit zu setzen scheint, dass jede Geometrie 
„gleich richtig“ sein soll. Es erhebt sich hier doch sofort die 
Frage: wie steht es aber denn da mit jeder „anderen“, wenn man 
annimmt, dass die eine richtig ist? Muss dann eben die „andere“ 
nicht notwendigerweise nicht richtig, d. h. falsch sein, wenn es 
ein drittes nicht giebt? Nehmen wir einmal an, die Euklidische 
Geometrie sei richtig, müssen dann nicht die von Lobatschewsky 
und die von Riemann falsch sein? Oder wenn die von Lobat- 
schewsky richtig ist, müsste dann nicht die Euklidische und die 
Riemannsche falsch sein; oder wenn diese letzte richtig ist, sind 
dann nicht die beiden anderen notwendig falsch? Kurz, wenn 
man sich n Geometrien ausdenkt, müssen dann nicht immer n—1 
Geometrien falsch sein, sobald man annimmt, die eine sei richtig? 
Allein ergiebt sich, so fragen wir gleich weiter, dieser Schein 
wirklich daraus, dass etwas nicht mehr oder weniger richtig sein 
kann, weil die Richtigkeit keine Grade kennt? Wenn wir mit 
Poincaré zugeben, dass keine Geometrie richtiger sein kann, als 
die andere; wenn wir dies aber zum Unterschiede von Poincare 
deshalb thun, weil logisch die Frage nach grösserer oder geringerer 
Richtigkeit ihren Sinn verliert, folgt daraus wirklich schon gegen 
Poincaré und die ganze moderne Geometrie, dass wenn eine Geo- 
metrie richtig ist, die andere falsch sein müsse? 


Um die Sache etwas konkreter zu wenden, diene folgende 
Überlegung, die sich auf eine bestimmte Einzelbehauptung aus 
jeder der drei erwähnten Geometrien bezieht und uns zugleich das 
Gesamtverhältnis deutlich macht. 

Kantstudien XII, 15 


222 B. Bauch, 


Nach Euklid ist die Winkelsumme im Dreieck = 2 R 

» Lobatschewsky „ * | FC 

» Riemann ) aR 

Diese Sätze Ser pri sich Augenschäiulich Nun ist mit 
den drei Disjunktionsgliedern des „Gleichen“, des „Grösseren* 
und des „Kleineren“ (als 2 R) offenbar eine sogenannte vollstän- 
dige Disjunktion erreicht. Stünden wir dieser nur mit dem 
Widerspruchsgesetze gegenüber, so müssten gewiss, wenn einer 
dieser Sätze richtig wäre, die anderen falsch sein, ohne dass einer 
richtiger, als der andere zu sein brauchte. Wir würden also von 
dem Poincaréschen Ausgangspunkte her, gerade weil von einer 
grösseren oder geringeren Richtigkeit nicht die Rede sein soll, 
gerade dadurch, dass wir alle Richtigkeits-„Kompromisse“ streng 
ablehnen, scheinbar zu ganz anderen Konsequenzen geführt. 

Nun ist aber wahrlich nicht wenig und nicht fruchtlose Mühe 
darauf verwendet worden, zu zeigen, dass keine der Geometrien 
durch die andern gefährdet werden könne. Das ist selbst auch 
durchaus richtig. Wie aber ist das im Hinblick auf jene drei, wie 
es scheint, einander disjunktiv ausschliessenden, also einander doch 
wohl widersprechenden Sätze möglich? Nur dann ist es, wie das 
natürlich jeder Mathematiker weiss, und was zunächst nur den 
Laien befremdet, möglich, wenn wir es hier gar nicht mit dem 
vielgepriesenen Widerspruchsgesetze, das nur die Axiome z. T. trennt, 
zu thun haben, sondern vielmehr vor jenemilogischen Verhältnis 
stünden, das wir in der Logik als Antinomie zu bezeichnen 
pflegen, wonach, wenn scheinbar von einer Beziehung f eine an- 
dere f, zu gegenseitiger Aufeinanderbeziehung im Urteil behauptet 
wird, die scheinbar zu einer zweiten f, und einer dritten f, eben- 
falls behaupteten Beziehung in Widerspruch steht, die erste Be 
ziehung f in den einzelnen Disjunktionsurteilen nicht identisch ist, 
sondern in ihnen als f’, £”, £” ete. auftritt. Das heisst, auf unser 
Beispiel angewandt, nichts anderes, als was jedem Mathematiker 
geläufig ist: dass das Dreieck Euklids eben nicht auch das von 
Lobatschewsky und von Riemann ist und keines mit dem anderen 
vertauscht werden kann. Dieser antinomische Gedanke auf das 
Ganze der verschiedenen Geon 
vollkommen von einand 
ihrer Setzung und Auflösun 





Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 223 


Widerspruchsgesetze nicht betroffen, bezw. z. T. nur in den Axiomen 
betroffen, scheiden.) Hier sollte nur die implizite methodische 
Voraussetzung kurz expliziert werden. Wenn es also auch ein 
Drittes zwischen Richtigkeit und Unrichtigkeit nicht giebt, so be- 
zieht sich das stets auf eine bestimmte Setzung. Ist diese richtig, 
so kann sie freilich nicht auch unrichtig sein. Aber neben ihr 
sind selbst Setzungen möglich, die zur ersten zwar in sinem anti- 
nomisch-gegensätzlichen, aber nicht in einem contradiktorischen 
Widerspruchsverhältnis stehen. Mithin war die Schwierigkeit, die 
sich aus der Ablehnung einer Richtigkeitseinteilung in grössere 
oder geringere Richtigkeit zu ergeben schien, eben nur Schein. 
Danach haben wir also streng zu unterscheiden zwischen 
antinomischem Gegensatze und logischem Widerspruch. Beide 
fallen nicht zusammen. Ja, der antinomische Gegensatz ist nur 
möglich, wenn die antithetischen Disjunktionsglieder im Verhältnis 
zu einander widerspruchslos sind, den Widerspruch ausschliessen. 
Das ist demnach die Voraussetzung auch dafür, dass die ver- 
schiedenen Geometrien zu einander — obwohl im Gegensatz, so 
doch nicht im Widerspruch — stehen, d. h. also neben einander 
logisch möglich sind. Dafür ist aber schliesslich für jede einzelne 
selbst ein eindeutiger und in sich selbst widerspruchsloser Gehalt 
gefordert. Und so tritt hier zu der ersten Forderung anti- 
nomischer Widerspruchslosigkeit, wonach jede Geometrie 
neben der anderen muss bestehen können, die zweite Forderung 
immanenter Widerspruchslosigkeit, wonach jede Geometrie 
muss für sich selbst bestehen können, in sich selbst widerspruchslos 
sein muss; nur so kann sie ja auch die erste Forderung erfüllen. 
Diese immanente Widerspruchslosigkeit ist es, auf die von 
mathematischer Seite darum ein besonderer Nachdruck gelegt 
wird. Und sie meint man, wenn man von den verschiedenen Geo- 
metrien in einer logisch nicht ganz korrekten Weise sagt, 


1) Über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der freilich z. T. wider- 
sprechenden, und von ihren nur antinomischen Systemen wohl zu unter- 
scheidenden Axiome entscheidet aber bekanntlich nicht immer ein Beweis. 
Wenn wir schliesslich trotzdem eine Wertunterscheidung treffen, so ist 
dies nicht selbst eine bloss formale im eigentlichen Sinne Richtigkeitsent- 
scheidung, sondern eine Leistungsfähigkeitsentscheidung eben über das 
auf ihnen aufgebaute Wissenssystem. Freilich werden wir, wie sich zeigen 
wird, diese Leistungsfähigkeitsentscheidung nicht mit Poincaré durch das 
Kriterium der Bequemlichkeit herbeiführen dürfen. 

15° 


224 B. Bauch, 


man nur sagen: jede sei widerspruchslos.!) 

wir jene formale Richtigkeit zu verstehen, als welche 
spruchslosigkeit des Denkens bedeutet. In der That kann man 
ja bekanntlich jede der verschiedenen Geometrien yon ihren 
Axiomen her konstruieren. Euklid baut von seinen Axiomen alls 
seine Geometrie auf. Durch Fallen-Lassen seines Parallelenaxions 
und Annahme seines numerischen Gegensatzes, sowie unter Bei- 
behaltung der anderen Axiome folgt rein logisch und widerspruchs- 
los konstruiert, d, h. also „richtig“, die Geometrie Lobatschewskys 
— von der Poincaré mit Recht sagt, dass „ihre unfehlbare Logik 
in nichts derjenigen der Euklidischen Geometrie nachsteht“ (a. a. 
0.8. 38) —, wie durch weiteres Fallen-Lassen des ersten Geraden 
axioms die neuen ebenso mit den Euklidischen, wie mit den 
Lobatschewskyschen Sätzen im antinomischen Gegensatz stehenden, 
in sich aber widerspruchslosen Sätze Riemanns folgen. 


II. 


1. In Rücksicht auf das rein formal-logische Gesetz des 
Widerspruchs sind also die verschiedenen Geometrien vollkommen 
gleichwertig. Und doch sind sie nicht absolut gleichwertig. Auch 


1) Das thut korrekterweise auch David Hilbert a. a, O. 8.19 ff | 
Da ich hier immer schon die spezifisch mathematischen Entwickelungen 
voraussetze, verweise ich für die nächsten Bemerkungen hier wieder auf 
dessen Werk; insbesondere für die mathematische Entwickelung des Be: 
griffs der „Unabhängigkeit“ der Axiome und der Methode des „Fallen 
Lassens“ der Axiome auf die überaus klaren und auch methodologisch 
instruktiven Darlegungen auf $. 21 f. und S, 23 ff. Ich füge hier selbst 
nur noch eine kurze methodische Bemerkung hinzu. Man hat zweierlei 
auch hier, das logische und das psychologische Moment, zu unterscheiden. 
Es ist gewiss richtig, dass man die „Unabhängigkeit“ durch die „Methode 
des Fallen-Lassens“ erkennt, was auch gerade Hilberts Verfahren charak- 
terisiert. Darum ist es ungereimt, gegen Hilbert einzuwenden, dass er 
die Unabhängigkeit für das Fallen-Lassen ja schon voraussetze. Es ist 
eben zu unterscheiden zwischen der Unabhängigkeit an und für sich und 
der Ermittelung der Unabhängigkeit in der thatsächlichen Erkenntnis, 
d. h. zwischen dem logischer und den psychologischen Moment. ‘Hilbert 





Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret, Verhältnis. 225 


Poincaré erkennt einen Wertunterschied an, der logischerweise in 
den, allein widersprechend geschiedenen, Axiomen als dxodéoes 
echt Platonischen Sinne liegen muss, in Riicksicht auf das, 
was sie in: dem von ihnen aus konstruierten Wissenssysteme 
isten. Allein so sehr ich, auf Grund der Unmöglichkeit einer 
Gradeinteilung innerhalb des Richtigkeitsbegriffes, die Frage, - 
elche Geometrie — in Rücksicht auf den formalen Richtigkeits- 
ff — richtiger sei, als die andere, als sinnlos erkenne, so 
kann ich den Wertunterschied in einer bloss grösseren oder 
| g Bequemlichkeit setzen. Indem Poincaré das thut, ist 
er ER dem Empirismus, dem er so eifrig zu entgehen strebt, 
wieder verfallen, wie es besonders seine Tendenz, die Axiome, um 
sie nicht auf Erfahrung gründen zu müssen, in der „Konvention“ 
zu begründen beweist. Denn „Bequemlichkeit“ und „Konvention“ 
sind selbst durchaus empirische Faktoren. Und doch hängt die 
auch von Poincaré anerkannte Wertdifferenz — nach diesem 
selbst in gewisser, aber für ihn freilich in anderer als der hier 
darzulegenden Weise — mit der Erfahrung zusammen. Das aber 
nicht in dem yon Poincaré ebenfalls abgelehnten Sinne, als ob die 
eine von ihnen durch Erfahrung bestätigt werden könnte, die 
andere aber nicht. Wir werden vielmehr sehen, dass gerade die 
Art dieses Zusammenhanges eine Bestätigung durch Erfahrung 
ausschliesst. Ferner aber auch nicht in dem Sinne, dass die eine 
von ihnen der Erfahrung widerspräche, die andere aber nicht. 
Hier ist es gerade Poincaré, der sehr treffend erklärt: „Keine 
Erfahrung wird jemals mit dem Euklidischen Postulate im Wider- 
spruch sein, ebenso aber andererseits: keine Erfahrung wird 
jemals im Widerspruch mit dem Lobatschewskyschen Postulate 
sein.“ !) 
| Wir stossen so auf eine dritte Widerspruchslosigkeit, die zu 
der bereits geforderten, einerseits der antinomischen, andererseits 
der immanenten, hinzukommt als Widerspruchslosigkeit der Geo- 
metrie zu der Erfahrung. Wenn also auf solche Weise weder das 
Euklidische noch das Lobatschewskysche Postulat einen Wider- 
spruch zur Erfahrung enthält, so scheinen die verschiedenen Geo- 
metrien mit der Erfahrung gleich verträglich zu sein. Allein es 
besteht dennoch ein Unterschied in diesem Verträglichkeits- 
verhältnis. Seine Auflösung eröffnet uns einen neuen Ausblick 


1} a. a. 0. 8. 77. 





226 B. Bauch, 


und ermöglicht uns in letzter Linie die Bestimmung des erkennt- 
nistheoretischen Verhältnisses von Geometrie und Erfahrung. 

2. Es kommt dabei auf eine genauere Fassung einerseits 
des Wesens der Verträglichkeit, andererseits desjenigen der 
Erfahrung an. Sie sind verträglich mit der Erfahrung in dem 
Sinne, dass die „gegebene“, vermeintlich „fertige“ Erfahrung 
beide zulässt; und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie als 
solche uns weder das eine noch das andere in sinnfälliger Evidenz 
an die Hand giebt. Auch hier vermochte schon die Platonische 
Einsicht, auf die sich gerade für das mathematische Gebiet keiner 
je so nachdrucksvoll berufen sollte, als Galilei, den Gedanken zur 
grössten Klarheit zu entwickeln, dass das empirische Erkenntnis- 
gebiet das mathematische Gesetz überhaupt nie erreichen, es 
darum ebensowenig je widerlegen, wie je bestätigen könne. 

Etwas Anderes aber ist die „fertige“, die „gegebene“ Er- 
fahrung; etwas Anderes die aufgegebene Erfahrung, das Problem 
jener Erfahrung, die von der Wissenschaft erst zu leisten ist. 
Zu den Leistungsmethoden aber gehört ganz allgemein die Mathe- 
matik. Von ihren methodischen Leistungsmitteln ist es unter den 
Geometrien diejenige Euklids, die dem Erfahrungsgegenstande 
gegenüber mit den überhaupt möglichen Geometrien, wie wir ge- 
sehen haben, das Gemeinsame hat, dass sie dem Erfahrungsgegen- 

. Stande weder widerspricht, noch von ihm bestätigt wird; und, wie 
wir jetzt sehen werden, das Auszeichnende besitzt, dass sie den 
Erfahrungsgegenstand erst ermöglicht, ihm eben seine Gegenständ- 
lichkeit mit verbürgt. Ihre Verträglichkeit mit der Erfahrung 
ist also nicht blosse Widerspruchslosigkeit im Verhältnis zur Er- 
fahrung — jene dritte Form der Widerspruchslosigkeit, die zur 
antinomischen und immanenten Form hinzutritt — sondern posi- 
tive Erträglichkeit, d. h. Grundstiftung der Erfahrung. Mithin 
liegt das Wertentscheidende nicht in der formalen, sondern der 
transscendentalen Logik. 

In diesem Sinne behält auch Kant, was die Stellung der 
Geometrie im System des Wissens anlangt, Recht, mag er auch 
ihrer eigentlichen Erkenntnisweise nicht gerecht geworden sein, 
trotzdem auch er schon den Gedanken einer „höchsten“ Geometrie, 


metrische Anschauungsweise von de - nicht-euklidischen ebenso- 
wenig getroffen, wie s diese trifft. Sie bestehen rein 





Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 227 


logisch wohl und gut zusammen, nur erhält die Euklidische Geo- 
metrie im Wissenssystem das Plus der erfahrungsstiftenden Funk- 
tion. Und wenn Poincaré, um ihn hier wieder zum Vergleich 
‚heranzuziehen, in der „Angepasstheit“ der Euklidischen Geometrie 
an die „Körperwelt“ — d. i. doch wohl Naturerfahrung — das 
er sieht, so hat er als implizite Voraussetzung 
unbewusst bereits die transscendentale Logik gefordert. Wenn 
wir nun mit einer geringen Verschiebung des gewöhnlichen Wort- 
gebrauchs sagen: die Euklidische Geometrie ist im Verhältnis zur 
Erfahrung transscendentale Voraussetzung, die nicht-euklidische 
Geometrie hingegen ist transscendent, so könnten wir damit selbst 
Poincarés Behauptung über die Euklidische Geometrie erkenntnis- 
theoretisch begründen: „sie ist die einfachste in sich, gleichwie 
ein Polynom ersten Grades einfacher ist als ein Polynom zweiten 
Grades“. 

Indes jene transscendentale Forderung hat Poincaré nur im- 
plizite gestellt. Wir können sogar genau den Punkt bezeichnen, 
der ihn zu der expliziten Formulierung nicht kommen lässt: näm- 
lich die Verkennung des Unterschiedes von formaler und trans- 
scendentaler Logik. Indem wir dies noch aufdeckeu, geben wir 
einerseits unserer Aufstellung von der erfahrungsstiftenden Funk- 
tion der Euklidischen Geometrie allein die eigentliche Begründung, 
wie wir andererseits zugleich jeden Einwand gegen unsere Dar- 
legung abschneiden. 

83. Es könnte zunächst freilich scheinen, als ob wir jede 
‚Geometrie zur Grundlage der Erfahrung machen könnten, indem 
wir diese eben in die „Sprache“ der verschiedenen Geometrien 
„übersetzen“, wie wir etwa die mechanischen Thatsachen auch 
ganz anders „aussprechen“ können, als wir es in der klassischen 
oder auch noch in der energetischen Mechanik zu thun pflegen, 
„indem wir sie auf einen nicht-euklidschen Raum übertragen“,!) 
Allein ich brauche hier nicht besonders darauf aufmerksam zu 
machen, dass wir, um beim Bilde zu bleiben, dann doch immer 
von einer Art „Grundsprache“ ausgehen. Wichtiger ist es, dass 
‚die „übertragenen“ Thatsachen dann eben doch nicht die 
realen Thatsachen sind. Und das ist es auch, was einen Unter- 
schied im erkenntnistheoretischen Verhältnis der verschiedenen 
Geometrien zur Erfahrung begründet. 


4) Poincaré a, a. O. S, 92. 





228 B, Bauch, 


Wer freilich des Glaubens ist, dass aus dem blossen Begriffe= 
und seiner widerspruchslosen Definition auch schon die Existen=— 
des Definierten folge, mag auch glauben, dass jede Geometrie imam 
gleicher Weise Erfahrung zu begründen vermöge, denn wider— 
sprechen kann ihr ja nach den vorangehenden Ausführungermme 
keine. Allein wer bedenkt, dass die Existenz eine eigene logisch 
Gesetzmässigkeit bedeutet, die im Verhältnis zum Widerspruchs — 
gesetze etwas ganz neues zu besagen hat, dem geht hier gleiche 
ein weiterer Unterschied unter transscendentalem Betracht auf— 
Der Transscendentalphilosophie kommt es nicht darauf an, die= 
formal möglichen Erfahrungen in eben dieser formalen Möglichkeit 
sondern die reale Erfahrung iu ihrer realen Möglichkeit zm 
begreifen. Die Widerspruchslosigkeit bezeichnet aber immer mue 
formale, nicht reale Möglichkeit. Wir können darum ruhig zu— 
geben, dass auch die nicht-euklidische Geometrie formal-mégliche 
Erfahrung logisch bedingen kann. Aber allein die euklidische= 
Geometrie ermöglicht logisch reale Erfahrung. Sie ist Möglich— 
keitsgrundlage für Wirklichkeitserkenntnis, die anderen sind solches 
Grundlage immer nur für Mügliches. Es ist daher, wie Cassirer!}æ 
bemerkt, ganz im Kantischen Sinne, wenn Couturat gegen Poincaré 
die völlige Verschiedenheit des Widerspruchsgesetzes und des 
Existenzialgesetzes betont, indem er in den von Cassirer wieder— 
gegebenen Sätzen ausführt: „der Widerspruch ist ein rein nega— 
tives Kriterium der Existenz; er ist ein Kriterium der Nicht—— 
Existenz. Nicht das Fehlen des Widerspruchs ist es, was di 
Existenz eines Begriffs beweist, sondern umgekehrt ist es die 
Existenz eines Begriffs, die seine Widerspruchslosigkeit verbiirgt.— 

Aber so sehr Kant auch den Ontologismus zurückgewiesen 
hat, so macht sich doch gerade hier eine historisch recht interes— 
sante Problemkonstellation bemerkbar. Man wird es schon be— 
achtet haben, wie gerade hier der von Kant zurückgewiesene 
Ontologismus und der von Kant mit verschuldete „Ding-an-sich*- 
Dogmatismus, der das ,An-Sich* in Dingen sieht, trotz aller 
Verschiedenheit, in gewissem Sinne Hand in Hand gehen. Wenn 
der Ontologismus aus der formalen Widerspruchslosigkeit auf die 
Existenz schliesst, muss er konsequenterweise die Gleichwertigkeit 





Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 229 


der verschiedenen Geometrien für die Erfahrung und damit aber 
auch eine Mehrheit von Erfahrungen einräumen, deren einzelne 
einer bestimmten Geometrie entspricht. Anders verfährt der 
Ding-an-sich-Dogmatismus.') Aber er muss doch, wenngleich von 
anderem Ausgange her zum gleichen Ziele gelangen. Er geht aus 
vom Dasein absolut existierender, vom Erkennen und dessen Ge- 
setzen unabhängiger Dinge, sieht also die Existenz und die Ding- 
lichkeit nicht selbst als Erkenntnisgesetze, sondern als von diesen 
unabhängige Absoluta an. Wenn er aber diesen Ausgangspunkt 
hat, so muss er, da er die formal-widerspruchslose Möglich- 
heit der verschiedenen Geometrien doch ebenso wenig leugnen 
kann, so wenig wir sie leugnen und so wenig der Ontologismus 
sie leugnet, zu der Konsequenz einer Mehrheit möglicher Erfahr- 
ungen gelangen. Bestünden wirklich seine absoluten „Dinge-an- 
sich“ zurecht, so müssten sie in der That in einer Mehrheit 
von Erfahrungen als mannigfache „Erscheinungen“ darstellbar 
sein, je nachdem sie nämlich unter dem Anschauungsgewand — 
zu einem solchen würden ja dann die verschiedenen Geometrien 
nach Schopenhauers berüchtigtem Vorgang herabgesetzt — dieser 
oder jener Geometrie erscheinen. Hier liesse sich Poincares Auf- 
fassung von der grösseren oder geringeren Angepasstheit einer 
Geometrie an die Erfahrungsgegenstände aufs glücklichste mit 
dem Ding-an-sich-Dogmatismus harmonisch verbinden. Poincarés 
eigener, treffender Gedanke, es nicht mit Dingen, sondern mit 
Beziehungen zu thun zu haben, wird über Bord geworfen, sobald 


1) An diesem Punkte macht sich der fundamentale Widerspruch 
zwischen der transscendentalen Ästhetik und der transscendentalen Logik 
Kants und mit jenem auch die schroffe Gegensätzlichkeit von Anschauung 
und Analysis am schärfsten bemerkbar. Die Ästhetik setzt absolut exi- 
stierende „Dinge an sich“ voraus, die vermittels der Anschauungsformen 
nur „erscheinen“. Darum können wir ohne das Ding an sich nicht in das 
Lehrgebäude Kants eintreten. In der Analytik treten Existenz, wie Ding- 
lichkeit als Kategorien — Dasein und Realität — auf. Darum können 
wir mit dem „Ding an sich“ in der That nicht länger im Lehrgebäude 
Kants verbleiben. Es hat sein Heimatsrecht verloren; und das — von 
Rechts wegen. — Das charakteristische Widerspiel von Anschauung und 
Begriff in der Kantischen Lehre behandelt, zwar ohne die besondere Be- 
ziehung auf das mathematische Problem, doch in allgemein erkenntnis- 
theoretischer Beziehung durchaus zutreffend auch die das vorliegende Heft 
eröffnende Arbeit Zschockes; und zwar ausführlicher, als ich es für meinen 
besonderen Zusammenhang, für den mir Kant vorwiegend bloss zur histo- 
rischen , Illustration“ dient, uötig habe. 


230) B. Bauch, 


er von jener Angepasstheit spricht. Denn der Erfahrungsgegen— 
stand wird, sobald wir von einer Angepasstheit einer Geometrie== 
an ihn reden, immer noch im dogmatischen Sinne eines ,Dinges—— 
an-sich“ genommen, dem etwa Wesen verschiedener Geometrienumm 
nur immer die eigene als Anschauungsgewand überziehen, sodass 
ein Gegenstand, der „an sich“ A ist, etwa dem Euklidischenem» 
Wesen als a, dem Lobatschewskyschen als « etc. „erscheinen“ 
müsste. Eine solche Auffassung,!) die selbst wieder den Sinn der— 
Analysis ins Schwanken bringt, kommt nicht los von einer Ab— 
bildungstheorie. Man wird diese mit der naiven Abbildungstheorie_ 
der ja die Vorstellung ein adäquates Abbild des Gegenstandes 
geben soll, nicht verwechseln dürfen. Aber Abbildtheorie ist auch 
sie. Wir könnten sie, zum Unterschiede von der naiven, vielleicht 
am besten als „Theorie des schlechten Abbildes* bezeichnen. 
da die Vorstellung das Ding, das da erscheinen soll, nie adäquat, 
sondern nur als „Erscheinung“ wiedergiebt, aber dadurch ebem 
doch auf ein absolutes Ding hindentet. 

5. Für die kritische Philosophie aber, der das Existenzial— 
gesetz, wie die Dinglichkeit eben Gesetz ist, diejdas Gesetz je— 
doch nicht dinglich hypostasiert, und der eben deshalb der Gegen— 
stand als kategorial bedingt gilt, verliert es darum allen Sinn zm 
sagen: ein Gegenstand A könne sowohl als a, wie als a, je nache 
der Anschauungsform der Sinnlichkeit erscheinen, für sie ist“ 
er eben schlechtweg der Gegenstand A. Und A ist ihr der 
Gegenstand, an dem die geometrischen Bedingungen im Vereim 
mit den Kategorien, wie Existenz und Realität, zu seiner Bestimm— 
ung beteiligt sind. Welcher der verschiedenen Geometrien dieser 
Anteil zukommt, kann darum jetzt kaum noch länger fraglich 
sein, und damit erhält unsere These ihre eigentliche Begründung 
Stellen wir uns aber zunächst noch einmal auf den Standpunkt 
der Fiktion von Wesen einer nicht-euklidschen Anschauung. Da 
es für den kritischen Standpunkt sinnlos ist, hinter den Gegen— 
ständen der Erfahrung noch Dinge zu suchen, so könnten wir 


1) Sie scheint mitunter sogar zum Mystizismus zu führen. Ich glaube, 
nur von ihr aus ‚ist ge r psychologische Zusammenhang ver- 


à ersten spekulativen Naturphilo- 
t rationalistisch niichternes Denk- 





Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 231 


aber trotz der Fiktion jener nicht-euklidischen Wesen nicht zu- 
geben, dass etwa ein Gegenstand A den Euklidischen Wesen als 
a, den nicht-euklidischen etwa als a erscheine, hinter welchen Er- 
scheinungen beide das A zu suchen hätten. A würde, wenn wir 
vom Existenzial- und Dinglichkeitsgesetze alle verwesentlichende 
Hypostasierung fern halten, allen Sinn verlieren. a und @ wären 
nicht verschiedene Erscheinungsweisen eines und desselben Gegen- 
standes; vielmehr müssten, so wahr Existenz und Dinglichkeit 
Gegenstandsgesetze, Kategorien, nicht Wesenheiten sind, ebenso 
wahr auch a und a selbst als zwei verschiedene Gegenstände 
gelten. Transscendentalphilosophie und IDlusionismus sind toto 
coelo verschieden und schliessen sich in alle Wege aus.') 


6. Wer also das „An-Sich“ nicht in Dingen sehen und dem 
Ding-an-sich-Ilusionismus entgehen will, dem blieben rücksichtlich 
des Verhältnisses von Erfahrung und Geometrie nur zwei disjunk- 
tive Wege. Auf der einen Seite müsste er, anstatt verschiedener 
Erscheinungsweisen eines und desselben Gegenstandes, überhaupt 
verschiedene gegenständliche Erfahrungsrealitäten als durch die 
verschiedenen Geometrien gefordert annehmen, sodass zwar nicht, 
wie in der. Ding-an-sich-Metaphysik, hinter unserer Erfahrungs- 
realität noch eine Ding-an-sich-Realitét steckte, sondern so, dass 
neben unserer Erfahrungsrealität noch andere Erfahrungsreali- 
täten parallel gingen. Hier wäre zwar der eine Dogmatismus 
überwunden, indem Existenz und Dinglingkeit nicht verwesentlicht 
zu werden brauchten. Allein man wäre zu einem anderen Dog- 
matismus, dem Ontologismus, gelangt, der aus der bloss wider- 
spruchslosen Möglichkeit schon die Existenz erschlossen glaubt. 
Hätte der Ding-an-sich-Dogmatismus der Existenz, gegenüber der 
transscendentalen Logik, zu viel eingeräumt, so hätte der Onto- 
logismus ihr, gegenüber der formalen Logik, zu wenig eingeräumt. 


Auf der anderen Seite aber — und das ist die zweite Mög- 
lichkeit, dem Ding-an-sich-Dogmatismus zu entgehen — wird er- 
kannt, dass Existenz weder zu verwesentlichen sei, noch auch 
aus dem blossen Widerspruchsgesetze folge, sondern transscenden- 
tales Gesetz, logische „Funktion“ sei, die wir wohl kaum noch 


1) Das beweisen heute vielleicht am klarsten Rickerts „Gegenstand 
der Erkenntnis“ und Cohens „Logik des reinen Denkens“. In beiden er- 
scheint die Überwindung des Ding-an-sich-Dogmatismus und damit die 
des Illusionismus in präzisester Form. 


232 B. Bauch, 


ausdrücklich vor der Verwechselung mit der psychologischen 
Funktion eines existenten Bewusstseins, das immer schon das 
Existenzialgesetz voraussetzt, zu sichern brauchen. Dann er- 
kennen wir ausser der Erfahrungsrealität weder eine Hinterreali- 
tät von Dingen-an-sich, noch eine parallele Nebenrealität mehr an, 
und wir ergreifen in jener keinen Schein, sondern transscendental- 
logisch bedingte empirische Realität selbst. 


7. Sind wir aber da nicht zu einem Standpunkte gelangt 
den man mit Schuppe gerade als „konsequenten Empirismus* be- 
zeichnen könnte? Ich hätte schliesslich gegen diese Bezeichnung 
nichts sonderlich einzuwenden, wenn man sie nur auch wie Schuppe 
richtig versteht, und sich dabei auch daran erinnert, dass ich zwei 
Seiten an der Erfahrung unterschieden habe. Dass diese Art. 
„Empirismus“ gerade das Gegenteil des von den Mathematikern be- 
kämpften Empirismus ist, der die Erfahrung zur letzten Grundlage 
der Erkenntnis machen will, dürfte klar sein. Hier soll nicht die 
Erfahrung zur alleinigen grundstiftenden Funktion der Erkenntnis ge- 
macht werden, sondern umgekehrt führen hier die Grundlagen der 
Erkenntnis zur alleinigen, erlebbaren Erfahrungsrealität, weder zu 
einer metaphysischen Hinter-, noch einer parallelen Nebenrealität. 
In diesem Sinne dürfte man mit Schuppe wohl von „konsequentem 
Empirismus“ sprechen. Das wäre derselbe Sinn, in den man auch 
Kants Standpunkt und den konsequenten Kritizismus überhaupt als 
„Empirismus“ bezeichnen könnte. In dessen transscendentaler Methode 
ist die Erfahrung doch nicht die letzte Grundlage der Erkenntnis, 
sondern in ihrer Möglichkeit das Problem der Erkenntnis, das die 
Grundlagen der Erfahrungserkenntnis ermitteln soll. Diese Er- 
mittelung führt zur Erfahrungsgegenständlichkeit als einziger 
Realität. 


Erkennen wir aber auf transscendentaler Grundlage nur 
diese eine Erfahrungsrealität an, so können wir als erfahrungs- 
bedingend auch nur eine Geometrie anerkennen, nämlich die 
Euklidische, von der ja Poincaré schon die ,Angepasstheit* an die 
Erfahrung behauptet hatte, so streng widerspruchslos und in sich 
zusammenhängend auch, wie von vornherein zugegeben, die nicht- 
euklidsche Geometrie sein . Dadurch wird klar, in welcher 
Weise die Anschauung ; grossen französischen Mathematikers 
umzubilden ist. Sobald d zte Rest von Ding-an-sich-Dogma- 
tismus beseitigt ist, mu „Angepasstheit“ der bedingenden 





Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 233 


Funktion weichen. Und gerade durch diese Art von „Empirismus“, 
wie ihn die transscendentale Methode bedingt, kann der von den 
Mathematikern bekämpfte methodische Empirismus auf mathema- 
tischem Gebiete endgültig überwunden werden. Hier zeigt sich, 
welcher circulus vitiosus es wäre, diejenige Geometrie, die die 
Erfahrung begründen und verbürgen hilft, durch Erfahrung be- 
gründen oder auch nur bestätigen zu wollen. 


IV. 


Wenn wir zurückblicken auf den Ausgangspunkt der Unter- 
suchung, um zugleich die Summe zu ziehen, zu der uns die 
Weiterentwickelung am Schluss geführt hat, so können wir sagen: 
Es bleibt freilich von vornherein unmöglich, von einer grösseren 
oder geringeren Richtigkeit im formalen Sinne rücksichtlich der 
verschiedenen Geometrien zu reden. Aber die formale Logik ist 
überhaupt ausser Stande, mit dem Widerspruchsgesetze einen 
Wertunterschied zwischen ihnen zu begründen. Je mehr wir indes 
auch mit einer Überwindung des landläufigen Empirismus Ernst 
machen, d. h. je weniger wir auch der Erfahrung als Grundlage 
und Ausgangspunkt die Funktion einer Wertentscheidung ein- 
räumen, um so weniger werden wir diese Funktion auch den 
empirischen Begriffen der ,Angepasstheit“ und „Bequemlichkeit“ 
zugestehen können. Die Angepasstheit weicht, je mehr wir die 
Logik zu ihrem Rechte kommen lassen, desto mehr einer die 
Angepasstheit erst ermöglichenden Bedingung, bis die erkenntnis- 
theoretische Logik die Erfahrung selbst nicht mehr zum Ausgangs- 
punkte, sondern zum Zielpunkte des Problems nimmt. Indem sie 
deren Möglichkeitsbedingungen überhaupt ins Auge fasst, be- 
ruhigt sie sich nicht mehr bei blosser Angepasstheit, sondern 
sucht gegenständliche Erfahrungserkenntnis selbst zu begründen. 
So kann für sie in Rücksicht auf dieses Problem der Vorzug der 
Euklidischen Geometrie weder freilich in einer grösseren Richtigkeit, 
noch aber auch in grösserer Bequemlichkeit der Erfahrung gegen- 
über bestehen. Ist sie endgültig über den Dogmatismus hinaus, 
so muss für sie dieser Vorzug allein in der Funktion eines Be- 
gründungsmittels für gegenständliches Erfahrungswissen liegen. 

Mit Cantors glücklichem Begriffe der „freien Mathematik“ 
könnte man, diesen einmal in besonderem Sinne auf geometrisches 


284 B. Bauch; 


Gebiet einschränkend, das Verhältnis ebenfalls klar machen. 

Dieser Begriff kann das Verhältnis von Geometrie und Erfahrung 

zum Schluss noch einmal ins rechte Licht setzen. Nicht so ist 

es hier zu verstehen, als ob die eine Geometrie von der Erfahrung 

unabhängig, „frei“ wäre, die andere nicht; sondern so, dass die 

Erfahrung unabhängig wäre von der einen, nicht von der anderen. 
Jene Geometrien könnten wir frei nennen, weil die Erfahrung 
ebenso von ihnen, wie sie von ihr, unabhängig ist; sie helfen 
keine Erfahrung begründen (wenn man nicht dem Dogmatismus 
verfallen will), sondern sind lediglich auf ihren eigenen, inneren, 
widerspruchslosen Zusammenhang gerichtet. Der freien Geometrie 
würde also nicht eine eigentlich unfreie gegenüber stehen, aber 
doch eine Geometrie, die allein mit realer Erfahrung im Verhält- 
nis steht, Unfrei wieder wäre dies Verhältnis darum nicht, weik 
sie nicht von der Erfahrung abhängig ist, vielmehr umgekehrt sie 
für die Erfahrung eine begründende Funktion besitzt. Und sie 
wäre deshalb die einzige Geometrie, die dieses Verhältnis hat, 
weil wir, sofern wir uns vom Dogmatismus frei halten, nur ein 
Reich realer Erfahrung anerkennen können. 

Den Wert der freien Geometrie wird, wie den der freien 
Mathematik überhaupt, kein Philosoph verkennen, der mit einigem 
logischen Interesse und Verständnis der geometrischen Spekulation 
gefolgt ist. Nur interessiert ihn als Erkenntnistheoretiker mehr- 
jenes geometrische Gebiet, dessen Umfang wenigstens gleichsam 
in Grenzberührung mit dem bescheidenen Erdendasein gelangt. 
Wir erleben so die Sonderbarkeit, dass die so sehr als spekulatiy 
verrufene Erkenntnistheorie sich eben an spekulativer Höhe den 
höchsten geometrischen Spekulationen nicht vergleichen kann, 
dass sie ihnen gegenüber gleichsam in bescheidener Erdennähe 
verbleibt. Was Cassirer, zwar ohne Beziehung auf die Geometrie 
insbesondere, über das Verhältnis der Erkenntnistheorie zur 
Mathematik im allgemeinen sagt, das gilt ohne Einschränkung 
auch von ihrem Verhältnis zur Geometrie. Dies kann kaum 
treffender formuliert werden, als es in folgenden, deshalb hier 
unverkürzt verzeichneten Worten geschieht: „Niemand wird aus 
philosophischen Gründen ve 
Mathematik, die die Bedingung 





Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 235 


der mathematischen Prinzipien, als die Rolle, die sie im Aufbau 
unseres Begriffs einer ‚gegenständlichen‘ Wirklichkeit spielen. 
Der Blick der Philosophie darf — wenn man dieses Verhältnis 
einmal schroff und paradox ausdrücken will — weder anf die 
Mathematik, noch auf die Physik gerichtet sein; er richtet sich 
einzig auf den Zusammenhang beider Gebiete.“!) 


1) a, a. O. S. 48. 


Recensionen. 


Talbot, Ellen Bliss, Professor of pal ete in Mount 
College. The fundamental gemein e of cute philoso 
LES aoe in philosophy, No. 7.) New York, 
un 
Das Buch hat mit der Kantischen Philosophie mehr zu thun, als 
Titel schliessen lässt. Das erste Kapitel („Kant and Fichte: Th 
of human consciousness to its ideal“, S. 1—21, zu dem die 
merkungen über „die verschiedenen Formen von Kants 
lektuellen Anschauung“, S. 123—133, und über Kants „Ich 
bis 136 Beer ist eine Erörterung über das prinzipiell U: 
Kants le des Verhältnisses von Form und Materie und über die Not- 
Be ie Weiterarbeit an diesem Punkt zunächst mit den Werk- 
n der Wissenschaftslehre zu unternehmen. Der Ds der Kan- 
en Philosophie wird an den drei kritischen NT 
ie der Kr. d.r. V. charakterisiert er sich wesentlich als Une 
zwischen PEER Begreifen und intellektueller ea), 
Kr. d. prakt. V. als rigoristische Ablehnung des Gedankens, die N Mine 
in das Gesetz aufzunehmen und zu veredeln, bis sie wert ist, 
sittlichen Lebens zu sein“ (11). (Etwas genauer wäre es wohl 
den Gedanken dahin zu fassen, dass bei Kant der Fichtische 
dass die Sinnenwelt das Materiale der Pflichterfüllung ist, noch völlig 
fehlt, und dass infolgedessen im Rahmen der Kantischen über- 
haupt nicht eingesehen werden kann, wie der sittliche in der 
kausal geordneten Welt wirksam wird; diese Fassun; 
Gedankens wäre vor allem deshalb vorzuziehen, weil ee mit seiner Ab- 
ner Sentimentalitätsmoral nüber durchaus im 
en des 
Ob- 


Mn in ine beiden 
5 inkt Ki 


nee Be Star 
nts Begriff der Erfabrung ist in der 
gewesen war (10, 15). 
en wird Fichtes Verhältnis zu 
Kant N ja chheit in die absolute Te 
des Subjektiven und Objekti: e Identität, die nicht mehr 
dacht werden kann Au zen denkt Objekte, setzt also 
die Spaltung von Subjekt 
diesseits des Erkennens. 





ites (vom Ji 1 ). 
it, dass die Werke der früheren Zeit in viel deutlicherer 
zu Kant stehen. Die Annahme ein ntlichen Bruches in 


chlı 
ii Kern des Fichtischen Systems, die Einsicht, dass im 
- und des Daseins en ‚werden muss, 
einer Tend die on bei Kant da ist, 
nur in der Gestalt einer regulativen Idee (36). Doch ist der durch 
des regulativen Prinzips zum konstitutiven zwischen Kant 
‚entstandene LEE darum nicht so gross, wie es scheinen 
auch nach Fichte das Ziel des unendlichen Strebens, das ab- 
niemals im Dasein realisiert werden kann (37). Der Unter- 
darum freilich nicht übersehen werden: bei Kant bleiben Form 
thi nnt; für Fichte bedeutet die fortschreitende 
iche Annäherung an das Ziel der Einheit von 
Gar nicht übereinstimmen kann ich nun aller- 
‘erfasserin, wenn sie die Einheit von Form und Materie 
machen will, dass das Ich bei Fichte als sich selbst 
Form (40) gedacht sei. Fichte hat nie versucht, aus der 
herauszuklauben; die Stelle, auf die sich die Verfasserin 
(8. W. I, 515), macht ihre Interpretation keineswegs notwendig, 
n der Einladı von 1794 (bes. I, 52) schliessen 
aus. Das rein formale Ich („Ich als Anschauung“), von dem die 
' N ausgeht, ist eine blosse Abstraktion, durchaus nicht 
das aus sich selbst heraus It entwickelnde Prinzi ieses sich selbst 


516). 
Ich- 


Fichte oft als 
Schwierigkeit der Wissenschaftslehre, dass sich ihr Anfang 
t vor ihrem Ende verstehen lasse, Sehr richtig erklärt die Verfasserin, 
die Umwandlung des absoluten Ich vom Anfang der Wissensi 
lehre in das „Ich Idee“ dem „Anstoss“ sein dualistisches Aussehen 
ES darf man sich nicht über die Richtung täuschen, aus der 
lung der metaphysischen Absolutheit des Anstosses herkommt. 
im Anschluss daran erörterte Widerspruch zwischen zwei Ten- 
Fichtes (die Materie entweder in der Form versinken zu lassen, 
das höchste Prinzip rein formal wäre, oder aber zu einer letzten 
von Form und Materie hinzuführen Men sich mir sehr einfach 


16 





238 Recensionen (Delhos). 


hang zwischen den beiden Thematen besteht allerdings: weil die 
CBS Die sche sclariinnigen Bemerkungen, mie denen sich eee 
(1, 516). Die sehr inni; ingen, si 

lich HA Verfasserin bemüht, den „Widerspruch“ der beiden Tendenzen 
Fichtes als nicht gar zu hart empfinden zu lassen (54 ff.), weisen nun 
allerdings ebendahin: aber das Resultat wäre mit erheblich 

Aufgebot von Scharfsinn reiner zu erreichen gewesen; die Ei 
chronologischen Gang doch etwas störende Anleihe bei der Individı 

lehre der „zweiten Periode“ (60 ff.) hätte dann wegbleiben können. ce 
in diesem Zusammeı der Sinn der Fichtischen der 
gabe des individuellen Selbst an das Absolute sehr at 

schieden wird vom Altruismus, hätte übrigens nicht zu kommen 

Ich kann nicht finden, dass Fichtes Lehre darum der Klarheit 

weil ihr Urheber, wie die Verfasserin richtig bemerkt sich 

die Mühe nimmt, auf diesen Punkt einzugehen. Wer 

lungen lesen kann, ohne selbst zu merken, dass er hier eine ethische Ein- 
sicht findet, die ganz unvergleichlich viel höher steht als aller Altruismus, 


— den oe man seiner We gehen lassen.) 

Das dritte Kapitel geht auf die späteren Werke Kichtes ein; dabei 
soll gezeigt, werden, dass die neuen Wendungen doch in der 
mit den Aufstellungen der älteren Schriften zusammenstimmen, so dass 
zwar von einer Entwickelung des Systems, aber nicht von einem neuen 
System rochen werden darf. Im Ganzen dürfte die Verfasserin 
recht haben; über manche Einzelheiten der Auffassung lässt sich 
diskutieren. Für ganz unzutreffend möchte ich die Meinung halt 
Wechsel der Terminologie, insbesondere die beinahe gänzliche Vi 
des Wortes „Ich“, hänge mit der Absicht zusammen, dem mis 
lichen Vorwurf des Solipsismus vorzubeugen (75): Fichte war viel zu stolz 
und viel zu sehr Philosoph, als dass er imstande gewesen wäre, auf einen 
Vorwurf von solcher Qualität Rücksicht zu nehmen. Doch diese Be- 


merkung betrifft die Persönlichkeit Fichtes, nicht sein System. Was Hin 
Interpretation des Systems anlangt, so habe ich den Eindruck, dass 
Verfasserin den Schriften der späteren Zeit mit intimerem Verständnis 
gegenübersteht als denen der früheren: die nen enthalten eine 
are Reihe wirklicher Feinheiten und manche glückliche Richti 


irrtümlicher Auffassungen. Den beiden Fragen nach der Dogri 
des Auftretens der ewigen Ideen in der Geschichte (108 ff) und nach dem 


Behandlung ieee tt “in dere Beriicksich der religions 

jehandlung, jonders ie endere Berücksichtigung it 

Philosophischen Lehren w doch das en 
ngen. 


.) möchte man vielleicht eine noch ei 


an 
Fritz Medicus. 

losophie pratique de Kant. Paris, 

rk von wahrl leutscher Gründlichkeit 


ische Philo- 
loss Ethik und 
 Geschichtsphilosophie, 





Recensionen (Paulsen), 930 


die Beziehun, die zwischen dem theoretischen 
tischen Teil der Kantischen Philosophie bestehen, eingehend 


der kritischen Periode 


D n¢ a ts Recht 

ugnisse eines völlig 

N widerspruchslosen Systems aufgefasst, sondern es sind die 

Um- und Weiterbildungen, die die Kantischen Gedanken teilweise auch 
‘in dieser Periode erfuhren, klar und überzeugerd nachgewiese) 

- Der Verfasser hat sich mit liebevollem Verständnis in die Kantische 

Geistesart und Gedankenwelt hineingelebt und den meisten seiner Aus- 

— auch über so viel behandelte und viel umstrittene Fragen 

wie den Formalismus und Rigorismus von Kants Ethik — können wir 

i beistimmen. Den Höhepunkt des Ganzen scheint uns die aus- 

ie Behandlung der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ zu 


= Eine ins Einzelne gehende Kritik würde bei dem ausserordentlichen 

ee des Werkes zu weit führen. Es ist übrigens zu fürchten, dass 

à Ausführlichkeit der Behandlı und Breite der Dar- 

der Verbreitung und Wirkung des Wer! im Wege stehen 

werde. Unser Verfasser hat es für ten, von allen be- 

“thandelten Büchern und iche Inhaltsangaben 

i Texte einzuverleiben. Nun bieten freilich diese Schriften — 

teilweise — ace ea tations Rw ee genug, so dass eine 

” und übersichtliche Darstellung des Gedanken; Em zumal für solche, 

sich erst einarbeiten wollen, durchaus nicht til lüssig ist. Aber der 

, den diese Inhaltsangaben haben könnten, wird dadurch 

re dass sie sich zu eng an Kants Darstellung selbst an- 
sc sich zu wenig frei über diese erheben. 

Und neben dem Wunsch nach grösserer Gedrängtheit der Dar- 

hat sich mir noch ein zweiter bei der Lektüre immer wieder 

: hätte doch der Autor sich nicht allzusehr auf eine historisch- 

und interpretierende Behandlungsart beschränkt! Er geht 

zwar auch auf gar manche kritische Bedenken ein, die man gegen Kant 

erhoben hat, aber in der Hauptsache doch nur, um sie abzuweisen. Aber 

ingen sind nicht immer gerade überzeugend, und gar 


des Bauen 
tianer ist, hat er im Schlusswort deutlich genug gesagt, 
und gerade die kurzen Andeutungen, die sich hier finden, lassen den 
Mangel einer durchgeführten kritischen Stellungnahme um so schmerz- 
licher vermissen. Doch bleibt auch so das, was das Werk bietet, wert- 


A. Messer, 





240 
ds, Versikpdnin tür. din, 
der Erstarkung des 


lich vertieft worden. Kant selbst 
man aus einem ent Kür ertlontchten Brite 
knoch hohem Masse. 


Nues vollauf begriindet. — Sie ist 

auch vermüge des Vorwortes und der Einleitung, mit w 

ner die Schrift itet. Jenes ist erst der vo 
dritten Auflage mit auf den 

Abdruck der im Jahre 1877 


ranz Friichte eines Baumes sind. 
die Menschen hart und 
empört als einen, der wider 
Vernunft sich nicht unterwerfen will.“ Das wahre Wissen ist 
Bewusstsein der Uni eit des möglichen Wissens, von der 
ignorantia“ schlecht nicht zu trennen. — Kein Z es 
einem jeden Stadium der Erkenntnis, was Paulsen in seiner 
Humes Dialogen von der Wissenschaft des letzten pone des 
hunderts sagt: „Unsere Einsicht in die Konstitution des Universums 
Ganzen und in Dr der kleinsten Teile ist so wenig 
dass ein Ab: in diesen. 

“ Denn das 


at € 
Dem Glauben der Wissen — 
eihien Paulsens — 


A 


£ 


i 





Recensionen (Wyneken). 241 


wollte er den Glauben Costas Rare und zwar durch Be- 
des | icher Erkenntnis — vor einem in- 

en Produkte Verstandes, vor einer vermeintlichen 

schaft von den Gegenständen des Glaubens. Dieser Versuch 

De Glaubens vor dem Verstande aber ist in hohem Masse 

Er ist das Produkt jener stärksten Augenblicke des 

da er sich selbst se besten verstehend, den Begriff der Er- 


Sania Klarheit © erörtert Paulsen Inhalt und Absicht der 
und mit der ihm in so hohem Masse eigenen Fühig- 
ae lexer Verhältnisse entwickelt er 


dieser Erörterung möglichen Ver en Verhali isen zu den 
iten“ Erin die = TEN, seine 
eine Sy ee eae ihrer ursprünglichen ig weit 


Werk et so wenig veraltet, wie jene weise 7h = 
ist. Und darum ist es ein hi 
seine ung durch die vorliegende trees a 
zu 
R. Hönigswald. 


‘Wyneken, Ernst Fr., D. theol., Dr. phil. „Das Naturgesetz der 
Seele und die menschliche Freiheit*. Heidelberg 1906, Karl 
Universitäts-Buchhandh 

Das Werk kündet sich an als 2, Teil des früher erschienenen Buches 

„Das Ding an sich und das Naturgesetz der Seele“, kann aber auch als 

für sich bestehendes Werk genommen werden. 

Won der Frage nach Welt und Menschenseele ai ‚end, weist Verf. 
einfaches Naturgesetz der Seele auf, sucht den Quellpunkt des 
im Dasein Gottes und damit in der menschlichen Freiheit als 

den über dem Eigenwillen offenbar werdenden fremden 
Diesem, ‚Individualethik* überschriebenen Teil folgt eine re 
familie, Staat und menschliches Gemeinsc! 
werden. Die letzten Kapitel über Bedeutung der ann 
Geschichte sind nur ganz kurz skizziert. — Weltbild 
nach ee ung mit der philosophisch einge- 
Bags) Dos Vertamers Wollertitrang it geistiger. volun 
er Iter! ist tee Tiyan volun- 
Monismus. Die Welt besteht aus Willerseinheilen, 
‘auch Thelematen genannt, und kann nur nach res pe pe 
Selbst erkannt werden. Von den Na! ophen 
dem die Welt aus Empfindungen, und Ostwald, nach dem 
aus Energien besteht, herkommen gelangen wir über Wundt 
TES one ae freilich ery eras zu_erschliessenden 
rte as irkungsweisen, „Seele“ genannt, 
'erf. als ein Plus über dem Gesetz von der ie 
Be Die sta lle r als Willenseinheit eg Aktualität 


Hm 


SABRE 


apres 
i. 


hrens oder des 
Se der 


pense an +3 =. Tiger einer zentral 
mittels Door jynthese zur 
von ihm in Gefühl, Empfindung, Erkennt 
Sch it zu werden. 
Objekt der rn 
letzten Elemente der seelischeı 





242 Recensionen (Wyneken). 


gewonnen, nicht empirisch na wiesen werden. — findet 
nun Verf, sein neues einfaches Natı tz der Seele auf ct 
Wege. — Nach der althergebrachten Dreiteilung der seelischen 
keiten, Fühlen, Erkennen, Wollen wird das neu entdeckte Ni 
Seele eigt. Das Einzelsubjekt erlebt zunächst einen äusseren 
druck von etwas Unbestimmtem = Fühlen. Darauf folgt Unterscheidung 
des Gegenstandes, von dem der Eindruck herrührt, von anderen Be 
ständen, und von dem Ich = Erkennen. Hierauf Entscheidung 
meine Stell zu dem Gopenatende = Wille. Nun geht die 
gleichsam rückwärts. Das Ich empfindet = erkennt seine neue 
zu dem Gegenstand, der auf es eingewirkt hat und kommt zum Abschluss 
in einem Beruhigungsgefühl, wenn nicht statt diesem ein Beu ij 
pou zu einem erneuten Begehren eines anderen Zieles os 
letzten Fall heisst die Reihenfolge: Begehren, Erkennen, der 
Wille die Grundkraft der Seele ist, so stellt sich, objektiv betrachtet, die 
Sache so dar: Überwältigtwerden der einen Dynamonade durch eine 
andere (als erlebt im ), Erkennen: Die zwei Willenseinheiten sind 
im Gleichgewicht. Wollen: Überwältigen des Eindrucks durch die gleich- 
sam angegriffene Willenseinheit. Ve erläutert dieses Ni 
der Seele an Beispielen aus der alltäglichen Erfahrung. Wie nun dis 
nur in einer Hypothese festgestellte, aber durch die Eı i 
Verlauf der seelischen Funktionen ein Naturgesetz der 
werden kann, hat Verfasser im ersten Teil seines Werkes ein; 
örtert. („Das Ding an sich und das Naturgesetz der Seele“; si ) 
Auch auf ethischem Gebiet ist der Verlauf der seelischen Funktionen der 
gleiche wie auf intellektuellem. Auf jenem Gebiete nun ist der Unter- 
schied von sittlich und unsittlich ein spezifischer, kein gradueller. 
für jedes unbefangene Kan ged sind der krasse a us und 
i ler Ursprung 


se? 


selbstlose Altruismus he Gegensätze. Wo ist 
Sittlichen zu suchen? In der Rückwendung der Gedanken auf sich 
— worin der Unterschied der menschlichen Seele von der Tierseele 
tritt — trifft der menschliche Geist auf eine Stelle, wo seinen 
fremder Wille berührt. Da pe Quellpunkt des Sittli Le 
miissen über Kant hinausgehen. nn es bleibt nichts anderes iil 
mit dem Ernst zu machen, was Kant nur als Bild angesehen 
nämlich den gebietenden Willen eines Herzenskündigers, auf ein 
weltliches Wesen zurückzuführen, das wir als Gottheit fassen. 
fremde Einwirkung eines anderen Willens auf den unsrigen lässt si 
keinem Anschauungsgegenstand der Aussenwelt herleiten, rührt auch 
von einer Mehrheit von fremden Willensäusserungen her, weil alle, 
dafür in Betracht kommen, Elterngebot, Sitte und Gesetz sich als 
ue von sas ee came er dabei schon vorai 
werden muss, darstellen. — lässt sich nun ein vollgültiger 
weder für noch n das Dasein Gottes erbringen, sondern nur 
weis dafür, dass und warum der Mensch zur Bildung des Gottesbegri 
sich genötigt findet. Die Philosophie vermag nur verständlich 
iflich zu machen, dass die Gottesverehrung eine normale Seite natür- 
ich menschlicher Bethätigung ist; dass aber diese normale Anlage der 
'hantasiegebilde ist, darüber, wie auch über die 
baren Gottes in der Welt, soll die innere Wucht 
des logischen Denkens entscheiden. Das Resultat ist im Glauben zu er- 
fassen. Eine Verbindung zwischen Gott und Welt resp. Menschen kommt 
zustande durch jenen gebietenden, fremden Willen in uns, Nach der Natur der 
menschlichen Persönlichkeit sind wir genötigt, uns die Gottheit als eine 
zwecksetzende, sittliche, absolute Persönlichkeit vorzustellen. Hiernach 
ist die Stellung des Verf. zur Willensfreiheit begreiflich. Sittliche Frei- 
heit besteht in der Übereinstimmung des eigenen mit jenem “ 
Willen. Der Begriff der Sittlichkeit ist da aufgehoben, wo nur höhere 
Entwickelungsformen der sozialen Instinkte zutage treten, Sittlichkeit 


eee Wen 


fe 





Recensionen (Schrader). 243 


nur durch menschliche Gemeinschaft bedingt. Zweck dieser letzteren ist 
die Herausbildung einer Mehrpersönlichkeit zu einer realen Willenseinheit. 
Zur Verwirklichung dieser Idee ist aber die Einschränkung und Be- 
kämpfung der individuellen Selbstliebe notwendig. Solche Mehrpersönlich- 
keiten sind: Familie, Staat, Kirche. Deren Entstehung und Begriff werden 
auf induktivem Wege erschlossen. Die Familie als weiter dauernde, sitt- 
liche Lebensgemeinschaft soll hervorgehen aus der gegenseitigen Achtung, 
Schätzung und Anerkennung des anderen individuellen Willens und ist 
ohne jenen fremden, im Gewissen gebietenden Willen nicht denkbar. Die 
Familie hängt mit der Wirtschaft durch Arbeitsteilung zusammen. Der 
Staat entwickelt sich aus dem Wirtschaftsleben der Familie und ist in 
seiner primitivsten Form die Verbindung von Volk und Land durch die 
Willenseinheit des im Oberhaupte verkörperten Gesetzes. In der Kon- 
kurrenz mit dem Staate hat der Verein „Kirche“ mit seinen sittlich-reli- 
giösen Darbietungen eine dem geistigen Range nach innere Überlegenheit 
über den Staat, ist aber in seiner äusseren, rechtlichen Ausgestaltung dem 
Staate, dem auch die Zuerkennung der juristischen Person zukommt, unter- 
rdnet. — Mit kurzen Notizen über Wesen. Gesetz und Philosophie der 
eschichte, deren ausführliche Bearbeitung vorbehalten war, schliesst der 
Verfasser sein Werk, das von christlich-sittlichem Geiste geleitet, sein 
Augenmerk auf die eine grosse Hauptsache gerichtet hält: „Gewissheit 
auch fürs Erkennen.“ 
Theningen (Baden). H. Staeps. 


Schrader, Ernst, Dr., Privatdozent an der Technischen Hochschule 
zu Darmstadt. Elemente der Psychologie des Urteils. I. Band. 
Analyse des Urteils. Leipzig 1905, J. A. Barth. (222 S. und VIII.) 

Es ist nicht das erste Mal, dass Verf. sich zur Psychologie des Ur- 
teils äussert. Schon seine erste Schrift zielte in dieser Richtung und 1903 
erschien, nachdem noch eine andere vorausgegangen, eine Abhandlung von 
100 Seiten ,Zur Grundlegung der Psychologie des Urteils“. Sie bedeutete 
eine Art Prospekt zu einem grösseren Werk, das Verf. damals in Aussicht 


Den ersten Band desselben bildet die vorliegende Arbeit. Es kann 
nicht verschwiegen werden, dass sein Eindruck nach mehreren Richtungen 
nicht günstig ist. Die genannte kleinere Abhandlung war knapp und 
präzise gefasst sowie reich an Gedanken. Der neue Band ist zunächst 
von recht schleppender Darstellung. Immer wieder beginnen Präliminarien, 
langsam dahin ziehende einleitende Bemerkungen über das, was nicht be- 
handelt werden wird, was behandelt worden ist und was behandelt werden 
wird; Nebenerörterungen werden endlos ausgedehnt, sodass der Leser 
von der breiten Darstellung ganz ermüdet ist, wenn endlich etwas 
Wesentliches kommt. Dabei kann nicht einmal gesagt werden, dass die 
Ideen des Verf. überall klar zum Ausdruck kommen. Das Buch wäre 
vielleicht in manchen Punkten klarer geworden, wenn es nicht gar so 
klar hätte sein wollen. — Auch der Aufbau des Ganzen ist nicht hin- 
reichend durchsichtig; im Verhältnis zu dem, was geboten wird, sind die 
Anforderungen, die an den Leser gestellt werden, um zu vollem Verständ- 
nis aller Zusammenhänge zu kommen, ganz unverhältnismässig gross. 

Denn eben auch seinem Inhalte nach giebt das Buch nicht besonders 
viel. Es bringt kaum irgend einen wesentlichen Gedanken, den Verf. 
nicht bereits wenigstens einmal deutlich ausgesprochen hätte. Speziell 
das Verhältnis der „Grundlegung” zu diesem neuen Band ist ein der- 
artiges, dass gegen diese Publikationsweise nachdrücklich Einspruch er- 
hoben werden muss. Zum grösseren Teil bebandeln beide iften die- 
selben Gegenstände, die erste in sehr gedrängter Form, die zweite in 
endlos gedehnter. Das Gebotene wäre eine einzige, zwischen beiden an 
Umfang die Mitte haltende Arbeit gewesen. 

Ehe ich mich zur Theorie des Verf. vom Urteil wende, erscheint es 
mir nötig, auf einige allgemeinere Punkte mit einem Worte einzugehen, 


. Diese Zurückschiebung der Selbstbeobacht 
Grund in einem sozialen Moment, das er in der 
lehre betont. Wiederum in der „ 


diesen, dem von 
Hinweis als „ni 


disches Prinzip geworden (vgl. z. B. S. 43, 46, 48, 50, 
129 f.), dass ich jetzt mit dem Verf. in keiner Weise 
Be Sm Den Mama SE. re 
Begriffe ‚innere Erfahrung‘ macht (und wil 
BEE Bee: wenn man unter dem, was sie 
solche Daten versteht, die jeder Kontrolle Stand halten 
G i i ichen empirischen 
Biron 
=> in 
ite Beobachtung zu stiitzen, ehe nicht andere ihr placet dazu 
kommt mir wie ein Ansatz zu einer völligen Ve 
unseres geistigen Lebens vor. Sollte diese Anschauung 
TEER ohne Be EE für eine bedenkliche 
des gesunden Selbstvertrauens einzelnen ohne 
Wissenschaft nicht fortschreiten kann. Wie wir im Ethischen und 
giôsen das Individuum auf sich selbst stellen, so erst recht in 
ier gi in; ‚Ich, kann nicht anders 
6 Rants, chuter die 
en hin und her wandte, liegt meines Erachtens eine grössere Ge- 
währ, der Wahrheit näher zu kommen, als im Abwarten und der Er- 
langung der Zustimmung unter den Mitforschenden. Auf einen 
zugehörigen Punkt komme ich noch weiter unten zu sprechen. 


Ferelé 


‚enger 
sf pond ie 


ial 


i 


dem 
die 


in ‚Grundle “ herve 
selben Worten wodeholt 





Recensionen (Schrader), 245 


Einwand, der Aktivitätsbe; könne kein 
sein, denn man dürfe doch nicht x 
schlechtere Selbstbeobachter seien, als die, 
schon in der genannten ersten Recension 
Satz auch umkehren könne und kann das an- 
wiederholen, die gleichzeitig 

seien. 


‚oben, dass nur solche Wahrnehmungen 
Thatsachen angesehen werden können, welche 
betreffenden Probleme Mitarbeitenden kontrolliert und 
worden sind. Die Frage, ob die psychische Aktivität als eine 
angesehen werden könne, hängt demnach wesentlich davon ab, 
Ds Donne ot Ser 00 eue solche Anerkennung warte: 

— von , oder ol e sol nerkennung wi 
= zu erwarten ist. Das ist nicht der Fall. Dieses beweist einfach der 
e "hinsichtlich dieses Punkts soweit auseinander- 
in wenigen n der Seelenlehre. Man darf doch nicht 
dass die Selbstbeobacht n der Gegner der psychischen 
als die der Anhänger dieses Begriffes. In 


überhaupt damit b 
eu eohachten. Kine 
wohin die vom Verf. AH rene 
des sozialen Momentes in der Wissenschaft schliesslich führt: 
m gleichen wissenschaftlichen Stimmrecht. In Wirklichkeit 
die Aussagen der verschiedenen Psychologen nicht gleich. 
von Lipps etwa dürfte denn doch von etwas m 
die eines Unbekannten, der noch keine Leistungen auf- 
hat. Freilich giebt es auch da wieder keinen allgemein aner- 
Massstab für die Bedeutung eines Psychologen, woraus eben 
von neuem folgt, dass das Forschen zuletzt auf sich selbst steht und 
eh ein weiteres ist zu bemerk de in der Psychologi 
ein weiteres ist zu bemerken: gerade in der ologie 
bedentet die Leugnung Fe welcher Beobachtungeergebnisse von Fe 
weitem nicht so viel wie in der Naturwissenschaft, denn die 
ee Beobachtung ist; viel schwieriger als die naturwissenschaft- 
‚darum die Zahl der zu ihr Befühigten viel geringer. Man kann 
fast : mit je weniger Grundvorgängen ein Bayebaloge auszukommen 
so schlechter ist seine Psychologie. Man vergleiche z. B, 
immer neue unverwechselbare Momente aufdeckende 
dem, was von manchen anderen Seiten vorgetragen wird. — 
Da Verf. also die Aktivität als Beobachtungsergebnis nicht aner- 
so ichnet er sie als eine Hypothese, die zur Erklärung be- 
n eingeführt sei. solche aber stehe sie mit der 
iderspruch. In diesen Begriff seien mehr Momente 
worden, als zur Erklärung der Thatsachen, auf die er sich 
one notwendig seien. erf, als Gegner der Aktivität, 
nimmt als Elemente des seelischen Geschehens, insbesondere des Gedanken- 
lebens an: 1 ingen, 2, Die 
andere Partei 
2. Vorstellungen das Material desselben, welches durch 
wird. „Man sieht, in der Zahl der Begriffe ist kein U: 
aber in ihrer Zusammensetzung, in der Zahl de: rkmi 





246 


gangs. Ee enthält the E en 
noch andere. Darin liegt ein Verstoss gegen die 
Aber darin stimmt Verf. der “raed 


zieht nen en 
ist der Zentralbegriff des avert. Pt: 

bereits in Se riften auseinander gesetzt, in der vorliegenden erörtert 
er ihn also zum dritten Mal, ohne dass Be heos Neues 
Das stets zu Grunde gelegte Beispiel lautet: aus 
weiter Entfernung eine a welche ich et für eine 
Als ich sie jedoch darauf sine Bares echishien/ gab GAREN 
es ein Arbeitsmann sei.“ do beta à Ve »Dame* 
wie man sieht, durch die des enna ‘a wobei 
aber eine gewisse Zahl von Bestand! fallen gemeinmam Soh Dies Verhalt- 
nis bezeichnet Verf. als „negative Beziehung zwischen Vorstellungen“. 

Und zwar sei die Beziehung eine bewusste. ne üfter re Sn 


20 Ben in dem EL, »Dame—Arbeitsmann‘ da: rectal en ee 
oe vere ügen wir uns dem Eindrucke zu entziehen, dass 
= die len selbst (Dame, Karrenschieben, rere 
wusste Erscheinungen sind, sondern auch die Art, wie sie sich 
bewussten Charakters ist. Freilich auf die innere Wahrneh: 


mung 
wir uns dabei nicht zu stützen. (!) Diese uns immer nur die Vor- 
stellungen selbst. Die Art, wie sie einander n, ist erst 
durch Vergleich festgestellt“ (87), Die Grenzen des Bewusstseins 
weiter als die der inneren Wahrnehmung. Ref: Es muss auf jeden 
bedenklich erscheinen, 2 so durch wiederholte Betrachtung 
ie | 


werde ,erst ee lich durch hog festgestellt“? 1 
der art ch ber durch jeich zweier Vorstelh 
niemals festgestellt werden, wie sie en auf einander 
Oder wessen sonst? — es bleibt eben auch für den Verf. nur die innere 
Wahrnehmung, oder sonst nichts, als Stützpunkt übrig. 

Den Überga Begri iven Bezieh zwischen Vor- 
stellungen zum 3 Heranziehung 
Kritik. Wie überhaupt das Urteil nach 
klärung aus begriffen werden kann und auch von ihr aus entstanden sein 
soll. nn, wenn es keine Ischen Urteile gäbe, so wüssten wir ere 
meint Verf "wodurch sich die gré par von den Reproduktions- 
1 nen | | ie würden denselben mechanischen 


der gut, 
nach ihm nur 


das sofortige Füllen des Ur- 
die nur in ihrer Ver- 
Ve hat. Auf diese 





Recensionen (Schrader). 47 


erscheint als kritische Berichtigung (110 f.), das heisst für Verf. 
einfachste Form des kritischen De Shartiears DEN 

„entgegnen ist, dass die kritische Berichtigung offenbar eine 

tion ist als die einfache Einsicht, dass irgend etwas 

À: schlecht etc. ist; und dass der genannte Wahrnehmungsprozess 
—Arbeitsmann‘ an sich überhaupt keine Berichtigung darstellt. 

wird ersichtlich, wenn man an pedis Tateracongio BOAEE denkt, 
die verwandeln: dabei ist von einer Berichtigung gar keine Rede. 
Werf. übersieht völlig die Urteile, die die Wahrnehmungsakte in seinem 
Beispiel begleiten. 


‚Wie kommt nun schliesslich das Urteil zu Stande? Verf. erklärt: 
von der Beziehung zwischen Vorstellungen, der einfachsten Form 
der Berichtigung, bilde sich infolge des häufigen Auftretens 
im Bev eine Vorstellung, von der er aber völlig dahingestellt sein 

‚worin dieselbe bestehe‘. Jedenfalls unterliege sie, nach- 

dem sie sich gebildet hat, den Gesetzen der Assoziation. Sie 
mit ein auf der Reproduktion beruhenden Gedankengänge. 

ent- 


ing. Aber nur die negative Beziehung 
das über die Anton cot pie hinaus 


Auch das A; hen allein von den negativen Denkerscheinungen, 

dem | des hen, des Irrens etc. ist nicht einwandsfrei. Denn 

R zuletzt dahin zu sagen, ein zustimmendes Urteil unterscheide 

aa vom blossen Assoziationsprozess nur durch das Bewusstsein seiner 

it, Die Erteilung der Zustimmung, heisst es S. 187, „unter- 

sich von den Reproduktionsphänomenen durch den Gedanken, dass 

auch eine Ablehnung der betreffenden Ideenassoziationen möglich sei . . . 
Als Erklärungsprinzip lehnen wir die Zustimmung also ab.“ 

‘Meines Erachtens ist diese These nicht zu halten. 

Besonders charakteristisch für das assozi Re et Ver- 

fahren des Verfs ist noch dieser Ausspruch: „Natürlich geben auch wir 

"Unterschied zwischen Zustimmung und Ablehnung zu. Aber wir ver- 


legen denselben, wenn es auf die definitive Stellungnahme ankommt, in 
zu beurteilend: 


das je Material, in die Vorstellungsverbindungen, welche 

Anerkennung bezw. Zustimmung heischen, nicht in den Akt „der Aner- 

e oder Zustimmung selbst“ (161). Der Satz drückt gleichzeitig un- 
die Unmöglichkeit der Erreichung der vorgesetzten Absicht aus. 





248 


Es sei noch bemerkt, dass er i 
hat und die Partien des Buches, in denen er die Ansichten an- 
darstellt und charakterisiert, erscheinen mir am besten ‚gelungen 
und = in La nas en ae y 
zweite Band wird Tendenzen der Urteilsbildung 
Berlin. K. Oesterreich. 


i 
Grundlegung zur Me 
der praktischen Vernunft; Religion innerhalb 


Problemdarstellung 
Es will ausser dieser zur Lüsung der Kantischen Probleme selbst bei 
Darum beansprucht das Werk sowohl das Interesse des Historikers, wie 
das des Systematikers. 

Die Einleitung dient sogar vorwiegend dem s; tischen Zwecke, 
Durch die scharfe iffliche Trennung „der mi shen Standpunkte in 
der Behandlung des Sittlichen“, nicht etwa der sittlichen 


selbst, werden besonders zwei ne ee der Unt 
gewonnen. Das eine Mal wird die e he Betrachtung til 
die psychologische abgegrenzt. Das andere Mal wird i 
ethischen pe i stematische von der 
abei wird klar gezeij 
Diese systematiss 


Fragen bei ihm v 
ren aber ansserhalb 





249 


der 


denen auch 
t etwas mehr 


rscheidung im iffe des „Inhalts“ vollkommen und explizite durch- 
sondern mehr implizite vorausgesetzt, nämlich zwischen dem Inbalte 
yeckbestimmung tiberhaupt und dem der ethischen Zweckbestimmung 

in diesem wieder einerseits die zwischen dem Inhalte des 

z Ethik und dem der Ethik als solcher und andererseits endlich 

en dem Inhalte dieses Prinzips und dem der Handlung. Damit 

h ‘wohl auch zusammen, dass hier inbezug auf den kategorischen Im- 
ri nicht eee wird einerseits zwischen Begreiflichkeit, 
und uzibilität und andererseits zwischen kritischer Un- 

mittelbarkeit der Geltung und einer Evidenz der Erkenntnis dieser Geltung. 
‘Auf diese Unterscheidungen arbeitet aber schon die Kr. d. r. V.1) hin. 
‘Werden sie sn, so muss freilich mit einem dieser Unterscheidungs- 
stiicke auch das andere stehen und fallen. Das macht sich nun auch in 


Messers über die von ihm angenommene „Un iflichkeit 
en itivs* tend. Freilich nicht ohne Verschulden 
Kants, ihm trifft jedoch die Schuld hier mehr die Form der Dar- 
us als deren it. Über diese sans aber hätte, wie ge- 
oie Kr. d. r. V. hinweghelfen können. In dem Mangel der eben er- 

1 Unterscheidungen macht sich also das schon vorhin bemerkte 
Fehlen einer schärferen Unterscheidung der beiden Verhältnisse von theo- 


Besonders möchte ich hierfür auf ersten Abschnitte der „Ana- 
te der Grundestaes In der Kr d.r. V, (Kehrincheche Angabe ® 110 ff) 








250 Recensionen (Messer). 


retischer und ee er Vernunft einerseits und von theoretischer und 
praktischer Philosophie andererseits von einander wiederum bemerkbar. 

So sehr ich in diesen Stücken eine Revision der Ansichten Messer 
für notwendig erachte, so zutreffend erscheinen mir im Grunde 
seine folgenden Ausführungen über das Verhältnis der 
zum Eudämonismus, über den rismus“, über das höchste Gut und die 
Postulate. Besonders glücklich ist in der Budim sowohl eine 
im Kantischen Denken über das Verhältnis der materialen und 
der Selbstliebe angebrachte Korrektur, wie auch die Ablehnung des Vor- 
wurfs, Kant sei selbst wieder dem Eudämonismus verfallen; ebenso in der 
Rigorismusfrage die Darlegung des Verhältnisses von Pflicht und ‚Neigus. 
Diese Ausführungen scheinen mir inhaltlich sich so sehr mit denen 
Schrift über "Glückseligkeit und Persönlichkeit in der kritischen Ethik* 
re 1902) zu decken, dass ich auch einen von Messer bezeichneten 

ifferenzpunkt — im allgemeinen stimmt er ja meinen Da: en aus 
drücklich bei — kaum ah solchen ansehen möchte. Er sagt 
richtig: „nicht das Vorhandensein der re nach Kant 
werden, sondern es ist nur darauf zu achten, sie uns bei der Erke 
nis des sittlich Guten nicht irreführen“ (S. 235). Das aber scheint mir mit 
jener Kantischen Definition der Pflicht als „Nötigung zu einem ungern 
nommenen Zweck“ auch jetzt noch nur dann vereinbar, wenn ich die 
wecksetzung als bloss „nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht It 
betrachte. Dass bei Kant persönlich ,rigoristische Neigungen“, wenn ich 
mir den paradoxen Ausdruck erlauben darf, mitspi , ist natürlich 
nicht zu Bestreiten, Davon ist aber die Grundintention seiner Lehre zu 
unterscheiden. Sie aber verstehen wir doch nur dann, das weiss aces 
so gut wie ich und sein Werk ist das beste Zeugnis , wenn wir sie 
einheitlich zu erfassen streben, ihre Inconcinnitäten nicht leu aber 
nicht im Geiste einer kleinlichen Widerspruchskrämerei zur 
machen, sondern unser Augenmerk auf das Ganze des Gedankenaufbaues 
richten. 

Eine solche Inconeinnität liegt beispielsweise vor in der Kantischen 
Lehre. vom höchsten Gut. Bei der Behandlung dieser und der Postulate 
ist darum die Kritik unseres Autors ebenso bemerkenswert, wie die Dar- 
stellung. Insbesondere hat mir immer die Lehre vom höchsten Gute als 
der schwächste und widerspruchsvollste Punkt der Kantischen 
als ein Fremdes in ihrem Ganzen gegolten, der für das Ganze entbehrl 
ja selbst als verhängnisvoll erscheint. Ich kann deshalb den At 
die den schwankenden, für Kants ethische Grundaut 
verhängnisvollen Charakter dieses Lehrstückes aufdecken, nur bei 

Lediglich im Interesse der Darstellung möchte ich nun für das Fol- 
gui ein Bedenken da; n richten, dass Messer, ehe er zu dem neben 

ie Prinzipienfrage für ihn als zweites Grundproblem tretenden Freiheits- 

problem gelangt, eine Behandlung der ethischen Richtungen der Gegen- 

wart einfügt. Ich halte sie keineswegs für überflüssig; und wenn ich 

auch nicht allem inhaltlich beistimmen kann, so sind sie doch 

und interessant. Aber wäre es im Interesse übersichtlicher Anordnung 

nicht vielleicht doch zweckvoller gewesen, sie nach der Darlı des 

Freiheitsproblems zu behandeln, zumal im Anschluss an das 

en die Untersuchung bei ihrem Ausgang doch noch in eine 

les heutigen Determinismus und Indeterminismus eintritt? Von den 

ethischen Richtungen der Gegenwart wird zunächst der 

behandelt; und zwar unter zwei Formen: als hedonistischer und energistischer 

Hedonismus, welch letzterem Paulsen beigezählt wird. Daran schliesst 

sich der Evolutionismus, als dessen Vertreter Wundt genannt wird. Ob 

damit in der That Paulsens sowohl wie Wundts Standpunkt einwandsfrei 
terisiert ist, oder ob diese Charakteristik nicht missverständlich sei, 

darüber liesse sich streiten. — Dass aber im Anschluss daran Münsterbergs 

„übersittlicher“ Standpunkt unter den „wichtigsten Richtungen der Gegen- 





. 


, | 
Recensionen (Messer). À 351 
' 
wird, halte ich für unzulässig. An und für sich waren 
cn "Münsterbergs frühere Ansichten interessant genug, 
wer mit ihnen auseinanderzusetzen. Als besondere pes peeled 
n sie aber wohl schon deshalb nicht mehr in Betracht, weil 
us „übersittlichen“ Standpunkt selbst né utes unter 
en pren woe gegenüber bedeutet doch 
arg tthers Schrift „Über den Ursprung der Sittlichkeit“, Er 
auch recht een Entgleisung. Sucht doch auch 
it die Bedeutung Münsterbergs nicht in seiner Schrift über 
g der Sittlichkeit‘; auch ihm gelten dessen 7G rondenae der 
„Psycholo; logy and Life“, denen er sich zum Teil eng 
jeutsamer als jene Schrift. Sowenig sich da- 
‚einwenden dass sie überhaupt behandelt wird, ebenso wenig 
doch nach ihrem Standpunkte Münsterbe Arbeit am ethischen 
blem in die wärtige ethische Arbeit überhaupt eingereiht werden. 
nur na A von Messer selbst höher bewerteten Hauptwerken 
chehen. Diese aber verlangen seine Einordnung in die 
ischen Idealismus. — Am interessantesten und wohl auch 
ib chendsten erscheinen im Zusammenhange mit der Ethik Be Seas 
Per über den Thomismus, Man bemerkt hier, 
den ad nicht ungünstig gegenüber steht. Freilich da 
nicht an den Thomismus denken, wie man diesen gewöhnlich 
sondern wie ihn eben Messer auffasst, Welche Auffassung aber 
t? Wir wollen diese Frage hier nicht entscheiden, Sehen wir 
Kinn wie Messer den Thomismus beurteilt. Er urteilt, ,, auch die 
Gedanken, die man bei Kant als die reinsten und lantersten 
sich in der thomistischen Ethik finden“ (S, 32). Ausser. mit 
Gate ae sich Messer kaum mit einem Philosophiehistoriker sonst in 
Urteil begegnen. Und doch muss man anerkennen, dass Messer 
etwa bloss behauptet, sondern dass seine Behauptung auf einem 
Ben. und scharfsinnigen Beweise beruht, ja eben das Resultat 
ei n Beweises ist. Steht er doch der thomistischen Ethik selbst 
und nicht als di cher Anhänger gegenüber. Das versteht 
| bei der ganzen Intei seines Buches von selbst. Aber dass sich 
| von selbst versteht, deutet das nicht gerade wieder auf eine selbst- 
| , grössere Gegensätzlichkeit von thomistischer und kritischer 
hin, als sie Messer anerkennt? Muss sich nicht gleich gegen seine 
folgendes Bedenken erheben: Ist der Thomismus, wie ihn 
auch wirklich der Thomismus, oder vielmehr nur eine 
von ihm? Hat er es am Ende nicht bloss mit einer Einströmung 
fee Gedanken in den Thomismus, mit einer Art kritischer Richt 
ir der thomistischen Gesamtrichtung, nicht aber mit dieser selbst 
Hind Ist solch kritischer Einschlag nicht etwa bloss in einem kleinen 
Thomisten bemerkbar? ird dieses Bedenken nicht gestützt 
die Existenz der beiden thomistischen Zentren Rom und Löwen, 
a jenes in der Gegenwart überhaupt nicht mehr, dieses nur 
isch beeinflusst ist, wenigstens für die Wisssenschaft, 
in Betracht kommt? Endlich, welcher ethischen Richtung ordnet Messer 
bei seiner Auffassung ‘des Thomismus die allgemeine Jesuitenmoral 
deren allgemeine que doch bestehen bleibt, auch wenn es hie und 
Jesuiten (eae der im besonderen von dem reinen Geiste 
HS nicht unberührt geblieben ist? Ich werfe diese Bedenken 
der Form von Fragen auf. Solche Fragen und Bedenken 
2 dents Messers Ansicht heraus, Darum erscheint sie auch be- 
sonders interessant. Wenn Messer solchen nach historischen Zu- 
sowohl wie nach philosophischen Grenzscheiden nachginge, 
er wahrscheinlich noch manches Interessante erschliessen können, 
er ick doch nicht nur in den Kan 1 i 
tische Seite des. Thomismus gründli 








368 


jee ai perspek als der Gegensatz von Rom 


she stre: 


‚utonomie 
Zwischen il 

Autorität und Autonomie besteht keine Brücke. Jene müssten die Tho- 
misten hinter sich lassen, wollten sie wirklich zur steilen Höhe dieser 
emporklimmen. Ob sie das können, ohne aufzuhören, Thomisten zu sein? 
Das ist die entscheidende Frage. Können sie es nicht, dann muss aber 
die alte Alternative bestehen bleiben: „hie Thomas — hie à 4 

Unter den Dre der ethischen Standpunkte der Gegenwart 
hätte ich Cae eingehende Auseinandersetzung mit Nietzsche für wiinschens 
wert alten, 

abschliessenden Höhepunkt des Werkes bilden die ee 

über das Freiheitsproblem, das Messer neben dem Prinzipienproblem als zweit 
Zentralproblem gilt; und im Zusammenhange mit ihm DR 
die Intelligibilitat. Damit ist schon angedeutet, dass der Autor Frei- 
heitslehre mehr Nachdruck legt, als wir das heute sonst zu ae 


That 
für 


lun, noch Kants 
Dariegungen für uns von Wert sein können“ (S, 359). Er ist sich aber auch 
bewusst, dass er hier selbst den Grundgedanken ts fortbildet, indem 
er „in der Ausführung dieses Gedankens seine Fehler zu vermeiden“ 
sucht (S. 398). Dem Det ismus und Indeterminismus tritt er nun 
nicht mit einem dogmatische: 


Determinismus Indeterminismus 
'erfahrungsweisen. Damit werden sie 





Recensionen (Messer). 963 


beide ihres anstössigen metaphysischen Dogmatismus entkleidet und als 
Methoden wissenschaftlich brauchbar und fruchtbar gemacht. Allerdings 
— und das gilt gegenüber Münsterberg und Messer in gleicher Weise — 
hat man vorsichtig zu sein, um nicht das Methodische, in das die en- 
sätzlichen Metaphysiken des Determinismus und Indeterminismus verlegt 
worden sind, nun selbst wieder ins Metaphysische zu verlegen. Auch jetzt 
noch sind beide Gebiete reinlich zu scheiden. 

Ich musste mich in dieser Besprechung auf die prinzipiellen Ge- 
sichtspunkte beschränken. Es wäre freilich über das Buch im Einzelnen 
noch manches zu sagen. Doch würde uns das über den Rahmen einer 
blossen rechung hinausführen. Das Vorstehende mag gentigen, um 
zu zeigen, wir es mit einer ernsten und gründlichen wissenschaftlichen 
Arbeit zu thun haben. Auch wo uns die Anschauungen des Autors zu 
Einwänden zwingen, müssen wir doch immer die ernste Bemühung um 
Gründlichkeit und Klarheit anerkennen. Beide Eigenschaften, in deren 
Vereinigung mit der Mannigfaltigkeit der Gedankenbewegung wir die 
Hauptvorzüge und wahren Vorzüge des Werkes erblicken, e lessen ein 
tieferes Verständnis für den Gegenstand, lassen den Anfänger das Darge- 
stellte leicht fassen und erleichtern bei der glücklichen ision dem 
bereits selbständig Mitarbeitenden kritische Stellungnahme und Verstän- 
i . So sehr sich das Buch für das Verständnis der Grundgedanken 
der Kantischen Ethik bemüht, so wenig gleitet es doch über die Schwierig- 
keiten, die in der Sache liegen, hinweg. Es nimmt sie tapfer in Angri 
und sucht sie zugänglich zu machen. Mag es sie auch noch nicht alle 
bewältigt haben, so legt es sie doch in einer Weise dar, dass es zugleich 
immer zu ihrer Bewältigung mit anregt. Daher wird es sowohl den Mit- 
forscher — auch den eines anderen Standpunktes — fördern, wie insbe- 
sondere dem Anfänger das Verständnis für die Ziele und Aufgaben der 
Kantischen Ethik erschliessen und wirklich zur Einführung in ihr Studium 
dienen können. 


Gerade mit Rücksicht auf eine Einführung des Anfängers in das 
Verständnis der Kantischen Probleme sei in diesem Zusammenhange noclı 
auf zwei andere’ Publikationen desselben Autors aufmerksam gemacht. 
Sie sind geeignet, Kant auch weiteren Kreisen näher zu bringen. In den 
„Büchern der Weisheit und Schönheit“ hat Messer eine verkürzte Form 
der Kr. d. r. V. mit Abschnitten aus den Prolegomena und eine solche 
der Kr. d. pr. V., die er mit der Grundlegung z. Met. der Sitten zu 
einem Ganzen vereinigt und denen er eine Übersicht über die Rel. innerh. 
der Grenzen d. bl. V. beigefügt hat, herausgegeben. Der Text ist in 
beiden A ben erheblich verkürzt. Darum können sie zwar nicht zu 
Arbeiten über die Kantische Philosophie verwendet werden. Aber das 
ist auch nicht ihre Aufgabe. Die Verkürzung bietet immerhin die funda- 
mentalen Bestandstücke der Kantischen Lehre. Die geschickte Anordnung 
ermöglicht den Einblick in jene Fundamente und erleichtert den Über- 
blick über das Ganze, wie der Herausgeber beabsichtigt. Da trotz der 
V doch das ,Ganze des Gedankenaufbaues“ oten wird, tiber- 
dies die Darstellu oft ungemein gliicklich vereinfacht, die Sprache 

heefühl in ansprechender Weise angepasst ist, können diese 
Ausgaben in der That einen recht guten Dienst leisten, nämlich den: 
einem gebildeten, aber philosophisch noch nicht geschulten Leserkreise 
unseren grössten Denker näher bringen und manchem vielleicht als Vor- 
schule zum Studium der Lehre Kants in seiner eigenen Darstellung 


Halle a. 8. Bruno Bauch. 


er Line be Die M ri Ra 
auerschen System 
Dissertation. Bostock, 

Es ist ein rätselhaftes Ding um ee eS 
So voll yon Widersprüchen, dass sie kaum den Namen eines S 
en ist sie dennoch eine der bedeutsamsten 

aller Zeiten; so 

, dass unter ihren vielen 
haft überzeugter Bekenner Ls ist der Name ihres Url 
vornehmstem CIDRE RARE .— RENE RAT das 
ae andern? Wie konnte in einem pl le 

lo Bee 
ent ar? "Das ge Gan Probes Tal deer si ie oben 
tation befasst und dem sie beizukommen sucht, indem 
mit dem oft angerührten, aber nie durchgeführten 
hauers Philosophie ist Kunst. 

Der Gang der Beweisführung ist in grossen Zügen fo 

I. Sch.s System ist, wie sich nicht nur aus einer Bet 
wichtigsten, von berufenen Kritikern ihm bisher 
ae sondern auch aus einer Gegenüberstellung 

icht angezogener Philosopheme ergiebt, das ‘widerspruchevallste à 
Systeme. 

II. Seine Wide: che sind weder durch falsche Schitisse aus 

tigen Prämissen, noch durch eine allmähliche W: der 
Ansichten Schs verursacht, Sie wiirden sich zum ei 
wenn man Sch.s Philosophie als ein notwendiges Produkt itera 
als das System eines Eklektikers anffassen diirfte. Beide A n 
jedoch unhaltbar. Vielmehr die Ursache der Widersprüche darin 
thes Sch.s Philosophie in erster Linie Kunst ist. 

Als Genie und Künstler dokumentiert sich Sch. durch die 
Methode seines Erkennens, durch die ihm eigenthümliche Gabe einer ha 
umrahmten Anschauung und durch die Kraft der künstlerischen Ge 
Dagegen, ist er nur in beschränktem Masse der Mann der Wisse 

esitzt zwar die scharfe ee des Forschers und Ge 
loch vielfach an kritischer Unbefangenheit und wissenschaft 
seit fehlen. 

‘Weil er nun, von seiner Genialität und der Aa 
Erkenntnis überzeugt, seine Philosophie nicht nur als Kunst, sond 
als Wissenschaft um und gab, so musste die künstlerische M 
keit seiner Intuitionen über dasselbe Objekt in der Form e 
licher Widersprüche zu wrote — Auch die Sch.-Litteratur zeigt, 
dass man die Widersprüche ms Bg oe auf die ktin i 

Geistesart seines Urhebers zurück 


IH. Wenn man daher Bahspenliniere Philosophie richti, 
will, so muss man sie nicht als Wissenschaft ren, ae 


Belege. heey er — wobei These ran inners re 
EEE epee s mieneraegeben st ind —, sowie den Wortlaut solcher Stellen 
Literatur, in namhaften Sch.-Autoren einzelne Wider- 
tieren oder kritisch beleuchten. 
Otto Jenson. 





Selbstanzeigen (Eisler). | 955 


Eisler, Rudolf, Dr. Einführung in die Erkenntnistheorie. 
Darstellung und Kritik der erkenntnistheoretischen Richtungen. Leipzig 
1907. Verlag von Johann Ambrosius Barth. (XII und 292 Ss) 


In meiner „kritischen Einführung in die Philosophie“ (Berlin 1905, 
E. S, Mittler & Sohn) habe ich die Grundrichtungen aller philosophischen 
Disziplinen dargestellt und kritisch erörtert. In dem vorliegenden Werke 
war ich nun bemüht, mit grösserer Ausführlichkeit und reicheren Litte- 
raturangaben, sowie mit genauerer Darlegung meines eigenen erkenntnis- 
theoretischen Standpunktes das Sondergebiet der Erkenntnistheorie sowohl 
jenen, welche noch wenig von dieser Wissenschaft wissen, als auch den- 
jenigen, die nicht in der Lage sind, sich in dem Gewirre erkenntnistheo- 
retischer Richtungen orientieren zu können, näherzuführen; zugleich 
wollte ich freilich auch dem „Fachmann“ die Hauptpunkte jener erkennt- 
nistheoretischen Richtung vorlegen, von welcher ich glaube, dass sie, bei 
verschiedenen Denkern in verschiedenen Modifikationen und Nüancen, mit 
der Zeit immer mehr durchdringen wird. Ich gehe in meinem Buche so 
vor, dass ich zuerst das Wesen der Probleme erörtere, sodann die Grund- 
richtungen ihrer Lösung darstelle — an der Hand nicht unbeträchtlicher 
älterer und neuerer Litteratur und Zitate — und zuletzt überall zu kri- 
tisch-positiven Ergebnissen gelange. Das Buch gliedert sich in eine, die 
Aufgabe und Methode der Erkenntnistheorie behandelnden Einleitung und 
in drei Teile, deren erster die Frage nach der Möglichkeit des Erkennens 
überhaupt und das Wahrheitsproblem untersucht, während der zweite es 
mit dem Problem des „Ursprungs“ und der der Gültigkeit der Erkenntnis, 
der dritte mit dem Realitätsproblem zu thun hat. Wie es die Natur einer 
„Einführung“ mit sich bringt, musste die Erörterung erkenntnistheoretischer 
Einzelfragen, wenngleich sie nicht fehlt, gegenüber der Darstellung und 
Kritik des Allgemeinen, Typischen zurücktreten. 

Was nun meinen eigenen Standpunkt betrifft, so muss ich gestehen, 
dass ich im Laufe der Zeit dem Kantischen Kritizismus, dem ich schon 
in meiner Doktor-Dissertation vom Jahre 1894 im Prinzip zugestimmt 
hatte, merklich näher gekommen bin. Eine Weiterbildung des Kritizismus 
in einer Richtung, die in verschiedener Weise schon andere Denker 
(Wundt, Riehl, Höffding, Volkelt, Paulsen, Baumann u. a.) 
unternommen haben, erscheint mir als geboten; doch nähere ich mich in 
manchem noch mehr Denkern wie Cohen und Natorp, aber auch 
Windelband und Rickert, bei welch letzterem Fichte zu verdienter 
Geltung kommt. Das Neue, das ich versuche, ist die konsequente volun- 
taristische Formulierung des Kritizismus. Bei der Forschung nach den 
obersten und letzten Grundlegungen der Erkenntnis stiess ich auf etwas 
Übertheoretisches, das aber doch noch nicht — wie Rickert meint — 
ein Ethisches ist: auf den Einheitswillen, der auf allen Gebieten des 
Geisteslebens sich betätigt und das formale Apriori ist, welches der theo- 
retischen und der praktischen (ethischen, sozialen) Vernunft gemeinsam 
angehört. Die Aktivität, die lebendige Dynamik der Vernunft, gleichsam 
die dynamische Innenseite derselben, der Motor des Geisteslebens ist der 
Wille. Dasjenige, worauf der „reine“ Wille, der „Grundwille“ gerichtet 
ist, ist die „Idee“, die als Ideal wirkt, indem sie das Handeln normiert, 
Was Kant die „transscendentale Apperzeption“ nennt, stellt sich als die 
Leistung des reinen Erkenntniswillens heraus, und die Erkenntnisformen 
(Kategorien) sind nichts anderes als typische Mittel zurRealisation 
des Erkenntnisideals, des reinen Erkenntniszweckes. Die Er- 
kenntnistheorie deckt die Teleologie des Erkenntnisprozesses auf, aber nicht 
— wie bei Mach u. a. — als eine biologische, sondern als eine logische 
Teleologie, die eine besondere Richtung der geistigen Finalität überhaupt 
bildet; es gilt, einem „logischen Pragmatismus“, der den , Vernunftwillen“ 
von anders gerichteten Tendenzen scharf zu unterweisen versteht, das 
Wort zu reden. Die „transscendentale Methode“ und der reine Logismus 
sind durchaus berechtigt, aber sie erfordern, soll das Erkennen als leben- 


17% 


266 Selbstanzeigen (Eleutheropulos). 
anse RES D begriffen wen ee dies Ei 


will 
sie die Kult 
Zeit R. Goldscheid (Grundlinien 
als Desiderat 


1905) 
mus“ betrachtet den 2 
logie, sondern als letzten „Grund“ von Erkenntnissätzen, als 
a , als oberstes Postulat und dann auch als eine 
acht, die im cure den Ausbau der Wissenschaft m 
ichtlich seine Potenzen entfaltenden und 


ein (direkt nicht erkennbares, aber in uns erlebbares, bei anderen nee 
lich bestimmbares) „An sich“ hin, als das „noumenale“ Korrelat der 
lichen Phaenomene, als das Eigen — oder für sich — Sein der 
Die „Transscendenz“ dieses Bigenseins wird nicht nur als möglich, sondem 
als notwendig dargethan, indem gezeigt wird, dass etwas 
Analo; was Erkenntnisformen Fertig was also nicht 
Denkforn , sondern aktives Formen (,JIchheit', pet 
allem Sein zugrunde liegt; das ,Transscendentale“ giebt den 
„Transscendenten“. Die konsequente und richtige, aber 
seitige Se a ee Naturauffassung der 
letzten "Endes der Ergänzung durch die „Tagesansicht“ einer 

'endenzen ich freudi, zu 


Eigenthun der Wirklichkeitsfaktoren würdigenden Weltdeutung. 
hi neigt sich ein Weg zur .,Metaphysik" der GONE 
niz, dessen Zeit jetzt wiederkommen wird, zu weisen vermag, und 
kommt auch, wenn auch in einer Weise, welche dem Realismus der 


wissenschaft voll gerecht wird, der „objektive Idealismus‘ der 
kantischen Spekulation zur Geltung. Die Erkenntnistheorie, die so lung 
metaphysikfeindlich war, wird die Keule des ,Alleszermalmers* weg- 
werfen und mit besonnener, kritischer Vorsicht selbst zur Metaphysik, zur 
‚Weltanschauungslehre‘ . Es ist mein höchster Wunsch, dass meine 
Arbeit ein Geringes dazu beitragen möchte, 3 
Wien. Dr. Rudolf Eisler. 
in eine 
en und 
von 





Selbstanzeigen (Weissfeld). 257 


nur kulturhistorische Bedeutung hat (S. 34 ff.) und bestimme ich 
darauf die einzig richtige Behandlungsweise der Geschichte 
der bisherigen Philosophie (S. 37 ff.) — so fasse ich nunmehr das 
weitere Problem au der Wurzel: wir streben nach einer wissenschaftlichen 
Philosophie, worin liegt nun aber die Wissenschaftlichkeit der- 
selben? Ich prüfe nun vorerst die vorhandenen Ansichten darüber. Da 
man diese Ansichten in den vertretenen Systemen nur (und nicht für sich 
direkt) ausgesprochen hat, so stelle ich dar und ich beleuchte kritisch 
diese Systeme darauf hin, ob durch dieselben wirklich eine wissenschaft- 
liche Philosophie zum Ausdruck kommt, indem ich die Stellung und 
Lösung der Probleme erwäge. Als solche gegenwärtige philosophisch 
wissenschaftliche Anschauungen berücksichtige ich Kant, wie er ın der 
Gegenwart vertreten wird, den Neokantianismus, dann die Naturforscher- 
Kritiker, weiter die Lehre vom unmittelbar Gegebenen (Positivismus, 
immanente Philosophie, Empiriokritizismus und Erfahrungsle e), die aus 
der Naturwissenschaft abgeleitete Philosophie und endlich die Philosophie 
als (hypothetische) Ergänzung der Einzelwissenschaften (Lotze, Fechner, 
Wundt und Spencer). Ich will hier in den „Kantstudien“ hervorheben, 
was ich über Kant und den Neokantianismus ausführe: ich stelle zuerst 
die Lehren Kants dar unabhängig von ihrer Entstehungsweise (in dieser 
Beziehung gehören sie zu der bisherigen ‘Philosophie) nur wie sie als 
Lehren, die man erneuern will, vorhanden sind; dann bespreche ich die 
Neokantianer, die ich in reine, echte und in über Kant hinausgehende 
unterscheide (ich mache freilich auch den Unterschied zwischen ehren- 
haften und Karriere-Neokantianern); dann kritisiere ich Kants Lehren und 
ihre neokantischen Verbesserungen an sich und ich finde, dass keine zu- 
recht besteht, keine einer immanenten Kritik standhält und ich kritisiere 
das methodologische Verfahren Kants und der Neokantianer und mache 
Itend, dass sie nicht untersuchen, sondern die Begriffe von vornherein 
tir wirkliche Gegenstände halten und vom Erkennbaren und Unerkenn- 
baren sprechen (S. 83—91); so scheint mir nicht zu recht zu bestehen, 
weder die strengen Neokantianer auf ein System verzichten, noch 
dass die über Kant hinausgehenden Neokantianer auf Kantischer Grund- 
lage zu einem System gelangen wollen. Ich zeige nun in dieser Weise, 
dass das „Wie“ der angestrebten philosophischen Wissenschaftlichkeit in 
der Gegenwart bei allen oben aufgezählten Richtungen nicht richtig an- 
gewandt wird. Jetzt unternehme ich, dieses „Wie“ direkt zu beantworten: 
ich zeige die Notwendigkeit der Philosophie als ein allgemeines Weltbild 
und nicht von vornherein als Metaphysik, metaphysisches Weltbild 
GS: 148 ff.), ich begründe die Möglichkeit der Aufgabe dieses allgemeinen 
eltbildes (S. 151 ff.), ich gebe die Grundlagen zur Gewinnung einer 
solchen Philosophie (S. 154 ff.), indem ich auch die Wissenschaften klassi- 
fiziere, und ich bestimme dann den wissenschaftlichen Charakter der 
Philosophie (S. 169 ff.). 
tirich. Eleutheropulos. 


Weissfeld, M., Dr. Kants Gesellschafslehre. Bern 1907. 
Scheitlin, Spring & Cie. 

Die Schrift soll zunächst eine Darstellung der Kantischen Lehren 
sein und, soweit es der Verfasser abzusehen vermag, ist das ganze auf das 
soziologische Problem sich beziehende Material, das sich in Kants Schriften 
vorfindet, berücksichtigt worden. Demgemäss werden in besonderen 
Kapiteln Kants Lehren über die sozialen Wissenschaften und ihren Gegen- 
stand, über die Bestimmungen des Gesellschaftlichen, die Familie, die 
Völker und die Nationen, den Staat, den Völkerbund und den Weltstaat, 
die Menschengattung behandelt. Es erweist sich danach, dass die Kan- 
tische Soziologie ziemlich reich an Problemen ist, sogar an solchen Pro- 
blemen, die man gewöhnlich erst den später auftretenden soziologischen 
Systemen zuschreibt. Andererseits aber zeigt es sich, dass auch die 
Lösung der soziologischen Probleme bei Kant und den nachfolgenden 


Jahrhund a die Selbstherrlichkeit des Menschen 
meint Kant, dass ein Telos, eine ausser dem Menschen sti 
das soziale Leben bestimme. Fata volentem ducunt, 
Allein dieser an sich fruchtbare Gedanke ist bei Kant 
denn er verleiht ihm keine Piuloponbiosba EB Br d wi 
es sein Interesse nur in ungenügendem Masse zu. = 
AT atischen Zweck der Schrift folgte auch, 
itischen“ Ansichten nicht zu unterdräcken brauch 
Brig Jar dise prinzipielle Ansichten und Begriffe zum \us 
a, um an der Kantischen ri reat eine té 


richten, sondern um auf ¢ 

pur das Sologische“ en parece die ie theoretic und 

tische ‚phie überhaupt aufgebaut werden müssen. 

tragen aber einen mehr programmatischen en 2 OU 
angedentet, nicht aber a werden konnten, Allein, 

diese Prinzipien nur angedeutet werden und nur einen sehr 
aan des Buches einnehmen, so hält sie doch der Verfasser 


in seiner Arbeit. "Für diejenigen freilich, die die 
der een sont soxiologischen Lehren fir fi ie wiseenschattlich b 
die Bedeı 


utung einer vollständigen 
Kantischen Avia era haben, > 2 
Bern. M. Weissfeld 


Berthold, Professor Dr., Generalarzt. ane Bu 
und Geisteslebens 
Philosophie des Denkens. Zweite, Mind neu 
A. Hirschwald, Berlin 1907. TX und 434 S .) 
Eine zweite Auflage i: 'erk nur in Bezug auf den Br er 
die Probleme. : i iese Auflage eine en 
und in philosop! eitergefithrte Bear! 
bleme, welche die = 


me ae ‘im engeren Sinne 





Selbstanzeigen (Kern). 259 


Das sind die Voraussetzungen und zugleich die Ziele, welcher 
meiner Arbeit zugrunde liegen. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse 
und Grundgesetze finden ihren Geltungswert in der thatsächlichen Macht, 
welche sie uns über das Naturgeschehen verleihen. Aber auch sie be- 
dürfen der Rechtfertigung und der Läuterung durch die Erkenntniskritik. 
Letztere kann seit Kant von ihrer beherrschenden Stellung an der Spitze 
aller unserer Erkenntnis nicht mehr entfernt werden. Sie ist massgebend 
auch für die Lösung des Seeleuproblems. 

Die Erkenntniskritik führt bei folgerichtiger Verwertung ihrer Er- 
gebnisse geraden Weges zum objektiven Idealismus, in welchem 
nicht das Sein, sondern das Denken der Urbestand, das An-sich des Welt- 
geschehens ist. Die Welt wird zu einer Welt von Begriffen in einheitlich- 

esetzmässigem Zusammenhange und in gesetzmässiger Entwickelung: 

ie Natur ist ein Ausschnitt aus dieser Welt des Denkens mit dem Inhalt 
räumlicher und gegenständlicher Begriffsbildung, der lebende Körper 
nichts anderes als die räumlich-gegenständliche Umdeutung der seelischen 
Vorgänge, das Ich ein einheitlich-zusammenhängender Denkvorgang 
(Aktualitätstheorie). Leben ist der materielle Ausdruck für Denken. 

Der Schwerpunkt der Beweisführung für diese allgemeinsten Ergeb- 
nisse liegt in dem Nachweise der Identität von Seele und Körper. 
Diese Identität ergiebt sich mit unausweichlicher Notwendigkeit aus natur- 
wissenschaftlichen Gesichtspunkten; ihre Art und ihr Wesen aber bestimmt 
‘sich auf den Grundlagen der Erkenntniskritik. 

Das Denken in der bislang herrschenden Begriffsbestimmung ist 
zu € efasst. Das logische Denken ist nur ein Teilvorgang, ein 
Sonde in dem weltbildenden Denken. Letzteres umfasst ausser dem 
logischen Denken auch die Empfindung, die Gefithle, den Willen, was 
naturwissenschaftlich und erkenntnistheoretisch erweisbar ist. Alle diese 
Vorgänge sind Denkvorgänge im wahren Sinne des Wortes und ent- 
haltenUrteile. (Existenzialurteile, Werturteile und Zweckurteile), grössten- 
teils allerdings in mechanisch gewordenen (ererbten und erübten) Formen. 
Ebenso ist das Bewusstsein nur ein Ausschnitt aus der breiteren Grund- 
lage des unbewussten Seelenlebens. Für dieses Denken im weiteren Sinne 
ist der Ausdruck des noötischen Denkens verwendbar. In der Aktivität 
des Denkens liegt Wille, Leben und Entwickelung einbegriffen. Die 
Entwickelung tritt so an die Spitze alles Weltgeschehens als dessen be- 
herrschendes Prinzip im Sinne des vous. Weiter folgt hieraus die Wieder- 
aufrichtung der geistigen Freiheit als Denkfreiheit im Gegensatz zu der 
unhaltbaren Willensfrefheit, ein intellektueller Indeterminismus und eine 
erkenntnistheoretische Begründung der Ethik auf lediglich intellektueller 
Grundlage, — dies alles unter Wahrung widerspruchsloser Einheit und 
Einstimmigkeit zwischen naturwissenschaftlich materieller und philoso- 
phisch immaterieller Betrachtungsweise. 

Alle diese Ergebnisse übrigens weisen in ihrem vollen Umfange auf 
Kant zurück, welchem sie in ihren wesentlichsten Zügen bereits vorge- 
schwebt haben, nur dass er sie nicht in gerader Linie zu entwickeln ver- 
mochte, weil die richtige Stellung des Denkens bei ihm noch nicht zum 
vollen Durchbruch gekommen war, weil ein dogmatisches Sein jenseits des 
Denkens ihm als undurchdringliches Dunkel t. Der Abweis jedes dog- 
matischen Mystizismus, sei er naturwissenschaftlichen, philosophischen oder 
religiösen Inhalts, ist die Vorbedingung für bündige wissenschaftliche Er- 
kenntnis, welcher absolute Wahrheit und unbegrenzte Entwicke- 
lungsfähigkeit zuzusprechen ist im Gegensatz zu den Vorurteilen der 
Erscheinungswelt und der Beschränktheit menschlichen Erkenntnisver- 
mögens. 

Berlin. B. Kern. 


Marcus, Hugo. Die Philosophie des Monopluralismus. 
Grundzüge einer analytischen Naturphilosophie und eines A B C der Be- 


260 Selbstanzeigen (Marcus), 


im Versuch. Berlin W. 50, Concordia, deutsche Me 
Er Ehbock, 1907. (163 S.) 

Die Antinomienlehre hat Kant auf ihre Höhe geführt. an 
schied vier Antinomien. Die Me: Arbeit nun le, 
Antinomien auf eine von ihnen, die Teilbarkeitsantinomie, 
die sie in die Formel fasst; Einheit und Vielheit, die einander 
ausschliessen, existieren doch andererseits nur miteinander, 
Auch in den einzelnen 
lieren: apes 


gm Bh nun auch dem Verhältnis der äussersten Kategorien 
überhaupt zu denken vermögen; deren werden sieben Be 
Raum, Stoff, Leben, Ordenbarkeit und 
lassen sich nicht auf ae zurückführen, bil 
‚jede von ihnen bedingt aber auch die Existenz sämtlicher 
of St die Einheit der Welt entsteht. In dieser Erkenntnis verbindet 
also das monistische Prinzip mit dem dualistischen, ja 
zu derjenigen Synthese, die den Thatsachen entspricht, von der aus 
jene beiden Richtungen ihren en erhalten. einer 
grossen Zahl von Erscheinungen, an Begriffen und Aussenwelt 
an Gefühlen und Willensvorgängen die Koexistenz von 
Vielheit im Weiteren a: eigt. Be erheben sich nunmehr die 
nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit im Nacheinander der 
istorische Frage) und in ihrem Nebeneinander (organische, 
). Die historische Fi führt auf ein Gesetz ee ee 
eit und Vielheit, aus dem sich folgern lässt, dass Einheit 
heit blosse Vorstellungsarten für dieselbe Sache sind; und damit erklärt 
sich alsdann, wieso einende Tendenzen wie der Sozialismus und i 
fältigende wie der Liberalismus bald als die schroffsten 
als verwandt betrachtet werden und betrachtet werden Sen.” Vom 
organischen Standpunkt aus spiegelt sich das Verhältnis von "Einheit and 
Vielheit im Verhältnis des Ganzen und seiner Teile. Wie das Ganze die 
Teile, die Teile das Ganze beeinflussen, wie die Teile zu lockreren und 
festeren Verbindungen, Ganzen sich gestalten, wobei sie ihr Wesen 
ändern und die Quelle der Entstehung vr: Verschiedenheiten, der #5 
werden, wie sowohl konkrete als abstrakte Teile sich überall in 
matischen Formen vereinigen, wird aufgezeigt, Schliesslich wird ae 
Einheitsbewnsstsein und Einheitsstreben in uns selbst untersucht und er- 
kannt, dass die Seele infolge ihrer Struktur, — der Enge ihres Blick, 
punktes nämlich—, nur immer eine Einheit ganz zu fassen vermag, — 
einheitsstrebig sein muss. Unserer chischen Enge ent t die im 
son ‚sehr einfache, primitive Retr unserer höchsten 
und unserer Zielsetzungen. Aber auch komplizierte Thatsachen sucht 
sich die Seele zu Einheiten zu gestalten: durch Auswahl des Einzelnen, 
Tree Bi Ser wird, und durch Zusammen- 
oe diese Weise ist dann der 


Qu 

leicht enstehen können, is hit 

ihren Läuterungsweg gehen, iesst: das System des Monopluralismus. 
Berlin, H. Marcus, 





Selbstanzeigen (Camerer). 261 


W., Dr. med., Medizinalrat. Philosophie und Natur- 

nz a 

sers Ft Kosmos-Verlag (Francksche Buchhandlung) Stuttgart 

_ Das Büchlein ist ans Anlass der Naturforscherversammlung in Stutt- 

September 1906, entstanden, welcher der Verfasser körperlicher 

e halber fern bleiben musste. Es sollte in leicht verständlicher 

e dem Dep und Chemiker, ausübenden Arzt und mieur, 

= nyse ES ge NA philosophi: Es 

übermitteln, welche nach persönlicher Erfahrung zum mehr 
technischen Betrieb dieser Fächer wünschenswert erschienen. 

Der ee Teil des Buches, ae ae ees eye ae ned 
3 jweck angepasste, ganz kurze Geschichte der Philosophie, 
in der Kants Kritik der reinen Vernunft zu erörtern we 
Es seien hier die leitenden Grundsätze endgültig festgelegt, welche der 
Naturforscher der Philosophie für seine Zwecke zu entnehmen habe, 

gehend, dass er eine unendliche Reihe von Thatsachen zu er- 

und auf Grundlage mathematisch-mechanischer Anschauungen 

nach dem Kausalitätsprinzip zu verbinden habe, ohne jemals ans Ende zu 

< Es hier auch des gegenwärtig geführten Streites 

zwischen iologen mechanischer und neovitalistischer Richtung Be 

roues welcher die überlegene Weisheit Kants jeder der beiden 
: im Voraus den ihnen zukommenden Bescheid erteilt habe. 

Der zweite Teil handelt von dem, was Anatomie und Physiologie 
des Hirns wärtig über das Seelenleben des Menschen auszusagen 
M Zu: dass sinnliche Vorstellungen sich gleichzeitig mit dem 

irn schon während des Embryonalleben zu bilden beginnen, woran sich 
im Rückblick auf Aristoteles ein paar Worte über die heutige Ent- 
wickeh anschliessen. Sodann wird, freilich noch in groben Um- 
der Mechanismus beschrieben, durch welchen die Vorstellung von 

sum und Zeit entstehe; jene durch das Zusammenarbeiten von 3 Sinnes- 
ne und ihrer Ausbreitung im Gehirn: Der Sehnerven, Tastnerven, 
sn er der Muskel-Empfindungsnerven, diese durch den Bau 
der Grauhi , nämlich durch Sonderung der für die Wahrnehmung 
ee in Us und in ne chen Da nun 

à lungen, die wir von den „Spezialsinnen“, den annten 5 
a erhalten, ‚benen Falls ebenfalls zu einem Gesamteindruck 
oe elm. Saugling z. B. zu dem der Milch, kann man an 
der Locke-Humeschen „Idee der Substanz“ 3 Bestandteile unterscheiden, 
die aus den ialsinnen fliessende Vorstellung, die Vorstellung von 

a und die von Zeit, welche beim Kind und naiven Erwachsenen eine 

rein sinnlicher Art bilden. Die Eindrücke des Muskelsinns seien 
niemals mit den Gefühlen des Angenehmen und Unangenehmen ver- 
bunden, eben sowenig das Zählen, die Funktion des Zeitsinns, während 
die Eindrücke der Spezialsinne immer mit diesen Gefühlen behaftet 
; daher vermöge der denkende Mensch diese Einheit nach zwei ver- 
n Seiten hin auseinanderzulegen, nach der anscheinend ganz 
iven, mechanischen und nach der anscheinend ganz subjektiven, 
— Am Schluss des Abschnittes ist die mechanische (che- 

age des Fechner-Weberschen Gesetzes aufgezeigt, zu 

asser durch eine nähere Untersuchung unserer willkür- 


Bewegungen gelangt ist. 
Der dritte Teil befasst sich mit den grossen Problemen der mo- 
Physik und Chemie; er ist eine Neubearbeitung von Aufsätzen, 
welche in der besonderen Beilage des Staatsanzeigers für Württemberg, 
1900, No. 12, erschienen sind, unter der Aufschrift; Neue Wege auf 
dem Gebiet der exakten Wissenschaften. Die Entdeckung des 
Radiums und die Untersuchungen über elektrische Strahlungen in luftleer 


gemachten Röhren haben manchen Ausfüh: gen d fassers uner- 
en, 


wartet schnell eine experimentelle Stütze verli deren sie jedoch nicht 





262 Selbstanzeigen (Brockdorff—Feugère). 


bedurften, denn sie standen und stehen auf dem sicheren Boden Kan- 
tischer Philosophie, nämlich auf dem Grundsatz, dass der Naturforscher 
niemals an die Stelle mechanischen Zusammenhangs mystische „Kräfte“ 
setzen darf, und dass, wie bei der menschlichen Erkenntnis überhaupt, so 
bei der des Naturforschers insbesondere, die sinnlichen Vorstellungen und 
das Denken immer zusammen arbeiten müssen. Veranlassung zur Ver- 
öffentlichung dieser Aufsätze gab der Umstand, dass Physiker von Namen 
und von Einfluss begannen, sich auf das Gebiet leerer mathematischer 
Formeln, ja sogar leerer Phrasen zu verirren. — Am Schluss des dritten 
Teils ist von der Bildung und Bedeutung der sogenannten Naturgesetze, 
von ihrer Analogie mit den Begriffen, von ihrer etwaigen objektiven 
Realität im Anschluss an Kants Kritik der Erkenntnis die Rede. 
Urach. W. Camerer. 


Brockdorff, Baron Cay von, Dr. Die Geschichte der Philo- 
sophie und das Problem ihrer Begreiflichkeit. Hildesheim 1906, 
Verlag von A. Lax. 

Die vorliegende Schrift verfolgt die Geschichte der Philosophie 
unter dem Gesichtspunkte eines einzigen Problems: dem der Entwicke- 
lung der Denkmittel, des Bewusstseins für die Bestimmungen, wodurch 
wir die Dinge „begreifen“. Sie zeigt zwar, dass sich mit diesem Problem 
alle anderen verschlingen, dass aber an diesen Problemen stets eine 
Seite zu finden ist, woran wir uns über das bewusst logische Verfahren 
der Selbsterkenntnis zu orientieren haben. Sofern wir dies Verfahren 
begreifen, begreifen wir mit uns selbst den Philosophen; die Vernunft ist 
in ihrer Reinheit allgemeingültig. Um aber einen Philosophen zu „be- 
greifen“, haben wir oft Konsequenzen zu ziehen, Voraussetzungen zu er- 
mitteln u. s. w., mit einem Worte: zu verstehen. Daher ist eine Psycho- 
logie des Verstehens zu Grunde zu legen. So aufgefasst, erscheint die 
Forschung der Gescliichte der Philosophie als ein fortschreitender Prozess 
der Selbsterkenntnis und des „Verstehens“. Darin liegt ihre Begreiflich- 
keit. Man kann jedoch diesen Prozess nicht in eine „Definition“ fassen, 
sondern muss ihn mit durchmachen; denn der Begriff der Erkenntnis ist 
die Theorie der Erkenntnis. 

Das Buch enthält manches, was auch Leser mit einer ganz anderen 
Auffassung interessieren dürfte, so z. B. ein Faksimile Schopenhauers 
(aus dem Besitz des Herrn Geh.-Rats Vaihinger) über den Begriff der 
Vollkommenheit. — Um die kulturgeschichtlichen Beziehungen der Philo- 
sophie wenigstens äusserlich anzudeuten, sind die einzelnen Kapitel mit 
illustrierenden Vignetten versehen worden: ein ragender Tempel leitet 
die griechische Philosophie ein, zerfallene Säulenhallen deuten das Ab- 
sterben dieses Volkes an. Da Galileis Erkenntnislehre besonders hervor- 
tritt, so ist sein Porträt an die Stelle des Titelbildes gesetzt worden. 

Das Buch nimmt auch zu Hegels Begriffslehre verhältnismässig 
eingehend Stellung, was bei dem Wiederaufleben des Hegelianismus 
namentlich bemerkt werden mag. 

Bad Ems. Baron v. Brockdorff. 


Feugere, Anatole, docteur ès lettres: Lamennais avant l’,Essai 
sur l’Indifférence“, d'après des documents inédits (1782—1817). Etude 
sur sa vie et sur ses ouvrages suivie de la liste chronologique de sa cor- 
respondance et des extraits de ses lettres dispersées ou inédites Paris, 
Bloud, 1906. 1 vol. in 8° raisin de XIII—460 pages. 

Pour déga er les traits. essentiels de la physionomie morale de 
Lamennais il allait l'observer au moment où des ciconstances fortuites 
n'avaient encore pu l’altérer. Mais comme la période la plus intéres- 
sante de sa vie est la crise de 1832—1836 qui amena sa défection, on 
est porté à chercher dans les faits antérieurs une sorte de nécessité logi- 

ue en vertu de laquelle cette défection aurait dû se produire, et l’on 
risque ainsi de fausser l’histoire. Il faut donc se tenir soi-même en garde 


Mitteilungen. 263 


en 
ne fit sa 


ii ut donc prétendre que celui-ci ait 
à ou inventé ce qu'il eût jugé de nature à expliquer comme 
ee Le de de Lamennais après sa condamnation. Une question 
¢ est celle de la vocation de Lamennais. Si nous la croyons 

" pas que nous songeons jours à son apostasie? 

il s’était soumis, aurions-nous encore le droit de croire qu'il 
en se faisant prétre? Non, me disais-je tout d’abord, et 
prés de voir dans la vocation contrainte de 1816 une légende 

se serait formée pour expliquer son attitude en 1836. Cependant j'ai 

[ examen des textes à une conclusion opposée, et je pense 

ceux qui dirigèrent Lamennais fut de prendre pour des 

sa ih aed invincible, ses hésitations sans cesse renais- 

ce enfin de tout attrait. Eut-il le tort de se laisser 

par faiblesse? C’est possible, mais une raison plus haute expli- 

uoi il voulnt, en se faisant prêtre, abdiquer une indépendance 

wait besoin: cet individualiste né prétendit ne rien concéder à 
et choquait sa raison. Or un sacrifice qui devait mettre 
sa vie en avec ses maximes n'était sans grandeur. Pour 
maintenir un tel accord, c'est la force qui lui manqua plutôt que le 


(Suisse). Anatole Feugére. 


Mitteilungen. 


Kant-Kritiken aus dem Jahre 1799. 

Mitgeteilt von Edmund O. v. Lippmann, 
Die „Denkwürdigkeiten und Tagesgeschichte der Mark 
Brandenburg und der Herzogtümer Magdeburg und Pommern“, 
von J. W. A. Kosmann und Th, Heinsius, schreiben 
8. res 8. Bandes (Berlin 1799, bei Belitz & Braun) wie folgt über 
Kant, und sprechen damit sicherlich ihrem grossen und einflussreichen, 
der „besten Gesellschaft“ Berlins angehörigem Leserkreise aus dem 
for kürzem ist eine kleine Schrift in Berlin unter dem Titel er- 
schienen resste Erklärung an die Philosophen und Kritiker in der 
weltberühmten Wissenschaftsstadt Jena, die angegriffene Kantische Philo- 
entweder zu verteidigen oder sie als ungültig zu verdammen‘, 


er in aller Kürze wissen will, was es eigentlich für eine Bewandtnis 
mit der Kantischen Philosophie und mit dem litterarischen Despotismus 


habe, wer wissen will, wie die Unglücklichen von den gewaltigen Littera- 
turkönigen in Jena gemisshandelt werden, welche nicht auf Kant und 
bolische Kritik der reinen Vernunft schwören wollen, den wird 

diese vier Bogen gelesen zu haben. Möge doch Gott 

diese kleine Schrift der verlorenen Geistesfreiheit in 





264 Mitteilungen. 


Phantasmen“, — die bekanntlich zur Einführung des Proktophantasmisten 
und zu den Versen „Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen“ u. s_ 1. 
in Goethes „Faust“ Anlass gab —, zunächst scharf abgewiesen, die We- 
cension aber dann mit nachstehenden Worten beschlossen wird: 

„Herr Nicolai ist sogar ... höchst unzufrieden, dass jetzt Deutsch. 
land von Kantianern und Fichtianern so sehr gedrückt wird, weil er mit 
Recht überzeugt ist, dass diese philosophischen Sekten nichts taugen, in. 
dem ihre Systeme noch zu voll Scholasticismus und mystischer Fornm ele; 
stecken, und die Deutsche Nation in ihrem Fortgang zu einer besseren 
und reelleren Philosophie stören und aufhalten ... Daher sucht er 
sie... zum Einsturz zu bringen, und eine vollkommenere Lebensp hilo. 
sophie, die sich freundlich mit der Religion und dem Priestertum ve 
auf den Thron zu erheben. Heil diesem edlen Beginnen! Glück diesen 
antikantianischen Forschungen! . . .* 


4 Ein unbekanntes Gedicht auf die Kantische Philosophie. 


Die von O. Flügel veranstaltete Ausgabe der Recensionen Herbart8 
(in der von K. Kehrbach unternommenen Gesamtausgabe) wird einerseits 
manches einer unverdienten Vergessenheit entreissen. Und wenn anderer 
seits auch unter den besprochenen Schriften vielleicht manche ist, der nur 
Herbarts Name und seine Beschäftigung mit ihr Dauer verleiht, so bietet 
doch der Umstand, dass eben Herbart sich mit ihr beschäftigt und über 
sie geschrieben hat, Gewähr für manchen bedeutsamen philosophischen 
Ausblick Herbarts selbst. Zu der zweiten Kategorie der von ihm be- 
sprochenen Schriften scheint, wie aus der Recension wohl selbst hervor- 
geht, auch das Werk von Georg Karl Fick: „Vergleichende Darstellung 
der philosophischen Systeme“ zu gehören. Darin findet sich ein von 
Herbart selbst zitiertes Gedicht, mit dem Fick die Darstellung der 
Kantischen Lehre eröffnet, und auf das uns der verehrte Herausgeber 
der Herbartschen Recensionen freundlichst aufmerksam macht. Das Ge- 
dicht hat freilich weder künstlerischen noch philosophischen Wert, ist 
aber doch von einem gewissen dokumentarischen Interesse. Darum sei es 
hier mitgeteilt. Es lautet: 


In des Wissens trüglich helle Höhen 
Mögst du nicht zu weit versteigen dich, 
Mancher glaubt das Höchste zu verstehen, 
Aber täuscht jedoch gewaltig sich. 


Nicht wird der Vernunft es je gelingen, 
Uebersinnlichs klar zu machen sich. 
Es kann niemand dieses je erringen, 
Lass doch, Mensch, nur, sein, was nicht für dich. 


Keine Kenntnis von der Dinge Wesen können wir erhalten, 
Alles denken wir nach der Erscheinung Form; 

Nur als Regel deines Handelns mö "Gott im Innern walten, 
Transscendentes ist nur subjektive Norm. 


Die vorstehenden Verse finden sich bei Herbart zitiert: Bd. XIII 
S. 21 in der Ausgabe von Kehrbach (ebenso Bd. XIII S. 508 in der parte 


steinschen Ausgabe). 


Kants Grabstätte. 


Wie im Anschluss an die „Königsb. Hartungsche Ztg.“ mehrere 
Blätter melden, soll die Grabstätte nts einem kirchlichen Neubau 
weichen. Die sterblichen Reste des Unsterblichen sollen dann an der Ost- 
seite des Domes beigesetzt und die Grabstätte mit einem Epitaphium ge- 
schmückt werden. 


Erste Preisaufgabe der Kantgesellschaft. 


Kants Begriff der Erkenntnis, 
verglichen mit dem des Aristoteles. 


Bericht der Preisrichterkommission 
über die zur Preisbewerbung eingegangenen Schriften. 


Das Preisthema ist in dem, zum 1. März 1905 ausgegebenen Hefte 
1 und 2 des X. Bandes der „Kantstudien“, S. 248 öffentlich ausgeschrieben 
worden; Heft 3 desselben Bandes, S. 415, brachte dazu einen Nachtrag. 
Als erster Preis wurden 600 M., als zweiter Preis 400 M. ausgesetzt. 
Das Preisthema, das dann auch von vielen Zeitschriften und Zeitungen 
nachgedruckt worden ist, hat 7 Bearbeitungen gefunden, welche alle 
rechtzeitig (Ablieferungstermin: 1. Oktober 1906) eingelaufen sind. 


No. 1 und 2. Die erste Arbeit (18 Seiten Folio) hat das Motto: 


Nescio quomodo nthil tam abeurde dict potest, quod non dicatur 
ab aliquo Philosophorum. 
Cicero, de Divin. Lib. IL LVIII, 119. 


Die zweite Arbeit (17 Seiten Folio) trägt den Sinnspruch: 
Das ist es, was den Menschen zieret, 
Und dazu ward ihm der Verstand, 
Dass er im innern Herzen spüret. 
Was er erschafft mit seiner Hand. 
Schiller in der „Glocke“. 


Diese beiden Arbeiten kommen nicht ernstlich in Betracht, sie sind 
quantitativ und qualitativ zu dürftig. No.1 bleibt ganz auf der Oberfläche 
und giebt nicht mehr als in jedem Grundriss der Geschichte der Philo- 
sophie zu finden ist; No. 2 ist unklar in der Gedankenfiihrung und unge- 
wandt in der Darstellung. Diese beiden skizzenhaften Behandlungen ent- 
behren der wissenschaftlichen Methodik und ermangeln überhaupt der 
Einsicht in das Problem. 


No. 3. Die dritte Arbeit (163 Seiten Folio, nebst XXVIII Seiten 
Inhaltsangabe) trägt folgenden Spruch Nietzsches: 
Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: das heisse Ich euren 
Willen. 


Diese Arbeit, welche den Aristotelischen Standpunkt als „dyna- 
mischen Dualismus“ anspricht, vertritt die Ansicht, dass einzig nnd allein 
von diesem Standpunkt aus das Erkenntnisproblem zu lösen sei; die Aus- 
führungen, welche von diesem Standpunkt aus über den Aristotelischen 
Erkenntnisbegriff selbst gegeben werden, sind aber dürftig, und, was der 
Verfasser über Kants Erkenntnisbegriff sagt, ist ganz schief; so ist ihm 
z. B. das „Subjekt“ bei Kant „ein physiologischer Begriff“, Kants Stand- 
punkt sei „Monismus“ u. s. w. Von S. 53 ab giebt die Arbeit wesentlich 
nur eine weitschweifige Darstellung der eigenen unreifen Philosophie des 
Verfassers und fällt damit zuletzt aus dem Rahmen der Preisaufgabe 

eraus. 


266 Erste Preisaufgabe der Kantgesellschaft. 


No. 4. Die vierte Arbeit (134 Seiten fick 
und Quellen) trägt folgendes Motto aus Condilla: 
l'origine de connaissance humaine: 


8 
€ aus dem 


die 
ee 


Sinnesenergieen“, und was er zum Satze des Widersp: > 
verfehlt, Auch sein Kantstudium scheint noch in den zu 
stehen, + 


No. 5. Die fünfte Arbeit (161 Blütter Folio) trigt folgenden 
alten Sinnspruch: : 4 
Ex praemii spe laboris fit solatium. 
Erst diese fleissige und gedankenreiche Arbeit kommt ernstlich in 
Betracht. Aber leider hat sich der Verfasser das un] historische 


in das rechte Licht gesetzt. Es fehlt jeder Hinweis auf die 

Bedeutung des Satzes vom Widerspruch bei Aristoteles und doch ist diese 
von Aristoteles dem Prinzip gegebene Bedeutung der Augen um 
den sich der Unterschied der Aristotelischen Denkart von kritischen 
bewegt. Die ng des Verfassers über den Kantischen oes 
nishegriff sind ich und zeugen von einem eindringlichen u 
der Kantischen Philosophie selbst, aber sie kranken an den oben an; 
deuteten Mängeln. Auch ist die Darstellung gesucht, der Verfasser 

es, mit mathematischen Analogi: a so heisst: bei ihm das Sein 
„das Integral der Method ethode, meint er, „tolle die Be- 


deutung des Seins auf“: i fe. ihm Sein ein Erzeugnis der Wissen- 


schaft, die Wissenschaft die Be g des Seins. Unter diesen Voraus- 
setzungen sind aber weder Aristoteles, noch Kant richtig zu verstehen. 
Die Afbeit, die im Rinzelnen «viel Scharksinnigen, nu Teen TES 
ist übrigens unvollendet. 


No. 6. Die sechste Arbeit (344 Seiten Quart nebst XIX Seiten 
Litteratur und Inhalt) hat sich folgendes Motto aus Pascal gewählt: 
Le coeur a des raisons, que la raison ne comprend pas. 

Diese Arbeit empfiehlt sich schon durch die klare und pyr ean 

des Stoffes. Nach einer allgemeinen Einlı age (über die 

Welt des Seins und des Erkennens und ihre Vermittelung Aristoteles 

und Kant) und einer speziellen (über die Unterscheidi von Form und 

Stoff) erörtert der Verfasser in einem ersten Kapitel die Erkenntnis- 

faktoren nach der Auffassung der beiden Denker, hierauf in einem 

zweiten Hauptteil ihre Lehren vom Erkenntnisprozess, um in einem 





Erste Preisaufgabe der Kantgesellschaft. 267 
ge it wesentliche: TER 
Erkenntnisbegriff zu st und damit das en seiner Unter- 

. Dabei schöpft er erst in zweiter Linie aus 


der ab Litteratur, in erster aus den Quellen selbst, wobei er, 
"wie ihm zugestanden werden muss, fast durchwegs ein sicheres Urteil be- 
währt. Mit bekannten Lehren von Aristoteles und Kant giebt sich die 
zu ausführlich ab, In der Behandlung des Erkenn blems bei 

ist dieses noch nicht genügend aus der metap! Hülle 

während in der Darstellung der Kantischen Erkenntnislehre 

noch it die letzte Tiefe des transscendentalen Problems erreicht ist, 
So eine vollständige Lösung der Aufgabe dem Verfasser nicht ge 
ol = 


Den er den methodischen G itz, der hinsichtlich des 
zwischen Aristoteles und Kant besteht, im allgemeinen 


wusstsein unabhängige Objekt, und den Grund und die Grenze der Über- 
einsti der nntnis mit diesem, Objekte — vermittelst des Be- 

Indessen zeugt die ganze*Arbeit von dem wissenschaftlichen Ernst, 
mit dem sich der Verfasser an die Behandlung des Problems gemacht hat, 
und von methodischer Schulw sowohl die umsichtige Art seiner Dar- 
stellung als vielfache verdienstliche Einzelausführungen beanspruchen An- 
erkennung, und so verdient diese Arbeit den zweiten Preis. 





No, 7. Die siebente Arbeit (287 Seiten Folio nebst XVIII Seiten 
Litteratur und Inhult) ist in französischer Sprache geschrieben. Sie trägt 
das Motto aus Lafontaine’s Fabeln: 

Si de vous agréer je n'emporte le prix, 
J'aurai du moins l'honneur de l'avoir entrepris. 


Diese umfangreichste Abhandlung ist auch zugleich die wissenschaft- 
lich bedeutendste unter den eingelaufenen Bearbeitungen der Preisfrage, 
Der Autor giebt eine sehr ins Einzelne gehende Vergleichung der Lehren 
von Aristoteles und Kant auf Grund einer vollständi icht ihrer 

Bezeichnenderweise legt er dabei das Hauptgewicht auf die 

nieht auf die Erkenntnistheorie, und seine Absicht ist mehr 

auf Versöhnung und Ausgleichung der Differenzen gerichtet, als auf deren 
Hervorhebung und Erklärung. 

Diese leichende Tendenz der Schrift ist um so höher zu schätzen, 

je sie bei dem von dem Verfasser eingenommenen neuscholasti- 

unkt zu erwarten war, Der Verfasser ist insofern frei von 

der üblichen Gegnerschaft gegen Kant in dem Lager der Thomistischen 

und dies ist ein erfreulicher Beweis wissenschaftlicher Unbe- 

fangenheit. Freilich hindert diese conciliatorische Tendenz auch andererseits 

den Verfasser, das Neue und wahrhaft Originale bei Kant zu sehen und 

zu lassen. Aller Aufwand von an sich sehr beachtenswerter Ge- 

vermag nicht, diesen Grundmangel der Schrift zu verdecken. 

Aristoteles musste von dem Verfasser zu einem kritischen, Kant zu einem 

Philosophen gemacht werden, nur um beide einander mög- 

nahe bringen zu können. Schon jede Aporie oder Schwierigkeit, 

die Aristoteles in der Aufgabe der Erkenntnis fand, soll ein kritisches 

Problem sein; damit aber wird der eigentliche Sinn der Frage Kants: 
wie zugleich apriori und dennoch von den Objekten gülti, 

sein künhen, verkannt. Kant dagegen soll sich überhaupt, und 5; ol 

der exakten Naturwissenschaft gegenüber, dogmatisch verhalten haba 


268 Erste Preisaufgabe der Kantgesellschaft. 


darum redet der Verfasser in mehreren Paragraphen eradezu von einem 
angeblichen „Dogmatismus Kants“. Zwar kennt und berührt der Autor 
im 9. § des I. Kapitels die unmittelbar ontologische Bedeutung der lo- 
gischen Wahrheit bei Aristoteles, weist aber nicht darauf hin, dass gerade 
an diesem Punkte die Grenzscheide zwischen dem Dogmatismus des 
Aristoteles und dem Kritizismus Kants sich befindet. Die Auffassung der 
Lehre Kants ist die herkömmlich subjektivistische: „objektiv“ bedeute bei 
Kant das normal-subjektive; seine Grundlage sei die menschliche Natur. 
Dass Kant gerade dieser Auffassung ausdrücklich widersprochen hat, ist 
dem Verfasser unbekannt geblieben. 

Die Aufzeichnungen Kants in Reickes „Losen Blättern“, und Erd- 
manns „Reflexionen“ sind nicht herangezogen worden; daraus erklärt sich 
u. a. die Unsicherheit des Verfassers in der Frage des Idealismus Kants. 
Doch enthält die Schrift auch viel Scharfsinniges und Zutreffendes; so 
den Satz: Kant leite die Begriffe (Kategorien) von den Urteilen ab, 
Aristoteles die Urteile von den Begriffen. Hervorzuheben ist ferner, was 
der Verfasser sehr verständig über die Nicht-Euklidische Geometrie in 
ihrem Verhältnis zu Kants Raumlehre äussert. In der Gesamtwürdigung 
beider Denker erhält freilich Aristoteles überall den Vorrang vor Kant: 
jener, heisst es, sei systematisch und synthetisch, seine Lehre sei zur Ein- 

eit geschlossen; Kant dagegen sei beim Dualismus stehen geblieben. 
Augenscheinlich ist der Verfasser in Aristoteles belesener als in den 
Schriften Kante. Die Lösung der gestellten Preisaufgabe konnte ihm 
trotz, seiner grossen Gründlichkeit, seiner lichtvollen Darstellung und aus- 
gebreiteten Sachkenntnis aus den aufgezählten Gründen nicht gelingen; 
jedoch verdient die Arbeit, dass ihr der zweite Preis zuerkannt wird. 


Berlin, Leipzig, Halle, im April 1907. 


Riehl. Heinze. Vaihinger. 


Auf Grund dieses Berichtes der Preisrichter-Kommission hat der 
Vorstand der Kantgesellschaft in seiner Sitzung am 22. April Folgendes 
beschlossen: Da eine des ersten Preises würdige Arbeit nicht eingelaufen 
ist, und da andererseits zwei Arbeiten als des zweiten Preises würdig er- 
klärt worden sind, so soll der zweite Preis von 400 M. ausnahmsweise 
zweimal vergeben werden. In der an demselben Tag (Kants Geburtstag) 
stattgehabten Generalversammiung wurden daraufhin die betreffenden 
verschlossenen Kouverts eröffnet. 

Als Verfasser der Arbeit No. 7 ergab sich: 

Dr. Charles Sentroul 
Agrégé à l’École de St. Thomas de Louvain. 
Verfasser der Arbeit No. 6 ist: 


Dr. Severin Aicher 
cand. theol. in Tübingen. 


Die Arbeit des Letztgenannten wird als Ergänzungsheft zu den 
Kantstudien im Laufe des Sommers erscheinen. 


Die nicht prämiierten Arbeiten werden bis 31. Dezember d. J. auf- 
bewahrt. Sind sie bis dahin nicht zurückverlangt, so werden sie ver- 
nichtet. 


Halle a. S., im Mai 1907. 


Der Geschäftsführer der Kantgesellschaft 
H. Vaihin ger. 


Hoteuchéruckerel C. A. Kasmmerer & Oo, Halle a 8, 


Kuno Fischer +. 


Die Wissenschaft trauert um einen ihrer er- 
lesensten Verkünder, die Philosophie um jenen kraft- 
vollen Geist, der sie aus dem Banne materialistischer 
Öde und pessimistischer Blasiertheit befreien half, in- 
dem er sie durch eine historische That zurücklenkte 
auf die kritischen Pfade des grössten philosophischen 
Bahnbrechers der Neuzeit. Was „Kuno Fischer und 
sein Kant“ für die ganze Entwickelung des modernen 
philosophischen Gedankens bedeutet, das ist in dieser 
Zeitschrift von berufenster Seite bereits behandelt 
worden, als die wissenschaftliche Welt das fünfzig- 
jährige Doktorjubiläum Kuno Fischers feierte. Kuno 
Fischers Werk über Kant war es, das die ganze Be- 
wegung des Neukantianismus in Fluss gebracht hat. 
Und das darf zuletzt diese Zeitschrift, die den Namen 
Kants auf ihrem Titel führt, vergessen. Man mag 
manches seiner Resultate im Einzelnen, selbst in be- 
deutsamen Einzelheiten, beanstanden, wessen Sinn sich 
aber nicht beim Einzelnen beruhigt, wer seinen Geist 
offen hält für die geniale Erfassung des zusammen- 
hangsvollen Ganzen, der wird Kuno Fischer immer- 
dar den Dank zollen, den ihm die Geschichte schuldet. 

Dass ein historisches Werk, wie Kuno Fischers 
Kant-Werk, zum Ausgangspunkte einer neuen philo- 
sophischen Bewegung werden konnte, das beweist, 
welch philosophischer Historiker dieser Historiker der 


Kantstudien XIL, 





Philosophie war. Ihm ging keineswegs die Philosophie 
in ihrer geschichtlichen Erforschung auf. Vielmehr 
musste ihm umgekehrt die Wissenschaft von der 
Geschichte der Philosophie selbst zur Philosophie 
werden, 

Das ist auch der leitende Gesichtspunkt, unter 
dem sein ganzes Hauptwerk: „Die Geschichte der 
neneren Philosophie“ steht. Sie hat nach ihm den 
Entwickelungsprozess der philosophischen Erkenntnis 
darzustellen und kann mit Notwendigkeit darum nicht 
bloss eine Sammlung interessanter Meinungen über 
allerlei Dinge und verschiedenes Anderes sein, sondern 
hat sich in erster Linie auf den Ewigkeitsgehalt zu 
richten, der in der Geschichte seinen zeitlichen Nieder- 
schlag und Ausdruck findet, Kann diese Methode 
historischer Forschung auch von vornherein der Kritik 
gar nicht entbehren — es ist das absurdeste Miss- 
verständnis, das dieser Methode begegnen kann, wenn 
man Kuno Fischer zum Nachbeter der grossen philo- 
sophischen Heroen macht, mag hinter diesem Miss- 
verständnis selbst ein Schopenhauer stehen — muss 
diese Methode gerade der Relativität des Historischen 
sorgsam Rechnung tragen, so muss sich doch alle echte 
Kritik gerade in den Dienst des Erkenntnisgehaltes 
selber stellen und (darf sich nicht in ein kleinliches 
Klagen und pedantisches Nörgeln werlieren. Darum 
ist seine Methode darauf gerichtet, jedes der grossen 


duellen Bestimmtheit seine: 
durch die Kritik des foi 








Geschichte auch seine Weiterbildung verstindlich zu 
machen. 

Diesen Sinn der Geschichte, wie er sich dem 
Historiker darstellte, brachte der Schriftsteller auf 
einen klassisch-einfachen, künstlerisch-schönen Ausdruck. 
Im Schriftsteller wurde der Historiker Kuno Fischer 
zum Künstler der Darstellung der Geschichte. Denn 
Kuno Fischer war nicht nur Forscher, er war auch 
Künstler. Und darum war es selbst eine geschichtliche 
Notwendigkeit, dass der Historiker der neueren Philo- 
sophie zugleich zum Historiker unserer klassischen 
Poesie wurde, die auf ihrem Höhepunkte mit der 
Philosophie die innigste Verbindung eingegangen war. 
Und ebendarum auch konnte Kuno Fischer in den 
Herzen Tausender die Liebe zu unserer grossen 
nationalen Litteratur entzünden, und im Geiste Tausender 
den unerschöpflichen Reichtum unserer klassischen 
Poesie zu neuem Leben erwecken, 

Wie wenig andere war er deshalb zum akade- 
mischen Lehrer bestimmt, ja wahrhaft begnadet. Die 
Begeisterung, die von seinem Katheder für die von 
ihm vertretene Sache ausging, war beispiellos. Wer 
je von ihr berührt wurde, findet sie trotz aller Grösse 
natürlich. Der Geschichtsforscher, der zugleich ein 
Künstler war, er war auch ein Mann, der für seine 
Sache lebte. Jeder seiner Vorträge war nicht nur 
ein Werk der Wissenschaft, nicht nur ein Kunstwerk, 
er war ein tiefstes, überzeugungsvollstes Erlebnis, weil 
der Lehrer sich der Heiligkeit seines Berufes bewusst 
war, und die Liebe zu der ihm heiligen Sache sein 
ganzes Wesen durchströmte. Weil jedes seiner Worte 
aus tiefster Seele drang, darum vermochte er die 


18* 












Herzen der Hörer zu zwingen. So war es im Forscher 
und Lehrer zugleich die Persönlichkeit, die ihre tiefe 
Wirkung ausübte. 

Welche Wirkungsfülle umschloss in der That 
nicht diese Persönlichkeit! Zwar hat um sie schon 
zu Lebzeiten Kuno Fischers die plumpe, täppische 
Phantasie einer mehr kindischen, als kindlichen Einfalt 
ihre Sagen gesponnen, und die Tages- und Wochen- 
blättchen haben sich nicht geschämt, bei seinem Tode 
ihren Lesern die albernsten Erfindungen aufzutischen; 
und kaum eines seiner epigrammatisch geprägten, 
künstlerisch geschliffenen Dikta hat beim Eintritt in 
den Geist der Klatschsucht seine Kraft und Ursprüng- 
lichkeit bewahren können. Was will so etwas auch 
von dem Menschen Kuno Fischer verstehen? Diese 
reiche Persönlichkeit mit ihrer Wucht und Wirkungs- 
fülle, mit ihrem ganzen Zartgefühl, ihrer Vornehmheit 
und Feinheit, sie ist ja am Ende auch nicht jedem 
verständlich und kann es nicht sein. Wer aber je von 
ihr sich berühren lassen durfte, dem bleibt persönlich 
immerdar das Bild des kraftvollen Charakters, des 
glänzenden Geistes, der feinfühlenden Seele des Mannes 
tief eingegraben im Herzen, wie nach Liebmanns Wort 
seinem Werke bleiben wird der 


„Dank der Nachwelt!“ 


Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. ') 


Von Dr. Oscar Ewald in Wien. 


Die philosophische Produktion des vergangenen Jahres in 
Deutschland zeigt mannigfache aber dennoch in bestimmtem Sinn 
einheitliche Motive. Man kann diese Motive nicht von Grund aus 
begreifen, wenn man nicht mit einigen Worten ihre Vorgeschichte 
berührt. Noch vor Kurzem durfte man die geistige Situation da- 
hin charakterisieren, dass sie unter dem Zeichen Kants stehe. 
Auch heute besteht dies freilich zu Recht, aber nicht ohne 
schwerwiegende Einschränkungen. Die Rückkehr zu Kant, die 
yor mehreren Dezennien von Friedrich Albert Lange, dem 
Autor der Geschichte des Materialismus, vorbereitet wurde, 
hat sich mit grosser Intensität, man möchte sogar sagen, mit 
Vehemenz vollzogen. Die Leistungen hervorragender Forscher, 
die man unter dem Kollektivbegriff des Neukantianismus zu 
‘vereinigen pflegt, Männer wie Vaihinger, Riehl, Volkelt, Windel- 
band, Cohen, Paulsen haben die Rezeption Kants beschleunigt und 
die Wirkung der „Kritik der reinen Vernunft“ auf das jüngste 
geistige Deutschland erst befestigen geholfen. Entsprechend dem 
vielseitigen und polyphonen Charakter des Kantischen Kritizismus 
hat sich auch ihre Wiederaufnahme unter mannigfaltigen Gesichts- 
punkten vollzogen: Während die einen darin eine erkenntnistheo- 
retische Schutzwehr gegen die Metaphysik erblicken und die 
Forschung demnach auf Erfahrung beschränken wollten, errichteten 


1) Dieser Artikel ist auf Veranlassung von Professor J. E. Creighton 
an der Cornell University einem der Herausgeber der „Philosophical 
Review“ für letztere Zeitschrift durch Vermittelung des Unterzeichneten 
‚geschrieben worden. Unter Zustimmung von Prof. Creighton, der ja auch 
Mitherausgeber unserer „Kantstu ist, bringen wir diese Abhandlung, 

i S r Übersetzung erscheint (Vol. 
XVI, 3) im deutschen Original, um vollen Ausführungen des Ver- 
fassers der deutschen Wissenschaft nicht verloren gehen zu lassen. 
Vaihinger, 





274 O. Ewald, 


die anderen auf dem Fundament des Transscendentalismus eine 
neue Metaphysik. Dennoch begegnen diese Antagonisten einander 
in dem Anspruch, Kantianer zu sein. Wir nennen hier zur Ver- 
deutlichung dieses merkwürdigen Sachverhaltes die äussersten 
Extreme: die immanente Schule, Denker wie Schuppe, Rehmke, 
Schubert-Soldern, Leclair bekennen sich zu Kant, nicht weniger 
aber entschiedene Metaphysiker wie Wundt, Eduard v. Hartmann, 
Volkelt. Gleichwohl giebt es gemeinsame Grundziige aller Kan- 
tianer, freilich weniger nach der positiven Seite hin als nach der 
negativen, weniger in dem, was sie behaupten, als in dem, was 
sie bekimpfen. Und das ist insbesondere ein kritiklos intole- 
ranter Positivismus, Empirismus, Relativismus und Psychologismus. 
Auch dem Evolutionismus steht der Neukantianismus insofern et- 
was skeptisch gegenüber, als er nicht an die Möglichkeit glauben 
darf, sämtliche Erkenntniswerte in den Strom der Entwickelung 
aufzulösen. Im apriorischen Bestand der reinen Begriffe sind die 
Grenzen für jedwede empiristische und evolutionistische Betrach- 
tungsart gezogen. In den letzten Jahren bereitete sich zum Teil 
innerhalb, zum Teil ausserhalb des Neukantianismus eine bedeut- 
same Bewegung vor. Eine Bewegung, die bald als Renaissance 
gefeiert, bald als Reaktion geschmäht wird, und deren Eigentüm- 
lichkeit darin besteht, dass sie den philosophischen und kul- 
turellen Entwickelungsgang der idealistischen Welt- 
anschauung von Kant bis Hegel auf neuer Grundlage zu 
wiederholen scheint. 

Der vor Kurzem verschiedene Philosoph Eduard v. Hart 
mann, der Verfasser der berühmten „Philosophie des Unbewussten“, 
nannte diesen Vorgang ein wenig ironisch den „Repetitionskursus“. 
Seine Prophezeiung, die er mir gegenüber persönlich vor wenigen 
Jahren aussprach, nach Kant komme Fichte, nach Fichte würden 
Schelling und Hegel an die Reihe kommen, hat sich bereits er- 
füllt. Der Neufichteanismus ist vor einigen Jahren auf den 
Schauplatz getreten und hat bald weite Kreise gezogen. Es 
kamen ihm abstrakte, theoretische, insbesondere aber praktische 
Bedürfnisse entgegen. Bereits Windelband wies in seinen „Pr& 
ladien“ darauf hin, dass Fichte Kant am richtigsten interpretiert 
hat, wenn man von den metaphysischen und dialektischen Ele- 
menten absieht. Denn während bei Kant das transscendentale 
Erkenntnisgebäude mangels einer sicheren Deduktion der einheit- 
lichen Grundlage entbehrt und daher haltlos in der Schwebe be- 


Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 275 


lassen wird, lehrte Fichte als erster einen höchsten, abschliessen- 

den Zweck, an dem sämtliche Kategorien und Erkenntniswerte 

orientiert werden. Dieser Zweck ist bei Fichte allerdings ein 

praktischer, während die Neufichteaner, insbesondere Rickert, ihn 

als einen theoretischen betrachten, als einen logischen Erkenntnis- 

zweck, als ein logisches Sollen. Die Bewegung ist indessen beim 

Nenfichteanismus nicht stehen geblieben, das jüngste und epochalste 

Ereignis der Philosophie ist vielmehr der Übergang zu Hegel, der 

immer weiter ausgreifende Neuhegelianismus. Diese Entwickelung 

hat sich aber nicht in einer einzigen schmalen Dimension voll- 

zogen, sodass das gesamte philosophische Schaffen erst unter dem 

Einflusse Kants gestanden hätte, um sodann successiv unter den 

Fichtes und Hegels überzugehen. Vielmehr bestehen alle Rich- 

tungen nebeneinander, und es mangelt auch nicht an vermittelnden 

men und Nuancen, Allein es scheint gleichwohl eine 

Tendenz zu bestehen, weniger die Lösung als die Stellung der 

Probleme in den Gesichtskreis der Nachkantischen Denker zu 

stellen. Und was besonders bemerkenswert, wir finden bei Philo- 
sophen, die von Kant ausgingen und zum Teil sogar als orthodoxe 
Kantianer begonnen hatten, deutliche, wenn auch ihnen selber 
‘nicht ins Bewusstsein getretene Annäherungsversuche an Hegel. 
Als charakteristisches Merkmal der neuesten Philosophie in Deutsch- 
land können wir also dies hinstellen, dass in ihr eine zeit- 
gemässe und auf neuer Grundlage sich vollziehende Wiederholung 
der einzelnen Stadien stattfindet, durch die die Nachkantische Spe- 
kulation hindurchgegangen war. Die Bewegung begann im Neu- 
kantianismus mit der Rezeption der kritischen Hauptgedanken. 
Von Kant führte der Weg zu Fichte hinüber. Von Fichte zu 
Hegel. Und wenn man den angedeuteten Vorgang chronologisch 

genauer fixieren will, kann man in das Jahr 1906 speziell die 

Wiedergeburt des Hegelianismus setzen. Noch das Folgende ist 

zu erwähnen: Während der Einfluss jener Nachkantischen Denker, 

die in den letzten Dezennien im Vordergrund gestanden, also ins- 

besondere der Herbarts und Schopenhauers, wenigstens für die 

reine Philosophie zurückzutreten beginnt, wendet sich die Auf- 

ner Zeit neuerdings zu, einem 

Fries, einem Beneke, einem Feuerbach und sucht deren Lehre in 

. Dazu tritt ein 

cht merhalb der Philo- 

sophie, auch in den weitesten Kulturkrei en nt das Zeitalter 





276 0. Ewald, 


der Romantik an Ansehen und Interesse: Das Losungswort „Neu- 
romantik“ steht gegenwärtig an der Tagesordnung. Die Folge 
davon ist abermals eine intensive Beschäftigung mit den Denkern 
jener Zeit, mit Schlegel, Novalis und Schelling, wohl auch mit 
Fichte und Hegel. Und auch hier wiegen nicht antiquarische, 
sondern aktuelle Zwecke vor. Durch innigere Berührung mit den 
Ideen und Idealen jener Periode soll unsere Kultur verjüngt und 
geläutert werden. 


So stehen wir gegenwärtig in den letzten Phasen einer 
scheinbar rückläufigen Bewegung, der man dennoch aber nicht 
gerecht werden könnte, erblickte man in ihr lediglich eine Reak- 
tion, eine Rückkehr zu überwundenen Standpunkten. Sie ist viel- 
leicht von diesem Vorwurf nicht ganz loszusprechen, besonders 
wofern man ihre Extreme ins Auge fasst, andererseits aber hat 
sie auch die Forschung um neue Motive bereichert und durch den 
innigeren Zusammenschluss mit der Vergangenheit das Bewusst- 
sein der kulturellen Kontinuität geweckt. Indem wir nunmehr 
daran gehen, die philosophische Arbeit des Jahres 1906 im Detail 
zu überblicken, wollen wir dieselbe hauptsächlich an diesem soeben 
formuliertem Verhältnis zur Kantischen und Nachkantischen Philo- 
sophie orientieren, ohne das Schema zu überspannen und das, was —s 
ausserhalb desselben an fruchtbaren Ideenkeimen vorhanden ist, == 
zu übersehen. Einen weiteren Einteilungsgrund bezeichnet der == 
angedeutete Umstand, dass die moderne Spekulation zwischen m 
erkenntnistheoretischer und metaphysischer Forschung geteilt ist, = 
wobei die Erkenntnistheorie hauptsächlich im Mittelpunkt der —aer 
strengeren, exakten akademischen Philosophie steht, während die = 
Metaphysik den Nerv der populären, sich vorwiegend um die Neu- —— 
romantik gruppierenden Bestrebungen bildet. 


[rs 


CLEO ius 


Kants Einfluss, der gegenwärtig die meisten deutschen Uni- —~ 
versitäten beherrscht, drückt der philosophischen Produktion noch = 
immer den Stempel auf. In den von Vaihinger und Bauch == 
herausgegebenen „Kantstudien“ ist der Kantforschung eine = 
feste Basis gegeben. Sie trägt zum Teil historisches, zum Teil 
kritisches Gepräge. , Unermüdlich bemüht sich die Detailforschung 
um Aufhellung der dunklen Partien im transscendentalen Kriti- 
zismus, unermüdlich sucht daneben die Erkenntniskritik auf den 
von Kant gewiesenen Pfaden nunmehr in eigener Initiative weiter- 
zuschreiten und der Spekulation neue, noch unentdeckte Gebiete 


Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 277 


zu erschliessen. Noch reicher wurde die Ausbeute, seit die 
„Kantstudien“ grössere, zusammenhängende Abhandlungen in Er- 
gänzungsheften erscheinen lassen. So erschienen im verflossenen 
Jahr drei wichtige Untersuchungen: „Kants Gottesbegriff in seiner 
positiven Entwickelung“ von Julius Guttmann, „Feuerbachs Straf- 
theorie und ihr Verhältnis zur Kantischen Philosophie“ von Dr. 
Oskar Döring, „Kant und die Metaphysik“ von Dr. Konstantin 
Oesterreich. Unter den anderen Artikeln hebe ich als sehr be- 
merkenswert hervor Bauchs Aufsatz „Chamberlains Kant“ im 
Junihefte und A. Messers „Die Philosophie im Beginn des zwan- 
zigsten Jahrhunderts“. Auf ersteren werden wir noch zurück- 
kommen. Der letztere ist eine Besprechung der 1904 von 
Windelband zu Kuno Fischers achtzigstem Geburtstage heraus- 
gegebenen Festschrift, zu deren Abfassung sich Bauch, Groos, 
Lask, Liebmann, Windelband, Wundt, Rickert und Troeltsch ver- 
einigt haben. Hier tritt klar hervor, wie auf sämtlichen philoso- 
Phischen Gebieten die transscendentale Betrachtungsart, die 
scharfe Sonderung von Wert und Wirklichkeit sich durchgesetzt 
hat. In der Formulierung eines Systems allgemeiner Werte, die 
allerdings nicht theoretisch, sondern praktisch begründet sind, 
sieht Messer die Aufgabe der Zukunft. Bruno Bauchs Artikel 
befasst sich, seinem Titel gemäss, mit Houston Stewarts Chamber- 
lains 1905 im Verlag von Bruckmann erschienenem Buch „Imma- 
muel Kant, seine Persönlichkeit als Einführung in sein Werk“. 
Er enthält eine scharfe Polemik gegen dies Werk des durch seine 
„Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ bekannt gewordenen 
Autors. Wie man auch im Einzelnen über Chamberlains Kantbuch 
denken mag, es kann nicht geleugnet werden, dass die beiden von 
Bauch an die Spitze gestellten Grundmängel ihren beherrschenden 
Einfluss auf das ganze Werk äussern. Erstens ist die Tendenz, 
die geistige Physiognomie Kants zu zeichnen, ohne ihr eine 
erschöpfende Darstellung seines Schaffens zugrunde gelegt zu 
haben, speziell bei einem Denker wie Kant, bei dem das Persön- 
liche so weit in den Hintergrund tritt, nicht realisierbar. Ind 
Chamberlain hält sie auch nicht konsequent fest, sondern mischt in 
sein charakterologisches Bild zahlreiche | theoretische Elemente 
aus der kritischen Philosophie. den Begriff des 
Transscendentalen nicht mit ge heit gefasst und 
Das Buch hat üb- 

zumal in den verschiedenen 





278 O0. Ewald, 


Disziplinen der Naturforschung, zu heftigen Diskussionen fiir und 
wider Anlass gegeben. 

Chamberlains Absicht, die Philosophie im Anschluss an die 
Methoden und Wege der Naturforschung zu behandeln, findet sich 
in einem im Verlag von Bruno Cassirer in Berlin erschienenen 
Werk Ernst Cassirers „Das Erkenntnisproblem in der Wissenschaft 
und Philosophie der neueren Zeit“ verwirklicht. Bisher ist der 
erste Band erschienen, der die Geschichte der Spekulation von der 
Renaissance bis zu Bayle umfasst. Er enthält neben einer allge- 
meinen erkenntnistheoretischen Einleitung drei Bücher: „Die Re- 
naissance des Erkenntnisproblems“, „Die Entdeckung des Natur- 
begriffes“, „Die Grundlegung des Idealismus“. Der Verfasser 
zeigt sich in der Bearbeitung seines Themas stark von der Mar- 
burger Schule, insbesondere von Cohen beeinflusst, was sich vor 
allem darin bekundet, dass er Geschichte und Systematik des Er- 
kenntnisproblems im nächsten Anschlusse an die positiven Wissen- 
schaften, in erster Reihe an Mathematik und Physik, betreibt. 
Infolgedessen erfahren Denker wie Kepler und Galilei im Ver- 
gleich mit anderen historischen Darstellungen eine besonders 
gründliche Behandlung. Auch die eingehende Berücksichtigung 
des Nikolaus von Cusa ist beachtenswert. Der zweite bereits 
angekündigte Band soll die Entwickelung des philosophischen 
Denkens in seiner doppelten Richtung über Leibniz und Newton 
ins Auge fassen. Den Schlussstein der gross angelegten Arbeit 
wird die Behandlung der kritischen Philosophie bilden. Die An- 
hängerschaft an Kant offenbart sich in dem festen Glauben an 
die objektive Macht der Vernunft, nicht als einer Quelle der 
Metaphysik, sondern der Erfahrung. Cassirer hält wohl die ein- 
zelnen Kategorien der Forschung für wandelbar, betont aber, dass 
sie sich auf feste, transscendentale Grundbegriffe zurückführen 
lassen. 

Von ähnlichem Geiste getragen ist ein Unternehmen der be- 
kannten Marburger Philosophen Hermann Cohen und Paul Natorp. 
Es sind die im Verlag von Alfred Töpelmann (vormals Rickers 
Verlag) in Giessen publizierten „Philosophischen Arbeiten“, eine 
zwanglos erscheinende Zeitschrift, in der vorwiegend Dissertationen 
aber auch andere durch die transscendentale Methode geeinigte 
Aufsätze zur Veröffentlichung kommen sollen. So heisst es in 
der Ankündigung: „Philosophie ist uns in allen Fragen mit dem 
Faktum der Wissenschaft, wie dieses sich fortbildet, logisch ver- 


Die deutsche Philosophis im Jahre 1906. 279 


bunden. Philosophie ist uns daher die Prinzipienlehre der Wissen- 
schaften und damit der gesamten Kultur. Diesen treibenden Kern 
der Kultur nennen wir mit Plato und mit Kant Idealismus und 
Apriorismus.“ Unter den bisher veröffentlichten Aufsätzen ist 
eine Studie Cassirers ,Der kritische Idealismus und die Philo- 
sophie des gesunden Menschenverstandes“ hervorzuheben, die sich 
gegen die bald näher zu erwähnende Neue Friesschule und ihren © 
Psychologismus wendet. Es wäre zu wünschen, dass in den 
weiteren Arbeiten nicht bloss zwischen Naturforschung und Philo- 
sophie der Zusammenhang einseitig aufgerichtet, sondern dass 
auch die Beziehung des Transscendentalismus zur Psychologie, zur 
Begründung der inneren Erfahrung, mehr als bislang geschehen, 
untersucht wird. Denn Kant hat sich in der Kritik der reinen 
Vernunft die Aufgabe gestellt, einer allgemeinen, Physik und 
Psychologie umspannenden Erfahrung die Basis zu bereiten, nicht 
aber bloss die spezielle physikalische Erfahrung im Auge gehabt, 
wie es nach der Auffassung Cohens und seiner Schüler scheinen 
möchte. Die unmittelbare Bezugnahme auf die Physik enthält 
vielmehr erst seine Schrift: „Metaphysische Anfangsgründe der 
Naturwissenschaften“. Diese Prüfung des Zusammenhanges von 
Transscendentalismus und Psychologie kann keineswegs zum Psy- 
chologismus führen, da sie nicht die transscendentalen Kategorien 
aus psychologischen Begriffen ableiten, sondern umgekehrt die 
Begriffe der Psychologie unter transscendentale Gesichtspunkte 
stellen will. Diese Seite des Problemes ist noch wenig berück- 
sichtigt worden und darunter leidet in mancher Hinsicht weniger 
die neueste Kantforschung als die Psychologie, die zwischen Em- 
pirismus und Metaphysik in der Schwebe bleibt, während die 
mathematische Physik durch den Transscendentalismus reichste 
Förderung erfahren hat. Auf das berührte Verhältnis zwischen 
psychologischen und transscendentalen Kategorien habe ich in 
meiner Schrift, „Kants Methodologie in ihren Grundzügen“ (Berlin, 
Hofmann & Co., 1906) einiges Licht zu werfen gesucht. 

Von transscendentalem Geiste erfüllt ist auch ein Werk 
Walter Kinkels, „Geschichte der Philosophie“ als Einleitung in 
das System der Philosophie,!) dessen erster vor Kurzem er- 
schienener Teil von Thales bis auf die Sophisten reicht. Es 
wird nicht so sehr von historischen wie von systematischen Rück- 


1) Verlag von Alfred Töpelmann in Giessen. Der Verfasser ist 
Professor an der Universität Giessen. 

































280 0. Ewald, 


sichten getragen. Es soll mehr zur Einführung in 
in die Geschichte der Probleme dienen, Diese Ti 
stellung ist entschieden zu begrüssen, da die | 
Philosophie — sofern sie nicht von grossen P 
geschrieben wurde, die dann freilich zumeist einseitig 
sönlichen Standpunkt verallgemeinern — noch immer zu 
Philosophische und Pragmatische gerät, anstatt die grossen 
tungslinien der Probleme zu enthüllen. Man kann auf die 
führung dieser Arbeit gespannt sein. 

In dem Vorwort betont Kinkel überdies seinen A 
die Marburger Schule, zumal an Cohen. 

Der Neufichteanismus, dem wir uns nunmehr zuy 
auch nicht jüngsten Datums. Von Windelband, wie 
wähnt, vorbereitet, wurde er durch Rickert präziser 
Intellektuelle ‚und seelische Bedürfnisse kamen ihm 


sich beinahe auf sämtlichen Gebieten des Denkens und 
festgesetzt hatte, war auch in Deutschland zur ee 
kommen. Hier aber, in dem klassischen Land der Me 
und des Idealismus, genügte eine Weltanschauung nicht, die 


die jüngsten Generationen. Diesem zweifachen Verlangen n 
einer Weltansicht der produktiven Energie, der unerm 
Aktivität und zugleich nach einem logischen und onto! 
Urgrund kam der Fichteanismus für diejenigen, die auf 
Boden der exakten Spekulation standen, weit mehr entgegen, 
er sich besser mit dem Transscendentalismus in Einklang se 
liess, als Nietzsches Skepsis, die in bewusster Opposition gegen 
Kant entstanden war. So trat Fichtes „Wissenschaftslehre“ — 
Neuem in den Vordergrund des Interesses. Sogar aus der 
des strengeren Kantianismus strömten Adepten in das Lager de 
Identitätsphilosophie. Besonders charakteristisch für diese Be- 
wegung ist ein Buch des Privatdozenten Medicus über F - 
eine Sammlung von dreizehn an der Universität Halle Me 
Vorlesungen.') In diesem Buche sucht Medicus zugleich ein 

der Persénlichkeit und der Lehre des Philosophen zu entwerfen —— | 


1) Medicus, „Fichte“, 1905, Verlag von Reuther & Reichardt, 


Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 281 


Interessant ist hier die Tendenz, Fichte nicht bloss als be- 
rufensten Interpreten Kants zu betrachten, sondern ihn sogar über 
Kant zu stellen. 

Zwischen Fichte und Hegel stand Schelling und es scheint, 
als müsse der Übergang vom Neufichteanismus zum Neuhegelianis- 
mus wenigstens als Zwischenstation auch Schellings Philosophie 
berühren. Damit verhält es sich in Wahrheit ein wenig anders: 
Bloss dann könnte man an die moderne Spekulation mit dieser 
Erwartung herantreten, wenn sie lediglich eine sklavische Repro- 
duktion der Identitätsphilosophie wäre. Das ist sie um so we- 
niger, als ein wesentliches Element der letzteren, das metaphy- 
sische, bei ihr weit in den Hintergrund rückt. Wohl hoben wir 
selber bei Fichte hervor, dass die Neigung des deutschen Geistes 
zur Metaphysik seine Wiederaufnahme förderte. Das war in- 
dessen cum grano salis zu verstehen: Bloss als allgemeine Reak- 
tion gegen den Positivismus nicht als besondere Sympathie für 
die Hypertrophie an transscendenten Spekulationen, die die Nach- 
kantischen Denker charakterisiert. In Fichte erwies sich denn 
auch ein bereits angeführtes, eminent erkenntnistheoretisches Merk- 
mal als Attraktionszentrum, der Umstand, dass er, was Kant nie- 
mals recht gelungen war, dem Anscheine nach wenigstens ge- 
leistet hatte: die Deduktion sämtlicher Denkformen aus einem 
Prinzip teleologischer Natur. Mit einem Wort, Fichte war 
Logiker und noch mehr war das Hegel, und daher durfte eine 
‘yon psychologistischen Vorurteilen zur logischen Auffassung der 
Realität gereifte und vorwiegend logischen Interessen dienende 
Generation abermals an sie anknüpfen. Schellings wesentliche 
Bedeutung dagegen ist ausserhalb der Logik zu suchen und daher 
tritt auch sein Einfluss heutzutage in anderen Sphären nachdrück- 
licher zutage als in denen der exakten Philosophie. Immerhin 
fehlt es auch letzterer nicht an ähnlich gerichteten Tendenzen 
und wenn man Schellings grösste Aufgabe in der Bestimmung des 
Verhältnisses zwischen Natur und Geist, zwischen Unbewusstem 
und Bewusstem sieht, dann giebt es eine analoge Richtung in der 
gegenwärtigen Spekulation. Es ist Eduard v. Hartmanns, des Ver- 
fassers der bekannten „Philosophie des Unbewussten“ Schule. Sie 

el ler Schellingschen Natur- 
philosophie und seinem trans: 
Auf sie miissen wir bei 1 auch anlässlich des 
Hinscheidens ihres Gründers : ickkomme! . Eduard v. Hartmann 





| 


282 0. Ewald, 


gehört zu den grossen Toten des vergangenen Jahres. Ob man | 
ihn in vollster Bedeutung einen Unsterblichen nennen kann, mag = 
zweifelhaft bleiben. Dass aber die Spuren seiner Wirksamkeit —4 
heute noch keineswegs verwischt sind, muss man zugestehen. m = 
Gegenteil, eben in den letzten Jahren hat sich seine Einfluss — 
sphäre ausserordentlich erweitert und während der erstaunliche == 
äussere Erfolg der „Philosophie des Unbewussten* von keiner == 
tieferen geistigen Wirkung begleitet, sondern das Ansehen des == 
Denkers in Fachkreisen eher zu schmälern geeignet war, so dass == 
die Produktionen seiner nächsten Schaffensperiode verhältnismässig — 
wenig Beachtung fanden, hat er mit seinen jüngsten Werken = 
einen Eindruck in der Gelehrtenwelt erzielt, der weniger in die— 
Breite, dafür aber mehr in die Tiefe geht. Seine „Kategorien —— 
lebre“, seine ,Geschichte der Metaphysik“, seine „moderne Psy—— 
chologie“, seine „Weltanschauung der modernen Physik“ verar—— 
beiten nicht bloss ein ungeheures Material, sie sind auch reich 
an fruchtbaren Anregungen und Aspekten. Insbesondere daS 
letztgenannte Buch hat viel Aufsehen erregt und der berühmte 
russische Physiker Chwolson hat ihm in seinem Schriftchen „Hegel, 
Haeckel, Kossuth und das zwölfte Gebot“,!) das um so bemerken —— 
werter ist, als es in deutscher Sprache erschien, das Zeugnis aus——- 
gestellt, dass er als „leuchtendes Beispiel dafür dasteht, wie 
man ein der eigenen Spezialität fernstehendes Gebiet zuerst stu—— 
diert und dann erst die der eigenen Specialität entsprechenden 
Forschungsmethoden in jenem Gebiet anwendet“, So urteilt ein 
hervorragender Physiker in einer Schrift, in der er auf der andern 
Seite die physikalischen Thesen Haeckels ad absurdum führt. Die 
neuesten Arbeiten Eduard v. Hartmanns bewegen sich auf dem 
Gebiet der Biologie. Vor Allem sein Werk „Das Problem des 
Lebens“, das er nicht lange vor seinem Tode im vergangenen 
Jahr veröffentlicht hat.?) Hier sucht er den Neovitalismus,— 
auf Grund dessen er bereits vor Jahren den Darwinismus be- — 
kämpft hat, mit der Metaphysik des Unbewussten zu verbinden. 
Unter den Schülern Hartmanns sind besonders Drews und — 

Leopold Ziegler zu nennen. Beide, zumal der letztere in seinem 


1) Braunschweig, Vieweg & Sohn 1906. Man kann es als Ergänzung“ 
der philosophischen Polemik, die Adickes in seiner Streitschrift „Kant 
contra Haeckel“ übte, betrachten. 

®%) Im Verlag Haacke, Bad Sachsa im Harz, wo auch seine anderen 
Hauptwerke erschienen sind, 


Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 283 


vor Kurzem erschienenen Buch „Der abendländische Rationalismus 
und der Eros“ knüpfen an das Unbewusste an, in dem sie keine 
mystische Aberration von Kant, sondern die einzig mögliche Inter- 
pretation des Transscendentalismus sehen. Die Grundlage dieser 
Betrachtung ist freilich eine psychologistische, keine logische. Sie 
fassen die Kategorien nicht als rein intellektuelle Werte, sondern 
als seelische Vorgänge auf und gehen von hier nicht ohne Kon- 
sequenz zur Behauptung über, derartige Vorgänge müssten, da im 
Bewusstsein sich weder reine Aktivität noch reine Einheit finden, 
dem Bereich des Unbewussten angehören. Sie fussen demzufolge 
weniger auf dem Standpunkte der transscendentalen Logik als 
auf dem der Transscendentalpsychologie. Auch sie realisieren in 
einer bestimmten Art den Übergang von Kant zu Fichte und zu 
Schelling. Die Motive aber, von denen sie dabei bestimmt werden, 
gehören der Metaphysik, nicht der Erkenntnislehre an. Wertvoll 
bleibt die daraus geschöpfte Einsicht, dass innerhalb der Bewusst- 
seinspsychologie transscendentale Werte nicht psychisch hyposta- 
siert werden können, dass wo überhaupt an solche Hypostasierung 
gedacht wird, sie sich im Bezirk des Unbewussten vollziehen 
muss. Auch Hartmanns Naturphilosophie hat Anhänger gefunden, 
besonders unter den Neovitalisten. Zu ihnen zählt der bekannte 
Kieler Botaniker und Biologe Reinke. 

Ferner verdient es Erwähnung, dass sein Einfluss in meh- 
reren der hervorragendsten Zeitschriften, so in den von Delbrück 
herausgegebenen „Preussischen Jahrbüchern“, ferner in der 
Monatsrevue „Deutschland“ herrschend ist. 

Es wird vielleicht einiges Befremden erregen, wenn ich hier 
als Parteigänger der Identitätsphilosophie auch Theodor Lipps 
anführe. Freilich soll diese Zugehörigkeit nicht als dogmatische 
Abhängigkeit betrachtet werden. Allein in der Rede, mit der der 
gefeierte Gelehrte am 17. September 1906 die Versammlung deut- 
scher Naturforscher und Ärzte in Stuttgart eröffnete, hat er sich 
immerhin prinzipiell zum Standpunkte der Identitätslehre bekannt. 
Was man ein Gesetz nennt, so führt er aus, findet sich nicht in 
den Phänomenen selber, sondern ist eine vom Menschengeiste ge- 
schaffene Norm. In den Phänomenen drücken sich lediglich sin- 
guläre Beschaffenheiten und Vorgänge aus. Die Norm geht auf 
das Allgemeine: man kann daher nicht sagen, sie sei von den 
Phänomenen abstrahiert oder gar durch reine Beschreibung 
derselben gewonnen worden. Wenn nichts destoweniger die letz- 


284 O. Ewald, 


teren in ihrem Ablauf die erstere bestitigen, wenn die von un- 
serem Verstande konstruierten Gesetze sich überhaupt auf die 
äussere Natur anwenden lassen, so ist dies allein unter der Be 
dingung zu verstehen, dass auch der Gestaltung der Natur meta- 
physisch ein vernünftiger, schöpferischer Geist zugrunde gelegt 
werden muss, dass ein universales Weltbewusstsein alles Sein, 
inneres und äusseres, physisches und psychisches umspannt. Zu 
dieser Annahme führt die mechanistische Naturbetrachtung in ihren 
weiteren Konsequenzen selber. 

Der Naturforscher kommt zu keiner wahren Realität, denn 
das einzige, was ihm die Realität vertritt, die Masse, löst er in 
mathematische Beziehungen auf, in Relationsbegriffe, die zwar 
eine Bedeutung besitzen, aber keinen Inhalt. Auch der Begriff 
der Energie ist solch ein Relationsbegriff, der nicht die objektive 
Wirklichkeit, sondern bloss das methodologische Verfahren des 
Naturforschers charakterisiert. Überhaupt sind die meisten Ver- 
suche, jener näher zu treten, anthropomorphistisch. Will man 
unter dem Unbekannten, wofür die Naturforschung das Symbol 
der Materie einsetzt, etwas Sinnvolles denken, dann bleibt nichts 
übrig, als ihm dasselbe zuzusprechen, was wir in uns unmittelbar 
erfahren, ein Bewusstsein, das wie das menschliche vom göttlichen 
Allbewusstsein umspannt wird.!) 

Das ist freilich eine in der Formulierung der Hauptthese 
der Hartmannschen Lehre konträr entgegengesetzte Auffassung. 
Denn hier steht dem Unbewussten das Allbewusstsein gegenüber, 
welches allerdings nicht weniger eine Negation individueller Bewusst- 
seinsform bedeutet. Aber das Grundmotiv der Identitätsphilosophie, 
die gemeinsame Wurzel und innere Einheit von Natur und Geist 
eignet beiden Richtungen. Andere Anknüpfungsversuche an 
Schelling werden uns noch später in der Darstellung der neu- 
romantischen Strömung begegnen. 

Bereits früher hob ich hervor, dass das eigentliche Ereignis 
des vergangenen Jahres die Erneuerung der Hegelschen Philo- 
sophie bildet. Auch sie vollzog sich nicht spontan, sondern war 
lange vorbereitet. Hegelsche Einflüsse hatten immer, wenigstens 
im Verborgenen, gewirkt, sie machten sich bei Eduard von Hart 
mann, Bahnsen, sogar bei Nietzsche, fühlbar, sie zeigten sich 
überall, wo der Neukantianismus entschiedener von der empi- 


1) Der Vortrag ist im Verlag von Winter, Heidelberg, als Broschüre 
erschienen. 


Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 285 


ristischen zur rationalistischen Betrachtungsart abbog, wie bei 
Cohen und Volkelt. Auch war es auf der Hand gelegen, dass die 
Bewegung, die einmal über Kant hinausgegangen war, nicht bei 
Fichte Halt machen, sondern im Hegelschen Intellektualismus 
gipfeln musste. Denn wenn wir den Unterschied beider Denker 
auf die allgemeinste, vollständig von historischer Besonderheit ge- 
reinigte Formel bringen, finden wir in Hegel erst die äusserste 
Konsequenz des Intellektualismus realisiert, da hier nicht mehr 
eine ethische Norm Direktive des Denkens wird, sondern das 
Denken seinen Zweck in sich selber trägt und sich dement- 
sprechend selber die immanenten Mittel für seine Realisierung 
schafft. Zwei Momente sind für Hegels Philosophie bestimmend: 
einerseits die Eliminierung jedes nicht rein rationalen Faktors aus 
der Logik und Kategorienlehre, gehöre er, wie bei Kant das 
Mannigfache der Anschauung, der Sinnlichkeit an, oder der prak- 
tischen Vernunft wie Fichtes Erkenntnisprinzip, andererseits die 
dialektische Methode. So entschieden Cohen in der Logik des 
reinen Erkennens, dem ersten Bande seines „Systeme der Philo- 
sophie“, Hegel abweist, er nähert sich ihm gleichwohl darin, dass 
auch er das Prinzip der Mannigfaltigkeit nicht mehr aus der Sinn- 
lichkeit, sondern aus dem Verstande schépft und Raum und Zeit 
demgemäss, wie bereits früher der französische Philosoph Renou- 
vier, zu Kategorien stempelt. Auch Ferdinand Jakob Schmidts 
„Grundzüge der konstitutiven Philosophie“ haben in ihrem konse- 
quenten Intellektualismus Beziehungen zum Hegelanismus. 

Was das Jahr 1906 in erster Reihe aber zum Jahr Hegels 
macht, ist Bollands in deutscher Sprache erschienene Ausgabe 
von Hegels ,Enzyklopädie“, ein umfangreicher Band, der auch 
eine ausführliche Einleitung vom Verfasser enthält. Das ist eine 
bemerkenswerte Erscheinung, die Zeugnis dafür giebt, wie sehr 
die deutsche Idealphilosophie ihren Einfluss auch über Deutsch- 
lands Grenzen hinaus äussert. Zur selben Zeit, in der in Italien 
Benedetto Croce sich um eine geistvolle Erneuerung der Hegelschen 
Philosophie bemüht, unternimmt Bolland in den Niederlanden das 
Gleiche. Interessant ist ferner der Weg, auf dem dieser Denker 
zu Hegel gelangte: er war anfänglich von Hartmann ausgegangen 
und vollzog erst vor einiger Zeit in seiner Schrift, „Collegium logi- 
cum“, den entschiedenen Übergang zu Hegel. Er ist Hegelianer auch 
mit Rücksicht auf die Methode der Dialektik, nicht bloss als Pan- 
logist. In Hegel gipfelt die eine, streng intellektualistische Rich- 


Kantstudien XII, 19 


286 O. Ewald, 


tung des modernen, deutschen Denkens. Wir können rückblickend 
drei unsere Zeit beherrschende Tendenzen feststellen, die in ihm 
einen Sammelpunkt gefunden haben. Erstens die transscendentale, 
logische Tendenz, die unter Ausscheidung jeder Empirie, jedes 
Psychologismus die Grundzüge und Kategorien des Erkennens 
bloss aus reinen Begriffen deduzieren will. Zweitens die meta- 
physische Tendenz, die, wie wir sahen, auch im Neufichteanismus 
sowie in der Philosophie des Unbewussten wirksam war und sich 
als Reaktion gegen die streng immanenten Prinzipien des Posi- 
tivismus bekundete. Drittens die monistische Tendenz, die an der 
Einheitlichkeit dieses metaphysischen Seins festhält. Die er- 
wähnten Tendenzen konnten in Kant selber Nahrung finden, nicht 
aber in ihm zum rechten Gleichgewicht gebracht werden. Denn 
Kant ist, da er zwischen Psychologie und Logik geteilt war, kein 
reiner Transscendentalist gewesen. Da er ferner zwischen 
der immanenten und transscendenten Realität keine deutlichen 
Schranken aufrichtet, ist er niemals ein klarer Metaphysiker ge- 
wesen. Ferner war und blieb er Dualist, sofern er die Unverein- 
barkeit und Unvergleichbarkeit von Sinnlichkeit und Vernunft, von 
empirischer und intelligibler Welt lehrt. Hegel dagegen ist reiner 
Logiker, denn er giebt dem aus sich selber sich entfaltenden Be- 
griff Macht über alle Realität, über die Formen und über die In- 
halte. Er ist Metaphysiker, denn er hypostasiert den Begriff, er 
muss ihn hypostasieren, da ein produktives, die Wirklichkeit er- 
zeugendes Prinzip selber nicht blosse Essenz, sondern eine Existenz, 
ein reales Sein repräsentiert. Er ist Monist, soweit er Panlogist 
ist, soweit er Universum und logische Funktion identisch setzt. 
Die Entwickelungsreihe, die von Kant über Fichte zu Hegel 
führt, ist im jüngsten Deutschland wohl zur Vorherrschaft ge- 
langt, sie ist aber nicht die einzige geblieben. Daneben traten 
insbesondere Versuche einer Erneuerung der Friesschen Philo- 
sophie hervor. Ihre wichtigsten Motive sollen hier zusammen- 
gefasst werden. Es ist bereits mit Rücksicht auf den Neukantia- 
nismus und die Rezeptionen Fichtes und Hegels darauf hinge- 
wiesen worden, dass die Auseinandersetzung zwischen Psycho- 
logismus und Logik heute im Vordergrunde der Philosophie steht 
und dass, wie es scheint, die reine Logik zum Siege gelangen 
wird. In dieser wichtigen Auseinandersetzung kommt es eigent- 
lich auf zweierlei an, auf die formale und die transscendentale 
Logik. Die Frage ist zunächst die, ob jene Gesetze, die unser 


Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 287 


Denken überhaupt charakterisieren, was für Inhalten immer es 
sich zuwende, der Satz der Identität und des Widerspruchs und 
der Satz des ausgeschlossenen Dritten, davon unabhängig zu 
Rechte bestehen, ob und wie sie im Menschen psychologisch zum 
Ausdrucke kommen. Weiter ist die Frage, ob die Kategorien der 
transscendentalen Logik, die für unsere Erkenntnis, für unsere 
Auffassung einer objektiven Realität konstitutiv sind, sich eben 
dieser für die formalen Denkgesetze in Anspruch genommenen 
Unabhängigkeit erfreuen, oder lediglich als Regeln der psycho- 
logischen Vorstellungsverknüpfung, wie Hume sie verstand, zu 
beurteilen und anzuwenden sind. Die Psychologisten vertreten 
Humes Standpunkt, da jedes, auch das höchste und abstrakteste 
logische Gesetz, um dem Menschen zum Bewusstsein zu kommen, 
ihm als psychischer Vorgang gegeben sein müsse. Auch die Norm, 
die uns vorschreibt, wie wir denken, wie wir erkennen sollen, 
enthält lediglich einen Hinweis darauf, wie wir unter bestimmten 
Umständen wirklich denken. Die reinen Logiker leugnen das 
nicht: sicherlich sind auch ihre Normen und Ideale der psychischen 
Verwirklichung bedürftig, also psychische Phänomene, aber ihre 
Rechtskraft und ihr allgemeiner Gesetzeswert sind nicht von 
dieser seelischen Erscheinungsform abhängig, sie bestehen auch 
dann in alle Ewigkeit weiter, wenn kein menschliches Individuum 
ihrer bewusst wird. Damit die Menschheit von ihnen Kenntnis 
erhalte, müssen sie psychologisch vorfindbar sein. Allein ihre 
Wahrheit wird ihnen nicht erst in dem Moment geschenkt, in 
dem sie gefunden werden, sondern wohut ihnen an und für sich 
inne. Die Logiker fordern daher nicht das Unmögliche, mit den 
Organen des Bewusstseins die Schranken des Bewusstseins zu 
übersteigen, vielmehr führen sie bloss eine neue Betrachtungsart 
ein: neben der psychologistischen, deskriptiven die normative, 
wertende Betrachtungsart. 

Aber da harrt ihrer eine neue Aufgabe. Eben weil sie ein- 
räumen, die logischen Normen und Ideale müssten, um erkannt zu 
werden, irgendwie dem Menschen zum Bewusstsein kommen, sehen 
sie sich vor die Notwendigkeit gestellt, den eigenartigen Zustand 
genauer zu schildern, in dem der menschliche Geist einen der- 
artigen, die Unabhängigkeit jener Normen und Ideale von ihrem 
Gedachtwerden, von ihrer jeweiligen Bewusstseinsform anerkennen- 
den Urteilsakt vollzieht. Das ist keine psychologische Aufgabe 
mehr. Denn das Merkmal des Psychologismus besteht darin, dass 

19° 


288 0, Ewald, 


er überhaupt keine allgemeinen und unabhängigen Werte und 
Normen anerkennt, dass er sie ihres absoluten Charakters ent- 
kleidet und ihnen einen bloss relativen gewährt. Sie sind ihm 
Naturgesetze des psychischen Denkens und Vorstellens und daher 
von ihrer Beziehung auf das faktische Denken und Vorstellen 
nicht zu trennen. Giebt es keinen denkenden Menschen, dann 
haben auch die Naturgesetze seines Denkens keinen Sinn mehr. 
Ebenso wie die Gesetze mechanischer Bewegung bedeutungslos, 
wenn auch nicht falsch geworden sind, sobald der Weltprozess auf- 
hört. Die Logiker dagegen treten für die Allgemeinheit und Unab- 
hängigkeit ihrer Normen ein zum Unterschied von den Natur- 
gesetzen. Wenn sie nach dem psychologischen Ausdruck dieses 
Unterschiedes fahnden, so bewegen sie sich deswegen noch nicht 
im Bann der psychologischen Theorien. Derartige Untersuchungen 
hat ein sonst so radikaler Antipsychologist wie Husserl für unum- 
gänglich notwendig erklärt und ihnen den zweiten Band seiner 
„Logischen Untersuchungen“ gewidmet. Es drückt sich hierin 
ein eigenartig widerspruchsvolles Schicksal der Vernunft aus, die 
ihren überpersönlichen Charakter bloss in persönlicher Form äussern 
kann. Die logischen Gesetze bestehen unabhängig davon, ob sie 
von einem Individuum apperzipiert werden, sie sind daher auch 
unabhängig von sämtlichen Modalitäten solcher Apperzeption, so 
vom Gefühl der Evidenz, wenngleich eben dies Gefühl dem 
Menschen zugleich Zeugnis giebt für jene Unabhängigkeit. Zum 
Unterschiede von psychologistischen Forschungen, die gegen die 
reine Logik ihre Spitze kehren, hat Husserl diese im Dienste 
der reinen Logik unternommenen Studien phänomenologische 
genannt und damit einen wichtigen Begriff eingeführt, an dem 
wir festhalten können. Auch diese Probleme gehen freilich auf 
Kant zurück. Wir haben bereits darauf aufmerksam gemacht, 
dass Kant neben der Ausbildung der transscendentalen Logik auch 
eine umfangreiche Transscendentalpsychologie entwarf, an die vor 
allem die Philosophie des Unbewussten ankniipfte. Diese Trans- 
scendentalpsychologie muss indessen nicht unbedingt metaphysisch, 
sie kann auch phänomenologisch interpretiert werden. Was Kant 
über Sinnlichkeit, Verstand, Einbildungskraft, Apperzeption und 
Reflexion schreibt, muss nicht auf unbewusste Seelenvermögen be- 
zogen werden, die auf mystischen Wegen die Kategorien erzeugen, 
sondern lässt sich ebensowohl als eine phänomenologische Übersicht 
über die verschiedenen Arten betrachten, in denen uns die ver- 


Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 289 


schiedenen Erkenntniswerte, mathematische, physikalische Begriffe, 
Schemen, Ideen und Symbole zum Bewusstsein kommen. Auch 
die drei Grade der Evidenz, die Kant unter dem Begriffe der 
Modalität vereinigt: Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit er- 
scheinen in diesem Lichte nicht eigentlich als logische, vielmehr 
als phänomenologische Werte. 


Während die grossen Nachfolger Kants, insbesondere Fichte 
und Hegel ihr Interesse auf die objektiven Inhalte der Logik 
konzentrierten, mit Hilfe deren sie tiefere Einblicke ins (Getriebe 
des Weltalls zu gewinnen glaubten, wandte Fries seine Aufmerk- 
samkeit der subjektiven psychologischen Auffassung jener logischen 
Gesetze zu. Man hat ihn deswegen zumeist für einen Psycho- 
logisten gehalten, der der Erkenntnislehre die ihr von Kant ver- 
liehene Souveränität wieder entzogen und sie auf empirische 
Psychologie reduziert habe. Dementsprechend ist sein Ansehen in 
der jüngsten Zeit, in der die reine Logik zu entschiedenem Vor- 
rang gelangte, erheblich gesunken. Die neue Friesschule in 
Göttingen bedeutet eine Opposition gegen diese, man könnte bei- 
nahe sagen, offizielle Geringschätzung. Sie stützt sich vor Allem 
auf die Behauptung, Fries sei kein Psychologist, sondern Phäno- 
menologe gewesen, er habe die Kantischen Kategorien nicht auf 
empirische Regeln der Assoziation zurückzuführen, durch letztere 
in ihrem Wahrheitswerte zu begründen gesucht, sondern bloss 
zeigen wollen, wie die Kategorien dem menschlichen Bewusstsein 
sich darstellen. Sehr ausführlich hat Theodor Elsenhans, Privat- 
dozent an der Universität Heidelberg, der freilich ausserhalb der 
Friesschule, ihr zum Teil sogar feindlich gegenübersteht, diesen 
Standpunkt in einem zweibändigen Werk, „Fries und Kant, ein 
Beitrag zur Geschichte und zur systematischen Grundlegung der 
Erkenntnistheorie“ darzulegen gesucht.) Der erste historische 
Teil „Jakob Friedrich Fries als Erkenntniskritiker und sein Ver- 
hältnis zu Kant“ will das Wesentliche der Friesschen Lehre, be- 
sonders, soweit sie eine phänomenologische Fortbildung des Kriti- 
zismus bezweckt, hervorheben. Sehr ausführlich werden seine 
Theorien der Einbildungskraft und Reflexion behandelt, zumal die 
letztere, der wichtigste Faktor seines Systemes. Es geht daraus 
hervor, dass Fries in Wahrheit kein eigentlicher Psychologist war. 


+) Giessen, Töpelmann, 1906, 


290 O. Ewald, 


Er selber erklärt es mit Kant für widersinnig, die Verstandes- 
gesetze auf Regeln der empirischen Psychologie griinden zu 
wollen. Die Bedeutung dieser Gesetze hielt er fiir ein a priori 
Gegebenes, sonach nicht fiir etwas, das sich auf empirischem 
Wege ableiten liesse, er nennt sie metaphysisch. Aber die Art, 
in der der Mensch sich ihrer bewusst wird, ist keine aprioristische, 
sie stellt sich vielmehr in der Breite der inneren Erfahrung dar, 
sie ist in der Reflexion gegeben, durch die er die metaphy- 
sischen Werte und Gesetze des Geistes entdeckt. Und diesen 
subjektiven Weg der Entdeckung nennt Fries das Transscenden- 
tale, indem er sich dabei auf Kant beruft, der unter transscen- 
dentalen Erkenntnissen nicht solche versteht, die unmittelbar auf 
Objekte gerichtet sind, sondern solche, in denen das Ganze der 
menschlichen Erkenntnis selber sich offenbart. Diese bedeutsame 
Position hält Elsenhans als Leitfaden der Friesschen Untersuch- 
ungen fest. Freilich leugnet auch er keineswegs, dass Fries nicht 
konsequent an seiner phänomenologischen Tendenz festgehalten 
hat. An einzelnen Stellen treten unverkennbar psychologistische 
Ideengänge hervor. Im zweiten Band will Elsenhans im Anschluss 
an Fries und Kant eine dem Prinzip nach selbständige Grund- 
legung der Erkenntnistheorie geben. 

Näheren Anschluss an Fries sucht die erwähnte neue Fries- 
schule in Göttingen, deren Oberhaupt Leonard Nelson ist. Ihr Organ 
sind die im Verlag von Vandenhoeck & Ruprecht erscheinenden 
Abhandlungen der Friesschule, deren 3. und 4. Heft im ver- 
gangenen Jahr herauskamen. Sie enthalten nicht uninteressante 
Beiträge zur Philosophie, darunter zwei, die Nelson zum Verfasser 
haben: „Bemerkungen über die Nicht-Euklidische Geometrie und 
den Ursprung der mathematischen Gewissheit“ und „Vier Briefe 
von Gaus und Wilhelm Weber an Fries“. Das Programm dieser 
Schule hat Nelson bereits im 1. Heft angekündigt und zwar in 
dem Aufsatz: „Die kritische Methode und das Verhältnis der 
Psychologie zur Philosophie“. Hier verwirft er das „transscenden- 
tale Vorurteil“, das in dem Versuch einer logischen Ableitung der 
Kategorien des Erkennens bestehe und erklärt, die Philosophie 
habe keine andere Aufgabe als die, die psychologische Er- 
scheinungsform dieser Kategorien zu untersuchen. Gegen diese 
einseitige Verdrängung der Logik durch Phänomenologie wendet 
Cassirer in dem erwähnten Artikel „der kritische Idealismus und 
die Philosophie des gesunden Menschenverstandes“, wohl mit 


Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 291 


Recht ein, dass sie die kritische Problemstellung auf das Niveau 
des naiven Verstandes hinabziehe. 


* * 
* 


Dieser Querschnitt durch die zeitgenössische deutsche Speku- 
lation zeigt uns eine überaus interessante Gruppierung der ein- 
zelnen Schichtenkomplexe. Ihren idealen Mittelpunkt bildet 
Kants Kritizismus, um den sich gleichsam in weiteren konzent- 
rischen Kreisen die verschiedenen philosophischen Richtungen an- 
setzen. Zuerst der Neukantianismus, der auch durch die extre- 
meren idealistischen Systeme nichts an innerer Macht und äusserer 
Wirksamkeit eingebüsst hat. Dann der Neufichteanismus, die dem 
System Schellings sich annähernde Philosophie des Unbewussten 
und der Neuhegelianismus. Der erste und dritte bewegen sich 
um das Problem einer einheitlichen logischen, die zweite um das 
Problem einer einheitlichen ontologischen Methode. Alle drei 
gehen im Prinzip auf die objektive Anwendung der Kategorien, 
auf die durch sie vermittelten Erkenntnisse, wogegen die neue 
Friesschule ihr subjektives Gegebensein, ihre Position im 
menschlichen Bewusstsein ins Auge fasst und so eine eigentüm- 
liche Stellung zwischen Phänomenologie und Psychologie vertritt. 
An Kant sind all diese Richtungen orientiert und zwar in stär- 
kerem Mass, als es ihre Vorbilder, die Nachkantischen Philosophen, 
selber waren. Darin kommt die gegenwärtig dominierende Be- 
deutung des Kritizismus noch einmal zum Ausdruck. Und zu- 
gleich zeigt es sich, dass es sich in den heutigen Erneuerungs- 
versuchen, man denke wie immer über ihren definitiven Wert, 
nicht um eine leere Reaktion, vielmehr um eine Rezeption auf 
entsprechend höherer Grundlage handelt. Alle jene Denker, 
Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Herbart, Fries strebten 
über Kant hinaus, von Kant weg. Und so kam es, dass die 
wertvollsten kritischen Ideen unter der Fülle neuer Systembild- 
ungen frühzeitig verschüttet wurden und der Neukantianismus sie 
erst entdecken musste, bevor er sie fruchtbar weiterzubilden im- 
stande war. Dagegen ist die moderne Forschung niemals in dies 
Extrem geraten. Die prinzipiellsten Ergebnisse Kants hat sie im 
Allgemeinen aufrecht erhalten: die klare Scheidung zwischen 
transscendentaler, metaphysischer und psychologischer Betrach- 
tungsart, zwischen dem Problem der logischen Werte und der 
realen Existenz, das Streben nach objektiven Erkenntnissen, die 


292 O. Ewald, 


aber nicht der Widerlegung, sondern der Begriindung der Er- 
fahrung dienen. 


Das methodologische, erkenntnistheoretische Interesse be- 
herrscht die Philosophie der jüngsten Gegenwart so ausschliess- 
lich, dass die metaphysischen Fragen, die vor einigen Jahren die 
Diskussion bewegt hatten, beinahe darüber verstummt sind. Zur 
Charakteristik dieses Sachverhalts diene auch die neueste Schrift 
Ernst Machs „Erkenntnis und Irrtum“. Der Verfasser, der mit 
seiner „Analyse der Empfindungen“ in die Reihe der Antimeta- 
physiker getreten war, zählt zu den populärsten Denkern von 
heute. Seine Polemik gegen Kant, gegen jede Form des Aprioris- 
mus und der Metaphysik, hat mehr Eindruck auf die Öffentlich- 
keit gemacht, als die derselben Tendenz dienenden Werke von 
Schuppe und Avenarius, die sich durch weit reichere Sachkenntnis 
und tiefere Gründlichkeit auszeichnen, aber auch viel schwieriger 
und abstrakter gehalten sind. In seinem neuesten Buch tritt 
Mach vorwiegend als Methodologe auf, indem er die Mittel und 
Werkzeuge der konkreten Forschung in den einzelnen Disziplinen 
untersuchen will. Ein anderer Denker, Richard Wahle, der 
manche Ähnlichkeit mit Mach besitzt, aber nicht die Metaphysik 
als solche, sondern bloss als subjektivistische und idealistische 
Metaphysik bekämpft, ist in diesem Jahre mit einem Buche „der 
Mechanismus des geistigen Lebens“ hervorgetreten.!) Der erste 
Teil des Buches ist erkenntniskritisch gehalten, der letztere psy- 
chologisch. Interessant ist die ausserordentlich heftige Stellung- 
nahme wider Kant, die im Prinzip bloss des Verfassers Positionen 
in seinen Werken „Das Ganze der Philosophie“ und „Spinoza* 
wiederholt und im Grunde wohl der sachlichen Berechtigung ent- 
behrt, da Wahle Kant psychologisch auffasst und in seinen 
Kategorien subjektive, aus den Tiefen der menschlichen Seele auf- 
steigende Energien erblickt. Dagegen leugnet Wahle jedwede 
psychische Aktivität und erblickt im Bewusstsein lediglich ein 
sekundäres Produkt uns unbekannter Urfaktoren, die daher in Un- 
abhängigkeit vom Bewusstsein auch an und für sich existieren. 
Es ist eine eigenartige Mischung von Positivismus und Spinozis- 
mus, was Wahle vorträgt, und seine unverkennbare Annäherung 
an die materialistische Weltanschauung bringt mit sich, dass er 


1) Braumüller, Wien und Leipzig, 1906. 


Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 293 


den durch Schelling vermittelten Neospinozismus, der modifiziert 
in Lipps und Hartmann wiederkehrt, heftig abwehrt. 


* * 
* 


Damit sind die erkenntnistheoretischen Hauptrichtungen, die 
in neuester Zeit hervortraten, damit ist überhaupt die theoretische 
Seite der jüngsten philosophischen Produktion in Umrissen charak- 
terisiert. Aber das Bild wäre unvollständig, würde es nicht 
durch die kulturellen, ethischen und ästhetischen Bestrebungen 
ergänzt, die auf breiterer Basis erwachsen, sich zu einer einheit- 
lichen Weltanschauung zusammenschliessen wollen. Hier spricht 
mehr das unmittelbare Empfinden als die abstrakte Reflexion, 
hier begehrt das Gemüt und weniger der Verstand in seine Rechte 
eingesetzt zu werden. Diese Kulturbewegungen müssen um so 
nachdrücklicher berücksichtigt werden, als das Wiedererwachen 
des Interesses für die Philosophie in Deutschland überhaupt an 
sie geknüpft ist. Für dies Erwachen spricht auch das Erscheinen 
einer neuen Philosophischen Wochenschrift und Litteraturzeitung, 
die im Leipziger Verlag Rohde von Hugo Renner herausgegeben 
wird. Es ergiebt sich beinahe von selber, dass wir hier mit dem 
Denker beginnen, der seine Spuren am tiefsten in die moderne 
Weltauffassung gezeichnet hat, mit Friedrich Nietzsche. An ihm 
erscheint das konkrete und praktische philosophische Empfinden 
der jüngsten Generation beinahe ebenso orientiert, wie die theo- 
retische Spekulation an Kant. Das Schicksal seiner Lehre von 
ihren ersten Wirkungen an bis in das letzte Jahr zu verfolgen, 
wäre hier zwecklos und müsste ins Grenzenlose führen. Auch 
hätte es keinen Sinn, die enorme Masse der Nietzschelitteratur, 
die Jahr für Jahr auf dem Büchermarkte erscheint, hier zu 
sichten und auf ihre leitenden Tendenzen zu prüfen. Bloss 
soweit in der Auffassung des Philosophen eine prinzipielle 
"Wendung zu verzeichnen ist, die zugleich eine allgemeine Richtung 
widerspiegelt, soll sie Erwähnung finden. Und da muss zu- 
nächst bemerkt werden, dass Nietzsches populärer Einfluss seinen 
Zenith bereits überschritten zu haben scheint.!) In demselben 
Masse, in dem Nietzsche bei den Fachgelehrten Anerkennung fand, 


1) Hier verdient die neue Taschenausgabe Nietzsches Erwähnung, 
die bereits die ersten fünf Bände von der „Geburt der Tragödie“ bis zur 
„Morgenröte“ umfasst. 


294 0. Ewald, 


in dem er zum philosophischen Klassiker wurde, in dem der 
Einfluss seines Schaffens an Breite einbüsst, gewinnt er an Tiefe. 
Eine Erscheinung, die sicherlich nicht beklagenswert ist. Denn 
es lässt sich nicht leugnen, dass die ausserordentliche Intensität, 
mit der die Masse sich seiner Ideen bemächtigte, den vielen Miss- 
deutungen entsprang, denen sie bei ihrem schillernden und farben- 
reichen Gepräge von Anfang an ausgesetzt war. Nietzsches Kritik 
der Ethik hielten Ästheten und Anarchisten für eine Kriegs- 
erklärung an jede Form allgemeiner Gesetzlichkeit, für eine nihi- 
listische Leugnung des Pflichtbegriffes. Die neuere Nietzsche- 
forschung hat hier mit der Zeit eine gründliche Wandlung ge- 
schaffen. Sie hat der Erkenntnis den Weg gebahnt, dass Nietzsche 
kein Immoralist, sondern im Gegenteil ein starker Moralist war, 
dass seine Skepsis bloss gegen die zur Herrschaft gelangte histo- 
rische Ethik, nicht gegen die Ethik überhaupt ging. Dieser Ein- 
sicht hatte bereits Vaihinger in seinem Buch „Nietzsche als Philo- 
soph“ beredten Ausdruck gegeben, und sie taucht „neuerdings in 
Simmels „Schopenhauer und Nietzsche“ auf“.!) Die eben angeführte 
Schrift enthält eine überaus interessante Analyse moderner Kultur- 
strömungen, insbesondere der pessimistischen und optimistischen 
Motive. Simmel hält Nietzsches und Schopenhauers Standpunkte 
für absolute Positionen, die ebenso wenig zu beweisen wie zu 
widerlegen sind. Sie entstammen beide einem ursprünglichen 
Wertgefühl, das der Anblick des Weltganzen in der Menschenseele 
auslöst und bezeichnen die äussersten Pole, zwischen denen das 
individuelle und soziale Empfinden sich bewegt. Im letzten 
Grunde entscheidet darüber, ob jemand Pessimist oder Optimist 
ist, nicht eine theoretische Abwägung von Leid und Lust, sondern 
die Art, in der er vom Faktum des Seins überhaupt ergriffen 
denen nicht bloss der Schmerz, sondern 

, dass etwas existiert, furchtbar und uner- 

die aus demselben Gedanken eine 

erwiegende Glücksfülle schöpfen, 


oder Idealism 


1) Dunkei 





Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 295 


ist man entweder als Optimist oder als Pessimist geboren. Es 
ist, wie Simmel meint, eigentlich unsere Aufgabe und unser Recht, 
Schopenhauer und Nietzsche nachempfindend in uns aufzunehmen, 
unsere Seele beiden extremen Polen offen zu halten, sie zwischen 
der obersten Höhenlage des Triumphes und dem tiefsten Grund- 
tone der Verzweiflung schwingen zu lassen. Besonders wichtig 
für die gegenwärtige Betrachtung ist die Beurteilung Nietzsches. 
Simmel hebt mit Nachdruck hervor, dass der Schöpfer des „Zara- 
thustra“ nicht mit den Subjektivisten der Moral, den anarchistischen 
Skeptikern verwechselt werden darf, weder mit Max Stirner noch 
mit den Sophisten. Dagegen betont auch Simmel die Nietzsche 
selber im Dunklen gebliebene Beziehung seiner Weltanschauung, 
zumal der Idee von der ewigen Wiederkunft des Gleichen zur 
Kantischen Philosophie. Es scheint, dass sich diese Auffassung 
mehr und mehr durchsetzen wird. Und das wäre ein neuer 
Schritt zur organischen Vereinheitlichung unserer geistigen Kultur. 
Die Möglichkeit, Kant und Nietzsche einander näher zu rücken, 
das Wesentliche ihrer Lehren zwar nicht zu identifizieren, wohl 
aber auf den Ausdruck einer Formel zu bringen, ist wahrhaft er- 
haben. Trotz den Verschiedenheiten, die Simmel zwischen beiden 
Philosophen konstatiert, dürfte sich dennoch seine Schrift in der 
Richtung auf dies Ziel bewegen. Denn als leitendes Ideal 
Nietzsches findet er das der Vornehmheit, also nicht eigentlich 
den Willen zur Macht, sondern den Willen zum Wert. Und 
hierin kommt er dem Ideale Kants, der freien, sittlichen Persön- 
lichkeit, um so näher, als die Differenzen zum Teil in Irrtümern 
Nietzsches, so in seiner Verwechselung des seelischen und 
sozialen Aristokratismus zu suchen sind. Den vulgären Nietzsche- 
anern, die sich lediglich an der suggestiven Kraft derartiger Irr- 
tümer berauschen, dürfte damit freilich nicht gedient sein. Um 
so mehr aber den wahren Anwälten geistiger Kultur, die wünschen 
müssen, dass ein Phänomen wie Nietzsche nicht in leeren Sen- 
sationen versinke, sondern tiefere und bleibende Spuren seiner 
Wirksamkeit hinterlasse. Und wenn wir Nietzsches Werk nicht 
mehr als unversöbnlichen Gegensatz zum Verkünder des katego- 
rischen Imperativs vielmehr als eine natürliche Ergänzung des- 
selben betrachten können, dann ist die Kontinuität deutscher 
Philosophie und Weltanschauung r er Form gewähr- 
leistet, und wir dürfen hoffen, dass m festen Fundament 
neue Schöpfungen von dauerndem Wert enstehen werden. Was 





296 O. Ewald, 


auf der anderen Seite Nietzsches Schöpfung ein wenig in den 
Hintergrund treten lässt, ist ein Umstand, der anfänglich sogar 
ihrer Wirkung Vorschub leistete. Es ist der neuromantische Zug 
unseres Zeitalters. Wohl mangelt es nicht an Beziehungen 
zwischen Nietzsche und der Romantik. Allein sie sind nicht 
durchsichtig genug, um beide Bewegungen auf die Dauer parallel 
gehen zu lassen. Auch ist Nietzsche in mancher Rücksicht Anti- 
romantiker. Seine religiöse Skepsis vor Allem bringt ihn in 
Widerstreit mit romantischen Ideenkreisen. Das Wiedererwachen 
religiöser Interessen ist ja beinahe die treibende Kraft dieser Be- 
wegung. Sie äussert sich in der Vorliebe für die spekulativen 
theoretischen und gnostischen Gedankengänge der Nachkantischen 
Philosophen, der deutschen Mystiker des Mittelalters!) Dazu 
kamen ästhetische und litterarische Antriebe: Der Realismus und 
der Naturalismus in der Kunst hatten, auf einen steilen Höhepunkt 
getrieben, die entsprechende Reaktion entfesselt, die sich in einem 
vagen, nebelhaften Symbolismus bekundete. Man suchte mehr in 
der inneren als in der äusseren Wirklichkeit, und so wurde man 
auch von hier aus zum erneuten Studium der Romantiker geführt, 
die eigentlich zum ersten Mal die Nachtseite der menschlichen 
Seele für die Philosophie erschlossen und in die Kunst eingeführt 
hatten. Der Eindruck, den ein Verklärer des Unbewussten wie 
Maurice Maeterlink in Deutschland übte, bereitete die begeisterte 
Verehrung vor, die Novalis heute geniesst. Und wie es ein un- 
leugbarer Reiz der Romantik bleibt, dass in ihr Kunst und Welt 
anschauung einander durchdrangen und ein harmonisehes Ganzes 
zu bilden strebten, so suchen auch die Neuromantiker den Weg 
vom ästhetischen zum philosophischen Empfinden. Neben Novalis 
triumphiert Schelling, der klassische Philosoph der romantischen 
Periode. Während wir seinen Einfluss in der exakten, erkenntnis- 
theoretischen Richtung der Philosophie weniger mächtig fanden, 
und eigentlich in Hartmanns Weltauffassung noch die deutlichsten . 
Spuren zu verzeichnen waren, überragt er im Kreise der Neu- 
romantiker sicherlich den Fichtes und Hegels. Die Bedeutung 
des Unbewussten für die Gebilde des Bewusstseins, seine schöpfe- 
rische Kraft, die tiefere Einheit von Natur und Geist, all das sind 
Theorien, die dem populären Fühlen näher stehen als die Dialektik 


1) Hier ist auch Karl Eugen Schmitts Werk, „Die Gnosis“, (Verlag von 
Diederichs) zu erwähnen, deren zweiter Band soeben herausgekommen ist, 


Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 297 


der Begriffe. Unter Schellings Zeichen entfaltet sich diese neu- 
romantische Strömung, die zwar keinen kirchlichen Dogmatismus 
anerkennt, aber dem religiösen Bewusstsein zum Siege verhelfen 
möchte, die der klaren, logischen Erkenntnis zwar nicht wider- 
strebt, aber im mystischen Empfinden ein stärkeres, unmittelbares 
Verhältnis zum Universum zu gewinnen glaubt. Für eine solche 
Richtung war Schelling, der Philosoph der Kunst, der Künstler 
unter den Philosophen, der dithyrambische Begriffspoet und der 
Mystiker der Dialektik zum geistigen Lenker prädestiniert. 

Den äusseren Mittelpunkt neuromantischer Bestrebungen in 
Deutschland bildet der Verlag von Eugen Diederichs in Jena, 
der soeben unter dem Titel „Zur Kultur der Seele“ einen in dieser 
Beziehung interessanten, instruktiven Verlagsbericht herausgegeben 
hat, welcher seine Wirksamkeit vom Jahr seiner Gründung in Florenz, 
dem Jahr 1896 bis zum Jahr 1906 umspannt. Die Erscheinungen 
werden nach ihrem Thema und ihrer Tendenz eingeteilt, wobei 
der Einteilungsgrund ein spezifisch neuromantisches Gepräge 
trägt. Dies ergiebt sich aus den einzelnen Gliedern der Ein- 
teilung: „Kultur der Seele“, „Lieben mit der Natur“, „Volkliches 
Leben“, „Religiöse und philosophische Kultur“, „Schöne Litteratur“, 
„Ältere Philosophie und Mystik“, „Deutscher Idealismus“. Die 
grosse Anzahl von Veröffentlichungen auf diesen Gebieten, die 
zum Teil hervorragende Schriftsteller zu Verfassern haben, bürgt 
für den erstaunlichen Umfang, den neuromantische Tendenzen im 
gegenwärtigen Deutschland angenommen haben. Recht schwer 
wäre es, einen zusammenfassenden idealen Ausdruck für sie zu 
finden. Man müsste zu diesem Zwecke nicht bloss die Neu- 
romantik, sondern auch die Romantik definieren, was noch immer 
nicht recht gelungen ist. Einzelne Züge lassen sich aber als be- 
sonders charakteristisch hervorheben. Es sind auch zum Teil 
jene Züge, die in Diederichs Bericht als gemeinsame Merkmale 
der Neuromantik ausgezeichnet werden: ein stark pantheistischer 
Zug, die Überzeugung davon, dass Materie und Geist die beiden 
miteinander verbundenen Erscheinungsformen einer Kraft sind, 
der Glaube an die organische Einheit der menschlichen Persön- 
lichkeit mit dem Universum und an das wunderbare Vermögen 
der Seele, einerseits die Schranken der Individualität zu über- 
steigen und sie ins Unendliche zu erweitern, andererseits die 
unendliche Natur und Realität selber als ein Persönliches zu em- 
pfangen. 


298 0. Ewald, 


Der Verlag hat sich ein besonderes Verdienst durch die 
Herausgabe älterer und neuerer Mystiker erworben. Darunter 
sind die Schriften und Predigten Meister Eckharts in erster Reihe 
zu erwähnen. Für die nächste Zeit sind in Aussicht genommen: 
Ruysbrock, Suso, Valentin, Weigel, Thomas a Kempis, Baader und 
Gürres. Auch eine Reihe theoretischer Untersuchungen über 
Romantik und Neuromantik sind bei Diederichs erschienen, Es 
sind zumeist Werke metaphysischer und mystischer Tendenz, 
Hier verdient ein „Philosophie der Romantik“ betiteltes Buch von 
Erwin Kircher Beachtung, das Heinrich Simon und Margarete 
Susman aus den Aufzeichnungen des früh verstorbenen Autors 
herausgaben. Das Buch enthält den Versuch, die wichtigsten 
Motive der romantischen Philosophie darzustellen und behandelt 
mit besonderer Hingabe die einzelnen Phasen der Schelling- 
schen Weltanschauung. Auch Leopold Ziegler, dessen wir bereits 
als eines aus der Schule Hartmanns hervorgegangenen Anhängers 
der Philosophie des Unbewussten gedachten, steht der Neuromantik 
nahe, wie besonders aus seinem jüngsten Werk, „der moderne 
Rationalismus und der Eros“ hervorgeht, Er versteht unter dem 
philosophischen Eros ein spezifisch romantisches Motiv, den Trieb 
der metaphysischen, intellektuellen Anschauung, den er von 
Plato an durch die gesamte abendländische Spekulation verfolgt. 
Sehr ausführlich behandelt er die Identitätsphilosophen, vor Allem 
Hegel. Von den Neufichteanern und Neuhegelianern unterscheidet 
er sich in denselben zwei Tendenzen, in denen sich Hartmann 
von ihnen unterscheidet, Er erblickt in der Aufstellung einer 
metaphysischen Substanz die Grundlage seiner Weltauffassung, 
giebt aber die aprioristische Methode der Dialektik und Deduktion 
auf, an deren Stelle er die der transscendenten Induktion 
setzt. Die Philosophie soll von der Erfahrung Schlüsse ziehen 
auf ihre metaphysischen Voraussetzungen. Damit ist die weitere 
Konsequenz verbunden, dass die Philosophie keine absoluten, 
ewigen Wahrheiten zu bieten, sondern bloss approximativ das 
Wesen der zu ent v . Trotz dieser Abweichung 
von de ai , die das Weltproblem rein und rest- 
los gelöst. 


denn der Glaube an eine m tische Macht der menschlichen Seele, 
in sich den Vollgehalt des Universums empfangend nachzubilden, 
und aus sich heraus ihn andrerseits zu erzeugen, bleibt das 





Die deutsche Philosophie im Jahre 1908. 299 


gemeinsame ideelle Mass aller um diese Schule sich gruppierenden 
Gedankenreihen. 


Im Anschluss daran ist auch ein Versuch Heinrich Simons 
zu erwähnen, die Weltanschauung des Novalis in das Licht 
moderner Erkenntnislehre zu rücken: „Der magische Idealismus“ 
(Heidelberg, Winter, 1906). Der Verfasser, der sich von Rickert 
beeinflusst zeigt, geht mit strenger Systematik vor und verfolgt 
sorgfältig die Spuren, die vom Kantischen Kritizismus ins Lager 
der spekulativen Metaphysik und Erkenntnislehre leiten. 


Weniger der Art der Behandlung nach, als mit Rücksicht 
auf die Probleme, die zur Behandlung gelangen, reiht sich Theodor 
Lessing mit seinem Buch „Schopenhauer, Wagner, Nietzsche“, 
einer Einführung in die gegenwärtige Philosophie, an die Neu- 
romantiker an. Wer hier aber exakte philosophische Aufklärung 
erwarten wollte, würde enttäuscht werden. Es sind geist- 
reiche, aber philosophisch zum Teil unfruchtbare Psychologismen. 
Interessant ist die Auswahl der Repräsentanten moderner 
Weltansicht, besonders im Hinblicke auf Richard Wagner: es 
muss hier bemerkt werden, dass die Neuromantik ihr eigent- 
liches ideales Zentrum in Wagner hat. Recht begreiflich, denn er 
steht als Denker und Künstler an der Grenzscheide zweier Zeit- 
alter, er schliesst einerseits die alte Periode des Klassizismus 
und der Romantik ab und bereitet andererseits sowohl in 
seinen Motiven als auch in Stil und Technik das moderne Zeit- 
alter vor.!) 


Ein Urteil über den bleibenden Wert der Neuromantiker ab- 
zugeben, ist schwer. Denn wir stehen noch zu tief im Strom der 
Bewegung selbst, um über ihre letzten Ziele und Tendenzen im 
Reinen zu sein. Dass sie manches Phantastische und Absurde 
hervorbringt, ist nicht zu leugnen: es verdient aber andererseits 
betont zu werden, dass sie den Kreis der Probleme mächtig er- 
weitert hat, ihn um neue philosophische Möglichkeiten bereicherte 
und vor Allem einem verflachenden Naturalismus gegenüber die 


1) In diesem Zusammenhang, der aufs ästhetische Gebiet übergreift, 
müssen auch zwei interessante in Dessoirs „Zeitschrift für Ästhetik und 
allgemeinen Kunstwissenschaft“ erschienenen Aufsätze von Jonas Cohn 
Erwähnung finden: „Zur Vorgeschichte eines Kantschen Ausspruches 
über Kunst und Natur“ und „die Anschaulichkeit der dichterischen 
Sprache“. 


800 0, Ewald, 


Differenzierung des menschlichen Geistes, das Recht des Gefühls 
hervorgehoben hat und die Kontinuität mit der grossen Ver- 
gangenheit klassischer Philosophie wahrte. Es ist erfreulich, dass 
daneben auch im Kreise der Neuromantik Goethes Weltanschau- 
ung in steigendem Masse die Geister anzuregen beginnt. In 
ihrer wundersamen Harmonie, in der Art, wie sie Abstraktion und 
Anschauung, Idee und Erfahrung, Geist und Sinnlichkeit, Mystik 
und Rationalismus verwebt und versöhnt, gewährt sie ein Gegen- 
gewicht gegen einseitige Extreme, gegen phantastische Zügellosig- 
keit. Den Anteil, den neben der Kunst auch die Philosophie der 
Gegenwart an Goethe gewinnt, beweist Simmels eben erschienene 
Schrift, „Kant und Goethe“) Man darf im Titel bereits einen 
Hinweis auf eine kulturell bedeutsame Synthese, auf die Ver- 
bindung der beiden grössten Geistesheroen der Neuzeit erblicken. 
Simmel ist zunächst allerdings darum bemüht, bei aller schein- 
baren Gemeinsamkeit das Unterscheidende in der Gemütsriehtung 
und der intellektuellen Organisation beider Männer hervorzuheben. 
Hier bewährt er sich als Meister der Analyse. Im Anschlusse an 
sein vor wenigen Jahren erschienenes Buch über Kant, zeigt er, 
wie Kant den Schnittpunkt von Objekt und Subjekt jenseits der 
anschaulichen Wirklichkeit sucht, während sie Goethe in der 
Natur selber erblickt. Wie Kants wesentliche Funktion das 
Trennen und Unterscheiden bleibt, während Goethes Genie sich in 
Vereinheitlichung und Synthese bewährt. Wie Kant das Wesen 
der Welt im Sittengesetz sieht, das zwischen Ideal und Realität 
eine unermessliche Kluft aufrichtet, während für Goethe auch die 
Religion und Kunst bloss eine Emanation 

der kosmischen Urkraft ist. Aber bei all diesen Differenzen bleibt 
i 1 Der Glaube an den meta- 

id : Forderung, diesen Wert im 

Kant und Goethe: unter diesem 





Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 301 


ihren Wahrheitsgehalt und auf ihre Irrtümer prüft, überblickt 
man bereits einen Teil der Konsequenzen, die sich für das 
künftige Schaffen aus Irrtum und Wahrheit ergeben werden. 
Zunächst haben wir gesehen, dass die Philosophie unter dem 
Zeichen einer Rückkehr zum Nachkantischen Idealismus steht. 
In einer solchen Rückkehr ist freilich die verderbliche Mög- 
lichkeit einer Reaktion, eines unkritischen Historismus gegeben, 
der von einem rein antiquarischen Interesse beherrscht, das Ver- 
gangene lediglich um der Vergangenheit willen festhält. Aber 
wir dürfen hoffen, dass die gegenwärtige Philosophie in Deutsch- 
land nicht in diese Extreme sich verirrt, dass sie vielmehr von 
Fichte und Hegel allein die dauernd wertvollen Elemente erneuert. 
Darin ist insbesondere die transscendentale Idee gemeint, die von 
diesen Denkern in grösserer Reinheit dem Psychologismus gegen- 
über herausgearbeitet wurde als von Kant selber. Denn dies 
dürfen wir wohl als ein bleibendes Ergebnis der zeitgenössischen 
Philosophie festhalten: Die Scheidung zwischen Transscendentalis- 
mus und Psychologie, zwischen dem Idealen und dem Realen, 
zwischen Norm und Natur, zwischen Wert und Wirklichkeit. 
Ferner dürfen wir einen Fortschritt darin erblicken, dass man 
andererseits wieder die psychologische Erscheinungsform der lo- 
gischen Gesetze prüft, dass man Phänomenologie der Logik treibt, 
ohne darüber zu vergessen, dass deswegen die letztere von 
ersterer nicht abhängig wird: ein Fortschritt, der sich, wenn auch 
vielfach getrübt, in der Erneuerung der Friesschen Lehre äussert. 
Einen grossen, mehr praktischen als theoretischen Fortschritt be- 
deutet ferner das Streben, die Philosophie in Kultur umzusetzen, 
ihr eine breite Grundlage im Volke zu schaffen. Auch hier be- 
darf es weiser Steuerkunst, um den beiden verderblichen Möglich- 
keiten aller Popularisierung auszuweichen, dem uferlosen Mystizis- 
mus und der Flachheit Was jenen angeht, so macht er sich 
besonders in dem Wachstum der okkultistischen Bewegung fühl- 
bar, für das viele Veröffentlichungen in Form von Zeitschriften 
und Büchern deutliches Zeugnis geben. Das religiöse Empfinden, 
das in der neuromantischen Bewegung sich offenbart, wird, wie 
man hoffen darf, weder der Phantastik noch dem Dogmatismus 
Vorschub leisten, sondern in seiner wahren Sphäre verbleibend, 
das Unsagbare in der Menschenseele und im Universum in 
die Sprache des Gefühls übersetzen. Andererseits erwächst der 
Philosophie die Aufgabe, das Religionsproblem erkenntnistheore- 
Kantstudien XII. 90 


302 O. Ewald, Die deutsche Philosophie im Jahre 1908. 


tisch und logisch zu untersuchen, und es mehren die Anzeichen 
sich dafür, dass ähnliche Bestrebungen bereits im Gange sind. 
Von hier aus Öffnet sich der Weg zur Metaphysik, die wohl nach 
vorübergehendem Stillstand wieder energische Behandlung finden 
wird: Dafür bürgt der Einfluss Kants und Goethes, die beide, 
trotz ihres auf Realität und Erfahrung gerichteten Intellektes, 
überall auf transscendente Werte und Ideale hinweisen. 


Kants Lehre vom radikalen Bösen. 


Von Gottfried Fittbogen. 


Übersicht, Einleitung. 1. Die Aufgabe. 2. Stellung der Lehre 

vom radikalen Bösen in der Kantischen Religionsphilosophie. — I. Das 
Problem, 1. Überblick über die Lösungsversuche. 2. Bestimmung der 
Begriffe. 3. Die richtige Fragestellung. Gewinn des ganzen Abschnitts 
für die folgende Untersuchung. — IL Die Anlagen zum Guten, 1, 
Kants Methode zu ihrer Bestimmung. 2. Die Anlagen selbst. 3. Die För- 
derung des Guten durch diese Anlagen. — II. Der Hang zum Bösen 
in der menschlichen Natur (der Mensch als Glied der intelligiblen 
Welt). 1. Die Schwierigkeit und ihre Lösung. 2. Der Hang zum Bösen 
selbst. 3. Der Gewinn für das Ganze der Untersuchung. — IV. Der 
Mensch ist von Natur böse (der Mensch das Glied beider Welten, der 
sensiblen und der intelligiblen). 1. Die These. 2. Der sensible Mensch. 
8. Der Mensch als Glied beider Welten. 4. Rückblick auf den Abschnitt. 
Y. Der Ursprung des Bösen. 1. Der Sinn der Frage nach dem Ur- 
sprung des Bösen. 2. Der Ursprung der sensiblen bösen Tat. 3. Der Ver- 
nunftursprung der intelligiblen bösen Tat. — VI. Die Sinnesänderung. 
1. Die Möglichkeit. 2, Die Art (Reformation oder Revolution?). 8. Durch 
eigene Kraft. 4. Folgen für die sittliche Bildung des Menschen. 5. Wert 
und Bedeutung der Lehre vom radikalen Bösen. — VII. Müssige 
Fragen. 1. Höhere Mitwirkung. 2. Theodizee, — Schluss, 1. Gesamt- 
eindruck. 2. Zerstreuung von Missverständnissen. 


Einleitung. 

Als der Königl. preussische Konsistorialrat Hillmer der 
Kantischen Abhandlung über das radikale Böse das Imprimatur 
erteilte, that er es nur, weil er „nach sorgfältiger Durchlesung 
diese Schrift, wie die übrigen Kantischen, nur nachdenkenden, 
untersuchungs- und unterscheidungsfähigen Gelehrten, nicht aber 
allen Lesern überhaupt bestimmt und geniessbar“ fand. So wenig 
Neigung ich habe, das Lob dieses Zensors zu singen, in dieser 
Einschätzung des schriftstellerischen Charakters des Aufsatzes 
hat er Recht, und hierin wenigstens stimmt er mit Kant selbst 
überein. Denn wenn Kant die R« Gr. @ bl. V. ein für 
das Publikum „unverständliches, verschlossenes Bi nannte 





304 &. Fittbogen, 


(Streit 24), so ist natürlich ihr erster Teil mit unter dies Urteil 
einbegriffen. Und ich wüsste nicht, was uns veranlassen sollte, 
in das überraschende Lob der „populären Sprache“, die der letzte 
Herausgeber an dieser Schrift entdeckt hat (Vorländer 8. XLIX), 
einzustimmen. Vielmehr, glaube ich, ist in der Hauptsache dies 
Buch nicht nur dem Publikum, sondern auch manchen Gelehrten 
verschlossen geblieben. Vor allem gilt dies für die beiden Mittel- 
stücke der Rel. i. d. Gr. d. bl. V., die den Kern der philoso- 
phischen Religionslehre enthalten, mit ihrem eigentümlich rätsel- 
haften Charakter.!) 

In etwas anderem Sinne gilt es aber auch von dem Stück 
über das radikale Böse, Zunächst muss das Missverstehen des 
Ganzen auch das volle Verstehen des Einzelnen hindern. Wich- 
tiger aber und stärker ist noch ein anderes Hemmnis: ich meine 
nicht die Schwierigkeit der Gedanken und die Gewundenheit des 
Stils, die man bei den meisten Kantischen Schriften in Kauf 
nehmen muss; ich meine das Fehlen fast jeder Andeutung über 
den beabsichtigten Gedankenfortschritt. Wie oft muss man sich 
beim Lesen fragen: was bedeutet das? ist es Wiederholung? oder 
etwas Neues? wie ist der Zusammenhang? Man liest die Worte 
und versteht ihren eigentlichen Sinn nicht. Man sieht zunächst 
nicht ein, warum das Einzelne gerade an der Stelle steht, die es 
nun einmal einnimmt. Der Grund aber ist nicht Verworrenheit 
oder beginnende Altersschwäche des Philosophen, sondern die Fülle 
und Kompaktheit der Gedanken: die Abhandlung enthält mehr, 
als sie ausspricht. Kant sagt nur, was er gefunden, nicht, wie er 
es gefunden hat; er giebt nur die Resultate seines Nachdenkens 
ohne die Hilfsgedanken. Es ist, als ob man einem Führer auf 
unbekannten Wegen durch unbekannte Gegenden folgt — einem 
Führer, der uns wohl zum Ziele führt, der uns aber nicht einmal 
über den eingeschlagenen Weg aufzuklären für nötig hält, sondern 
es jedem überlässt, sich selbst zu orientieren, soweit er es ohne 
Anleitung vermag. Diesen Weg genau zu beschreiben, soll meine 


Versuch einer neuen 


ei 
Deutung* ii 
127-140, 


| 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 305 


Vor dem Antritt der Wanderung ist der Ausgangspunkt zu 
bestimmen, d. h. der Ort, den die Lehre vom radikalen Bösen im 
Ganzen der Kantischen Religionslehre einnimmt.’) 

Hat die Religionslehre Kants, wie ich meine, zum Haupt- 
inhalt den Glauben an den Sieg des Sittlichguten im Einzelnen 
und in der Gesamtheit, so ist damit von selbst eine Lehre vom 
Bösen gefordert: als Gegensatz. Es muss eine reale Macht sein, 
ein Widersacher, dessen Überwindung nicht selbstverständlich und 
mühelos ist. Nur der Gegensatz verleiht der glaubenden Hoffnung 
Spannkraft und praktischen Wert; sonst sinkt sie bedeutungslos 
zu Boden. 

Damit ist gesagt: eine Lehre vom Bösen gehört notwendig 
in Kants Religionslehre. Und zweitens: sie ist nicht Hauptsache, 
aber Voraussetzung. Beides ist wichtig. Denn nun können wir 
von vornherein annehmen, dass ihr Kern genuin Kantisch ist, 
nieht etwa durch Akkommodation als Kompromiss mit dem Dogma 
der Landeskirche entstanden. Gelegentliche Anknüpfung an Dog- 
ma und Bibel wird nicht den Zweck haben, Kants Auffassung der 


1) Die drei Spezialarbeiten von Paul (Kants Lehre vom radikalen 
Bösen. Ein Vergleich mit der Lehre der Kirche. Halle 1865), Schult- 
heis (Kants Lehre vom radikalen Bösen. Eine kritische Abhandlung (Diss.). 
Leipzig 1873), Stehr (Über Immanuel Kant. Eine Untersuchung des 
ersten Stücks aus Immanuel Kants „Rel. i. d. Gr, d. bl. V.“ ein Weg, 
den Darwinismus mit der Religion wieder in Einklang zu bringen. Han- 
noyer 1883) behandeln das radikale Böse isoliert und tragen wenig dazu 
bei, diese Lehre in sich und ihrem Zusammenhange mit der übrigen Reli- 
gionslehre Kants durchsichtig zu machen. — Kuno Fischer (Immanuel 
Kant und seine Lehre, 2. Teil. 4. Aufl. Heidelberg 1899. S. 289 ff.) 
stellt das Ganze unter den missverständlichen Gesichtspunkt des Er- 
lösungsgedankens. Schweitzer (Die Religionsphilosophie Kants von der 
Kritik der reinen Vernunft bis zur Rel. i. d. Gr, d. bl. V. Freiburg, Leip- 
zig, Tübingen 1899. S. 101—119, 169—172) koppelt die Lehre vom radi- 
kalen Bösen zu eng mit der Behandlung des Freiheitsproblems in der Kr. 
d, pr. V. zusammen. Romundt (Kants philosophische Religionslehre eine 
Frucht der gesamten Vernunftkritik. Gotha 1902. S. 13 ff.) stellt zwar 
einen richtigeren Zusammenhang her, lässt aber gerade den wichtigsten 
und eigenartigsten Punkt der Lehre (den Hang zum Bösen) aus, — Erst 
nach Abschluss dieser Arbeit habe ich die Schrift von Ostermeyer 
(Kants Lehre von dem bösen und guten Prinzip ie Vergleich mit der 
christlichen Lehre von der Siinde und 
lesen. Sie legt, wie schon der ' 
auf Darstellung und macht eine gen 
radikalen Bösen nicht im mindesten itt 





306 G. Fittbogen, 


kirchlieh-christlichen anzunähern; sie wird nur zur „Introduktion“ 
dienen sollen, indem sie dieser Lehre der reinen Vernunftreligion 
sinnliche Hüllen leiht. Und ferner wissen wir nun: der Haupt- 
accent der Kantischen Religionslehre ruht nicht auf der Konsta- 
tierung und Beschreibung der menschlichen Bösartigkeit, sondern 
auf der Begründung des Glaubens an das sieghafte Gute. Sein 
Streben ist darauf gerichtet, in der Ausgestaltung der Lehre bei 
dem endlichen Sieg des Guten doch das Böse nicht zur Be- 
deutungslosigkeit herabzudrücken. 
Nun zum radikalen Bösen selbst! 


I. Das Problem. 


Schreitet man zur Beantwortung einer problematischen Frage, 
so trägt es zur Klarheit und zur Erleichterung der eigenen Ent- 
scheidung bei, wenn man sich die bisher gemachten Lösungsver- 
suche vergegenwärtigt. Unbedingt notwendig aber ist es, die 
Mittel und Voraussetzungen, die einem zu Gebote stehen, genau 
festzustellen und zu prüfen, und schliesslich das Problem auf eine 
bestimmte Fragestellung zu bringen. Damit beginnt auch Kant; 
die ganze (überschriftlose) Einleitung mit ihrer ausführlichen An- 

-24)') ist dieser Aufgabe gewidmet. 

e stellt Kant den Überblick über die ver- 

I teste und verbreiteste Meinung, 

„dass Wf | li es mit ihr immer schlimmer 
werde, hat sit 

die Welt „vom Schlechten zum 

merklich) fortrücke“. Und 

legene Frage: „ob nicht ein 

sei, nämlich: dass der Mensch in 

; oder allenfalls auch eines 

m Teil böse sein könne?“ 

ör ist nicht der Inhalt, 

we Be auf welcher 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 307 


Paradiese — und der Verfall ins physisch Böse muss damit 
gleichen Schritt halten — „zum Ärgern mit acceleriertem Falle 
eilen“ lassen, die seit Jahrtausenden immer gerade „jetzt“ den 
jüngsten Tag erwarten. Nicht undeutlich ist aber auch der Spott 
über die „heroische* entgegengesetzte Meinung, !) „die wohl allein 
unter Philosophen, und in unsern Zeiten vornehmlich unter Päda- 
gogen, Platz gefunden hat“; die „sicherlich nicht aus der Erfahrung 
geschöpft“, sondern „vermutlich bloss eine gutmütige Voraussetzung 
der Moralisten* ist; die von einem gesunden Leib auf eine gesunde 
(d. i. gute) Seele schliessen will — als ob das etwas miteinander 
zu thun hätte! Die das Gute gewissermassen als Naturprodukt 
auffasst, das aus einer natürlichen Grundlage von selbst erwächst. 

Warum geht Kant weiter, ohne diese Ansichten einer Wider- 
legung zu würdigen? Warum sieht er so verächtlich auf sie herab? 
Weil sie sich auf einem so tiefen Niveau bewegen, dass jede Ver- 
ständigung ausgeschlossen ist. Sie kranken beide an demselben 
Grundübel: der Verquickung des Physischen und Moralischen. 
Kant aber steht auf höherer Warte: er versucht eine Bestimmung 
des Guten und Bösen, die beides aus jeder Berührung des Sinnlichen 
heraushebt. Und während bisher alle Erklärungen des Bösen nicht 
darüber hinauskamen, es von einem Widerstreit der Sinnlichkeit 
mit der Vernunft herzuleiten (cf. auch Rel. S. 59 Anm.), erwächst 
ihm die schwierigere Aufgabe, das Böse als rein moralische, nicht 
sinnlich affizierte Grösse im Reich der Vernunft zu bestimmen: 
ein Konflikt in der Vernunft selbst.®) — Dass bei dieser 
Höhenlage des Problems auch der dritte Vorschlag unzureichend 
ist, wird sich bald zeigen. 

So erscheint Kant hier in seiner Lieblingsstellung: als der 
überlegene Schiedsrichter (cf. Paulsen, Kant S. 135). Er verdammt 
alle — und können wir erwarten, er gesteht jedem sein partielles 
Recht zu. 

2. Doch mit dieser Bestimmung der Höhenlage sind wir 
Kant vorausgeeilt; er selbst sagt kein Wort darüber, welche Stellung 
er diesen Versuchen gegenüber einnimmt. Er wendet sich sofort 
der Bestimmung der Begriffe zu, die er im Anschluss an die zweite 
Überschrift „Über das radikale Böse in der menschlichen Natur“ 

ts. Bei Ostermeyer (S. 4) wird Kants peated) zu dieser „heroischen* 


Meinung nicht klar. 
%) Diese Pointe der anis en Lehre vor radikalen Bösen tritt bei 





308 __ G. Fittbogen, 


entwickelt. Haben wir die Sphäre, in der sich die Untersuchung 
bewegen wird, richtig erkannt, so muss — kénnen wir erwarten — 
dieses sein philosophisches Handwerkzeng anders aussehen als das 
der in empirischen Tiefen arbeitenden Fachgenossen. 

a) Der wichtigste Begriff in einer Untersuchung übers Böse 
ist das Böse selbst. Was bedeutet das Prädikat böse, das wir 
auf einen Menschen anwenden? Weshalb heisst ein Mensch „böse“? 
„Nicht darum, weil er Handlungen ausübt, welche böse (gesetz- 
widrig) sind; sondern weil diese so beschaffen sind, dass sie auf 
böse Maximen!) in ihm schliessen lassen.“ Zweierlei ist damit 
gegeben: Erstens der Gegensatz von Handlung und Maxime. 
Dadurch wird die Höhenlage der Untersuchung ebenso bestimmt, 
wie wir es vorgreifend getan hatten: Das Böse unabhängig von 
allem Empirischen, das der in der Zeit geschehenen Handlung 
notwendig anhaftet, rein an sich betrachtet — nicht das Böse in 
der Erscheinung, sondern das Böse an sich.®) Zweitens: Die 
Gleichsetzung von böse und gesetzwidrig. Besteht das Böse im 
Widerspruch gegen das Gesetz, so ist die Voraussetzung des Bösen 
die Existenz des Gesetzes:) Denn ohne Gesetz kein Widerspruch 
dagegen. Zugleich ist aber auch das Gute gegeben, als Zustimmung 
zum Gesetz. Und es folgt die Paralleldefinition des Guten: Gut 
heisst ein Mensch nicht darum, weil er Handlungen ausübt, welche 
gut (gesetzmässig)‘) sind, sondern weil diese so beschaffen sind, 

1) Was „Maxime“ ist, wird aus der Kr. d. pr. V. vorausgesetzt; doch 
findet sich gleich auf der nächsten Seite (19) eine gelegentliche Erklärung: 
sie ist eine „Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer 
Freiheit macht“. Ist übrigens damit der Unterschied von Regel und 
Maxime (aus $ 1 der Kr. d. pr. V.) aufgehoben? wohl als belanglos 


auch auf ne: an. „Böse“ hat 
Fa igir-populiren und den von ihm spe- 


(den er dem Anschein nach sogar 
ur (wie hier auch geschieht) 

mt werden miisse.“ 
ich des Parallelismus wegen 
ich richtig ist, wohl nicht ge- 
wo es durch den gleichen 
r wollte keinen Anlass zur 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 309 


dass sie auf gute Maximen in ihm schliessen lassen. Wenn auch 
Kant selbst diese Definition nicht ausdrücklich giebt, so setzt er 
sie doch an späteren Stellen voraus (so gleich 8. 19, 20). Sachlich 
ist sie unentbehrlich. Denn noch ist keine Entscheidung getroffen, 
ob das Urteil auf gut oder böse oder sonstwie lauten wird. Im 
Ansatz sind die Begriffe gut und böse gleichberechtigt. Und gerade 
diese „doppelseitige Problemstellung“ !) ist für Kant charakteristisch. 

Aber indem nun die Untersuchung sich zu so hohen Regionen 
erheben will, legt sich gleich zu Anfang eine Schwierigkeit in den 
Weg, die das ganze Unternehmen von vornherein zu vereiteln 
scheint. Denn bei dieser Auffassung des Guten und Bösen scheint 
jedes Urteil darüber unmöglich zu werden. Denn eine Handlung 
kann ich wohl beurteilen, weil die Erfahrung mir hier deutlich 
zeigt, ob sie gesetzwidrig ist, und bei mir selbst sogar verkündet, 
ob diese Gesetzwidrigkeit mit Bewusstsein geschehen ist. Darüber 
hinaus aber — worauf in dieser Untersuchung alles ankommen 
soll — reicht mein Urteil nicht: Denn „die Maximen kann man 
nieht beobachten, sogar nicht allemal in sich selbst“. Also, scheint 
es, fehlt mir jedes Hilfsmittel, zu bestimmen, ob ein Mensch in 
dem oben festgesetzten Sinn gut oder böse (der Maxime nach) 
ist — und die Untersuchung muss aufhören, ehe sie eigentlich 
begonnen hat. 

Nur eine Möglichkeit giebt es, auf der die Hoffnung beruht, 
trotzdem einen Weg zu finden in das unzugängliche Gebiet der 
Maxime: vielleicht bietet die Methode des Rückschlusses von der 
Handlung auf die Maxime einen gangbaren und zuverlässigen 
Weg. Wie müsste ein solches Schlussverfahren aussehen? Sv: 
ich müsste zuerst eine gesetzwidrige Handlung wahrnehmen und 
konstatieren, dass sie mit Bewusstsein gesetzwidrig ist, Von 
hier müsste ich auf eine böse zum Grunde liegende Maxime 
schliessen können und von hier aus wieder weiter „auf einen in 
dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besonderen moralisch- 
bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist“?) Dürfte ich 
so schliessen, dann könnte ich ein berechtigtes Urteil über gut 
oder böse gewinnen. Aber es ist ein Schluss rein a priori, nicht 


1) Der Ausdruck ist von Schweitzer 104 übern 

2) Was es mit dieser obersten Maxime auf sich hat, wird erst später 
‘Klar werden. Hier musste sie ei geführt: len, weil sonst die Möglich- 
keit offen bliebe, dass bei böser Einzelmaxime die oberste Maxime ‚dennoch 
gat sein könnte. : 





310 G. Fittbogen, 


auf Erfahrung gegründet, und das ist ja eben die Frage, ob ich 
zu diesem Schluss a priori berechtigt bin. Zunächst muss sie 
offen bleiben. 

Zwar wird sich bald zeigen, dass dieser Schluss berechtigt 
ist (darin liegt die Bedeutung der ,rigoristischen“ Betrachtungs- 
weise), Aber wir merken, dass sich hier gleich auf der Schwelle 
die Schwierigkeit ankiindigt, die uns noch öfter begegnen wird: 
das Verhältnis des Intelligiblen und Sensiblen in der moralischen 
Welt ist nicht einfach. Wird auch die Verbindung gefunden durch 
den Satz: „ist eine Handlung bewusst gesetzwidrig geschehen, so 
liegt ihr, darf ich a priori annehmen, eine böse Maxime (Einzel- 
wie oberste Maxime) zu Grunde“, so sind damit doch keineswegs 
alle Schwierigkeiten gehoben und alle Dunkelheiten gelichtet. 

b) Nun, nachdem der Begriff „böse“ hinreichend geklärt ist, 
ist die nächste Frage: Wo habe ich das Böse zu suchen? Darauf 
giebt die Überschrift die merkwürdige Antwort: in der mensch- 
lichen Natur. Das Böse in der Natur? Geht nicht das Böse, wie 
alles Moralische, aus der Freiheit hervor? und steht nicht Natur 
unter dem unfreien Zwang der Kausalität? Ist die Verbindung 
dieser Gegensätze nicht der bare Unsinn? — Gewiss, wenn „Natur* 
seinen gewöhnlichen Sinn behält! Aber den soll es hier nicht 
haben; sondern wir verbinden damit einen ganz neuen Sinn. Der 
Ausdruck „Natur“ des Menschen nämlich heisst hier: „Der sub- 
jektive Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt (unter 
objektiven moralischen Gesetzen), der vor aller in die Sinne 
fallenden Tat vorhergeht“ — dieser Grund mag nun liegen, worin 
er wolle!) „Natur“ hat also in diesem Zusammenhang so wenig 
mit dem, was sonst Natur heisst, gemein, dass sie sogar ins Reich 
der Freiheit?) gehört! — Aber warum wählt Kant dafür den 


1) Schon in der Kr. d. pr. V. 53 hat Kant im Gegensatz zur „sinn- 
lichen Natur“ den Begriff einer „übersinnlichen Natur“ gebildet: eine 
»Natur“ unter dem moralischen Gesetz. Natur also lediglich als Formal- 
begriff. 

% Die Freiheitsidee spielt in der Untersuchung über das radikale 
Böse eine grosse Rolle. Aber sie ist nicht, wie Schweitzer zu meinen 
scheint, Gegenstand der Untersuchung, sondern Voraussetzung, Wie 
sie möglich ist, ist in diesem Zusammenhang gleichgültig; hier kommt sie 
nur in Betracht, soweit sie ins Gebiet der praktischen Vernunft fallt, 
„Der praktische Begriff der Freiheit hat in der Tat mit dem spekulativent 
der den Metaphysikern gänzlich tiberlassen bleibt, gar nichts zutun. Denn 
woher mir ursprünglich der Zustand, in welchem ich jetzt handeln soll, 





D EE 


Kants Lehre vom radikalen Bösen. 311 


Namen Natur? Weil die Sprache nicht ausreicht, die Feinheit 
dieses Begriffes wiederzugeben. Ist der Ausdruck also zweifellos 
nicht sehr glücklich, so liegt das nicht an Kant, sondern an der 
Schwierigkeit des Begriffs und der Unfähigkeit der Sprache, ihn 
auszudrücken: uns zwingt das um so mehr zur Aufmerksamkeit 
auf das, was damit gesagt sein soll. Erkennt man diese in der 
Sache selbst liegende Unmöglichkeit einer völlig adäquaten Aus- 
drucksweise an, so kann man gegen die Übertragung einer Be- 
zeichnung aus der sinnlichen Natur auf etwas Analoges in der 
„übersinnlichen“, in der „freien Natur“ nichts einwenden. Dies 
Analogon liegt hier darin, dass die „Natur“ (im höheren Sinne) 
etwas ist, das „vor aller in die Sinne fallenden Tat vorhergeht“. 
„Natur“ ist nur Formalbegriff. Inhaltlich haben die beiden ver- 
schiedenen ,Naturen“ nichts mit einander gemein. Gerade ihre 
wesentlichsten Merkmale sind verschieden. Während Natur im 
physischen Sinne das Gegebene bezeichnet, kann es im höheren 
Sinne nur Erworbenes bedeuten; denn im Reich der Freiheit giebt 
es nichts Gegebenes. Die „freie“ Natur also, folgt daraus, muss 
im Gegensatz zur sinnlichen Natur immer wieder „selbst ein Aktus 
der Freiheit“ sein. Und weiter folgt: der Grund des Bösen wie 
des Guten kann in keinem die Willkür durch Neigung be- 
stimmenden Objekte, in keinem Naturtriebe liegen, sondern nur 
„in einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer 
Freiheit macht, d. i. in einer Maxime“. Und auch der Grund der 
Annehmung dieser Maxime kann nicht aus einer (Natur-)Ursache 
stammen, sondern aus der vollen Freiheit. Wenn also Kant den 
Menschen „von Natur“ gut oder böse nennt, so will er damit nur 
sagen: der Mensch enthält einen ersten Grund der Annehmung 
guter oder böser Maximen, der auf moralischem Gebiet liegend 
und aus Freiheit stammend vor aller in die Sinne fallenden Tat 
vorhergeht. 


gekommen sei, kann mir ganz gleichgültig sein, ich frage nur, was ich zu 
thun habe, und da ist die Freiheit eine — notwendige praktische Voraus- 
setzung und eine Idee, unter der allein ich die Gebote der Vernunft als 
gültig ansehen kann“ (in der Recension über Schulz’ Versuch einer An- 
leitung zur — fatalistischen Sittenlehre; R. Sch, VII, 141). Die Freiheit 
also gilt hier nicht als Problem, sondern als Tatsache. Das Problem 
ist vielmehr: wie ist bei vorhandener Freiheit (d. i. der eigenen 
der reinen praktischen Vernunft — cf. Kr. d. pr. V. 39) 
doch das Böse möglich, ohne dass eins das andere aufhebt? 








312 G. Fittbogen, 


Eins nur kénnen wir von diesem ersten Grund der Annehmung 
moralischer Maximen schon voraussehen: Da nämlich dieser Grund 
in einer Maxime gesucht werden muss, und diese wiederum keinen 
anderen Bestimmungsgrund haben kann als auch eine Maxime, so 
wird der Fragende ,in der Reihe der subjektiven Bestimmungs- 
gründe ins Unendliche immer weiter zurückgewiesen“, „ohne auf 
den ersten Grund kommen zu können“ (Anmerkung auf S. 19). 
Es bleibt also nichts iibrig als im Angesicht dieses regressus in 
infinitum’) zu gestehen, ,dass der erste subjektive Grund der 
Annehmung moralischer Maximen unerforschlich sei.“ Dies ist 
der äusserste Punkt, bis zu dem die Begriffsbestimmung mehr hin- 
blicken als gelangen kann. 

Ganz zuletzt fügt Kant — wie selbstverständlich — noch 
ein neues Merkmal zu dem bei, was er unter „Natur“ verstehen 
will; dass nämlich das als Inhalt des Begriffs „Natur“ Entwickelte 
vom Menschen gelten soll „allgemein als Mensch, mithin so, dass 
er durch dieselbe — nämlich die Annehmung der guten oder bösen 
Maxime — zugleich den Charakter seiner Gattung ausdriickt* 
(Rel. 20). Diese Bestimmung klappt nach und hat keinen inneren 
Zusammenhang mit dem bisher Entwickelten, in dem es sich stets 
nur um den Menschen als Einzelwesen handelte. Sie bringt 
tatsächlich ein ganz neues Moment, den Gattungscharakter, 
der hier vom Guten und Bösen hypothetisch gilt. — Dass hier 
etwas: Neues eingeführt wird, war wohl für Kant durch den Um- 
stand verhüllt, dass gerade diese Bestimmung noch am ersten 
etwas von „Natur“ im vulgären Sinne an sich trägt; und von 

i i hl auch als selbstverständlich hieraus „ausge- 
bedeutet „Natur“ in diesem Kan- 


Schwierigkeit weist Schweitzer 
auf dem Gebiet des Intelli- 


derfolge ihrer Glieder als 
|, sondern auch noch die 
infinitum mit ihr gemein 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. | 313 


Annehmung moralischer Maximen im einzelnen Menschen, 2. den 
Gattungscharakter. 


Kant ist — das ist wohl keine zu gewagte Hypothese — in 
seiner Gedankenentwickelung vermutlich ursprünglich von dem 
Gattungscharakter des Bösen ausgegangen und hat dafür den 
Ausdruck „Natur“ angewandt. Bei der tieferen Durchdenkung 
des Problems aber wurde die Frage nach der Allgemeinheit zu- 
rückgedrängt durch die wichtigere Frage nach Ursprung und Mög- 
lichkeit. Der Ausdruck „Natur“ ist dann auch hierauf ausgedehnt 
und beide Fragen, so unter das Notdach eines gemeinsamen 
Namens gebracht, als enger zusammenhängend empfunden, als sie 
es wirklich sind. Denn gerade bei der Kantischen Gedanken- 
bildung ist ihr Zusammenhang nicht selbstverständlich, sondern 
selbst wieder ein Problem: wie ist bei der Freiheit die All- 
gemeinheit erklärlich, ohne die Freiheit aufzuheben ? 


Der Abschluss der Begriffsbestimmung bringt nichts eigent- 
lich Neues mehr, nur einen bequemeren Ausdruck. Die physische 
Natur heisst „angeboren“; so lag es nahe, auch die übersinnliche 
Natur so zu nennen. Passend scheint dieser Ausdruck besonders 
deswegen, weil die übersinnliche Natur „vor allem in der Er- 
fahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit zum Grunde gelegt 
wird“. Zu denken haben wir uns also dasselbe wie vorhin; vor 
allem, dass der Mensch selbst Urheber dieser „angeborenen“ Natur 
ist. Und um alles Missverständnis auszuschliessen, weist Kant 
noch ausdrücklich darauf hin, dass dieser angeborene moralische 
Charakter!) im Menschen zwar mit der Geburt zugleich vorhanden, 
nicht aber durch die Geburt verursacht sei. 


3. Nachdem nunmehr die Begriffe festgestellt sind, mit 
denen gearbeitet werden muss, kann versucht werden, das Problem 
auf eine bestimmte Fragestellung zuzuspitzen (geschieht in der 
„Anmerkung“ zur Einleitung Rel. 20—24). 


Zwei Hauptbetrachtungsweisen giebt es: der reinlichen 
Scheidung zwischen gut und böse — und der Vermittelung. Und 


1) Was übrigens mag die Klammer (in der ersten bis dritten Zeile 
dieses letzten Abschnittes, S. 20) bedeuten, welche die menschlichen 
Charaktere als (solche) Charaktere „der Unterscheidung des Menschen von 
anderen möglichen vernünftigen Wesen‘ bezeichnet? Praktischen 
Wert scheint sie nicht zu haben. 


314 G. Fittbogen, 


da die Vermittelung wieder auf doppelte Weise geschehen kann, 
so liegen drei Möglichkeiten vor: der Mensch ist 

1. entweder sittlich gut oder sittlich böse, 

2. weder sittlich gut noch sittlich böse, 

3. sowohl sittlich gut als auch sittlich böse. 

Die letzten beiden Möglichkeiten liegen, wie gesagt, insofern 
auf einer Linie, als sie ein Mittleres zwischen zwei Extremen an- 
nehmen. Von vornherein scheinen sie am plausibelsten; und „die 
Erfahrung scheint sogar dieses Mittlere zwischen beiden Extremen 
zu bestätigen“. 

Man braucht nämlich nur die Menschen, wie sie sind und 
wie die Erfahrung sie uns kennen lehrt, zu betrachten, um zu er- 
kennen, dass beide Arten dieses Mittleren tatsächlich vorhanden 
sind. Der Säugling z. B. ist offenbar weder gut noch böse.!) 
Erst allmählich lernt er durch Ausbildung (cf. 40 Anm.), was gut 
und böse ist. Ist der Mensch aber ausgebildet, so sehen wir 
überall, dass er „in einigen Stücken tugendhaft, in anderen laster- 
haft sei“ (Anm. 8, 23). Also wirklich: es giebt ein Mittleres, 
„einerseits ein Negatives der Indifferenz, vor aller Ausbildung, 
andererseits ein Positives der Mischung, teils gut, teils böse zu 
sein“ (S. 40 Anm.). Kant ist so weit entfernt, dies zu leugnen, 
dass er es sogar für das einzig Richtige hält, wenn es sich darum 
handelt, den „Menschen in der Erscheinung“ (S. 23 Anm.) zu 
beurteilen. Also nach empirischem Massstabe. Da aber auf diese 
Weise nur die Taten, das „wirkliche Thun und Lassen“, das, was 
vom moralischen Menschen der Erscheinungswelt angehört, ge- 
messen werden kann und die Gesinnung ausser Betracht bleiben 
muss, so erweist sich solche empirische Betrachtung ihrer eigenen 
Natur nach als unzulänglich für diese Untersuchung, deren Wert 
gerade darin besteht, dass sie auf die Gesinnung geht. Wohl 

ihrem Bereich bleibt sie zu Recht bestehen.?) 


im populiren Sinne, auf die sensible 
es doppelten Sprachgebrauchs 
diesem Abschnitt vorliegt. 

+ die entwickelungsgeschichtliche 
der oben beschriebenen Relativität 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 315 


Wie aber müssen wir Tugend und Laster „an sich in der 
Idee der Vernunft“ betrachten? Wie „auf der Wage der reinen 
Vernunft“) wägen? 1 

Bevor wir zur Entscheidung schreiten, müssen wir uns ver- 
gegenwärtigen, was, ohne ausdrücklich betont zu sein, nach der 
Voraussetzung vom Bösen gilt, Ist es, wie dort angenommen wurde, 
Widerspruch gegen das Gesetz, so kann es nicht einfach blosser 
Mangel des Guten, sondern es muss das positive Widerspiel des 
Guten sein. Daraus folgt: auf moralischem Gebiet giebt es keine 
indifferente Handlung. Denn da die einzelne Handlung stets aus 
Widerspruch oder aus Zustimmung zum Gesetz (der Maxime nach) 
erfolgt, so ist sie stets entweder positiv böse oder positiv gut. 
Dagegen „eine moralisch-gleichgültige Handlung würde eine bloss 
aus Naturgesetzen erfolgende Handlung sein, die also aufs sittliche 
Gesetz, als Gesetz der Freiheit, in gar keiner Beziehung steht“ 
(8. 21, Anm. 1, Zusatz von 1794). 

Dies gilt von der einzelnen Handlung. Was nun vom ganzen 
Menschen? — Der feste Punkt, von dem wir ausgehen können, 
ist der Grundsatz: Die Freiheit der Willkür wird durch eine Trieb- 
feder nur dann zu einer Handlung bestimmt, wenn der Mensch 
diese Triebfeder in seine Maxime aufgenommen hat;?) denn nur 
dann kann eine Triebfeder bestehen, ohne die absolute Selbst- 
bestimmung der Willkür (— Freiheit)?) einzuschränken und damit 
aufzuheben. Und wir fragen nun: ist bei Geltung dieses Grund- 
satzes eine Doppelheit der Triebfedern möglich oder nur eine Einheit? 
oder vielleicht gar eine „Keinheit“? 

Zunächst dies Letzte. Anerkannt ist, dass „im Urteile der 
Vernunft“ das moralische Gesetz für sich selbst Triebfeder ist. 

1) Die Gleichsetzung eines Urteils „auf der Wage der reinen Ver- 
nunft" mit einem Urteil „vor einem göttlichen Gericht“ (23 Anm.) verdient 
immerhin angemerkt zu werden. 

2) Die Erläuterung hierzu, die Kant in Klammern beigefügt, ist 
grammatisch inkorrekt (S. 22). Sie ist vermutlich durch Konstruktions- 
mischung entstanden: 1... . sofern der Mensch „es sich zur allgemeinen 
Regel gemacht hat, dass er sich nach ihr (d. i, der Triebfeder) verhalten 
will (resp. sich nach ihr zu verhalten . « sofern der Mensch „sie 
(die Triebfeder) sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er 
sich verhalten will“. 

. „freie Will- 
ar. Hier z. B, er- 
kür, dann — nach dem 





316 G. Fittbogen, 


Ist nun aber im Menschen das moralische Gesetz tatsächlich nicht 
Triebfeder, so wäre es völlig verfehlt und oberflächlich, daraus 
auf das Fehlen jeder moralisch-beurteilbaren Triebfeder zu schliessen. 
Die einfachste Überlegung zeigt vielmehr, dass hier eine dem Gesetz 
positiv entgegenwirkende Triebfeder Einfluss auf die Willkür 
gewonnen haben muss. Denn wie sollte sonst das Gesetz als 
Triebfeder ausgeschaltet sein? Also hat der Mensch diese entgegen- 
gesetzte Triebfeder (und damit die „Abweichung vom Gesetz“) in 
seine Maxime aufgenommen. Und wir gewinnen das Resultat: ein 
Mensch, den das Gesetz nicht als Triebfeder bestimmt, wird von 
entgegengesetzter Triebfeder bestimmt; Indifferenz ist ausgeschlossen. 

Unrecht haben aber auch die „Synkretisten“. Denn setzen 
wir mit ihnen den Fall, dass der Mensch in einem gut ist, so 
ist er das, weil er das moralische Gesetz in seine Maxime auf- 
genommen hat. Diese aufs moralische Gesetz bezogene Maxime ist 
allgemein. Wäre nun der Mensch in einem andern Stück zugleich 
böse, hätte er also gleichzeitig eine gesetzwidrige Triebfeder in 
seine Maxime aufgenommen, so wäre die aufs Gesetz bezogene 
allgemeine zu einer Einzel-Maxime degradiert — was der Voraus- 
setzung widerspricht. So behauptet denn die „rigoristische* Be- 
trachtungsweise siegreich das Feld, Und mit Stolz legt sich Kant 
den Namen eines Rigoristen bei, einen Namen, „der einen Tadel 
in sich fassen soll, in der Tat aber Lob ist* (21). Auf sittlichem 
Gebiet giebt es im letzten Grunde nur ein Entweder-Oder: 
entweder gut oder böse. !) 

4. Damit sind wir zum Ziel gekommen und haben das wichtige 
Resultat gewonnen: Der moralische Charakter des Menschen zeigt 
keine bunte Mischung oder Farblosigkeit, sondern eine bestimmte 
Farbe. „Die Gesinnung?) kann nur eine einzige sein.“ (24) 
Wir haben jetzt der kommenden Untersuchung ihren Weg fest 
vorgezeichnet und das Problem auf die Frage eingeengt: Ist die 
„angeborene“ Gesinnung de: 
giebt es nicht. Nach welcher Seite aber die Entscheidung fallen 
wird, ist bei 0 n Problemstellung noch nicht an- 
gedeutet wird das lauten? „Gut“? oder „Böse“? — 


1) Die beri Ausei rsetzung mit Schiller trägt zur Lehre 
vom radikalen 

2) Von hier an „Gesinnung“ eingeführt für den 
wnständlichen „ersten subj rund der Annehmung der Maximen“ 
(vorher schon einmal S, 21, Anm. 1), _ 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 317 


Um völlig sicher zu gehen und jedes Missverständnis zu 
vermeiden, wiederholt Kant zum Schluss noch einmal, was mit dem 
Wort „angeborene“ Gesinnung gesagt sein soll. Nämlich erstens: 
sie ist durch freie Willkür angenommen, doch nicht von irgend 
einem Zeit-Aktus der Willkür abzuleiten. Zweitens: sie gilt von 
der Gattung. Das erste steht nach der Voraussetzung fest; das 
zweite war dort auch als selbstverständlich hingestellt, während 
an dieser Stelle für den Beweis auf die Zukunft verwiesen wird. 
Zweifellos sachgemisser. Zugleich ein neues Zeichen für die 
Schwierigkeit, die Kant der Nachweis der Allgemeinheit des Bösen 
macht, 


IL Die Anlagen zum Guten. 


Wie also ist nun der Mensch? gut oder böse? — Doch nicht 
sofort kann die Antwort gegeben werden. Denn ich kann niemanden 
beurteilen, ohne zuvor seine Fähigkeiten und Anlagen zu kennen. 
Daher drängt sich uns die Vorfrage auf: welche Anlagen hat der 
Mensch ? 

1. Kant stellt die Anlagen mit einer gewissen Selbstverständ- 
lichkeit hin, ohne zu sagen, wie er dazu gekommen ist. Woher 
kennt er sie? Denn kein Mensch hat sie je gesehen. Aus der 
Erfahrung hat er sie nicht; er hat sie daher, woher jeder — ob 
bewusst oder unbewusst — sie nehmen muss: aus dem Ideal. 
Natürlich müssen die Anlagen so sein, dass sie dem Ideal ent- 
sprechen. Im Keim ist schon die Vollendung gegeben. Anfang 
und Ende sind im Prinzip gleich. Die Anlagen gewinnt man daher 
durch Projizieren der gewünschten Zukunft in die Vergangenheit. 

Nun, wie der Mensch sein soll, ist für Kant keine Frage. 
Trägt er doch in sich die Idee des guten Prinzips, das moralische 
Gesetz. Das mit dieser moralischen Bestimmung gegebene Ziel zu 
erreichen, ist seine Aufgabe — also muss er es auch können. 
Sittlich-gut soll er werden; also hat er solche Anlagen,') die ihn 
dazu befähigen, sein Begehrungsvermögen und den Gebrauch der 
Willkür — denn nur die Anlagen, die sich unmittelbar hierauf 
beziehen, können in Betracht kommen — sittlich zu vervollkommnen. 


1) Von seinem sonstigen Gebrauch abweichend, giebt Kant die De- 
finition von „Anlage“ erst am Ende dieses Abschnittes. Vielleicht, um sie 
mit der Definition des ,,Hanges“ eng zusammenzurücken ? 

Kautstudien XII, 21 


318 @. Fittbogen, 


Diese Anlagen müssen ursprünglich sein, nicht zufällig. Denn 
könnten sie weggedacht werden, so würde damit die Erreichung 
jenes Zieles völlig unmöglich, mithin das Wesen des Menschen 
zerstört. 

2. Mustern wir also, was wir, vom Ideal ausgehend, als 
Anlage für den Menschen fordern müssen; und zwar als Anlage 
für jeden Menschen, die dem „Urmenschen“ genau ebenso gebührt 
wie dem Kulturmenschen. 

a) Die höchste Bestimmung des Menschen liegt auf moralischem 
Gebiet. Er hat sie erreicht, wenn das moralische Gesetz die für 
sich hinreichende Triebfeder seiner Willkür geworden ist. Also 
muss seine wichtigste Anlage die sein, dass er fähig und empfänglich 
ist, das moralische Gesetz als „für sich hinreichende Triebfeder 
der Willkür“ zu achten.!) 

Der eigentliche Wert dieser in sich klaren Ableitung wird 
erst deutlich durch das, was darin implieite enthalten ist. Das 
Gefüge der einzelnen Gedanken, in denen Kant diesen Inhalt 
„auswickelt“, ist ineinander geschoben. Die Auflösung ergiebt 
diese drei Gruppen: 

Erstens. Der Wert des Zusatzes: Empfänglichkeit für die 
Achtung des moralischen Gesetzes „als einer für sich hinreichenden 
Triebfeder der Willkür“. Man könnte denken, der wäre überflüssig, 
und es genügte, als Anlage einfach die Empfänglichkeit für die 
Achtung des Gesetzes anzunehmen. Aber dass diese durch ihre 
Einfachheit anziehende Bestimmung nicht ausreicht, zeigt folgende 
Überlegung: die Fähigkeit, das Gesetz zu achten, ist identisch mit 
dem moralischen Gefühl in uns, Da dies nun nicht einen Zweck 
der Naturanlage ausmacht, sondern nur Mittel zum Zweck ist, 
kann es nicht nur zur Bestimmung der ursprünglichen Anlagen 
dienen; denn nur Zweck und Anlage sind Wechselbegriffe. 

Zweck der Naturanlage könnte man das moralische Gefühl 
(und damit die Achtung für das Gesetz) nur uneigentlich nennen; 
dann nämlich, wenn es Triebfeder der Willkür wird. Wird es 


1) Sollte der en Ausdruck „Empfünglichkeit der Achtung 
für das moralische Gesetz“ 

sein an Stelle der re vorschwebenden „Empfänglichkeit für die 
Achtung für das moralische Gesetz r: des moralischen Gesetzes)?“ So 
habe ich ihn aufgefasst. — Wie Worte jetzt dastehen, können sie 
nur bedeuten: „Die Achtung ist empfänglich für das moralische Gesetz. 
(Sinn? ?) 





Kants Lehre vom tadikalen Bösen. 319 


aber Triebfeder der Willkür, so geschieht das eben dadurch, dass 
die freie Willkür es in ihre!) Maxime aufnimmt, d. h. es zur allein 
‚herrschenden Triebfeder erhebt. Eine solche sittlich-gute Willkür 
achtet also tatsächlich das Gesetz „als für sich hinreichende Trieb- 
feder“. Damit ist bewiesen, dass diese Bestimmung schon der 
Anlage beigelegt werden muss. 


Zweitens. Der Wert dieser Anlage. Kant begnügt sich mit 
der kurzen Konstatierung, dass auf sie „schlechterdings nichts 
Böses gepfropft werden kann“, Warum nicht? — Zunächst folgt 
aus dem Begriff der Anlage selbst: sie ist (eben weil sie Anlage 
ist) unverlierbar. Während aber andere Anlagen, die keine direkte 
Beziehung aufs moralische Gesetz haben, gemissbraucht werden 
können, wenn sie nämlich in Kollision mit sittlichen Zwecken ge- 
raten, ist das hier ausgeschlossen: diese Anlage, die in der Fähigkeit 
besteht, das Gesetz unbedingt zu achten, kann ihrer Natur nach 
nie mit dem Gesetz in Widerspruch geraten. Sie würde sich 
sonst selbst aufheben — was aber unmöglich ist. 


Wie ausserordentlich viel diese Bestimmung für Kant be- 
‚deutet, leuchtet von selbst ein: von vornherein ist die sittlich-gute 


Grundanlage des Menschen als unvertilgbar, noch mehr: als unver- 
sehrbar sicher gestellt und die endliche tatsächliche Suprematie 
des Guten ermöglicht. 


Drittens: „Persönlichkeit“ und „Anlage auf dem Gebiet der 
Persönlichkeit“. Noch von anderer Seite (als unter No. 1) lässt 
sich endlich noch bestreiten, dass Kant die Anlage auf moralischem 
‚Gebiet richtig bestimmt habe. Die Anlage auf moralischem Gebiet 
nennt er „Anlage für die Persönlichkeit“. Wäre es nun nicht 
(kann der Gegner einwenden) treffender, die Anlage für die 
Persönlichkeit in die Idee des moralischen Gesetzes selbst und 
seine Achtung zu setzen? statt in die Fähigkeit, das Gesetz als 
für sich hinreichende Triebfeder zu achten? Ist nicht gerade das 
die Grundanlage des Menschen, sofern er ein moralisches Wesen 
ist, dass er die Idee des moralischen Gesetzes und Achtung davor 
in sich hat? 

) Vorländer ändert; „da dieses nur lediglich dadurch möglich wird, 
dass die freie Willkür es in ihre (Kant seine) Maxime aufnimmt‘. Ge- 

ist es grammatisch korrekt. Aber Kant schrieb eben nicht stets 
wie übrigens jeder normale Mensch. Ihm schwebte offenbar 
als Beziehungswort vor. 
21" 





320 G. Fittbogen, 


Nein, so einleuchtend das auch scheint, richtig ist es doch 
nicht. Denn was bedeutet hier „Persönlichkeit“? Es bedeutet,') 
dass der Mensch frei und unabhängig von dem Mechanismus der 
ganzen Natur ist und als intelligibles Wesen den eigenen Gesetzen 
seiner praktischen Vernunft folgt. Denn mit der Freiheit ist die 
eigene Gesetzgebung der Vernunft notwendig verbunden (cf. Kr. 
d. pr. V. 39). Eins ist ohne das andere nicht möglich. Wir er- 
kennen also: die Idee des moralischen Gesetzes ist identisch mit 
der Idee von der Art des Menschen®) als eines intelligiblen?) 
Wesens. Die Art des Menschen als eines intelligiblen Wesens ist 
aber nichts anderes als was Kant sonst seine Persönlichkeit nennt. 
So sind also die Idee des moralischen Gesetzes und die Persön- 
lichkeit des Menschen Wechselbegriffe; und die Anlage auf dem 
Gebiet der Persönlichkeit muss in etwas anderm gesucht werden.*‘) 

Ist nun zwar mit der Idee des Gesetzes und der Achtung 
davor die Freiheit (Persönlichkeit) eo ipso gegeben, so ist aber 
noch nicht damit gegeben, dass diese Achtung vorm Gesetz für 


1) Kant setzt seine Definition der „Persönlichkeit“ aus der Kr. d. 
pr. V. 105 stillschweigend voraus: Persönlichkeit ist die „Freiheit und 
Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen: Natur“, dabei ist die 
Person „als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unter- 
worfen, sofern sie zugleich zur intelligiblen Welt gehört". 

2) „Menschheit“ — dies Wort wird im 18. Jahrh. vom Menschen 
gebraucht, „in Bezug auf sein allgemeines, ihn als Menschen kennzeichnen- 
des Wesen und Leben“ (Grimm, Deutsches Wörterbuch VI, 2077), es be- 
deutet also etwa Menschentum, Menschenwesen und entspricht den grie- 
chischen Bildungen auf orns. Dort sind auch zwei Belegstellen aus Kant 
beigebracht. Die bekannteste sonst ist die Stelle im Faust 4406: „Der 
Menschheit ganzer Jammer fasst mich an“ (cf. Hildebrand, Vom deutschen 
Sprachunterricht 1901, S. 229). Der Gegensatz von Mensch- und Tierheit 
bei Schiller (Künstler 184): „Jetzt fiel der Tierheit dumpfe Schranke 
Und Menschheit trat auf die entwölkte Stirn.“ In der Rel.i.d. Gr. findet 
sich das Wort (ausser im Abschnitt über die Anlagen) noch Reclam 28. 
32. 61. 67. 84*. 85°. 86 (2 mal‘, 151*; überall im qualitativen, nicht im 
quantitativen Sinne. 

8) Eine Betrachtung, die aufs Intelligible geht, nennt Kant intel- 
lektuell (40, Anm.), die aufs Sensible geht, heisst empirisch. Dies Stich- 
wort fehlt in Vorländers Register. 

4) Ostermeyer (15) dagegen findet, dass ein Unterschied zwischen 
Persönlichkeit und Anlage für die Persönlichkeit sich nicht feststellen 
lässt. Er wird, wie mir scheint, durch die philologische Missdeutung des 
Ausdrucks „Anlage für die Persönlichkeit“ irre geführt. Darüber siehe 
S. 821, Anm. 2, 


Kants Lehre vom radikalen Bösen. | 321 


sich hinreichende Triebfeder unserer Maxime wird. Die Fähigkeit 
also, das Gesetz als für. sich hinreichende Triebfeder der Willkür 
zu achten, ist etwas von der „Persönlichkeit“ Unterschiedenes und 
nichts eo ipso Gegebenes. Ist diese Fähigkeit — wie bewiesen — 
gleichwohl vorhanden, so muss sie daher als „Zusatz“ zur Per- 
sönlichkeit bezeichnet werden. Ind wir sind berechtigt, sie als 
Anlage zur Förderung!) der Persönlichkeit in Anspruch zu 
nehmen. 

Noch einmal: Anlage für die Persönlichkeit bedeutet nicht, 
dass der Mensch Anlage hat, eine Persönlichkeit zu werden?) (im 
Sinne des heutigen Schlagwortes). Vielmehr: jeder Mensch ist 
eo ipso Persönlichkeit, nämlich als moralisches, intelligibles Wesen. 
Als Persönlichkeit sind ihm bestimmte Aufgaben gestellt; diese 
sittlichen Aufgaben zu erfüllen, ist ihm eine wichtige Anlage ver- 
liehen, ohne die ihm die geforderte Leistung viel schwerer, wenn 
nicht gar unmöglich wäre — die Anlage nämlich, für die Achtung 
des moralischen Gesetzes als für sich hinreichender Triebfeder 
empfänglich zu sein. Sie ist selbst übrigens noch nicht moralisch 
bestimmt, ermöglicht dem Menschen aber die Erwerbung eines 
sittlich-guten Charakters. 

b) Aber nicht bloss als persönlich-moralisches Wesen hat der 
Mensch die Aufgabe sich auszubilden, sondern auch die Kräfte 
der Vernunft, die er als Mensch, und die Kräfte des physischen 
Lebens, die er als animalisches Wesen hat, soll er zur Vollendung 
entwickeln. Er muss also auch auf diesen — nicht moralischen 
— Gebieten mit entsprechenden Anlagen ausgerüstet sein. 

Am einfachsten sind die Anlagen, die der Mensch als Tier 
hat, zu bestimmen. — Zur Ausbildung des animalischen Lebens 
gehört eine Anlage, die sich das zum Ziel setzt oder doch unbe- 
wusst auf dies Ziel losstrebt: Das ist die physische, bloss mecha- 
nische (instinktive) Selbstliebe. 

Sie äussert sich in dreifacher Richtung: das Leben sich 
selbst zu erhalten, es auf die Nachkommen fortzupflanzen und 
endlich durch Gemeinschaft mit anderen Wesen seinesgleichen es 


1) „Zum Behuf* der Persönlichkeit bedeutet offenbar zur Förderung, 
cf. Grimm, Wörterbuch I, 1843. 

9) So scheint es Ostermeyer zu fassen. Doch bedeutet „Anlage für 
die Persönlichkeit“ bei Kant nicht „Anlage zur Persönlichkeit“, sondern 
etwa: „Anlage für die Ausbildung der Persönlichkeit“, „Anlage auf 
dem Gebiet der Persönlichkeit“. 


322 G. Fittbogen, 


gewissermassen zu steigern. Diese Anlage und diese Triebe, die 
der Mensch mit den Tieren gemein hat, fallen als Naturgaben 
unter kein moralisches Urteil. 

Doch können sie zum Sittlichen in Beziehung treten. Auf 
welche Weise das geschieht, lässt sich, wenn Kant es auch nicht 
ausdrücklich erläutert, aus seinen Worten entnehmen. Denn ihr 
Verhältnis zum Bösen deutet er an. Indem er nämlich der land- 
läufigen Meinung entgegentritt, die in diesen sinnlichen Anlagen 
den Ursprung des moralisch Bösen zu suchen gewohnt ist, be- 
hauptet er dagegen: die Laster entspriessen nicht von selbst aus 
diesen Trieben als ihrer Wurzel (dann wären sie ja Naturprodukt), 
sie werden darauf „aufgepfropft“. Und zwar auf jeden Teil ein 
entsprechendes Laster „der Rohigkeit der Natur“, deren jedes 
sich bis zur höchsten Abweichung vom Naturzweck, d. i. zum 
„viehischen Laster“ der Völlerei, der Wollust oder der wilden 
Gesetzlosigkeit entwickeln kann. | 

Was meint Kant mit diesem „Aufpfropfen“? Das aus der 
Gärtnersprache genommene, doch ins Schlechte gewandte Bild 
zeigt es deutlich: ein Naturstamm wird durch Einfügung eines 
Reises verunedelt. Die sittlichen Triebe und die physische Selbst- 
liebe sind weder gut noch böse. Sonst müssten ja die Tiere, 
weil sie von diesen Trieben geleitet werden, lasterhaft sein. Aber 
gerade, weil bei ihnen diese Triebe unangefochten allein- 
herrschend sind, fallen sie überhaupt unter kein sittliches Urteil. 
Gutes oder Böses folgt nicht aus den Trieben, sondern erst aus 
ihrer Unterordnung oder ihrem Widerspruch gegen die höheren, 
sittlichen Zwecke der Vernunft. Und die Schuld daran trägt 
nicht — um gleich ganz deutlich zu sein — die Sinnlichkeit, 
sondern die Vernunft. 

Folgt nun hieraus nicht auch, dass die Tugenden diesen 
Trieben „aufgepropft“ sein müssen, indem der Naturstamm durch 
Einfügung eines Reises veredelt wird? Kant zieht diese ver- 
lockend scheinende Konsequenz nicht. Ich denke, aus folgenden 
Gründen: er meinte, der Naturzweck (den er hier einführt) stehe 
im letzten Grunde in Einklang mit dem sittlichen Zweck. Und 
zugleich hatte er so eine völlige Gleichberechtigung des Guten 
und Bösen vermieden; denn ihm kam alles auf die höhere Be- 
rechtigung des Guten an. 

Endlich der Mensch als vernünftiges (doch noch nicht mora- 
lisches) Wesen. Die Unterscheidung des vernünftigen Wesens 


| Kants Lehre vom radikalen Bösen. 323 ' 


vom moralischen, die Kant (in der Anmerkung) eingehend recht- 
fertigt, ist durchaus begründet. Nur der Name, den er im Gegen- 
satz zur „Tierheit“ wählt, ist nicht sonderlich glücklich geprägt: 
„Menschheit (= Menschentum):) unter Ausschluss des Wichtigsten 
am Menschen, der Moralität!®) 

Die Anlage, die den Menschen befähigt, seine Aufgaben auf 
diesem Gebiete zu erfüllen, ist auch noch die Selbstliebe; aber 
jetzt nicht mehr die mechanische, sondern die vergleichende:*) 
der Mensch beurteilt sich nur in Vergleichung mit anderen als 
glücklich oder unglücklich. Daher ergiebt sich der den sinnlichen 
Trieben entsprechende geistige Trieb, „sich in der Meinung an- 
derer einen Wert zu verschaffen“. Zunächst gebt dies Streben 
mur auf Gleichheit: „keinem über sich Überlegenheit zu ver- 
statten, mit einer beständigen Besorgnis, dass andere darnach 
streben möchten.“ 

Auch hier ist das Verhältnis zum Sittlichen ebenso wie auf 
dem Gebiet der Tierheit. Die „Laster der Kultur“ entspriessen 
aus der „Neigung, sich in der Meinung anderer einen Wert zu 
verschaffen“, nicht von selbst als einer natürlichen Wurzel. Wohl 
bringt diese Neigung lebhaften Wetteifer.‘) Aber die Natur wollte 
die Idee dieses Wetteifers, der aus der vergleichenden Selbstliebe 
entspringend doch die Wechselliebe nicht ausschliesst, nur „als 
Triebfeder zur Kultur brauchen“. Dass dann die Wechselliebe 
verletzt wird, liegt nicht am Wetteifer, also nicht an der Anlage, 





4) Über „Menschheit“ siehe S. 320, Anm. 2. 

%) Aber welchen Terminus hätte Kant prägen sollen? Am natür- 
lichsten ergiebt sich die Stufenleiter: Tierheit, Menschheit, Göttlichkeit 
(resp. Gottheit). Aber dass Kant diesen letzten Ausdruck, durch den der 
Sinn von „Menschheit“ wenigstens etwas besser beleuchtet und sicher- 
gestellt würde, auf den Menschen nicht anwenden konnte und wollte, 
ist klar. 

#) Hier ist der Punkt, an dem Kants ethischer Individualismus über- 
wunden werden kann und auch von ihm selbst schon z. T. überwunden 
ist. Im Anfang des 3. Stücks (S. 96, 97) erklärt er die Macht des Bösen 
aus der Verbindung der Menschen und fordert zur Gegenwirkung eine 
entsprechende Vereinigung der Menschen unter dem guten Prinzip. Also: 
die Kraft des moralisch Guten und Bösen wächst durch die Gemeinschaft. 
Damit ist das ethische Individuum aus seiner Isoliertheit gelöst. — Üb- 
rigens wird doch wohl bei jeder Betrachtung das Individuelle die Grund- 
lage bilden müssen, der Zusammenhang mit der Gesamtheit das Sekundäre. 

4) Auch „Eifersucht“ und „Nebenbuhlerei“ gelten hier als vox 
media, 


324 G, Fittbogen, 


sondern das hat andere Griinde. Die in Verbindung mit der An- 
lage auftretenden Laster gehören also nicht wachstümlich zu ihr, 
sondern sind „aufgepfropft“. Sie bedeuten eine Verletzung auch 
des Naturzweckes. Da die Tugend umgekehrt den Naturzweck 
nicht verletzt, sondern ihn intakt lässt, kann auch hier nicht ge- 
sagt werden, dass die Tugend der Anlage aufgepfropft sei. 
Tugend und Natur sind in dieser Hinsicht wahlverwandt. 

3. Inwiefern sind das alles nun Anlagen zum Guten? Zu- 
erst negativ:!) denn sie widerstreiten nicht dem moralischen Ge- 
setz. Dies ist nach dem eben Gesagten für die Anlagen auf 
nichtmoralischem Gebiet ebenso deutlich, wie für die auf mora- 
lischem Gebiet selbstverständlich. 

Aber auch positiv sollen sie die Befolgung des Guten fördern. 
Und dies ist denn doch für die Anlagen auf nicht-moralischem 
Gebiet keineswegs selbstverständlich. Kant erwähnt hier auch 
mit keiner Silbe, wie er sich diese positive Förderung des Guten 
denkt. Er hätte es tun sollen. Denn wenn er auch damit recht 
hat, diese nicht-sittlichen Anlagen nicht für die Quellen des Bösen 
zu halten, so musste er doch seine gegenteilige Meinung, dass 
diese Anlagen das sittlich Gute nicht bloss nicht hindern, sondern 
sogar fördern (NB. nicht: hervorrufen), zum mindesten begründen. 
Er hat es nur ganz gelegentlich getan.?) In anderem Zusammen- 
hange sagt er einmal, dass die natürlichen Neigungen „zu dem, 
was die moralische Gesinnung in ihrer Kraft beweisen kann, zur 
Tugend die Gelegenheit geben“ (35). Die positive Förderung des 
Guten also besteht darin, dass die natürlichen Neigungen dem 
sittlichen Willen Widerstände bieten (d. h. passiv) und ihm so 
Aufgaben stellen, die zur Anspannung der sittlichen Kräfte nötigen 
und so die Kraftleistung steigern. — An dieser Stelle (S. 27) hat 
Kant eine solche Andeutung unterlassen. 

Damit ist der Kreis der Anlagen zum Guten umschrieben ; 
und es erhebt sich die Frage: Giebt es auch Anlagen zum Bösen? 


1) Kant erlaubt sich hier wieder eine unschädliche Ungenauigkeit. 
Statt „alle diese Anlagen sind nicht allein negativ gut“ könnte es kor- 
rekter heissen: „sie sind nicht allein negativ Anlagen zum Guten“, 
Sofort übrigens drückt sich Kant wieder korrekt aus (in der Entgegen- 
setzung: positiv Anlagen zum Guten). 

®) Von Ostermeyer ist das übersehen. 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 325 


Ill. Der Hang zum Bösen in der menschlichen Natur. 

(Der Mensch als Glied der intelligiblen Welt.) 

Giebt es auch Anlagen zum Bösen? 

1. Die Antwort muss lauten: In dem Ideal hat das Böse 
keine Stätte. Es kann also aus der menschlichen Natur wegge- 
dacht werden; es kann also nicht als ursprünglich, ja überhaupt 
nicht als Anlage vorgestellt werden. Eine Anlage zum Bösen ist 
ein Unding. 

Gegen diese glatte Antwort lässt sich nichts einwenden; 
aber mit ihr wird die Sache erst verwickelt, eine Lösung fast 
aussichtslos. Denn nur um so lauter und dringlicher macht sich 
die Frage geltend: Wie kommt bei lauter Anlagen zum Guten 
trotzdem das Böse in den Menschen? — Denn dessen Vorhanden- 
sein lässt sich unmöglich leugnen; es ist eine zu reale Macht. 
Und geht man nicht vom Ideal, sondern von der Erfahrung aus 
und den Tatsachen, trifft man das Böse, wie man annehmen 
darf,!) in allen Menschen an, — wird man dann nicht mit Not- 
-wendigkeit darauf geführt, die eben abgelehnte Anlage zum Bösen 
dennoch zu fordern? 

Was ist in dieser Schwierigkeit zu tun? Zunächst: die 
Schwierigkeit selbst als solche zuzugeben. Üblicher wäre es wohl, 
die Richtigkeit einer der beiden Betrachtungsweisen anzuzweifeln, 
um so die Schwierigkeit zu umgehen; nicht so Kant. Seine Eigenart 
ist es gerade, den Dingen direkt zu Leibe zu gehen. So lässt 
er auch hier beiden Betrachtungsweisen ihr Recht; sie besagen: 

1. eine Anlage zum Bösen giebt es nicht; 

2. das Böse ist tatsächlich im Menschen vorhanden (und zwar 
in allen). Oder kürzer: Das Böse ist zufällig und doch allgemein. 
Muss dies zugegeben werden (und dagegen hilft kein Sträuben), 
so muss eben eine Fähigkeit zu Grunde liegen, die beides — die 
Allgemeinheit und Zufälligkeit — erklären kann. Die gilt es zu 
suchen. — Eine Neigung zum Bösen also ist, wenn auch zufällig, 
so doch unleugbar vorhanden. Also muss irgend ein Grund im 
Subjekt liegen, der sie möglich macht. Für einen solchen „sub- 
jektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung, sofern sie für die 
Menschheit überhaupt zufällig ist“, prägt Kant den Terminus 
„Hang“. Wie die Anlage, ist er mit der Geburt gegeben. Wichtiger 


1) Die Allgemeinheit des Bösen en bei Kant im Grunde als 
anerkanntes_Zugeständnis. 





326 G. Fittbogen, 


aber noch ist der Unterschied des Hanges von der Anlage: er ist 
nicht im eigentlichen Sinne „angeboren“; im Gegensatz zu dieser 
Naturgabe wird er als durch Freiheit erworben vorgestellt. 

Zu dieser Bestimmung, das sehen wir, ist Kant nicht aus 
Willkür oder aus purer Freude an verschnörkelter Systematik ge- 
kommen, sondern unter dem Notzwang des Dilemmas.!) 

Hieraus erklärt es sich von selbst, weshalb Kant den Ge- 
danken eines Hanges zum Guten nur leicht streift — den konnte 
er hier nicht verwerten — und sich sofort dem Hang zum Bösen 
zuwendet. Denn nur dem Bösen zuliebe ist dieser Terminus ge- 
schaffen, und darauf konzentriert sich Kants ganzes Interesse. 

Worin besteht nun der Hang zum Bösen? und wie lässt er 
sich bestimmen? — Das Böse besteht in der Abweichung vom 
Gesetz der Maxime nach. Der Hang zum Bösen?) muss demnach 
in dem Grund bestehen, der dem Einzelsubjekt diese Abweichung 
ermöglicht. Die nähere Beschreibung dieses „Grundes“ und seine 
Unterarten ergeben sich natürlich nicht aus dem Ideal, auch nicht 
aus der Erfahrung, sondern aus der begrifflichen Konstruktion. 
Denn dreifacher Art, wie die Abweichung vom Gesetz selbst, wird 
auch der Grund sein müssen, der beim Einzelsubjekt die Ab- 
weichung seiner Maximen vom moralischen Gesetz ermöglicht; 


1) Diesen Ursprung muss man beachten. List man die Definition 
des Hanges und namentlich seines Unterschiedes von der Anlage aus dem 
Zusammenhang, so kann es scheinen, als habe Kant nie eine willkürlichere 
Bestimmung aufgestellt, während er gerade umgekehrt nirgends so ge- 
bunden war wie hier. Daher das Geschraubte des Satzes, das von jeher 
aufgefallen ist: „Er (der Hang) unterscheidet sich darin von einer Anlage, 
dass er zwar angeboren sein kann, aber doch nicht als solcher vorgestellt 
werden darf: sondern auch (wenn er gut ist) als erworben, oder (wenn 
er böse ist) als von den Menschen selbst sich zugezogen gedacht 
werden kann.“ — Übrigens der Begriff „Hang“ steht hier an der Spitze 
der Erörterung. Kant hat aber wohl erst den „Hang zum Bösen“ ge- 
funden und daraus dann diesen Begriff abgeleitet. 

%) Der Satz vom Hange zum eigentlich Bösen ist ungenau. Rein 
grammatisch ergiebt sich nach Ausscheidung der Nebensätze dies Gerippe: 
Das moralisch Böse (zu dem einHang im Menschen existiert) muss in dem 
subjektiven Grunde der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom 
moralischen Gesetze bestehen, und es (das Böse) wird . . . ein natürlicher 
Hang ... genannt werden, Dem Sinne nach aber scheint der Hang zum 
Bösen Subjekt sein zu müssen. Also: Der Hang zum Bösen besteht in 
dem subjektiven Grunde und er wird natürlicher Hang genannt, Diese 
Deutung habe ich oben verwertet. Die entsprechende Textveränderung 
welcher statt welches) will ich übrigens nicht vorschlagen. 


Kants Lehre vom radikalen Bösen. =~ 327 


Kant führt dafür die Bezeichnungen Gebrechlichkeit, Unlauterkeit, 

2a) Erstens: Der Mensch nimmt die gesetzmässige Triebfeder 
(mach Form und Inhalt) in seine Maxime auf; er ist aber zu 
schwach, sie zu befolgen, Zweifellos: der Grund dieser Erscheinung 
kann nichts andres sein als die Schwäche und Gebrechlichkeit des 
menschlichen Herzens. Darin hat Kant Recht. Aber auch in der 
Beurteilung dieser Schwäche? 

Im eigentlichen Sinn böse ist (nach ai Erörterung in der 
Einleitung) nur die Maxime, die Gesinnung; nicht die Tat. Hier 
liegt der Fall nun offenbar so, dass die Handlung zwar gesetz- 
widrig ist, die Maxime aber gesetzmässig. Daher müsste, glaube 
ieh, Kants Urteil so lauten: Wenn auch eine gesetzwidrige Tat 
vorliegt, so ist der Mensch der vorhandenen gesetzmässigen Maxime 
wegen dennoch gut. Ein Hang zum Bösen kann hier nicht an- 
genommen werden; denn die gesetzwidrige Tat kam ja trotz der 
gesetzmässigen Gesinnung, trotz des „Hanges zum Guten“ zu- 
stande. — Hier tritt deutlich die grosse Schwierigkeit zu Tage, 
auf die schon oben hingewiesen wurde: der Zusammenhang zwischen 
der intelligiblen und der sensiblen moralischen Welt ist unsicher; 
beide unterliegen verschiedenen Massstäben. Kant hat die Ver- 
sehiedenheit der Massstäbe dazu verwertet, um mit allem Ernst 
die Gesinnung als das allein Wertvolle zu proklamieren und dem 
bloss legalen Menschen die stete Mahnung vorzuhalten, dass der 
Mensch bei lauter empirisch-guten Taten dennoch intelligibel-böse 
sein kann. Mit Recht. Aber aus dieser Verschiedenheit der 
Massstäbe folgt doch auch das umgekehrte Urteil: bei empirisch- 
bösen Taten!) kann der Mensch dennoch intelligibel-gut sein. Und 
dies Urteil ist in dem vorliegenden Fall anzuwenden; wo bei 
wirklich gesetzmässiger Maxime doch eine gesetzwidrige Tat 
herauskommt, ist der Mensch (der Gesinnung nach) gut. Diese 
Milde ist die notwendige Ergänzung zu jener Strenge. Es liegt 
in Kants Charakter und es verleiht seiner Moral die eigenartige 
Herbigkeit, dass er sich scheut, diese — dem Missbrauch leicht 


3) Man muss sich daran erinnern, dass der Mensch, rein empirisch 
betrachtet, gut und böse zugleich sein kann und es auch tatsächlich ist. 
Damit ist über den intelligiblen Charakter nichts ausgesagt. Das scheint 
Kant hier ausser Acht zu lassen. Während nur die bewusste böse Hand- 
lung wirklich „böse“ (intelligibel) ist, scheint er das Urteil hier auf jede 
empirisch-böse Handlung auszudehnen. 





328 G. Fittbogen, 


ausgesetzte — Konsequenz!) zu ziehen. Es ist derselbe Missbrauch, 
dem auch die christliche Ethik leicht unterliegt, wenn sie durch 
das alleinige Betonen der Gesinnung den Wert der sichtbaren 
Werke auf Null herunterdrückt. Aber Missbrauch hebt den Ge- 
brauch nicht auf: die Möglichkeit der sittlichen Besserung gründet 
sich auf diese Erkenntniss (wie im V. Abschnitt Kant selbst es 
ausführt). 

Kant kommt über diesen Anstoss hinweg mit dem Satz, der 
die Klage des Paulus über die verhängnisvolle Schwäche des 
Menschen in die Sprache der Kantischen Philosophie übersetzt: 
„Ich nehme das Gute (das Gesetz) in die Maxime meiner Willkür 
auf; aber dieses, welches objektiv in der Idee (in thesi) eine un- 
überwindliche Triebfeder ist, ist subjektiv (in hypothesi), wenn die 
Maxime befolgt werden soll, die schwächere (in Vergleichung mit 
der Neigung).“ Gewiss, so ist es. Aber wie kommt’s, dass beim 
Übergang von der Maxime zur Tat schliesslich die Tat der Maxime 
nicht entspricht? Gerade bei Kant bleibt das unverständlich. Er- 
scheint es doch immer so, als brauche die Willkür nur die richtige 
Triebfeder in ihre Maxime aufzunehmen, dann ergebe sich das 
Weitere von selbst. Hier aber liegt der Schaden nicht an einer 
fehlerhaften Maxime, sondern daran, dass die Willkür ihre Maxime 
nicht zur Geltung bringen kann; sie muss einer ausser ihr liegenden 
Macht weichen. Damit ist die spröde Allmacht der Willkür arg 
beeinträchtigt. 

Sie liesse sich nur retten — und das mag Kant vorgeschwebt 
haben —, wenn man annehmen könnte, dass bei dem beschriebenen 
Fall die Willkür gewissermassen im letzten Augenblick ihre Maxime 
ändert. Dann aber wäre dieser Fall nicht mehr verschieden vom 
dritten: die Willkür ordnet die Triebfeder aus dem Gesetz andern 
Triebfedern, nämlich aus den Neigungen, unter. 

Wie man also die Sache auch ansieht, so viel jedenfalls steht 
fest: die Schwäche erklärt Kant mit Unrecht für einen Hang zum 
Bösen und selbst für böse. Denn der Grund der empirischen Tat 


') Diese Konsequenz ist nicht willkürlich, sondern sie folgt mit Not- 
wendigkeit aus Kants Grundsatz. Paulsen z. B. formuliert ihn so: „Gut 
in wegen seiner formalen Bestimmtheit 

dessen willen, was er will oder was 

ist aber das Resultat, das beim Handeln 

t auch ein gesetzwidriges Resultat die 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 329 


liegt nicht in der Gesinnung, sondern sie kommt geradezu im 
Widerspruch zur Gesinnung zustande. 

Die zweite Form der Abweichung vom Gesetz ist die, dass 
pflichtmässige Handlungen nicht rein aus Pflicht getan werden. 
Den Grund für diese Art der Gesetzwidrigkeit leitet Kant einwand- 
frei ab: die Willkür nimmt das Gesetz wohl dem Inhalte (dem 
Objekt) nach als alleinige Triebfeder in ihre Maxime auf, aber 
nicht der Form nach: sie bedarf noch anderer Triebfedern, die 
nieht im Gesetz liegen, um die Forderung des Gesetzes zu erfüllen, 
‘Ein soleher Mensch aber ist der Maxime nach unlauter. Und der 
Grunde liegende Hang zur Unlauterkeit ist tatsächlich ein ' 
Hang zum Bösen. 

Drittens: am ärgsten ist die Abweichung vom Gesetz, wenn 
die Willkür das Gesetz weder dem Inhalt noch der Form nach als 
alleinige Triebfeder in die Maxime aufnimmt. Völlig ausschalten 
kann der Mensch diese moralische Triebfeder nicht, weil — wie 
aus dem Abschnitt über die Anlagen noch erinnerlich — das 
"moralische Gesetz und das moralische Gefühl zum Wesensbestand 
jedes Menschen gehören; also liegt das Böse in der Umkehrung!) 
der Ordnung der Triebfedern, nicht in dem Alleinvorhanden-sein 
der bösen Triebfedern. Dieser Hang wird mit Recht als Hang 
zum Bösen beurteilt.?) 

b) Soweit der Hang zum Bösen im Einzelsubjekt. Wie steht’s 
nun mit dem Gattungscharakter? Kant geht darüber mit einem 
einzigen Satz hinweg: „Man wird bemerken: dass der Hang zum 
Bösen hier am Menschen, auch dem besten (den Handlungen nach), 
aufgestellt wird, welches auch geschehen muss, wenn die Allgemein- 
heit des Hanges zum Bösen unter Menschen, oder, welches hier 
dasselbe bedeutet, dass er mit der menschlichen Natur verwebt sei, 
bewiesen werden soll“ (30). Das kann doch nur heissen: der Hang 


') Tatsächlich ist hiermit die Erklärung des Wesens des Bösen, die 
erst im nächsten Abschnitt (S. 37) erfolgt, vorweggenommen. 

®) Gleich hier erläutert Kant die Bedeutung, die der am intelligiblen 
Menschen aufgestellte Hang zum Bösen für den wirklichen Menschen hat, 
der beides ist: sensibles und intelligibles Wesen. Nämlich S. 29 die letzten 
4 Zeilen und S.80, 2. Abs. Dieselbe Betrachtung kehrt (S. 37) im nächsten 
Abschnitt wieder und steht dort an der richtigen Stelle. Man lernt daraus 
zweierlei: erstens, wie schwierig es ist, den Menschen ganz isoliert als 
intelligibles Wesen zu betruchten; zweitens, wie unendlich viel Kant 
daran liegt, den sensiblen Menschen, namentlich den sensibel-guten (d. i, 
den legalen) dem Massstab der reinen Vernunft zu unterwerfen, 





330 G, Fittbogen, 


zum Bösen ist im Vorhergehenden so bestimmt, dass nichts hindert, 
ihn auch im besten Menschen anzunehmen, Er wird, um die 
Allgemeinheit zu erklären, angenommen, nicht eigentlich bewiesen, 

Der Hang zum Bösen ist also von Kant konstruiert, um vor 
allem die Allgemeinheit des Bösen zu begründen. Daher kommt 
es, dass er — wie in der Erörterung über die Gebrechlichkeit 
gezeigt ist — nicht rein im Intelligibeln sich hält, sondern noch 
— seinem Ursprung zufolge, seiner Bestimmung zuwider — aufs 
Sensible schielt. 1 

c) Aber nun die wichtigste Frage. Die Anlagen zum Guten 
waren selbst moralisch nicht bestimmt, ein Instrument, das die Willkür 
seinem Zweck entsprechend oder zuwider gebrauchen kann. Gilt 
das auch vom Hang zum Bösen? oder ist er moralisch bestimmt? 

Da das Böse aus Freiheit entspringt, so kommt der Mensch 
hier nur als moralisch-freies, nicht als physisch-unfreies Wesen in 
Betracht. Danach muss auch der Charakter des Hanges bestimmt 
werden. Da nun ein physischer Hang zu irgend einem Gebrauch 
der Freiheit ein Widerspruch wäre, so kann ein Hang, also auch 
der Hang zum Bösen, „nur dem moralischen Vermögen der Willkür 
ankleben“ (31), er muss also selbst moralisch bestimmt sein, 

Hier erhebt sich nun ein neues Hindernis, Böse im sittlichen 
Sinn, zurechnungsfähig ist nur die eigne Tat. Der Hang aber, 
scheint es, ist selbst nicht Tat, vielmehr eine subjektive Bestimmung 
der Willkür, die jeder Tat vorhergeht. Und es scheint also, als 
müsse sich der Begriff „Hang zum Bösen“ durch Selbstwiderspruch 
(moralisch böse, aber nicht Tat) auflösen. Er müsste es auch, 
wenn es nicht noch einen letzten Ausweg gäbe; den Ausdruck Tat 
in doppeltem Sinne?) aufzufassen. Im landläufigen Sinne nämlich 


1) Besonders deutlich zeigt sich das Schielen aufs Sensible, wenn 
die im Text gegebene Interpunktion richtig ist, nach der „(den Hand- 
lungen nach)“ durch Komma von „dem besten“ geschieden ist, Der Sinn 
wäre dann: der Hang zum Bösen wird den Handlungen nach aufgestellt, 
d.h. er zeigt und verrät sich in den Handlungen, — während es doch ge- 
rade darauf ankommt, den Hang nicht in den Handlungen, sondern in der 
Gesinnung zu konstatieren. So druckt Kehrbach nach Anleitung der 
1. Ausgabe. Anders Rosenkranz-Schubert X, 33 und Vorländer 30: „auch 
dem besten (den Handlungen nach), aufgestellt wird.“ — Übrigens ändert 
die verschiedene Bezie streitigen Worte kaum etwas an dem Sinn. 

®) Vorländer ni ütige Textänderung vor; statt „in 
zweierlei verschiedener Bedeutung“ druckt er „in zweierlei verschiedenen 
Bedeutungen“, _ ch? shit 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 331 


bedeutet „Tat“ denjenigen Gebrauch der Freiheit, da die Handlungen 
ihrer Maxime nach der (gesetzentsprechenden oder gesetzwidrigen) 
Maxime gemäss ausgeübt werden. Kant will den Ausdruck aber 
auch yon der sensiblen Welt auf die intelligible übertragen (wie 
früher „Natur“ und „angeboren“) und ihn verstehen „von dem- 
jenigen Gebrauch der Freiheit, wodurch die oberste Maxime (dem 
Gesetz gemäss oder zuwider) in die Willkür aufgenommen“ wird. 
Und in dieser zweiten Bedeutung wird er auf den Hang angewandt, 
Der Hang zum Bösen also ist — und nun führt Kant jenen 
berüchtigten Terminus ein — er ist „intelligibele Tat“; von der 
sensiblen Tat dadurch unterschieden, dass sie nicht empirisch, in 
der Zeit ist, sondern bloss „durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung 
erkennbar“. Während in der sensiblen Welt der Hang etwas 
Zuständliches und die Tat etwas Einmaliges bezeichnen, wird es 
durch das Aufhören jeder Zeitbestimmung im Intelligibeln möglich, 
Hang und Tat gleichzusetzen: der Hang zum Bösen ist „Tat“, 
nieht durch „Tat“ erworben. 

Damit ist der Kern der Erörterung abgeschlossen. Kant fügt 
noch eine Rechtfertigung seines Sprachgebrauchs bei und hat schon 
eine wichtige Folgerung fürs sensibel Böse eingeschaltet. 

Zuerst der Sprachgebrauch. Wie kann man eine „Tat“ einen 
blossen Hang nennen? Kant sagt, er nennt sie so „vornehmlich 
in Vergleichung mit der zweiten“, der sensibeln Tat; das heisst 
‚offenbar, weil sie weniger sinnenfällig ist. 

Wichtiger ist das andere: Kant hatte oben den Hang als 
zum Gattungscharakter gehörig, als „angeboren“ aufgestellt. Lässt 
sich das nun auch von einer „Tat“ sagen? Gewiss; wenn man 
sich nur an den verabredeten Sinn dieses Ausdrucks hält. Obwohl 
die intelligible Tat selbst verschuldet ist, kann sie doch passend 
yangeboren* genannt werden, weil sie dem im eigentlichen Sinne 
Angeborenen in zwei Stücken gleicht: sie!) kann nicht ausgerottet 


1) Wie schwierig es ist, sich von diesen Vorgängen, die bei Aus- 
schluss aller Zeitbedingungen im Intelligibeln doch keine eigentlichen 
Vorgänge sind, eine Vorstellung zu machen, wie unwillkürlich die Vorstellung, 
die mit den betreffenden Ausdrücken auf sensihlem Gebiet verbunden ist, 
auch fürs Intelligible nachwirkt, zeigt sich bei Kant selbst, nämlich in 
‚einer leichten stilistischen Unebenheit. Es widerstrebte ihm vermutlich, 
zu sagen, dass eine Tat angeboren sei, dass eine Tat nicht ausgerottet 
werden könne; so half er sich mit einem Subjektswechsel: die erste (Tat) 
heisst... . ein blosser Hang und angeboren, weil er (grammatisch richtig 
wäre; sie) nicht ausgerottet werden kann, 





332 G. Fittbogen, 


werden (darüber später 53) und man kann von ihr keinen Grund 
angeben. So wenig wir sagen können, warum der Mensch z. B. 
fünf Finger hat, so wenig können wir sagen, „warum in uns das 
Bose gerade die oberste Maxime verderbt habe, obgleich dieses 
unsere eigene Tat ist“, 

Zugleich hat Kant, das rein Intelligible verlassend und der 
Erörterung des nächsten Abschnittes vorgreifend, den Zusammen- 
hang des Intelligibel-Bösen mit dem Sensibel-Bösen angedeutet. 
Der Satz lautet: Die intelligible Tat ist „der formale Grund aller 
gesetzwidrigen Tat im zweiten Sinne genommen, welche der Materie 
nach demselben (d. i. dem Gesetz, das im Vorhergehenden nicht 
genannt, ist, aber in „gesetzwidrig“ steckt) widerstreitet und Laster 
genannt wird“. Also: jede sensibel-böse Tat hat ihren Grund in 
der intelligibel-bösen Tat. Aber dieser lückenlose Zusammenhang 
zwischen sensibler und intelligibler Tat kann, wie schon berührt, 
nicht aufrecht erhalten werden; er kann nach Kants eigenen 
Voraussetzungen nur für die bewusst gesetzwidrige sensible Tat 
gelten. Kant kann ihn nur deswegen so scheinbar zwingend 
konstruieren, weil er den moralisch-bösen Hang zum Bösen weiter 
ausdehnt, als es nach seinen eignen Voraussetzungen angeht; weil 
er ihn auch da findet, wo die sensible Tat zwar gesetzwidrig, die 
Gesinnung aber gesetzmässig ist. 

3. Was hat nun Kant im Zusammenhang der Untersuchung 
damit gewonnen, dass er am Menschen diesen intelligibeln Hang 
zum Bösen aufstellt? — Der Form nach bietet dieser Abschnitt. 
lediglich das Pendant zum Vorhergehenden: er gewährt Übersicht 
über das, was beim Bösen den Anlagen zum Guten entspricht. 
Indem er so die Kenntnis der Anlagen und Fähigkeiten vermittelt, 
entwickelt er das Material, auf Grund dessen dann das Urteil, ob 
der Mensch, wie er wirklich ist, gut oder böse sei, zu fällen ist. 
— Der Sache nach aber leistet der Abschnitt viel mehr. Indem 
er nämlich einen „angeborenen“ Hang zum Bösen finden und ihn 
zugleich als moralisch böse beurteilen lehrt, bringt er die Ent- 
scheidung: „der Mensch ist böse“. Und dies Urteil ist um so ge- 
wichtiger, weil es den intelligibeln Menschen, das eigentliche Ob- 
jekt der moralischen Betrachtung, trifft. In der Tat: von dem 
„Verdammungsurteile der moralisch richtenden Vernunft ist der 
eigentliche Bewei diesem Abschnitt enthalten (40 Anm.). 
Daher sein eigen schwebender Charakter; in der Form 
Vorverhör, in der t 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 333 


Was bleibt noch zu tun übrig, nachdem die Entscheidung 
getroffen ist? Zweierlei: zu sehen, ob der Mensch, wie er wirk- 
lich ist, diesem Urteil entspricht; und zu fragen, ob und wie weit 
sich der Ursprung des Bösen ergründen lässt. Dem sind die 
beiden nächsten Abschnitte gewidmet (bei Kant III und IV). 


@ 


IV. Der Mensch ist von Natur böse. 


(Der Mensch als Glied beider Welten, der sensiblen 
und der intelligiblen.) 


Entspricht der Mensch, wie er wirklich ist und auf Erden 
erscheint, diesem Verdammungsurteil? 

Damit verlässt die Untersuchung den schwierigen und 
schwankenden Boden des Intelligiblen und steigt herab auf den 
festen Boden der realen Wirklichkeit. Sie beschäftigt sich nicht 
mehr mit der intelligibeln Tat, sondern zunächst allein mit der 
sensiblen.!) 

1. Der Zweck dieses Abschnittes ist also, zu beweisen, 
dass der empirische Mensch wirklich böse ist, wie es nach Auf- 
stellung des intelligibeln Hanges zum Bösen gefordert werden 
muss. Die Überschrift bringt diese These auf eine kurze Form. 
Und um jedes Missverständnis auszuschliessen, schickt Kant eine 
Erläuterung der These ihrem Inhalt nach voraus. Zweierlei näm- 
lich wird damit behauptet, und zwei Fehldeutungen können leicht 
daran anknüpfen. Nicht behauptet wird, 1. dass der Mensch nur 
Böses in sich habe, und zweitens, dass er notwendig böse sei. 
Vielmehr soll damit dies gesagt sein. Erstens: Der Mensch ist 
sich des moralischen Gesetzes durchaus bewusst, hat aber doch 
zugleich die — wenn auch nur gelegentliche — Abweichung 
von demselben in seine Maxime aufgenommen. Und zweitens: Er 


1) Dass dies der beabsichtigte Gedankenfortschritt ist, zeigt die 
Schlussanmerkung zu diesem (III.) Abschnitt (S. 40), die seinen Inhalt auf 
die Erfahrung beschränkt, im Gegensatz zum II. Abschnitt. Doch ist der 
Inhalt mit diesem Gegensatz von empirischer und intellektueller Betrachtung 
nicht erschöpfend gegeben; denn Abschnitt III giebt in seinem 2. Teil die 
Synthese des intelligibeln und sensiblen moralischen Menschen. Der Gang 
der Untersuchung ist also der: Der Mensch erstens als intelligibles, zweitens 
als sensibles, drittens als intelligibel-sensibles Wesen. 

Kantstudien XII, 22 


334 G. Fittbogen, 


kann nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders 
als böse beurteilt werden; d. h. man kann das Böse nur als sub- 
jektiv notwendig, nicht aber als objektiv notwendig in jedem 
Menschen voraussetzen. — Und wird diese Doppelthese bewiesen, 
dann sind also Zufälligkeit und Allgemeinheit des Bösen zugleich 
gegeben. Diese Kombination der sich sonst ausschliessenden 
Gegensätze muss dann veranlassen, nach einem tieferen Grunde zu 
fragen; denn sie ist nicht anders denkbar, als dass „der subjektive 
oberste Grund aller Maximen mit der Menschheit !) selbst, es sei, 
wodurch es wolle, verwebt und darin gleichsam gewurzelt“ ist. — 
Wegen dieser Einwurzelung können wir dann dies Böse „ein radi- 
kales Böses in der menschlichen Natur“ nennen, ohne übrigens 
dabei zu vergessen, dass es zugleich als angeboren und erworben 
gilt. — Der Inhalt der These ist damit beschrieben und zugleich 
der Weg angedeutet, den man zu ihrem Beweise einschlagen 
muss, Aber ist sie berechtigt? 

2. Wir müssen die Erfahrung befragen. Lehrt sie, dass 
der Mensch böse ist? Oder mit den Worten der Begriffsent- 
wiekelung: kann er nach dem, wie man ihn durch Erfahrung 
kennt, nicht anders beurteilt werden, als dass man annimmt, er 
habe, während er sich des moralischen Gesetzes bewusst ist, doch 
die gelegenheitliche Abweichung von demselben in seine Maxime 
aufgenommen? Das ist jetzt die Frage. Oder vielmehr: es ist 
leider keine Frage mehr. Die Erfahrung schreit zu laut, als dass 
ein förmlicher Beweis nötig wäre, Ein kurzer Überblick über die 
Tatsachen der Erfahrung genügt. 

Betrachten wir zuerst den Menschen im Naturstande! Er 
zeigt keine natürliche Gutartigkeit, wie man sie als Folge der 
Anlagen zum Guten erwarten sollte und wie gutmütig optimistische 
Philosophen aus ihrer Theorie heraus behaupten. Wir finden bei 
ihnen vielmehr „Auftritte von ungereizter Grausamkeit“, deren 
Bösartigkeit noch dadurch verstärkt wird, dass „kein Mensch den 
mindesten Vorteil davon hat“. Und wie bei den Wilden, so ist's 
doch schliesslich auch noch in der zivilisierten Welt: „man sieht 
an der Behaglichkeit, womit die Sieger ihre Grosstaten (des Zu- 
sammenhauens, Niederstossens ohne Verschonen und dergl.) preisen, 
das bloss ihre Überlegenheit und die Zerstörung, welche sie be- 


1) „Menschheit“ hat auch hier den oben festgelegten Sinn; efr. 8, 320, 
Anm, 2. 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 336 


wirken konnten, ohne einen andern Zweck, das sei, worauf sie 
sich eigentlich etwas zugute thun.“ 

Der Naturstand nämlich — geht aus diesem Zusatz von 1794 
hervor — wird durch den Übertritt in den gesitteten Zustand 
nicht aufgehoben, sondern er bleibt bestehen: gleichsam als erstes 
Stockwerk des Gebäudes, auf das nun der gesittete Zustand als 
zweites aufgesetzt wird. 

Was hier geschildert wurde, giebt sich deutlich zu erkennen, 
als zu den Lastern „der Rohigkeit der menschlichen Natur“ ge- 
hörig, die auf die Anlagen für die Tierheit aufgepfropft werden 
(vgl. oben S. 321f.); und zwar zu denen, die in der „wilden Ge- 
setzlosigkeit“ ihre höchste Stufe erreichen. Es wäre ein leichtes, 
entsprechende Beispiele für die beiden andern, in ihrer höchsten 
Vollendung viehischen Laster der Wollust und Völlerei zu sammeln, 
die auch beide im Naturstand nicht eigentlich wurzeln, aber doch 
üppig gedeihen, und beide in den gesitteten Zustand hinüber- 
genommen werden. 
| Und unter den Menschen im gesitteten Zustand, als ver- 
nünftigen Wesen, wiederholt sich dasselbe. Eine lange melan- 
cholische Litanei tönt uns entgegen: „von geheimer Falschheit, 
selbst bei der innigsten Freundschaft; von einem Hange, denjenigen 
zu hassen, dem man verbindlich ist; von einem herzlichen Wohl- 
wollen, welches doch die Bemerkung zulässt, es sei in dem Unglück 
unserer besten Freunde etwas, das uns nicht ganz missfällt; und 
von vielen andern unter dem Tugendschein noch verborgenen, 
geschweige derjenigen Laster, die ihrer garnicht hehl haben.“ 
Das sind deutlich „Laster der Kultur“, die auf die Anlage für die 
Menschheit aufgepfropft werden: die kränkendsten unter allen und 
so mannigfaltig und fast grenzenlos, dass Kant bei ihnen auf eine 
Klassifikation verzichtet hat. 

Aus der Kombination dieser beiden Zustände ergiebt sich 
ein dritter: wenn nämlich Gemeinschaften, von denen jede für 
sich in gesittetem Zustand lebt, gegeneinander im Verhältnis des 
rohen Naturstandes stehen. Kant nennt ihn den äusseren Völker- 
zustand. Diese Gemeinschaften, die Staaten, haben es sich auch 
fest in den Kopf gesetzt, nie aus diesem Zustand der Kriegs- 
verfassung herauszugehen; und ihre Grundsätze sind derart, dass 
noch kein Philosoph sie mit der Moral hat in Einklang bringen 
können. Das Ärgste aber ist, dass er auch keine bessern Grund- 
sätze vorschlagen kann. So wird es erklärlich, dass dieser moral- 

22° 


336 G. Fittbogen, 


widrige Zustand als normal und gut empfunden wird.!) Und so 
kann man darüber klagen, aber nicht eigentlich sich wundern, 
„dass der philosophische Chiliasmus, der auf den Zustand eines 
ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten Friedens 
hofft, ebenso wie der theologische, der auf des ganzen Menschen- 
geschlechts vollendete moralische Besserung harret, als Schwärmerei 
allgemein verlacht wird“, Immer aber bleibt es ein besonders 
schlimmes Zeichen für die Unmoralität der Menschen, dass sie 
diesen unmoralischen Zustand garnicht als unmoralisch und über- 
windenswert ansehen. 

Die Erfahrung lehrt also: auf der ganzen Linie entspricht 
das sensible Handeln des Menschen nicht dem Sollen, und es be- 
steht ein „in der Zeit wirklicher Widerstreit der menschlichen 
Willkür gegen das Gesetz“ (nach S. 36). Die Allgemeinheit des 
Bösen als sensibler Tat steht fest. 

Worin hat es seinen Grund? Ehe die treffende Antwort 
gegeben werden kann, müssen die beiden einfachsten und üblichsten 
Antworten geprüft und verworfen werden. — So üblich es ist, 
den Grund des Bösen (als Tat) „in der Sinnlichkeit und den daraus 
entspringenden natürlichen Neigungen“ zu suchen, so leuchtet es 
doch nach allem bisher Entwickelten sofort ein, dass es verkehrt 
ist. Denn das Dasein der Sinnlichkeit hat der Mensch nicht zu 
verantworten; und durch Ausschaltung der „Triebfedern, die aus 
der Freiheit entspringen können“, würde der Mensch zu einem 
bloss tierischen Wesen herabgedrückt. Die andere Deutung fällt 
ins entgegengesetzte Extrem, wenn sie den Grund des Bösen in 
eine absolute „Verderbnis der moralisch gesetzgebenden Vernunft 
setzt“. Denn die Aufhebung des moralischen Charakters, die damit 
wohl nicht beabsichtigt, aber tatsächlich vollzogen wäre, würde 
den Menschen in ein rein teuflisches Wesen verwandeln. 

Der wahre Grund des Bösen muss vielmehr in der mora- 
lischen Vernunft selbst liegen, doch so, dass sie wohl getrübt, 
aber nicht gänzlich ausgelöscht erscheint. Bei dem Suchen nun 
nach einem dem moralischen Gebiete selbst angehörenden Grunde 


1) Man ersieht übrigens hieraus, dass der Glaube an den ewigen 
Frieden für Kant notwen Da die unsittlichen Grundsätze bleiben, 
so lange es Einzelstaaten ber doch endlich überwunden werden 
müssen, so bietet sich nur eins ng: die Völker müssen als gesonderte 
Grössen aufhören und zu einer CHEN allumfassenden Grösse zusammen- 





Kants Lehre vom radikalesn Böen. 337 


bietet sich wie von selbst das Resultat des vorigen Abschnittes 
dar; der Hang zum Bösen. Dadurch ist nicht bloss dieser Ab- 
sehnitt mit dem vorhergehenden zusammengekettet, vor allem ist 
der sensible Mensch mit dem intelligiblen unlöslich verbunden. 

Um ganz deutlich zu sein: von der Erfahrung ausgehend, 
wird man genötigt, einen Grund des sensibel Bösen zu postulieren, 
„der 1. indem er die Moralität des Subjekts betrifft, als selbst- 
verschuldet ihm muss zugerechnet werden können“; der 2. indem 
er die Allgemeinheit des Bösen betrifft, so tief in die Willkür 
eingewurzelt sein muss, dass man sagen kann, „er sei in dem 
Menschen von Natur anzutreffen“ (35). Mehr kann die empirische 
Betrachtung nicht leisten, namentlich nicht feststellen, ob dieser 
geforderte Grund des sensibel Bösen tatsächlich vorhanden ist. 
Hier tritt die intellektuelle Betrachtung ergänzend ein, indem sie 
den von ihr erkannten und erforschten Hang zum Bösen als das 
von der empirischen Betrachtung Gesuchte präsentiert. Das 
scheint so selbstverständlich, dass nach der Berechtigung dieser 
Kombination!) nicht erst gefragt zu werden braucht. Und doch 
ist die Gleichung zwischen der Forderung der empirischen und 
der Gabe der intellektuellen Betrachtung in einem Punkt zu be- 
anstanden: es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, 
dass der Hang zum Bösen in der Kantischen Formulierung mehr 
enthält, als gefordert wird. 

3. Den Grund des sensibel Bösen hat Kant also in dem 
intelligibel bösen Hang zum Bösen gefunden. Noch nicht er- 
gründet?) ist die „eigentliche Beschaffenheit“, das Wesen des 


3) Kant hat diese Verknüpfung, die ihm den wahren Grund des 
sensibel Bösen liefert, nur so nebenbei vollzogen, in der Ablehnung des 
ersten verkehrten Grundes. Wahrscheinlich schien sie ihm zu selbst- 
verständlich. Er meinte, dass das „Dasein dieses Hanges zum Bösen . . . 
durch Erfahrungsbeweise . . . dargetan werden kann“ (36). Das „dass“ 
allenfalls, aber nicht das „Wie“. Es bleibt also immer noch nachzuweisen, 
dass der eine Hang mit dem andern identisch ist. Der Name thuts nicht; 
das gleiche aufgeheftete Etikett beweist nichts für gleichen Inhalt. — 
Dieselbe Verbindung des Sensibeln und Intelligibeln ist übrigens schon im 
vorigen Abschnitt (cfr. oben 332) versucht, nur vom andern Ende aus. 

*) Im vollen Sinne trifft das nur für diesen Abschnitt zu; bereits in 
der Erörterung über den Hang zum Bösen trat an einer Stelle dieselbe 
Anschauung vom Wesen des Bösen hervor; allerdings nur kurz erwähnt. 
— Es zeigt sich: Abschnitt II und III behandelte im Grunde dasselbe 
Problem, nur hier vom Sensibeln, dort vom Intelligibeln ausgehend. Daher 
die vielfachen Berührungspunkte, 





338 G. Fittbogen, 


Bösen; und zwar kann dies nicht aus dem sensibel Bösen durch 
empirische Betrachtung gewonnen werden, sondern aus dem Bösen 
tiberhaupt durch intellektuelle Betrachtung. Denn die beiden 
Grössen, um die sichs hierbei handelt, — freie Willkür und mora- 
lisches Gesetz — sind intelligibel. Die aprioristische Begriffsent- 
wickelung ist diese: 

Kraft einer moralischen Anlage würde jeder Mensch das 
moralische Gesetz eo ipso als hinreichenden Bestimmungsgrund 
der Willkür in seine oberste Maxime aufnehmen und dadurch 
moralisch gut sein, — wenn keine andere Triebfeder dagegen 
wirkte, 
Kraft der sinnlichen Naturanlage würde jeder Mensch sich 
von den Triebfedern der Sinnlichkeit leiten lassen und moralisch 
unbeurteilbar (rein tierisch) sein, — wenn keine andere Triebfeder 
dagegen wirkte. Nähme nun der Mensch die Triebfedern der 
Sinnlichkeit als hinreichenden Bestimmungsgrund der Willkür in 
seine oberste Maxime auf, „ohne sich ans moralische Gesetz, welches 
er doch in sich hat, zu kehren so würde er moralisch böse sein“, 

Tatsächlich nimmt der Mensch nun beide Triebfedern in seine 
Maxime auf. Da er dadurch — wie früher gezeigt — nicht zugleich 
gut und böse werden kann, so kann der Unterschied von gut und 
böse nicht in der Verschiedenheit der Triebfedern liegen, sondern 
nur in ihrer falschen Ordnung: „welche von beiden er zur Bedingung 
der andern macht“. Und „folglich ist der Mensch nur dadurch 
böse, dass er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Auf- 
nehmung derselben in seine Maximen umkehrt“; speziell: dadurch, 
dass er „die Triebfeder der Selbstliebe und ihrer Neigungen zur 
Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da 
das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung 
der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige 
Triebfeder aufgenommen werden sollte“. 

Auf die Wesensbestimmung des Bösen folgen nun noch eine 
Reihe Erläuterungen zur Beurteilung des Menschen als eines Gliedes 
zweier Welten, der sensiblen und intelligibeln. Sie ergeben sich 
aus dem Vorhergehenden von selbst und haben etwas von der 
populären Sprache, die Vorländer am ganzen Werk rühmt (so auch 
Abschnitt V; übrigens auch mehrere Abschnitte der Kr. d. pr. V., 
selbst der Kr. d. r. V.). Ihr Zweck ist, zu betonen, dass der 
Mensch nicht nach den sen: Taten, sondern nach der intelli- 
gibeln Gesinnung beurteilt werden muss, Ihr Inhalt ist kurz der: 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 339 


Erstens: Der Wert des Menschen hängt nicht an den legalen 
‚Handlungen, sondern an der Gesinnung. Legale Handlungen können 
auch bei verkehrter Ordnung der Triebfedern aus der Neigung 
entstehen: „Da dann der empirische Charakter gut,') der intelli- 
gibele aber immer noch böse ist.“ Also eine eindringliche Mahnung 
zu sittlichem Ernst. Aber seinen vollen Wert erhält dieser Satz 
erst durch die Ergänzung und Umkehrung: Der Mensch kann seinem 
empirischen Charakter nach böse, dem intelligibeln Charakter nach 
aber schon gut sein. Kant hat diese Konsequenz nicht in dieser 
Form ausgesprochen; sie entspricht aber, denk ich, seinen Voraus- 


Zweitens: Das Böse ist eine ausserordentlich gefährliche Macht. 
Denn es ist so eingewurzelt, dass es „durch menschliche Kräfte 
nieht zu vertilgen“ ist. Aber andererseits ist der Widerstand auch 
nicht aussichtslos, Denn da der Mensch ein freihandelndes Wesen 
ist, so muss es möglich sein, das radikale Böse wenigstens zu 
überwinden. — Wie lässt sich das denken? Das radikale Böse 
kann nicht ausgerottet, aber überwunden werden? Der Mensch 
nach der Sinnesänderung — so zeigt der 5. Abschnitt — ist 
intelligibel gut und der Gesinnung nach ohne Schuld und ohne 
Böses; der neue Mensch ist ohne das radikale Böse, das haftet 
nur dem alten Menschen an. Aber trotzdem soll das radikale Böse 
unausrottbar sein? Eine wirkliche Lösung dieser Schwierigkeit 
scheint mir unmöglich zu sein.?) Sie entsteht dadurch, dass Kant 
den Hang zum Bösen zu grossen Inhalt und Umfang gegeben hat. 
Wenn auch diese begriffliche Konstruktion nicht völlig gelungen 


1) Es ist deutlich, dass „gut“ hier nicht im Sinne der Kantischen 
Schulsprache, sondern im vulgären Sinne gemeint ist. Die beiden Glieder 
der Antithese (gut und böse) sind also inkommensurable Grössen. 

%) Lässt man zunächst beide Bestimmungen Kants gelten, so kommt 
das Resultat heraus: dass der intelligibel gute Mensch etwas intelligibel 
‚Böses an sich hat, das ihn eo ipso intelligibel böse machen müsste. Also 
der vollendete Selbstwiderspruch. — Übrigens hat vielleicht Kant selbst 
ein Gefühl dafür gehabt, dass er mit seinem Hang zum Bösen übers Ziel 
hinausgeschossen hat. Wenigstens klingt der Satz, auf den ich oben Bezug 
nehme, wie eine leise Einschränkung und Zurücknahme: „Diese . . . vor 
jedem Guten . . . vorhergehende Schuld, die auch dasjenige ist, was, und 
nichts mehr, wir unter dem radikalen Bösen verstanden, u. 8. w.* (S. 74). 

Vielleicht lässt sich die Schwierigkeit in dieser Richtung lösen: Das 
radikale Böse ist intelligibel, ist ausrottbar; das unausrottbare Böse ist 
sensibel, aber nicht: mehr radikal. Doch bleibt es natürlich zweifelhaft, 
ob Kant mit einer solchen Formulierung zufrieden wäre, 





340 G. Fittbogen, 


scheint, so ist doch deutlich, was Kant damit gemeint haben wird: 
vor allem die stets vorhandene Versuchbarkeit auch des besten 
Menschen. (cf. schon Rel. i. d. Gr. S. 31 und oben mehrfach.) 

Drittens: Die Bösartigkeit der menschlichen Natur ist nicht 
absolut, sondern relativ; am zutreffendsten als ,Verkehrtheit des 
Herzens“, wegen der Umkehrung der sittlichen Ordnung der Trieb- © 
federn, zu bezeichnen. Sie kann sogar „mit einem im allgemeinen 
guten (im vulgären Sinne) Willen zusammenbestehen“, insofern sie 
aus Gebrechlichkeit und Unlauterkeit entspringt!) und nicht immer 
zu gesetzwidrigen Taten und zum Laster führt. Aber durch diese 
Erkenntnis darf sich der Mensch ja nicht verleiten lassen, nun zu 
glauben, er sei im Grunde garnicht wirklich böse; vielmehr gerade 
durch solchen Glauben würde er seinen radikal bösen Charakter 
aufs sichtbarste offenbaren: denn „die Denkungsart, sich die Ab- 
wesenheit desselben (des Lasters) schon für Angemessenheit der 
Gesinnung zum Gesetze der Pflicht auszulegen“, ist „selbst schon 
eine radikale Verkehrtheit im menschlichen Herzen zu nennen“, 

Viertens: Dieses Erkenntnis schützt vor überspannt strengem 
Urteil, ohne doch die Strenge selbst aufzuheben. Die Schuld für 
den bösen Hang trägt der Mensch selbst, und niemand ist, der sie 
ihm abnehmen könnte. Immerhin aber können die beiden ersten 
Stadien des Hanges (Gebrechlichkeit und Unlauterkeit) als unvor- 
sätzliche Schuld beurteilt werden und nur der letzte höchste Grad 
als vorsätzliche Schuld. 

Endlich: Die Wirkung dieses angeborenen schuldhaften Bösen 
ist für das Leben des Menschen verhingnisvoll. Denn es verleiht 
seinem Herzen den Charakter einer gewissen Tücke, „sich wegen 
seiner eigenen guten oder bösen Gesinnungen selbst zu betrügen“ 
und will ihm so die Vorbedingung zum sittlichen Streben rauben: 
die Klarheit über sich selbst. Ebenso verhängnisvoll ist die Wirkung 
für das Leben der Gesamtheit. Denn „diese Unredlichkeit, sich 
selbst blauen Dunst vorzumachen“, hindert nicht bloss die Gründung 
echter moralischer Gesinnung in uns, sie erweitert sich auch 
äusserlich zur Falschheit und Täuschung anderer. Und dies Ver- 


1) Ist das nicht eigentlich ein Zirkelschluss? Die Bösartigkeit der 
menschlichen Natur resp. das böse Herz „entspringt aus der Gebrechlichkeit 
der menschlichen Natur mit der Unlauterkeit verbunden“. Gebrechlichkeit 
und Unlauterkeit der menschlichen Natur sind aber nach der Lehre vom 
Hang zum Bösen selbst böse. Also wäre die Bösartigkeit hier schon vor- 
handen, entspringt also nicht erst daraus. 


Kants Lehre vom radikalen Bösen. | 341 


hängnis waltet, solange das radikale Böse, das „den faulen Fleck 
unserer Gattung ausmacht“, in der menschlichen Natur bleibt. So 
lange wird der Keim des Guten gehindert, „sich, wie er sonst 
wohl thun würde, zu entwickeln“, solange muss das Klagewort 
des Paulus gelten: „Es ist keiner, der Gutes thue (nach dem 
Geiste des Gesetzes), auch nicht einer.“ 

4. Den ganzen Abschnitt im Rückblick überschauend, sehen 
wir: sein Inhalt ist reicher, als die an die Spitze gestellte Frage 
vermuten lässt. Denn ausser dem Nachweis von der Bösartigkeit 
des empirischen Menschen bot er Aufschluss über Grund und Wesen 
des Bösen und Anleitung zur richtigen Bewertung des intelligibel- 
sensiblen Menschen. Als Grund des sensibel Bösen war der Hang 
. zum Bösen aufgestellt. Und so überrascht es zunächst, als Über- 
schrift des nächsten Abschnittes zu lesen: „Von dem Ursprunge 
des Bösen in der menschlichen Natur.“ 


V. Der Ursprung des Bösen. 


1. Die Frage nach dem Ursprung des Bösen überrascht, 
sage ich, an dieser Stelle. Denn wenn sie auch oben (S. 333) als 
besondere Frage formuliert ist, so scheint sie doch im vorigen 
Abschnitt schon mit beantwortet zu sein und keiner eigenen Er- 
örterung mehr zu bedürfen. Denn sind „Grund“ und „Ursprung“ 
nicht so nah verwandt, dass eins fürs andere eintreten kann? Soll 
also die Frage noch einen Sinn haben, dann wird — so legt man 
sich unwillkürlich die Sache zurecht — dies gemeint sein: während 
eben der Ursprung der sensiblen Tat gesucht und in der intelli- 
gibeln Tat (dem Hang zum Bösen) auch gefunden wurde, soll jetzt 
nach dem Ursprung der intelligibeln Tat geforscht werden. Aber 
dem ist nicht so; wenigstens nicht gleich. Wir sollen vielmehr 
„anfänglich noch nicht den Hang dazu (zum Bösen) in Anschlag 
bringen, sondern nur das wirkliche Böse gegebener Handlungen“ 
(42) in Betracht ziehen. Zum zweiten Male also wird nach dem 
Ursprung der sensibel bösen Tat gefragt. Kann eine Tat zwei 
Ursprünge haben? Allerdings, und hierin liegt die Lösung des 
Befremdlichen: sie kann einen Zeit- und einen Vernunftursprung') 
haben. | | 


1) Diese Unterscheidung beruht auf der Erkenntnis: dass die Hand- 
Jungen in der Erscheinung nicht die Handlungen an sich selbst sind. Die . 


342 G. Fittbogen, 


2. a) Bisher ist nur der Zeitursprung der bösen Tat erörtert 
worden, wobei sie „als Begebenheit auf ihre Ursache in der Zeit 
bezogen“ (40) wird. Er liegt wirklich im Hang zum Bösen. Dass 
dies Kants Meinung ist, zeigt der Schluss der Erörterung‘ über den 
Vernunftursprung der sensiblen Tat, dort heisst es (8. 44): „Dieser 
Hang aber bedeutet nichts weiter, als dass, wenn wir uns auf die 
Erklärung des Bösen seinem Zeitanfange nach einlassen wollen, 
wir bei jeder vorsätzlichen Übertretung die Ursachen in einer 
vorigen Zeit unsers Lebens bis in diejenige, wo der Vernunft- 
gebrauch noch nicht entwickelt war, suchen,!) „mithin bis zu einem 
Hange (als natürliche Grundlage) zum Bösen . . . die Quelle des 
Bösen verfolgen müssten“. Zugleich aber sehen wir, dass diese 
Erklärung, die doch mit so grosser Mühe gewonnen war, als im. 
letzten Grunde unzulänglich, als nebensächlich betrachtet und mit 
einem „nichts weiter als“ beiseite geschoben wird. Warum das? 
Den Grund deutet der folgende Satz an: „Wir müssen aber von 
einer moralischen Beschaffenheit, die uns soll zugerechnet 
werden, keinen Zeitursprung suchen.“ (44) Das führt auf den 
springenden Punkt. 

Indem nämlich die sensible Tat aus dem Hang zum Bösen 
als Folge abgeleitet wird, verliert sie insofern Freiheit und Zu- 
rechnungsfähigkeit. Denn hier liegt in der Tat auf moralischem 
Gebiet ein kausaler Zusammenhang vor, der für die sensible Tat 
nur die fatale „Freiheit eines Bratenwenders“ (Kr. d. pr. V. 118) 
übrig lässt. Im Interesse wahrer Sittlichkeit war die Zurück- 
führung der sensiblen Tat auf die intelligible vollzogen; und es 
ergiebt sich das eigenartige Resultat, dass gerade dadurch die 
sittliche Zurechnungsfähigkeit der einzelnen sensiblen Tat aufge- 
hoben und so die Interessen der Sittlichkeit aufs schwerste ge- 
fährdet werden.®) Die Aufgabe ist nun, einerseits einfach an- 


Frage nach dem Zeitursprunge betrifft die Handlungen, sofern sie in der 
Zeit bestimmbar sind, also als Erscheinungen. Die Frage nach dem Ver- 
nunftursprung muss sich also auf die Handlungen an sich selbst beziehen. 
1) Die Inkonzinnität dieses Satzes wird am einfachsten erklärt und 
gehoben, wenn man dies oder ein ähnliches Verbum in Gedanken 
Jetzt ist das Gerippe des Nebensatzes „dass wir die Ursache in einer 
vorigen Zeit, mithin bis zu einem Hange die Quellen des Bösen verfolgen 
müssten. - 
®) Bei Kant kommt diese drohende Gefahr nicht sehr deutlich zum 
Ausdruck. — Zu der Ausdehnung der Kausalität auf moralisches Gebiet 


vergleiche oben S. 312, 
7" 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 343 


zuerkennen, dass die einzelne Tat unter den Zwang einer 
geistigen Kausalität gestellt ist, andererseits aber doch die sitt- 
liche Beurteilung festzuhalten. Zu dem Zweck wird der Vernunft- 
ursprung eingeführt. 

Beim Vernunftursprung wird bloss das Dasein einer Hand- 
lung betrachtet, ohne sie von einem vorhergehenden Zustand ab- 
zuleiten. Die Willkür, so hat man sich es vorzustellen, wird 
durch nichts irgendwie Zeitliches, sondern allein durch Vernunft- 
vorstellungen zur Hervorbringung von Handlungen bestimmt. 

b) Lässt sich nun diese Betrachtung auch auf die böse sen- 
sible Tat anwenden? Nur dann ist sie sittlich verantwortlich. — 
Betrachten wir nun eine böse Tat, so ist das erste, was wir fest- 
stellen: sie ist frei, nicht unfrei. „Er sollte sie unterlassen haben, 
in welchen Zeitumständen und Verbindungen er auch immer ge- 
wesen sein mag; denn durch keine Ursache in der Welt kann er 
aufhören, ein frei handelndes Wesen zu sein“ (42). 

Auch nicht etwa die früheren bösen Handlungen mit ihren 
Folgen können die freie Selbstbestimmung des Menschen aufheben. 
Denn selbst wenn er bisher lauter böse Handlungen begangen 
hätte, „so ist es nicht allein seine Pflicht gewesen, besser zu 
sein; sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern: 
er muss es also auch können“. Er ist auch dann noch völlig 
frei und kann seine Pflicht erfüllen. Thut er es nicht, so ist er 
also „der Zurechnung in dem Augenblicke der Handlung eben so 
fähig und unterworfen, als ob er, mit der natürlichen Anlage zum 
Guten begabt, aus dem Stand der Unschuld zum Bösen über- 
geschritten wäre“. Der Ursprung der bösen Tat kann also ledig- 
lich in Vernunftvorstellungen gesucht werden und die Frage nach 
dem Vernunftursprung ist gerechtfertigt. 

Den Vernunftursprung stellt Kant nun im Anschluss an die 
alttestamentliche Geschichte vom Sündenfall dar. Wert und Sion 
solcher Kantischen allegorischen Deutungen sind an anderer Stelle!) 


1) Vgl. „Protestantische Monatshefte“ 1906, S. 107 ff. Die Richtigkeit 
des dort im Prinzip Dargelegten weise ich hier an Einzelheiten nach: 
1. Kant leitet seine Deutung ein mit der Wendung: „Hiermit stimmt nun 
die Vorstellungsart, deren sich die Schrift bedient, . .. ganz wohl zu- 
sammen“ (48), Nicht seine Auffassung wird an der Schrift gemessen, 
sondern die Schrift an Kants Auffassung. 2. Er schliesst (44) mit der 
Wendung: „Daher ihn [den Ursprung, der dem Sinne nach aus dem vor- 
hergehenden ,Zeitursprung“ zu entnehmen ist] auch die Schrift dieser 
unserer Schwäche gemäss so [als Zeitursprung] vorstellig gemacht haben 


344 G. Fittbogen, 


behandelt. Es kommt ihm, wie er hier (in der Anm. auf S. 45) 
versichert, nicht darauf an, den historischen Sinn zu treffen, 
sondern einen solchen Sinn, der „für sich und ohne allen histo- 
rischen Beweis wahr“ ist, mit den Worten zu verbinden. 

Während Kant die Deutung der Geschichte und die Ent- 
wickelung der eigenen Meinung in eins verwebt, muss es unsere 
Aufgabe sein, beides zu trennen und unter Ausscheidung der 
biblischen Beziehungen nur Kants Meinung herauszustellen. Dann 
ergiebt sich im Sinne Kants folgende Vorstellung von dem sich 
stets wiederholenden Vorgange. 

Jede einzelne böse Tat fängt von der Übertretung des Ge- 
setzes (in der Gesinnung) an. In diesem einfachen Satz liegt 
alles beschlossen. Dem Bösen nämlich geht das moralische Gesetz 
voraus, das in der Vernunft liegt. Dem sollte der Mensch folgen 
„als hinreichender Triebfeder“. Statt dessen aber sieht er sich 
„doch nach anderen Triebfedern um“ und macht es sich also „zur 
Maxime, dem Gesetz der Pflicht nicht aus Pflicht, sondern auch 
allenfalls aus Rücksicht auf andere Absichten zu folgen“. Dies 
ist das Entscheidende. Denn wenn er auch dem moralischen Ge- 
setz noch Ehrerbietung bezeugt, so räumt er ihm doch nicht 
mehr, wie er sollte, „als für sich hinreichender Triebfeder in 
seiner Maxime das Übergewicht über alle anderen Bestimmungs- 
gründe der Willkür“ ein — und die Ehrerbietung wird damit 


mag.“ Indem Kant mit diesem „mag“ seine Deutung nur als möglich 
hinstellt, giebt er zu verstehen, dass seiner eigenen Meinung nach der 
historische Sinn der Geschichte ein anderer ist. 3. Dieser Unterschied 
ist im wichtigsten Punkt von Kant selbst hervorgehoben: das. Alte Testa- 
ment erkennt einen Zeitursprung an, er deutet ihn weg. Und in der 
Bibel handelt es sich um eine einzelne Tat, bei Kant um jede Tat, die 
begangen wird. 

Es kann daher nicht verwundern, wenn Kant diese Geschichte 
anderswo anders deutet; so im mutmasslichen Anfang der Menschen- 
geschichte (R. Sch. VII, 1, 361—383). Auch dort leitet er seine Deutung 
mit einer bezeichnenden Wendung ein: es sei mir erlaubt, mir „ein- 
zubilden, als ob mein Zug .. . gerade dieselbe Linie betreffe, die jene 
[Urkunde] vorgezeichnet enthält“. — Zur Lehre vom radikalen Bösen trägt 
dieser Aufsatz übrigens nichts bei; denn dort behandelt Kant nur „die 
Entwicklung des Sittlichen in m [des Menschen] Thun und Lassen“ 
(357). Er giebt also nur eine er Betrachtung, allerdings interessant 
genug; und zwar entwicklungs; ichtlich. Uber die Möglichkeit 
dieser Betrachtungsweise bei Kant siehe oben in der Einleitung S. 314, 
Anmerkung 2. 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 345 


innerlich unwahr. Aus dieser inneren Falschheit nun entspringt 
die böse Tat. Denn nun fängt der Mensch damit an, die Strenge 
des Gesetzes zu bezweifeln, und geht dann dazu über, „den Ge- 
horsam gegen dasselbe zu einem bloss bedingten eines Mittels 
herabzuvernünfteln; daraus folgt dann endlich, dass er das Über- 
gewicht der sinnlichen Antriebe über die Triebfeder aus dem Ge- 
setz in die Maxime zu handeln“ aufnimmt und so die böse Tat 
begeht. Der Ursprung der bösen Tat liegt also in der aus Frei- 
heit hervorgehenden Gesetzwidrigkeit der Vernunft. 


So ist jenes Dilemma überwunden: Die böse Tat ist frei 
dem Vernunftursprung nach, wenn sie auch dem Zeitursprung 
nach kausal bedingt erscheint. Wie aber vereinigt sich beides? 
Das zu ergründen, bleibt Aufgabe der spekulativen Vernunft; die 
mag es versuchen — wenn sie kann. Für den Zusammenhang 
dieser Untersuchung und für die praktische Vernunft genügt es 
zu wissen, dass es so ist. 


3. Nach der Auflösung dieser Schwierigkeit bleibt nur noch 
eine Frage offen. Ist die böse Tat als sittlich verantwortlich 
und zurechnungsfähig ihrem Vernunftursprunge nach völlig frei!) 
und gleicht sie dem Heraustreten aus dem Stand der Unschuld — 
die der Mensch also in potentia in sich trägt — unmittelbar in 
den der Schuld, so führt sie doch ihrem Zeitursprung nach auf 
‘die intelligible Tat, den Hang zum Bösen, zurück. Und so müssen 
wir zum dritten Male die Frage nach dem Ursprung des Bösen 
aufwerfen; nicht auch noch zum vierten Male. Denn da die 
intelligible Tat als solche zeitlos ist, kann hier nur die Frage 
nach dem Vernunftsursprunge in Betracht kommen. — Sicher ist 
(nach dem früher Gesagten) nur dies: der Hang zum Bösen ist 


1) Es scheint allerdings, als lasse Kant den Hang zum Bösen (der 
bei uns als angeboren vorausgesetzt wird) auch Einfluss auf den Vernunft- 
ursprung haben. Damit würde aber der Vernunftursprung selbst wieder — 
kausal bedingt oder doch wenigstens kausal beeinflusst sein, — was aber 
dem Wesen des Vernunftursprunges widerspricht und seine absolute 
Freiheit und Verantwortlichkeit aufheben, zum mindesten einschränken 
würde. — Andererseits aber lässt sich diese Konsequenz schwer ver- 
meiden. Denn fragt man: „Woher kommts, dass die Vernunft sich stets 
zum Bösen entscheidet, da sie doch frei ist?“ so liegt die Antwort nahe: 
„Sie selbst ist verstimmt.“ Ist sie aber verstimmt, so ist sie nicht völlig 
frei. Und so taucht am Schluss das Problem noch einmal, nur schlecht 
verhüllt, auf. Es lässt sich nicht ohne Rest lösen. 


~ 


346 G. Fittbogen, 


wirklich böse und muss uns selbst zugerechnet werden. Aber 
sein Ursprung bleibt in Dunkel gehüllt: denn „das Böse hat nur 
aus dem moralisch Bösen (nicht den blossen Schranken unserer 
Natur) entspringen können; und doch ist die ursprüngliche Anlage 
(die auch kein anderer als der Mensch selbst verderben konnte, 
wenn diese Korruption ihm soll zugerechnet werden) eine Anlage 
zum Guten; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher 
das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne“ (45). 
Es bleibt nichts übrig, als „den theoretischen Mangel des reinen 
Vernunftglaubens“ in dieser Frage über den Ursprung des Bösen 
offen zu bekennen. Und das ist ja gerade das Charakteristische 
dieses scharfsinnigsten aller Philosophen, dass er sich nie bemüht, 
solchen theoretischen Mangel abzuleugnen (cf. die Verantwortung 
‘an König Friedrich Wilhelm IT). Kann es etwas Ehrlicheres 
geben als das unumwundene Eingeständnis des theoretischen Un- 
vermégens? Er wollte nicht um jeden Preis Resultate erzielen, 
sondern nur feststellen, was sich feststellen lässt. Und hier stellte 
er dem menschlichen Erkennen eine Schranke auf; oder vielmehr, 
nicht er that es; er sah nur, dass hier eine Schranke gezogen ist, 
die die menschliche Vernunft nicht überspringen kann. Ich glaube 
nicht, dass er sich geirrt hat. 

Aber dies theoretische Unvermögen, so klar es zu Tage liegt, 
hat nichts, was den Menschen ratlos und innerlich unruhig machen 
könnte. Denn eins hat die Vernunft mit voller Sicherheit erkannt, 
was unendlich viel wichtiger ist, als jede Erklärung des letzten 
Ursprungs des Bösen sein könnte; sie hat mit voller Sicherheit 
erkannt, dass das Böse nicht zur ursprünglichen Anlage des 
Menschen gehört, dass der Mensch nicht von Grund aus verderbt 
ist. Hat das Böse auch die Wurzel des menschlichen Wesens 
angefressen — daher heisst es radikal!) — so ist es doch nicht 
die Wurzel selbst: die ist und bleibt gut der Anlage nach. Mit 
einem Wort: das Böse ist radikal, aber das Gute ist noch viel 
,radikaler“.!) Und die theoretische Unwissenheit kann nicht im 
mindesten das gegründete Vertrauen ins Wanken bringen, dass der 
Mensch „noch einer Besserung fähig“ ist. Denn es muss ihm, 
„der bei einem verderbten Herzen doch immer noch einen guten 


1) Vgl. S. 29 unten. „Wurzelhaft“ heisst das Böse nicht, weil es 
selbst die Wurzel des menschlichen Wesens wäre, sondern weil es die 
Denkungsart „in ihrer Wurzel“ verderbt hat, 


Kants Lehre vom radikalen Bösen. 347 


Willen hat, Hoffnung einer Wiederkehr zu dem Guten, von dem 
er abgewichen ist, übrig“ bleiben. 
Davon handelt der letzte Abschnitt. 


VI. Die Sinnesänderung.!) 


Die Auflösung der Frage, wie das radikale Böse überwunden 
werden kann, beruht in allem auf den bisher entwickelten Voraus- 
setzungen; sie ist glatt und einfach. Und die Wiedergabe kann 
entsprechend kurz sein. 

1. Soll eine Sinnesänderung zustande kommen, soll der 
Mensch gut werden, so muss er sich selbst dazu machen; wie er 
es ja auch selbst verschuldet hat, dass er böse ist. Aber kann es 
geschehen? Wie ist es möglich, „dass ein natürlicherweise böser 
Mensch sich selbst zum guten Menschen mache“? Die Antwort 
entspricht genau den Voraussetzungen. Wie wir zuletzt gestehen 
mussten, dass wir den ersten Grund des Verfalls vom Guten ins 
Böse nicht zu begreifen vermögen, so müssen wir hier mit dem 
gleichen Bekenntnis theoretischen Nichtwissens beginnen: Das 
„Wiederaufstehen vom Bösen zum Guten“ bleibt uns ebenso un- 
begreiflich.2) Aber nicht von unserm Begreifen oder Nichtbegreifen 
hängt die Möglichkeit des Wiederaufstehens ab, sondern von ganz 
etwas anderm: nämlich von der Tatsache des in unserer Seele 
erschallenden Gebotes: „wir sollen bessere Menschen werden* — 
folglich müssen wir es auch können. Dem Einwand gegenüber, der 
die Gültigkeit dieses Schlusses im Hinblick auf die krasse Wirk- 
lichkeit, in der sich so wenig von diesem Können zeigt, bestreiten 


1) In der zweiten Auflage hat Kant diesem Abschnitt die Über- 
schrift „Von der Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten 
in ihre Kraft“ zwar gelassen, aber ihn doch zugleich zur „Allgemeinen 
Anmerkung“ degradiert, weil er von „Gnadenwirkungen“ handle. Wie 
mir scheint, mit Unrecht. Denn davon, d. i. von übernatürlichen mora- 
lischen Einflüssen (S. 212), ist fast gar nicht die Rede; den eigentlichen 
Inhalt bilden die natürlichen moralischen Einflüsse. Sachlich also steht 
dieser Schlussabschnitt mit den vier vorhergehenden auf gleicher Linie. 
~ Über die Frage selbst nach der übernatürlichen Mitwirkung siehe unten 
S. 862 ff. 

3) Ostermeyer (53) kritisiert folgendermassen: „Kant bekennt nur 
von neuem, dass man nicht wisse, wie Wiedergeburt möglich sei. Hieraus 
folgt selbstredend, dass man auch nicht weiss, ob sie möglich sei“. Will 
er wirklich die Existenz alles dessen leugnen, in dessen Enstehung der 

Mensch keine Einsicht hat?! 


ve" 


348 G. Fittbogen, 


wollte, schränkt Kant die Unbedingtheit dieses Könnens ein: „sollte 
auch das, was wir tun können, für sich allein unzureichend sein, 
und wir uns dadurch nur eines für uns unerforschlichen höheren Bei- 
standes empfänglich machen“ (47). Die Bedeutung dieses Satzes 
liegt nicht im Rekurs auf göttliche Hilfe, sondern im Zurückgehen 
aufs Prinzip: im Prinzip gilt dies Können unbedingt, der empirischen 
Tat nach nur bedingt, Und so bleibt es dabei: die Möglichkeit 
der Sinnesänderung gründet sich auf das in der moralischen Vernunft 
liegende Gesetz. Und sie gründet sich ferner auf das, was damit 
notwendig zusammenhängt: bei aller Verderbnis des Menschen muss 
doch immer „ein Keim des Guten in seiner ganzen Reinigkeit 
übrig“ bleiben. 

2. Und die Art der Sinnesänderung ergibt sich auch von 
selbt. — Da wir die Triebfeder zum Guten nie verloren, sondern 
nur verstimmt haben, so handelt es sich um keine Neuerwerbung 
und Neuschöpfung, sondern nur um die Wiederherstellung der 
Reinigkeit und Kraft des Guten. Das ursprünglich Gute nun ist 
die Heiligkeit der Maxime in Befolgung seiner Pflicht. Diese 
Heiligkeit ist verletzt; sie muss wiederhergestellt werden: darin 
besteht die Sinnesänderung. — Und wiederum spaltet sich der 
Charakter des Menschen in einen empirischen und einen intelligibeln. 
Mit der Gesetzmässigkeit der Gesinnung — wissen wir — ist noch 
nicht die Gesetzmässigkeit der Tat garantiert und umgekehrt; 
„denn zwischen der Maxime und der Tat ist noch ein grosser 
Zwischenraum“ (48) und ihr Zusammenhang ist nicht sicher, Denn 
wohl kann der Mensch gesetzmässige Taten hervorbringen und so 
den empirischen Tugendcharakter der Legalität erwerben, die virtus 
phaenomenon.!) Aber über die Triebfeder ist damit noch nichts 
ausgesagt. Wohl kann der Mensch „nach und nach“, durch eine 
„lange Gewohnheit in Befolgung des Gesetzes, durch die der Hang 
zum Laster durch allmähliche Reformen seines Verhaltens in einen 
entgegengesetzten Hang“ [d. i. zum sensibel Guten] hinüberkommt, 
äusserlich gut erscheinen. Aber ist er’s auch innerlich? Die 


1) An diesem Punkt zeigt sich die einzige leichte Unebenheit in 
diesem Abschnitt. Die virtus phaenomenon nämlich hat etwas Schillerndes. 
Es scheint so — wenigstens klingen die Worte so —, als sei sie völlig 
erreichbar; ebenso wie der von früher her bekannte empirisch gute 
Charakter des legalen Menschen. Andererseits erscheint sie doch auch als 
unerreichbar, nämlich sofern sie die zeitlich-empirische Realisierung der 
yirtus noumenon ist. 


Kants Lehre vom radikalen Bösen, 349 


Antwort muss in der Schwebe bleiben. Gewiss kann der legale 
Tugendcharakter aus einer innerlich guten Gesinnung hervorwachsen 
— aber er muss es nicht. Er kann auch die Folge einer blossen 
Änderung der Sitten, ohne eine Herzensänderung sein „nach dem 
gepriesenen Prinzip der Glückseligkeit“ (49). In dem Falle aber 
bleibt — nach den Kantischen Voraussetzungen — der empirisch 
gute Mensch immer noch intelligibel böse. 

Die wirkliche Wiederherstellung des Guten in seine Kraft 
muss also in anderer Sphäre geschehen, sie muss sich nicht in der 
sensiblen Tat, sondern in der intelligibeln Gesinnung vollziehen. 
Denn darin, sahen wir früher schon, besteht nicht die Moralität 
des Menschen, dass er das ausführt, was das Gesetz gebietet, 
sondern dass er es tut, weil das Gesetz es gebietet. Tugendhaft 
nach dem intelligibeln Charakter ist nur der, „welcher, wenn er 
etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf, 
als dieser Vorstellung der Pflicht selbst“. Besteht nun — wie 
früher erkannt — das Böse in der unsittlichen Ordnung der Trieb- 
federn und das Gute in der sittlichen, so kann die Änderung der 
Gesinnung nur in einem einzigen Moment vor sich gehen, in dem 
Augenblick nämlich, wo die Triebfeder aus dem Gesetz die Ober- 
hand über die aus der Neigung gewinnt. Und das Plötzliche, 
Ruckartige lässt sich nicht besser kennzeichnen als mit dem Namen 
Revolution. — Eine Erlösung!) im spezifisch christlichen Sinn ist 
das nicht, Kant hat es auch nicht so genannt. Auch die Ausdrücke 
„Wiedergeburt“ und „neue Schöpfung“, die er hier anwendet, 
meint er uneigentlich: was er schildert, entspricht dem, was die 
Christen „Wiedergeburt“ und „neue Schöpfung“ nennen. Es ist 
die übliche Anknüpfung an dogmatische und biblische Ausdrücke 
als an bereitstehendes Bildermaterial. 

3. Mit dieser Scheidung zwischen dem empirischen und intelli- 
gibeln Tugendcharakter ist denn auch der Weg gebahnt zur Lösung 
der Frage: Wie ist es möglich, dass der böse Mensch durch eigne 


1) Der Ausdruck Erlösung findet sich in der Rel. i. d. Gr. d, bl. V. 
(nach Ausweis von Vorländers Register) nur einmal, nämlich in $ 2 des 
Abschnittes vom Afterdienst (Reclam 185); zwar mit Beziehung auf die 
Sinnesänderung, aber doch einem Anhänger des Afterdienstes in den 
Mund gelegt. Nichts aber ist deutlicher, als dass Kant ein Gutwerden 
nur durch eigene Kraft kennt — wenn man will: Selbsterlüsung. Kant 
selbst gebraucht dafür an dieser Stelle den Ausdruck Herzensänderung 
(so 49, 12; und 49, 34 Änderung des Herzens) und später Sinnesänderung 
(75 ff. 214 Anm.), einmal auch Selbs ). 

Kantsiudien X11, 





350 G. Fittbogen, 


Kräfte gut wird? — Wirklich vollziehen kann der Mensch die 
Sinnesänderung durch Revolution und dadurch den intelligibeln 
Tugendcharakter erwerben. In Angriff nehmen kann er auch die 
Reform seines sensibeln moralischen Habitus, ') doch nicht zur Voll- 
endung bringen; hier ist er nie ein gut gewordener, stets nur 
ein gut werdender Mensch, Er kann zwar hoffen, „dass er bei 
einer solchen Reinigkeit des Prinzips, welches er sich zur obersten 
Maxime seiner Willkür genommen hat, und der Festigkeit desselben, 
sich auf dem guten (obwohl schmalen) Wege eines beständigen 
Fortschreitens vom Schlechtern zum Bessern befinde“ (50). Und 
doch, es lässt sich nicht leugnen: ein empirisch menschliches Auge 
nimmt immer nur ein fortwährendes Streben zum Bessern, also den 
Abstand vom Ziel wahr. Aber vor dem Urteil der reinen Vernunft?) 
ist im Prinzip schon die Vollendung gegeben und die Unendlichkeit 
des Fortschritts übersieht sie als Einheit. Darum ist nach ihrem 
Urteil — also nach dem höchsten Massstab gemessen — der 
empirisch immer noch unzulängliche Mensch wirklich gut: er hat 
— trotz des Augenscheins — die Sinnesänderung durch eigne Kraft 
vollzogen. 

4. Hieraus ergeben sich für die moralische Bildung des 
Menschen wichtige Folgerungen. Zunächst und vor allem das 
Grundlegende: sie muss von der Umwandlung der Gesinnung aus- 
gehen; nicht die einzelnen Laster muss man anpacken, sondern 
ihre Wurzel. Und zweitens: dementsprechend muss es das Ziel 
der Erziehung sein, in den Zöglingen pflichtgemässe Gesinnung, 
nicht legale Handlungen wachzurnfen. Als wirksames Mittel zur 
Belebung der sittlichen Kräfte bieten sich nun die Beispiele guter 
Menschen, die rein aus Pflicht handelten; durch solche Vorbilder 
wird ganz von selbst die Anlage zum Guten gestärkt und die 


1) Kant gebraucht hier den Ausdruck „Reform für die Sinnesart“ 

(60). Wie mir scheint nicht eben glücklich, weil die Verwechselung mit 

„Gesinnung“ nahe liegt. Was er meint, hat er auf der Seite vorher 
treffender Reform des Verhaltens und Änderung der Sitten genannt. 

®) Im Text spricht Kant vielmehr. vom Urteil Gottes. Woher kennt 

der kritische Kant das Urteil Gottes? Die Vernunft bildet den „Be- 

i oF hen und weisen Wesen!‘ a priori (über 


notwendig i iden le 
ist eine bildlich konkrete Ver nschaulichung der urteilenden reinen Ver- 
nunft, Daher eo: di > sonst auffaller 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 351 


Pflicht hebt an, „bloss für sich selbst in ihren Herzen ein merk- 
liches Gewicht zu bekommen“ (51). Nur vor einem muss man sich 
dabei hüten: zur Bewunderung tugendhafter Handlungen an- 
zuleiten. Denn man erreicht dadurch das Gegenteil des Be- 
absichtigten. Da nämlich jede Tugend lediglich Pflicht ist und 
nichts Verdienstliches, so kann Bewunderung der Tugend nur 
schaden, indem sie unweigerlich das Gefühl für die Unbedingtheit 
der Pflicht herabstimmt. — Am wirksamsten aber ist es, das Gefühl 
der Erhabenheit der eignen moralischen Bestimmung rege zu machen. 
Das ist auch das einzige, was wir bewundern dürfen und sollen 
und müssen: die ursprüngliche moralische Anlage in uns überhaupt 
(die Kant mit starkem Pathos schildert). Diese Bewunderung wirkt 
wahrhaft seelenerhebend „bis zur Begeisterung“. Und der Appell 
an die sittliche Bestimmung des Menschen ist das kräftigste Mittel, 
die sittlichen Kräfte zu beleben und dadurch die Anlage zum Guten 
in ihre Reinigkeit wiederherzustellen. 

6. Wird aber so die ganze lange und schwierige Lehre 
vom radikalen Bösen nicht eigentlich bedeutungslos? oder erhebt 
sie gebieterisch Protest? Keins von beidem. Das zweite ist 
schon früher erledigt: wir begreifen zwar nicht, wie sich das 
wadikale Böse mit der sittlichen Anlage und der sittlichen End- 
Westimmung verträgt — aber vertragen muss es sich eben damit. 
Und das andere: Die Bedeutung des Satzes vom radikalen Bösen 
ist nicht überschwänglich, aber sie ist vorhanden. Die Vor- 
schriften der Moral zwar enthalten „dieselben Pflichten und 
bleiben auch von derselben Kraft, ob ein angeborener Hang zur 
Übertretung in uns sei oder nicht“ (53). Aber wenn nicht das 
Lebensziel, so beeinflusst das radikale Böse doch die Lebens- 
weise: das menschliche Leben erhält durch das stete Ringen des 
Guten mit dem Bösen einen herben, strengen Charakter. Und da 
dies Ringen nie aufhört und nie zum völligen Siege führt, so 
muss der Mensch in Ungewissheit bleiben über seine eigene in- 
telligible Gesinnung: „Zur Überzeugung hiervon kann ... der 
Mensch natürlicherweise nicht gelangen, weder durch unmittel- 
bares Bewusstsein, noch durch den Beweis seines bis dahin ge- 
führten Lebenswandels; weil die Tiefe des Herzens (der subjektive 
erste Grund seiner Maximen) ihm selbst unerforschlich ist“ (54). 
Das Böse also ist es, das den Menschen von der Gewissheit aus- 
schliesst und ihn auf den Weg des Glaubens und der Hoffnung 
treibt; den allerdings kann es ihm nicht rauben: auf den Weg, 

23° 


352 G. Fittbogen, 


der zum Guten führt, „muss er hoffen können, durch eigene 
Kraftanwendung zu gelangen“. Der Satz vom radikalen Bösen 
also bleibt immer noch wichtig genug: er macht die Selbst- 
besserung zwar nicht illusorisch, aber er erhebt sie aus einer 
platten Selbstverständlichkeit zu einer schweren, mühseligen Auf- 
gabe, die alle besten Kräfte der Sittlichkeit und des Glaubens in 
Anspruch nimmt. Das ist der eminent praktische Wert, der der 
Lehre vom radikalen Bösen innewohnt!) und unverloren bleibt, 
auch wenn sie theoretisch nicht alle Rätsel ohne Rest lösen 
konnte, vielmehr selbst ihr Unwissen offen bekennen musste. 

Und damit ist Kants Lehre vom radikalen Bösen in sich 
geschlossen und abgerundet. Was Kant Positives zu sagen hat, 
ist darin ausgesprochen. 

Aber was nicht darin ausgesprochen ist, trägt auch dazu 
bei, dieser Lehre ihren fest ausgeprägten Charakter zu verleihen. 
Das müssen wir noch kurz betrachten. Das eine hat Kant selbst 
zum Schluss seiner Erörterung wenigstens berührt, über das 
andere schweigt er in diesem Zusammenhang: ich meine die Frage 
nach der göttlichen Mitwirkung, die die Sinnesänderung angeht, 
und die Frage nach der Theodizee, die mit dem Bösen als solchem 
gegeben ist. 


VII. Müssige Fragen. 

1. Nachdem Kant die allseitige Darlegung von Art und 
Möglichkeit der Sinnesänderung beendet hat, lehnt er mit ein 
paar Worten den Einwand ab, der von der Religion der Gunst- 
bewerbung dagegen erhoben wird: als könne Gott den Menschen 
ohne dessen eigene Mitwirkung besser machen, Diese Ablehnung 
ist in sich notwendig, und klar ist der Grundsatz der moralischen 
Religion, den er dagegen stellt: „dass ein jeder soviel, als in 
seinen Kräften ist, thun müsse, um ein besserer Mensch zu 
werden“ (54. 55). Dann aber fährt er fort: weiter ist es Grund- 
satz, dass der Mensch „nur alsdann, wenn er sein angeborenes 
Pfund nicht vergraben, wenn er die ursprüngliche Anlage zum 


let, dass Kant seine Lehre yom 
wie es scheint, 


Unterschied zwische me matik und moralischen Asketik, 
wie er sich aus dem Obi gen el t, t wahrgenommen wird“, 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 353 


Guten benutzt hat, um ein besserer Mensch zu werden, er hoffen 
könne, was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere 
Mitwirkung ergänzt werden.“ Wie ist das zu verstehen? Will 
Kant damit den Glauben an eine übernatürliche Mitwirkung als 
krönenden Abschluss aufbauen? Will er die Selbsterlösung 
schliesslich doch noch zu einer Erlösung im eigentlichen Sinne 
umstempeln? Ich glaube kaum. — Aber er will den Erlösungs- 
gläubigen eine Brücke bauen, die sie auf den festen Boden des 
Vernunftglaubens hinüberführen kann. Er will ihnen etwa sagen: 
Selbst bei einem Erlösungsglauben könnt ihr als Voraussetzung, 
als das Erste und Grundlegende die Selbstbesserung nicht ent- 
behren. Wo eigenes sittliches Streben fehlt, sagt sogar das 
Eyangelium,') kommt Gott den Menschen nicht zu Hülfe. Nur 
„wer da hat“ — und zwar durch eigene Bemühung — „dem wird 
gegeben werden“. Die „Erlösung“, so müsstet ihr daher ein- 
räumen, hängt im Grunde vom Menschen selbst ab. Der Mensch 
leistet das Primäre, Gott doch nur das Sekundäre. Im Funda- 
ment sind wir also schliesslich einig. — Und ferner will Kant den 
Erlösungsgläubigen zu verstehen geben: Ihr behauptet nun nicht 
bloss eine göttliche Mitwirkung, sondern wollt sogar über ihre 
Art eine ganz bestimmte Offenbarung”) haben. Aber gesteht ihr 
damit nicht eigentlich selbst ein: darüber etwas zu wissen, über- 
steige die menschlichen Fähigkeiten? Müssen nicht also die 
Menschen, die diese von aussen kommende Offenbarung nicht 
kennen, sich notwendig bei aller Aufrichtigkeit doch verschiedene 
Begriffe von dieser Mitwirkung machen? Ist diese Verschieden- 
heit aber notwendig, so folgt daraus der Schluss: es ist nicht 
absolut notwendig, dass der Mensch wisse, worin die Art der 
höheren Mitwirkung besteht. Ihr müsst also selbst als an gött- 
liehe Hülfe Glaubende zugestehen: „Es ist nicht wesentlich und 
also nicht jedermann notwendig zu wissen, was Gott zu seiner 
Seligkeit thue oder gethan habe.“ Notwendig und wesentlich ist 
nur zu wissen, was der Mensch selbst zu thun hat. Wenn aber 
die angenommene göttliche Unterstützung doch nur sekundäre Be- 
deutung haben und ihre Art durchaus im Ungewissen bleiben 


1) Bei dem Zitat scheint ein Druckfehler untergelaufen zu sein; die 
"entscheidenden Worte wenigstens stehen erst hinter Lucas 19, 16. Also 
wird etwa gemeint sein Lucä 19, 1: 

2) Offenbarung — darauf ier z gilt bei Kant im 
Gegensatz zu dem Vernunftgegebenen als bloss historisch und minderwertig. 





354 G. Fittbogen, 


kann — ja was ist dann so wichtig daran? Was also könnt ihr 
viel schelten, wenn ich mich nur ans Wesentliche halte? wenn 
ich die problematische göttliche Tätigkeit euch überlasse, mich 
selbst aber nur an die menschliche Selbstbesserung halte? 


Diese Auslegung, denke ich, trifft Kants wahre Meinung, 
Und sie wird durch die Anmerkung, die Kant in der zweiten Auflage 
hinzufügte, bestätigt. Die Möglichkeit zwar der göttlichen Mit- 
wirkung. bestreitet er nicht, so wenig wie in der ersten Auflage. 
Aber er spricht es nachdrücklich aus, dass diese Idee nicht in die 
Religion eingeführt werden darf. Das ist doch wohl das Ent- 
scheidende (S. 55 unten). Zum Schluss fasst er sein Urteil in den 
Satz zusammen: „Wir können sie [die Gnadenwirkung] also als 
etwas Unbegreifliches einräumen, aber sie weder zum theoretischen 
noch praktischen Gebrauch in unsere Maxime aufnehmen“ (56 u.). 
Eine Idee aber, die weder zum theoretischen noch zum praktischen 
Gebrauch dienen kann und lediglich etwas Unbegreifliches ist, hat 
nur den Wert eines Spielzeuges der Vernunft. Ihre nicht bestrittene, 
doch in der Schwebe gelassene Existenz in der Rel. i. d. Gr. d. 
bl. V, verdankt sie der Rücksicht auf die Zensur und die Erlösungs- 
gläubigen, die Kant nicht verletzen wollte, 


2. Kants Lehre vom Bösen lässt den Ursprung des Bösen 
im letzten Grunde unerklärt, und sie gipfelt darin, dem Menschen 
eine Aufgabe zu stellen. Mit diesem praktischen Charakter hängt 
es zusammen, dass sie über eine Frage, die dem 18, Jahrhundert 
von Leibniz her fast die wichtigste war, kein Wort enthält; über 
die Frage nämlich: Wie kommt das Böse, das Widergöttliche, in 
die Welt Gottes? Wie verträgt sich die Existenz des Bösen mit 
Gottes Allmacht und Güte? 


Diese Kernfrage der Theodizee — denn das Übel und das 
Missverhältnis zwischen Übel und Schuld machen schliesslich doch 
keine ernstlichen Schwierigkeiten — hat auch Kant mehrfach 
beschäftigt, und ihre zweifache Behandlung ist ein wichtiges 
2er über di dlung seiner religionsphilosophischen Ge- 

e Meinung von der besten Welt, die 

und ,aus dem Munde des 

Pöbels“ erscl begründen unternahm, so tat er es!) in 
der stillschweigenden V ssetzu _transscendenten „höchster 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. Ä 355 


Verstand“ genau Bescheid zu wissen, genau so wie alle dogmatischen 
Philosophen und Theologen seiner Zeit. Als er dann fast ein 
Menschenalter später dasselbe Problem wieder aufnahm,!) sah er 
es ganz anders an. Jetzt betrachtete er die Theodizee nicht mehr 
als ein frommes Verfechten der Sache Gottes, sondern als ein 
- Unternehmen „der ihre Schranken verkennenden Vernunft“. Und 
sein Resultat ist jetzt: eine Theodizee, d. i. „die Verteidigung der 
höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche 
die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene 
erhebt“, lässt sich nicht führen; allerdings auch nicht das Gegenteil. 
Der kritische Philosoph muss, wie das keiner Ausführung bedarf, 
sein theoretisches Nichtwissen bekennen. 

Aber, fügt Kant hinzu, ist eine Theodizee im eigentlichen 
theoretisch-spekulativen Sinn unmöglich, so doch nicht im prak- 
tischen; sie wird darin bestehen, dass man die Welt auslegt, 
„sofern Gott durch dieselbe die Absicht seines Willens kundmacht“. 
Der Mensch soll nicht nach dem „Woher“, sondern nach dem 
„Wohin“ fragen; nicht spekulativen Problemen nachsinnen, sondern 
sittliche Aufgaben in Angriff nehmen. — Die negative Seite, den 
Verzicht auf theoretische Erkenntnis, hat Kant am Beispiele Hiobs 
erläutert. Wodurch gewinnt Hiob am Ende seiner Prüfungszeit 
im göttlichen Gericht den Vorrang vor seinen Freunden? Während 
sie mit frömmelnder Heuchelei Dinge behaupten, „von denen sie 
doch gestehen mussten, dass sie sie nicht einsahen“, sprach er mit 
gerader Freimütigkeit seine Unwissenheit aus: ich weiss nicht, 
warum Gott mich straft. Und indem er weiter nichts tat, als dass 
er sich ehrlich von seiner Unwissenheit überzeugte, lösten sich ihm 
alle Zweifel und er ergab sich in den Glauben an den unbedingten 
göttlichen Ratschluss. Diese sittliche Lauterkeit, die ihm nicht 
gestattete, sich blauen Dunst vorzumachen, machte ihn Gott an- 
genehm, nicht irgendwelches spekulatives Erkennen. — Der positive 
Teil dieser „praktischen“ Theodizee kommt stärker und wuchtiger 
zum Ausdruck am Schluss der Abhandlung über den mutmasslichen 
Anfang der Menschengeschichte: „Es ist aber von der grössten 
Wichtigkeit: mit der Vorsehung zufrieden zu sein, . . . teils um 
unter den Mühseligkeiten immer noch Mut zu fassen, teils, um nicht 
unsre eigne Schuld, die vielleicht die einzige Ursache aller dieser 


1) „Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theo- 
dizee“ 1791. R. Sch. VIL, 1. 385-408. 


356 6. Fittbogen, 


Übel sein mag, darüber aus dem Auge zu setzen und in der Selbst- 
besserung die Hülfe dagegen zu versäumen“ (R. Sch. VII 1. 380). 
Und zum Schluss: „So ist denn der Ausschlag einer durch Philo- 
sophie versuchten ältesten Geschichte: Zufriedenheit mit der Vor- 
sehung und dem Gang der menschlichen Dinge im Ganzen, der 
nicht vom Guten anhebend zum Bösen fortgeht, sondern sich vom 
Schlechten zum Bessern allmählich entwickelt, zu welchem Fort- 
schritt denn ein jeder an seinem Teil, so viel in seinen Kräften 
steht, beizutragen durch die Natur selbst berufen ist“ (383). Man 
sieht: die „praktische“ Theodizee ist mit der „Zufriedenheit mit 
der Vorsehung“ noch nicht erschöpft, ihr eigentlicher Inhalt ist die 
Ausführung der sittlichen Aufgaben, die dem Menschen aus den 
Übeln, speziell dem Bösen, entstehen. Es hängt das mit dem 
Wandel in Kants Gottesglauben zusammen. Wie der Glaube an 
Gott!) als an eine praktische Idee nicht besagt, dass ein trans- 
scendentes Wesen existiert mit den Eigenschaften der Heiligkeit, 
Güte und Gerechtigkeit, sondern vielmehr, dass der menschlichen 
Vernunft eine Idee immanent ist, die von ihm verlangt, dass er 
dieser Idee gemäss leben, dass er selbst heilig, gerecht und gütig 
sein soll, — genau so ist auch der Sinn der Theodizee ins 
Praktische gewandelt: Wir verzichten darauf, zuuntersuchen, 
ob wir mit Gott zufrieden sein dürfen (denn darauf kommt 
die theoretische Theodizee hinaus), wir sollen vielmehr streben, 
so zu leben, dass ein göttlicher Richter mit uns zufrieden 
sein könnte. 

Diese Deutung der Theodizee stimmt aufs beste zu Kants 
Lehre vom Bösen; aber sie verliert dadurch an Interesse und Wert: 
denn sie hat nichts Eignes mehr zu sagen. Daher kommt’s, dass 
ihre Gedanken sich wohl in Kants Lehre vom Bösen finden (die 
Unwissenheit über den Ursprung des Bösen, und die sittlichen 
Aufgaben, die. das Böse dem Menschen stellt), aber nicht ihr Name. 
Die spezielle Fragestellung unter dem Gesichtspunkt der Theodizee 


in Den Beweis, dass ich Kants Gottesglauben richtig aufgefasst habe, 


er dreifachen spezifisch verschiedenen 
(153). Und dieser Glaube ist kein 
1 I orstellen solle“ (154). Dazu 
passt die Leh: vol “ in der Kr. d. r, V. (ct 
Rel. i. d. Gr. 73 Anm.), Vgl. Protes iB Monatshefte 1906, 138 £ 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 357 


war überflüssig, wenn sie im neuen, und sinnlos, wenn sie im alten 
Sinne gemeint war. 


Schluss. 

Das Ziel ist erreicht, der Weg zurückgelegt und der Über- 
blick über das durchwanderte Gebiet des Kantischen Gedanken- 
reiches, so weit es mir möglich war, gewonnen. Naturgemäss 
konnte die Wanderung auf dem schwierigen Terrain nur langsam 
sein, und die Erörterung wuchs sich stellenweise zu einem kleinen 
Kommentar aus. 

1. Welches ist nun der Gesamteindruck ? 

Wer unbefangen die Gedankenarbeit und -entwickelung Kants 
verfolgt hat, wird gestehen müssen: hier liegt eine Gedanken- 
entwickelung von unerbittlicher Konsequenz und gewaltiger Gross- 
heit vor. Es ist der Versuch gemacht, mit fast übermenschlicher 
Anstrengung der schwierigsten Probleme Herr zu werden. Und 
gelang er gleichwohl nicht völlig einwandfrei, so werden wir die 
Schuld nicht bei Kant, sondern in der Schwierigkeit der Probleme 
suchen müssen. Die Motive aber, die ihn bei der Ausgestaltung 
der Lehre leiteten, hat, hoffe ich, diese Untersuchung klar heraus- 
gestellt. 

Hiermit könnte ich schliessen. Wenn ich doch noch einiges 
hinzufüge, so thue ich es nicht, um an Kleinigkeiten herum- 
zumäkeln oder die Lehre im Ganzen zu kritisieren. Zu dem einen 
verspüre ich keine Lust, und das andere würde eine eigene Ab- 
handlung erfordern. Ich will vielmehr, wie ich bisher bemüht ge- 
wesen bin, das wirklich Wertvolle und den eigentlichen Sinn 
dieser Lehre ans Licht stellen, in diesem Streben fortfahren und 
sie gegen üble Nachrede verteidigen. Denn das ist nötig. 

2. Kants Gedanken über das Böse bewegen sich nicht in 
den gewohnten Geleisen von vor hundert Jahren oder von heute. 
Diese Lehre ist geradezu das unpopulärste Stück der gesamten 
Kantischen Philosophie. Das „radikale Böse“ klang den Menschen 
damals — wie heute — übel in den Ohren. 

Die Gegner wollten, der Mensch sei gut. Und hier kam 
der, dem keiner den Titel des grössten Philosophen bestreiten 
Konnte, der kam und verkündete fensch ist böse, er ist 
radikal böse! Da hörten sie nicht weiter hin und kehrten ihm 





358 G. Fittbogen, 


kurz entschlossen den Rücken. Hätten sie sich nur 

nommen, seine Worte bis zu Ende zu verstehen, so 

gefunden, dieser Mann steht gar nicht im absoluten Gegensatz 
zu ihnen. Denn ist nach ihm das Böse wurzelhaft: das Gute ist 
noch viel wurzelhafter. Das Gute gehört in höherem Masse zum 
Menschen als das Böse. Diese Grundüberzengung teilte Kant mit 
den Gegnern, den Männern der Aufklärung; nur dass sie in ihrem 
weichen Optimismus das Bewusstsein des Bösen als einer ernst- 
haften Macht fast völlig verloren.1) 

In dies auf Missverständnis beruhende Verdammungsurteil 
über Kants Lehre vom Bösen stimmte auch der ein, auf den sich 
die Gegenwart mit Vorliebe beruft: Goethe, ja er ganz besonders 
heftig. Es giebt kaum ein schärferes, aber auch kein ungerechteres 
Urteil als das, in dem Goethe seiner Empörung in den bekannten 
drastischen Worten Luft machte: „Dagegen hat aber auch Kant 
seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschen- 
leben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen 
zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radi- 
kalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbei- 
gelockt werden, den Saum zu küssen“ (An Herder, Brief vom 
7. Juni 1793). Nun, wir haben gesehen, Kants Lehre ist wesent- 
lich genuin; er hat seinen Philosophenmantel rein bewahrt. Das 
persönlich Verletzende dieses Urteils trifft nicht die Wahrheit. — 
Und was die Sache angeht, so ist es Pflicht, darauf aufmerksam 
zu machen, wie Goethe zu anderer Zeit?) eine Ansserung gethan 
hat, die von der Kantischen Auffassung doch nicht gar so weit 
entfernt ist. In einem gelegentlichen Lob der Pietät (Weimarer 
Ausgabe, Bd. 41, S. 133) findet sich der Satz: „Wenn gewisse 
Erscheinungen an der menschlichen Natur, betrachtet von Seiten 
der Sittlichkeit, uns nötigen, ihr eine Art von radikalem 
Bösem, eine Erbsünde zuzuschreiben, so fordern andere Mani- 
festationen derselben ihr gleichfalls eine Erbtugend, eine an- 
geborene Güte, Rechtlichkeit und besonders eine Neigung zur 
Ehrfurcht zuzugestehen.“ So wenig die „Erbsünde“ im dogma- 


1) Vgl. Pfleiderer, Geschichte der Religionsphilosophie. 3. Aufl. 
ms Don Alonso ou | Espagne, 


 Salvandy, an deren Ende sich diese 
Goethes Zeitschrift „Über Kunst und 





Kants Lehre vom radikalen Bösen. 359 


tischen Sinne zu verstehen ist, so wenig will ich natürlich eine 
völlige Acceptierung der Kantischen Lehre durch Goethe be- 
haupten, ihn auch nicht einmal stark unter Kantischen Einfluss 
rücken. Das eine aber geht aus den angeführten Worten mit 
voller Deutlichkeit hervor: Bestimmte Tatsachen der Erfahrung 
nötigten Goethe anzuerkennen, dass neben der „Erbtugend“ noch 
eine Macht vorhanden ist, die dem Kantischen radikalen Bösen 
verwandt ist. Das ist denn doch eine schöne Anerkennung der 
Berechtigung der „doppelseitigen“ Betrachtung Kants von einem 
Mann, der gewiss nicht für einen besonderen Kult des Bösen 
schwärmte, der auf diesem Gebiet doch wohl nur das anerkannte, 
dem er sich nicht unbedingt entziehen konnte. Man hat also 
kein Recht mehr, Goethe als absoluten Gegner der Kantischen 
Lehre vom radikalen Bösen zu betrachten. 


Auch Herder, an den Goethe jenen Brief richtete, war voller 
Empörung. Er eröffnete eine grimmige Polemik gegen diese 
„neueste philosophische Satansdogmatik“ oder „philosophische Dia- 
boliade“ (1798 in seiner Schrift „Von Religion, Lehrmeinungen 
und Gebräuchen“, die auch sonst reich ist an Ausfällen gegen Kant). 
Aber es ist ja bekannt, dass ihm das Organ zum Verständnis der 
Kantischen Philosophie fehlte. Zu seiner Entschuldigung muss man 
übrigens bedenken, dass die Kantische Religionsphilosophie ihm 
ständig in der Gestalt entgegentrat, die ihr seine Kandidaten der 
"Theologie gaben; und da mag wohl eine seltsame Mischung aus 
protestantischer Dogmatik, Bibel und Vernunftreligion zustande 
gekommen sein, über die Herder sich mit Recht entsetzen konnte. 
Herders Polemik richtet sich also eigentlich gegen die theologische 
Missdeutung der Kantischen Religionsphilosophie. 


Gerechter war von vornherein Schiller, der „Kantianer“, ob- 
wohl auch ihm die Lehre unsympathisch war. „Zwar ist — 
schreibt er an Körner am 28. Februar 1793 — einer seiner 
(Kants) ersten Grundsätze empörend für mein, und wahrscheinlich 
auch Dein Gefühl. Er behauptet nämlich eine Propension des 
menschlichen Herzens zum Bösen, dass er das radikale Böse 
nennt ... Gegen seine Beweise lässt sich nichts einwenden, 
so gern man auch wollte.“ Trifft er damit nicht den Nagel 
auf den Kopf? — Gewiss, niemand wird sich für das Böse in 
irgend einer Lehrform begeistern, niemand aber wird es leugnen 
können. 


360 G. Fittbogen, Kants Lehre vom radikalen Bösen. 


Wie man aber auch immer iiber Kants Lehre denken mag: 
ehe man über ihn aburteilt, muss man ihn verstehen. Das ist die 
erste Pflicht! Das hat Kant aber seinen Lesern wahrhaftig nicht 
leicht gemacht. Und wenn ich mit dieser Untersuchung dazu 
hätte beitragen können, das Verständnis dieser schwierigen Lehre 
zu erleichtern und eine gerechtere Beurteilung dieses viel- 
geschmähten Stücks der Kantischen Religionsphilosophie anzu- 
bahnen, würde ich zufrieden sein. 


Die unabhängigen Realitäten. 


Von Alois Höfler. 





Das Problem des „Dinges an sich“ samt den mit ihm zusammen- 
hängenden des „Noumenon“, der „Transscendenz“, der Existenz und 
Erkennbarkeit einer Aussenwelt u. dergl. m., ist und bleibt 
zwar nicht „das“, aber doch ein Hauptproblem der Erkenntnis- 
Cheorie, wie oft wir es auch seitens des modernen Phänomenalismus 
schon haben tot sagen hören. 

Dieser Problemenkreis, der mit dem Namen Kants schon 
durch mehrere der angeführten Kunstausdrücke enger als mit dem 
Jedes anderen Forschers verknüpft ist, wenn auch die mit den 
Namen zu verbindenden Begriffe noch mancher Umbildung fähig und 
bedürftig sein werden, hat jüngst zwei tiefgehende Bearbeitungen 
erfahren durch Meinong') und Oelzelt.?) Inwieweit diese beiden 
Arbeiten von einander teilweise Anregung empfangen haben, deutet 
Oe. (114) an. Die ebenfalls aus ihnen ersichtliche Bezugnahme auf 
mündliche und literarische Äusserungen meinerseits zu diesen 
Problemen möchte ich an dieser Stelle erwidern und weiterbilden, 
und speziell auch für die Anregungen aus einer Besprechung 
zwischen uns (vom September 1906) die wissenschaftliche Öffent- 
lichkeit als Teilnehmer und Richter in der unvermeidlichen Fort- 

setzung dieser Diskussionen gewinnen. Namentlich was meine 


1) Meinong „Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens“ (Ab- . 
handlungen zur Didaktik und Philosophie der Naturwissenschaften, heraus- 
gegeben von Poske, Höfler, Grimsehl, I. Bd., Heft 6, 113 S. gr. VIII. Berlin, 
Springer 1906). 

2) Oelzelt-Newin „Die unabhängigen Realitäten“ (Zeitschrift für 
Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 129, Heft 2 [Jänner 1907] 
S. 118—185. Leipzig, Voigtländer 1907). 

Im folgenden werden die beiden Abhandlungen so zitiert, werden, 
dass z. B. M. (89) heisst: Meinong, Erfahrungsgrundlagen etc., Seite 89. 


362 A. Höfler, 


Psychologie“ in dem Abschnitt „Unsere Vorstellung von einer 
physischen Aussenwelt und unser Glaube an ihre Existenz“ (§ 54 
„Beschreibung des naiven Realismus“, § 55 „Die physische Aussen- 
welt vorgestellt als Ursache unserer physischen Phänomene“) 
gebracht hatte, möchte ich konfrontiert sehen mit M.s und Oe.s 
neuesten Ausschaltungen des Kausalgedankens aus dem Kommerzium 
zwischen Ich und Aussenwelt. 


I. Erscheinung und Ding. 
In M.s Abhandlung dürfte die im Titel des § 18 liegende 


These lu: „Äussere Wahrnehmungen als evidente 
Vermutungen“ 


der neueste und grundlegendste Beitrag zur Lösung des alten 
Problems sein. Diese These, welche schon durch ihre Neuheit zum 
Widerspruch reizt, führt M. (89) mit folgender Begründung ein: 
„Wir finden uns .. vor die nachfolgende Alternative gestellt: 
entweder wir geben mit dem Vertrauen auf unsere Sinne auch die 
uns so natürliche Überzeugung von der Existenz einer äusseren 
Wirklichkeit auf, oder wir versuchen, zusammen mit dieser auch 
jenes aufrecht zu erhalten. Wie sich dieses Dilemma praktisch 
entscheidet, darüber besteht nicht der geringste Zweifel: auch 
weitestgehende Idealisten haben immer wieder erkannt, dass sie 
durch ihre Theoreme ihren Glauben an die Aussenwelt in concreto 
nicht zu überwinden im Stande gewesen sind. Aber auch theoretisch 
hätte diese Tatsache grössere und prinzipiellere Beachtung verdient, 
als sie bisher gefunden hat. Es wäre eigentlich der einzige bekannte 
Fall innerhalb unserer Erkenntniserfahrungen, wo das bessere 
Wissen dem anerkannt schlechteren nicht standzuhalten vermöchte. 
Oft schon hat der Irrtum über die Wahrheit gesiegt; aber . . es 
war nie der bereits erkannte Irrtum.“ — Nun hatte M. schon in 
§ 8 „Primäre und sekundäre Qualitäten“ nicht nur die Subjektivität 
der „sekundären“ Farbe, Ton, Wärme (letztere namentlich auf 
Grund einer genauen und bestätigenden Analyse von Lockes 
Versuch, dass dasselbe laue Wasser der abgekühlten Hand warm, 
der erhitzten kalt erscheint, aber nicht zugleich warm und kalt 
sein kann), sondern auch die Subjektivität der „primären“, der 
räumlichen und zeitlichen Eigenschaften zugestanden. Was M. 
aber als nicht bloss subjektiv auch erkenntnistheoretisch retten zu 
können glaubt, ist das den Eigenschaften zugrunde liegende Ding, 


Die unabhängigen Realitäten. 363 


das hinter den Erscheinungen existierende Noumenon. Die Be- 
gründung hierfür besteht vor allem ebenfalls wieder im Appell an 
das allergewöhnlichste Verhalten des Naiven: „Sieht jemand . . 
auf dem Tische vor sich etwa ein Stück Kreide liegen, so hat er 
fürs erste sicher das beste Zutrauen auf das, was er „mit eigenen 
Augen“ sieht. Es ist . . im Grunde sehr auffallend, wie zugänglich 
er trotz dieser Zuversicht für die Subjektivität und daher Geltungs- 
losigkeit der sensiblen Qualitäten bleibt. Er nimmt gar keinen 
erheblichen Anstoss daran, dass nicht nur Farbe, Temperatur, 
Gewicht, Härte, sondern auch Gestalt und Grösse sozusagen durch 
Subjekt und Umstände in di& Bestimmung des gesehenen Gegen- 
standes hineingetragen sein mögen. Nur wenn ihm jemand einreden 
wollte, dass überhaupt gar keine Kreide auf dem Tische liege, dann 
wird er . . nachdrücklichen Widerstand leisten und sich auf die 
Dauer gewiss nicht überzeugt geben (92).“ — Man wird M. sofort 
zugeben dürfen, dass er das verhältnismässig fester Glauben des 
Naiven an Dinge als an Eigenschaften hiermit treffend beschrieben 
habe, wie auch früher das des „weitestgehenden Idealisten“, der 
trotz wirklich oder vermeintlich besseren Wissens immer wieder in 
den Glauben des Naiven rückfällig wird (— freilich nicht erst 
bezüglich des „Dinges“, sondern auch schon seiner „Eigenschaften“; 
auch der unnaiv Gewordene wird die Bejahung der Farben, 
Temperaturen und dergl. nicht so leicht auf immer los, als es M. 
beschreibt). — Dass aber das praktische Verhalten des Naiven vom 
Erkenntnistheoretiker irgendwie als berechtigt erklärt werden 
dürfe, leugnet Oe. (115): „Macht man [einem weniger Geschulten] 
klar, ob er . . eine Vermutungsevidenz dafür habe, dass von dem 
Tisch auch dann noch etwas existiere, wenn das Braun wegfällt, 
das Hart, das Eckig, ja wenn selbst der Ort, wo er sich befindet, 
unabhängig von unserer Anschauung, ganz anders bedeutet, wird 
er hierauf noch sagen: Etwas muss doch noch bleiben? Ich gestehe, 
dass ich nicht weiss, was er dann sagen wird und eigentlich meine 
ich, ist es auch ziemlich gleichgültig, was der Laie hierzu sagt, 
dem doch, sobald er ernst mitzureden anfängt oder gar wider- 
spricht, immer noch die Tür gewiesen wurde. Er wird, wenn er 
etwas gründlicher veranlagt ist, vielleicht sogar sagen: Wenn ich 
darüber urteilen soll, ob ich hier noch Evidenzen habe, so muss ich 
doch vorerst wissen, wovon gesprochen wird. Was soll ein Tisch, 
etwas, das weder braun, noch eckig und hart ist?“ — Wir wollen 
diesen Einspruch kurz formulieren als folgende 


864 A. Hafler, 


These Ilo.: Wir haben ebensowenig Vermutungsevidenz 
fiir die Existenz eines den Erscheinungen zugrunde 
liegenden Dinges, wie fiir die Erscheinung selbst. 

Besehen wir uns, um zwischen Oe. und M. zu entscheiden 
oder soweit als möglich zu vermitteln, was für Gründe und sonstigen 
logischen Apparat (denn noch vor den Begründungen und Urteilen 
mussten ja Definitionen, Distinktionen u. s. f. gegeben worden sein) 
Beide für sich ins Treffen führen. — Der Apparat ist bei M. kein 
unbedeutender. Vor allem überrascht seine Rehabilitierung des 
Substanzbegriffes. Auch sie knüpft an das Denken und Sprechen 
des Naiven an (M. 26 ff.): „Sage ich: „„Das Blatt ist grün““, so 
bezeichnet ,,Blatt““ das Ding, ,,grün““ die Eigenschaft des 
Blattes, jenes das „Was“, dieses das „Wie“ desselben . . . Die 
darin zutage tretende Unselbständigkeit einzelner Qualitäten legt 
es, wie ich an mir selbst erfahren habe, sehr nahe, die natürliche 
Selbständigkeit und damit das Wesen der Substanz oder des 
Dinges darin zu suchen, dass es eben den Komplex der gegenseitig 
sozusagen aufeinander angewiesenen Eigenschaften darstelle. Erst 
gegenstandstheoretische Erwägungen haben mich, und zwar recht 
spät, darauf aufmerksam gemacht, dass durch solche Auffassung 
der eigentliche charakteristische Dinggedanke in Wahrheit verloren 
geht. Denn dieser Gedanke kommt bereits ohne Rücksicht auf 
anderweitige Unselbständigkeiten im Gegensatz der Bedeutungen 
von „Grün“ und „Grünes* zur Geltung. Wichtig ist nun, dass für 
diesen Gegensatz das Moment der Einfachheit oder Zusammen- 
gesetztheit gar nicht in Frage kommt . . . Prinzipiell kann man für 
jede, auch für eine streng einfache Eigenschaft, den Gegensatz der 
reinen und der substantialisierten Eigenschaft oder der Eigenschaft 
am Dinge bilden. „Grünes“ als solches muss darum auch gar nicht © 
mehr Attribute in sich schliessen als „Grün“. Wer aber daraufhin 
geneigt wäre, zu meinen, zwischen „Grünes“ und „Grün“ bestehe 
im Grunde gar kein wirklicher Unterschied, der wird des letzteren 
leicht gewahr, wenn er die so triviale Tatsache beachtet, dass ein 
Grünes zwar natürlich grün ist, Grün dagegen ebenso natürlich 
nicht wieder grün.“ (M. 27) 

Mehreres hierin entfernt sich so sehr von den philosophischen 
Gewohnheiten der Gegenwart, schon weil es sich denen älterer 
und ältester Zeiten wieder nähert, dass M.s Begriff und Behaup- 
tung von Substanzen „hinter“ den (oder als „Träger“ der) 
Eigenschaften das Bürgerrecht in einer neuesten Philosophie 


Die unabhängigen Realitäten. 365 


(Gegenstandstheorie und Metaphysik) gewiss nicht früher sich zu 
erwerben hoffen darf, als bis er die herkömmlichen historischen 
Konfrontationen mit den berühmtesten Freunden (Aristoteles, 
Descartes, Kant) wie Gegnern (Locke, Hume) dieses proble- 
matischen Begriffes bestanden haben wird. Hier, wo wir auf 
solche geschichtliche Exkurse durchaus verzichten müssen und 
wollen, sei als ein erstes Bedenken das gegen die durchgängige 
und wie selbstverständliche Gleichsetzung von Substanz, Ding 
und weiterhin auch von Noumenon (M. 93 ff.) angemeldet, seine 
Erörterung aber ebenfalls für andere Gelegenheit!) verspart. Dass 
aber solche Bedenken nicht erst von aussen in M.s Abhandlung 
hineingetragen zu werden brauchen, dürfte der Satz belegen: 
„Wir mussten ablehnen, die Dinge streng blau oder grün 
zu nennen, weil wir wissen, wie diese Qualitäten . . . von der 
Beschaffenheit unseres Sehorganes abhängen“ (M. 99; wir kommen 


4) Hoffentlich in der Neubearbeitung meiner (seit fünf Jahren ver- 
griffenen) Logik, die in $ 23 sich zum Substanzgedanken im ganzen recht 
skeptisch verhalten hatte; wie ich auch noch 1903 [„Zur gegenwärtigen 
Naturphilosophie*, S. 44] die These aufgestellt habe: „Wir brauchen eine 
Physik ohne Substanz, aber mit Kausalität“. — Immerhin mag der 
künftigen systematischen Revision dieser Dinge vorgearbeitet werden, 
wenn ich einstweilen als einen Anlass zu Bedenken folgendes vermerke: 
Es galten bisher (und gelten auch bei Meinong) zu den obigen drei Be- 
griffen die folgenden als Gegenglieder: 

Substanz — Inhärenz, 

Ding — Eigenschaft, 

Noumenon — Phänomen. 
Da nun die drei rechts stehenden Begriffe sich keineswegs ohne weiteres 
decken, so werden es wohl auch die links stehenden nicht tun, — Ferner: 
Ohne dass wir Bevorzugung, die M. dem Ding vor den Eigenschaften 
giebt, entgegentreten wollen oder müssen, gelten uns als „gegeben“ 
doch nur die direkt ,empfundenen* Eigenschaften, das Ding dagegen ist 
ein Hinzugedachtes; nicht mehr und nicht weniger als dieses besagt 
ja auch eben der Name „Noumenon“. Da erhebt sich nun die Frage: Mit 
welchem Recht denken wir zu dem Gegebenen unsererseits etwas hinzu? 
Je mehr M. die gegenstandstheoretische Notwendigkeit betont, um so 
aüher rückt für den an Kantische Gedankenbahnen Gewöhnten der Ge- 
danke an eine ,kategoriale“ Zutat. Sogleich aber mit dem Worte „Kate- 
gorie“ rückt auch der ganze Komplex von Fragen nach dem Wesen der 
Kategorien heran. Diesen aber muss ich noch heute für einen keineswegs 
in dem Masse geklärten halten, wie es die gegenwärtige Relationstheorie 
«vgl. meine Frage „Sind die Kategorien Relationen?“ in meinem Nach- 
‘wort zu Kants M. A, d. Naturwissenschaft [J. A. Barth 1900), allgemeiner 
‘die Gegenstandstheorie, verlangen oder isten muss, 

Kautstudien XII, 24 





366 A. Höfier, 


auf die hier von mir im Druck hervorgehobenen Worte unten, 
8. 373, zurück). — Wie verträgt sich das mit der von M. oben 
(27) selbst hervorgehobenen „trivialen Tatsache, dass ein Grünes 
natürlich grün ist“? Wohl schwerlich anders, als wenn das Wort 
„Grünes“ in zweierlei Sinn angewendet wird, einem phänomenalen 
und einem metaphänomenalen (wie ich der Kürze wegen mit dem 
von Josef Breuer!) geprägten Terminus sagen will). — Oe. (124) 
nennt es eine „Umwortung“, wenn man auch das dem phäno- 
menalen Grün und Grünen zugrunde Liegende noch einmal nou- 
menales Grün, bezw. noumenales Grünes nennt. — Den von aller 
Wortwahl unabhängigen Kern in M.s erkenntnistheoretischer Recht- 
fertigung des naiven Glaubens, dass „hinter“ dem Weiss der 
Kreide noch Etwas, u. zw. etwas anderes stecke als hinter dem 
Grün des Blattes oder dem Braun des Tisches, formuliert (M. 94) 
folgende 


These Ils: „Den phänomenalen Bestimmungen o', 0's etc, 

stehen... noumenale Bestimmungen 0,, 0, etc. gegenüber, 

von denen... evident ist, dass zwischen ihnen die näm- 

lichen Vergleichungsrelationen gelten wie zwischen 
den o'.“ 

Gegen diese These richtet sich der Einwand Oe. (126): 
„Schon das Reich des Erfahrbaren zeigt z. B., dass verschiedene 
Ursachen gleiche Wirkungen haben können, und es ist durchaus 
möglich, zu einer Reihe eines Empfindungskontinuums mit abge- 
stuften Ähnlichkeiten eine parallele diskontinuierliche Reihe be- 
liebiger Dinge zu konstruieren, die nur zugeordnete, aber durch- 
aus unähnliche Qualitäten darstellen. Da dieses aber auch für 
alle Arten transscendenter Abhängigkeit gelten kann, so heisst 
dies, es können die zweiten Realitäten zweier Dinge, von denen 
ich Ähnlichkeit aussage, falls ich jene wahrnehmen könnte, un- 


1) Vgl. meine Abhandlung „Zur gegenwärtigen Naturphilosophie“, 
Beilage I, S. 131. — Der von Meinong (Über Gegenstandstheorie, Joh. 
Ambr. Barth 1904, S. 37 ff) erhobene Einspruch, es lasse sich auch das 

„Phänomenale“ nicht aus dem Bereiche der Metaphysik ausschliessen, trifft 
nicht den Begriff und Terminus „Metaphänomenales“ selbst, sondern erst 
die Definition der Metaphysik als „Wissenschaft vom Metaphänomenalen“. 
— Auch alle diese an dem Begriff des „Phänomenes“ mit interessierten 
Streitfragen wären erst auszui mn durch eine Untersuchung: „Was für 
eine Phänomenologie wir brauchen“ [vgl. „Zur gegenw. Natur- 
philosophie“, S, 89, Anm, 38]. 





Die unabhängigen Realitäten. 367 


ähnlich sein; die zweiten Realitäten zweier Farben könnten nach 
ihren Relationen ebenso verschieden sein, wie ihre Eigenschaften 
von denen der Empfindungen. Allerdings blieben die Relationen 
damit um nichts weniger übertragbar im vorher besprochenen 
Sinne, nur nicht in der einfachen Weise, dass ich das Recht 
hätte, ohne weiteres aus der Ähnlichkeit zweier Dinge auf die 
Ähnlichkeit ihrer zweiten Realitäten zu schliessen.“ 

„Zweite Realität“ ist in der ganzen Arbeit Oe.s (wie schon 
früher in der Kosmodicee 1897 und den Nachträgen zu ihr 1900) 
der technische Ausdruck für die vom Ich, als der „ersten Reali- 
tät“, unabhängige Welt der Dinge an sich. Bezeichnen wir nun, 
um im weiteren kurz von der Art, wie Oe. sich die „Zuordnung“ 
der zweiten zur ersten Realität denkt, sprechen zu können, die 
einzelnen Glieder 

der ersten Realität mit a,b,c . . x, y, Z 
die der zweiten Realität mit y, y, À . . & a, e, 
so soll vor allem die Regellosigkeit der zweiten Reihe das Be- 
denken zum Ausdruck bringen, was von dem Gedanken einer „Zu- 
ordnung“, eines „Zugeordnetseins“ eigentlich noch übrig bleibt, 
wenn wir schlechthin alles, was die zwischen den Gliedern der 
ersten Reihe bestehenden Ähnlichkeits- und Verschiedenheitsrela- 
tionen Gliedern auf die der zweiten Reihe genau oder annähernd 
übertrüge, von dieser zweiten Reihe fernhhalten wollten und 
könnten. Fordert doch der Begriff des „Zuordnens“ allein schon 
zum allermindesten, dass je einem „Glied“ der ersten Reihe ein !) 
„Glied“ der zweiten Reihe „entspreche“ und somit wenigstens 
zwischen den Cäsuren der ersten und der zweiten Reihe eine Art 
Ähnlichkeit bestehe — wieviel Willkürlichkeit übrigens schon im 
„Zergliedern“ der ersten Reihe etwa liegen mag (wie z. B, im 
„Einteilen“ der Weltgeschichte). — Oe. mag diesem Bedenken 
erwidern, er bedürfe zum „Zuordnen“ nicht der Ähnlichkeitsrela- 
tionen, da er es ja auf Abhängigkeitsrelationen gründe; wobei für 
eine erschöpfende Abwägung der Anteile dieser beiden Haupt- 
klassen von Relationen daran zu erinnern wäre, dass M. schon 


1) Nach Analogie zu den nicht ein, sondern mehrdeutigen Funk- 
tionen (wie z. B. nach y=+,/x je einem rte des x zwei Werte 
des y zugeordnet sind) wäre alleı auc Möglichkeit zweier oder 
mehrerer Glieder der zweiten Reihe offen ; ; aber nur nicht unendlich oder 
unbestimmt vieler, 

ur 





366 A. Hötler, 


auf die hier von mir im Druck hervorgehobenen Worte unten, 
S. 373, zurück). — Wie verträgt sich das mit der von M. oben 
(27) selbst hervorgehobenen „trivialen Tatsache, dass ein Grünes 
natürlich grün ist“? Wohl schwerlich anders, als wenn das Wort 
„Grünes“ in zweierlei Sinn angewendet wird, einem phänomenalen 
und einem metaphänomenalen (wie ich der Kürze wegen mit dem 
von Josef Breuer!) geprägten Terminus sagen will). — Oe. (124) 
nennt es eine „Umwortung“, wenn man auch das dem phäno- 
menalen Grün und Grünen zugrunde Liegende noch einmal nou- 
menales Grün, bezw. noumenales Grünes nennt. — Den von aller 
Wortwahl unabhängigen Kern in M.s erkenntnistheoretischer Recht- 
fertigung des naiven Glaubens, dass „hinter“ dem Weiss der 
Kreide noch Etwas, u. zw. etwas anderes stecke als hinter dem 
Grün des Blattes oder dem Braun des Tisches, formuliert (M. 94) 
folgende 


These Ill: „Den phänomenalen Bestimmungen 0, 0% etc. 

stehen... noumenale Bestimmungen 0,, 0, etc. gegenüber, 

von denen... evident ist, dass zwischen ihnen die näm- 

lichen Vergleichungsrelationen gelten wie zwischen 
den o'“ 

Gegen diese These richtet sich der Einwand Oe. (126): 
„Schon das Reich des Erfahrbaren zeigt z. B., dass verschiedene 
Ursachen gleiche Wirkungen haben können, und es ist durchaus 
möglich, zu einer Reihe eines Empfindungskontinuums mit abge- 
stuften Ähnlichkeiten eine parallele diskontinuierliche Reihe be- 
liebiger Dinge zu konstruieren, die nur zugeordnete, aber durch- 
aus unähnliche Qualitäten darstellen. Da dieses aber auch für 
alle Arten transscendenter Abhängigkeit gelten kann, so heisst 
dies, es können die zweiten Realitäten zweier Dinge, von denen 
ich Ähnlichkeit aussage, falls ich jene wahrnehmen könnte, un- 


1) Vgl. meine Abhandlung „Zur gegenwärtigen Naturphilosophie*, 
Beilage I, 8. 131. — Der von Meinong (Über Gegenstandstheorie, Joh. 
Ambr. Barth 1904, S. 37 ff.) erhobene Einspruch, es lasse sich auch das 
„Phänomenale“ nicht aus dem Bereiche der Metaphysik ausschliessen, trifft 
nicht den Begriff und Terminus „Metaphänomenales* selbst, sondern erst 
die Definition der Metaphysik als „Wissenschaft vom Metaphinomenalen*. 
— Auch alle diese an dem Begriff des „Phänomenes“ mit interessierten 
Streitfragen wären erst auszutragen durch eine Untersuchung: „Was für 
eine Phänomenologie wir brauchen“ [vgl, „Zur gegenw. Natur- 
philosophie“, S, 89, Anm, 38]. 





Die unabhängigen Realititen. 367 


ähnlich sein; die zweiten Realitäten zweier Farben könnten nach 
ihren Relationen ebenso verschieden sein, wie ihre Eigenschaften 
von denen der Empfindungen. Allerdings blieben die Relationen 
damit um nichts weniger übertragbar im vorher besprochenen 
Sinne, nur nicht in der einfachen Weise, dass ich das Recht 
hätte, ohne weiteres aus der Ähnlichkeit zweier Dinge auf die 
Ähnlichkeit ihrer zweiten Realitäten zu schliessen.“ 

„Zweite Realität“ ist in der ganzen Arbeit Oe.s (wie schon 
früher in der Kosmodicee 1897 und den Nachträgen zu ihr 1900) 
der technische Ausdruck für die vom Ich, als der „ersten Reali- 
tät“, unabhängige Welt der Dinge an sich. Bezeichnen wir nun, 
um im weiteren kurz von der Art, wie Oe. sich die „Zuordnung“ 
der zweiten zur ersten Realität denkt, sprechen zu können, die 
einzelnen Glieder 


der ersten Realität mit a,b,c . . x, y, 2, 
die der zweiten Realität mit y, y, À . . & 4, 
so soll vor allem die Regellosigkeit der zweiten Reihe das Be- 
denken zum Ausdruck bringen, was von dem Gedanken einer ,Zu- 
ordnung“, eines „Zugeordnetseins“ eigentlich noch übrig bleibt, 
wenn wir schlechthin alles, was die zwischen den Gliedern der 
ersten Reihe bestehenden Ähnlichkeits- und Verschiedenheitsrela- 
tionen Gliedern auf die der zweiten Reihe genau oder annähernd 
übertrüge, von dieser zweiten Reihe fernhhalten wollten und 
könnten. Fordert doch der Begriff des „Zuordnens“ allein schon 
zum allermindesten, dass je einem „Glied“ der ersten Reihe ein’) 
„Glied“ der zweiten Reihe „entspreche“ und somit wenigstens 
zwischen den Cäsuren der ersten und der zweiten Reihe eine Art 
Ähnlichkeit bestehe — wieviel Willkürlichkeit übrigens schon im 
„Zergliedern* der ersten Reihe etwa liegen mag (wie z. B. im 
„Einteilen“ der Weltgeschichte). — Oe. mag diesem Bedenken 
erwidern, er bedürfe zum „Zuordnen“ nicht der Ähnlichkeitsrela- 
tionen, da er es ja auf Abhängigkeitsrelationen gründe; wobei für 
eine erschöpfende Abwägung der Anteile dieser beiden Haupt- 
klassen von Relationen daran zu erinnern wäre, dass M. schon 


4) Nach Analogie zu den nicht ein, sondern mehrdeutigen Funk- 
tionen (wie z. B. nach y=+,x je :m Werte des x zwei Werte 
des y zugeordnet sind) wäre a ch die Möglichkeit zweier oder 
mehrerer Glieder der zweiten Reihe offen; aber nur nicht unendlich oder 
unbestimmt vieler. : 2 

ur 





368 A. Höfler, 


1882") die „Verträglichkeitsrelationen“ als doch erst wieder über 
Vergleichungsrelationen gleichsam sich aufbauend beschrieben 
hatte. — Dass nun M. viel weitergehende Ähnlichkeiten zwischen 
den 0’, 0 ete. und den O,, 0, etc. behauptet, wollen wir durch 
ein entsprechendes Ordnen der zweiten von beiden Reihen 

a, b,e . . x, y,2, 

a, 8,7 - - nd 
symbolisieren; ja wir können die von M. als unmittelbare Ver- 
mutungsevidenz behauptete Abstufung der Ähnlichkeitsmasse 
zwischen den Noumenen symbolisieren durch eine Proportion 

a2 D.C... . warn 

Vielleicht wird sich die zwischen M. und Oe. schwebende Streit- 
frage sogar am einfachsten durch eine an diese symbolische Pro- 
portion ankniipfende mathematische Analogie formulieren und bis 
zu einem gewissen Grade schlichten lassen: 

Dass nach These IH. zwischen noumenalen Bestimmungen 
die nämlichen Vergleichungsrelationen gelten, wie zwischen den 
zugeordneten phänomenalen Bestimmungen, wäre analog dem denk- 
bar einfachsten Falle mathematischer funktionaler Abhängigkeit, 
die ja eben die direkte Proportionalität ist; und unter dem Bilde 
einer solchen Analogie gesehen erscheint dann Oe.s Ablehnung 
einer solchen allzu einfachen funktionalen Beziehung sogleich ge- 
rechtfertigt durch einen flüchtigen Überblick über die zahllosen 
Gattungen und Arten von Funktionen ausser der blossen Propor- 
tionalität, wie sie nicht bloss die mathematische Phantasie aus- 
denkt, sondern wie sie auch in der physischen und psychischen 
Welt sich realisiert zeigen. Dennoch kann man diesem so nahe- 
liegenden Einwand entgegenhalten, dass wenigstens in sehr vielen 
Fällen, wo man eine von der einfachen Proportionalität mehr oder 
weniger weit sich entfernende Gesetzmässigkeit (etwa schon 
Galileis Beziehung s — at? zwischen Fallstrecke s und Fall- 
zeit t) in ihre Realgründe verfolgt, man früher oder später doch 
wieder auf die einfache Proportionalität trifft. (So ist in unserem 
Beispiele das Quadratgesetz auf die Beziehung v = gt für die Fall-_ 
geschwindigkeit v gegründet, und diese phoronomische Beschreibung 
wieder auf das erste und zweite der Newtonschen dynamischen 


1) Hume-Studien u (Sitzungsberichte der Wiener Akademie, 1882) 
S. 89 [859] ff. - 





Die unabhängigen Realitäten, 369 


Gesetze, die auch direkte Proportionalitäten aussprechen.) Ent- 
scheidend würde diese Bevorzugung der direkten Proportionalität 
natürlich erst durch eine Art Statistik, wieviel der anderweitigen 
Funktionsbeziehungen auf solche einfache Proportionalitäten zurück- 
führen und wieviele etwa überhaupt nicht. Auch wenn es eine 
(aur nicht allzu unbeträchtliche) Überzahl ist, darf sie als ein, 
wenn schon nicht Rechtfertigungs-, so doch Entschuldigungsgrund 
für den naiven Anfänger gelten, der, weil er eben noch keine 
andere Art von funktionaler Abhängigkeit kennt als die direkte 
Proportionalität (z. B. zwischen Preis und Warenmenge, Arbeiter- 
zahl und Leistungsmenge — und selbst hier ist ja die Proportio- 
nalität schon manchmal durchbrochen, wenn es sich um Diamanten 
von 1, 2, 3 Gran handelt, oder um Arbeiter, die sich gegenseitig 
stören oder fördern u. dgl, m.) immer und überall auf diese direkte 
Proportionalität treffen zu müssen, ja sie wohl gar für evident 
halten zu dürfen meint. Und muss man das, was der Anfänger, 
dieser „naive“ Mathematiker, hier für evident hält, zwar zuerst 
nur Vorurteil nennen, so könnte er sich im Besitze jener Statistik 
nachmals immerhin darauf steifen, dass er wenigstens jetzt eine 
Evidenz der (sogar zahlenmässig auszuwertenden) Wahrscheinlich- 
keit dafür habe, es werde eine neu entgegentretende Abhängigkeit 
„im Grunde“ doch auch wieder als einfache Proportionalität wenig- 
stens so lange präsumiert werden dürfen, bis die Erfahrung und 
ihre möglichst weit (zu den Prinzipien) geführte Analyse etwa 
doch das Gegenteil gelehrt habe. 

Auch das an der Spitze des angeführten Einwandes von Oc, 
(135) ebenfalls nur als Analogie herangezogene Beispiel, „dass 
verschiedene Ursachen gleiche Wirkungen haben können“, steht 
ja nicht im unversöhnlichen Widerspruch mit dem vom M. (95) 
geltend gemachten Satz, „aus Verschiedenheit der Wirkungen darf 
man ja in der Regel auf Verschiedenheit der Ursachen, aus 
Gleichheit der Wirkungen auf Gleichheit der Ursachen schliessen“. 
Jeder wird es von vornherein praktisch und mit gutem theore- 
tischen Rechte so lange mit der „Regel“ (der sozusagen „Propor- 
tionalität“ zwischen Ursache und Wirkung) halten, bis man aus 
ganz bestimmten Gründen im einzelnen bestimmten Falle die 
„Ausnahme“ zuzugeben genötigt ist. Und so ist es allerdings 
auch (Oe. 126) „durchaus möglich, zu einer Reihe eines Empfin- 
dungskontinuums mit abgestuften Ähnlichkeiten eine parallele dis- 
kontinuierliche Reihe beliebiger Dinge zu konstruieren“; aber was 





370 A. Höfler, 


„möglich“ ist, muss doch noch keineswegs das Wahrschein- 
lichste sein. 

Trachten wir aber jetzt aus solchen Allgemeinheiten und 
blossen Möglichkeiten heraus zu denjenigen Wahrscheinlichkeiten 
vorzudringen, mit denen der praktische Naive, wie der praktische 
Naturforscher sich durch die Welt hilft, so sehen wir M.s und 
Oe.s Erkenntnistheorie die Bedeutung dieses praktischen Verhaltens 
grundsätzlich so verschieden einschätzen, dass es auf den ersten 
Blick direkter Gegensatz scheint. Und doch dürfte sich zeigen 
lassen, dass auch Oe. dem für M. charakteristischen Bestreben, 
mit seiner Erkenntnistheorie der Erkenntnispraxis möglichst nahe 
zu bleiben, viel näher steht, als er (Oe,) selber meint. Denn 
es räumt ja auch Oe. dem naiven Kinde und dem naiven Natur- 
forscher sogleich eine sehr weitgehende metaphysische Kompetenz 
ein, wenn er ihr Urteil über die Existenz einer zweiten Realität 
in folgenden Worten beschreibt: 

„Schon das Kind, das Feuer verkohlen sah, wird, wenn es 
zum erstenmal eine Kohle ohne Feuer sieht, glauben, dass Feuer 
vorausgegangen sei, einfach auf Grund der Erinnerung an die 
schon gesehene Kohle, die durch Feuer entstanden ist. Hier wird 
vom Kinde zum erstenmal eine unabhängige Realität an- 
genommen, die über den Solipsismus hinausgeht“ (Oe. 121). 

Zur Orientierung des Lesers sei hier eingeschaltet, dass das 
Beispiel von Feuer-Kohle (Realgrund) und Kohle-Feuer (Erkennt- 
nisgrund) in Oe.s Hand die Pistole ist, die er seinem Hauptgegner, 
dem Phänomenalisten, auf die Brust setzt: Was ist „Antezedens“, 
wenn einmal Kohle ohne Feuer erblickt wird; die (diesmal durch 
die Assoziation Feuer-Kohle geweckte) Erinnerungsvorstellung vom 
Feuer? -— diese wäre ja deren Konsequens, nicht Antezedens! — 
Ich teile völlig Oe,s Eindruck, dass dieser Waffe bisher keine 
gleich treffsichere entgegengestellt worden sei, sondern nur die 
verlegene Ausrede auf „Wahrnehmungsmöglichkeiten“ u. dgl. — 
Aber nicht diese Gemeinsamkeit unserer Überzeugung von der 
Unentbehrlichkeit „unabhängiger Realitäten“ hat uns hier zu be- 

ij eben erst auf Grund dieser Gemeinsam- 


| Oe., wiewohl hier namens „grauester 
schon das Kind als unverächtlichen 
les Feuers gelten; natiirlich nur so, 





Die unabhängigen Realitäten. 371 


Abstrichen dennoch entscheidend wertvoll sein kann. Das Kind 
nimmt die (durch den Anblick der Kohle reproduzierte Erinnerungs-) 
Vorstellung vom Feuer (genauer: deren ,immanenten“ Gegenstand) 
samt allen seinen anschaulichen Merkmalen ohne jeden Abstrich 
für ein Ding an sich. Die Frage ist nun: Wie viele Abstriche 
muss der Metaphysiker vornehmen, damit er sich nicht einer 
müssigen „Verdoppelung“ (Oc. 123) schuldig mache; wieviele 
solche Abstriche darf er aber höchstens machen, damit ihm nicht 
etwa gar nichts mehr, sondern damit ihm doch immer noch gerade 
das Ding an sich eben jenes Feuers in Händen bleibt? Oder in 
Form der obigen Frage: Welches Ausmass positiver Bestimmungen 
wird schon durch den blossen Begriff des „Zuordnens“ einer 
zweiten Realität g zu einer gegebenen ersten r erfordert, damit 
uns nicht dieser Begriff des „Zuordnens“ selber unter den Händen 
zerrinne? Auf die so zugespitzte Frage nach dem richtigen Aus- 
mass der unvermeidlichen Abstriche haben wir nun aber nach Oe. 
die authentische Antwort auch nicht etwa vom Naturforscher zu 
erwarten, der zwischen dem Kinde und dem Metaphysiker steht. 
Vielmehr ist auch er nur ein Zeuge für das „Dass“, nicht für das 
„Wie“ der zweiten Realität; denn (Oe. 122, 123): 

„Auch die grundlegende Naturwisssenschaft, die Physik 
braucht die Annahme einer zweiten Realität und kann sich 
nicht begnügen mit der Erforschung bloss von Empfindungs- 
beziehungen in mathematischen Formeln. Sie braucht die ihnen 
zugrunde liegenden metaphysischen Vorgänge der zweiten 
Realität, worauf sich auch alle ihre Abstraktionen, Hilfs- 
und Rechenkonstruktionen beziehen: Atome, Äther, Fluida, 
kontinuierliche Materie, samt ihren Relationen, falls jene nicht 
widerspruchsvolle Annahmen eines „Zwischenreiches“ sind. Für 
den Physiker heisst, der Magnet zieht an, gleicherweise wie Feuer 
verkohlt: sie haben die Kraft so zu wirken — der kürzere Ausdruck 
dafür, dass sie bleibende Teilursachen sind, d. h. Antecedenzien 
eines Geschehens werden können, dem auch ein Vorgang in der 
zweiten Realität entspricht. Dass die Physik zu solchen oder gar 
zur Erkenntnis bestimmt gearteter Luftschwingungen, die einen 
‘Ton bedingen, jemals gelangen könne unter der Annahme, dass diese 
nur soweit existieren als sie wahrgenommen werden, ja nur zur 
Übereinstimmung ihrer Phasen in mehreren Beobachtern, müsste 
zum mindesten gegen den auch von der Physik bisher mit Erfolg 
anerkannten naiven Realismus als möglich erwiesen werden, Könnte 





372 A. Hofler, 


sie dies, dann allerdings wire damit auch fiir die Metaphysik die 
Entbehrlichkeit der zweiten Realität bewiesen.* 

Wieder sei zur Orientierung des Lesers hier eingeschaltet, 
dass der Terminus „Zwischenreich physikalischer Realitäten“, deren 
Annahme Oe. hier „eine widerspruchsvolle“ nennt, von mir!) ein- 
geführt wurde, um die so oft geschilderte Verlegenheit des Phy- 
sikers zu charakterisieren, der z. B. seine Atome als räumlich 
ausgedehnt, aber als farblos denkt, wiewohl doch (Gesichts-) Raum- 
daten ohne Farbenqualitäten undenkbar, genauer: mit innerem 
Widerstreit belastet sind. Wollten wir um dieser Schwierigkeit 
willen aber auf ein solches Zwischenreich völlig verzichten, was 
bleibt dann von „Atomen, Äther“ und dergl. übrig? Und inwiefern 
können diese auch nur noch Hilfs- und Rechenkonstruktionen genannt 
werden, die sich überdies geradezu auf die metaphysischen Vor- 
gänge der zweiten Realität beziehen sollen, also „Wirklichkeiten 
treffen“, die nicht „blosse Bilder“ sein wollen??) 

Alle diese alten und neuen Verlegenheiten spitzen sich zu 
auf die zwischen Oe. und M. schwebende Streitfrage nach dem 
Mehr oder Weniger der Abstriche, die sich unsere Anschauungs- 
bilder von der Aussenwelt gefallen lassen müssen, damit diese als 
ein Ding an sich allerunnaivsten, „kritischen“ Ansprüchen stand- 
halte. Auf Oe.s allgemeine Lösung dieser Aufgabe kommen wir 
unten (8. 374 ff.) zurück und halten uns für jetzt an das letzte der 
vier zur Sprache gekommenen, wesentlich gleichartigen Beispiele 
vom Feuer, dem Tisch, der Kreide und dem grünen Blatt; wobei 
wir hier wieder nur jenen ganz speziellen Punkt herausgreifen, den 
Oe. eine „Umwortung“ nannte. Er glaubt sie darin zu finden, 
dass M. angesichts eines gesehenen „grün“ (g) nicht nur das 
gesehene Blatt ein Grünes (G) nennt, sondern auch das hinter 
dem Blatt zu denkende Ding an sich ebenfalls ein Grünes (7), wie 
wenn dieses selber noch einmal „grün“, diesmal aber „noumenal- 
grün“ (y) wäre. Wenn hiermit M. diesem I’ die Eigenschaft g 
noch einmal, u. zw. in ganz demselben Sinne wie dem G beilegte, 
wäre dies freilich eine jener Verdoppelungen, um derentwillen man 
so häufig das Ding an sich überhaupt eine müssige Erfindung 


1) Zur ‚gegenwärtigen Naturphilosophie (S. 98). Meinong erwähnt 





Die unabhängigen Realitäten. - 373 


nennen hört. Halten wir uns aber an die schon oben angeführten 
Worte (M. 99), die wir hier hervorheben wollen als 


These IV: „Wir mussten ablehnen, die Dinge streng 
blau oder grün zu nennen, weil wir wissen, wie diese 
Qualitäten . . von der Beschaffenheit unserer Sinnes- 
organe abhängen“, 

so ist es durch sie ausgeschlossen, dass M. dem I’ noch einmal 
ein eigentliches „grün“ (y, wo y = g wäre) zuschreiben wolle. 
Eben darum will aber Oe. auch das Wort „Grünes“ für das Ding 
an sich des gesehenen Blattes schlechterdings vermieden wissen. 
Es sind also M. und Oe. in der Sache einig, dass es im Reich der 
Dinge an sich kein Grünes und überhaupt kein Farbiges (also auch 
kein Graugrünes oder dergl.) gebe, dem die Eigenschaft „grün“ im 
phänomenalen Sinne noch einmal zukäme. Dennoch verzichtet M. 
nicht darauf, auch das Ding an sich des Blattes ein „Grünes“ zu 
nennen; und ist dieses nach Oe. eine Umwortung, so ist sie 
wenigstens insoweit bequem, als sie in der kunstlosen Sprache des 
Alltags denselben Gedanken der Zuordnung eines Dinges an sich 
zudem phänomenalen Grün, bezw. Grünen andeutet, den wir künstlich 
durch die Zuordnung griechischer Buchstaben zu den lateinischen, 
oder durch eine fortwährende Wiederholung des Beisatzes „Ding 
an sich des —“ jedenfalls nur sehr schwerfällig erreichen. — 
Freilich ist solche Schwerfälligkeit ebensowenig eine sachliche 
Widerlegung der „Dinge an sich“, wie die Zinsgroschenfrage: 
„Kannst Du Dich auf das Ding an sich eines Sessels setzen?“ 
Man darf eine solche Frage nur nicht inkonsequent bejahen oder 
yerneinen, sondern muss natürlich, wenn der sichtbare Sessel (S) 
durch das metaphysische Ding (=) ersetzt werden soll, auch zum 
physischen „setzen“ (s) den zugehörigen „metaphysischen Vorgang“ 
(c) schon in die Frage legen. Nur wer dann selber durchwegs 
== 8, o = s gesetzt hätte, dürfte sich über Verdoppelung lustig 
machen, die aber nun nur ihm selbst zur Last fiele, 

Es wäre aber das entgegengesetzte Extrem und womöglich 
noch unfruchtbarer als solche unbewiesene Gleichheit, wollte man 
jede „Beziehung“ zwischen = und S, zwischen o und s, zwischen 
T und G ws. w., als angeblich mit der Natur des „Dinges an sich“ 
oder eines „Vorganges an sich“ unverträglich, überhaupt abweisen. 
Zwischen solchen Extremen sind hier zahlreiche Mittelstellungen 
denkbar und vor und seit Kant eingenommen worden. Die 





374 A. Höfler, 


Phänomenalisten pflegen neuestens Kant einen Realisten (und 
zwar gelegentlich sogar einen „naiven“ Realisten) zu nennen, weil 
er von der These ausgegangen ist: Wir erkennen die Dinge nicht, 
wie sie an sich sind, sondern nur wie sie uns erscheinen. Zu- 
zugeben ist, dass hier das „Dass“ einer Existenz von Dingen an 
sich als ein unmittelbar evident gewisser Satz hingestellt wird, 
worauf dann erst die Erkennbarkeit jedes „Wie“ mit ebensolcher 
Gewissheit geleugnet wird. Zuzugeben ist ferner, dass diese Unter- 
scheidung des „Dass“ und „Wie“, die man für ebenso dringend 
wie selbstverständlich halten sollte, in dem ganzen schier unend- 
lichen Streite für und wider die Dinge an sich nur zu häufig 
übersehen worden ist. Nach dem Grundsatze „Kein Quid ohne 
Quale, kein Quale ohne Quid“,!) darf sich aber Niemand, der 
(„naiv“ oder „kritisch“, evidenzlos oder evident) daran glaubt, 
dass es Dinge an sich giebt, der Verpflichtung entziehen, auch 
irgend etwas Positives über ihr Wie auszusagen (ebenso wie 
Niemand sagen darf, er glaube an Gott, ohne dass er diesem seinen 
Gott wenigstens ein positives, äusserstenfalls auch nur irgend ein 
negatives Merkmal beilegt). 

Dieser Aufgabe unterzieht sich Oe. im zweiten Teil seiner 
Abhandlung 123—131, indem er ein solches „Minimum der Trans- 
zendenz“ (123) sucht, wie es durch das im ersten Teil der Ab- 
handlung bewiesene „Dass“ einer zweiten Realität gefordert sei. 
Wir deuten hier Inhalt und Ergebnis dieses Teiles der Untersuchung 
dadurch an, dass wir die zur Sprache gebracht Gegenstände 
einfach aufzählen und hinter jeden ein -+ oder — setzen, je nachdem 
seine Übertragbarkeit aus der ersten in die zweite Realität be- 
hauptet oder geleugnet wird. Es sind: Die sinnlichen Qualitäten 
(—), Raum (—), Zeit (—), Gleichheits- und Verschiedenheits- 
relationen (—), Zahl (+), Notwendigkeitsrelationen (+), Kausalität 
(—; vgl. unten S. 383, Oes. Gründe für diese Negation einer 
„Kausalität an sich“). — Es drängen sich hier die Fragen auf: 
Warum sind gerade diese absoluten und relativen Begriffe für 
die Erörterung gewählt worden? Sind es wirklich alle überhaupt 
denkbaren, oder geschah vielmehr die Wahl gerade so, um zu einer 
bestimmten Wahrnehmungstheorie Stellung zu nehmen? Ich glaube 
letztere Frage weiter unten S. 386 ff. bejahen zu sollen, Unabhängig 
von solchen Zusammenhängen stellt sich aber nach dem Überblick 

1) Vgl. E. Mally in Meinong’s „Untersuchungen zur Gegenstands- 
theorie und Psychologie“, | 2 





3 Die unabhängigen Realitäten. 375 


jenes Minimums von Transzendenz wohl bei jedem Leser das 
Bedürfnis ein, nun das aus den wenigen verbliebenen Bausteinen 
zu errichtende metaphysische Gebäude zu vergleichen mit dem 
reich geschmückten Weltbilde, das dem Nichtmetaphysiker, sei es 
ein Kind oder ein Naturforscher oder sonst ein „Naiver“, gegen- 
überzustehen — scheint. Ohne dass wir hier näher auf alle feineren 
Differenzen eingehen, zu denen z. B. sogleich die Eingangsworte 
der ganzen Abhandlung!) Anlass gäben, darf der Gesamteindruck 
wohl dahin ausgesprochen werden, dass die von Oe. geschaffene 
Kluft zwischen der ersten und zweiten Realität sehr breit und 
sehr tief ausgefallen ist. Haben wir hier nur das unvermeidliche 
„ignoramus“ einzugestehen, oder aber eine Unterschätzung dessen, 
was die Naturforschung einerseits, eine mit neuen Werkzeugen 
arbeitende Erkenntnistheorie andererseits, zu einer wenigstens teil- 
weisen und schrittweisen Ausfüllung der Kluft zu tun vermöchte? 
Was Oe. hierfür yon der Naturwissenschaft (134, Anm.) erwartet, 
ist nicht wenig, aber er erwartet es eben erst von einer un- 
bestimmten Zukunft. Und ausdrücklich verwirft er alle oder fast 
alle erkenntnistheoretischen Werkzeuge, die M. neu schmiedet und 
anwendet, um der äusseren Wahrnehmung ein besseres Recht auf 
die Erkenntnis der physischen Aussenwelt zu verschaffen, als ihr 


1) Sie lauten: „Für die Anhänger des Glaubens an eine vom Ich un- 
abhängige zweite Realität, für die dualistische Annahme, ist das Physische, 
die Körperwelt, auch nur eine besondere Art des Psychischen, Da sie nur 
zwei Arten von Realitäten anerkennen und das Räumliche, Wärme und 
Töne mitbedingt, gegeben sind durch das Ich, durch die erste Realität, so 
wird das Physische eigentlich erst durch das ihr zugrunde liegende Sein, 
das ja selbst nicht wieder physisch genannt werden kann, charakterisiert, 
Es ist dies eine Art genetischen Kriteriums, mit Hilfe der zweiten Realität.“ 
— Gegenüber der hier vorgeschlagenen Terminologie möchte ich doch die 
meiner Psychologie § 1 zweckmiissiger finden: Bleiben wir dabei, die 
Adjektiva „physisch“ und „psychisch“ vor allem auf zwei Klassen von 
Phänomenen anzuwenden, was dann den unmissverständlichen „phäno- 
menalen Dualismus* giebt. Für das dem Physischen eigentlich erst 
zugrunde liegende Sein bietet sich ja dann ganz von selbst das Meta- 
physische (im weiteren Sinne; im engeren steht ihm ja noch ein Meta- 
psychisches gegenüber) dar. Und erst auf diesem metaphysischen Felde 
mag über „Dualismus“ und ,Monismus* weitergestritten werden. Für die 
Unterscheidung der physischen und psychischen Phänomene aber bedarf es 
erst nicht genetischer Kriterien; diese wären gar nicht möglich ohne 
vorausgegangene deskriptive (v; ine Psychologie $ 2, an dem ich bei 
der bevorstehenden Neuauflage eilich auch mancherlei zu verbessern 
haben werde). 





376 A. Höfler, 


seitens einer allzurigorosen Erkenntnistheorie und Metaphysik 
bisher zugestanden worden war. Besehen wir uns also in Kürze 
die neu empfohlenen und angewendeten Erkenntnismittel: 

Vor allem ist es Meinongs Begriff der Evidenz der Wahr- 
scheinlichkeit, kürzer Vermutungsevidenz, der der Zeit 
seiner Konzeption!) nach freilich keineswegs mehr neu, dennoch 
aber der Mehrzahl gegenwärtig produktiver Erkenntnistheoretiker 
noch fremd geblieben ist; vielleicht weil sie nicht hinweg ge- 
kommen sind über den scheinbaren Widerspruch, der in der Ver- 
bindung der Wörter „Vermutung“ und „Evidenz“ liegt, der aber 
als ein nur scheinbarer schon lüngst- entkräftet ist. Genug, dass 
Oe. sich grundsätzlich keineswegs dem Begriff der unmittelbaren 
Wahrscheinlichkeitsevidenzen verschliesst (114, wo er euphemistisch 
sogar von „ihrer Entdeckung eine Art Epoche für die Erkenntnis- 
theorie“ datiert, dieser ganzen Evidenzklasse aber dann doch nur 
ein einziges Anwendungsgebiet, eben das der Gedächtnisphänomene, 
zugesteht). M. dagegen hat während der zwei Jahrzehnte seit 
dieser Konzeption ihr immer neue Anwendungsgebiete zugeteilt 
und geht gegenwärtig so weit, „nur noch die allerbesten Ge- 
dächtnisleistungen“ der Vermutungsevidenz des äusseren Wahr- 
nehmens eines Dinges hinter den Eigenschaften (z. B. des auf 
dem Tisch liegenden Stückes Kreide) an die Seite zu stellen (92). 

Ebenso wie gegenüber der Gewissheit die Vermutung bisher 
zu wenig erkenntnistheoretisch verwertet worden ist, so auch 
neben: dem Genauen das Ungenaue. Wie jene Unterscheidung 
das Urteilen, betrifft diese das Vorstellen. Auf dieses, hier zum 
erstenmal der erkenntnistheoretischen Würdigung (und zwar einer 
positiven, nicht bloss einer alles Ungenaue a limine ablehnenden, 
negativen) empfohlene Moment der Ungenauigkeit gründet M. den 
Begriff der Halbwahrnehmung (98): Der Fehler des. . . 
„naiven Realismus“ wird hierbei dahin präzisiert, „dass für Voll- 
wahrnehmung genommen wird, was nur Halbwahrnehmung ist“ 
(98). Nach Feststellungen über die Übertragbarkeit von Ver- 
gleichungsrelationen („Die Dinge an sich sind also gleich, un- 
gleich ete.“, 100) und : die „Prärogative der Verschiedenheit“, 
(„Es gilt im allgemeinen das Prinzip: Wenn von zwei Beschauern 
der eine Verschiedenheit findet, der andere Gleichheit, so hat der 

2) 1885 oder früher. — „Zur erkenntnistheoretischen Würdigung des 
Gedächt-nisses“, V = 





Die unabhängigen Realitäten. 377 


erstere Recht“, 102) wird unterschieden zwischen „schlechteren 
und besseren Phänomenen“ (104), unter letzteren z. B. die durch 
Lupe und Mikroskop oder durch die Färbemethoden in der Phy- 
siologie gewonnenen differenzierteren verstanden. „Im allge- 
meinen kann man sagen: es ist die wesentliche Aufgabe jeder 
empirischen Wissenschaft, sich mit den besten Phänomenen zu 
versehen. Und weiter ist es auch ganz verständlich, wie sich 
eine empirische Wissenschaft dazu gedrängt sehen kann, Phäno- 
mene zu erfinden, die . . . geeignet erscheinen, das, was die 
Forschung . . . in betreff der einschlägigen Noumena festgestellt 
hat, so zu repräsentieren, . . . dass... die wertvollsten Halb- 
wahrnehmungen diese Erscheinungen zu phänomenalen Objekten 
haben könnten. Das ist der eigentliche, d. h. der einwurfsfreie 
Sinn der Versuche neuerer Naturwissenschaft, physische Vorgänge, 
die nicht als Bewegungen erscheinen, auf Bewegungen ,, ,zurück- 
zuführen“. Nur ein erkenntnistheoretisches Missverständnis 
konnte zu der Meinung führen, dass es sich dabei um einen 
Übergang von Phänomenen zu Noumenen handeln müsse oder 
auch nur könne.“ 

Eine Prüfung der neuen Begriffe „Halbwahrnehmung“ u.s. w., 
kann natürlich hier nicht geliefert werden. Aber auch ohne eine 
solche dürften die herausgehobenen Sätze genügen, um die viel 
entsagungsvollere Erkenntnistheorie Oe.s zur Selbstprüfung zu 
veranlassen, ob sie der Bedeutung gerecht werde, die nicht erst 
den halbmetaphysischen Theorien der Physik (z. B. „Zurück- 
führung“ der Wärme auf Bewegung), sondern schon den möglichst 
metaphysikfreien Leistungen z. B. von Lupe und Mikroskop für 
das Erschliessen des Wie der wirklichen, nicht nur der uns er- 
scheinenden Welt zukommt. Und da nun auch das unbewaffnete 
Auge schliesslich ja doch das weitaus entscheidenste Stück jedes 
optischen Gesamtapparates ist, so hat M. vielleicht doch nicht zu 
viel gewagt, wenn er der traditionellen Auffassung, nur die innere 
Wahrnehmung sei eine wirkliche, die äussere aber sei nur eine 
„sogenannte“, einmal kühn entgegentrat und aussprach: Es giebt 
äussere Wahrnehmungen (91) — sie erfassen unmittelbar eine 
‚äussere Existenz. 

Verhehlen wir uns aber nicht, dass die neue Lehre und ihre 
Begründung noch manchem Bedenken ausgesetzt bleibt; so gleich 
die erste Begründung der obigen These Im, aus dem festen 
Glauben des Naiven und der Rückfälligkeit des Idealisten in ihn: 


$78 A. Hötier, 


Denn nicht nur das hinter den Farben steckende Ding, sondern 
auch die Farbe selbst hält man ja, wie gesagt, immer wieder für an 
sich seiend, trotz der besseren Belehrung seitens der Physiologie. 
— Nicht minder gross ist aber freilich auch mein Bedenken, ob ich 
Oe. iiberhaupt recht verstehe, wenn er den Natarforscher auch nur in 
demselben Masse wie das Kind als Zeugen fiir seine zweite Rea- 
lität gelten lässt, alle seine Analysen und Synthesen der Ele- 
meute naiver Weltbilder aber nur als Umgestaltungen der ersten 
Realität, nicht als Annäherungen an und Eindringen in die zweite 
Realität gelten lassen will. Wie z. B., wenn der Physiker 
Luftschwingungen oder Beugungsstreifen zählt: die Zahl ist ja 
auch nach Oe. der ersten und der zweiten Realität gemeinsam — 
und doch sollen jene für die Physik des Schalles und Lichtes so 
fruchtbaren Zahlen für deren Metaphysik ganz unfruchtbar sein? 
Gewiss — der einer grünen Spektrallinie entsprechende Licht- 
strahl ist nicht selber wieder grün, ist nicht „Grünes“, sondern 
nur ,Schwingendes“. M. behauptet (wenn ich seinen Begriff der 
„Halbwahrnehmung“ hier richtig exemplifiziere), das „Schwingende“ 
stehe in der halben Breite der Kluft zwischen erster und zweiter 
Realität. — Oe. setzt es an den Rand der ersten. — Wer von beiden 
hat Recht oder kommt, wenn nicht der Wirklichkeit, so doch der 
Wahrheit näher? — Genug dieser Fragen; mögen die Antworten, 
die ich vor allem von M. und Oe., dann aber von allen an den 
Grenzfragen der Physik und Philosophie Interessierten erhoffe 
und erbitte, meinem „Zwischenreich physikalischer Realitäten“ 
zugute kommen, sei es durch Bestätigung, sei es durch Ersparung 
dieses Begriffes. 


II. Wahrnehmung und Kausalität. 


An zahlreichen Stellen (M. 31, 87, 88, 89, 93, 102, 107 
u.a; Oe. 124, 128, 129 ff.) kommen beide Abhandlungen auf 
Kausalität zu sprechen, wobei sie als letzte Absicht die negative 
gemeinsam haben, den „Kausalschluss“ als Ersatz für „Wahr- 
nehmung“ abzulehnen. Es sei gestattet, hiervon nur soviel 
wiederzugeben und zu erörtern, als erforderlich ist zur Uber- 
prüfung der im Titel des § 55 meiner Psychologie gelegenen 


Die unabhängigen Realitäten. 379 


These Vu: „Die physische Aussenwelt, vorgestellt als 
Ursache unserer physischen!) Phänomene“. 


Es sei hier vorausgeschickt, dass der vorhergehende § 54 
„Beschreibung des naiven Realismus“ die Kausalurteile (a. a. O., 
S. 367 unter «) erörtert) von der „Beschreibung der naiven Ge- 
danken über die Aussenwelt“ (a. a. O., S. 366) nicht minder ent- 
schieden ausgeschlossen hatte, als dies jetzt M. und Oe. thun. 
Aber allerdings wurde dort (im Gegensatz z. B. zu Schopenhauer), 
was an Kausalität aus dem physischen Weltbild des Naiven 
ausgeschieden war, umsomehr für das des Nichtnaiven, des Er- 
kenntnistheoretikers, in Anspruch genommen, ja dieses ge- 
radezu beschränkt auf folgende „sehr abstrakte und unanschau- 
liche Definition“ vom „Begriff eines physischen Aussendinges A, 
von dem wir die Empfindung (in der Regel allerdings die Em- 
pfindungskomplexion) a haben: Ursache, genauer Teilursache, 
jener Empfindung a“. — Ich hatte mich bei diesem Ergebnis ge- 
stützt und berufen auf M.s Relationstheorie.?) Es ist also doppelt 
beachtenswert, worin M. jetzt jene abstrakte und allzuabstrakte 
Beschreibung des erkenntnistheoretischen Begriffes „physische 
Aussenwelt“ einer Ergänzung fähig und bedürftig findet. Am 
Schlusse seiner Abhandlung (107) fügt M. mehreren vorher (87, 
89, 93) angedeuteten „Gründen“ gegen eine derartige „Über- 
schätzung des Kausalschlusses“ noch einen Grund hinzu, der ihm 
„in besonderen Masse entscheidend“ erscheint: „Gesetzt etwa, ich 
habe den Aspekt einer Kirchturmspitze oder des Stundenschlages 
einer Uhr; wie komme ich da eigentlich dazu, gerade die Kirch- 
turmspitze oder den Uhrschlag als „die Ursache“ zu bezeichnen? 
Meine Wahrnehmungsvorstellung hat doch jedesmal noch viel 
näherliegende Ursachen. . . . Betrachten wir . . . das psychische 


1) Ich wurde einigemale gefragt, ob es hier nicht heissen soll „psy- 
chisch“? Nein. Keineswegs liesse sich für alle meine psychischen 
Phänomene als „Ursache“ — wenigstens nicht als ausschlaggebende Teil- 
ursache — gerade nur die physische Aussenwelt anführen. Wohl aber ist 
in jenem Paragraphentitel gemeint, dass insofern ich physische Phäno- 
mene (von Licht, Schall . . . im Gegensatz zu Freude, Denken . . .) habe, 
(und dies nicht gerade Halluzinationen oder Bestandteile von Träumen 
sind), ich von ihnen auf eine mindestens ebensovielgliedrige physische 
Aussenwelt als deren Teilursache zurtickschliessen kann. 

1) Hume-Studien II, Zur Relationstheorie, Sitzungsberichte der 
Wiener Akademie, 1882, namentlich Abschn. VI, S. 130 [700) ff. und 
Abschn. VIII. 


380 A. Höfler, 


und das, gleichviel wie, ihm nächst zugeordnete physische Ge- 
schehnis zusammen als eine komplexe Tatsache, so ist diese 
ihrer physischen Seite nach durch eine Reihe immer peripherischerer 
Vorgänge bis zum Sinnesorgan, jeder Vorgang im Organ aber 
durch physikalische Vorgänge in den leitenden Medien hervor- 
gerufen, und erst recht spät führt dieser Regressus auf denjenigen 
Tatbestand, den wir als den gesehenen oder gehörten betrachten. 
— Daraufhin meint man nun wohl, es werde sich bei dem 
Kausalschlusse eben nicht um die nächste, sondern etwa um die 
irgendwie entfernteste Ursache handeln. Aber abgesehen von der 
begrifflichen Schwierigkeit, die in dieser Auffassung sofort zutage 
tritt, braucht man es ja wieder nur am konkreten Beispiele zu 
versuchen. Ein nicht selbstleuchtender Körper, den ich gleichwohl 
leuchten sehe, hat ja sein Licht von auswärts, etwa von der 
Sonne: wer aber meint, wenn die in der Sonne glänzende Turm- 
spitze Licht in seine Augen sendet, die Sonne zu sehen? Ein 
Spezialfall ist hier vielleicht noch deutlicher. Welchem noch 
so sehr an physikalische Gedanken Gewöhnten fiele es ein, das 
Spiegelbild einer Flamme nach dem Orte zu verlegen, wo die 
Flamme sich wirklich befindet? — Darf man von einem Kausal- 
schluss verlangen, dass er wenigstens einigermassen schrittweise 
zurückgeht, so wird nun erst recht anschaulich, wie wenig das, 
was wir beim Wahrnehmen denken, eine solche Kausalreihe ist. 
Vor allem aber muss die Frage aufgeworfen werden, wie es aus 
der Natur des Kausalschlusses allein heraus verstanden werden 
könnte, dass derselbe zwischen dem sehr Nahen und dem sehr 
Entfernten gerade irgendwo in der Mitte stillhält.“ 

Gewiss, auf diese Frage muss der Kausalschluss für sich 
allein die Antwort versagen, und die ganze Überlegung zeigt in 
der Tat unwiderleglich, dass die äussere Wahrnehmung etwas 
anderes ist als ein Auswahltreffen zwischen den unbegrenzt zahl- 
reichen Gliedern der Kausalkette oder -ketten, die nicht nur dem 
Wahrnehmen, sondern auch dem Wahrgenommenen vorangegangen 
sind. Sonst könnte man ja sogar fragen, warum man jetzt nur 
den Kirchturm wahrnimmt und nicht auch den Baumeister, der ihn 
erbaut hat. Und dass auch ohne solche Übertreibungen nur zu 
leicht die Grenzen fliessend werden, wo der Raumort, an den 
das Wahrnehmen den jeweiligen Wahrnehmungsgegenstand „setzt“, 
nicht mehr ,stillhält“, zeigt eine naheliegende Weiterführung 
des Beispieles von der glänzenden Turmspitze. Wäre diese z. B. 


Die unabhängigen Realitäten. 881 


eine völlig blank polierte Kugel, dann sähen wir tatsächlich doch 
nicht mehr die Kugel, sondern das Konvexspiegel-Sonnenbild !) 
(wie man nachts, an einem regungslosen Wasserspiegel stehend, 
nicht diesen selbst, sondern „in ihm“ die Spiegelbilder der Sterne 
erblickt); und aus diesem Sonnenbild wird, wenn die Blankheit 
stetig abnimmt, in stetigem Übergange der Anblick einer unregel- 
mässig reflektierenden Oberfläche, also wiederum die Kirchturm- 
spitze. — Jeder Lehrer der Physik?) erinnert sich, wie nahe ihn 
gerade die Lehre von den Spiegel- und Brechungsbildern (wenn 
er nicht seine Schüler mit dem längst als sachwidrig erwiesenen 
Worte vom „Nach-aussen projizieren“ abspeisen will) an die von 
M. in ihrer erkenntnistheoretischen Tragweite anschaulich gemachte 
Frage herangeführt hat, wie es denn zugehe, dass wir auf diese 
und diese Netzhautreizung die Wahrnehmung gerade dieses und 
dieses „Gegenstandes ausser uns“ haben. 


Aber indem wir uns so unversehens von den föhen erkenntnis- 
theoretisch-metaphysischer Betrachtung in die Niederungen der 
physikalischen und psychologischen Anfangsgründe heruntergezogen 
sehen, die zur Ausfüllung der Lücke des „Kausalschlusses“ not- 
wendig, wenn auch nicht ausreichend sind, werden wir inne, dass 
die in den einzelnen Naturwissenschaften heimische Kausalität, die 
wir in folgenden die „gewöhnliche Kausalität“ nennen wollen, 
schwerlich ganz dieselbe ist, die in jener abstrakten Definition 
der Aussenwelt als der „Ursache unserer Empfindung“ gemeint 
war. Und wenn (oder insoweit) doch jene „gewöhnliche Kausalität“ 


1) Ist doch, was man kurzweg „die Sonne selbst“ nennt und was der 
keineswegs mehr erkenntnistheoretisch, sondern höchstens nur physikalisch 
„Naive“ für die wirkliche Sonne, im Gegensatz zu jedem blossen optischen 
Bilde von der Sonne nimmt, nach bestimmten physikalischen Theorien 
doch wieder nur ein optisches Bild; sei es infolge Brechnung der Strahlen 
an der kugelig begrenzten Oberfläche der Erdatmosphäre, sei es infolge 
tutaler Reflexion innerhalb der Sonnenatmosphäre selbst. — Es mag hier 
auch erinnert sein an das einstige skeptische Argument gegen eine „ab- 
solute Grösse der Körper“: dass ja, was wir gewöhnlich klein nennen, durch 
eine Linse gesehen sofort gross sei. Darauf ist nun freilich leicht zu 
antworten: das Ding selbst bleibt klein und nur sein Linsenbild ist gross. 
Was soll man aber dagegen erwidern, dass an unserem Sehen des „wirk- 
lichen Dinges“ das Kristallinsenbild unvermeidlich beteiligt ist, auch wenn 
man sich nicht einbildet, diese oder das Netzhautbild selbst wahrzunehmen ? 

2) Vergleiche z. B. die Darstellung in meinen Schulbüchern der Natur- 
lehre (der Oberstufe für 18jährige, der Unterstufe für 14 jährige). 

Kantstudieu XII. 95 


382 A. Höfler, 


von M. (1882') und mir (1897) gemeint war, so wird sie sich nun 
wohl einiges von jenen Abstrichen gefallen lassen müssen, auf die 
Oe. gegenwärtig so entschieden dringt. Nur glaube ich sagen zu 
dürfen, dass auch schon vor Oe.s Einspruch, der von der „Kausalität 
= notwendige Sukzession“ die Notwendigkeit gelten lässt und 
nur die Sukzession für das Reich der Dinge an sich streicht, 
auch M. und ich uns einer solchen Ausschaltung des Zeitlichen 
keineswegs verschlossen hatten — wenn auch beide in wesentlich 
abweichender Form. 

Meinerseits hatte ich nämlich an einer anderen Stelle meiner 
Psychologie®) die Möglichkeit ins Auge gefasst, dass zur Anwend- 
barkeit des Kausalbegriffes auf metaphysische (oder allgemeiner: 
metaphänomenale) Dinge „noch eine tiefer gehende Umgestaltung 
dieses Begriffes?) oder Ersetzung durch einen weiter ge- 
fassten Abhängigkeitsbegriff sich als unausweislich heraus- 
stellen mag“; namentlich weil man „den Empfindungsvorgang nicht 
wohl als einem den Reizvorgang zeitlich nachfolgenden zu 
denken geneigt sein wird ... Das Merkmal der Sukzession*) 

1) Hume-Studien II (a. a. O., S. 129 [699]). 

*) In $ 17 „Die metaphysischen Theorien von der Abhängigkeits- 
beziehung zwischen Physischem und Psychischem*, S. 61. 

3) Allerdings könnte nun gegen eine solche Umgestaltung des Kausal- 
begriffes schon von vornherein alles das geltend gemacht werden, was 
schon die allerformalste Logik gegen jedes „Umgestalten eines Begriffes“ 
mit einigem Schein von Recht einwenden könnte; nämlich: Werde irgend- 
was an dem Inhalte eines Begriffes geändert, so sei es eben nicht mehr 
derselbe Begriff, vielmehr seien dann höchstens mit demselben Worte 
zweierlei Begriffe verknüpft. — So richtig der simple Einwand ist, so 
spricht doch auch für das Umbilden eines Begriffes eine breite Wissen- 
schaftspraxis (es genüge, auf das in meiner Logik 1890, S. 233 durchgeführte 
Beispiel von der allmählichen Umbildung des Begriffes „Säure“ hinzuweisen), 

In unserem Falle also könnte man sagen: Lasse ich aus dem Begriffe 
Kansalität das zweite seiner beiden konstitutiven Merkmale ,Notwendiges* 
und „Antecedens“ weg, so ist es überhaupt nicht mehr der Begriff 
„Kausalität“. Aber dem dann verbleibenden weitergefassten Abhängig- 
keitsbegriff braucht man nur hinreichend deutlich Reminiszenzen an sein 
Hervorgegangensein aus dem „gewöhnlichen“ Kausalbegriff zu belassen 
und es wird 2 D auch eine Metaphysik, | die der Zeit eine 





Die anabhingigen Realitäten. 383 


wire also aus dem Kausalbegriff hiermit ausgefallen und nur das 
der notwendigen Bedingtheit zurückgeblieben“. 
Insoweit also glaube ich mich im Einklange zu finden mit 

Oe. Er zieht aber aus dem Wegfallen des Zeitmomentes aller- 
dings viel weitergehende Konsequenzen; die ganze Stelle möge 
hier im Wortlaute folgen (Oe., 129—131): „Zu den nicht in die 
zweite Realität übertragbaren Relationen gehört die Kausalrelation. 
Das kann ja bei ihrer Komplexität!) nicht wundernehmen; eine 
Relation, wie Neffe und Onkel, kann von der zweiten Realität ja 
nicht ausgesagt werden. — Definiert man nämlich Ursache als 
notwendiges Antecedens, so wäre nur der eine dieser beiden 
Faktoren, die Notwendigkeit, in dem vorausgehenden Sinne zu 
übertragen möglich; eine Notwendigkeit, die natürlich mit Gleich- 
zeitigkeit so wenig zu thun zu haben brauchte als mit einem 
Nacheinander; jene ist ja nicht zulässiger als diese. Höchstens 
also die Hypothese eines zeitlosen Vorkommnisses, wie des Urteils, 
käme in Frage. Jedenfalls aber ist die Anwendung des Antecedens, 
des Zeitmomentes auch als Relation, wenn man sonst die Zeit als 
subjektiv annimmt, aus den vorher angegebenen Gründen unzu- 
lässig. Von einer objektiven Kausalität ist daher sowenig als 
von einer objektiven Zeit oder von einem objektiven Rot zu 
sprechen. Natürlich muss es, ebensogut wie bei dem Rot, Tat- 
sachen in der zweiten Realität geben, die, wenn sie mit dem Ich 
in Beziehung treten, den Kausalgedanken bedeuten. Damit ist 
aber nicht gesagt, dass es eine andere Kausalität gebe als eine 
„für uns“, wie es kein anderes Rot giebt, obgleich, wie dem Rot 
und der Zeit, so auch der Kausalität ein unabhängiges Sein — 
„für sich“ entsprechen muss. Aber auch, wer dieses wahrnehmen 
könnte, darf nicht das Bestehen einer Kausalität aussagen. Es 
sind Tatsachen, die nicht wieder Ursachen genannt werden können, 
Der Kausalrelation als solcher kommt also, wie der Zeit, in der 
zweiten Realität weder ein Existieren noch ein Bestehen, über- 
S, 50 [476]), so bemerke ich hinzu, dass ich zwar auch diesen Begriff nicht 
für gegenstandslos halte (wohin z. B. die in meiner Psychologie S. 62 
angeführten Beispiele des streng gleichzeitigen Auftretens der chemischen 
und elektrischen Wirkungen einer Batterie gehören). Natürlich aber wäre 
mit der Ersetzung zeitlicher inanderfolge durch Gleichzeitigkeit das 
Zeitmoment nicht in der vi gehenden Weise ausgeschaltet, wie 
wir es für eine Kausalität zwisch ingen an sich brauchen, 

* 4) Aber die Komplexi h bei halbwegs grossen 
Zahlen noch grösser — und nd ibertragbar ? 

25* 





A. Hotler, 


is lemme mt de vus wad ES 


Realität.“ 
Zu einem den letzten Sätzen genau entgegengesetzten End— 
ergebnis kommt M. trotz der, wenn ich recht verstehe, in Sachem 


des Zeitmomentes wesentlich (pons Voraussetzung. Die Stelle 
lautet M. (104): 

„Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass in den obigen 
Übertragungen der Gedanke der Notwendigkeit ganz un- 
-vermeidlich mit übertragen worden ist. Wer von zwei Dingen 
der Wirklichkeit glaubt, dass sie verschieden sind, der glaubt ja 
natürlich implieite, dass die Verschiedenheit den betreffenden 
Dingen ebenso notwendig zukommt, wie den Phänomenen. Eine 
Konsequenz hieraus ist wichtig genug, sie hier ausdrücklich zu 
ziehen. . . . Bedeutet, wie schon so oft dargelegt worden ist, 
Kausalität im wesentlichen soviel als notwendige Sukzession, ist 
aber zeitliche Folge als ein spezieller Fall von Verschiedenheit 
zu betrachten, so ist gegen eine Anwendung des Kausalgedankens 

‘alls sie sich sonst rechtfertigen lässt, unter dem 

Gesichtspunkte | ihrer vorgängigen Möglichkeit durchaus nichts ein- 
zuwenden, da demjenigen daran, was ich hier mehr kurz als genau 
'änomen nennen möchte, dabei an sich keine 


7) Das ist u weit gegangen, da ja auch nach Oe, die Notwendig- 
iehe oben im weiteren Text) übertragbar ist, 





Die unabhängigen Realitäten. 385 


andere Bedeutung für die Wirklichkeit beizumessen 
wäre als sonst einem Phänomen. Die in der Erkennt- 
nistheorie der letzten hundert Jahre so häufig begegnende Meinung, 
die Kausalität verbiete durch ihre Natur ihre Anwendung auf eine 
Wirklichkeit von „„Dingen an sich““, ist daher unbegriindet*. 

Wenn in den letzten Worten eine Kausalität zwischen Dingen 
an sich auch keineswegs behauptet, sondern nur ihre vermeintliche 
Unmöglichkeit abgelehnt ist, so besteht doch hier ein 
wirklicher Gegensatz zu Oe., weil dieser eben die Unmöglichkeit 

behauptet. Kein Widerspruch besteht aber, wie gesagt, in Sachen 
des Zeitphänomens, das ja auch M. opfert (in den Worten, die ich 
mir oben im Drucke hervorzuheben erlaubte). Bedienen wir uns 
wieder wie oben der lateinischen Buchstaben zur Bezeichnung 
phänomenaler, der griechischen zur Bezeichnung der zugeordneten 
metaphänomenalen Glieder (oder wie Oe. sagt, der der ersten, bezw. 
zweiten Realität), so tritt für die Kausalität der Dinge an sich 
an Stelle der phänomenalen Zeit z ein £. Bezeichnen wir ferner 
die Notwendigkeit mit dem von mir aus bestimmten Gründen!) 
vorgeschlagenen und schon öfter dafür verwendeten Buchstaben @ 
(also a-Rel = Notwendigkeitsrelation), so ist das adäquate Symbol 
für die 
„gewöhnliche“ (oder sehrungenau: phänomenale) Kausalitätk=z-+« 
für die metaphänomenale Kausalität x—£+-a. 
Es ist nicht etwa nötig, in k die Notwendigkeitskomponente mit 
einem anderen Buchstaben zu bezeichnen als mit dem @ wie in x, 
da ja eben nach M., Oe. und mir die Notwendigkeit eine von den 
ohne weiters aus dem phänomenalen in das metaphänomenale Reich 
übertragbaren Relationen ist. 

Warum nun bei so vieler Übereinstimmung noch Meinungs- 
verschiedenheiten über die Übertragbarkeit eines derart „kritisch“ 
geläuterten Begriffes? Die Frage wird umso interessanter, als 
sogar auch noch in dem, was M. und Oe. an Stelle einer solchen 
Kansalrelation setzten, nämlich „direkte Wahrnehmung“, wie 
es M. (S. 89), „metaphysische Wahrnehmung“, wie es Oc. 
(S. 20) nennt, eine viel grössere Übereinstimmung besteht, als Oc. 


1) Nämlich der weitgehenden Anal ie der Notwendigkeit zu 
der in der traditionellen Logik der S: i b 
heit (vgl. meine Logik, grosse Aus, , Urteile über Müssen, 
Können, Nicht müssen, Nicht: "könn was man leider immer 
) 





386 A. Höfler, 


zu glauben scheint. Zwar verwahrt sich Oe. dagegen, dass mit 
diesem seinen Terminus anderes als ein Inbegriff rein negativer 
Bestimmungen, ein völliges ignoramus, bezeichnet sei. Seine Worte 
lauten (Oe. 131—132): „Wenn es uns, trotz aller Bemühungen, 
unmöglich ist, das Commercium zwischen zweiter und erster Realität 
unter dem Bilde des Wirkens vorzustellen, so muss ein solches 
Commercium, da wir doch auch den Solipsismus für einen Irrtum 
halten, als letzter Sachverhalt hingenommen werden. Das heisst 
also, obwohl beide Realitäten nicht gegeneinander isoliert sein 
können, wie rot und grün vor dem Vergleichen, so ist diese Nicht- 
isoliertheit doch durch positive Bestimmungen, ausser, wie wir 
sahen, mittels des Notwendigkeitsfaktors, aus dem Reiche des Er- 
fahrbaren weder zu beschreiben noch zu erklären. . . . Am ver- 
ständlichsten wäre es, diese Art Erfassen der zweiten Realität 
durch das Ich metaphysische Wahrnehmung zu nennen, wo- 
mit angedeutet würde, dass diese einen Sachverhalt darstellt, der 
nach meinem Dafürhalten . . . von allen uns vorstellbaren Erleb- 
nissen toto genere verschieden ist.“ 

Aber ist nicht der hier vom ignoramus doch ausgenommene 
„Notwendigkeitsfaktor“ schon viel, sehr viel — vielleicht mehr, als 
sogar M. für seine „direkte Wahrnehmung“ in Anspruch nimmt? 
Denn auch M. antwortet auf die letzte Zuspitzung der Frage 
(108), „wie es zu verstehen sei, dass gerade diese Vorstellung, 
genauer dieser Inhalt, gerade auf diesem Gegenstand gerichtet ist“ 
mit einem ignoramus: „Inhalt und zugeordneter Gegenstand sind 
uns nicht unabhängig von einander gegeben, sondern der Gegen- 
stand eben durch den Inhalt. Aber dass jener uns durch diesen 
gegeben ist, das ist eben das, was wir als letzte, als Fundamen- 
taltatsache des Erkennens hinnehmen müssen, falls wir nicht ver- 
suchen wollen, alles Erkennen in Abrede zu stellen.“ 

Niemand wird gerade in Erkenntnissachen dem ignoramus 
seinen Platz streitig machen wollen, und nur mit dem ignorabimus 
wollen wir auch hier nicht allzu freigiebig bei der Hand sein. 
Als „letzte“ Tatsachen gelten schon alle die, dass z. B. den 435 
Schallschwingungen per sec der Ton al, den 500 Billionen Licht- 
schwingungen per sec das Grün, und ebenso wieder der Reizung 
dieses oder jenes Paares korrespondierender Netzhautpunkte diese 
oder jene Tiefenempfindung im Sehraume, z. B. das Erblicken 
einer Kirchturmspitze, entspricht. Nur ab und zu hat man sich 
auch gegen die Unreduzierbarkeit solcher Zuordnungen zu wehren 


Die unabhängigen Realitäten. 387 


gesucht; so wenn J, St. Mill und wieder Ehrenfels (am Schlusse 
seiner Abhandlung über „Gestaltqualitäten“, 1890) die einzelnen 
Empfindungsqualitäten als ein möglicherweise noch nicht Letztes, 
sondern als von uns selbst über hypothetische Urempfindungen!) äbn- 


4) Als solche Urempfindungen pflegen immer Qualitäten, die ähnlich 
seien denen des Tast- (Muskel-) Sinnes bevorzugt zu werden. Für diese 
Qualitäten habe ich in meiner Psychologie (1897) wie in meiner Physik 
(1904) den Namen „Spannungsempfindungen“ vorgeschlagen, um 
nicht nur das Sinnesorgan, sondern die Qualität selbst namhaft zu machen. 
Und dass die „Spannung“ nicht nur ein von uns in die Körpersysteme 
hineingedachter Zustand, sondern wirklich ein Phänomen („das dritte 
Grundphänomen der Mechanik“ neben Raum und Zeit“) sei, habe ich nun 
schon wiederholt gezeigt und es ringt sich diese Anerkennung der Span- 
nungs- neben der blossen früheren Beschleunigungsmechanik mehr und 
mehr durch. — In vorliegendem Zusammenhange nun ‚möchte ich eine 
Stelle aus meiner Monographie „Psychische Arbeit“ (Ztschr, f. Psychol., 
8. Bd, 1895, S, 200) in Erinnerung und zur Diskussion bringen: „Wäre 
z. B. einmal eine psychische Spannung als ein Element des Notwendig- 
keits- und damit auch des Kausalbegriffes auf psychologischem Boden 
streng erwiesen, so wären auch weitergehende Aus- und Einblicke meta- 
physischer Art nicht mehr von vornherein abzuweisen. Metaphysisch ist 
die Annahme von Dingen an sich, die unter sich und auf unser Bewusst- 
sein „wirken“. Also Kausation auch zwischen Dingen an sich: aber Kau- 
salität enthält Notwendigkeit, also auch Notwendigkeit zwischen den 
Dingen an sich. Dieselbe oder doch die gleiche Notwendigkeit wie jene, 
die den Inhalt unserer Vorstellung von Notwendigkeit ausmacht? Wenn 
ja, so wäre hier eine wahrhaftige „primäre Qualität“ gefunden, welche 
zäher ist als die Descartesschen und Lockeschen“. (Es folgt ein Hin- 
weis auf Langranges Prinzip der virtuellen Verschiebungen, durch das 
räumlicher Weg und Spannung in so enge und umfassende Beziehung 
gesetzt sind, dass man hoffen könnte, bei hinreichend tief gehender psy- 
chologischer und metaphysischer Analyse wirklich einmal das Räumliche 
auf Spannung „zurückzuführen“, wie Ähnliches die Muskelempfindungs- 
theorien der Raumpsychologie ja auch immer versuchten und noch ver- 
suchen ; nur dass sie sich von der Treue rein psychologischer Beschreibung 
der Gesichtsraumtatsachen allzufrüh entfernt haben.) „Um aus solchen 
Spekulationen wieder den Weg zurückzufinden zu bewährten Thatsachen, 
sei nur erinnert, wie es ja gerade die Notwendigkeits- und freilich hier 
noch mehr die Unmiglichkeitsrelation ist, deren wir uns fortwährend als 
der tragfähigsten Brücke aus de: he der Gedanken hinaus in das der 
Weltdinge bedienen. Weil ein gleichseiti ind zugleich ungleichwinke- 
liges Dreieck unmöglich ist (Relation: ), so giebt es auch keine 
ungleichwinkeligen gleichsei d tenzialurteil), So bei 
apriorischen Urteilen; und wi ie irischen, sofern sie uns 

Jelt erschliessen sollen, Kau- 
cke. — Sollen wir den Grund 





388 A. Höfler, 


lich „aufgebaut“ vermutet, wie sich über den einzelnen Tönen erst die 
Melodie aufbaut. Bisher ist der Gedanke, wie man sieht, ein noch 
vielzuwenig erprobter, als dass wir schon darauf verzichten dürften, 
jene Zuordnung von physikalischen Reizen und jeweiligem Em- 
pfindungsgegenstand (Ton a’, Grün) als einen Typus „letzter 
Tatsachen“ festzuhalten. — Dürfen wir dann aber ohne weiteres 
und im ganz gleichem Sinne auch die Beziehung zwischen Erkennen 
und Erkanntem, zwischen Inhalt und Gegenstand als eine „letzte 
Tatsache“ ansprechen? Dort, im Beispiel von Empfindung und 
Reiz, sind uns beide „gegeben“, die Empfindung unmittelbar durch 
die innere Wahrnehmung, der Reiz durch physikalische, meist sehr 
mittelbare Konstatierungen. Hier aber, bei der ,,Doppeltatsache* 
der Erkenntnis, ist uns eben nur der psychische Akt des Wahr- 
nehmens unmittelbar gegeben, und ob das jeweilige Erkannte, der 
dem Inhalt zugeordnete Gegenstand, vom Erkennen auch nur dort 
wirklich erreicht wird, wo er selber per definitionem (als „un- 
abhängige Realität“) den Anspruch erhebt, „äussere“ Wahrnehmung‘ 
zu sein, ist nicht ebenso selbstständig zu konstatieren, wie 
eine physikalische Schwingungszahl neben der psychologischen 
Schall- oder Lichtempfindung. Gerade hier setzt darum das 
Problem ein, das Oe. sogleich in der ersten Anmerkung!) seiner 
Abhandlung schon an das Wort „Transscendenz“, einerseits im 
Kantischen, andererseits im Meinongschen Sinn geknüpft findet. 
Ich habe schon bei anderer Gelegenheit®) Oe,s Bedenken auf die 
absichtlich widerspruchsvoll, bezw. tautologisch klingenden Termini 
„immanente Transszendenz“ und „transszendente Transszendenz* 
zugespitzt. Auch die einschlägigen Ausführungen in M.s gegen- 
wärtiger Abhandlung (S. 83 ff.), die an den abgebrauchten Ausdrücken 
„Immanenz* und „Transszendenz“ allerlei Schiefes aufdecken, gehen 


jener besonderen erkenntnistheoretischen Tragfähigkeit der Notwendig- 
keitsrelation je ganz verstehen, so darf vor allem die Psychologie an 
keinem in et aufzudeckenden pes wie die „psychische 





Die unabhängigen Realitäten. . 389 


an Oe.s eigentlichem Bedenken vorüber. — Dennoch kann eine 
Verständigung nicht allzufern liegen: denn M. wie Oe. glauben ja 
gemeinsam an eine Fähigkeit des Erkennens, angesichts bestimmter 
Gegenstände diese in Wirklichkeit und: also in einem Masse zu 
„erfassen“, wie es der Solipsist nicht mehr Wort haben will, wenn 
er auch noch so viel immanente Transszendenz für sich und seine 
Theorie vom Denken und Sein in Anspruch nimmt. 


Herrscht also in der Sache selbst letzten Grundes Über- 
einstimmung, so ist über die Wörter, deren sich M. und Oe. zur 
Bezeichnung des Kommerziums zwischen dem Ich und den von 
ihm unabhängigen Realitäten bedienen, das folgende zu sagen: 
M. entfernt sich nicht von der Grundbedeutung des Wortes „Wahr- 
nehmung“, wenn er jedes direkte Erfassen einer äusseren Wirklich- 
keit, wie es nach ihm auch ohne Kausalschluss möglich ist, mit 
dem Worte „Wahrnehmung“, und zwar „Vollwahrnehmung“, aber 
auch noch das durch mittelbare Bestimmungen (wie Wellenlängen 
zu den Farben) ermöglichte vermittelte Erfassen folgerichtig als 
„Halbwahrnehmung“ bezeichnet. Bei Oe. aber versteht man keines- 
wegs, warum er für sein aller positiven Bestimmungen bares 
„Erfassen der zweiten Realität durch das Ich“ gerade ,meta- 
physische Wahrnehmung“ wählt. Alles, was einer Wahrnehmung 
an konkretem, anschaulichem Inhalt von relativ grösster „Lebhaftig- 
keit“ eignet, wie man sie sonst charakteristisch findet für die 
„Wahrnehmungsvorstellungen“ im Gegensatze zu den „Phantasie- 
vorstellungen“,!) spricht Oe. ja eben dieser metaphysischen Wahr- 
nehmung ab. Oe. will ja nur „graueste Metaphysik“. Warum 
dann aber gerade das Substantiv „Wahrnehmung“ wählen, dem 
das Adjektiv „metaphysisch“ jenen charakteristischen Inhalt sogleich 
wieder abspricht? Es hätte ja einen mit dem Überzeugungskreis 
Oe.s viel besser harmonierenden Ausdruck gegeben — einfach: 
»Transzendieren“ (wobei dann auch das Adjektiv ,metaphysisch“ 
erspart wäre). 


Man könnte daran denken, einfach beim Wort ,Kommerzium“ 
(nämlich zwischen erster und zweiter Realität) zu bleiben; und ich 
empfehle dieses geradezu, wenn man das Verhältnis von Erkennen 
und Erkanntem in Einem bezeichnen will (wie z. B. das Wort 


1) Vgl. zu den beiden noch immer nicht allgemein gefestigten Ter- 
minis meine Psychologie, $ 80 ff. 


390 A. Hdfler, 


„Ehepaar“ den Gatten und die Gattin und ihr Ehebiindnis be- 
zeichnet). Das Wort Wahrnehmung aber, gleichviel ob meta- 
physisch oder nicht, lässt doch nur an das Hinübergreifen des 
Erkennens auf das zu Erkennende denken; und gerade dadurch 
erweckt es das Bedürfnis, auch für das Herübergreifen des zu 
Erkennenden in das Erkennen eine Bezeichnung zu haben — und 
natürlich noch vor der Bezeichnung einen klaren Begriff davon, 
wie denn dieses gleichsam Eindringen des zu Erkennenden in das 
seiner harrende Erkennen überhaupt für uns vorstellig zu machen 
sei? — Führt man sich zu diesem Zwecke ein möglichst einfaches 
Beispiel vor, so bietet sich immer wieder das von Reiz und Em- 
pfindung dar: Die Schallschwingung „erregt“ die Tonempfindung 
— oder in Kantischer Allgemeinheit: „der Gegenstand affiziert 
das Gemüt“. Nun aber soll (nicht etwa nur nach dem von Jakobi 
eröffneten, von Schulzes ,Aenesidemus“ fortgeführten und bis auf 
den heutigen Tag nicht beendigten Kampf gegen Kants unvorsichtiges 
„Affizieren“, sondern auch) nach Oes. neuesten Protesten gegen 
eine metaphysische Kausalität dieser der Psychophysik entnommene 
Typus von Reiz und Empfindung auf die Metaphysik des Ver- 
hältnisses zwischen Dingen und Ich schlechterdings nicht übertragbar 
sein. Aber wie — warum bietet sich uns dann der Gedanke der 
Abhängigkeit so ganz ungezwungen dar? Wir sprechen von 
„unabhängigen Realitäten“ und meinen die vom Ich unabhängigen. 
Wer spricht ebenso von einem unabhängigen Ich? Niemand als 
der Solipsist, von dem sich Oe. eben dadurch scheidet, dass er 
die erste Realität durchaus abhängig annimmt von einer zweiten. 
Warum sollte nun diese Abhängigkeit eine andere sein als die eben 
nur des phänomenalen Zeitmomentes entkleidete Kausalität, die 
wir oben durch x—a--¢ bezeichneten? Oder sollen wir auch 
dieses ¢ weglassen und geradezu setzen x — a? Das wäre doch 
überflüssig allgemein (so wie man ja auch nicht sagt: Ich reite 
auf einem Säugetier, wenn man sagen will: Ich reite auf einem 
Pferd). 

Und so schliesse ich diese Betrachtungen, die überall 
nur die Ansatzpunkte für neue Lösungsmethoden des uralten 
Problems geben konnten, mit einer These, durch die in die 
obige These Vy statt des Begriffes „Ursache* ausdrücklich 
der in § 17 meiner Psychologie (vgl. oben S. 382) in Aus- 
sicht genommene „verallgemeinerte Abhängigkeitsbegriff“ aufge- 
nommen ist: 


Die unabhängigen Realitäten. 391 


These Vin: Das Kommerzium zwischen dem Ich und 
den von ihm unabhängigen metaphysischen Reali- 
täten, von denen aber die physischen Phänomene 
des Ich abhängig sind, wird hergestellt durch eine 
Art Kausalrelation, in der wir uns nur die Zeit- 
komponente durch ein metaphysisch überzeitliches 
Verhältnis ersetzt zu denken haben, 


Die vorliegende, ihren Gegenstand zum Teil nur in An- 
deutungen behandelnde Arbeit musste es sich versagen, auch Oes, 
Beweis für das „Dass“ der zweiten Realitäten in die Erörterung 
einzubeziehen. Hier nur soviel, dass die Existenz von Dingen an 
sich, für die Kant unmittelbare Evidenz der Gewissheit, Meinong 
unmittelbare Evidenz der Wahrscheinlichkeit beansprucht, nach 
Oelzelt mittelbar evident gewiss werden soll. „Die Gründe, 
warum die zweite Realität keine „problematische“ ist und durch- 
aus gefordert wird, sind durch das Bedürfuis nach Orientierung 
gegeben“ (Oe, 118). Dabei ist für Oe. „die Konstruierbarkeit der 
Regelmässigkeiten des Naturgeschehens unbegründbar . . . nur ein 
Postulat!“ (Oe. 123.) Ich habe zu den letzteren Worten zu be- 
merken, dass M. und ich, entgegen Kant und Oe., den „Postu- 
laten“ als solchen keinerlei Rolle in der theoretischen Philosophie 
einzuräumen vermögen. Dass die Menschen zugrunde gegangen 
wären, wenn sie nicht glaubten, dass sie sich am Feuer ver- 
brennen werden, hält auch Oe. für eine Tatsache; aber er 
lehnt es ab, dieses sein Dafürhalten als eine hinter jene Tat- 
sache zurückgehende Erkenntnis zu einer theoretischen Grundlage 
seiner weiteren Theorie zu machen. Das Beispiel ist viel hand- 
greiflicher und lehrreicher als die allgemeine Methode, durch 
die Kant und nach ihm die weit überwiegende Zahl von Er- 
kenntnistheoretikern den „Postulaten“ eine Rolle neben den 
zwei Erkenntnisklassen: Gewissheiten (samt der Unterklasse 
„Tatsachen“) und Wahrscheinlichkeiten (samt der Unter- 
klasse „Hypothesen“) eingeräumt hat. M. und ich suchen (um 
nur von den Unterklassen zu reden) mit Tatsachen und 
Hypothesen auszukommen. Meinerseits halte ich es nur für 
eine Hypothese, dass mein Ich samt all seinen noch so mannig- 
faltigen ersten Realitäten nur ei 
Welt ist, und dass daher von vornh rar nicht zu hoffen ist, 





392 A. Höfler, 


es würde sich schon innerhalb jener ersten Mannigfaltigkeit für 
sich eine lückenlose Gesetzmässigkeit !) finden lassen. Also ich 
halte das Dasein einer Welt ausser mir nur für eine Hypothese, 
ich halte sie nur für wahrscheinlich, nicht für gewiss; aber was 
zu gunsten dieser Hypothese zu sagen ist (z. B. dass die Log- 
arithmentafeln jemand anderer als ich selbst berechnet haben müsse, 
vgi. meine Psychologie § 58), kann es getrost mit allen, auch 
den allerbesten Hypothesen was immer für einer Natur- oder 
Geisteswissenschaft aufnehmen. Auch hier haben wir zwar nicht 
„mathematische Gewissheit“, wohl aber „fast unendliche* Wahr- 
scheinlichkeit = „physische Sicherheit*, mit der sich jede nicht 
rein apriorische (gegenstandstheoretische) Wissenschaft zufrieden 
giebt, obwohl es nur eine „fast“, also ehrlich gesprochen: eine 
nicht „unendliche“ Wahrscheinlichkeit, nicht volle Gewissheit ist. 
Oe. aber beansprucht für seinen Beweis Gewissheit. Sollte ihm . 
wirklich sein Postulat mehr als Wahrscheinlichkeit liefern? Und 
da diese Wahrscheinlichkeit eine nicht weiter zu beweisende ist, 
so wäre es doch auch nur eine unmittelbare Evidenz — eine un- 
mittelbar evidente Vermutung. Freilich schiebt sich dann zwischen 
diese und die Erkenntnis der Dinge an sich noch ein Beweis ein 
(von dem hier dahingestellt sei, ob selbst wieder Gewissheits- 
oder Wahrscheinlichkeitsbeweis), wogegen nach M.s These I unsere 
Vermutungsevidenz unmittelbar auf die Dinge geht. — 

Möchten Kants Getreue, wenn sie hier in einer ihnen 
fremden Sprache letztlich doch das Bekenntnis zu Kants oberstem 
Dogma: „Es giebt Dinge an sich“, aussprechen hören, sich eben 
hiermit von uns eingeladen und gebeten finden zu weiterer ge- 
meinsamer Arbeit. 


1) Sollte es nicht eine Inkonsequenz Oe.s sein, wenn er (115) sagt, 
es falle vor allem die Gesetzmässigkeit auf, um deren willen „jenes Etwas“ 
(hinter dem Braun, der Härte des Tisches) nicht fallen gelassen werden 
kann? Sein ganzer Beweis für die zweite Realität gründet sich ja darauf, 
dass die erste Realität für sich noch keine Gesetzmässigkeit liefert; so dass 
man vielleicht Oe.s „zweite Realität“ definieren könnte als „Das, wodurch 
die Gesetzeslücken der ersten Realität zu einer lückemlosen Gesetzmässig- 
keit ergänzt werden“. — Von solchen „Gesetzen, die das Bedürfnis (nach 
Orientierung) fordert“, wäre nicht mehr weit zu Kants „Gesetzen, die 
der Verstand der Natur vorschreibt“. 


Sinnlichkeit und Denken, 
ein Beitrag zur Kantischen Erkenntnistheorie. 


Von Felix Kuberka. 


„Der erste Schritt in Sachen der reinen Vernunft, der das 
Kindesalter derselben auszeichnet, ist dogmatisch. Der zweite ist. 
skeptisch und zeugt von Vorsichtigkeit der durch Erfahrung ge- 
witzigten Urteilskraft. Nun aber ist noch ein dritter Schritt nötig, 
der der gereiften und männlichen Urteilskraft.“ Mit diesen Worten 
hat Kant weniger mit dem Blick des Historikers als dem des 
systematischen Denkers die innere Entwickelung der philosophischen 
Systembildungen bezeichnet. Aber er selbst hat an anderen Stellen 
keinen Zweifel gelassen, dass der Kritizismus, so wie dieser in 
der Kritik der reinen Vernunft seine klassische Ausprägung er- 
fahren hat, nicht nur das Endresultat philosophischen Nachdenkens, 
sondern zugleich die höhere Synthese der dogmatischen und 
skeptisch-empiristischen Denkweise darstellt. Kant will weder wie 
Leibniz die Erscheinungen „intellektuieren“, noch wie Locke die 
Verstandesbegriffe insgesamt „sensifizieren“. Sein Versuch gilt 
einem vermittelnden Unternehmen, in welchem auf Grund der 
Einsicht einer Dualität von Sinnlichkeit und Denken die bisher 
entgegengesetzten Anschauungen des Empirismus und Rationalismus 
zu höherer Einheit verbunden sind und sinnliche Empfänglichkeit 
wie verstandesmässige Spontaneität, Form und Inhalt der Erfahrung 
sich innerlich durchdringen und ergänzen. 

Es ist also im wesentlichen die Annahme eines qualitativen 
Unterschiedes von Sinnlichkeit und Denken, welche das Neue und 
Eigenartige des Kantischen Standpunktes ausmacht. Indem Kant 
von Anbeginn an der Sinnlichkeit eine besondere Stellung und 
Bedeutung zuweist, ist er vor jeder Gefahr eines einseitigen 
Rationalismus behütet. Anderseits hliesst die dem verstandes- 
mässigen Begreifen von rei igelegte Bedeutung jedes 
Hinabgleiten in die Anschaw nes einseitigen und engherzigen 





394 F. Kuberka, 


Empirismus aus. In diesem Sinne wird von Kant die Lehre von 
dem qualitativen Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand als 
entscheidende Grundvoraussetzung aus der transscendentalen 
Asthetik und Analytik in die Einleitung der Kritik der reinen 
Vernunft herübergenommen und auf ihr innerlich wie äusserlich 
als festem Fundament das majestätische Gebäude des transscenden- 
talen Idealismus begründet. „Nur soviel scheint zur Einleitung 
oder Vorerinnerung nötig zu sein, dass es zwei Stämme der 
menschlichen Erkenntnis gäbe, die vielleicht aus einer gemein- 
schaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich 
Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände 
gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden“ (Kehrbach, 
8. 47). 

Es ist jedoch häufig behauptet worden, dass diese grund- 
legende Voraussetzung eine unbegründete und dogmatisch an- 
genommene Behauptung der kritischen Erkenntnistheorie sei, dass 
Kant zwar aus dieser Voraussetzung die weittragendsten Konse- 
quenzen gezogen, um so weniger aber zu einer systematischen 
Begründung derselben den Versuch gemacht habe.!) Auch besteht 
diese letztere Behauptung, sofern sie wenigstens nur die erwähnte 
Stelle berücksichtigt, unzweifelhaft zu Recht. Aber gerade dieses 
sollte uns zu sorgfältigem Nachdenken anregen. Ein so oberfläch- 
licher und leichtfertiger Denker ist ja der gewaltige Schöpfer des 
transscendentalen Kritizismus nun doch einmal nicht, als dass wir 
in der Tat des Glaubens sein könnten, Kant habe ohne inneren 
Grund die Lehre von der qualitativen Differenz von Sinnlichkeit 
und Denken angenommen, nur weil er sie an dieser Stelle ohne 
innere Begründung ausgesprochen und eingeführt hat, Es ist also 
noch eine weitere und sorgfältiger Prüfung bedürftige Frage, 

i i die innere Begriindung dieser Lehre liegt, 
ungen selbst einer solchen Annahme die 


väre es zunächst, dass Kant 
innlichkeit und Verstand in 





Sinnlichkeit und Denken ete. 395 


Dann also wäre jede Annahme eine Notwendigkeit rein persön- 
licher und historischer Art. Möglich wäre es fernerhin, dass, wenn 
nicht in einzelnen Sätzen und Lehren, so doch in dem syste- 
matischen Gesamtaufbau der kritischen Erkenntnistheorie jene 
Annahme eines qualitativen Getrenntseins von Sinnlichkeit und 
Denken ihre innere Begründung fände. Und endlich bliebe als 
dritte noch die Möglichkeit, dass nun ein doppelter Rechtsnach- 
weis, sowohl ein historischer, wie systematischer, jener kritischen 
Fundamentalvoraussetzung zu Grunde liegt und sich so nach allen 
Seiten gestützt die Lehre von dem qualitativen Unterschied von 
Sinnlichkeit und Verstand als unerschütterliches Fundament in den 
Boden der kritischen Erkenntnistheorie einsenkt und verankert. 
Es ist bekannt, dass Kants philosophische Anschauungen, 
soweit sich diese in seinen ersten Schriften aussprechen, im 
wesentlichen durch den Einfluss des dogmatischen Rationalismus 
der Wolfischen Schule gekennzeichnet sind. Daher wird das Ver- 
hältnis von Sinnlichkeit und Verstand von Kant auch zunächst 
noch in einseitig rationalistischer Weise bestimmt, jene als das 
Vermögen dunkler und unbewusster, dieser als das Organ klarer 
und deutlicher Vorstellungen bezeichnet. Über diese bloss graduelle 
Auffassung des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Denken ist Kant 
indessen schon in der Schrift des Jahres 1762, „von der falschen 
Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren“ hinausgeschritten. 
An Stelle der quantitativen Verschiedenheit von Sinnlichkeit und 
Denken tritt jetzt die Lehre einer qualitativen Differenz derselben, 
an Stelle des Unterschiedes von klaren und unklaren Vorstellungs- 
inhalten der entscheidendere Gegensatz von sinnlicher Anschauung 
nnd Urteilskraft. Als Fähigkeit, „seine eigenen Vorstellungen zum 
Objekt seiner Gedanken zu machen“, ist dieses reflektierende Ver- 
mögen nicht wieder aus einem anderen abzuleiten. „Es ist ein 
Grundvermögen im eigentlichen Verstande und kann, wie ich dafür 
halte, bloss vernünftigen Wesen eigen sein.“ (Hartenstein II, 67 ff.) 
Mit Recht hat daher ferner die Preisschrift Kants, die „Unter- 
suchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen 
Theologie und der Moral“ den „namhaften“ Unterschied der mathe- 
matischen und metaphysischen Erkenntnisse auf eben diesen nam- 
haften Gegensatz_von Sinnlichkeit und Denken begründet und jene 
Dualität der Erkenntnisvermögen als stillschweigende Voraussetzung 
allen ihren erkenntnistheoretischen Erörterungen zu Grunde gelegt. 
Und von da ist jener Unterschied dann weiterhin als entscheidende 


396 F. Kuberka, 


Prämisse is de arme iritische Schrift Kasts, in die Dissertation 
von 1774, lsnübergeärengen ?) 

Allean durch dem in dieser newemtdeckten Begriff des Apriori_ 
bat nun die Lehre ren der qualitatives Differenz von Sinnlichkeit- 
und Verstand eine wesentiich neme. Sberpsrchologische und trans— 
soendentale Bedestamg erfahren Ursprünglich ein Axiom der 
empirischen Psychologie wird jetzt der Gegensatz von Sinnlichkeit 
und Verstand zu der entscheidenden Dualität, dem Riss in dem 
überempirischen, welt- und wirklichkeitsbedingenden Bewusstsein 
erhoben. Mit dem Gegensatz von Sinnlichkeit und Denken deckt 
sich nunmehr zagicich der bedestendere Gegensatz räumlich-zeit- 
licher Wirklichkeits- und absoluter Welterkenntnis, der kosmische, 
ja metakosmische Gegensatz der empirisch-sinnlichen und der 
intelligiblen Welt. So spiegelt sich in der Dualität der Wirklichkeit 
nur die ursprüngliche transscendentale Dualität kategorialen Denkens 
und räumlich-zeitlicher Synthese, der Gegensatz sinnlichen An- 
schauens und verstandesmässigen Erkennens wieder. Nur der 
Verstand freilich vermag mit den feingeschliffenen Formen der 
Kategorieen die Wirklichkeit in ihrem wahren Wesen ewigklar und 
spiegelrein und eben abzubilden und sich in den tiefen Grund des 
Göttlichen zu versenken. Dafür zaubert uns aber die Sinnlichkeit 
vermöge der ihr eigentümlichen Syathesen von Raum und Zeit eine 
Welt sinnlich-sichtbarer Plastizität in dreidimensionaler Ausgedehnt- 
heit und zeitlicher Wechselhaftigkeit hervor und wirket schöpferisch 


1) Die qualitative Differenz von Sinnlichkeit und Verstand als von 
Kant bereits in der Schrift „von der falschen Spitzfindigkeit der vier 
syllogistischen Figuren“ begründet ist zuerst von Kuno Fischer, Geschichte 
der neueren Philosophie III, 2. Aufl, S. 176 nachgewiesen worden. Vgl. 
Cohen, die systematischen Begriffe in Kants vorkritischen Schriften S. 17. 
Paulsen, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnis- 
theorie S. 87, 103 ff. Riehl, der philosophische Kritizismus I, 212 ff. Ich 
habe in meiner Preisschrift über „Kants Lehre von der Sinnlichkeit“ S. 8 ff. 
das Fischersche Resultat bestätigt gefunden und fühle mich auch durch 
die Einwendungen Wüsts in der Besprechung meiner Arbeit, Philosophische 
Wochenschrift I, 380 f., die gerade die Hauptentscheidungsgründe ausser 
Acht lassen, nicht widerlegt. In der „Untersuchung über die Deutlichkeit 
der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral“ wird der quali- 
tative Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand von Kant nicht begründet, 
sondern vorausgesetzt. (Gegen Wüst a. a. O. und Windelband, Geschichte 
der Philosophie 2. Aufl., S. 396.) 


Sinnlichkeit und Denken ete. 397 


und selbsttätig der Gottheit lebendiges Kleid.!) Diese selbst- 
schöpferische Tätigkeit der Sinnlichkeit, durch die sich diese vor 
allem der intellektuellen Erkenntnis gegenüber auszeichnet, war 
freilich wenig in Einklang mit jener Definition der Sinnlichkeit zu 
bringen, die Kant ursprünglich von ihr als der „receptivitas subjecti, 
per quam possibile est, ut status ipsius repraesentativus objecti 
alicuius praesentia certo modo afficiatur“ (Hartenstein I, 400), auf- 
gestellt hatte. Bald stellte sich auch der Glaube an die adäquate 
Wirklichkeitserkenntnis der Kategorien im Sinne der Dissertation 
von 1770 als eine unbegründete und nicht durchführbare Annahme 
heraus. Die Beziehung der Vorstellung auf ihren Gegenstand, die 
Notwendigkeit der Erkenntnis war auf dem Boden der Dissertation 
von 1770 nicht zu begründen. Das grosse Problem der Kritik der 
reinen Vernunft, für Kant selbst der Gegenstand elfjährigen Nach- 
denkens, hatte seine Formulierung gefunden. ?) 

Wieder aber ist es die Lehre von dem qualitativen Dualismus 
von Sinnlichkeit und Denken, welche nun dem neuerrichteten Ge- 
bäude der kritischen Erkenntnistheorie als festes Fundament zu 
Grunde liegt. Aber zugleich sind ihre inhaltlichen Bestimmungen 
wesentlich verändert. Der kategoriale Gebrauch des Verstandes 
ist allein auf das Gebiet der sinnlichen Erscheinungen beschränkt, 
umgekehrt alle synthetische Tätigkeit aus der Sinnlichkeit in die 
höheren Regionen des Verstandes verwiesen. Nicht mehr die 
Adäquatheit metaphysischer Erkenntnis, sondern der Gegensatz 
von Rezeptivität und Spontaneität macht nunmehr den alleinigen 
Unterschied der. Sinnlichkeit und des Verstandes aus. Dennoch 
ist dies nur die grundlegende Reform im grossen und ganzen. 
Wie überhaupt die Kritik der reinen Vernunft nicht ein Werk aus 
einem Guss darstellt, sondern Schwankungen, Abänderungen im 
kleinen und historische Weiterbildungen das Ganze gleichsam in 
schwingender Bewegung durchweben, so ist auch die Lehre von 
der Sinnlichkeit in ihrer geschichtlichen Entwickelung vielfach 
gleichsam noch nicht zum Stillstand gekommen, sondern noch eine 
sich innerhalb des Systemes konsequent weiterbildende und fort- 
entwickelnde „In der Ästhetik, sagt Kant in der Analytik der 


1) So die metaphysischen Begriffsbestimmungen Kants: des Raums 
als der omnipraesentia phaenomenon, der Zeit als der aeternitas phaenomenon 
(§ 22 Scholion). 

3) Vgl. den Brief von Markus Herz vom 21. Februar 1772 (Harten- 
stein VIII, 690). 

Kantstudien XII. 96 


308 P. Kuberks, 
Begriffe, hatte ich die Einheit der Vorstellung bloss zur Sinnlich- 


kritischen Periode, mannigfache innere Wandlungen erfährt“, darin 
wollen wir gewiss den gründlichen Ausführungen Cassirers*) bei- 
stimmen. Aber nicht minder gilt es zu bedenken, dass die 
Lehre von der Sinnlichkeit, insbesondere in der Form eines quali- 
tativen Unterschiedes von Sinnlichkeit und Denken für Kant be 
reits seit dem Jahre 1762, resp. in vertiefter Auffassung seit dem 
Jahre 1770 feststand, jene Fundamentalvoraussetzung der Kritik 
der reinen Vernunft also in der geschichtlichen Entwickelung der 
Kantischen Philosophie ihren zureichenden Grund findet. 

Dennoch hat man ein Recht, die Begründung des qualitativen 
Unterschiedes von Sinnlichkeit und Verstand von den erkenntnis- 
theoretischen Bestimmungen der Kritik der reinen Vernunft selbst 
zu verlangen. Das ist ja das Entscheidende des kantischen Kriti- 
zismus, dass er in der Herausgestaltung seiner philosophischen 
Totalanschauung gleichsam ab ovo beginnt und auf völlig sicherer 
Grundlage nach völlig neuer Methode das gewaltige Gebäude des 
Systems der reinen Vernunft errichtet. Aber völlig gesichert und 
zuverlässig auch vom rein systematischen Standpunkt muss eben 
das Fundament dieses neuen Gebäudes auch sein, sollen wir wirklich 
in der kantischen Philosophie einen entscheidenden Wendepunkt in 
der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens der abendländischen 
Menschheit erblicken. Hier reichen auch rein historische und psy- 





Sinnlichkeit und Denken etc. 399 


Sobald wir nun aber zu dieser sachlichen Prüfung weiter 
fortschreiten, zeigt es sich, dass die Begründung jenes qualitativen 
Unterschiedes von Sinnlichkeit und Denken zweifellos gar nicht 
die Aufgabe der einleitenden Bemerkungen der Kritik der reinen 
Vernunft bildete. Der Philosoph sagt es ja ausdrücklich, dass nur 
„zur Einleitung oder Vorerinnerung“ soviel zu bemerken nötig sei, 
„dass es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gäbe, die 
vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel 
entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren 
uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden“. 
(Kehrbach S. 47.) In diesen Worten ist es klar und deutlich aus- 
gesprochen, dass eine eigentliche systematische Begründung dieses 
Gegensatzes gar nicht die Aufgabe der einleitenden Vorerinnerungen 
war, und dass, fügen wir hinzu, sie es nach dem Wesen des hier 
vorliegenden Problemes auch gar nicht sein konnte. Denn in der 
That war die von Kant berührte Frage keineswegs eine so einfache. 
Nicht darum handelte es sich, die Lehre von der qualitativen 
Differenz von Sinnlichkeit und Verstand von vornherein deduktiv 
zu begründen, sondern darum, die Notwendigkeit der Annahme der 
realen Existenz eines jeden der beiden Vermögen aus den Unter- 
suchungen der kritischen Erkenntnistheorie heraus zu erweisen. 
In feinster logischer Spezifizierung hatte sich somit die ent- 
scheidende Fundamentalfrage in eine Zweiheit einzelner Sonder- 
probleme zersprengt, die nun in gesonderter Behandlung teils in 
der transscendentalen Ästhetik, teils der transscendentalen Analytik 
ihre sachliche Lösung finden. 

„Die Fähigkeit, Vorstellungen durch die Art, wie wir von 
Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heisst Sinnlichkeit“ 
(Kehrbach, S. 48), in diesen prägnanten Worten hat uns die trans- 
scendentale Ästhetik Wesen wie Rechtsgrund einer besonderen 
Realität der Sinnlichkeit umschrieben. Ihr Wesen ist Vorstellung, 
anschauliches Betrachten, ihr Rechtsgrund Empfänglichkeit. Nur 
durch die Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände in receptiver 
Weise geliefert. Solchen im Zwang der Empfindung gegebenen 
Anschauungen schreiben wir alsdann das Merkmal der Sinnlichkeit 
oder sinnlichen Empfänglichkeit zu. Damit sind zugleich die 
metaphysischen Grundlagen des kritischen Idealismus, die Aner- 
kennung einer transsubjektiven Wirklichkeit und der metaphysische 
Urgrund der Empfindung implicite gegeben. Sachlich aber stützt 
sich diese Überzeugung wiederum im wesentlichen darauf, dass 

86° 


400 F. Kuberka, 


wir in den Empfindungen nicht blosse Funktionen unseres Geistes 
vor uns haben, sondern zugleich Symbole und lebendige Zeugen 
der Wirkungsweise eines „Ändern“, eines „Nicht-ich“, einer 
transsubjektiv-realen Welt.) Dadurch allein unterscheidet sich ja 
die Empfindung von allen übrigen, insbesondere den dichterischen 
Funktionen, dass hier die Handhabung des Stoffes eine durchaus 
freie und ungebundene, im leichten Spiel der Erkenntniskräfte 
vollzogene, dort eine beschränkte, auf Erfahrung und besonderer 
empirischer Forschung beruhende, durchaus unfreie und zwangs- 
mässige ist. Und auf eben diesen Zwang, diese besondere in- 
tellektuelle Nötigung in der theoretisch nicht weiter analysierbaren 
„Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden“, hat 
Kant nun auch seine Lehre von der realen Existenz der Sinnlich- 
keit, den Glauben an die Realität einer transsubjektiven Wirklich- 
keit begründet. Nicht auf einer dogmatisch angenommenen 
Voraussetzung, einer unbewiesenen Prämisse baut sich also in letzter 
Linie die Annahme einer besonderen Realität receptiver Ver- 
sinnlichung auf. Fest und klar auf die Tatsache unseres in dem 
Zwang der Apprehension der Empfindungen sich offenbarenden 
schlechthinigen Abhängigkeitsbewusstseins, der Receptivität unserer 
sinnlichen Eindrücke ist sie begründet. 

Noch fester und gesicherter aber muss uns nun die Annahme 
einer besonderen Realität der Sinnlichkeit, erscheinen, sobald wir 
die Beschränktheit unserer sinnlichen Erkenntnis messen an dem 
Ideal eines rein göttlichen Erkennens oder, wie Kant sagt, einer 
intellektuellen Anschauung. In vollendeter Ursprünglichkeit, selbst- 
schöpferisch und welterzeugend, setzt das göttliche Urbewusstsein 
seine weltbestimmenden Gedanken, entspringt die Wirklichkeit dem 
göttlichen Denken wie Pallas Athene aus Juppiters Haupt, Ein 
solches Vermögen wäre in der Tat als reine spontane Tätigkeit, 
als „intuitus originarius“, als ureigenste Produktivität zu bezeichnen. 
Allein wiewohl als methodologische Hypothese denkbar, ist ein 
solches Vermögen doch zweifellos nicht das unsrige. Nicht die 
Wirklichkeit spontan zu erzeugen, vielmehr die im Zwang der 
Apprehension der Empfindungen gegebene im Lichte unseres er- 
kennenden Bewusstseins zu begreifen, ist die höchste Bestimmung 
menschlicher Erkenntnisfähigkeit. „Das Bewusstsein seiner Selbst 
ist die einfache Vorstellung des Ich, und wenn.dadurch allein alles 


1) Vergl. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus II, 542, 





Sinnlichkeit und Denken etc. 401 


Mannigfaltige im Subjekt selbstthätig gegeben wäre, so würde die 
innere Anschauung intellektuell sein. Im Menschen erfordert dieses 
Bewusstsein innere Wahrnehmung von dem Mannigfaltigen, was 
im Subjekt vorher gegeben wird, und die Art, wie dieses ohne 
Spontaneität im Gemüt gegeben wird,!) muss um dieses 
Unterschiedes willen Sinnlichkeit heissen“ (Kehrbach, S. 72). 
Solche Gedanken sind wohl imstande, die Lehre von der 
Realität der Sinnlichkeit als eine durchaus begründete und uns 
durch die praktische Erfahrung selbst unmittelbar nahegelegte zu 
erweisen. Sie haben in ihrer Weiterentwickelung zugleich die 
Kantische Philosophie davor bewahrt, einem „materialen“ Idealismus 
in die Arme zu fallen und in ihrer weiteren Ausgestaltung ver- 
mittelst des Apriori der Raum- und Zeitvorstellungen jenen Stand- 
punkt der erkenntnistheoretischen Betrachtung vorbereitet, welchen 
Kant selbst im Gegensatz zu Descartes ,materialen“ und 
Berkeleys ,schwärmerischen“ oder ,mystischen“ Idealismus als 
formalen oder kritischen Idealismus bezeichnete. Denn nicht dies 
ist nun Kants Meinung, dass die Wirklichkeit auch nach seiten ihrer 
materiellen Bestimmtheit restlos das Produkt der synthetischen Formen 
und Normen unseres erkennenden Bewusstseins darstellt. Ausdrücklich 
beschränkt sich der kritische Idealismus auf die Form und lässt alle 
materiellen Bestimmungen der Dinge, ihre Gestalt, Grösse, äussere 
Form, Vielheit und Besonderheit allein aus der Eigenart der Affektion 
der transsubjektiv-realen Wirklichkeit folgen. Nur der absolute 
Raum, die absolute Zeit sind für Kant blosse „Ideen“, reine Ge- 
danken, nicht die relativen Räume und Zeiten. „Für diese be- 
sonderen und bestimmten Formen der Dinge, die in der empirischen 
Anschauung gegeben werden, also die Lage, Gestalt, Ausdehnungs- 
grösse, die bestimmte und bemessene Dauer und Folge der Dinge 
muss es ‘nach Kants ausdrücklicher Lehre in den Dingen selbst 
einen Grund geben.“?) „Dinge als Erscheinungen bestimmen den 
Raum, d. i. unter allen möglichen Prädikaten desselben machen 
sie es, dass diese oder jene zur Wirklichkeit gehören.“ Aber eben 
damit weist die erkenntnistheoretische Betrachtung über sich selbst 
auf einen höheren Standpunkt hinaus. Die synthetische Verbindung 
und Verwebung der rein succesiv apprehendierten Empfindungen 
in das Gewand der rein formalen und subjektiven Raum- und 


1) Von mir gesperrt. 
3) Riehl, Philosophie der Gegenwart. S. 110 ff. 


So also ist die Formulierung, Entwickelung und Lisung des 
hier vorliegenden Problemes keineswegs eine so einfache. Nicht 
darum handelte es sich, die Lehre von der qualitativen Ver- 
schiedenheit von Sinnlichkeit und Denken von vornherein deduktiv 
zu begründen. Ursprünglich eine propädeutische Bestimmung des 
Systems der Vernunft hatte sich jenes Grundproblem alsbald in 
eine Zweiheit von Problemen gespalten, deren definitive Lösung 
nun die Aufgabe der besonderen Bestimmungen teils der trans- 
scendentalen Ästhetik, teils der transscendentalen Analytik aus- 
macht. Weder diese noch jene hat uns daher an und für sich 
den besonderen Rechtsnachweis eines qualitativen Dualismus von 
Sinnlichkeit und Denken gegeben. In dem Gesamtgehalt, der 
systematischen Totalanschauung, der eigenartigen Gedankenwelt 
der kritischen Lehre ist er begründet. 

Auffallend möchte es freilich auch so erscheinen, dass Kant 
die Lösung des hier behandelten Problems nirgends in der hier 
versuchten präcisen Weise ausgesprochen hat?) Dies Schweigen 
Kants wird uns jedoch verständlich, sobald wir bedenken, dass 
die Richtigkeit der beiden Voraussetzungen, auf welchen die Not- 
wendigkeit der Annahme einer von der Sinnlichkeit gesonderten 
Realität des Verstandes beruhte, aus den Bestimmungen der 
transscendentalen Ästhetik von selbst einleuchtend war und Kant 
daher kaum das Bedürfnis einer besonderen Formulierung der- 
selben empfinden mochte. Dass die Synthesis der bloss formalen 

1) Prolegomena, § 14. 

# Nur in den einleitenden Bemerkungen der transscendentalen 
Logik ist Kant näher auf den Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand 
eingegangen. Die pleat igpacbene, Charakterisierung von Sinnlichkeit 
und Verstand ist wi 

mehr dem erkenntnistheoretischen 
) als dem der Kritik der reinen 





Sinnlichkeit und Denken ete. 403 


Raum- und Zeitanschauungen nicht wieder aus der nur material- 
bedingenden Wirklichkeit im sensualistischen Sinne abgeleitet 
werden kann, brauchte auf dem erkenntnistheoretischen Stand- 
punkt der transscendentalen Ästhetik kaum besonders ausgeführt 
zu werden. Andererseits hatte gerade die Dissertation von 1770 
mit ihrem widerspruchsvollen Begriff der Sinnlichkeit die Unmög- 
liehkeit, die vereinheitlichende Synthese in die reinen Raum- und 
Zeitanschauungen selbst zu verlegen, auf das evidenteste dar- 
gethan. Als einzige Möglichkeit, aus diesen durch die Lehre von 
der Apriorität und Idealitit der Raum- und Zeitanschauungen 
geschaffenen Schwierigkeiten herauszukommen, bot sich daher 
allein die Annahme eines der Sinnlichkeit übergeordneten, synthe- 
tischer Verbindungen fähigen Vermögens, d. i. des Verstandes dar. 
Das Prinzip dieses gegensätzlichen Verhältnisses von Sinnlichkeit 
und Verstand, die Notwendigkeit der Annahme eines der bloss 
receptiven Sinnlichkeit übergeordneten spontanen Vermögens hat 
aber Kant selbst an verschiedenen Stellen seines Systems, ins- 
besondere in dem wichtigen Abschnitt der transscendentalen De- 
duktion der reinen Verstandesbegriffe auf das entschiedenste aus- 
gesprochen. „Das Mannigfaltige der Vorstellungen kann in einer 
Anschauung gegeben werden, die bloss sinnlich, d. i. nichts als 
Empfänglichkeit ist, und die Form dieser Anschauung kann a priori 
in unserem Vorstellungsvermögen liegen... Allein die Ver- 
bindung eines Mannigfaltigen überhaupt kann niemals durch Sinne 
in uns kommen und kann also auch nicht in der reinen Form 
der sinnlichen Anschauung zugleich mitenthalten sein“, sondern 
sie ist „ein Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft, und, da 
man diese zum Unterschied von der Sinnlichkeit Verstand nennen 


merklich zu machen, dass ichts als im Objekt verbunden 
vorstellen können, ohne es vorher selbs ‚ verbunden zu haben und 
unter allen Vorstellungen di 

durch Objekte gegeben, son 

werden kann, weil sie ein / 

bach, S. 657 £). Verbindu 

ständen und kann von 

lehnt und in den Vi 


nichts weiter ist, al: 





404 F. Kuberka, 


das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter die Einheit der 
Apperzeption zu bringen“ (Kehrbach, S. 661). 

Mit der Einsicht in die Unmöglichkeit einer Ableitung der 
Synthesis aus den bloss receptiven und passiven Raum- und Zeit- 
anschauungen und der nur materialbedingenden Wirklichkeit selbst 
ist uns indes mehr als die Einsicht in die Notwendigkeit der An- 
nahme der realen, für sich abgesonderten Existenz des Verstandes 
gegeben. Wir haben mit dieser Einsicht zugleich die Methode in 
der Hand, die Grundsätze, welche nötig sind, das Objekt einer 
möglichen Erfahrung a priori zu bestimmen, deduktiv festzustellen 
und uns der systematischen Vollzähligkeit derselben zu versichern. 
Kant selbst hat freilich, wie bekannt,. einen anderen Weg ein- 
geschlagen und sich der systematischen Vollzähligkeit der obersten 
Verstandesgrundsätze dadurch bemächtigt, dass er aus der Tafel 
der logischen Urteile die Tafel der Kategorien und aus den 
Kategorien durch schematische Versinnlichung derselben mit Hülfe 
der allgemeinen Zeitvorstellung die systematische Anzahl der 
obersten Verstandesgrundsätze ableitete. Gegen eine derartige 
Ableitung erheben sich indes aus logischen wie sachlichen Gesichts- 
punkten schwere Bedenken, Schon Stadler!) hat daher mit Um- 
gehung der „Analytik der Begriffe“ sich der systematischen Voll- 
zähligkeit der Grundsätze dadurch zu versichern gesucht, dass er 
— sich stützend auf die Bemerkung Kants, die analytische Einheit 
der Apperception sei selbst nur unter Voraussetzung irgend einer 
synthetischen möglich — dieselben als die erkenntnistheoretisch 
notwendigen Bedingungen der Identität des Selbstbewusstseins, der 
Einheit des analytischen Ichbewusstseins betrachtete. Einen noch 
einfacheren Weg bietet uns indes das von Kant selbst eingeführte 
Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung, die Statuierung der obersten 
Grundsätze der Erfahrung an der Hand ihrer erfahrungsbedingenden, 
in der Analyse des Erkenntnisprocesses a priori erkennbaren Not- 
wendigkeit, Solche Grundsätze aber, welche die notwendigen Be- 
dingungen der uns tatsächlich gegebenen Erfahrung in sich tragen, 
sind die Sätze: Dass alle Objekte extensive Grössen wie intensive 
Realitäten sind, dass alle Dinge ihrem Zeitverhältnis nach in gesetz- 
mässiger Verknüpfung stehen, s, dass sie in Raum und Zeit 
als koexistent, sei es, dass sie in der Zeit als suecedierend wahr- 


1) Die Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie in der Kantischen 





Sinnlichkeit und Denken ete. 405 


genommen werden, wobei wir ferner eines als unumstössliche Tat- 
sache voraussetzen: dass bei allem Wechsel der Erscheinungen die 
Substanz, der gemeinsame Hintergrund des Zugleichseins und der 
Aufeinanderfolge der Dinge beharrt und sich das Quantum derselben 
in der Natur weder vermehrt noch vermindert. Lassen sich jene 
beiden ersten Grundsätze, die „Axiomen der Anschauung“ und 
die „Anticipationen der Wahrnehmung“ unmittelbar aus den Be- 
stimmungen der transscendentalen Ästhetik als notwendige Konse- 
quenzen begreifen, so ergeben sich ferner jene letzteren Prinzipien 
oder „Analogieen der Erfahrung“ nicht minder unmittelbar aus 
der Einsicht, dass alle Apprehension des Mannigfaltigen sinnlicher 
Anschauung infolge der Apriorität und Idealität der Zeit nur in 
succesiver Weise erfolgt, und wir somit zweifellos die Bedingungen 
einer Umstellung dieser stets nur successiven Wahrnehmungsfolge 
in das Verhältnis der objektiven Koexistenz oder Aufeinanderfolge 
der Dinge in uns tragen. Freilich ist auch diese Umstellung — 
und darin hat man Kant sehr häufig missverstanden — keine 
willkürliche. Dass die Dinge untereinander in einer gesetzmässigen 
Verknüpfung stehen, kann, wie gezeigt, weder aus den nur 
passiven Raum- und Zeitvorstellungen, noch aus der nur material- 
bedingenden Wirklichkeit selber, sondern nur aus der speziellen 
kategorialen Gesetzmässigkeit des Verstandes abgeleitet werden. 
Allein, ob ich in diesem konkreten Fall nun diese oder jene Kate- 
gorie, den Grundsatz der Kausalität oder Wechselwirkung an- 
wende, kann aus keinem Akt des Bewusstseins a priori entschieden 
werden, sondern erfolgt unmittelbar einzig und allein auf Grund 
der individuellen, momentan gegebenen Erfahrung, aus der besonderen 
Art der Affektion der Dinge in der Apprehension der Empfindungen 
heraus. Nur die allgemeinsten und in jeder individuellen Er- 
fahrung enthaltenen, weil selbst erfahrungsbedingenden Gesetze, 
nicht die besonderen, in der Natur herrschenden und die Natur 
nach seiten ihrer materialen Bedingtheit beherrschenden Gesetze 
sind daher auch a priori aus dem Verstande ableitbar. „Auf 
mehrere Gesetze aber als auf die, auf denen eine Natur überhaupt 
als Gesetzmässigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit beruht, 
reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch blosse 
Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. 
Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen 
betreffen, können davon nicht vollständig abgeleitet werden, ob 
sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen. Es muss Erfahrung 


406 F. Kuberka, Sinnlichkeit und Denken ete. 


dazu kommen, um die letzteren überhaupt kennen zu lernen“ 
(Kehrbach, S. 681). „Zwar können empirische Gesetze als solche 
ihren Ursprung keineswegs vom reinen Verstande herleiten, so 
wenig als die unermessliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen 
aus der reinen Form der sinnlichen Anschauung hinlänglich be- 
griffen werden kann. Aber alle empirischen Gesetze sind nur 
besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes, 
unter welchen und nach deren Norm jene allererst möglich sind“ 
(Kehrbach, S. 135 ff.). 

Die Anerkennung des metaphysischen Urgrundes der Em- 
pfindung, die Scheidung der formalen und der materialen Erkennt- 
niselemente und die erkenntniskritische Unableitbarkeit der be- 
sonderen Naturgesetze ungeachtet ihrer formalen Unterordnung 
unter die obersten Grundsätze des Verstandes — das ist die tief- 
sinnige Auffassung des Philosophen, welche uns die Kantische 
Lehre ebenso sehr in dem Lichte eines kritischen Idealismus wie 
eines echten und wahrhaften Realismus erscheinen lässt. 


Aus Hegels Frühzeit. *) 


Von Anton Thomsen (Kopenhagen). 





Das verflossene Jahr brachte auf dem Gebiete der Hegel- 
Forschung zwei Bücher. Während Kuno Fischer es in seinem 
zrossen Werke: „Hegels Leben, Werke und Lehre“ (1901) nicht 
für nötig erachtet, näher auf die Jugendphilosophie Hegels ein- 
zugehen, und während E. Ott in seiner ganz dürftigen Arbeit 
„Die Religionsphilosophie Hegels (1904) dies wohl vonnöten gefunden 
(S. 4), es aber unterlassen hat, und während die Neo-Hegelianer 
Englands ohne besonderes historisches Verständnis und ohne die 
Tragweite der Kritik Trendelenburgs („Die dialektische Methode“ 
in seinen „Logischen Untersuchungen“) begriffen zu haben, fortfahren, 
mit den abstrakten Problemen der Logik Hegels zu operieren 
(Mc. Toggart: „Studies in the Hegelian Dialectic‘, 1896 — 
Baillie: „Hegels Logic“, 1901), legt Wilh. Dilthey in einer 
interessanten Schrift „die Jugendgeschichte Hegels* (in den Ab- 
handlungen der Königl. Preuss. Akademie der Wissenschaften, 
1905 — herausgegeben April 1906) von der wichtigen ersten 
Phase in der Entwickelung Hegels, welche sich nur durch die zum 
grössten Teil bisher nicht gedruckten Manuskripte in der Kgl. 
Bibliothek in Berlin studieren lässt, Rechenschaft ab. In diesen 
in drei Bänden (Nachlass VII, VIII und XI) planlos zusammen- | 
gehefteten Manuskripten orientiert man sich nur mit der grössten 
Schwierigkeit, und man nimmt — aber nur insofern — dankend 
die Ausgabe der Manuskripte des VII. und teilweise des XI. Bandes 
an, welche Paul Rocques unter dem Titel ,G. W. F. Hegel: Das 
Leben Jesu (Diederichs Verlag, 1906) ausgesandt hat. Schon der 
erste Biograph Hegels, Rosenkranz, hat erkannt, von welcher 
Wichtigkeit diese Jugendfragmente für das Verständnis der späteren 


1) Mit besonderer Rücksicht auf Diltheys „Jugendgeschichte Hegels“ 
(Abhandlungen der Berliner Akademie 1906) und Paul Rocques Ausgabe: 
G. W. F. Hegel: Das Leben Jesu. Jena 1906. 


408 A. Thomsen, - 


Philosophie sind, Er hat sich bemüht, ihnen eine gewisse chrono- 
logische Ordnung zu geben, und er hat auf Grund dieser Fragmente 
Hegels Philosophie vor der Einwirkung Schellings („Hegels Leben“, 
1844) dargestellt. Für die ganze Hegel-Forschung bleibt dies Werk 
heute noch klassisch und unentbehrlich, obgleich die Darstellung 
an bedeutenden Mängeln leidet. Rosenkranz legt z. B. nicht 
genügend Gewicht auf Hegels Beziehung zum Klassizismus und die 
damit zusammenhängende äusserst radikale Kritik des Christentums. 
Auch Haym hat in seiner genialen Darstellung „Hegel und seine 
Zeit* (1857) Hegels Jugendfragmente benutzt und auf ungefähr 
50 Seiten in seinem Buche eine Schilderung von der Entwickelung 
Hegels bis ca. 1798 gegeben, welche in weit höherem Masse als die 
Rosenkranz’s alles Wesentliche hervorhebt. Zur Bekräftigung seiner 
Auffassung von Hegel hat Haym in den Noten zwei wichtige 
Fragmente drucken lassen, von welchen gerade das eine eine 
scharfe Kritik des Christentums von den Idealen des Klassizismus 
aus enthält (274—283). In dieser Verbindung darf ich mir vielleicht 
erlauben anzuführen, dass ich im September 1906 ein Buch heraus- 
gegeben habe „Hegel, die Entwickelung seiner Philosophie bis 
1807“, welches ebenfalls auf Grundlage eines Studiums der Jugend- 
fragmente Hegels die ganze Entwickelung darzustellen sucht, die 
zur „Phänomenologie“ leitete, welches jedoch, da es leider nur auf 
Dänisch vorliegt, hier kein Interesse beanspruchen kann. 
Rosenkranz, Haym und ich haben in der Behandlung des 
Zeitraumes innerhalb der Entwickelung Hegels, welche früher fällt 
als die gedruckten Quellen, gemein, dass die grosse Reihe der 
Fragmente, welche von ca. 1792 bis ca. 1798 datieren müssen, 
nicht chronologisch geordnet, sondern nur einigermassen ihrem 
Inhalt nach zusammengestellt sind. In Kürze gesagt, bedeutet 
Diltheys Arbeit das Neue, dass sie es versucht, Hegels Jugend- 
fragmente chronologisch zu ordnen. Auf Grund dieser Ordnung 
beabsichtigt Dilthey innerhalb der Epoche der Jugendphilosophie, 
welche bisher unter eins genommen wurde, verschiedene Stadien 
zu unterscheiden. Hier glaube ich nun, dass Dilthey in den Haupt- 
zügen in seiner Chronologie Recht hat, obwohl er sicher mit Un- 
recht Be En Kantische Perioden und verschiedene „Wendungen 
zum Pan 1 ch Anstatt auf weitläufige er 





Aus Hegels Frühzeit. 409 


mich sowohl auf Diltheys Arbeit als auf mein Studium der 
Manuskripte stiitze. 

Hegels Jugendaufzeichnungen, wozu ich die Manuskripte bis 
ca. 1799 rechne (bei Dilthey s. W. S. 1—129), stellen das Bild 
eines lebhaft bewegten Gedankenlebens dar, einer ungemein vor- 
urteilsfreien Behandlung religiöser und historischer Probleme und 
zeigen — was bei einem jungen Manne von Hegels Forschungs- 
bedürfnis natürlich ist — die verschiedenartigsten Beeinflussungen. 
In erster Reihe sieht man in Hegels Behandlung der religiösen 
Probleme eine Beeinflussung von der deutschen Aufklärungsphilo- 
sophie; durch sein Interesse für die historische Seite der Frage 
stand er namentlich Lessing nahe. Durch Lessing und die grossen 
deutschen Dichter wurde Hegel zugleich von der neu-humanistischen 
Bewegung um das Ende des 18. Jahrhunderts ergriffen; seine 
Begeisterung für das Altertum wurde durch seine Kenntnis der 
griechischen Philosophie und persönlicher durch den Verkehr mit 
Hölderlin gestärkt. Diese Begeisterung war es, die meiner Meinung 
nach der Träger der ganzen Hegelschen Philosophie wurde; der 
späteren Wendung zum Christentum zum Trotz lassen sich die 
Nachwirkungen dieser Jugendbegeisterung bis in die spätesten 
Schriften Hegels verspüren, ja ich glaube geradezu sagen zu dürfen: 
dass, was in Hegels Philosophie von dauerndem Wert ist, auf den 
Idealen des deutschen Klassizismus ruht. Dazu kommen nun Be- 
einflussungen von Kant und Spinoza, von Herder, Jacobi und mit 
ihnen Rousseau, weiter Beeinflussungen von Gibbon, Montesquieu 
und Machiavelli. Wenn Hegel Jesu Leben darstellt, thut er es 
vom Standpunkt des Rationalismus des 18. Jahrhunderts aus; er 
nennt die Wunder nicht als solche, kritisiert in andern Fragmenten 
den Wunderglauben stark, und sieht in Jesus selber einen edlen 
Menschen, der dem verdorbenen jüdischen Priestertum gegenüber 
eine erhabene und reine Moral predigt. Diese Moral ist die der 
Aufklärungsphilosophie; in einzelnen Wendungen bedient er sich 
Kantischer Ausdrücke, während andre Fragmente einen Gegensatz, 
zu dem ethischen Rigorismus Kants zeigen. Der Grund für 
Diltheys Versuch, von hier aus Wendungen von und zu Kant 
historisch zu konstatieren, sehe ich nicht; der ethische Kern, 
welchen Hegel in dem Leben Jesu zu finden glaubte, enthält nicht 
das für die Ethik Kants im Gegensatz zu der Ethik der Auf- 
klärung Eigenartige. Obwohl Hegel Jesu Persönlichkeit hoch- 
schätzte, geht es doch aus einem Fragmente, welches ich „das 


410 A. Thomsen, 


Sokratesfragment“ genannt habe, hervor, dass er geneigt war, 
Sokrates höher zu stellen, und diese Seite der historischen Schätzung 
Hegels tritt dort noch mehr hervor, wo er in seiner späteren Ent- 
wickelung das Christentum kritisiert und mit dem griechischen 
Heidentum, wie dies von dem Neu-Humanismus aufgefasst wurde, 
vergleicht. Eine beträchtliche Menge der Jugendfragmente Hegels 
drehen sich um das grosse historische Problem: das Verhältnis 
zwischen Heidentum und Christentum. Diese sind nach meiner 
Auffassung die interessantesten. Sie enthalten eine Verurteilung 
des Christentums dem Heidentum gegenüber, wie man sie sonst 
nur in Humes genialem „Natural History of Religion“ (1757, 
Lect IX—XV), in Rousseaus „Contract social“ (1762), in einzelnen 
Äusserungen bei Machiavelli und in einigen Schriften von Voltaire 
findet, und wie man, um dergleichen aber sonst zu finden, ganz 
bis Nietzsche vor- oder ganz bis Kelsos zurückgehen muss, Ausser 
der Kritik von einem sozialen und individuellen ethischen Gesichts- 
punkte aus macht Hegel auch geltend, dass das Christentum eine 
elende, asiatische und für europäische Völker ganz unnationale 
Religion sei, namentlich in der protestantischen Form, in der doch 
die lokalen Heiligen des katholischen Polytheismus die nationalen 
Elemente in der Religion bewahren. — Von hier aus kommt er 
auf interessante Untersuchungen über Volksreligion, die sicher 
teilweise von Herder beeinflusst und in vielen Fragmenten finden 
sich auch Ausdrücke wie „die schöne Seele“ und „die schöne 
Liebe“, diese weisen wohl auf den Klassizismus zurück, in erster 
Reihe jedoch auf Rousseau und Jakobi. Das eigentümlich warme 
und bewegte „Maria-Magdalenafragment“, das schon bei Haym 
(s. W. 473—474) gedruckt ist, hat eine schöne Fortsetzung er- 
halten in dem wenig bekannten Aufsatz aus den letzten Jahren 
Hegels: „Wer denkt abstrakt“ (Werke XVII 400—405), wo die 
Maria-Magdalena der Jugendphilosophie, „die schöne Seele“, 
schliesslieh als eine arme alte Fran dasteht, die alle diejenigen 
mit demselben warmen Herzen umfasst, welche von den „honnetten 
Leuten“, von denen, die abstrakt denken, von den Pharisäern zu 
Jesu Zeiten und zu allen späteren Zeiten beiseite geschoben werden. 
Die Fragmente der Jugendphilosophie gewähren in das Beste der 
Persönichkeit Hegels einen Einblick, in das, was er ebenwie die 
Begeisterung für griechische Erhabenheit und Schönheit sein 
späteres Leben hindurch bewahrte, 





Aus Hegels Frühzeit. ait 


Die Auffassung, die Hegel in seinen Jugendjahren von dem 
Verhältnis zwischen Religion und Ethik und zwischen Christentum 
und Heidentum hat, lässt sich ungefähr dahin zusammenfassen: 
Den Kern aller Religion, der bald stärker hervortreten, bald von 
dem Statutarischen fast ganz verhüllt sein kann, bildet das ethische 
Leben des Menschen und der daraus entspringende Glaube an 
einen sittlichen Fortschritt und eine sittliche Weltordnung; alles 
Andere hat nur sekundären Wert. Die Hoffnung ist der Lebens- 
nervy der Religion, die Furcht macht eine Karrikatur aus ihr. 
Der religiöse Kultus sollte am liebsten in der Form allgemeiner 
Volksfeste, in denen alles Grosse und Erhabene zur Schau ge- 
stellt wird, und denen das Nationale den Charakter verleiht, ab- 
gehalten werden. Das hatte nach Hegels Meinung das Heidentum 
verstanden, während das Christentum auf die dunkle Seite der 
Religion das Hauptgewicht legt. Die Religion soll der sozialen 
Ethik untergeordnet sein. Wie die religiösen Feste Sache des 
Staates sind, beruht die Schätzung des Guten und Bösen auf dem 
Gewissen jedes Einzelnen. Niemand hat das Recht, andere zu 
verurteilen; das Gewissen jedes Einzelnen ist die Grenze der 
Ethik. — Auf diesem Punkte bilden die Jugendfragmente einen 
entschiedenen Gegensatz zu dem ethischen Teil des Ursystems 
(ca. 1800 geschrieben; „System der Sittlichkeit“, herausgegeben 
von Mollet, 1893) und zu der „Philosophie des Rechts“. Das 
Heidentum stand auch, was diesen Punkt betrifft, auf der rich- 
tigen Seite, indem es das Recht des Einzelnen, seine Stellung zu 
den ethischen Fragen selbst zu wählen, geltend macht, obgleich 
es zugleich jeden einzelnen Bürger als Glied der unauflöslichen 
Einheit des Staats betrachtet. Das Christentum fasste die Sacha 
gerade umgekehrt auf; religiös wollte es den Einzelnen knechten, 
ihn zum Sklaven eines theologischen Moralcodex, welcher für alle 
gleich gut passen sollte, machen; sozial emanzipierte es dagegen 
den Einzelnen, löste ihn von dem Staatsganzen ab, wodurch der 
Staat zu Grunde ging; und da so die Werte dem Leben hier auf 
Erden entschwanden, wurden sie auf eine andere Welt verlegt, 
welche nun diesem Leben das Interesse entzog und so auf lange 
Zeiten einen neuen Fortschritt des sozialen Lebens verhinderte. 

Dass ein Fortschritt wiederkommen würde, und dass „the 
kingdom of the darkness“ bald vorbei sein wiirde, daran zweifelte 





412 A. Thomsen, = 


deutschen Humanismus wieder auferstehen sehen, schöner und 
gewaltiger als jener schwache Anfang, den die Reformation ab- 
sorbiert hatte, und dem das Dunkel der Religionskriege nachfolgte, 
und er war mit grosser Begeisterung der französischen Revolution 
gefolgt. Im Hintergrunde der ganzen Lebensauffassung Hegels 
ruhte zu jener Zeit ein mystischer Pantheismus, ein Glaube an 
das Bestehen des Erhabenen durch den Gang der Geschichte. Es 
war dies eine eigentümliche Form von Lessings und Kants Glaube 
an eine moralische Weltordnung. Am hellsten hatte sich der Genius 
der Geschichte den Hellenen, namentlich den ersten unter ihnen, 
den Staatsgründern, offenbart. Naeh ihnen kam Christus, gross, 
nicht weil er wie jene der Gesellschaft neues Leben brachte, sondern 
weil er das verdorbene Judentum zerstörte (welches Hegel immer 
unsympathisch war), und weil er durch diese Zerstörung oder in 
Folge deren, den einzelnen Menschen lehrte, sich in sich selbst zu 
versenken in sein Gewissen, das die Kirche später wieder, in 
entschiedenem Gegensatz zu dem Meister, knechten wollte. 

So gut es sich mit wenig Worten thun lässt, hoffe ich hier 
eine Darstellung der Jugendphilosophie Hegels gegeben zu haben; 
es fragt sich jetzt, wie sich die einzelnen verschiedenartigen 
Fragmente zu einander verhalten. Dass Hegel gleich eine fertige, 
abgeschlossene, in allen Punkten zusammenhängende und konsequente 
Auffassung gehabt hätte, wäre ein unwahrscheinlicher historischer 
Ausgangspunkt. Es ist ganz sicher bedenklich, von dem Anspruch 
auf Konsequenz aus die Entwickelung eines Menschen in ver- 
schiedene Perioden einzuteilen, die im Einzelnen von einer gewissen 
Konsequenz sind, im Verhältnis zu einander aber sonderbare Hin- 
und Herschwankungen zeigen. 

Dies Chaos, das chronologisch zu ordnen weder Rosenkranz, 
Haym noch mir gelungen ist, hat Dilthey geordnet, indem er nach- 
gewiesen hat, dass die Hegelschen Jugendfragmente wesentlich in 
drei Gruppen fallen. Die erste Gruppe bilden die Tübinger Fragmente 
(wovon ein Teil bei Rosenkranz gedruckt ist), die zweite bilden 

„Das Leben Jesu“ und die Schrift: „Über das Verhältnis der 
Vernunftreligion zur positiven Religion“ [> Rosenkranz: Kritik 
its der positiven Religion; Thomsen: Kritik des Christen- 
f Die Positivität der christlichen 

wen welche beide 1795—9I geschrieben würden. 

In der dritten. Gruppe, welche unzweifelhaft später liegt, 
gehört eine grosse Reihe von Fragmenten, über christliche und 





Aus Hegels Frühzeit. 413 


jüdische Religion, von welchen Rosenkranz Bruchstücke, betitelt 
„Fragmente theologischer Studien“ (s. W. 490—514 vgl. 58), mit- 
geteilt hat. Sie finden sich grösstenteils im VII. Bande von Hegels 
Nachlass, einige Seiten sind jedoch auch im Band XI untergebracht. 
Diesen widmet Dilthey das grösste Interesse (s. W. 75—129). 
Sie wird vorzüglich geordnet und zum grossen Teil von Roques 
in seinem Buch nach dem „Leben Jesu“ herausgegeben. Sie sind 
hier auf Seite 75—203 gedruckt, und es zeigt sich, dass sie 
einigermassen ein Ganzes bilden, was sich schwerlich von den 
Stücken, die Rosenkranz herausgegeben hat, sagen lässt. Im 
Verhältnis zu den ersten Gruppen ist diese (Nohl, Der Geist des 
Christentums und sein Schicksal) minder historisch und mehr 
mystisch-abstrakt. Anstatt des ehemaligen Rationalismus treffen 
wir hier eine — oft tiefsinnigere, aber auch zuweilen völlig will- 
kürliche und schwer fassliche — symbolische Deutung. Zu- 
gleich finden wir hier den ersten Anfang zu Hegels Dialektik ; 
viele dieser Seiten sind genial; so z. B. der Abschnitt, den 
Rosenkranz „Das Schicksal und seine Versöhnung“ nennt (s. W. 
493—98; Roques 145—59), und welcher ein höchst interessantes 
Gegenstück zu der ,Faustiade“ der Jenaer Zeit (Rosenkranz, 
S. 548—50) bildet. Diese Fragmentenreihe legt Rosenkranz in 
die Schweizer Zeit, Dilthey in die Frankfurter Zeit. Zweifellos 
ist sie früher als das Ursystem, und sie scheint fast ebenso 
sicher etwas später als die als erste Gruppe bezeichneten Frag- 
mente zu sein. Ihre Abfassung muss also auf ca. 1798 ange- 
setzt werden. Sie zeigt eine Beeinflussung von Fichte und 
Schelling und bildet gewissermassen innerhalb der Epoche der 
Jugendphilosophie den Übergang zu der eigentlich romantischen 
Periode innerhalb der Entwickelung Hegels, die Zeit der System- 
bildung, welche mit einer immer festeren Anschliessung an 
Schelling ihren Anfang nahm und mit einer Lossagung von diesem 
endigte, die Zeit von 1798—1807. Es ist das grosse Verdienst 
Diltheys, nachgewiesen zu haben, dass diese Abschnitte vorhanden 
sind, wo Rosenkranz und Haym alles zusammennehmen, und wo 
ich mich damit begnügt habe, eine Schwankung in der Auffassung 
Hegels nachzuweisen. Dagegen scheint mir Dilthey nicht ge- 
nügend eine der interessanten früheren Fragmentengruppe heraus- 
gehoben zu haben; er hat scheinbar nicht gesehen, welche un- 
geheuer grosse Bedeutung der Klassizismus für Hegel hatte, wie 
scharf seine Verdammung nicht nur des Judentums (z. B. Dilthey, 
Kantstudien XII, a 


414 A. Thomsen, 


S. 80), sondern auch des Christentums war, und es scheint mir 
im Zusammenhang hiermit zu stehen, dass die stark bewegte Jugend- 
philosophie Hegels an mehreren Stellen gar zu abstrakt und un- 
persönlich wird. Vielleicht liegt das aber an meiner persönlichen 
Auffassung und darf der gründlichen und auf erwähntem Punkte 
auch grundlegenden Arbeit des hochverdienten Forschers der 
Geschichte der Philosophie nichts an Wert absprechen. Im 
Gegensatz zu den Forschern, welche sich hauptsächlich an das 
fertige System Hegels halten, bin ich der Ansicht, die hier 
zu begründen zu weitläufig sein würde, dass die Schriften Hegels 
von der Frühzeit bis zur „Phänomenologie“ vom grössten Interesse 
sind. In den Jugendfragmenten und in den gedruckten Abhand- 
lungen aus der Jenaer Zeit hat Hegel seine eigenartigsten Ge- 
danken gedacht. Seine Entwickelung zeigt hier Kämpfe und In- 
konsequenzen, zugleich aber die Fähigkeit, einen Gedanken zu 
Ende zu denken, Und ich glaube, dass man hier Anschauungen 
bei Hegel findet, welche in den deutschen Darstellungen nie zu 
ihrem ganzen Recht kamen. Den Abschluss dieser interessanten 
Entwickelung bildet die „Phänomenologie“, welche die Einleitung 
des Systems sein soll und doch das ganze System ist. Wer die 
thatsächliche Einleitung zum System, die Schriften von ca. 1792 
bis 1807 kennt, wird hier sehen, wie alle Grundgedanken der 
Frühzeit wiederkehren; in sonderbarer Ordnung ist alles das er- 
starrt, was ihm von der merkwürdig bewegten 'Jugendperiode 
Hegels einst bekannt war. Im Verhältnis zu der „Phänomeno- 
logie“ und den vorhergehenden Schriften ist das spätere grosse 
System keine fortgesetzte Entwickelung, sondern nur Ausführung‘ 
in gewissen Punkten, oft nur ein dogmatisches Erstarren in 
leeren Formen, an einigen Partien ein opportunistisches Anpassen 
des „Ideals“ an die gegebenen Verhältnisse, immer aber nur von 
sekundärem Interesse im Vergleich mit der früheren Denkung und, 
wenn nicht zu dieser im Verhältnis betrachtet, historisch unbe- 
greiflich. 

Obwohl man Roeques für seine Arbeit Dank schuldig sein 
muss, muss man dennoch zugleich hervorheben, dass seine Aus- 
gabe gan: ng 
unzulissig ist, da 
aber nicht auf Ba I Rücksicht nimmt. Hätte er diesen mit 

B. gesehen haben, dass das Frag- 


k 





Aus Hegels Frühzeit. 416 


stindig ist, und dass die Fortsetzung desselben in Band VIII, 
176a—178a folgt. Tatsächlich wissenschaftlichen Wert wird je- 
doch erst eine grosse, gesammelte Ausgabe bieten, die von sorg- 
fältiger, wohlbegründeter Ordnung ist, und mit einer wirklich 
gründlichen Kenntnis der Manuskripte aus unternommen wird. 
Dilthey stellt uns eine solche von der Hand seines Mitarbeiters, 
Dr. Herman Nohl in Aussicht, welche sicher, wenn sie erscheint, 
für die Hegelforschung von grosser Bedeutung sein wird. 


Eher als ich gedacht hätte, ist mein Wunsch in Erfüllung 
gegangen. Als die obige Recension eingesandt war, erschien die 
grosse, gesammelte Ausgabe von Nohl.!) Beim Durchlesen und 
Vergleichen habe ich mich davon überzeugt, wie gründlich, genau 
und in allen Stücken völlig befriedigend die grosse Arbeit ist, 
welche Nohl mit dieser Ausgabe geleistet hat. Durch sie wird die 
Ausgabe Roques gänzlich überflüssig, der Chronologie Diltheys 
verleiht sie den Unterbau. Diese Ausgabe hat in die planlos 
zusammengehefteten Manuskripten der Berliner Bibliothek endlich 
Ordnung gebracht und für die, denen die Manuskripte nicht be- 
kannt waren, den Weg erleichtert, sich von der interessanten 
Entwickelung Hegels eine Anschauung zu bilden, für die, denen 
sie bekannt waren, sich ein vollständigeres und reicheres Bild 
davon zu schaffen. Das Zerstreute ist gesammelt worden, die 
Chronologie klar und überzeugend begründet, und die Herausgabe 
ist mit philologischer Genauigkeit besorgt. 

Die Geschichtsforschung kann Dr. Nohl für seine Ausgabe 
nur Dank und Anerkennung schenken, und ich will nur noch 
3 Einzelheiten hervorheben, von denen die 2 bisher nicht an den 
Tag gebracht und die dritte nicht bewiesen wurde. Ausser den 
schon bekannten Beeinflussungen, behauptet der Herausgeber, 
Hegels Studium der mystischen Theologie der Beguinen (in Mos- 
heims Kirchengeschichte) habe sicher einen starken Einfluss auf 
die Entwickelung seiner Philosophie ausgeübt, welche zwischen 
der Schrift „Die Positivität der christlichen Religion“ und der 
ungefähr 3 Jahre späteren Schrift „Der Geist des Christentums 
und sein Schicksal“ (p. 210—11) liegt, und ausserdem betont er 


1) Hegels theologische Jugendschriften nach den Handschriften der 
Kgl. Bibliothek in Berlin, herausgegeben von Dr. Hermann Nohl (Verlag 
von I. C. B. Mohr, Tübingen 1907). 
Tr 


416 A. Thomsen, Aus Hegels Frühzeit. 


— entschieden mit Recht — die Bedeutung, welche Mendelssohns 
Werk: „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“ für 
Hegel gehabt hat (p. 404). Den 3. Punkt bildet die Entscheidung 
des Herausgebers über die alte Streitfrage: ob Hegel oder Schel- 
ling oder beide gemeinsam Verfasser des: „Über das Verhältnis 
der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt“ im kritischen 
Journal seien. Ein vor kurzem gefundenes, September 1804 von 
Hegel an das Ministerium zu Weimar geschriebenes Curriculum 
vitae, beweist, dass Hegel nicht der Verfasser der Abhandlung 
ist, und dass also K. F. A. Schelling und Haym, welchen in 
etwas bedingter Form J. E. Erdmann, Kuno Fischer und ich 
uns anschliessen, Recht hatten (S. VII—X). 

Die Hauptsache ist, dass die Hegelschen Jugendfragmente 
in drei Hauptgruppen geordnet sind, wovon die zwei ersteren, 
die ersten Fragmente: „Volksreligion und Christentum“ und die 
etwas späteren „Leben Jesu“ und „Die Positivität der christlichen 
Religion“, einander dem Gedankengange nach sehr nahe stehen, 
während sie sich wiederum ganz entschieden von den letzten 
theologischen Jugendfragmenten Hegels: „Der Geist des Christen- 
tums und sein Schicksal“ trennen, die, zum ersten Mal in ein 
Ganzes gesammelt zu haben, das grosse Verdienst des Heraus- 
gebers ist. Durch Diltheys und Nohls Arbeiten sieht man zum 
ersten Mal die Entwickelung innerhalb der Jugendphilosophie 
Hegels in grossen Zügen, und durch das Studium dieser Schriften, 
die jetzt nicht mehr als zerstreute Fragmente dastehen, und der 
Schriften aus der Jenaer Zeit, wird man gewiss auch immer 
deutlicher sehen, wie entscheidend die historische Kenntnis dieser 
für das Verhältnis der Philosophie Hegels nach 1806 ist. 


Kant und Fries.‘ 
Von W. Reinecke. 





Gewiss zur Uberraschung manches Philosophen der Gegenwart 
ist der Geist des fast vergessenen Jakob Friedrich Fries wieder 
auferweckt worden, und wenn wir diese ,Neue Folge“ studieren, 
steht seine Gedankenwelt wieder so deutlich und in so genauer 
Wiedergabe vor unseren Augen, dass wir uns verwundert nach 
dem Zwecke dieser Ausgrabung erkundigen. — Also beginnen wir 
mit der Einleitung! 

Das zuversichtliche Vorwort der alten Folge steht voran. 
Dann folgt in demselben zuversichtlichen Tone eine Art Ergänzung 
wit Rücksicht auf die Gegenwart. Da wird der „öffentlichen 
Meinung“ jede Bedeutung für den geschichtlichen Wert eines 
philosophischen Systems aberkannt. Dem Zeitgeiste nach erhalte 
man etwa folgende Bilderreihe von der Philosophie des letzten 
Jahrhunderts: „Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer, 
Nietzsche.“ In der „Geschichte der Ausbildung des wissenschaft- 
lichen Geistes“ heisse die Reihe: „Kant, Fries, Apelt.“ „Diese 
allein können auf den Ruhm, Kants Schüler zu sein, Anspruch 
machen.“ Jene werde man künftig neben Patricius, Robert Fludd 
und J. Böhme stellen. „Kant, Fries und Apelt aber werden stehen 
bleiben neben Keppler, Galilei und Newton.” — Nachdem wir Nicht- 
Friesischen damit alle gleichsam einen Ordnungsruf erhalten haben, 
möchten wir natürlich noch mehr von den weisen Männern kennen 
lernen, die das alles so genau wissen, und wenden uns dem weiteren 
Inhalte zu. — 

Die Seele des neuen Unternehmens scheint Leonard Nelson 
zu sein. Er hat wenigstens in seinen Beiträgen das Ganze der 


1) I. Abhandlungen der Friesschen Schule. Neue Folge. 
Herausgegeben von Gerhard Hessenberg, Karl Kaiser und Leonard Nelson. 
1. Heft 1904 (S. I—XII, 1—190), 2. Heft 1906 (S. 191—322). Vaudenhock & 
Ruprecht, Göttingen. 


418 W. Reinecke, 


Friesischen Philosophie ins Auge gefasst. Mit ihm wollen wir 
uns daher näher beschäftigen, die anderen Aufsätze kürzer kenn- 
zeichnen. 

Abhandl. I. (1. Heft): „Die kritische Methode und das 
Verhältnis der Psychologie zur Philosophie“ von L. Nelson. 
Nach dem Inhalte könnte man diesem Aufsatz auch den Titel 
geben: Prolegomena zu einer jeden Metaphysik nach Friesischem 
Muster. Diese Schrift bedeutet nicht mehr und nicht weniger als 
eine neue Auflage der Friesischen Erkenntnislehre in überwiegend 
Friesischer Begründungsweise. 

In der Anwendung der Prinzipien im Leben sind wir einig, 
sagt N. Der Streit der Meinungen beginnt erst, wenn wir un- 
abhängig’ vom besonderen Falle ein Prinzip in abstracto aussprechen. 
Daraus erschliesst N. ein ,regressives Verfahren, den philo- 
sophischen Prinzipien nachzuspüren“, sie aufzuweisen, doch nicht 
zu beweisen, indem man nämlich aus dem Leben Urteile heraus- 
greift, „über die Einigkeit herrscht“, und diese zergliedert, bis 
man schliesslich zu den letzten, höchsten Voraussetzungen, den 
Grundsätzen, kommt. Bei den Anschauungsurteilen mache das 
Verfahren keine Schwierigkeiten, die Hauptaufgabe bleibe, die 
Grundsätze, die rein aus Begriffen entspringen, klar aufzuweisen 
und, um sie von den ebenfalls unbeweissbaren falschen Sätzen zu 
trennen, zu prüfen. Wie aber soll man aus den Folgen die letzten 
Gründe richtig auffinden, wenn die Folgen streitig sind? Wo 
liegen die Grenzen der durch das regressive Verfahren unter- 
nommenen Zergliederung? Diese Fragen berechtigen nach N, zur 

eines Hauptstückes der Friesischen Philosophie: der 
unmittelbaren Erkenntnisse nicht anschaulicher Art. Aus ihnen 
muss alles Beweisen hervorgehen, sie allein sind das Kriterium der 
Wahrheit und bedingen die synthetische Einheit des Bewusstseins. 
Jede Mitwirkung des Gegenstandes wird ausgeschlossen. „Wir 
können also nie Erkenntnis und Gegenstand, sondern nur Erkennt- 
nisse unter einander vergleichen* (19). Es könne nicht Aufgabe 
der Philosophie sein, „unserer Erkenntnis objektive Wahrheit zu 
verschaffen“. Es handle sich immer nur um die Frage: stimmt 
ein Satz mit der unmittelbaren Erkenntnis überein? Dennoch 
heisst es: „Jede Erkenntnis ist als soche schon Erkenntnis eines 
Gegenstandes“ (21). Aber das Verhältnis der Erkenntnis zum 
Gegenstande lässt sich nur unmittelbar erleben, nicht untersuchen. 
„Es gibt keine Theorie der Möglichkeit der Erkenntnis.“ — Das 


Kant und Fries. 419 


heisst fiirwahr, sich die Arbeit bequem machen. Man sollte sich 
doch erst einmal mit dem Begriff der Erkenntnis beschaftigen, ehe 
man solche Behauptungen ausspricht. Eine derartige Untersuchung 
ist leider nirgends zu finden. 

Die „unmittelbare Erkenntnis“ zieht ein anderes Hauptstück 
der Friesischen Philosophie nach sich: die Deduktion, d. i. die 
Aufweisuug der unmittelbaren Erkenntnis in unseren Urteilen. In 
diesen pflegt der Erkenntnisgrund nicht unmittelbar bewusst zu 
sein. Erst durch „innere Erfahrung“ lernen wir „den Besitzstand 
dieser unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft“ kennen. „Die 
Deduktion der metaphysischen Grundsätze ist also ein 
Geschäft der Psychologie“ (24). So hofft N., das quid juris 
des Bewusstseins durch das quid facti der Vernunft entscheiden 
zu können“ (26). 

Bei dieser Selbstuntersuchung der Vernunft stützt er sich auf 
den obersten Grundsatz der Kritik, den „Grundsatz des Selbst- 
vertrauens der Vernuft“. Kant hat die Grundlegung der Erfahrung 
nach Fries und Nelson zu eng gefasst, weil er die unmittelbare 
Erkenntnis der Vernunft nicht kannte. Auch der Zweifel ist nach 
N. nur auf Grund der Vernunft möglich. Ganz wie bei Descartes. 
Wer also der Vernunft nicht traut, „der wende sich an die Psychiater 
und lasse die Philosophen in Ruhe“. | 

Wer aber nun wegen der Verschiedenheit der Individuen die 
Allgemeinheit der metaphysischen Grundsätze leugnen wollte, der 

ist nach N. auf falscher Fährte. Die „objektive Giltigkeit seiner 
Erkenntnis“ besitzt ein jeder durch das Selbstvertrauen zur eigenen 
Vernunft. Empirisch lernen wir nie eine andere Vernunft kennen, 
höchstens einen anderen Verstand (Reflexion). Von der Vernunft 
kann ich daher nur einen einzigen Begriff bilden und daher auch 
nur einen einzigen „(psychologischen)“ Begriff Mensch. Nun hat 
es N. natürlich leicht, zu folgern, dass „unsere Methode der Deduktion 
aus der eigenen Vernunft“ nicht nur den Rechtsgrund der Grund- 
sätze, sondern auch das nachweise, „dass jeder Mensch gerade 
diese philosophischen Prinzipien voraussetze, voraussetzen müsse 
und allein voraussetzen könne“ (35). Eine spasshafte Methode! 
Damit „ist der Skeptizismus endgültig abgethan und der einzig 
mögliche Standpunkt der Evidenz in der Philosophie gewonnen“. 
„Sich aber gegen diese Methode zu sträuben, das ist nur der Sport 
derer, die fürchten müssen, dass doch noch einmal Philosophie als 
evidente Wissenschaft dem Spiel ihrer eigenen spekulativen Weisheit 


420 W. Reinecke, 


ein Ende machen könnte, ohne zu bedenken, dass, wer die Herrschaft 
der Vernunft ablehnt, sich dadurch nur mit dem Blödsinnigen auf 
eine Stufe stellt.“ Das soll vermutlich eine „psychologische De- 
duktion“ sein. Solche leuchtenden Beispiele für Bescheidenheit, 
Sachlichkeit und Höflichkeit könnte man noch mehrfach aus den 
Schriften Nelsons herausstellen. Es sind übrigens diese Tugenden 
die Haupthilfsmittel gegen die Neukantianer, welche N. in einem 
besonderen Anhange „behandelt“, und dienen besonders dazu, Cohen 
und Riehl gehörig — oder etwa ungehörig? — abzukanzeln. 

Weiter spricht N. über den Unterschied der Kritik der 
Metaphysik von ihrem Inhalte. So gewiss Kritik als empirische 
Deduktion nicht metaphysisch sein könne, ebenso gewiss könne 
Metaphysik nicht psychologisch sein. Kant habe „Inhalt und 
Gegenstand der Kritik“ verwechselt. Das führe auf den „hoffnungs- 
losen“ Weg Fichtes. Überhaupt bedauert N., dass Kant „allmählich 
wieder von dem Wege empirisch-psychologischer Kritik in einen 
logischen Formalismus“ hinübergeglitten sei. Die Möglichkeit der 
Metaphysik ist nach N. weder durch Sinn noch durch Verstand oder 
Reflexion, sondern allein durch die unmittelbare Erkenntnis der 
Vernunft gewährleistet. Der Beweis für die Möglichkeit metaphy- 
sischer Sätze liegt nach N. — in ihrer Wirklichkeit. Von der 
Anerkennung dieses Faktums hänge jede „psychologische Erklärung 
der Tatsachen des Erkennens“ sowie auch die „Einigung in meta- 
physischen Fragen“ (53) ab. Ein Beweis sei nicht möglich. Denn 
„eine Theorie der Möglichkeit der Erkenntnis liegt jenseits möglieher 
Wissenschaft“. Das konstitutive Prinzip der Metaphysik ist also 
die „unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft“, das richtige 
methodische Prinzip die Lehre von der Deduktion. Jenes habe 
Fries entdeckt und damit zuerst das Hume’sche Problem von der 
Möglichkeit der Metaphysik gelöst. 

Der schon erwähnte und durch seinen Ton charakteristische 
Anhang „über das Verhältnis des sogenannten Neukantianismus 
zu Fries“ bringt dieselben Gedanken wieder als Gründe gegen 
„Neukantianer“, wie K. Fischer, le Riehl, Cohen, 


von Fries auf eine strenge 
ophischer Erkenntnisweise* 





Kant und Fries. 421 


(243). Dagegen wirft er den Anhängern der ,,transscendentalen 
Methode“ vor: „Einer Definition dieses Terminus [Psychologismus| 
hat man sich dabei allerdings allemal iiberhoben“ (241). Nun, wir 
können ihm zu einer Definition verhelfen: N. braucht nur noch 
einmal die Sätze aus Riehls Kritizismus I, 294 durchzulesen, die 
er selbst in seiner I. Abhandlung S. 73 voll Entrüstung citiert und 
die da beginnen: „Ich verstehe unter psychologischem Vorurteil .. .“. 
N. sucht darzulegen, dass Fries „sogar den Psychologismus 
seiner Zeitgenossen auf das lebhafteste bekämpft“, doch vermutet 
er das Gespenst an der falschen Stelle Psychologisch ist nach 
Fries freilich nicht die Logik; er trennt sie sehr gut von seiner 
Theorie der inneren Erfahrung, wie aus den von N. angeführten 
Stellen hervorgeht. Aber in den Machtansprüchen dieser Theorie 
liegt das „psychologische Vorurteil“, z. B. in dem Satze: „Kant 
aber machte den grossen Fehler, dass er die transscendentale Er- 
kenntnis für eine Art der Erkenntnis a priori und zwar der 
philosophischen hält, und ihre empirische psychologische 
Natur verkannte“ (Fries, neue Kr. d. r. V. II. Aufl. I, 29). 
Aber weiter beweist uns N. sogar, „dass Fries ein Anhänger 
der transscendentalen Methode ist“ (270) und zwar durch „voll- 
ständige Induktion“, indem er nämlich Scheler, „Die transscendentale 
und die psychologische Methode“, zum Vergleich heranzieht und 
darlegt, dass auf Fries sämtliche fünf Merkmale, die Scheler für 
die transscendentale Methode aufstellt, zutreffen. Indessen wendet 
N. vergeblich viel Mühe für seine Behauptung auf. Gegen die 
hier erwiesene scheinbare Übereinstimmung erhebt sich immer 
wieder das eine grosse Bedenken, wozu denn Fries ein besonderes 
psychologisches Verfahren ersonnen habe, wenn er unter der 
transscendentalen oder kritischen Methode dasselbe wie Kant: ver- 
stand. Dass dies nicht der Fall ist, hat uns N. zur Genüge in 
seiner I. Abhandlung auseinandergesetzt. In Wirklichkeit beweist 
uns also N. hier unnötiger Weise die bekannte Tatsache, dass 
Fries für seine psychologische Deduktion dieselbe Bedeutung be- 
ansprucht wie Kant für seine kritische, mit anderen Worten, dass 
Fries ein Anhänger seiner eigenen „transscendentalen“ Methode ist. 
Der nächste und grösste Teil der Abhandlung beschäftigt 
sich mit Th. Elsenhans, von dem damals nur die Schrift „das 
Kant-Friesische Problem“ vorlag. Es seien nur einige charak- 
teristische Einwände N.s angeführt: „Den Gegenstand der Kritik 
[Kants] bilden die von aller Erfahrung unabhängigen Erkenntnisse; 


Eee" 
422 W. Reinecke, 


ob aber die Erkenntnisse, die den Inhalt der Kritik bilden, eben- 
falls von aller Erfahrung unabhängig sind oder nicht, das bleibt 
durch jenen Satz [Kants Definition der Kr. d. r. V.] völlig unent- 
schieden“ (277). „Muss also gleich empirische Psychologie gänzlich 
aus der Metaphysik verbannt sein, so muss sie doch darum noch 
keineswegs aus der Kritik der Vernunft verbannt sein“ (278). 
„Es kann also keinem Zweifel unterliegen, dass Kant die psycho- 
logische Natur der transscendentalen Erkenntnis verkannt hat“ (297). 

Die richtige Darstellung der transscendentalen Deduktion hat 
nach N. natürlich allein Fries gegeben. Das wird weiter an Kants 
Lehre von der Apperception dargelegt und dabei der objektive 
Begriff der Apperception gründlich zerstört. Wir müssen mit 
Fries „die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperception 
von der durch das Urteil bewirkten synthetischen Einheit unter- 
scheiden“ und jene nicht als Urteil, sondern als „unmittelbare 
Erkenntnis der reinen Vernunft“ ansehen (311). Die Reflexion 
soll dann die analytische Einheit liefern und die unmittelbare Er- 
kenntnis zum deutlicheren Verständnis bringen. Daher besitzt 
unsere Erkenntnis von vornherein auch objektive Giltigkeit. „Die 
psychologische Methode der Kritik ist also nicht allein „der Auf- 
gabe einer Auffindung der reinen Begriffe a priori, der quaestio 
facti gewachsen“, sondern sie „reicht“ in der Tat auch „für die 
quaestio juris aus“.“ — Doch wehe uns, wenn wir das Psycho- 
logismus nennen! 

Soweit die beiden Hauptabhandlungen L. Nelsons, Eine 
dritte Abhandlung von Nelson ist betitelt „Bemerkungen über 
die Nicht-Euklidische Geometrie und den Ursprung der 
mathematischen Gewissheit“ (VIII). Sie kann einem Aufsatz 
von G. Hessenberg „Das Unendliche in der Mathematik“ (I) 
an die Seite gestellt werden. Beide Abhandlungen sind gleich 
belehrend über den Stand der mathematischen Forschungen. Die 
Gerechtigkeit erfordert hervorzuheben, dass Nelson hier mit grosser 
Sachlichkeit und Klarheit gearbeitet hat, so dass man den tempe- 
ramentvollen Nelson der beiden anderen Schriften in ihm nicht 
wiedererkennt. Das Ergebnis der Schrift ist eine „glänzende Be- 
stätigung der Kantischen Entdeckung . . . des nicht-logischen 
Ursprungs der Axiome . . . und des synthetischen Charakters der 
geometrischen Wahrheiten“ durch die neuere Mathematik. So 
hatte sich z. B. auch Poincaré in „Wissenschaft und Hypothese“ 
geäussert. 


Kant und Fries. 423 


Nun sind wir noch einen Bericht über die anderen Aufsätze 


Abh. II. „Über Begriff und Aufgabe der Natur- 
philosophie. Von Ernst Friedrich Apelt“. Dies ist nach einer 
Vorbemerkung der erste Abschnitt von „Vorlesungen über Natur- 
philosophie“ aus dem Jahre 1842—1843 nach der Nachschrift von 
M. J. Schleiden. Die Bedeutung der Philosophie für die Natur- 
wissenschaft wird von Apelt in einer Weise gewürdigt, die man 
auch jetzt noch trefflich nennen kann. Vornehmlich die Natur- 
philosophie ist ihm Metaphysik der Natur, „welche die höchsten 
konstitutiven Prinzipien der Naturlehre selbst bestimmt“ (99). 
„Das Charakteristische im Begriff der Natur ist also die notwen- 
dige Gesetzlichkeit und die Abhängigkeit der Dinge an ihr“ (103). 
Im weiteren Verlauf seiner Untersuchung, dem „Gesetz von der 
Spaltung der Wahrheit“ macht A. die Fries’schen Anschauungen 

Abh. IV. „Kant und Fries. Die anthropologische 
Wendung der Kritik der Vernunft in ihren wesentlichen 
Punkten erörtert von Heinrich Eggeling“. Einige Sätze werden 
zeigen, dass E. ganz auf dem Standpunkt Nelsons steht: „Nach- 
dem Kant den faktischen Besitzstand der Vernunft an philoso- 
»phischer Erkenntnis entdeckt, bedurfte es noch dessen, in einer 
‘Theorie der Vernunft den Nachweis zu liefern, warum wir gerade 
diese und nur diese philosophische Erkenntnis besitzen“ (197). 
„Unter den unmittelbaren Nachfolgern Kants war Fries derjenige, 
welcher am bestimmtesten behauptete, die Aufgabe der Kritik der 
Vernunft sei eine psychisch-anthropologische . . .“ (194). Natür- 
lich findet E., dass Fries recht hat. Übrigens scheint E. darin 
also mit Riehl übereinzustimmen, dass Fries’ Kantauffassung eine 
psychologistische ist. Die apriorische Form der Erkenntnis, be- 
hauptet er gegen K. Fischer, kann nur in der inneren Erfahrung 
gefunden werden. Er verwechselt genau wie Fries und Nelson 
das Erkannte oder Erkennbare mit dem Erkennen. Dass er ferner 


unserem ganzen geistigen reinen Selbsttätigkeit der 
Vernunft entspringen; mit x das Bewusstsein ihrer 

) mittelbar verbunden“ (203). 
Ein grosser Fehler à it hier ganz besonders 
hervor, Die Benennun Kant 





424 W. Reinecke, 


Kritik übernommen und nach Belieben pcbranct. Besonders ist 
wieder die Art, wie mit dem Worte Erkemmzis gewirtschaftet 
wird, uuwissenschaftich Und nicht gem. das im der „un- 
mittelbaren Exkenutais* die Lehre von dem idese issatae wieder 
aufgewärmt wird, muss auch Kant dabei herhalten: „Nachdem 
Kant nachgewiesen, welche Prinzipien a priori faktisch die Ver- 
nunft besitzt (), blieb noch die Frage zu beamtworten, weshalb 
die Vernunft gerade diese und nur diese besitzt ().“ Vernunft 
ist hier anthropulogisch gedacht, bei Kant dagegen objektiv: gleich 
Erfahrung, Wissenschaft. 

Abb. VL ‚Über kritische Mathematik bei Platon. 
Ein Beitrag zur Ideenlehre“ von Carl Brinkmann. Hier 
wird die Platonische Ideenlehre im Anschluss an die Geschichte 
der Philosophie von J. F. Fries behandelt. 

Abh. VII. „Über den Gegenstand der Erkenntnis. 
Gegen Heinrich Rickert“ von Ernst Blumenthal. In der 
Lobpreisung Fries’ hat B. ganz entschieden die höchste Stufe 
menschlichen Könnens erreicht: Wenn wir die Fehler Rickerts 
verbessern, so haben wir in der Verbesserung die Friesische Lehre 
vor uns. Überhaupt alles, was alle Philosophen nach Fries und 
Apelt hervorgebracht haben — mit Ausnahme rein historischer 
Erzeugnisse —, ist überflüssig! Herr B. nimmt dabei hoffentlich 
an, dass Nelson und Mitarbeiter rein Historisches erzeugt haben. 
Wollen also wir Nicbt-Friesischen nicht lieber auch alle in diesen 
philosophischen Himmel eingehen, wo Fries und Apelt thronen 
und — um die Dreieinigkeit vollzumachen — auch Kant be- 
dingungsweise zugelassen ist? Vielleicht denken einige: Lieber 
soll uns der Teufel holen. Aber sie werden wohl noch durch das 
abschreckende Beispiel des Ketzers Rickert bekehrt werden! Der 
hat nämlich behauptet, dass sich eine Erkenntnis nach ihrem 
Gegenstande zu richten habe, um objektiv zu sein. Das hat Fries 
viel besser gewusst u. s. w. Wir kennen die Tonart schon. 

Das Problem der Erkenntnistheorie lautet nach Rickert: „Die 
Erkenntnistheorie hat die Geltung der Erkenntnis zum Problem 
und sucht nach dem Begriff des Erkennens, der die Objektivität 
verständlich macht“ (Gegenstand der Erkenntnis, S. 88). Der 
Vertreter der Friesischen Schule kritisiert: „Erkenntnis ist eine 
Tätigkeit, deren ich mir durch innere Erfahrung bewusst werde“ 
(353). Dass diese Tätigkeit der Psychologie gehören soll, will 
Rickert gar nicht bezweifeln, denn er meint die Erkenntnis, zu 


Kant und Fries. 425 


der man kommen kann. Liegt darin nicht Objektivität? Er 
würde darunter z. B. den Lehrsatz des Pythagoras verstehen, 
nicht aber die innere Tätigkeit, durch die ein Schuljunge den Satz 
mit oder ohne Erfolg zu begreifen sucht. Was hätte nun dieser 
Lehrsatz mit der Psychologie zu thun? Wenn wir Rickert so 
nehmen, dann ist kein Grund mehr zur Verwunderung darüber, 
dass nach ihm nur im Urteil Erkenntnis liegt, nicht in der blossen 
Vorstellung oder Empfindung. Wenn B. aber später von dem 
„Rickertschen Satz von der Identität von Urteil und Erkenntnis“ 
(358) spricht — so ist das eine Übertreibung schon darum, weil 
es auch falsche Urteile giebt. Oder sollte B. Rickert wirklich den 
Glauben zumuten, es gäbe keine falschen Urteile? B.s Aufsatz 
zeigt also wieder den alten Mangel einer Definition des Erkennt- 
nisbegriffes, obwohl jeder mathematische Satz einen Doppelsinn 
des Wortes „Erkenntnis“ nahe legen musste. Die Schuld liegt 
eben in dem psychologischen Vorurteil, mit dem die Friesische 
Schule an das Problem von der Möglichkeit der Erfahrung und 
Wissenschaft herantritt. 

Mit Rücksicht auf den angeführten Grundfehler des Friesi- 
schen Systems können wir von einer noch genaueren Besprechung 
der neuen Zeitschrift absehen. Immerhin dürfte sich ergeben 
haben, dass dieser wieder auferstandene Gegner des philoso- 
phischen Kritizismus nicht so gefährlich ist, wie er selbst glaubt. 
Die „Neukantianer“ werden sich vor einem Meinungsstreit mit ihm 
nicht zu fürchten brauchen, und wenn wir in dem Kampfe ein der 
Entwickelung der Wissenschaft förderliches Element sehen, so 
können wir von diesem Heraklitischen Standpunkt aus der „neuen 
Folge“ wenigstens einen mittelbaren Nutzen nicht ableugnen. 


Neue Darstellung und Deutung der Lehre Kants 
vom Glauben. 


Von E. Sänger. 


Kants Glaube, und zwar in seinem Verhältnis zum Wissen, 
ist schon von Ernst Laas im Jahre 1882 untersucht worden (Kants 
Stellung in der Geschichte des Konflikts zwischen Glauben und 
Wissen, Berlin 1882). Dieser eingehenden, aber das Eigentümliche 
des Kantischen Glaubens nicht genug würdigenden Untersuchung 
ist im Jahre 1903 die chronologische Darstellung des Kantischen 
Glaubensbegriffes von Ernst Sänger zur Seite getreten (Kants 
Lehre vom Glauben. Leipzig 1903). 

Seitdem sind über dieselbe Frage zwei Abhandlungen er- 
schienen. Die eine, Kants Auffassung des Verhältnisses 
von Glauben und Wissen und ihre Nachwirkung besonders 
in der neueren Theologie von Otto Richter (Programm des 
Kgl. Gymnasiums zu Lauban, Schuljahr 1904/5), will die chrono- 
logische Darstellung Sängers durch eine systematische Darstellung 
des Verhältnisses von Wissen und Glauben ergänzen. Die andere, 
Kants Glaube von Gottfried Fittbogen (Protest, Monatshefte, 
herausg. von J. Websky, 10. Jahrgang, Heft 3 und 4. Berlin 
1906), macht den Versuch einer neuen Deutung des Kantischen 
Glaubens. 

Nach einer methodologischen Vorbemerkung entwickelt Richter 
das Verhältnis von Glauben und Wissen zunächst nach seinem 
Zusammenhange innerhalb des philosophischen Systems Kants 
(S. 7—25). Er betont, was schon von Vaihinger (Geleitwort bei 
Sänger S, IV) hervorgehoben ist, dass das Problem von „Glauben 
und Wissen“ von Kant zum ersten Male als innerphilosophisches 
erfasst worden sei; früher fiel der Gegensatz Wissen-Glauben mit 
dem Gegensatz Vernunft-Religion, Wissenschaft-Kirche zusammen, 
während bei Kant der historische Glaube einer positiven Religion 
in das Problem als solches garnicht hineinfällt, Im Anschluss an 





Neue Darstellung und Deutung der Lehre Kants vom Glauben. 427 


die Kr, d. r. V. schafft Richter zunächst deh Unterbau für den 
Kantischen Glaubensbegriff, indem er den Begriff der Erfahrung, 
den Unterschied zwischen Erkennbarkeit und Denkbarkeit der 
Dinge und den Begriff des Dinges an sich klarstellt und schliesslich 
Kants Ideenlehre kurz entwickelt. Vom Übersinnlichen haben wir 
kein Wissen; die praktische Vernunft allein kann diesen Mangel 
der theoretischen ergänzen. So leitet schon die Kr. d. r. V. in 
ihrem letzten Teil, der Methodenlehre, zu der praktischen Er- 
kenntnisart über, um an Stelle des abgebrochenen ein neues Haus 
für die Metaphysik zu errichten. Hier wird gezeigt, wie sich 
theoretisches und praktisches Fürwahrhalten oder doktrinaler und 
moralischer Glaube unterscheiden. Der Glaube an das Dasein 
Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens 
ist ein moralischer oder praktischer, ein freies Fürwahrhalten in 
reiner praktischer Absicht, ein Vertrauen’ auf die Verheissung des 
moralischen Gesetzes. In der Rel. i. d. Gr. d. bl. V. heisst dieser 
Glaube Vernunftglaube oder reiner Religionsglaube im Gegensatz 
zu den Formen des statutarischen, historischen Glaubens, die alle 
bestimmt sind, allmählich in den reinen Religions- oder Vernunft- 
glauben übergeführt zu werden. 

Das Wissen kommt der theoretischen Vernunft, das Glauben 
der praktischen Vernunft zu; Wissen und Glauben sind also zwei 
getrennte Funktionen. Trotzdem sind es nicht zwei völlig hetero- 
gene, einander ausschliessende Vorgänge des geistigen Lebens, sind 
Sie doch beide demselben Oberbegriff Fürwahrhalten untergeordnet. 
‘Kant macht sogar Ansätze zu einer Theorie der religiösen Er- 
kenntnis, also der Vorstellungsseite des Glaubens. Die Erkenntnis 
nach Analogie giebt Verhältnisbestimmungen und Beziehungsbegriffe, 
wodurch die Ideen in wirkende Beziehung zu uns treten, z. B. Liebe 
Gottes zu den Menschen, Die symbolische Erkenntnis geht nur 
auf unsere Vorstellungsart von Objekten nach dem sprachlichen 
Ausdruck, nicht auf Eigenschaften der Objekte, z. B. Gott vorgestellt 
als Vater. Der analogisch-symbolische Erkenntnisprozess wird 
ermöglicht durch das Organ der dungskraft. Neben den kritisch 
negierenden Gedankenreihen laufen solche, die auch den Erkenntnis- 
wert und Erkenntnisgrad der Gegenstände des Glaubens betonen. 
Der moralische und transscendentale eis haben neben dem 

populären physikotheologisch: h Bedeutung fiir Kant wie 

die herkömmlichen Gottesbew Philosophen vor ihm; 

nur bleibt sich Kant bewusst, dass es nicht strenge Beweise sind, 
A 





428 E. Sünget, 


In diesem Zusammenhange erörtert Verf. die Frage nach dem 
‘Wesen der Metaphysik bei Kant. Eine kritische Metaphysik muss 
man Kant zugestehen (so schon Vaihinger). 

Nachdem Verf. so in klarer Weise das Unterscheidende und 
danach das Verbindende der beiden Funktionen Wissen und Glauben 
dargestellt hat, zieht er die praktischen Folgerungen des Kantischen 
Standpunktes in Beziehung auf Wissenschaft, Kirche und Staat 
(S. 25—35). Diese Folgerungen zieht Kant selbst in der Rel. i. d. 
Gr, d. bl. V., noch zusammenfassender im „Streit der Fakultäten“, 
Dieser letzten Schrift gilt daher der zweite Abschnitt der Richterschen 
Abhandlung. Einige Bemerkungen über die geschichtliche Ver- 
anlassung der Schrift schickt Verf. voraus und skizziert dann den 

. Wichtigen ersten Hauptteil derselben nach seinen Grundgedanken. 
Den Grundgedanken Kants hält er für richtig; in der geschichtlichen 
Entwicklung der Mächte ‘Glauben und Wissen findet ein Antagonis- 
mus wohl statt; dieser darf aber durch die Kirche, den Staat und 
die Wissenschaft nicht willkürlich verschärft werden, sondern muss 
auf die unvermeidlichen Grenzen eingeschränkt werden, innerhalb 
deren er dann Mittel zu höherer Wahrheitserkenntnis wird. 

Der dritte Abschnitt der Richterschen Abhandlung erweitert 
in dankenswerter Weise den Anhang, den Sänger unter dem Titel 
„Die Einwirkung der kritischen Philosophie auf die Theologie* 
seiner Schrift angefügt hat. Richter zeigt, welch’ starken und 
verschiedenen Einfluss Kant in der Folgezeit auf die Entwieklung 
der Religionsphilosophie und Theologie hatte, Nachdem er in 
ähnlicher Weise wie Sänger zunächst den Einfluss Kants auf 
Schleiermacher und Albrecht Ritschl kurz erwähnt hat, entwickelt 
er besonders Gedanken von Herrmann, R. A. Lipsius und Pfleiderer 
in ihrem Verhältnis zu Kant. Herrmann verschärft den Dualismus 
der theoretischen und praktischen Vernunft zu ausschliessender 
Trennung von theoretischem Seinsurteil und religiösem Werturteil, 
indem er sich unter völligem Verzicht auf die Metaphysik an den 
Moralisten und Skeptiker Kant hält. Lipsius hält diese Scheidung 
für unmöglich in Rücksicht auf die theoretischen Bestandteile jedes 
religiösen Werturteils. Er fordert Metaphysik zur Bildung eines 
logische und ethische Werte, sinnliche und übersinnliche Er- 
fahrung umfassenden einheitlichen Weltbildes und wird nach Kants 
Vorgang der typische Vertreter eines religiösen Symbolismus. 
Pfleiderer assimiliert sich die rationalistisch-monistischen Elemente 
Kants, wie er auch den analogisch-symbolischen Charakter der 





Neue Darstellung und Deutung der Lehre Kants vom Glauben. 429 


religidsen Aussage betont, kommt aber im iibrigen von Hegelschen 
Voraussetzungen zu dem Real-Idealismus, durch den nach seiner 
Meinung Kant fortleben wird. Im Anschluss hieran setzt sich Verf. 
noch auseinander mit den Ansichten von Reischle (Werturteile und 
Glaubensurteile, Halle 1900), F. R. Lipsius (Die Vorfragen der 
systematischen Theologie, Freiburg 1899), Wobbermin (Theologie 
und Metaphysik, Berlin 1901), Liidemann (Erkenntnistheorie und 
Theologie in den Protest. Monatsh. 1897 I und 1898 II), Tröltsch 
(Zeitschr. f. Theol. u. Kirche 1895 u. 1896), Höffding (Religions- 
philosophie, 1901), E. Adickes (Wissen u. Glauben, Deutsche Rund- 
schau 1898), Th. Ziegler (Glauben u. Wissen, Rektoratsrede, Strassh. 
1900), L. Busse (Die Bedeutung der Metaphysik für Philosophie 
u. Theologie, Zeitschr. f. Philos. und philos. Kritik 1898), Volkelt 
(Vorträge zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart 1891) 
und schliesslich Wundt (System der Philosophie, Einleitung in die 
Philosophie, Ethik). Die Ansichten der Genannten im einzelnen 
anzuführen, würde zu weit führen. Ich verweise hier auf Richter 
selbst. Seine ganze Abhandlung ist mit grosser Klarheit und 
Sorgfalt abgefasst. Wer in die genetische Entwicklung des 
Kantischen Glaubensbegriffes einen Einblick gewinnen will, wird 
die oben genannte Schrift des Berichterstatters zur Hand nehmen 
müssen, wer aber die Kantische Glaubenslehre als systematisches 
Ganze kennen lernen will, wird an Richters Abhandlung eine 
vorzügliche Orientierung finden. 


Giebt uns Richter eine neue Darstellung des Kantischen 
Glaubens, so versucht Gottfried Fittbogen eine neue Deutung 
desselben. Bisher nahm man im allgemeinen an, dass die Rel. i. 
d. Gr. d. bl. V. nicht aus sich selbst verständlich und ein Kon- 
glomerat aus vier Aufsätzen, keine organische Einheit sei; ferner, 
dass sie Kompromisscharakter trage und nicht Kants eigentliche 
Meinung enthalte, oder dass sie nur einen geringen Teil von 
Kants Religionsphilosophie biete. Demgegenüber stellt Fittbogen 
folgende Thesen zur Diskussion: 


1. Die Rel. i. d. Gr. d. bl. V. ist aus sich selbst verständ- 
lich. Für die Richtigkeit dieser Worte scheinen auch mir Kants 
eigene Worte massgebend zu sein, obwohl sich diese erst in der 
Vorrede zur zweiten Ausgabe der Rel. i. d. Gr. d. bl. V. finden: 
„Es bedarf, um diese Schrift ihrem wesentlichen Inhalte nach zu 
verstehen, nur der gemeinen Moral, ohne sich auf die Kritik der 

Kantstudien XII. 28 


430 E. Sänger, 


praktischen Vernunft, noch weniger aber der theoretischen ein- 
zulassen.“ 

2. Die Schrift ist eine organische Einheit. Kant spricht 
selbst am Schluss der ersten Vorrede davon, dass die 4 Stücke 
der Schrift innerlich zusammenhängen, insofern die drei letzten 
Stücke „die völlige Ausführung des ersten enthalten“. 

3. Der Abschnitt II, 1, 6 „der Kirchenglaube hat zu 
seinem höchsten Ausleger den reinen Religionsglauben“ enthält 
den Schlüssel zum Verständnis der Schrift. Kant will das dog- 
matische Christentum nicht schützen, sondern ersetzen. Kants 
Streben geht also nicht darauf, eine Koalition von Vernunftreligion 
und Christentum herbeizuführen; lediglich als Hilfsmittel zur In- 
troduktion des reinen Vernunftglaubens verwendet er die christ- 
lichen Dogmen. Ich habe bei erneutem Durchlesen dieses Ab- 
schnittes der Rel. i. d. Gr. d. bl. V. nichts gefunden, was gegen 
des Verf. Meinung spricht. Nur ist mir nicht klar, weshalb Verf. 
nicht auch die folgenden Abschnitte zum Beweise herangezogen 
hat. So besonders den Abschnitt von dem allmählichen Übergang 
des reinen Religions- oder Vernunftglaubens als der Annäherung 
des Reiches Gottes. Hier sagt Kant deutlich, dass der historische 
Kirchenglaube nur partikuläre Gültigkeit hat und mit dem Merk- 
mal der Zufälligkeit verknüpft ist, während der reine Religions- 
glaube notwendig und allgemein und der einzige ist, der die wahre 
Kirche auszeichnet. Kant vergleicht in demselben Zusammenhange 
den Kirchenglauben mit der streitenden, den Vernunftglauben mit 
der triumphierenden Kirche. Gedanken gleichen Inhalts kehren 
auch sonst noch wieder. 

4. Kants briefliche Äusserungen bestätigen obige Behaup- 
tungen. Verf. zieht hier zur Bestätigung der dritten These die 
offizielle Antwort an den König (in der Vorrede zum „Streit der 
Fakultäten“) und den Brief an Stäudlin vom 4. Mai 1793 heran. 

5. Die Schrift enthält Kants Religionslehre vollständig; 
sie lässt sich auf zwei Fundamentalsätze zurückführen: sie ist 
ein Glaube an den Sieg des Guten im Einzelnen, und sie ist ein 
Glaube an den Sieg des Guten in der Gesamtheit und zwar beides 
hier auf Erden. Man muss dem Verf. zugestehen, dass seine 
Ausführungen in diesem Punkte von Scharfsinn und Geschick 
zeugen. . 

Die Richtigkeit der fünften These hängt von der Beantwortung 
der sechsten und letzten These ab. Diese lautet: 





Neue Darstellung und Deutung der Lehre Kants vom Glauben. 431 


6. Gott und Unsterblichkeit fasst Kant nicht als transscendente, 
sondern als immanente Grössen auf. Verf. meint, es seien keine 
Hauptstücke in Kants Religionslehre; es seien weiter nichts wie 
praktische Vernunftideen, die dem Menschen moralische Aufgaben 
stellen. Deshalb spielten sie keine Rolle in Kants Religionslehre. 
Stimmt das, so stimmt auch die fünfte These, andernfalls enthält die 
Rel. i. d. Gr. d. bl. V. Kants Religionslehre unvollständig. Ist der 
Gott, an den Kant glaubt, keine reale Grösse, sondern bloss der „Gott, 
der dir im Busen gebeut“? Ist die Unsterblichkeit für Kant bloss 
eine unentbehrliche Vernunftidee, oder erwächst ihm daraus der 
Glaube an ein zukünftiges Leben? Kant hat es in dieser Be- 
ziehung an Unklarheit nicht fehlen lassen. Vielfach scheinen Gott 
und ein zukünftiges Leben transscendente Grössen für ihn zu sein, 
nicht blosse praktische Vernunftideen. Den Pflichten der Moral, 
sagt Kant in seinen Vorlesungen über die philosophische Religions- 
lehre (Pölitz S. 142), würden alle Triebfedern fehlen, „wofern kein 
Gott und keine zukünftige Welt wäre“. Diesem Gott legt Kant 
die Eigenschaften der Allwissenheit, Allmacht u. s. w. bei (ebenda 
S. 34 und an vielen Stellen anderer Schriften). Danach scheint er 
an eine transscendente Grösse zu denken. Hätten wir, sagt 
er ebenda S. 161, ein wirkliches Erfahrungswissen von Gott, so 
würden an die Stelle der moralischen Beweggründe zum Handeln 
Hoffnung auf Belohnung und Furcht vor Strafe treten; der Mensch 
würde aus sinnlichen Antrieben tugendhaft sein. Zweifellos hat 
Kant auch hier einen transscendenten Gott im Auge. Wie wenig 
bestimmt Kant aber ist, geht daraus hervor, dass er den Ausdruck 
„zukünftiges Leben“ bald darauf durch den Ausdruck „moralische 
Welt“ ersetzt. Als die „drei Artikel des moralischen Glaubens“ 
bezeichnet er nämlich „Gott, Freiheit des menschlichen Willens 
und eine moralische Welt“, sodass es näher liegt, hier eine imma- 
nente Grösse anzunehmen, besonders wenn man den dritten „Artikel 
des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft“ in der Schrift: 
„Welches sind die wirklichen Fortschritte... .?“ danebenhält: 
„Ich glaube an ein künftiges ewiges Leben als der Bedingung 
einer immerwährenden Annäherung der Welt zum höchsten in ihr 
möglichen Gut.“ — Es ist durchaus verdienstlich vom Verf., alle 
diese Fragen aufgeworfen zu haben, und zu wünschen, dass sie 
eine lebhafte Diskussion wachrufen. 


Eine neue Ausgabe der Werke Nietzsches.? 
Angezeigt von Bruno Bauch. 


Die unermüdliche Tätigkeit, mit der sich die Liebe und Pietät der 
Schwester Nietzsches in den Dienst des Werkes ihres Bruders stellt, hat 
uns bereits eine grosse Gesamtausgabe in zwei verschiedenen Formen 
bescheert. Zu dieser gesellt sich jetzt würdig eine neue als „Taschen- 
ausgabe“ bezeichnete Ausgabe. 

Keine der beiden Ausgaben macht die andere entbehrlich und über- 
flüssig, vielmehr ergänzen sich beide aufs beste. Hatte die erste den 
Stoff in die von Nietzsche selbst veröffentlichten Werke und in den Nach- 
lass eingeteilt und unter diesem Einteilungsprinzip die Anordnung bewerk- 
stelligt, so ist in der neuen Taschenausgabe bei der Anordnung der Schriften 
der Schwerpunkt auf die chronologische Abfolge gelegt. Hat die erste 
Gesamtausgabe somit den Vorzug und den Zweck, „dass“, wie Frau Elisabeth 
Förster-Nietzsche in dem über die Absicht der neuen Taschenausgabe wohl 
unterrichtenden und diese durchaus begründenden Vorwort sagt, „sich die 
von dem Autor selbst in den Druck gegebenen Werke von dem Unvollendeten 
und Halbvollendeten der Nachlassschriften scharf abheben sollen“, so bietet 
die neue Ausgabe mit ihrer chronologischen Reihenfolge den ungemein 
bedeutsamen Vorteil: „die Gesamtentwickelung des Autors von seinem 
‚Amtsantritt an der Universität Basel, Ostern 1869, bis zu seiner Erkrankung 
in Turin, Januar 1889, uns ohne allzugrosse Mühe deutlich vor Augen zu 
führen, indem sie alle von dem Autor selbst veröffentlichten Werke und 
die unveröffentlichten Schriften des Nachlasses Schritt für Schritt nach- 
einander und nebeneinander bringt.“ Freilich musste, wie die Heraus- 
geberin bekennt, „von dem Formlosen und Skizzenhaften“ manches weg- 
gelassen werden. Allein das beeinträchtigt den Wert dieser neuen Ausgabe 
deswegen nicht, weil sie aus dem Nachlass „nur das weglässt, was für das 
Verständnis der Philosophie des Autors und seiner Entwickelung nicht 
unbedingt notwendig erscheint“, Im übrigen ist dem Nachlass in der 
neuen Ausgabe, die im ganzen sich fast auf 350 Bogen beläuft, indem sie 
zehn Bände von je mehr als 30 Bogen umfasst, so sehr der gebiihrende 
Platz eingeräumt worden, dass in der Tat nichts Wesentliches zurück- 
gehalten zu sein scheint. Dass der Nachlass jeweils als solcher gekenn- 
zeichnet ist, und dass dadurch auch für den über Nietzsches Gedanken- 


+) Nietzsches Werke, Taschen-Ausgabe. Leipzig, C. G. Naumanns 
Verlag. 1906. 10 Bünde von je 30 bis 34 Bogen. 





Eine neue Ausgabe der Werke Nietzsches. 433 


entwickelung noch nicht Informierten jede Möglichkeit der Verwirrung 
ausgeschlossen ist, versteht sich bei der pietätvollen Behandlung, die Frau 
Förster-Nietzsche den Werken ihres Bruders angedeihen lässt, von selbst. 

Was nun den Inhalt der zehn Bände anlangt, so giebt der erste die 

Abhandlung über „Homer und die klassische Philologie“, die 

„Geburt der Tragödie“ und eine Reihe von Nachlassschriften, die sich 
zum Teil auf das Grichentum, auf Musik, die Schopenhauersche Philosophie 
beziehen, oder, wie der Aufsatz „Über die Zukunft unserer Bildungs- 
anstalten* pädagogischen, oder, wie die Abhandlung „über Wahrheit 
und Lüge im aussermoralischen Sinn“ kulturpsychologischen 
Inhaltes sind. 

Der zweite Band enthält zuerst die drei „unzeitgemässen Be- 
trachtungen“ über Strauss die „Historie“, Schopenhauer. An sie 
schliesst sich die grössere Nachlassschrift „Wir Philologen“ an, auf die 
die vierte unzeitgemässe Betrachtung über „Richard Wagner in 
Bayreuth“ folgt. 

Der dritte Band enthält die erste Abteilung von „Menschliches, 
Allzumenschliches‘“, und aus dem Nachlass „Einzelne Bemerkungen 
über Kultur, Staat und Erziehung“. Der zweite Teil von „Mensch- 
liches, Allzumenschliches“ folgt im vierten Bande, der ausserdem aus 
dem Nachlass drei für die Entwickelung des Verhältnisses zu Wagner sehr 
instruktive Abhandlungen bringt. 

Im fünften Bande folgt die „Morgenröte“ und aus dem Nachlass 
die kulturphilosophische Abhandlung „Blicke in die Gegenwart und 
Zukunft der Völker“. 

Der sechste Band bringt zunächst aus dem Nachlass „Die ewige 
Wiederkunft“. Auf sie folgt „Die fröhliche Wissenschaft“ mit 
ihrem „Anhang: Lieder des Prinzen Vogelfrei“ und den dazu 
gehörigen „Registern“. Daran schliessen sich wieder aus dem Nachlass 
die in „Lieder“ und „Sinnsprüche“ eingeteilten „Dichtungen“ an, 
denen abermals ein genaues Register beigegeben ist. 

Im siebenden Band erhalten wir die grosse Zarathustra-Dichtung 
mit den aus den Nachlass herausgegebenen „Aufzeichnungen zur 
Erklärung von Also sprach Zarathustra“. 

Der achte Band enthält „Jenseits von Gut und Böse“ und „Zur 
Genealogie der Moral“, sowie Aufzeichnungen aus dem Nachlass „Zu 
Völker und Vaterländer“. Der neunte und der zehnte Band endlich 
bringen das Werk, in dessen Problemkreis auch „Jenseits von Gut und 
Böse“ sowie die „Genealogie der Moral“ stehen, den „Willen zur 
Macht“. Den Schluss bilden die „Götzendämmerung“, der „Anti- 
christ“ und die „Dionysos-Dithyramben“. 

Ein ganz ausführliches und ins Einzelne gehendes Verzeichnis des 
hier nur allgemein angegebenen Inhaltes bietet ebenfalls noch der letzte 
(zehnte) Band. 

Wir haben damit einen allgemeinen Überblick über die Anordnung 
des Inhaltes der Neuausgabe, soweit jene sich auf Nietzsche selbst bezieht. 
Der Wert der Ausgabe ist aber noch nicht in der sehr zweckvollen 
chronologischen Anordnung allein erschöpft, er wird auch nicht bloss 


eben nur die Schwester Nietzsches zu geben im Stande ist. Die Nach- 
mentar zu den Arbeiten selbst, sodass sie zu den Einleitungen ihrerseits 
eine wertvolle Ergänzung bilden. Fügen wir endlich noch hinzu — was 
freilich bei der seitens des Verlages den Werken Nietzsches gegenüber 


ist, so darf man die neue Ausgabe als ein Unternehmen begrüssen, das 
des Dankes nicht bloss einer eigentlichen Nietzsche-Gemeinde, zu der ich 
selber ja selber nicht zähle, sondern des Dankes aller für den Denker und 
Künstler Nietzsche überhaupt Interessierten, wie immer sie auch zu seiner 
Und doch dürfen hier einige sachlich begründete Wünsche nicht 
unterdrückt werden, die für eine wohl mit Sicherheit zu erwartende neue 
Auflage der Taschenausgabe zu berücksichtigen wären. Erstens dürfte es 
sich empfehlen, um das Zitieren zu erleichtern, unter dem Text Band und 
Paginierung der grossen Gesamtausgabe anzugeben. Zweitens dürfte doch 
auch manches der schönen Jugendgedichte Nietzsches eine allen will- 
kommene Beigabe sein. Das soll Frau Förster Nietzsches Bemerken nicht 
beanstanden, dass aus dem Nachlass nur das, „was für das Verständnis der 
Philosophie des Autors und seiner Entwickelung nicht unbedingt notwendig 
erscheint“, in der Taschenausgabe weggelassen ist. Gewiss ist manches 
der schönen Jugendgedichte, die ich in dieser vermisste, für dieses Ver- 
ständnis nicht unbedingt notwendig. Allein um seiner künstlerischen 
Bedeutung und Schönheit willen würden es doch die Leser der Taschen- 
ausgabe dankbar begrüsst haben. Endlich komme ich auf ein Drittes, 
das sich nun in der Tat auf die Weglassung zweier Werke bezieht, deren 
Kenntnis mir als unbedingt: notwendig für das Verständnis der Gesamt- 
entwickelung Nietzsches erscheint: Man wird nicht ohne Befremden in 
der allgemeinen Inhaltsangabe dieser Zeilen die Erwähnung zweier Schriften 
11 Wagner“ und „Nietzsche contra Wagner“, 

ich peinlich berührt war, sie in der neuen Ausgabe 

eigenes Befremden wich nicht, auch als ich die den 


illens zur Macht‘ nahm bedeutend mehr 
| Wagner‘ und ‚Nietzsche contra 

Bd. X aufgenommen; die beiden 

einer Einzelausgabe erscheinen.“ 





Eine neue Ausgabe der Werke Nietzsches. 435 


In einer Neuauflage sollte von vornherein fiir sie gentigend Raum ge- 
schaffen werden. Frau Forster Nietzsche weiss ja selbst genau, wie be- 
deutsam beide Schriften gerade für das Verständnis der Geistesentwickelung 
Nietzsches sind; und sie empfindet, wie mir die erwähnte Notiz zu zeigen 
scheint, selbst gar wohl das Desiderat, das die Nicht-Aufnahme dieser 
Schriften gerade in die historische geordnete Ausgabe offen lässt. Darum 
stellt sie uns ja auch deren voraussichtliche spätere Einzelausgabe in 
Aussicht. Mit Beziehung auf diese Aussicht, sowie im Interesse der Leser 
und Besitzer der neuen Taschenausgabe, sowie nicht am wenigsten im 
Interesse dieser Ausgabe selbst möchte ich an Frau Förster-Nietzsche die 
Bitte richten, die Ausgabe nicht nur als „voraussichtlich“, sondern als sicher 
ins Auge zu fassen, die „spätere“ Ausgabe nicht für zu ferne Zeit, 
auch nicht erst für die zweite Auflage der Taschenausgabe an- 
zusetzen und endlich die „Einzelausgabe‘ als eine Art von Ergänzungs- 
ausgabe zur Taschenausgabe, und zwar noch zu deren vorliegender erster 
Auflage, zu planen. Wäre diese doch sonst in einen Nachteil gesetzt. 
Ich glaube also: es dürfte sich empfehlen, beide noch ausstehenden Wagner- 
Schriften in nächster Zeit bereits als eine Art von Ergänzungsausgabe zur 
Taschenausgabe, auch mit Rücksicht auf deren Format und Ausstattung 
herauszugeben. Damit wäre der vorliegenden Taschenausgabe selbst ein 
Dienst erwiesen, dessen sie durchaus würdig ist. 


Der 7. Band der Beriiner Kant-Ausgabe. 


Von E. v. Aster. 





Der vorliegende 7. Band der Werke Kants in der Ausgabe der Berliner 
Akademie der Wissenschaften enthält die beiden grösseren Schriften des 
Jahres 1798: den „Streit der Fakultäten“ (einschliesslich der Abhandlung 
„Von der Macht des Gemüts u. s. w.“), herausgegeben von Karl Vorländer 
und die „Anthropologie“, herausgegeben von Oswald Külpe. Der Band 
umfasst 333 Seiten Text und 78 Seiten Anmerkungen; letztere enthalten 
wie üblich die historische Einleitung des Herausgebers, die über die äussere 
Entstehungsgeschichte der Schrift orientiert, die „sachlichen Erläuterungen“, 
das Lesartenverzeichnis und den Bericht des germanistischen Mitarbeiters 
fiber „Orthographie, Interpunktion und Sprache“. Eine Inhaltsübersicht des 
Bandes mit Kapitelangabe der beiden Schriften geht dem Ganzen voraus. 

„Der Streit der Fakultäten“ enthält bekanntlich drei Abschnitte, 
die genau betrachtet drei verschiedene Abhandlungen darstellen und von 
denen Kant selbst am Schluss der Vorrede sagt, dass sie in verschiedener 
Absicht und zu verschiedenen Zeiten von ihm abgefasst seien. Der Grund- 
gedanke der ersten Abhandlung, die den Streit der philosophischen mit 
der theologischen Fakultät behandelt, wird zuerst kurz entwickelt in der 
Vorrede zur „Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft“ (1798), 
dann werden einzelne Punkte des Inhalts wieder gestreift in einem Brief 
an Kiesewetter vom 18. Dezember 93 und zwar in einer Form, die darauf 
schliessen lässt, dass Kant die Abhandlung selbst erst nach der Absendung 
dieses Briefes in Angriff genommen hat. Da am 12. Oktober 1794 das 
bekannte Woellnersche Reskript in Kants Hände gelangte, infolge dessen 
er sich zur Einstellung seiner religionsphiloeophischen Schriftstellerei ver- 
pflichtete, so ist nach Vorländer anzunehmen, dass die Schrift (von der 
Kant in einem Brief am 4. Dezember 94 schreibt, dass sie schon seit einiger 
Zeit fertig vorliege) zwischen dem 13. Dezember 1793 und dem 12. Oktober 
1794 abgefasst wurde. 

Von dem zweiten Abschnitt („Ob das menschliche Geschlecht in be- 
ständigem Fortschreiten zum Besseren sei“) wissen wir nur, dass er im 
Oktober 1797 seit längerer Zeit fertig oder beinahe fertig im Schreibtisch 
Kants lag. Die dritte Abhandlung („Von der Macht des Gemüts durch 
den blossen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein“) wurde 
als Antwort auf Hufelands Makrobiotik, die Kant im März 97 erhalten 
hatte, abgefasst und im Januar 98 an Hufeland abgeschickt. — Von der 
Absicht, die zwei ersten Schriften in einem Bande zusammengefasst her- 
auszugeben, spricht Kant zuerst in einem Brief vom 6. April 98 an Tieftrunk, 
bald darauf muss er, wie aus einer Korrespondenz mit dem Verleger 


Der 7. Band der Berliner Kant-Ausgabe. 437 


Nicolovius hervorgeht, den Entschluss gefasst haben, auch die Abhandlung 
„Von der Macht des Gemiits“ mit den beiden andern vereinigt zu veröffent- 
lichen. Im Spätherbst 98 ist der Streit der Fakultäten vermutlich erschienen. 

Wie bekannt, erschien die Schrift „Von der Macht des Gemiits“ 
ungefähr gleichzeitig auch als Aufsatz in Hufelands „Journal der praktischen 
Arzneikunde“ und Hufeland begleitete seine Veröffentlichung mit ver- 
schiedenen sachlichen Anmerkungen. Diese Anmerkungen bringt Vorländer 
in seinen „sachlichen Erläuterungen“. Unter ihnen findet sich auch eine 
Bemerkung, die Frage nach dem Leben verkürzenden oder verlängernden 
Einfluss der Ehe betreffend, die nach Tieftrunks Vorgang bisher regel- 
mässig Hufeland zugeschrieben werde, die aber, wie Vorländer zeigt, ihrem 
Sinn nach nur von Kant herrühren kann. 

Für die Textkritik sind ausser der Originalausgabe und den bekannten 
Ausgaben der Gesamtwerke noch diejenigen von Vorländer und Kehrbach, 
ausserdem der ein kleines Stück der ganzen Schrift wiedergebende Teil 
einer Handschrift benutzt worden. Dieses, der Universitätsbibliothek in 
Königsberg gehörige Manuskript ist, wie schon Reicke, durch den es be- 
kannt wurde, feststellte, nicht ein Stück der endgiltigen, in den Druck 
gegebenen schriftlichen Fixierung, rührt auch nicht vom Verfasser selbst 
her, sondern ist ein vermutlich von Kant der zahlreichen Fehler wegen 
verworfenes Opus eines Schreibers. Immerhin ist es nicht ganz wertlos, 
weil die einzelnen Fehler, wie Vorländer an Beispielen zeigt, wahrscheinlich 
nicht durch sinnloses oder flüchtiges Abschreiben, sondern durch falsches 
Hören entstanden sind, das ganze Manuskript also einem mündlichen Diktat 
seinen Ursprung verdanken dürfte und somit doch in engerer Beziehung 
zu dem eigentlichen Kantischen Text steht. In der Tat hat Vorländer an 
zwei Stellen den Wortlaut der Handschrift zu Korrekturen des Textes 
benutzt. Die Stelle Seite 49 Zeile 15 (1. Abschnitt, II, Allgemeine An- 
merkung) lautet in den bisherigen Ausgaben: „In Glaubenssachen ist das 
Prinzip der Einteilung nach der angenommenen Denkungsart entweder 
Religion oder Superstition oder Heidentum (die einander wie A und non 
A entgegengesetzt sind)“. Es blieb hier unklar, ob die drei Begriffe 
Religion, Superstition, Heidentum koordiniert nebeneinander stehen oder 
wie ihr Verhältnis sonst aufgefasst werden sollte, was besonders mit Rück- 
sicht auf den Wortlaut des folgenden Textes hin dem Leser eine Schwierigkeit 
bedeutete. Wie das Manuskript zeigt, sind die Worte „oder Superstition“ 
ein späterer Zusatz, der daher von Vorländer um der Klarheit der folgenden 
Konstruktion willen gestrichen worden ist. — An der andern Stelle handelt 
es sich um die Verbesserung eines Schreib- oder Druckfehler (die Stelle: 
„In der einen Seite kommt es... darauf an, von der Herrschaft des Bösen 
los zu kommen . . .“ war im Originaltext durch ein „um“, das hinter dem 
Komma eingeschoben war, entstellt worden). 

Auf Seite 45 Zeile 30 ff. (1. Abschnitt, II, 3) lautete der Kantische 


Text: ,,... dass, wenn der biblische Theolog die Hülle der Religion für 
die Religion selbst nimmt, er das alte Testament für eine fortgehende 
Allegorie .. . erklären muss, wenn er nicht annehmen will, das wäre da- 


mals schon wahre Religion gewesen, wodurch dann das neue (die doch 
nicht noch wahrer als wahr sein kann) entbehrlich gemacht würde“. 


438 E. v. Aster, 
Hartenstein hatte das „die“ der Klammer in „das“ verwandelt — auf das 


bezüglich. 
Das mag mehr für sich haben, doch hätte die Hartensteinsche Lesart im 
Verzeichnis angeführt werden können. — In der Behandlung der Frage, 
ob nur eine Mahlzeit oder deren zwei täglich der Gesundheit zuträglicher 
sei, lautet der Text jetzt sinnentsprechend: „Das letztere halte ich in 
den besten Lebensjahren für zuträglicher, das erstere im späteren Alter“, 
anstatt wie bisher durch ein Versehen der Originalausgabe umgekehrt, 
An zwei Stellen bezeichnet Vorländer den Kantischen Text als 
unverständlich und giebt der Vermutung Ausdruck, dass es sich um ent- 
stellte Satzkonstruktionen handelt, mit Rücksicht auf die Grundsätze der 
Ausgabe jedoch, ohne im Text selbst eine Veränderung vorzunehmen, da 
eine solche zu weitgehend und zu unsicher gewesen wäre, An der ersten 
Stelle handelt es sich um den Satz (1. Abschnitt, II, 1, Schlusssatz), in dem 


der Schriftauslegerei, wodurch nicht verstanden werden will, dass die 
Auslegung philosophisch (zur Erweiterung der Philosophie abzielt), sondern 
dass bloss die Grundsätze der Auslegung so beschaffen sein müssen: 
weil alle Grundsätze, sie mögen nun eine historisch- oder grammatisch- 
kritische Auslegung betreffen, jederzeit, hier aber besonders, weil was 
aus Schriftstellen für die Religion (die bloss ein Gegenstand der Ver- 
nunft sein kann) auszumitteln sei, auch von der Vernunft diktiert werden 
missen.“ Ich kann mich nicht recht davon überzeugen, dass der Text 
hier verdorben sein muss, ich glaube eher, dass nur eine etwas sprach- 
widrige Kürze des Ausdrucks vorliegt. Es wird ausgeführt: Die Grund- 
sätze der Auslegung müssen philosophisch sein, d. h. sie müssen „von 
der Vernunft diktiert werden“ — denn erstens gilt dies allgemein von 
allen Grundsätzen als solchen, zweitens handelt es sich hier um Grund- 
sätze, die die Frage betreffen, was aus Schriftstellen für die Religion 
auszumitteln sei und die Religion kann an sich (wie vorher gezeigt) nur 
ein Gegenstand der Vernunft sein. Die präzise Gegenüberstellung im Sinn 
dieser Stelle wird nicht ganz erhalten, wenn man, wie Vorländer es für 
richtig hält, dem Schluss des Satzes die Fassung giebt: „. .. weil, was 
aus Schriftstellen für die Religion auszumitteln sei, bloss ein Gegenstand 
der Vernunft sein kann, auch . . .“ — Im zweiten Fall kommt in Betracht 
der erste Satz des „Wahrsagende Geschichte der Menschheit“ über- 
schriebenen siebenten Paragraphen im zweiten Abschnitt: „Es muss etwas 
Moralisches im Grundsatze sein, welches die Vernunft als rein, zugleich 
aber auch wegen des grossen und Epoche machenden Einflusses als etwas, 
das die dazu anerkannte Pflicht der Seele des Menschen vor Augen stellt, 
und das menschliche Geschlecht à im Ganzen seiner Vereinigung (non singu- 


allgemeiner und _uneigenniitziger Teil- 


ich, der Gedankengang wohl verfolgen: Das „Moralische 
im Grundsatze", di à der Menschheit so allgemeine Teilnahme finden 





Der 7. Band der Berliner Kant-Ausgabe. 439 


kann, wird erstens näher bestimmt als etwas, das die Vernunft rein für 
sich genommen oder als etwas, das die dazu anerkannte Pflicht der Seele 
des Menschen vor Augen stellt, zugleich aber zweitens als etwas, das 
wegen des grossen und Epoche machenden Einflusses oder das das mensch- 
liche Geschlecht im Ganzen seiner Vereinigung angeht. Anstatt der von 
Vorländer vorgeschlagenen Änderungen (entweder das „als“ an der Stelle 
„Einflusses als etwas“ streichen oder hinter „stellt“ ein „darstellt“ einfügen, 
endlich vor „das menschliche Geschlecht“ ein „welches“ einschalten), die 
mir teils dem Sinn nicht recht entsprechend („als . . . darstellt“), teils 
unnötig weitgehend erscheinen, möchte ich nur die Setzung eines Komma 
zwischen „Einflusses“ und „als etwas“ befürworten, wie es übrigens in 
Hartensteins Ausgabe geschehen ist. — 

Das Originalmanuskript der „Anthropologie in pragmatischer 
Hinsicht“, das in der Rostocker Universitätsbibliothek aufbewahrt wird 
und für die Ausgabe verglichen und benutzt werden konnte, ist, wie die 
„Einleitung‘“ Külpes feststellt, vermutlich 1796/97 entstanden. Die Ver- 
öffentlichung erfolgte zur Michaelismesse 98, nachdem inzwischen die Schrift 
„Von der Macht des Gemüts“ erschienen war, auf die in der gedruckten 
Anthropologie gelegentlich hingewiesen wird, während dieser Hinweis im 
"Manuskript noch fehlt. Zu Grunde gelegt wurde die zweite Auflage (1800), 
zugleich die letzte zu Lebzeiten Kants. Ausserdem wurde, wie eben 
erwähnt, das Manuskript benutzt, das an verschiedenen Stellen eine augen- 
scheinlich bessere Fassung des Textes bot, als das gedruckte Werk (mehr- 
fach auch Abweichungen vom Text der 1. Auflage, die dagegen mit der 
Fassung der 2. Auflage übereinstimmen). Als Beleg sei eine Stelle aus 
dem $ 49 (nach Külpes verbesserter Paragraphierung, im Original § 46) im 
I. Buch angeführt. Im Manuskript heisst es: „Hochmut ist Narrheit, denn 
erstlich ist es töricht, Anderen zuzumuten, dass sie sich selbst in Ver- 
gleichung mit mir gering schätzen sollen, und so werden sie mir immer 
Querstreiche spielen, die meine Absicht vereiteln. Das hat aber nur Aus- 
lachen zur Folge.“ Im Druck (aller Auflagen und daher auch der bisherigen 
Ausgaben überhaupt) sind die Worte „spielen“ bis „Auslachen“ aus Ver- 
sehen weggeblieben und hat daher der Text eine offenbare Verstümmelung 
erfahren. — Im Verzeichnis der Lesarten sind sämtliche Abweichungen des 
Manuskripts vom gedruckten Text mit angeführt. Ausserdem folgt ein 
besonderer Abschnitt, in dem einzelne durchstrichene Stellen des Manus- 
kripts, und Randbemerkungen Kants, soweit sie entziffert werden konnten, 
wiedergegeben werden. Sachlich nicht ohne Interesse sind unter ihnen 
die mehrfachen Varianten, die sich auf das Verhältnis von Sinnlichkeit und 
Verstand beziehen. 

In den sachlichen Erläuterungen werden wieder in Bezug auf die 
erwähnten Persönlichkeiten die wichtigsten Daten gegeben, sowie die 
Stelle der Zitate in den Werken, denen sie entnommen waren, bestimmt. 
Unauffindbar blieb u. A. das angebliche Zitat aus Raffael Mengs, das sich 
lobend über die Illusionswirkung der „Schule von Athen“ ausspricht, Kant 
mag hier wohl selbst nur r etwas unsicheren Erinnerung Ausdruck 
gegeben haben, wie er sich ja auch über die Autorschaft des Raffaelschen 
Bildes durchaus in Un} eit befindet. Für die ziemlich zahlreichen 





440 E. v. Aster, Der 7. Band der Berliner Kant-Ausgabe. 


etymologischen Bemerkungen in der Anthropologie (,„Hexe“, „dreist“, 
„Heuchler“ u.s. w.) bringt Külpe Hinweise auf die Stellen, an denen sich 
Kant etwa in dieser Hinsicht Rats erholt haben könnte, sowie auf die 
Stellung, die die heutige Wissenschaft zu ihnen einnimmt. Im Ganzen 
geben diese Erläuterungen noch mehr, als der Text der Anthropologie 
selbst ein Bild von der ausserordentlichen Belesenheit und dem vielseitigen 
Interesse Kants auf naturwissenschaftlichem, geographischem und étynolo- 
gischem Gebiet. 

In philologischer Beziehung bietet der Text der Anthropologie im 
Verhältnis zu manchen anderen Schriften Kants nicht allzuviel Anlass zu 
Eingriffen. Einen offenbaren Schreibfehler haben die Herausgeber aus- 
gemerzt auf Seite 311, Zeile 19 (2. Teil, C: „Der Charakter des Volks“), 
wo es von England heisst, dass „es sich allein einer ächten, staatsbürger- 
liche Freiheit im Innern mit Macht gegen Aussen verbindenden Verfassung 
rühmen zu können glaubt“: Im Kantischen Text stand „staatsbürgerlichen“ 
zu lesen. Als Schreib- oder Druckfehler hat man es auch aufgefasst, dass 
an der Stelle S. 195, Zeile 32 (1. Buch, $ 39) befehlen mit dem Accusativ 
verbunden ist (,... die Frau des Hauses . . . ihren Sohn aufzustehen ... 
befahl“. An einer anderen Stelle desselben Bandes; im „Streit der Fakul- 
täten“, (Seite 20, Zeile 11) ist indessen „niemanden befehlen“ stehen 
geblieben). Sprachliche Härten oder Ungenauigkeiten wurden an einzelnen 
Stellen verbessert: „Durch Sprache, dieses grösste Mittel“ (Kantischer Text: 
diesem grössten Mittel); „das obere Erkenntnisvermögen, zum Unterschiede 
von der Sinnlichkeit, als dem unteren“ (Kant: des unteren); Einteilung in 
28 Tage (Kant: Tagen). 

Um stilistische Nachlässigkeiten handelt es sich vornehmlich an 2 
Stellen; Seite 320 oben (2. Teil, C): „Unter... . den Armeniern herrscht 
ein gewisser Handelsgeist, . . . der auf einen besonderen Abstamm dieses 
.. . Volks hinweist, welches... . sich friedfertige Begegnung unter allen 
Völkern... zu verschaffen weiss und einen... . vorzüglichen Charakter 
beweist.“ Das Wort „hinweist“ fehlt und ist von Külpe eingeschoben 
worden. Und Seite 214 Anmerkung (I. Teil, C „Von den Gemtitskrank- 
heiten‘). „So erklärte ein solcher Richter in dem Falle, da eine Person, 
[die] weil sie zum Zuchthause verurteilt war [und] aus Verzweiflung ein 
Kind umbrachte, diese für verrückt.“ Die eingeklammerten Worte sind 
von den Herausgebern gestrichen worden, um einen korrekten Satzbau 
herzustellen. Vielleicht ist ein „vor Gericht stand“ oder „angeklagt war“ 
ausgefallen. Dahingestellt mag es bleiben, ob die Änderung Seite 196, 
Zeile 29 ($ 40) notwendig war: „Es ist also zwischen beiden kein Rang- 
streit, obgleich der eine als Oberer [Kant: ein Oberer] und der andre als 
Unterer betitelt wird.“ 

Den Prinzipien der Ausgabe gemäss sind altertümliche Formen wie 
„Kräugnis“, „Heurath“, „Affekten“ (Nom. Plur.) u. a. beibehalten worden, 
fraglich scheint mir nur, ob, daman „die Verhältnis“ durchweg in „das Ver- 
hältnis“ umwandelte, man nicht auch „die Hindernis‘ hätte verändern sollen. 

Die Paragrapheneinteilung, die von Kant nachlässig und wenig konse- 
quent durchgeführt war, hat in der Ausgabe eine verbesserte Gestalt erhalten. 


Recensionen. 


Vorlinder, Karl. Kant, Schiller, Goethe. Gesammelte Aufsitze. 

Leipzig (Dürr.) 1907. XIV u. 294 S.) 

icherlich zur Genugtuung aller Freunde unserer Philosophie und 
klassischen Dichtung hat Vorländer seine Aufsätze über Schillers und Goethes 
Verhältnis zu Kant in vielfach umgearbeiteter Gestalt zu einem wohl aus- 
gestatteten Bande vereinigt. 

Die Abhandlungen über Schiller erschienen zuerst im XXX. Bande 
der Philos. Monatshefte (1894). Sie enthalten ausser einer chronologischen 
Zusammenstellung alles Materials über Schillers Beschäftigung mit Kant 
(erste Abhandlung) eine genaue Auseinandersetzung über ethischen Rigoris- 
mus bei Kant und Schiller und seine ästhetische Ergänzung (zweite und 
dritte Abhandlung). Ich fasse das Ergebnis mit Vorländers eigenen Worten 
zusammen: „Kants ethischer Rigorismus ist . . . in erster Linie methodo- 
logisch zu verstehen und insofern berechtigt, ja notwendig; während dem 
Gefühle nichts von seinem guten Rechte genommen wird, solange es nicht 
„Bestimmungsgrund“ sein will“ (S. 69) — Schiller ist durchaus Anhänger 
dieses methodologischen Rigorismus, will ihn aber ergänzen, weil die 
menschliche Natur den Trennungen des Philosophen gegenüber als ver- 
bundenes Ganzes erfasst werden muss. „Diese Ergänzung schliesst indes 
keine Abschwächung des transscendental-rigoristischen Standpunkts in 
sich; denn der Philosoph vermag eben nur „durch Trennen“, d. h. durch 
das Prinzip der reinlichen Scheidung etwas. Sie bedeutet keine Milderung 
des methodisch unabweisbaren und von Schiller in dieser seiner Unabweis- 
barkeit vollkommen begriffenen ethischen Rigorismus, sondern steht als ein 
selbstständig Neues neben demselben“ (S. 79). 

„Kants Philosophie ist so sehr reine Wissenschaft, dass mit Natur- 
notwendigkeit das Scheidende, aber auch Klärende des wissenschaftlichen 
Verfahrens kräftiger in ihr hervortritt als das Verbindende, aber leicht 
auch Vermischende des Gefühls. Demgegenüber hat Schiller das Verdienst, 
neben dem auch von ihm in seiner methodischen Notwendigkeit begriffenen 
und daher übernommenen ethischen Rigorismus die ästhetische Ergänzung 
in dem bei Kant nur im Keime liegenden Begriffe der sittlichen Schönheit 
gesucht und gefunden und neben dem Sittlich-Erhabenen das Sittlich-Schöne 
als gleichberechtigt eingeführt und weiter ausgebildet zu haben.“ (S. 106.) 

Vorländer hat mit diesen Darlegungen durchaus recht — denn um 
den Terminus „Gefühl“, den ich für missverständlich halte, möchte ich 
nicht mit ihm streiten. 

Die zweite Abteilung „Goethe und Kant“ ist aus dem ersten und 
zweiten Bande der Kantstudien allen Lesern dieser Zeitschrift ihrem wesent- 
lichen Inhalte nach bekannt. Im einzelnen freilich ist vieles hinzugefügt, 
was neuere Forschungen und Veröffentlichungen ergeben haben. Ausserdem 
folgt der chronologischen Darstellung eine kurze systematische Zusammen- 
fassung der Ergebnisse. Unter den Anhängen sind die „Publikationen aus 
dem Goethehause“ ebenfalls bereits in den Kantstudien veröffentlicht, 
während die Zusammenfassung des Wenigen, was über Kants persönliches 
Verhältnis zu Goethe und Schiller zu sagen ist, neu hinzukommt. 


449 Recensionen (Hoffmann). 


In der Vorrede verwahrt sich Vorländer dagegen, dass er in den 
Goethe-Aufsätzen der Kantstudien nur eine Zusammenstellung der Tatsachen 
egeben habe. Vielmehr sei das Urteil über die Bedeutung Kantischer 
Gedanken für Goethe stets in seiner Erzählung mitenthalten, und bei den 
Wandlungen in Goethes Weltanschauung gebe die historisch-chronologische 
Darstellung alles Wesentliche. Mein Aufsatz (Kantstudien X) habe das 
gerade erwiesen. Nun liegt es mir durchaus fern, mich in eine Diskussion 
darüber einzulassen, ob und an welchen Punkten ich Vorländer gegenüber 
Neues bringe; das mögen die Leser beurteilen. Aber dass die chronologische 
Darstellung der Tatsachen alles Wesentliche giebt, muss ich bestreiten — 
schon deshalb, weil der Einfluss der philosophischen Anregungen auf Goethes 
Dichtungen dabei zu kurz kommt — noch mehr aber, weil nicht hervortritt, 
wie Goethe die abstrakten Begriffe seinem gegenständlichen Denken an- 
gepasst und in lebendigste Wechselwirkung gebracht hat mit der Fülle 
seiner Erlebnisse, Anschauungen, Forschungen. Die drängendste unter allen 
philosophischen Fragen der Gegenwart ist aber — wenigstens für einen 
Anhänger des Kritizismus: wie lässt sich mit der kritischen Philosophie — 
und noch allgemeiner gesagt: wie lässt sich in unserer, tiberall auf Kritik 
gestellten Zeit leben — „leben“ in jenem grossen Sinne, den man meint, 
wenn man den Namen „Goethe“ ausspricht. Diesem Problem dient, glaube 
ich, zuletzt die Untersuchung von Goethes Weltanschauung. Natürlich kann 
die Behandlung einer Spezialfrage, wie es doch die nach dem Verhältnis 
von Kant und Goethe bleibt, nur Beiträge liefern, — das Ziel muss eine 
Gesamtdarstellung von Goethes Weltanschauung sein. 
Wer aber auch dies Ziel zu erreichen strebt, wird Vorländers Arbeit 
höchsten Dank schulden — und so möge er meine Bemerkungen nicht als 
egen ihn gerichtet betrachten; sind wir doch im Grunde gleichstrebende 
erbündete. 
Freiburg i. B. J. Cohn. 


Hoffmann, Abraham. René Descartes. Frommanns Klassiker der 

Philosophie. Stuttgart 1906. 
ine ausführliche Reproduktion des Kartesischen Systems zu geben, 

wie die vorliegende Schrift in ihrem zweiten Teil versucht, ist eine undank- 
bare Aufgabe; denn man hat es dabei aufzunehmen mit der Konkurrenz des 
Philosophen selbst. Sein Discours, seine Meditationen sind die denkbar be- 
quemste kinführung in seine Philosophie, keineswegs von erschreckendem 
Umfang, und der Zusammenhang der Gedanken geht auch dem 
ein. Soweit das System antiquiert ist — antiquiert aber ist im wesent- 
lichen der ganze offizielle Descartes —, wird die Darstellung des Systems 
in erster Linie nach ästhetischen Kriterien zu beurteilen sein. Denn da 
handelt es sich nicht um Zuführung bereichernder Denkresultate, sondern 
es soll das Erlebnis der philosophierenden Persönlichkeit, die helläugige 
Entdeckerfrende, die fortreissende Quellkraft, das frische Wachstum der 
Gedanken dem unmittelbaren Nacherleben dargeboten werden, und das 

eschieht durch die Komposition und die spirituelle Ausdrucksform des 

hilosophen und durch die glückliche Folge seiner Veröffentlichungen in 
nicht leicht zu übertreffender Weise. Dem Schriftsteller Descartes gegen 
über empfinden wir die moderne Wiedergabe, etwa wie eines biedern Form- 
schneiders handwerksmässige Reproduktion alter Meister. 

Aber es giebt Gedanken Descartes’, die noch nicht überholt sind, ich 
möchte sagen, deren Leben erst beginnen soll. Es sind Möglichkeiten, die 
bei ihm selbst sich nicht entfalteten, — sie finden sich daher in dem apo- 
kryphen Teil seines Werkes — die auch in den Holgezeiten nicht Wurzel 
schlagen konnten; und der Grund dafür ist beide Mal der gleiche, und der 

leiche wiederum, warum sie fiir uns von Bedeutung werden. Es war die 
eit, wo das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Philosophie sich von 
Grund aus wandelte. Bis dahin am Gängelbande der Philosophie vollbrachte 
jetzt die Naturwissenschaft nicht nur glücklich ihre ösung, sondern 
sogleich darüber hinausschreitend vergalt sie es der Philosophie durch eine 


Rééehsiorien (Dupréel). 443 


D or Das kurze Intervall nun zwischen 
diesen u Extremen findet mklichen Ausdruck in Descartes’ EN 
hier sind Ansätze zu einem un! en Verstehen der rationalen Natur- 
wissenschaft, ihrer Methode, ihrer eutung, ihrer Grenzen. Und erst 
heute, wo nun ihrerseits die Philosophie sich wieder losringt — noch Kant 
überliess das Gebiet der empirischen Wirklichkeit dem naturwissenschaft- 
lichen Rationalismus —, jene Episode ihre Würdigung und die Fort- 
ihrer Gedanken erwarten dürfen. 

erscheint mir daher als der Hauptverdienst der vorliegenden 
Schrift, dass sie in ihrem ersten Teil, bei der Darstellung der philosophischen 
Entwickelung Descartes’, auch die Periode vor dem Discours eingehend 
behandelt und dadurch das Verständnis jenes interessanten Fragments 
wesentlich erleichtert. 

Leesenshöh bei Itzehoe. Broder Christiansen. 


Dupréel, Eugène. Essai sur les Catégories, Bruxelles, Henri 
Lamertin 1906. 
Als Zweck seiner Untersuchung bezeichnet der Verfasser ,dem Worte 
Kategorie eine strenge Bedeutung zu sichern und die Grundeigenschaften 
des so gekennzeichneten iffes aufzusuchen.“ Um diese Aufgabe zu 
lösen, er zunächst die Systeme der drei Philosophen, welche den pr 
der Kategorien ausdrücklich unter ihre Prinzipien aufgenommen haben, 
kurz zusammenfassen und dann aus diesen drei Systemen durch Vergleichung 
und Analyse die grundlegende Bedeutung des Wortes feststellen und die 
notwendigen Eigenschaften des Begriffes herausschälen. 

Die drei Philosophen, welche ausdrücklich die Kategorien als Grund- 
lage ihrer Systeme au! AU haben, sind für den Verfasser Aristoteles, 
Kant und Renouvier. Er selbst reiht sich diesen dreien als vierter an. ,Der 


teen Kategorie, welchen Renouvier aufgestellt hat, erscheint als ein 
el 


zwischen dem entsprechenden Kantischen Begriff und demjenigen, 
welcher in dem kritischen Teil der Arbeit vorgeschlagen wird.“ Daneben 

| bemerkt, dass die Arbeit auf einem vollständigen System der Philo- 
sophie beruht, welches René Berthelot an der Université libre in Brüssel 
in seinen eee bier 

Es entspricht nun durchaus dem methodischem Gung der Arbeit des 
Verfassers, dass über die Auffassung des Wesens der Kategorien bei 
Aristoteles, Kant und Renouvier keinerlei Streitfragen mehr bestehen, dass 
keinerlei neue Gedanken darüber mehr gesucht und gefunden werden. 
Setzen wir also die Lehren der drei Denker als bekannt voraus und gehen 
über zu der eigenen kritisch-systematischen Arbeit des Verfassers. Er hat 
ep dass der Lehre von den Kategorien bei den drei ae dasselbe 

blem zu Grunde liegt, das allgemeine Problem nämlich des Verhältnisses 
der Realität zur Erkenntnis (le probleme général des rapports de la réalité 
et de la connaissance). Ferner erscheinen dem Verfasser als die Grund- 
eigenschaften der Kategorien bei allen drei Philosophen die en 
und die Allgemeingültigkeit. Aus diesen beiden Ergebnissen wird dann 
die Definition abgeleitet, welche sich in den Satz zusammenfassen lässt: 
Die Kategorien sind die notwendigen und allgemeingültigen Bedingungen 
der Erkenntnis. 

Ehe ich nun die Kategorienlehre selbst darstelle, möchte ich hier 
nur einschalten, dass mir, um zu diesem Ergebnis zu gelangen, die weiten 
Ausführungen des Verfassers über die drei Kategorienlehren durchaus über- 
flüssig erscheinen. Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der Kategorien 
sind doch schon in Kants ausdrücklich in der Apriorität der synthetischen 
Urteile gesetzt, während sie gerade bei Renouvier ihre Bedeutung wieder 
verlieren. Auch als „conditions de la connaissance“ erscheinen die Kat rien 
in ganz anderem Sinne bei Kant als bei Renouvier, und bei Aristoteles ist 
der erkenntnistheoretische ieser Bezeichnung nirgends anzutreffen. 
Ueberhaupt erscheint eine >htun welche aus ganz entgegen- 
gesetzten Systemen gi s robleme oder vielmehr durch gewaltsame 





444 Recensionen (Dupréel). 


Erklärung gemeinsame Lösungen sucht, in der Annahme, dieses Gemeinsame 
sei sicher Beste, worauf man weiter bauen könnte, doch zum wenigsten 
sehr oberflächlich. Die grundlegenden Probleme, aus deren Erörterung 
allein ein Fortschritt erwachsen kann, werden durch ein solches Vorgehen 
mit Gewalt übersehen. Was Wunder also, wenn auch das Problem des 
‚Verhältnisses von Raum und Zeit zu den Kategorien einfach dahin gelöst 
wird, dass erstere als catégories sensibles den catégories intelligibles unter- 
geordnet werden, da angeblich nur die letzteren die ersteren bestimmen. 

Die Kategorienlehre selbst nun entwickelt der Verfasser in folgender 
Weise. Stand seine Definition der Kategorien der Kantischen Lehre nahe, 
so ist nun Renouviers Grundanschauung zum Ausgangspunkt genommen. 
Als Grundaxiom der ganzen weiteren Entwickelung erscheint der Satz: 
Les catégories sont des relations universelles ... die Kategorie ist Be- 
ziehung. Sie behauptet also in den Dingen, auf die sie angewendet wird, 
etwas Gemeinsames. „Da nun dieses gemeinsame Element durch eine Kate- 

orie behauptet wird, so ist es selbst allgemein, wie die Kategorie“ Nun 
ist aber für den Verfasser, wie ja auch bei Renouvier, alles was allgemein 
ist, Beziehung. Also ergiebt sich bei der Anwendung einer Kategorie eine 
allgemeine Beziehung, also eine neue Kategorie. So wird durch Setzen 
einer Kategorie gleichzeitig eine andere tzt, dadurch natürlich wieder 
eine andere u. s. w. die Kategorien bilden also in gegenseitiger Verschlingung 
ein Kategorien-system. 

Nun erhebt sich die Frage: Giebt es verschiedene, von einander 
unabhängige Kategoriensysteme? Da es Kategorien giebt, welche allen 
anderen gemeinsam sind, selbstverständlich nicht. Diese gemeinsamen 
Kategorien beziehen sich nun aber auch auf die Kategorien selbst, nicht 
bloss auf die Erfahrung und haben daher eine höhere Allgemeinheit als 
die anderen, ihre Allgemeinheit heisst universalité logique. 

Ist nun jede Kategorie in allen anderen enthalten? Nein, sonst 
wären ja alle identisch. Es giebt neben den logisch allgemeinen auch solche, 
die nicht allen Kategorien gemeinsam sind. So sind Raum und Zeit weniger 
allgemein als die unendliche Teilbarkeit, diese der Kategorie der Empfindung 
untergeordnet, und darüber erst erheben sich Quantität, Qualität und Relation 
alsdie logischen Kategorien über diesekundären. Diesesekundären Kategorien 
müssen aber in aller Erkenntnis enthalten sein. Sie sind also unbedingt not 
wendig in jedem Erkenntnisakt zu finden. Damit nun ist aber auch der 
Weg ‚gezeigt, die logischen Kategorien aufzufinden, und habe ich eine 
gefunden, so stecken ja darin alle anderen. Diese eine Kategorie ist aber 
mit der Bestimmung der Kategorie als Beziehung schon gegeben. Es ist 
eben die Relation. Daraus wird dann eine „Mehrheit“ von Gliedern, also 
auch Quantität, Qualität und Ordnung leicht abgeleitet. Auf eine vollständige 
Aufführung aller Kategorien muss der Verfasser verzichten, weil ja in jeder 
gefundenen Kategorie alle anderen stecken und die Analyse derselben also 
zu weit führen würde. Die sekundären Kategorien bilden nun auch mit 
den logischen Kategorien eine Einheit, da ja jede Erkenntnis Handlung 
ist und Handlung nicht bestimmt werden kann olıne die sekundäre Kategorie 
der zeitlichen Folge, dadurch ist also auch die Brücke ‚geschlagen, um von 
den logischen Kategorien aus die sekundären aufzufinden und das System 
ist dadurch im Prinzip vollendet. Die Aufgabe, die Beziehungen aller 
Kategorien mit jeder einzelnen festzustellen, wird der Metaphysik zugewiesen. 

Neben dieser logischen Entwickelung sind die ausführlichen Einzel- 
heiten nicht mehr von Belang. Sie geben auch in keiner Weise Aufschluss 
über all die Probleme, welche der Verfasser wie einen Graben spielend 
überspringt, ohne die Tiefe zu merken. Der Verfasser hat sich durch die 
syllogistische Kette seiner Gedanken fortreissen lassen, ohne zu bedenken, 
dass gerade in der Erkenntnistheorie rein formallogische Erwägungen be- 
sonders vorsichtig auftreten müssen. Gerade Kant war es, welcher durch 
die Entdeckung der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie die umgekehrte 
Methode schuf. 


Essen a. R. Dr, Hauck. 


Recensionen (Böhm). 445 


Böhm, Paul. Die vorkritischen Schriften Kants. Ein Beitrag 
zur Entwickelungsgeschichte der Kantischen Philosophie. Strassburg, 
Trübner, 1906. (134 S.). 

Auf drei Stellen im philosophischen Entwickelungsgange Kants hat 
sich von jeher die Aufmerksamkeit der Forscher konzentriert. Es sind 
dies 1. der Umschwung vom Dogmatismus der Leibniz-Wolffischen Schule zu 
dem Standpunkt der 60. Jahre; 2. die Konzeption der Gedanken, die in 
der Inauguraldissertation niedergelegt sind; 3. die Grundl des 
Kritazismus. In Bezug auf jeden dieser drei Punkte hat man auf der einen 
Seite die Behauptung aufgestellt, die betreffende Sinnesänderung Kants 
sei nur zu erklären durch einen auf ihn geübten fremden Einfluss, während 
auf der anderen Seite die Ansicht aufgestellt und verfochten wurde, dass 
Kant in selbständiger, kontinaierlicher Gedankenentwickelung auf den 
neuen Standpunkt gelangt sei: Mit Rücksicht darauf hat sich nun der Ver- 
fasser der vorliegenden Schrift die Aufgabe gestellt, den Entwickel 
Kants einmal rein immanent darzustellen, also prinzipiell von der Annahme 
fremder Einflüsse so weit als möglich abzusehen. Das Gelingen des Versuchs 
einer solchen rein immanenten tellung, fügt er hinzu, könne zugleich 
als ein Beweis dafür angesehen werden, dass für die Entwickelung der 
Kantischen x hilosophie „fremde Einflüsse jedenfalls nicht allzu viel besagen' 
Unleugbar bleibt dabei natürlich immerhin die Einwirkung, die Kant durch 
Hume erfahren hat, weil sie durch Kants eigene Worte, die bekannte Stelle 
der Prolegomena, bezeugt ist, als unnötige Hypothese abzulehnen ist dagegen 
die Behauptung, dass Kant irgend wann und in irgend welcher Beziehung 
durch die Leibnizschen ,Nouveaux essays“ wesentlich beeinflusst worden 
sei, da für einen solchen Einfluss keinerlei direktes Zeugnis beigebracht 
werden kann. 

Ich halte diesen Grundgedanken des Böhmschen Buches für ebenso 
richtig, wie fruchtbar, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er uns durch 
die Art des Kantischen Denkens selbst nahe gel wird. Kant ist das 
direkte Gegenstück zu einem Denker, wie Leibniz: Die geistige Beweglich- 
keit, die jenen befähigte, aus den Schriften und Auffassungen Anderer 
mannigfache gen zu schöpfen, sie dem eigenen Gedankenkomplex 
zu assimilieren und diesen selbst wieder durch sie innerlich zu bereichern, 
fehlt ihm vollkommen. Das deutlichste Zeichen dafür dürfte die Art sein, 
wie er sich seinen Kritikern und literarischen Gegnern gegenüber verhält. 
Ich glaube, es ist nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, dass fremde 
philosophische Gedanken überhaupt nur so weit einen nachhaltigen Einfluss 
auf ihn üben konnten, als sie mit Gedanke gen sich wenigstens be- 
rührten, auf die ihn die eigene geradlinige Gedankenführung mehr oder 
minder bereits geleitet hatte. Das dürfte schliesslich auch mit Bezug auf 
den Einfluss Humes mit in Betracht zu ziehen sein. 


Diesen Einfluss Humes setzt Böhm — mit B. Erdmann — in die 
Jahre 1771—72, macht also von ihm zum Teil die eigentliche Wendung 
zum Kritizismus abhängig. — Wie der bekannte Brief an Markus Herz 
zeigt, ist Kant über den Standpunkt der Inauguraldissertation hinausgeführt _ 
worden durch die Frage: Wie können Begriffe gegenständliche eltung 
haben ? (Was giebt unseren Vorstellungen die Beziehung auf den Gegenstand 
wie die Frage in jenem Brief formuliert wird) Auf diese Frage selbst 
ist Kant, wie der Wortlaut jenes Briefes unzweideutig erkennen lässt, 
selbständig gekommen. Anders aber soll es sich nun mit der Antwort 
auf diese Frage verhalten. Diese Antwort erfolgt bekanntlich in dem 
Gedanken der Kritik, dass die apriorischen Begriffe (schon im Brief an 
Herz hatte sich das Problem der Natur der Sache nach auf diese ein- 

schränkt) Funktionen der Einheit in unseren Urteilen und damit zugleich 
edingungen für die Möglichkeit der Gegenstände sind, auf die wir sie 
beziehen, freilich nur der Gegenstände der Erfahrung. Diese Lösung der 
ist nach Böhm und Erdmann durch Hume inauguriert. Hume hat 

den apriorischen Ursprung des Kausalbegriffs in Zweifel gezogen: „Wird 


Kantstudien XIL 29 





i ird“ (Bohm). 

eit ian, neigh wir den Bop der ra 
es ander Eee Grand ge wd 
irkung angelangt. 


ben sein. Es 
po fiir jeden, 


durch Hume anzunehmen, erst in den 50. Jahren, dann 1769 oder 
. Es wird also die Frage sein, ob die Böhmsche Argumentation 
lu Po “in dies unmittelbare Gewicht der Kuno Fisch 
Die Starke der Auffassung Fischers liegt wesentlich 
es doch ein ntümliches Zusamm 

en Abfall von Wolff gerade durch die 
iffe ratio und causa dokumentiert und auf 
anderen Seite später erkl er sei durch Humes Ausführungen, als 
deren bleibend Wertvolles er eben diese Scheidung bezeichnet (Hume 
„bewies unwidersprechlich“ u. s. w.), aus dem dogmatischen Schlummer 
worden. Und dazu kommt zweitens, dass dieser von Kant ge- 
Ausdruck, die „Erweckung aus dem dogmatischen Schlummer* 
och tatsächlich auf den Ümschwung von 1762 am passt: Es ist der 
Sxste selbständige Schritt aber den Rahmen des überkommenen dogmatisch 

Tationalistischen S; aus, der zugleich dieses ganze System 
Frage stolt > Kant sieht matin dia Notwendigkeit 
den ganzen der Metaphysik von den Fundamenten aus neu 
wobei er freilich zunächst über tastende Versuche nicht hinaus- 
kommt, bis ihm im Jahre 69 der Grundgedanke der Inauguraldissertation 
Böhm betont nun allerdings, wie schon gesagt, dass zwischen 
ss Habilitationsschrift und der Schrift von 62 doch ein | A Zusammen- 

bereits Beene Allein man NE hier meine! 


Jedenfalls, scheint init, p: ie Rede von der ER aus dem 


von 1762, als auf 
egriffen ‚gegenständliche 
‘als ein Aufgeben des 
‘ines kritischen Ver- 


tischen Schlummer sehr 


due aber 
Böhm besonders herv 





448 Recensionen (Böhm). 


Nachdenken gekommen. Die empiristische Lösung des Problems aber als 
ein Aufgeben des Dogmatismus zu bezeichnen, scheint mir gezwungen, 
denn die Einschränkung unserer Erkenntnis auf die ,Erscheinungswelt ist 
das Resultat, nicht der Ausgangspunkt der Kritik des Erkenntnisvermögens. 

Weiter: Sollte wirklich die Uebertragung des Begriffes der negativen 
Grôssen auf die Wirklichkeitsbetrachtung Kant darauf aufmerksam gemacht 
haben, dass Ursache und Wirkung in der Natur nicht in einem rein formal- 
logisch zu erschöpfenden Verhältnis stehen? Es scheint mir doch wahrschein- 
licher, dass ihm erst dieser prinzipielle Unterschied klar geworden ist und 
sich ihm dann zur Kennzeichnung des fraglichen Verhältnisses die Analogie 
mit dem Verhältnis des Positiven und Negativen aus der Mathematik dar- 
geboten hat. Das Zwischenglied mag dabei der Gedanke an die anziehenden 
und abstossenden Kräfte in der Natur abgegeben haben. 


Wenn die Position der „negativen Grössen“ von Hume abhängig ist, 
warum hat Kant dann Hume nicht erwähnt oder citiert? Man wird hier 
berücksichtigen müssen, dass die kleine Schrift ja LE nicht die Absicht 
hat, das eigentliche Problem Humes zu behandeln. Hume stellt die Frage: 
Mit welchem Recht behaupten wir, dass es so etwas, wie Ursache und 
Wirkung in der Welt giebt? und er antwortet: Theoretisch mit gar keinem, 
denn logisch lässt sich nicht begründen, dass, weil die Ursache a, darum 
auch die Wirkung b ist. In diesem skeptischen Resultat nun ist Kant 
„weit entfernt, Hume Gehör zu geben“, es folgt für ihn daraus nur, dass 
es letzte Begriffe und Grundsätze geben muss, die sich nicht auf den Satz 
des Widerspruchs gründen lassen. Diese unerweislichen Sätze und unauf- 
löslichen Begriffe vollständig darzustellen und zu analysieren, erscheint 
ihm als eine grundlegende Aufgabe der Metaphysik, die er sich für später 
vorbehält. Der Versuch über die negativen Grössen aber erfüllt nur die 
Nebenabsicht, die sich ihm aufdrängende Verwandtschaft der entdeckten 
Realrepugnanz mit der Beziehung der negativen und positiven Grössen 
darzulegen und so einen Beitrag zum Verhältnis von Mathematik und 
Philosophie zu liefern, das ihn, darin werden wir Böhm beipflichten müssen, 
schon länger interessierte. Dass Crusius von Kant citiert wird, erklärt sich 
ungezwungen aus zwei Momenten: Erstens hat sich Crusius gerade in der 
mathematisch-physikalischen Frage, die das eigentliche Thema der Schrift 
bildet, gegen Newton gewandt, worauf die erste Erwähnung Bezug nimmt, 
zweitens liegt es Kant daran, die hier gemachte Unterscheidung von causa 
und ratio in ihrer ganzen Schärfe hervortreten zu lassen, weshalb er 
„gelegentlich anmerkt“, dass man sie nicht mit dem von Crusius ge 
machten Unterschied des Ideal- und Realgrundes verwechseln dürfte. 


Endlich hebt Böhm hervor, dass Kant in den „negativen Grössen“ 
deutlich bekunde, ein anderer Lösungsversuch des Dilemmas sei ihm un- 
bekannt: „Wie etwas aus etwas Anderem, aber nicht nach der Regel der 
Identität fliesse, das ist etwas, welches ich mir gerne möchte erklären 
lassen .... man versuche nun, ob man etwas mehr sagen könne, als . ... 
dass es nicht durch den Satz des Widerspruches geschehe.“ So hätte Kan 
nicht sprechen können, meint Böhm, wenn er Humes Lösungsversuch 
gekannt hätte. Aber in Kants Sinne hat Hume gar keinen „Lösungsversuch“ 

er Frage gegeben. Er hat im Gegenteil erklärt: es ist schlechterdings 
unmöglich, dass die Wirkung aus der Ursache „fliesst“, d. h. logisch daraus 
abzuleiten ist, weshalb er diese ganze Frage beiseite geschoben und sich 
nur noch bemüht hat, die logisch überhaupt nicht zu rechtfertigende An- 
wendung des Kausalbegriffes nur noch selbst psychologisch -kausal zu 
erklären. Freilich: Wer meint, dass Kant seit 1762 durch Humes Einfluss 
in eine Periode des Empirismus und Skeptizismus geraten sei, der gerät 
hier in Schwierigkeiten. Aber gerade dies behauptet Böhm meiner Meinung 
nach mit vollem Recht und belegt es mit guten Gründen — ich sehe darin 
ein besonderes Verdienst des Buches —, dass von einer solchen empiristisch- 
skeptischen Periode bei Kant keine Rede sein kann. Er kämpft gegen 
die gegenwärtige und für die Neubegründung der Metaphysik, keineswegs 


Recensionen (Dorner). | 449 


aber gegen die Metaphysik überhaupt. Ich verweise hier nur auf die lehr- 
reiche Lektüre des Böhmschen Buches selbst. 

Dass Hume seine Position etwas anders einführt, als Kant in den 
negativen Grössen, ist wohl richtig, aber den Punkt, an dem die Abhängigkeits- 
beziehung liegt, hat meiner Meinung nach Kant klar und deutlich in den 
Prolegomenen bezeichnet, wenn er von Hume sagt: „Er bewies unwider- 
sprechlich, dass er der Vernunft gänzlich unmöglich sei, a priori und aus 
Begriffen eine solche Verbindung zu denken“. A priori und aus Begriffen“ 
ist dabei natürlich nur ein Ausdruck für das formal-logisch analytische 
Verfahren. 

In der Entwickelung der Gedankengänge, die zum Standpunkt der 
Inauguraldissertation führen, erschien mir auffallend, dass Böhm der Anti- 
nomien gar nicht Erwähnung tut, die von verschiedenen Seiten doch wohl 
mit Recht als ein wichtiger Faktor in dieser Hinsicht bezeichnet worden sind. 

München. v. Aster. 


Dorner, A., D. Dr. Individuelle und soziale Ethik. Vierzehn 
Vorträge. Berlin, C. A. Schwetschke & Sohn 1906. (240 S.). 
erfasser konstatiert zunächst die Zerfahrenheit der modernen ethischen 
Bestrebungen. Der wissenschaftlichen Behandlung fehlt jede Einheitlich- 
: keit. Zum Teil ist sie ganz abstrakt theoretisch, zum Teil geht sie völlig 
in akuten Einzelfragen auf. Relative und absolute, harmonisch-natürliche 
. und dualistische, extrem individuelle und soziale Ethik finden sich neben- 
einander. | 

Diesen Gegensätzen gegenüber tritt Verfasser ein für Ausgleichung, 
für eine besonnene Vermittelung der Extreme, für „die Ethik der geschicht- 
lichen Weltansicht“, in der uns Deutschen die Engländer voraus seien. 
„Man liebt die Extreme. Vielleicht gelingt es, unter den Kämpfenden Frieden 
zu stiften, wenn man dem Worte des Leibniz Gehör schenkt, dass keine 
Ansicht durch das verkehrt sei, was sie behauptet, sondern durch das, 
was sie ausschliesst* (Vorrede). Von diesem Gesichtspunkte aus wird nun 
das ganze Gebiet des Sittlichen betrachtet. Der Titel nennt speziell nur 
eins der vielen aufgezählten Gegensatzpaare; fast mit gleichem Recht 
könnte dort ein anderes genannt sein, etwa natürliche und dualistische 
Ethik (Goethe und Kant); am bezeichnendsten wäre „Vermittelungs- 
ethik“. Eine allgemeine „Grundlegung“ (S. 16—75) handelt von den Trieben, 
Gefühlen, Affekten, der sittlichen Intelligenz und dem Willen, dann folgt 
die eigentliche „Ausführung“ es 76—240) in den 3 Teilen: 1. Die Bildung 
der Persönlichkeit; 2. das Ver ältnis der Persönlichkeiten zu anderen Per- 
sonen; 3. die Organisationen. 

In diesem letzten Hauptteil, der „Ausführung“ liegen die eigentlichen 
Vorzüge des Buches. Es ist bewunderungswürdig, wie auf engem Raume 
in leicht verständlicher Sprache eine e von ethischem Einzelmaterial 
aufgerollt wird aus Kulturgeschichte, Psychologie, Pädagogik; dazu reife, 
besonnene Lebensweisheit. uenfrage und soziale Frage treten besonders 
hervor. Und überall herrschend der Gesichtspunkt der Vermittelung zwischen 
den Extremen. 

Das Sittliche ist in erster Linie individuell. Vom Individuum geht 
es aus, und auch die Organisationen sind um der Einzelnen willen da. Der 
Einzelne aber kann sich nicht isolieren, sondern muss mit anderen in Verkehr 
treten, sei es frei und ungezwungen, sei es in festen Organisationen. Im 
wechselseitigen Verkehr, im Nehmen und Geben bereichern und fördern 
die Menschen sich gegenseitig. Solch lebendiger Verkehr der Personen 
ist das eigentliche sittliche Ziel. Charakteristisch ist hier das häufige 
Hinweisen auf Schleiermacher. 

Wichtig ist ferner, dass die Ethik, wenngleich sie nicht im Natür- 
lichen aufgehen darf, die natürlichen Anlagen und Kräfte nicht abstumpfen 
oder negieren soll, sondern sie bejahen, an sie anknüpfen, sie in die rechten 
Bahnen lenken, Hier kommt am meisten Goethe zu Wort. 


450 a Recensionen (Falter). 


Weni; klich scheint mir die ,; 
als ob sok À chole 
sittlichen Lebens zu 


zu können mit dem „al 
rein formalen Charakter des Sitten . „Die weitere se 
dieser Einsicht (der Autonomie) musste frei ich eine konkrete, eine ins einzelne 
gehende Ausbildung des sittlichen Ideales sein.“ Das ist zum mindesten 


selber nach S. 39/40 nicht zweifelhaft sein kann — ruht ja 

bedingtheit der sittlichen Verpflichtung, die durch jede 

bestimmung illusorisch würde. Ueberhaupt ist Referent der Meinung, dass 
der Versuch, die Gegensätze von individueller und sozialer Ethik durch 
eine tiefere Erfassung auszugleichen, durch klare, konsequente Entfaltung 
der kritischen Ethik am ungezwungensten und en en 

Magdeburg. Erich Franz. 

Falter, Gustav, Dr, phil. AS zur Geschichte der Idee. 
Teil 1. Philon und Plotin. Giessen, Töpelmann. 1906. (66 S.).1) 

Die Einleitung skizziert — mit Berufung auf Cohens und 
Vorbereitung bet Sokrates. Die Idee festet als Hypothesis die Begründung 

'orbereitı ei Sokrates. Die Idee leistet ie 
der rech Wissenschaft und bringt als oberste Hypothesis, als Idee 
des Guten, Einheit in das ethische Gebiet, im Unterschied vom Theoretischen 
hier als réoc gefasst. Diese Auffassung der Idee deckt sich im wesent- 
lichen mit dem Apriorismus Kants, seinem „Hineii legen in die Dinge; 
kantisch ist auch die Einheitlichkeit des ten Vernunftgebietes 
gleichzeitiger Wahrung der Eigenart des Sittlichen als Ziel und Aufgabe. 

Diese platonische „Idee* zeigt Verfasser nun auf bei Philon und 
Plotin, unter häufiger Verweisung auf Platon wie Kant. Die 
ist in der Hauptsache klar und einleuchtend, im einzelnen ist nicht alles 
unmittelbar überzeugend, zumal bei der häufig bildlichen Ausdrucksweise 
in den griechischen Zitaten, bei deren Uebersetzung übrigens mit Vorliebe 
Kantische Termini verwandt werden. 

Zunächst Philon, der Vermittler streng jüdischer Offenbarungs- 
religion und hellenischer Philosophie, der mit Hi fe der von den Stoikern 
erlernten Allegorese das Kunststiick fertig bringt, seine Philosophie aus dem 
Pentateuch herauszuexegisieren. Aber grade den Einfluss der Stoa schlägt 
Verfasser in der Hauptsache gering an. „. . . sein philosophisches System, 
wenn wir es ohne Rücksicht auf seinen dogmatischen Endzweck betrachten, 
ist im wesentlichen Platonismus. Die Anleihen beim Stoizismus beschränken 
sich beinahe lediglich auf die Terminologie.“ (8, 57). 

Platonisch ist Philons der Sinnlichkeit und die scharfe Ab- 
trennung des reinen Denkens dlicher Ausdruck dafür: Schauen). Auch 


1) Philosophische Arbeiten, herausgegeben von Hermann Cohen und 
Paul Natorp. 1. Band, 2. Heft, 





Recensionen (Raich), 451 
der Gedanke der methodischen Grun der Wissenschaft schimmert 
durch, z. B. in der räischen A: it von den Zahlen, meist freilich 


mit AE Elementen. 
In der Ethik gelangt Philo der Kosmopolit und Sozialist, über 
Platon hinaus zur Idee der Menschheit. Sein ee ee in Gott, 

[Screen Ziel seiner iösen Sehnsucht, zu; 
Siz als Prinzip der Weltordnung (cfr. Kant v. oo one Se 
æustreben und uns annähern „in jener unbekannten und Uns 


ei Autor der ee Schrift rie indelebilitate mundi* 


Hellene; er zeigt sich im Gegensatz zu n als kritischer Denker, 
frei von Dogmatismus. é 
von der EVE fee nimmt seinen A: Plotin, der 

des Le der zum ersten Male eine Platons 





DIR einaliche” ‚Wahrnehmung ist nicht ein Letztes, sondern 
ein zu ws Problem. Erst der vois, dessen Tätigkeit ein ere 
— auch as platonische Bild der Anamnesis klingt 


Bashervor, thesis“ gebraucht Plotin meist ahgescherächt 
von physikalisch. eorie, der Gedanke der Grundlegung selber 
ist ihm us Loma ee die Zeit wird ,geschaut,“ auch sie wird als 


unserer Erkenntnis gewertet; ebenso der Raum. Und wie fiir 
alles een einen casing ds Selb che ee 
so gelangt er au at ut Pots Brrunge elbstbewusst- 
im erkenntniskritischen Sinne. „Es ist Plotins nschaft, Lier vod 

sich im cogito, ergo sum des A! 1 dee octane r 

talen ‚epti ir erweist.“ (S. 87.) 
steigerte ‘Transscendenz Gottes erlaubt doch eine Erkenntnis 
(t@ &v juiv öuoig). In der Ethik zeigt Plotin sich als 
es ig hem Hlanken der Freiheit (—vernuni Handeln) 
aint in der Uber ber das Individuum hinausgehenden Idee der Menschheit. 
en ist er verhängnisvoll beeinflusst von Aristoteles und seiner 
der dianoetischen Tugenden. Das hängt zusammen mit 
sien tentent ästhetischen Grund; seines Denkens der sich be- 
in seiner ne eng des Ethischen und A esthetischt en kundgiebt. 
rich Franz. 





Raich, Maria, Dr. Fichte, seine Ethik und seine Stellun, 
ea des Individualismus. Tübingen, J. C. B. Mohr 1905. 


Dass ah Fichte und 5 über die bei ihm so ade le rn 
Seite seines Systems geschrieben wird, ist mit Freude zu 
vorl de Buch ist 47 Arbeit einer ausländischen Dame. Es ist oat 
er Gelehrsamkeit und Belesenheit auf dem Gebiete geschrieben, 
mit Zitaten und gelehrten Anmerkungen überladen. Richtig und erfreulich 
ist die Methode, Fichte auch einmal „unhistorisch“ zu betrachten, ihn als 
isoliertes Ganzes zu nehmen und nicht auf die historische Ab) it zu 
achten. Heute bedient man sich oft der nur historischen Be tung und 
so ist es anerkennenswert, dass einmal die „absolute“ angewandt wird. 
Ferner ist das Unternehmen, aus der Persönlichkeit Fichte’s heraus die 
seines Systems zu erfassen, sehr dankenswert. Gerade bei 
Fichte, diesem ausgeprägten Charakter, ist Denken und Leben aufs 
verwachsen. Verfasserin bleibt aber doch bei äusserlicher Betrachtung 
es kommt zu keinem einheitlichen, innerlichen Erfassen von Fichte’s 
intellektueller Persönlichkeit. 
‚Schon dieses Einleitungskapitel zeigt die Schwäche des ganzen Buches; 
Es ist eigentlich mehr eine Materialsammlung, kein Rene ie 
Werk! Es fehlt an Bearbeitung und einheitlicher Gestaltung des Stoffes, 
es fehlt an der Idee, die die einzelnen Gestaltungen aus sich hervortreibt 
und die Mannigfaltigkeit der Gedanken zusammenhält. Da auch der Stil 








452 Recensionen (Leclère). 
Verfasserin Ha abgerissenes, telegrammässiges an sich hat, ist die 
Nachdem Verfasserin die des Systems und die Rechtslehre 
dargestellt hat Gm wesentlichen nichtig) geht sie zur Ethik über, Auf 
as 4 


erörtert, 
Verbind der individualistischen, sozialistischen und il Auf- 
fassung Wertung“ (S. 172). Etwas Aehnliches ergiebt sich bei der 
Erziehungslehre. „Der Individualismus ist nur eine Seite des 
‘Ideals ra dasselbe hat noch eine soziale, und wenn man eine 
sozialistische, denn Fichte war nicht nur indi ME snncoeeey Sozialist“ 
Rabies Lehre: lichte hat seine Lehre nicht verändert ale Widerapeticne 
ites 2 „Fi seine ni le 
hi Tan „Die eitische 


als einheitlich 
‘Fort- 


lt, ne = bei Schelle fete cian athe an 

, wie etwa (vgl. meine 3 

Wandlungen 1800-1810. So kénuen wir dem Resultat der Fete 

beistimmen und trotz mancher Mängel das Buch zum Studium empfehlen. 
Hamburg. Dr. O. Braun, 


Leclére, Albert. Le mysticisme catholique et l'âme de Dante. 
Paris, Bloud et Cie. 1906. (155 S.) 

Unter den grossen Menschen im Ausgangs des Mittelalt in deren 
Wesen und Leben etwas RE iegt, das das der 
Renaissance verkündet, ist Dante eine der fesselndsten und nach 
Erschein . Der Eindeutigkeit des mittelalterlichen Menschentypus; 
über ist seine Natur von grösster Komplexität, es ist ein Etwas in Dal 
das dem Alten nicht homogen ist und mit diesem in einem Kampfe lag, 
dessen wahres Wesen ihm selbst noch unbekannt blieb. Das das 
das Neue in seiner Person besitzt, ist überhaupt erst in neuerer Zeit deutlich 
Ban worden, = je ae von en zu Generation, D. Rückstände 
in der liusseren ‘organisation an igtem re eee 
die letzten Füden zur religiös-dogmatischen Gebundenheit des Mittelalters 
in innerlicher Zersetzung sich lösen. 

denn tiberhaupt mit zunehmender Kenntnis der Vorgeschichte 
der Renaissance die Einsicht wächst, wie sehr bereits die U: 
dew Lebensbewusstseins sich in einzelnen Individuen vorbereitet hatte, 
no dans der jüngste Versuch, über den Werdegang der Kultur im Ganzen 
Uebersicht zu gewinnen, der Chamberlains, den grossen Einschnitt statt 
ums Jahr 1500, schon 1200 zu machen unternehmen konnte. 

Bei der Bedeutung, die bei diesem für das geschichtsphilosophische 
Newusstsein wichtigen Gegenstande Dante zukommt, war es verdienstlich, 
ae ndlicher Kenntnis seiner Werke heraus seine Stellung in der 
katholinchen Mystik zu untersuchen, denn so konnten am ersten die mannig- 
fnehen starken "Tendenzen, die in seiner Person sich einten, in ihrer 
Hellmtändigkeit und ihrem qu igen Einfluss aufeinander sichtbar 

wmneht werden. So liess sich leicht Altes und Neues in seiner Seele nach 
er Wichtigkeit fiir die Gesamtheit seiner Person sondern. 

Goon Erwarten ist der Verfasser, der dies unternahm, nicht Bekenner 
des Neuen, sondern offenbar katholischer Sinnesrichtung. Doch kann 
worden, dass dies, von dem, auch unverhältnismässig grossen Abschnii 


Roose 


Recensionen (Leclére). 453 


véritable doctrine morale de l'Évangèle abgesehen, keine Schädigung der 

Arbeit bedeutet hat. Verfasser ist objekti geblieben, und seine psychologische 

Analyse ist so tief. Die Arbeit kann deshalb, ohne dass Verfasser offen- 

bar einen solchen Nebenzweck im Auge gehabt hat, auch als eine besonders 
ute Illustration der neuesten Publikation') Ribots: Les Passion (1907) 
urch den Fall Dantes bezeichnet werden. 


Die Haupttendenz seiner Person wird durch den Namen Beatrice 
gekennzeichnet. Sie, der er durch ein Dichtwerk Ruhm verschaffen wollte, 
wie er noch keiner anderen Sterblichen zuteil ward, bleibt so der Zielpunkt 
seines Lebens auch nach ihrem Tode und immer höher steigt sie fiir ihn 
im Range, bis sie mit der göttlichen Weisheit fast in eins verschmilzt. 
Der Nachweis dieser Vergöttlichung Beatrices im wörtlichen Sinn und die 
Ablehnung aller Umdeutungsversuche dieser Tatsache ist Verfasser besonders 
gut gelungen. Mit ihr ist ohne weiteres gegeben, dass Dante trotz des 
orthodoxen Charakters seines theologischen Systems innerlich nicht voll 
der Kirche angehört. Seine Seele ist viel mehr auf die Vergöttlichung des 
Irdischen, auf die mitreissende Hingabe an das Göttliche in der Welt ge- 
richtet, als auf den transscendenten Gott der Kirche. Seine Religiosität 
ist stark ästhetischer Natur, und er gehört in jene Reihe von Mystikern, 
die sich bereits in einer von der Kirche fortgerichteten Geistesbewegung 

nden. 


Der zweite mächtige Trieb in ihm ist der politische. Auch hier wird 
deutlich, wie der irdische Mensch ungebrochen bleibt. Zwar empfangen 
auch die politische Leidenschaft und ihre Ideale eine höhere Weihe durch 
die Art, wie er sie als gottgesetzte rechtfertigt. Aber das Religiöse bleibt 
dienstbar, es wirft auf jene Ideen nur einen mystischen Schimmer, diese 
selbst sind das erste. 


In der Reihe der primären Tendenzen der Dantischen Seele steht die 
religiöse erst an dritter Stelle. . 


Die Analyse des Verfassers hat den Dichter vielfach wörtlicher ge- 
nommen, als es sonst geschehen. Das Ergebnis, das so ftir Dantes Person 
und seine Werke entstanden, empfiehlt sich durch seine einleuchtende 
Kraft nicht wenig. Ein Punkt aber hätte wohl eine nähere Behandlung 
verdient: die Willenseigenschaften des Dichters; mit der Erklärung des 
Verfassers: es habe ihm fast jeder Wille gefehlt (S. 146), steht ein Ausspruch 
Jakob Burckhardt’s im Gegensatz: „Welche Willenskraft setzt schon 
die unerschütterlich gleichmässige Ausarbeitung der Divina Commedia 
voraus.“ (Kultur der Renaissance I®, S. 148.) Ich weiss freilich, dass das 
Problem der „Abulie“ mancher geistigen Heroen noch keine tiefgehende, 
grundsätzliche Erörterung gefunden hat, 


Mit den an der Peripherie des behandelten Themas liegenden Er- 
örterungen des Verfassers bin ich nicht überall einverstanden. 


Berlin. Dr. K. Oesterreich. 


1) vorher bereits in der Revue philosophique. 


454 Selbstanzeigen (Levy). 


Selbstanzeigen. 


Levy, Heinrich, Dr. Kants Lehre vom Schematismus der 
reinen Verstandesbegriffe. Ein Erklärungsversuch. Erster Teil: 
Einleitung; Untersuchungen über die transscendentale Asthetik und die 
Analytik der Begriffe, esonders über die transscendentale Deduktion. 
Halle a. S., C. A. Kaemmerer & Co. 1907. (VIII und 1658.) 

Das „Hauptstück“, welches in der Kr.d.r. V. „von dem Schematismus 
der reinen Verstandesbegriffe“ handelt, will das Problem lösen, wie die 
Subsumtion von Anschauungen unter reine Verstandesbegriffe möglich sei. 
Zur Erfassung seines Sinnes muss man demnach wissen, einerseits was die 
Bedeutung der reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien und der Er- 
scheinungen ist, andererseits was Kant eigentlich unter Subsumtion versteht. 
Das Letztere ergiebt sich erst aus dem Schematismuskapitel selbst; das 
Wesen der ersteren hingegen offenbaren transscendentale Asthetik und 
Analytik der Begriffe, und eine Bekanntschaft mit diesen ist daher vor 
allem erforderlich. Immerhin muss es überraschen, dass der Untersuchung 
dieser beiden Abteilungen der Kr. d. r. V. fast der ganze bisher vorliegende 
erste Teil gewidmet wird. Der Grund hierfür ist dieser: Ich fand einen 
Hauptstrom, der transscendentale Asthetik und Analytik der Begriffe 
durchzieht, dessen Kenntnis allein die Einsicht in die Bedeutung des Schematis- 
mus mir zu gewährleisten schien, dessen oft schwer erforschbarer Lauf aber 
bisher nur streckenweise verfolgt und wohl gar nicht als einheitlich erkannt 
worden ist. Ich musste daher seine Einheitlichkeit nachweisen; die dazu 
erforderliche Beobachtung seiner verborgensten Teile aber implizierte eine 
Erforschung der von ihm durchströmten Gebiete und gewann damit eine 
vom ursprünglichen Zwecke unabhängige selbständige Bedeutung. M. a. W. 
kam es so zu dem Versuch, eine die transscendentale Asthetik und die 
Analytik der’ Begriffe beherrschende Tendenz konsequent zu verfolgen. 
Diese Tendenz aber besteht darin, dass ein Gegebenes durch eine 
allmählich fortschreitende Analyse zum Zwecke der Entdeckung der 
apriorischen Erkenntniselemente in seine feinsten Bestandteile zerlegt wird. 
Durch diesen einheitlichen Grundgedanken schliessen sich nun transscen- 
dentale Ästhetik und Analytik der Begriffe zu einem resolutiven (analy- 
tischen) Teil zusammen, weicher der Analytik der Grundsätze als kompo- 
sitivem (synthetischem) Teile gegenübertritt. Als wichtiges negatives 
Charakteristikum dieses resolutiven Teils ergibt sich, dass synthetische 
Urteile nicht der Gegenstand seiner Analyse sind, und zwar in dem Sinne, 
dass diese innerhalb seiner weder irgendwie zu ihnen gelangen, noch von 
ihnen als Gegebenem ausgehen oder auch nur sie als methodisches Mittel 
benutzen darf. Dem widerspricht allerdings die transscendentale Ästhetik 
so wie sie in der „Kritik“ vorliegt; gerade ihr gegenüber brauchten aber 
nur die Untersuchungen bedeutender Kantforscher über ihr Verhältnis zur 
transscendentalen Deduktion in der durch den Grundgedanken bedingten 
Form und in radikalster Konsequenz angewendet zu werden. Was ist 
aber das Gegebene, das analysiert wird? Ist es nicht doch die Erkenntnis, 
die in synthetischen Urteilen besteht? Es wird in dem Buch eigt, 

‚ wenn man von einer Analyse der „Erkenntnis“ in dem resolutiven 
Teil reden will, dies nur in einem ganz eigentümlichen, in der transscen- 
dentalen Deduktion vorkommenden Sinn möglich ist, welcher aber gerade 
die Bedeutung der Erkenntnis als Urteil ausschliesst. Sonst aber muss 
man sagen: Das zu Analysierende ist der Stoff der Erkenntnis, die „an- 
schauliche Welt“, womit eine vage populäre Vorstellung bezeichnet werden 
soll, die zwischen der Abbildtheorie und einer indifferenten, der kritischen 
Ansicht schliesslich verwandteren noch unklar schwankt. Mit welchem 
Recht Kant diesen Ausgangspunkt gewählt hat und durch welche mannig- 
faltigen und schwierigen Mittel aus dem Gegebenen die Elemente der Er- 
kenntnis gewonnen werden — darüber muss die Schrift selbst Auskunft 


Selbstanzeigen (Schultz). 455 


gie: Gerade auf die genaue Verfol der hierbei verwendeten 
ethoden der Forschung und Darstellung habe ich grossen Wert gelegt, 
in der Hoffnung, dass dadurch die Kenntnis der Methoden der Erkenntnis- 
theorie überhaupt gefördert würde, Ich hielt es dabei für geboten, Kants 
Prämissen nur aufzuweisen und zu entwickeln und alles möglichst in Ein- 
LS Fa bringen, meine eigne Ansicht über die Gru n zurückhaltend, 
um die Kantische Pro lösung als eine der Fabre ntworten anf die 
Fragen der Erkenntnistheorie in ihrer Reinheit vorzuführen. — Die Ein- 
teilung der eigentlichen Zaun des I. Teils wird hiernach verständlich 
sein: A. Die transscendentale Ästhetik als erstes Stadium der Analyse. 
B. Die Une Deduktion* als Fortsetzung der Analyse durch den 
Versuch der ous des reinen Verstandes. C. Die transscendentale 
Deduktion als Vollendung der Analyse, Die umfangreichste Untersuchung 
ist den beiden Redaktionen der transscendentalen Deduktion gewidmet. 
Nur dies eine Resultat sei erwähnt, dass die erste Redaktion sich als im 
wesentlichen einheitliche Analyse der anschaulichen Welt, und, da die 
Elemente dieser unbewusst sind, gewissermassen als eine Philosophie des Un- 
bewussten, in dieser ihrer Tendenz aber und in ihrer Komposition gerecht- 
ent erweist, während die zweite zwar versucht, mit andern Mitteln zu 
arbeiten, aber doch jener unbewussten Elemente nicht entraten kann und 
durch diesen Zwiespalt wie durch das Hineinspielen ganz fremder Motive 
mit Ausnahme des sehr ge en a § 26 als weniger gegliickte Darstellung 
D heinen, wos. Der TI Telliwird Nhmganankleren noch Wrpkosiugen 
st : er soll u. a, eine umfassende Bestimmung des Wesens der Kate- 
gorie enthalten und wird wahrscheinlich auch die Untersuchung der trans- 
scendentalen mppervention nochmals aufnehmen. Seine Disposition wird 
diese sein: 1, Interpretation des Schematismuskapitels. 2. Schematismus 
und Grundsätze. Vielleicht 3. Bedeutung des Schematismus für das ge- 
samte Kantische System. 
Den bisher charakterisierten Ausführungen des II. Abschnittes des 
I, Teils geht ein allgemeiner, die Disposition begründender und die Haupt- 
en bereits überblickender I. Abschnitt und eine Einleitung voraus. 
dieser wird aus den Grundvoraussetzungen der Kantischen Philosophie 
ihre Systematik gerechtfertigt, durch deren Verwerfung gewöhnlich auch 
die der Schematismuslehre be; det werden soll. Hiermit ist die Ein- 
leitung gegen Schopenhauers Kantkritik gerichtet, so wie der I, Abschnitt 
eine Nuance hervorhebt, welche die Herder-Hamannschen Einwände widerlegt. 
Friedenau. Heinrich Levy. 


Schultz, Julius, Die drei Welten der Erkenntnistheorie. 
Eine Untersuchung über die Grenzen zwischen Philosophie und Erfahrungs- 
wissenschaft. Göttingen, Vondenhoeck & Ruprecht. 1907. (IV und 104 S.) 

Der Zweck des Schriftchens ist, eine Anzahl von Missverständnissen 
zu beseitigen, die unsere heutige Erkenntnistheorie durchwachsen und 
unwegsam machen. Ich suche die alte, lichte, neuerdings von vielen ver- 
schmähte Gedankenstrasse, die über Locke zu Kant führt, als den einzigen 
Königsweg philosophischer Einsicht abermals zu erweisen. Wir gehen aus 
von der Welt des Naiven, die wir um uns „vorfinden“, wenn wir nach- 
zudenken anfangen; sie heisst mir die „erste Welt“. Innerhalb ihrer stossen 
wir auf Mitmenschen, die Verschiedenes thun und erleiden, unter anderm 
aber auch „wahrnehmen“. Analysieren wir nun den Vorgang der Perzeption, 
so finden wir auf die bekannte Art: dass die sinnlichen Qualitäten der 
Di subjektiv“ sein müssen, Damit aber kennzeichnet sich die erste 
Welt als „Ehänomenon«. Und’es bleibt hier das bewegte Nurquantitative, 


dort das Bewusstsein übrig. Diese Zweiheit bildet zusammen die „zweite 
Welt“; damit sie bestehen kann, wird der spiritualistische Parallelismus 
als metaphysische Ansicht erfordert. Unter dieser Voraussetzung werden 
alle physikalischen und psychischen Vorgänge prinzipiell begreiflich; jene 


mittels des Mechanismus der Atome, diese durch Zerfaserung der bewussten 
Komplexe in ihre Elemente. Damit jedoch ist ein neuer Schritt gegeben: 





466 Selbstanzeigen (Schultz). 


die kategorialen Tätigkeiten erscheinen in der Reihe der übrigen seelischen 
Prozesse; parallel mit Hirngeschehnissen, vom Bau der Hemisphären so 
abhängig wie etwa das Sehen von der Augenbildung. Sie selber werden 
„subjektiv“; auch die Welt Descartes’ und Lockes, die zweite, ist mithin 
als phänomenal anzusehen; und es bleibt als letzte Wirklichkeit das Be- 
wusstseinsmoment: die dritte Welt. Diese indessen ist zugleich das ab- 
solute Chaos: denn Ordnung schafft erst das „formende“ Denken. Es lässt 
sich auf dem festesten Urgrunde alles Wirkliche nicht bauen, ja es ist 
nichts mehr darüber auszusagen. 

Die wichtigsten der von mir bekämpften Irrtümer und Verwechs- 
lungen sind folgende: 

1. Die dritte Welt wird öfters als „Datum“ genommen und von ihr 
aus die erste, die wirklich gegebene Welt erst entwickelt. In der Tat 
aber darf jene nur als unbearbeitbare Grenzvorstellung gelten; sie macht 
klar, was unter Phänomenalismus verstanden werden muss — und orientiert 
die psychogenetischen Betrachtungen. 

2. Das empirische Ich der ersten Welt, das zu Verständniszwecken 
konstruierte Bewusstsein der zweiten und das erkenntnistheoretische Subjekt 
der dritten werden verwechselt, wodurch zahlreiche Widersprüche entstehen. 
Besonders merklich wird der Unterschied der drei „Ichheiten“ durch Folgen- 
des: für jenes empirische Ich und für das „Zweite“ gilt der Satz, dass ihre 
Wahrnehmungen von den „Dingen“ getrennt sind; in der dritten Welt 
dagegen ist alles Bewusstseinsinhalt. Der Grundfehler der Immanenz- 
philosophie nun ist es, letztere These auch auf die erste Welt anzuwenden. 

3. „Erscheinung“ wird noch immer häufiger mit „Schein“ verwechselt. 
Tatsächlich aber enthält die erste Welt, die der Erscheinung, alles Leben, 
alle Wahrheit und alle Werte in sich. Die dritte Welt d n, die der 
absoluten Gewissheit, bietet gar keine Wahrheiten, da sich Urteile über 
sie nicht fällen lassen. 

4. Die zweite Welt, die der analytischen Psychologie und des 
mechanistischen Atomismus, ist eine Konstruktion. Man thut aber Unrecht, 
wenn man hier das Adjektiv „willkürlich“ einschiebt. Vielmehr konstruieren 
. wir notwendig so, wie wir das All verstehen wollen. Wir dürfen nicht 
sagen: das Licht „sei“ in Wahrheit eine Schwingung des Äthers — oder 
das Vergleichen bestehe aus einer Assoziation von denundden Organ- 
empfindungen mit denundden Bildern; sondern: vorausgesetzt, dass wir 
das Vergleichen oder das Licht begreifen möchten, müssen wirannehmen, 
es „wäre“ dieses und jenes der Fall. 

Es dürfte nützlich sein, die Gebiete scharf zu trennen: die erste 
Welt gehört dem praktischen Menschen, dem Künstler, dem Forscher; 
die zweite ausschliesslich dem Philosophen. 

5. Die Einwürfe, die gegen den physiologischen Beweis für den 
Idealismus erhoben werden, suche ich zu widerlegen; ebenso die Angriffe 
auf den Parallelismus. 

Und wie verhält sich all das zu Kants Lehre? 

In ihr kreuzen sich zwei Gedankengänge; man muss sie auseinander- 
strähnen, um klar zu sehen. Der erste beginnt bei Plato. Dass es Er- 
kenntnis giebt, wird angenommen; sodann die Bedingungen aufgesucht, 
unter denen sie möglich ıst; und endlich diese Voraussetzungen alles Er- 
fahrens als System der Apriori geordnet. Damit jedoch ist noch nichts 
darüber gesagt, ob dieses Apriori subjektiv — oder vielleicht, wie die 
Akademie wollte, mit dem Wesenskern der Welt identisch ist. Zum 
Phänomenalismus vielmehr führt eine zweite Schlusskette, die — trotz 
aller Proteste Kants wider die „Anthropologen‘“ — auf „psychologistischen“ 
Voraussetzungen beruht. Ich verfechte hier wie sonst die Ansicht: nur 
wenn die Kritik in diesem Sinne ungefärbt wird, überzeugt sie und bietet 
allen Einwürfen Trotz; nur der „psychologistisch“ gedeutete Kant liefert 
die geeignete Grundlage für weiteres Nachsinnen. | 

Berlin. J. Schultz. 


Selbstanzeigen (Jacoby), 457 


Jacoby, Günther. Herdersund Kants Ästhetik. Leipzig, 
Diirr'sche Buchhandlung. 1907. (X und 348 S.) 

Das Buch ist als erster — wenngleich selbständiger — Teil eines 
‚grösseren Werkes gedacht, welches Herders Kampf gegen Kant behandeln 
soll. Dieser Kampf bedarf durchaus einer gründlicheren Bearbeit und 
er verdient grössere Aufmerksamkeit, als ihm bisher von der ‚chen 
Philosophie zuteil geworden ist. Es handelt sich in ihm keineswegs nur 
um einen Gegensatz zwischen gelehrten Büchern: etwa den drei Kritiken 
einerseits, der Metakritik und der Kalligone andrerseits; sondern es handelt 
sich um den ganz bestimmten Ge; tz zwischen zwei wissenschaftlichen 
Lebenskräften, welche beide die Philosophie des 19. Jahrhunderts richtung- 

‘bend gestalteten, und die an historischem Schwergewicht einander 
lurchaus ebenbürtig waren. Von diesen Lebenskräften sind die drei 
Kritiken und Herders Streitschriften nur charakteristische Kennzeichen. 

Auf dem Gebiete der Ästhetik dürfte Herder noch am ehesten auch 
ein entgegenkommendes Interesse von Seiten der Fachgelehrten rechnen. 
Hier ist es besonders deutlich ersichtlich, dass er, der feinsinnige und 
liebevolle Kenner alles Schönen dem zwar scharfsinnigen aber doch auch 
nüchternen, ja hausbackenen Geiste Kants ebenbürtig gegenüber treten 
konnte. Mit den Fragen der Ästhetik hatte sich Herder von früher Jugend 
an beschäftigt. So brauchte er im Kampfe gegen Kant nur das systematisch 
niederzulegen, was er so oder anders schon längst gedacht hatte, und was 
ausgereift war. 

Die allgemeinen Fragen nach den Vorbedin; n für Herders und 
Kants Ästhetik beschäftigen den ersten Teil des han oman Buches. 
Er enthält fünf Kapitel, die von Herders Bedeutung für die Geschichte 
der Philosophie, von der Erfassung des Buchthemas, von der Beurteilung 
des Herderschen Kampfes im 19. Jahrhundert, von den Gewährsmännern 
Herders und Kants, und von Herders Ästhetik vor dem Ausbruche des 


Streites handeln. — Besonderen Wert hee ich auf den Nachweis der Unab- 
ler 


hängigkeit der Ästhetik des jungen H von Kant, sowie auf die Auf- 

deckung bestimmter Beziehungen Kants zu Baumgarten und durch Baum- 
n zu Mendelssohn. Neu und der üblichen Urteilsweise entgegengesetzt 

ae die Art der Einstellung der Kalligone unter die übrigen Schriften 
rs, 

Der zweite Teil des Buches enthält eine systematische Darstellung 
der in der Kalligone enthaltenen Asthetik. Es war mein Bestreben, die 
Darstellung dieses zweiten Teiles besonders durchsichtig zu gestalten, um 
der künftigen Forschung die äusserst mühselige Arbeit einer Durchdringung 
der Kalligone zu erleichtern. Auch wünsche ich, dass meine Bemühungen 
dazu hinreichten, der heute üblichen Behauptung ein Ende zu machen, 
als entspräche der äusseren Gestaltlosigkeit der Kalligone eine innere 
Systemlosigkeit, Im, Gegensntze zn dieser Behauptung versucht das erste 
Kapitel des zweiten Teiles die allgemeinsten Grundlagen der Herderschen 
Ästhetik herauszuschälen. Das zweite Kapitel handelt von dem ästhetischen 
System der Musik; das dritte und vierte von der a und be- 
sonderen Ästhetik des Lichtsinnes; das fünfte von der etik der Poesie. 
Ein sechstes Kapitel sucht das bisher stets übertriebene und verschobene 
Verhältnis zwischen Herders Ästhetik und seiner Naturphilosophie in 
richtigere Beleuchtung zu rücken. 

Der letzte, dritte Teil des Buches behandelt die age nach der 
Bean Bedeutung der Herderschen Probleme in der Ästhetik 

nts. Es bedurfte hierzu einer sorgfältigen Scheidung zwischen dem 
eigentlich kritizistischen Wesen der Kritik der Urteilskraft, nämlich der 
Entdeckung des ästhetischen Apriori einerseits, und der den Unterbau 
jenes Apriori bildenden normalen Ästhetik, nämlich der systematischen 

ee aller ästhetischen Erlebnisse überhaupt, andrerseits. Nur 
mit dieser Interpretationsästhetik, nicht mit jenem kritizistischen Gedanken 
eines ästhetischen Apriori kann Herders Kalligone billig verglichen werden, 





458 Selbstanzeigen (Hoffmann). 


eee m ästhetischen 
hiloso] ia die Sondertragen ‘der Musikästhetik, der 
jer Erhabenheitstheorie und der Theorie des Ideals: 


fahren Kants in ihrer Bedeutung fiir die Winsetechatt ler 
hanpt zu erfassen. Vielleicht vermögen diese a bn ther die 
Grenzen, die das Buch selbst sich stecken m hin 
detailliertes Inhaltsverzeichnis und vier Register nicht. nur dei e ne 
gelegentlichen Benutzung des Buches selbst ihren Dienst leisten, 
vor allem auch ein Studium aller hörigen Stellen aus der 
und der Kritik der Urteilskraft ermöglichen. 
Königsberg. Günther Jacoby, 


Hoffmann, Karl, Dr. phil. Die Umbildung der Kantischen 
Lehre vom Genie in Schellings System des transscendentalen 
Idealismus. Bd. LIT der „Berner Studien zur Philosophie und 
Geschichte‘, hera: eben von Dr. Ludwig Stein, Professor an der Uni- 
versität Bern. Bern, Scheitlin, Spring & Co., 1907. (IV und 68 S.). 

Die vorliegende Schrift (sie ist keine Dissertation, wie es mi 
weise den Anschein haben könnte) geht auf persönliche Anregungen ae 
die der Verfasser vor Jahren von dem inzwischen verstorbenen 
Haym erhalten hat, und für die er dem Geiste des Verstorbenen heute 
noch dankt. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, darzuthun, wie sich der im 
S. d. tr. Jd, enthaltene ästhetische Idealismus Schellings, der dort — in 
seinem ersten Stadium — in dem Begriff der Genialität gipfelt, aus der 
Kr. d. Ukr. entstammenden Gedanken “entwickelt hat; ae will sie die 
Umbildungen aufzeigen, welche sich in der Bedeutung der 
Gedanken dadurch vollziehen mussten, dass diese von dem kritischen 
Idealismus Kants aus durch einen konstruktiven Idealismus Fi 
Herkunft durchgingen. 

Die Arbeit zerfällt in drei Teile. Der erste Teil versucht es, den 
Gehalt der theoretischen und der praktischen Philosophie des S. d. tr. Id., 
insoweit er für die Absicht des Verfassers in Betracht kommt, knapp zu 
skizzieren und alsdann zu zeigen, wie in der Teleologie und Kunstphilo- 
sophie dieses Systems Kants Prinzip der Zweckmässigkeit wiederkehrt, aber 
aus einem regulativen Prinzip zu dem für die in Produktionen verlaufende 
ae des Selbstbewusstseins konstitutiven Prinzip überhaupt ge- 
worden ist. 

Eine vergleichende Darstellung von Kants Lehre vom Genie und 
der Kunstphilosophie im S. d. tr. Id, die das Selbstbewusstsein Bun der 
Entwickelungsphase der ästhetischen Produktion, d. i. die 
genz, zum Gegenstand hat, ist Aufgabe des zweiten Teils, Der Ve 
gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass Schellings Begriff des Genies bloss 
eine Wiederholung der Kantischen Genielehre ist, tak gleichsam bei 
gänzlich verschobener Position. Aus dieser Verschiebung der Position 
resultiert als hauptsichlichster Unterschied der folgende: Die V 
des Sittlich-Praktischen mit dem Thevretischen wird im Sinne Sch 





Selbstanzeigen (Willems). | 459 


Der dritte Teil unternimmt es zunächst, in Schellings transscenden- 
taler Kunstphilosophie Unstimmigkeiten blosszulegen, die sich daraus er- 
gaben, dass Schelling aus der Ästhetik Kants Gedanken aufzunehmen ver- 
sucht hat, für die innerhalb des S. d. tr. Id. kein Platz mehr sein konnte. 
Diese Gedanken sind nach der Ansicht des Verfassers die Lehren von der 
Interesselosigkeit des ästhetischen Wohlgefallens, vom Schönheitsideal, 
von dem möglichen Gegensatz zwischen Genie und Geschmack und von 
der essentiellen Verschiedenheit von Genie und Wissenschaft. Die Er- 
örterung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Genie und Wissenschaft 
wird notwendig zu einer Erörterung der Frage nach dem Verhältnis 
zwischen Kunst und Philosophie. Es wird versucht, anzudeuten, wie im 
S. d. tr. Id. und mehr noch innerhalb des bald darauf folgenden eigent- 
lichen Identitätsystems das Grundprinzip der Philosophie und zugleich 
auch der Gegenstand des Philosophierens selbst ästhetisiert erscheinen. 
Bereits im S. d. tr. Id. ist die Entwickelung des Selbstbewusstseins nur 
aus der Tendenz zur künstlerischen Produktion zu begreifen; und durch 
den Dogmatismus des eigentlichen Identitätssystem hat sich das Wesen 
der künstlerischen Produktion auf den absolut verselbständigten universalen 
Seinsprozess übertragen, das gesamte Weltbild zeigt einen Charakter, der 
ursprünglich der Charakter des Genieprodukts war. 

arlottenburg. Karl Hoffmann. 


Willems, C., Dr. Prof. der Philosophie am Priesterseminar zu Trier. 
Die Erkenntnislehre desmodernen Idealismus Paulinus-Druckerei. 
Trier. 1906. 127 Seiten. 

Mit Recht hält man die Erkenntnislehre für den Schlüssel zur ganzen 
Philosopbie; denn gerade hier scheiden sich die Wege der philosophischen 
Forscher, und von dem Standpunkt, den man in der Erkenntnistheorie 
einnimmt, ist auch die Stellung zu den metaphysischen Fragen bedingt. 
Wenn daher das Erkenntnisproblem schon von jeher in der Philosophie 
eine zentrale Stellung einnahm, so wurde es seit Kant geradezu zur alles 
beherrschenden Disziplin in dem Masse, dass manche Philosophie und Er- 
kenntnislehre für identisch halten. Die Richtung nun, welche die Er- 
kenntnislehre seit Kant eingeschlagen hat, ist die idealistische, und sie 
liegt den meisten Systemen zu Grunde, welche heute die Philosophie in 
Deutschland beherrschen. 

Die oben angezeigte Schrift will nun diese idealistische Erkenntnis- 
lehre in ihren verschiedenen Richtungen zur Darstellung bringen, indem 
sie untersucht, wie dieselbe sich zu den zwei Hauptfragen des Erkenntnis- 
problems stellt: 1. Welches ist das Verhältnis der Sinneswahrnehmung zu 
den Objekten der Aussenwelt? 2. Welches ist das Verhältnis der geistigen 
Erkenntnis zur sinnlichen? Diese Untersuchung geschieht in der Weise, 
dass die Hauptvertreter der idealistischen Erkenntnislehre in ihren eigenen 
Ausserungen vorgeführt, und dann die Grundlage, der Zusammenhang und 
die Konsequenzen ihrer Anschauungen kritisch gewürdigt werden. Eine 
besondere Eigenart der Schrift, welche im allgemeinen auf dem Boden 
der aristotelisch-scholastisehen Philosophie steht, ist die, dass die idealis- 
tischen Theorien mit der peripatetischen Auffassung des Erkenntnisproblems 
beständig in Vergleich gezogen und deren Übereinstimmungen oder Ab- 
weichungen charakterisiert werden. Ursprung und Bestimmung der Schrift 
bedingten eine leicht fassliche Form der Darstellung, damit auch weitere 
Kreisen die Auffassung des schwierigen Problemes ermöglicht bezw. er- 
leichtert werde. 

Trier. C. Willems. 


Mitteilungen. 
Mitteilungen. 
Ein ungedruckter Brief Kants, 

Ein in der Berliner Akademieausgabe nicht enthaltener Brief 
Immanuel Kants wird in der No. 39 der „ ju RÉ a 
Band 72, Herausgeber Dr. Adolf Heilborn, V von Hesse A 
Leipzig) von Dr. Adolf Kohut mit ausführlicher Einleitung veröffent- 


licht. Der Brief ist ein Begleitschreiben zweier Abhandh Kants 
(„Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte* und 


im Denken orientieren ?“), die der Phi 
Spener in Berlin erscheinenden en Monatsschrift* anbietet. 


Berlini 
ie Aufsätze, um die es sich handelt, sind in der erwähnten Monatsschrift 
abgedruckt, und zwar im siebenten Band, erstes Stück, Januar 1786, und 
im achten Band, zehntes Stück, Oktober 1786. Das interessante Schreiben, 
das sich unter den Autographenschätzen der Königlichen öffentlichen 
rtiana“ befindet, wurde 


Bibliothek in Dresden, und zwar unter den ,Ebe et, 
Herrn Dr. Kohut von dem Oberbibliothekar zur Verfiigung gestellt; es 
hat folgenden Wortlaut: 

‚Inliegende Stücke überliefere ich, wiirdigster Freund, zum be- 
liebigsten Gebrauch; legentlich wünsche ich wohl zu vernehmen, 
nicht sowohl was das Publicum davon beifallswürdig, sondern noch zu 
desideriren finden möchte. Denn in dergleichen Aufsätzen habe ich 
zwar mein Thema vollständig durchdacht, aber in der Ausführung 
habe ich immer mit einer gewissen Hinnei; zur Weil it zu 
kämpfen, oder ich bin sozusagen durch die Menge der Dinge, sich 
zur vollständigen Entwicklung darbieten, so belästigt, dass über dem 
Weglassen manches Benötigten die Vollendi der I die ich doch 
in meiner Gewalt habe, zu fehlen scheint. r Wink eines einsehen- 
den und aufrichtigen Freundes kann hierbei nützlich werden, So 
möchte ich manchmal wohl wissen, welche Fragen das Publicum wohl 
am liebsten aufgelöset wissen möchte. 

Nächstens werde ich in zwey von den bisherigen verschiedenen 
Felder ausschweifen, um den Geschmack des gemeinen Wesens zu er- 
forschen. Da ich beständig über Ideen brüte, fehlts mir nicht an Vor- 
rath, wohl aber an einem bestimmten Grunde der Auswahl, desgleichen 
an Zeit, mich abgebrochenen Beschäftigungen zu widmen, da ich mit 
einem ziemlich ausgedehnten Entwurfe, den ich gern vor dem herran- 
nahenden Unvermögen des Alters ausgeführt haben möchte, i, 
bin, Meine moralische Abhandlung war etwa 20 Tage vor Mi 
bei Grunert in Halle, aber er schrieb mir, dass er sie auf die Messe 
nicht fertig schaffen könnte, und so muss sie bis zu Ostern liegen 
bleiben, da ich dann von der Erlaubnis, die Sie mir gegeben, Gebrauch 
machen werde, 

Ich bin mit der vollkommensten Hochachtung 

Ihr ergebener 
1. Kant. 
Königsberg, den 31. Dezember 1784.“ 


Berichtigungen. 
Auf S. 407, Z, 14 v. o. statt Toggart muss es heissen ‚gart. 
; 1906 ie 


mm 408, , 18, nm won 
” Lect. ” Sect. 
u Persönichkeit ,, Persönlichkeit, 
a ‘Mollet ; Mollat, 





Kantgesellschaft. | 461 


Kantgesellschaft. 





Generalversammlung am 22. April 1907. 


Die allgemeine Mitgliederversammlung hat statutengemäss am 
22. April d. J. in den Räumen des Universitätskuratoriums hier statt- 
gefunden, nachdem im ersten Heft des laufenden Bandes S. 152 (aus- 

geben 10. Februar 1907) orduungsgemäss die Einladung dazu unter 
gabe der Tagesordnung ergangen war. 

Es wurde zuerst die im obengenanntem Heft S. 146-149 abge- 
druckte Jahresrechnung für 1906 abgelegt, und dem Geschäftsführer 
seitens der Versammlung Entlastung erteilt. 

Der Antrag auf „eine formelle Anderung der Statuten betr. die 
Bezeichnung ‚Vorstand‘ mit Bezug auf das Vereinsgesetz“ wurde ein- 
stimmig angenommen; es wurde zum Zweck der definitiven Kormulierung 
der bezüglichen Änderungen ein Redaktionsausschuss ernannt, bestehen 
aus den Herren Geh. Reg.-Rat G. Meyer, Universitätskurator, und Biblio- 
theksdirektor Dr. Gerhard, sowie dem Unterzeichneten, wobei denselben 
Vollmacht erteilt wurde, den Statuten die für diesen Zweck passendste 
Formulierung zu geben. 


Darauf erfolgte die Wahl der wechselnden Mitglieder des Ver- 
waltungsuusschusses, sowie des Geschäftsführers. Die bisherigen Herren 
wurden wiedergewählt. Darnach besteht die Vertretung der Kantgesell- 
schaft für das Jabr 1907 aus folgenden Personen: 


Vorstand: der Kurator der Univ., Geh. Reg.-Rat G. Meyer, 
übri Professor Dr. Ebbinghaus, 
Mit, Meder Professor Dr. Busse, 
es Geh. Justizrat Dr. jur. et phil. (h. c.) Stammler, 
Verwaltungs- | Direktor der Universitätsbibliothek Dr. Gerhard, 
ausechusses: Geh. Kommerzienrat Dr. & c.) Lehmann, 
* (Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Vaihinger, Geschäftsführer. 


Leider ist Professor Dr. Ludwig Busse, welcher der General- 
versammlung am 22. April beiwohnte, nach dieser einmaligen Betätigung 
seines im Übrigen so warmen Interesses für unsere Gesellschaft uns der 
Universität und der Wissenschaft am 12. September jäh und viel zu früh 
entrissen worden. 


Zum Schlusse erfolgte die Verkündigung des Resultates des ersten 
Preisausschreibens der Kantgesellschaft: „Kants Begriff der Erkenntnis, 
verglichen mit dem des Aristoteles“, sowie die Eröffnung der verschlossenen 
Zettel mit den Namen der Preisträger. Das Resultat ist schon im vorigen 
Heft S. 268 mitgeteilt worden. 


Diese Mitteilung über die Generalversammlung vom 22. April erfolgt 
erst jetzt, weil die in derselben beschlossene Anderung der Statuten erst 
nach Erscheinen des vorigen Heftes die Genehmigung seitens des hiesigen 
Amtsgerichts gefunden hat, welche bei „Eingetragenen Vereinen“ not- 
wendig ist. Daher erfolgt der Abdruck der jetzt giltigen Statuten auch 
erst in diesem Hefte, 


Halle a. S., Ende September 1807. 


H. Vaihinger, 
Geschäftsführer. 


Kantstudien XII, 80 


Bei Gelegenheit des hundertjährigen Todestages Immanuel Kants 
— 12. Februar 1904 — hat sich auf Anregung des Professors Dr. Vaihinger- 
Halle eine Kantgesellschaft gebildet, deren Satzungen in der ersten 
Mitgliederversammlung am 22. April 1904 beschlossen worden sind und 
nach den Abänderungen auf Grund der Beschlüsse der Mitgliederversamm- 
lungen am 22. April 1905 und am 22. April 1907 folgendermassen lauten: 


§1. 

Die Kantgesellschaft hat ihren Sitz in Halle a. S. und ist dort ins 
Vereinsregister eingetragen. Sie verfolgt den Zweck, das Studium der 
Kantischen Philosophie zu fördern und zu verbreiten. Sie will dies 
erreichen: 

a) durch Unterstützung eines der Kantischen Philosophie besonders 
gewidmeten Organs, zur Zeit der seit 1896 bestehenden philoso- 
phischen, in zwanglosen Heften erscheinenden Zeitschrift „Kant- 
studien“; 

b) durch andere, zur Förderung und Verbreitung der Kantischen 
Philosophie geeignete Massregeln, so durch Veranstaltung von 
Preisausschreiben, durch Unterstützung von Publikationen (eventuell 
auch von Dissertationen) über Kant und die von ihm ausgehende 
Lehre, durch Verleihung von Ehrengaben an verdiente Kant- 
forscher, durch Stipendien an jüngere Gelehrte (insbesondere an 
Privatdozenten) Kantischer Richtung oder verwandter Richtungen 
und dergleichen, 

Sollte es jemals an wissenschaftlichen Bestre Kantischer 
oder verwandter Richtung fehlen, so können die Mittel auch zur Förderung 
und Unterstützung der Philosophie und ihrer Vertreter im allgemeinen 
verwendet werden. 

82 

Die Unterstützung der jeweils als Vereinsorgan dienenden Zeitschrift 
erfolgt in erster Linie durch Bereitstellung von Mitteln zur Gewinnung 
tüchtiger Mitarbeiter und zur Beschaffung sonstiger geeigneter Beiträge. 
Je nach Umständen kann die Unterstützung der Zeitschrift in anderer Art 
erfolgen. Die Zeitschrift erhält auf dem Titel den Zusatz „mit Unter- 
stützung der Kantgesellschaft herausgegeben“. 


83. 

Die Verausgabung der vorhandenen Mittel zu den in § 1 Abs, a sowie 
in $ 2 genannten Zwecken ist Aufgabe der Redaktion der Zeitschrift, Sie 
untersteht in dieser Hinsicht der Aufsicht des Verwaltungs-Ausschusses 
und hat demselben auf Verlangen jederzeit, insbesondere aber nach dem 
Abschluss eines jeden Bandes der Zeitschrift, über die statutengemässe 
Verwendung der Mittel Rechenschaft abzulegen. Die Redaktion empfängt 
durch die Hand des Geschäftsführers resp. Kassenführers die für ihre 
Zwecke bewilligten Mittel. 





Satzungen der Kantgesellschaft. 


3) der Kassenführer, ro BE Du 
4) der Verwaltungsausschuss, 
5) die allgemeine Mitgliederversammlung. 


§ 5. 
Nora der Gesellschaft ist der jedesmalige Kurator der Univer- 
sität Halle-Wittenberg, oder sein Stellvertreter. Sollte das Amt eines Kurators 
jemals wegfallen, so tritt an seine Stelle der jedesmalige Rektor oder dessen 
- Stellvertreter. Der Vorstand leitet die Sitzungen des Verwaltungsaus- 
schusses, sowie die allgemeinen Mitgliederversammlungen; in dieser Funktion 
kann ihn der Geschäftsführer in Behinderungsfällen vertreten. Der Vor- 
stand vertritt die Gesellschaft gerichtlich und aussergerichtlich. Wenn in 
Folge mangelhafter Beteiligung keine Mitgliederversammlungen zu Stande 
kommen, und wenn für die übrigen Ämter der Gesellschaft sich keine 
geeigneten Persönlichkeiten finden, so kann der Vorstand allein auch alle 
übrigen Organe der Gesellschaft auf unbestimmte Zeit vertreten. Hi 


§ 6. 

Der Geschäftsführer wird in der Mitglieder-Versammlung ge- 
wählt. Kommt eine solche nicht zustande, so gilt der bisherige Ge- 
schäftsführer als wiedergewählt. Will er das Amt nicht wieder annehmen, 

-so hat der Vorstand das Recht, einer dazu geeigneten Persönlichkeit das 
Amt bis zur nächsten Mitglieder-Versammlung zu übertragen. 

Der Geschäftsführer hat die Korrespondenz der Gesellschaft zu 
führen, alle auf diese bezüglichen Schriftstücke aufzubewahren und neue 
Mitglieder zu werben. Er hat ferner die Kasse der Gesellschaft, abgesehen 
von dem als Kantstiftung ($ 12) bezeichneten Fonds, zu verwalten und 
insbesondere die Mitgliederbeiträge einzuziehen. Es kann auch ein be- 
sonderer Kassenführer von der Mitglieder-Versammlung bestellt werden, 
der zugleich zum Stellvertreter des Geschäftsführers erannt werden kann. 


87. 

Der Verwaltungsausschuss besteht in der Regel aus mindestens 
7 Personen. Seine ständigen Mitglieder sind: der den Vorsitz führende 
Vorstand, der Geschäftsführer und der ev. Kassenführer sowie die ordent- 
lichen Professoren der Philosophie an der Universität Halle, falls sie nicht 
ausdrücklich ablehnen. 

Die anderen wechselnden Mitglieder werden für jedes Jahr in der 
allgemeinen Mitgliederversammlung durch einfache Stimmenmehrheit ge- 
wählt; kommt eine Versammlung nicht zu Stande, so gelten diese bisherigen 
Mitglieder des Verwaltungsausschusses als wiedergewählt. Nehmen sie 
das Amt nicht an, so kann der Vorstand geeignete Persönlichkeiten zu 
Mitgliedern des Verwaltungsausschusses bestimmen. Der Verwaltungsaus- 
schuss hat auch das Recht, sich über die Zahl 7 hinaus durch weitere 

ete Personen zu ergänzen. 

Der Verwaltungsausschuss, dem der Geschäftsführer und der Kassen- 
führer jederzeit Rechenschaft abzulegen schuldig sind, entscheidet über die 
Verwendung der verfügbaren Mittel, sowie über alle sonstigen wichtigen 
allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft, Der Verwaltungsausschuss 
entscheidet insbesondere über alle von der Gesellschaft einzugehenden Ver- 
pflichtungen. Darauf bezügliche Schriftstücke, Verträge u. s. w. werden 


30* 





464 Satzungen der Kantgesellschatt. 


jedoch vom Vorstand allein unterzeichnet. Die Sitzungen des Verwaltungs- 
ausschusses werden, nach Benehmen mit dem Vorstand, von dem Geschäfts- 
führer einberufen. Auch auf Verlangen des Vorstandes oder von mindestens 3 
der übrigen Mitglieder des Verwaltungsausschusses hat der Geschäftsführer 


Stimmenmehrheit der Anwesenden. Bei Stimmengleichheit 

Stimme des Vorsitzenden. Die Angelegenheiten This 
auch durch Umlauf erledigt werden; doch ist auf Verlangen auch nur eines 
Mitgliedes dann an Stelle des Umlaufes eine Sitzung anzuberaumen, 


§ 8 

DieMitglieder-Versammlung findetmindestenseinmaljährlich,am 
22. April, dem Geburtstage Kants, statt und zwar, wenn nichts Anderes bestimmt 
wird, Nachmittags 6 Uhr in den Räumen des Kuratoriums der Universität 
Halle. Regelmässige Gegenstände dieser Mitglieder-Versammlung sind: 

1. Ablegung der Rechnung, 
2. Wahl des Geschäftsführers und ev. des Kassenführers, sowie der 
anderen wechselnden Mitglieder des Verwaltungsausschusses. 

Aus dringenden Gründen kann der Vorstand diese ordentliche Mit- 
glieder-Versammlung auf einen anderen Tag verlegen. Kann in diesem 
Fall die Einberufung der Mitglieder nicht mehr rechtzeitig durch das Vereins- 
Organ, die Zeitschrift, erfolgen, so sind alle Mitglieder schriftlich einzuladen. 

Der Vorstand beruft durch den Geschäftsführer eine ausserordent- 
liche Mitglieder-Versammlung, wenn eine wichtige, bei der Einberufung 
besonders zu bezeichnende Veranlassung vorliegt. 

In allen Fragen entscheidet die einfache Stimmenmehrheit; bei 
Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Vorsitzenden. Den Vorsitz 
führt der Vorstand, in dessen Behinderung der Geschäftsführer. 

Der Mitglieder-Versammlung wird die vom Verwaltungs-Ausschuss 
revidierte Übersicht der Einnahmen und Ausgaben zur Entlastung vor- 
gelegt. Änderungen der Satzungen kann die Mitglieder-Versammlung -nur 
vornehmen, insofern dadurch die in § 1 und § 2 niedergelegten Grund- 
bestimmungen der Gesellschaft nicht berührt werden, Unabänderlich sind 
ferner die im § 12 und 13 enthaltenen Bestimmungen über den als Kant- 

ig bezeichneten Fonds. 

Die Protokolle der Mitglieder-Versammlung werden vom Vorsitzenden 
und vom Protokollführer unterzeichnet. 


89. 

Mitglied der Gesellschaft kann jeder Freund der Kantischen Philo- 
sophie werden, Auch Korporationen, Bibliotheken u. s. w. können die 
Mitgliedschaft erwerben. Die Aufnahme vollzieht der Geschäftsführer; 
in fraglichen Fällen entscheidet der Verwaltungsausschuss über die Auf- 
nahme. Die Mitglieder sind teils Jahres-Mitglieder, teils Dauer-Mitglieder. 
Beide Formen des Beitritts sind vereinbar. 

Die Mitgliederversammlung kann für besondere Verdienste die Ehren- 
mitgliedschaft der Kantgesellschaft verleihen. 

§ 10. 

Jahres-Mitglieder zahlen einen regelmässigen jährlichen Beitrag, 
der bis auf weiteres auf 20 Mark festgesetzt ist, Die Jahres-Mitglieder er- 
halten, die Zeitschrift und eventuelle sonstige Gesellschaftsschriften (z. B. 
die Ergänzungshefte zur Zeitschrift u. a.) unentgeltlich und portofrei zu- 
ei Die Namen der Jahres-Mitglieder werden in einer gemeinsamen 

Liste alljährlich in der Zeitschrift veröffentlicht, Ist der Jahresbeitrag 





Satzungen der Kantgesellschaft, 465 


bis zum 1. Februar nicht bezahlt, so wird der Säumige schriftlich vom 
Geschäftsführer gemahnt. Ist dies erfolglos, so erfolgt die Einziehung 
des Beitrages durch Postauftrag. Der Austritt aus der Gesellschaft ist 
dem Geschäftsführer schriftlich bis zum 1. November mitzuteilen, anderen- 
falls ist der folgende Jahresbeitrag noch zu entrichten. 


| 8 11. 

Dauer-Mitglieder sind solche, welche an die Gesellschaft einen 
einmaligen Beitrag von mindestens 25 Mark zahlen. Wenn der einmalige 
Beitrag mindestens 400 Mark beträgt, so erhält der Spender die Zeitschrift 
und die anderen Gesellschaftsschriften auf Lebenszeit unentgeltlich und 
portofrei zugesendet. Letzteres gilt auch für Ehrenmitglieder, soweit sie 
nicht die Zeitschrift u. s. w. bereits aus anderen Gründen erhalten. 

Einmalige Beiträge unter 25 Mark werden als Geschenke betrachtet, die 
kein Stimmrecht in der Mitglieder-Versammlung gewähren, doch können solche 
Spender als ausserordentliche Mitglieder an allen Mitglieder-Versammlungen 
sowie an etwaigen anderen Veranstaltungen der Gesellschaft teilnehmen. 

Die Namen der Spender einmaliger Beiträge werden mit Angabe 
der Summen gleichfalls in der Zeitschrift veröffentlicht. 


§ 12. 

Die in § 11 erwähnten einmaligen Beiträge werden zu einem Fonds 
vereinigt, welcher die Bezeichnung Kantstiftung erhält und mündelsicher 
angelegt wird. Die Kantgesellschaft kann nur über die Zinsen verfügen. 
Das Kapital selbst nebst etwa späterem Zuwachs desselben ist unangreifbar, 
wird der Universität Halle als Eigentum überwiesen und untersteht der 
Verwaltung des Universitäts-Kurators, oder desjenigen, der nach $ 5 an 
seine Stelle tritt. Die Zinsen stellt derselbe dem Geschäftsführer zur Ver- 
fügung. Über die Verwendung derselben siehe 8 1 bis 8 und § 7. 


§ 13. 

Wenn sich die Kantgesellschaft auflöst, so fallen ihre sämtlichen 

verfügbaren Mittel der Kantstiftung (§ 12) anheim, 

Die Universität Halle kann von da an über die Zinsen der Stiftung 

nach folgenden Bestimmungen verfügen: 

a) Besteht die von der Kantgesellschaft bis dahin unterstützte Zeit- _ 
schrift noch fort, und ist sie der Unterstützung noch würdig, so 
finden die Zinsen zu den in § 1 Abs. 1, Lit. a und in $ 2 ge- 
nannten Zwecken in erster Linie Verwendung. 

b) Trifft diese Voraussetzung nicht zu, so werden die Zinsen aus- 
schliesslich zu den in $ 1 Abs. 1, Lit. b und Abs. 2 genannten 
Zwecken verwendet, und zwar ohne Beschränkung auf Angehörige 
der Universität Halle. 

c) Ist zeitweise eine satzungsgemässe Verwendung der Zinsen oder 
eines Teiles derselben nicht angezeigt, so werden die Zinsen zum 
Kapital geschlagen. 

d) Der Senat ernennt aus Angehörigen der Universität eine mindestens 
dreigliedrige Kommission, welche über die Verwendung der Zinsen 
beschliesst, | 

e) Die Verwendung der Zinsen bedarf der Bestätigung des Universitäts-. 
Kurators oder desjenigen, der nach $ 5 an seine Stelle tritt. 


Die „Kantgesellschaft“ ist am 28. Januar 1905 beim Kgl. Amtsgericht 
Halle a. S. in das Vereinsregister eingetragen worden unter No. 74. 


Sach-Register. 





Abbildtheorie 69. 230 f. 465. 

Asthetik 457. 

Affektion 77 f. 390. 

Algebra 35. 

Aligemeingiiltigkeit 44. 88. 209. 448. 

Altruismus 238. 242. 

Analogien der Erfahrung 96. 190. 406. 

Analysis 4 ff, 37. 42. 214 ff. 

Analytisch 85 ff. 

Angeboren 217. 

Anschauung 24 ff. 82. 95 f. 180. 159 f. 
214. 285. 399. 

Antinomie 222, 260. 

Antizipationen der Wahrnehmung 94. 
96. 405. 

Aposteriori 88. 

Apperzeption (transsc.) 84, 87. 93. 164. 
180 ff. 404. 

Apprehension 191. 200. 209. 400. 

Apriori 44. 88 ff. 97. 217 ff. 379. 401. 
448. 457. 

Arbeit (mechan.) 127. 

Arithmetik 11. 204. 

Assoziation 244. 370. 

„Assoziatives Gesetz“ 11. 41. 

Atomismus 128. 456. 

Aufklärung 409. 

Ausgeschl. Dritte, das 68. 

Autonomie 253. 

Autorität 258. 

Axiom (mathem.) 27. 217. 233. 

Axiome der Anschauung 405. 


Begriff 29. 83. 56. 162. 

Bejahung 61. 189. 

Bewegung 127. 

Bewusstsein (transsc.) 51 ff. 181. 396. 
422. 

Bibel 104. 


Chemie 129. 

Christentum 328. 408 f. 
Commutatives Gesetz 11. 
Continuum 19 ff. 28. 214 f. 


Darwinismus 282. 

Dasein 134. 287. 

Determinismus 253. 

Dialektisch 8. 52 ff. 71. 286. 

Ding an sich 51. 66. 75 ff. 94. 129. 
165. 214. 228. 861. 

Dinglichkeit 229. 

Discursiv 33. 206. 

Dogmatismus 393. 


Egoismus 242. 821. 

Einbildungskraft 168. 180 ff. 

Einzelwissenschaft 73. 

Emanatistisch 57. 

Empfindung 90 ff. 97. 138. 161. 387. 
399. 

Empirisch 42. 75 ff. 85. 

„Empirische Behaftung“, die 82 ff. 

Empirismus 75. 89. 215 ff. 232 ff. 398. 

Energie 128. 130. 284. 

Erbsünde 108. 358, 

Erfahrung 42 ff. 75. 84 f. 164 f. 212 ff. 
273. 800. 

Erinnerungsvorstellung 370. 

Erkenntnistheorie 42. 129. 205. 265. 
424. 455. 459. 

Erscheinung 76. 96. 162 ff. 167. 456. 

Erziehung 360. 

Ethik 241. 248 ff. 411. 449 f. 

Eudämonismus 260. 

Existenzialgesetz 228 ff. 


Form 86. 286. 
Freiheit 61. 72. 188. 241. 310, 
Freie Mathematik 48. 938. 


Register. 


Funktionalität 7. 
Funktionentheorie 3. 


Gegenstand 42. 521. 67f. 77. 89. 162. 


280 ff. 236. 381. 418. 
Gegenstandstheorie 865 ff. 
Gelten 124. 

Gemeinschaft 335. 

Geometrie 27. 178 ff. 204 ff. 212 ff. 
Geschichte 270. 412. 

Gesetz 100. 288, 

Glaube 240. 426 ff. 
Glückseligkeitsprinzip 889. 

Grenze 3. 

Grundsatz 88. 82 f. 166. 419. 

Gutes Prinzip 106. 112. 317 ff. 


Handlung 808. 
Hedonismus 250. 
Höchstes Gut 250. 


Ich, das 52. 59 f. 67. 72. 386. 
Idealismus 78. 401. 

Idee 72. 287. 300. 450. 
Identität 59 f. 65. 99. 247. 
Identitätsphilosophie 280 ff. 
Immanenz 19. 
Indeterminismus 258. 
Individualismus 451 f. 
Intellektualismus 285. 


Intelligibel 85. 106. 173. 310. 826 ff. ' 


Irrationalzahl 12. 


Kant: Charakter 865. 445. 
Stil 388. 
Stellung zur Bibel 348. 
Belesenheit 440. 


Kategorien 61. 68. 80 ff. 159. 168. 285. 


443 ff. 454. 
Kateg. Imperativ 249. 


Kausalität 70. 86. 95. 128 f. 171. 210. 


378. 
Konstruktion 88. 
Kraftbegriff 127. 180. 
Kritizismus 71. 89. 133. 189. 278. 
Kultur 279. 801. 
Kultus 411. 


467 


808. 
Limitation (Kateg. d. L.) 90. 
Logik 38. 50 ff. 65. 99 f. 182. 286. 


Mannigfaltigkeitslehre 8. 18. 22 f. 
Masse 130. 284. 

Materialismus 180. 

Materie 98. 

Mathematik 1 ff. 212 ff. 

Maxime 308. 

Mechanik 227 f. 284. 

Menschheit 320. 384. 

Metalogisch 102. 

Metaphänomenal 366. 

Metaphysik 75. 129. 165. 278. 420. 444. 
Methodenlehre 182. 

Modalität 207 f. 

Miglichkeit 96. 

Mystik 296 f. 452. 


Natur 42. 132. 250. 801, 438. 
Naturphilosophie 127. 428. 
Naturwissenschaft 100. 129 f. 138. 278. 
871. 428. 
Negation 61 f. 90. 189. 
„Negative Grösse“ 447. 
Neovitalismus 282. 
Neu-Kantianismus 76, 269, 
Nicht-Ich 61 f. 67. 
Norm 288. 287. 801. 
Notwendigkeit 96. 207. 384. 448. 
Noumenon 77. 165. 


Objektivität 168. 166. 173. 208. 
Offenbarung 358. | 
Ontologismus 228 f. 
Optimismus 140. 294. 
„Ordnung“ (mathem.) 8 ff. 17. 


Persönlichkeit 72. 819. 
Pessimismus 140. 294. 
Pflicht 250. 
Phänomenologisch 288 ff. 
Physik 129. 279. 871. 
Positivismus 274. 
Prädikation 7. 


468 


Psychologie 77. 128, 248. 379. 456. 
Psychologismus 71. 


Rational 45. 71. 

Rationalismus 65. 75 ff. 89. 392. 
Raum 85 f. 98. 210 ff. 218. 285. 444. 
Realismus 78 f. 196. 296. 

Realität (Kategorie) 91. 
„Realitäten“, „unabhängige“ 361 ff. 
Recht 124. 139. 

Relationsbegriff 7. 284. 
Relationskalkül 5. 
Religionsphilosophie 142 f. 411. 488. 
Rezeptivität 79. 178. 206. 897 ff. 
Richtigkeit 220 ff. 

Rigorismus 239. 310. 441. 

Romantik 296. 


Schematismus 97. 157 ff. 456 f. 
Seele 241. 

Sein 124. 134. 
Selbstbeobachtung 245. 
Selbstgewissheit 60. 

‘ Sinnesqualitäten 167. 362 ff. 


Sinnlichkeit 31 f. 88 ff. 159. 165. 176. 


285. 380. 394 ff. 
Sittengesetz 107. 300. 
Solipsismus 238. 886. 
Sollen 237. 
Sozialphilosophie 139. 
Soziologie 257. 
Spannung 127. 


Spontaneität 72. 81. 178. 206. 397 ff. 


Staat 335. 411. 
Stetigkeit 15, 18. 


Substanz 6f. 70.125. 128. 171. 210. 364. 


Substitutionstheorie 347. 
Subsumption 178. 


Register. 


Syllogistik 7. 

Symbolismus 2%. 

Synthesis 34 ff. 41 f. 84. 180. 
Synthetisch 35 f. 164. 172. 


Teleologisch 205. 
Theodicee 854. 
Theologie 142 f. 428 ff. 
Thomismus 251. 
Transfinit 21 ff. 


„Unabhängigkeit der Axiome“ 224 ff. 
„Unendliche Zahl“ 28. 

Universum 240. 286. 

Urteil 136. 168 ff. 184 ff. 248. 425. 454. 


Wermigenstheorie (psychologische) 84. 
Vernunft 83 f. 249. 278. 419. 
Verstand 82. 56. 83 f. 159. 394 ff. 
Vornehmheit (Ideal der) 29%. 
Vorstellungsbeziehung 246. 


Wahrnehmung 88. 95. 246. 368. 375 ff. 

Wechselwirkung 86. 95. 

Weltanschauung 129 f. 

Weltbewusstsein 284. 

Weltrepublik 836. 

Wert 277. 301. 

Widerspruchsgesetz 39. 62. 68. 99. 287. 
447 f. 

Widerspruchslosigkeit (verschiedene 
Formen der W.) 233 ff. 

Wiedergeburt, die sittliche 108. 

Wirklichkeit 96. 277. 

Wissenschaftslehre 51 ff. 280. 


Zahlbegriff 11. 
Zeit 86. 98. 169. 210 ff. 285. 444. 





Register. 469 
Personen-Register. 

Adickes 137 f. 383. 429. | Dessoir 136. Herz, M. 397. 
Apelt 432. Dilthey 407 ff. 412 ff. | Hilbert 215. 224. 
Aristoteles 6. 50. 365. 443. | Drews 282. Höffding 499. 
Augustin 451. Hofler 127. 
Avenarius 292. Eggeling 423. Hölderlin 409. 

Ehrenfels 382. 387. Hönigswald 132. 
Baensch 157. Elsenhans 289 f. 431. Hufeland 436 f. 
Bahnsen 284. Frdmann, B. 113. 217 f.| Hume 141. 187 f. 289 f. 
Baillie 407. 261. 287. 365. 420. 449. 


Bauch 113. 277 f. 
Baumann 131. 266. 
Baumgarten 136. 457. 
Bayle 278. 

Beneke 34. 375. 
Bergmann 186. 
Berkeley 19. 400. 
Bertheloh 443. 
Blumenthal 434. 
Bolland 285. 
Boole 5. 

Brentano 186. 
Brinkmann 424. 
Burckhardt 453. 
Busse 429. 


Cantoni 213. 

Cantor 2A. 15.20.26.48.233. 

Cassirer 213. 315. 328. 284. 
278. 290. 398. 

Chamberlain 277 f, 452. 

Chwolson 282, 

Cohen 31. 8. 87. 164. 
213. 256. 278. 286. 396. 
420. 459. 

Cohn 299. 

Couturat 1 ff. 12. 22. 32 f. 
40 ff. 288. 

Croce 55. 66. 285. 

Crusius 448. 


Dante 452 f. 

Dedekind 7. 11 f. 22. 

Descartes 6. 31. 46. 143. 
215 f. 365. 887. 401. 
442 f. 451. 456. 


Erdmann, J. E. 416. 
Eucken 74. 140. 256. 
Euklid 232 ff. 227. 


Feuerbach 274. 

Fichte 50 f. 57 ff. 72 ff. 
132 ff. 189. 143. 236 ff. 
274 ff. 282 ff. 451 f. 

Fischer, K. 269 ff. 277. 
805. 396. 407. 416. 420. 
423. 447. 

Fittbogen 426. 499 ff. 

Förster-Nietzsche 432 ff. 

Fries 133. 275. 386 f. 417 ff. 
493 ff. 


Galilei 6. 31. 132. 226. 
262. 

Gibbon 409. 

Goethe 143. 300. 353. 441 f. 
449. 

Goldscheid 256. 

Grimm 320 f. 

Groos 277. 


Hamilton 34. 

Hartenstein 488 f, 

v. Hartmann 76. 274. 281 ff. 

Haym 406 ff. 412. 

Hegel 50 ff. 56 ff. 72 f. 
83. 143. 262. 274 ff. 
407 ff. 

Helmholtz 11. 71. 217 f. 

Herbart 83. 136. 143 f. 

Herder 359. 409 ff. 

Herrmann 438. 


Husserl 34. 71. 288 £ 


Jacobi 193. 215. 390. 404 ff. 
Jaesche 50 f. 
Itelson 8. 


Kehrbach 437. 
Kelsos 410. 
Kepler 6. 

Kerry 22. 
Kinkel 33, 279. 
Kircher 298. 
Körner 359. 
Kronecker 11. 
Külpe 486. 439 f. 


Laas 426. 
Lagrange 387. 
400. 
Lask 67. 277. 
Lassalle 60. 
Leclöre 274. 
Leibniz 2. 31. 139. 176. 
217. 364. 396. 449. 
Lessing, G. E. 409. 412. 
Lessing, Th. 29. 
Liebmann 377. 
Lipps 30. 129 f. 244 f, 


Lipsius, R. A. 428. 

Lobatschewsky 221 ff. 

Locke 99. 261. 362. 365. 
387. 396. 456 f. 

Lotze 55 f. 186. 244. 

Lüdemann 429. 


470 | Register. 


Mach 241. Philon 450 f. Schroeder 5. 
Machiavelli 409 f. Platon 4. 216 f. 226. 450. | v. Schubert-Soldern 274. 
Maeterlink 296. 456. Schulze (Aenesidemus) 
Maimon 80. 94. Plotin 450 f. 890. 
Mally 374. Poincaré 41. 130. 216. | Schuppe 51. 232. 274. 293. 
Medicus 280 f. 220 ff. 227 ff. Schweitzer 805. 310 f. 
Meinecke 219. | Sigwart 62, 186. 
Meinong 29. 361 ff. 370 ff. | Bava 124. Simmel 80. 83, 214 f. 
881 ff. 390 ff. Rehmke 274. Simon 298. 
Mendelssohn 457. Reicke 437. Spinoza 148. 
Messer 248 ff. 271 ff. Reischle 429. Stadler 404. 
Montesquieu 409. Renner 293. Stammler 139, 
Münsterberg 69. 250 f. | Renouvier 443 f. Stehr 305. 
Ribot 453. Susmann 298. 
Natorp 12. 126. 255. 278. | Richter 426, 429. 
450. Rickert 65. 186 f. 265,| Taine 247. 
Nelson 290. 417 ff. 257 f. 280. 424 f. Thomsen 412. - 
Newton 188. 276. 446. Riehl 71. 132. 183. 956. | Trieftrunk 436 f. 
Nicolai 63. 396. 401. 420. 
Nietzsche 280. 284. 293 ff.| Riemann 221 ff. 230, Waihinger 276. 294. 314. 
410. 432 ff. Ritschl 428. 402. 426. 447. 
Nohl 412. 415 f. Rocques 407 ff. Volkelt 255. 274. 284. 429, 
Novalis 276. 296. Romundt 308. Voltaire 410. 
Rosenkranz 407 f, 412. Vorländer 125 f. 304. 319. 
Oelzelt 361 ff. 370 ff. | Rousseau 249. 409 f. 338. 439. 
882 ff. 391 f. Russell 1 ff. 13 ff. 36 ff. 
Ostermeyer 805 f. 320 f. Whitehead 30. 
846. Scheler 256. 421. Willmann 118. 
Ostwald 127 f. 241. Schelling 76. 83. 127. 143. | Windelband 62. 66. 69. 78. 
Ott 407. 282 ff. 408. 458. 119. 183. 186 f. 255. 
Schiller 48. 359. 441 f. 278 ff. 420. 
Pasch 25 f. Schleiermacher 143. 428, | Wüst 896. 
Paul 305. 449. Wundt 77 f. 241. 250. 255. 
Paulsen 45. 113. 250. 255. | Schmidt, F. 7. 285. 274 f. 429, 
307. 328. 396. Schmidt, K. E. 296. 
Peano 4. Schoenflies 22. Zenon 15. 
Peirce 5. Schopenhauer 76 f. 148. | Ziegler 282. 298. 


Pfleiderer 428. 209. 254. 263. 294. 879. | Zschocke 157. 229. 


‘Register. 


471 


Besprochene Kantische Schriften. 





Von der wahren Schätzung der leben- 
digen Kräfte 446. 

Nova dilucidatio 446. 

Versuch einiger Betrachtungen über 
den Optimismus 354. 

Die falsche Spitzfindigkeit der vier 
syll. Fig. 395 f. 

Einzig mögl. Beweisgrund 446. 

Begr. d. neg. Grössen 446 ff. 

Deutlichkeit der Grundsätze 395 f. 

Dissertation (1770) 394. 396 ff. 402 ff. 
446 ff. 

Kritik der reinen Vernunft 41. 51 f. 
60. 77. 98. 120. 138. 157—212. 229. 
236. 258. 273. 356. 392. 397 f. 402. 
454 ff.. 

Prolegomena 258. 402. 445. 


Grundlegung z. Metaphysik d. Sitten 
125 f. 239. 253. 

Mutmassl, Anfang der Menschenge- 
schichte 344. 355. 

Metaph. Anfangsgründe der Natur- 
wissenschaft 92 f. 

Kritik der praktischen Vernunft 120. 
125 f. 236. 308 f. 342. 

Kritik der Urteilskraft 117 ff. 236. 

Misslingen der Theodicee 355. 

Religion 106 ff. 253. 304—360. 427 ff. 
436. 

Fortschritte der Metaph. 481. 

Streit d. Fakultäten 428 ff. 437 f. 

Anthropologie 437 ff. 

Logik 50. 

Briefe 397. 430. 436. 445. 


Verfasser besprochener Novitäten. 


Baumann 131. 
Boehm 141. 445. 449, 
Blumenthal 424—4265. 
Braun 140—141. 
Brinkmann 424. 

v. Brockdorff 262. 


Camerer 261—262. 
Coutourat 249. 


Delbos 238—239. 
Dilthey 407—415. 
Dorner 449—450. 
Dupréel 443—444. 


‘ Eggeling 423—424. 
Eisler 265—2658. 
Eleutheropulos 256—267. 
Elsenhans 132—133. 


Habrucker 139. 
Höfler 127—129. 


Hoffmann, A. 442—448. 
Hoffmann, R. 458—459. 


Jacoby 457—458. 
Jenson 254. 


Falter 450—451. 
Feugère 262—263. 
Fischer, E. 135—136. 
Fittbogen 429—431. 
Flügel 141—143. 
Förster-Nietzsche 432-435. 


Leclére 452—453. 
Levy 454--455. 
Lipps 129—131. 


Marcus 259—360. 
Messer 248—253. 


Hönigswald 182. 


472 


Nelson 417—122. 
Nohl 415—416. 


Paulsen 239—251. 
Baich 451-152. 


Rava 124-125. 
Richter 426-429. 


Begister. 


Roeques 107—415. 
Romundt 136— 138. 


‘Schrader 243—248. 


Schultz 455—456. 


‘Walentiner 127. 


Vorländer 125-136.445-446. 


ı Weissfeld 257—2356. 
i Wernicke 188—189. 
ı Willems 459. 


Talbot 133—135.236—238. | Wsneken 241—248. 


Verzeichnis der Mitarbeiter. 


v. Aster 136-110. 45-49. 


Bauch 213—235.248— 253. 
284. 289—272. 432-1435. 
Boehm 141. 
Braun 14—141. 451—452. ! 
Brockdorff, Baron C.v.262. ' 
| 
Camerer 261—262. 
Cassirer 1—41. | 
Christiansen 442—443. 
Cohn 441—442. 


Eisler 255—256. 
Eleutheropulos 256—257. 
Elsenhans 132—133. 
Ewald 75—108. 273—302. 


Feugere 262—263. 
Fischer, E. 135—136. 
Fittbogen 303—360. 
Flügel 141—143. 
Franz 448—451. 





Mabrucker 139. 

Hauck 443— 441. 

Höfler 361—392. 

Hönigswald 125— 127.132. 
239— 211. 

Hoffmann 158—459. 


| Jacoby 457—458. 


Jenson 254. 


Mern 258—259. 
Kuberka 393—406. 


Levy 154455. 
v. Lippmann 263—264. 


Marcus 259—260. 
Medicus 50—74. 124—125. 


236—238. 


Messer 238—239. 


Oesterreich 243—248. 452 
—458. 


‘Reinecke 127—131.417— 


1%. 


‘Rickert 157—158. 
‘Romundt 136—138. 


Sänger 426—431. 
Schultz 455456. 
Staeps 104-116. 211— 248. 


Talbot 133—135. 
Thomsen 407—416. 


Waihinger 142 —144. 265 
— 268. 461—466. 


Waterman 117—133. 
Weissfeld 257—258. 
Wernicke 138—139. 
Willems 459. 


Zschocke 157—212. 


Hofbuchdruckerei C A. Kaemmerer & Oo, Halle a & 


Le,