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V
Alle Rechte vorb ehalten.
125591
INHALT.
Kant« Zar Erinnerangf an den 12. Februar 1804. Von 0. Lieb-
maun 1
Nach hundert Jahren. Von W. Windelband .... 5
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich
ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants PhUo-
Sophie der Geschichte. Von E. Troeltsch .... si
Immanuel Kants philosophisches Vermächtnis. EünOe-
denkblatt zum hundertjährigen Todestag des Philo-
sophen. Von F. Heman 166
Die Persönlichkeit Kants. Von B. Bauch 195
Kants Bedeutung ftkr die Pädagogik der Gegenwart.
Zum Streite Natorps mit den Herbartianem. Von
F. Staudinger 211
Herder und Kant an ihrem 100jährigen Todestage.
Von E. Eühnemann 246
Helmholtz in seinem Verhältnis zu Kant. Von A. Riehl 861
Zum hunder^ährigen Todestage Kants. Von F. Paulsen 286
Emerson und Kant. Von 6. Runze 298
Kant im Spiegel seiner Briefe. Von F. A. Schmid . . a07
Die Neue Kant-Ausgabe und ihr erster Band. Von
E. V. Aster 381
Erklärung der vier Beilagen. Von H. Vaihinger . . 348
An die Freunde der Kantischen Philosophie. Bericht
über die Begründung einer „Kantgesellschaft" und die
Errichtung einer „Kantstiftung" zum hundertjährigen
Todestage des Philosophen. Von H. Vaihinger . . 344
Luther und Kant. Von B. Bauch 351
Anfänge des Kritizismus. — Methodologisches aus
Kant. Von A. Riehl 498
Reden zur Feier der Wiederkehr von Kants 100. Todes-
tage. Von H. Renner öl8
ÏV Inhalt
Zwei dänische Festgaben zum Kan^ubiläum. Von
A. Aall , 53Ö
Zur Blattversetzung in Kants Pralegomena. Von Sitzler 533
Mit einem Nachwort, Von H. Vaihinger 5S9
Recensionen :
Chrbtiani^enf Broder» Erkenntnistheorie und Psychologie des
Erkennens» Von F. Medicus ......,,.<. 544
Kietü, AloiB, Zur Einftilirung in die Philosophie der Gegen-
wart.. Von J. W. A, Hickson . 647
Ratxer, Ernst, Das Problem der Lehrfreiheit und seine Lösung
nach Kant Von Sülze 553
DeBBoir-Metixer, Philosophisches Lesebuch. Von A. Gil le . 555
Dietzgen, Joseph, Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit
etc. Von F. Staudinger 656
Emmannel Kant Critique de la raison pratique, nouvelle
t rad w c ti on par Fran coii? F i c a v e t. 2* édition. Von E, v. A s t e r 567
Selbstanzeigen :
Wernicke, Die Theorie des Gegenstandes und die Lehre vom
Dinç-an-sich bei Immanuel Kant. S, 559. — Kai weit, Kantg
Steffung zur Kirche. S. 559. — Nenmann, Goethe und Fichte.
S. 560, " Ape!, Imnjanuel Kant S. 560. — Haber, Benedikt
Stattler und sein Anti-Kant. S. 561. — Fnedmanni Die Lehre
vom Gewissen in den Systemen des ethischen Idealismus»
S. 662. — Schtnid. Mchtes Philosophie und das Problem ihrer
inneren Einheit, S, 563, — Messer, Kants Ethik. S. 564. —
Roppetmann, Kritik des sittlichen Bewusstaeins. S. 564.
Mitteilungen 566
Kant und moderne Kunst. — Kantmedaille. — Gründung einer
poinischen philosophischen Gesellschaft, — Ein Éant-Fund. —
Kan t-GesellBch aft .
Register:
Sach-Regieter 571
Personen-Register 574
Besprochene Eantische Schriften , 577
Verfasser besprochener Novitäten . . • tie
Verzeichnis der Mitarbeiter B7g
J(ant.
jfur €rinnerung an den 12. jFebruar 1804.
\ierganglichkeifl — erloschen ist das Sicht
€rstarrt das JJuge, das die Welt durchdrungen,
Çeknickt der flügel, der im JJngesicht
3>er Jl^enschheit sich zum Rimmel aufgeschwungen;
6m Sonnenuntergang - , und J/acht umflicht
J)en Geist, der sich zum Cag emporgerungen-
Wo ging er hin? J)orthin, woher wir kamen,
Jns Jlll, der Zoten Çruft, des Sehens ^a/ne/7.
Prosa war er, 6edankenenergie,
Cam nüchtern klar, ganz frei von 2)ichtertrâumen,
Und doch voll kühnster S^^^^pferphantasie,
J)ie sich vertheilt in unermessnen Räumen,
Um alter Dinge Was und Wo und Wie
Jn der Begriffe fangnetz einzusäumen,
J)ann aber zu sich selbst zurückzulenken,
Sic^ in das innere î^âthsel zu versenken.
KaatatudltB IX. l
€ln hoher Seist, ein mächtiger Verstand,
j)er mit des 7>enkens scharfgeschliffnen Waffen
7>en Weg zurück ins alte Chaos fand
Und aus dem Chaos neu die Welt geschaffen,
Von 7>ogmen frei, hat forschend er erkannt.
Wie sich Jfatur vermocht hat aufzuraffen,
Wie aus dem Jfebeldunst durch Urgewalten
f^laneten, Jrtonde, Sonnen sich gestalten.
2>och Grössres noch stand diesem Çeist bevor
Was ist Jfatur? und was sind Wirklichkeiten?
JJus unserm Jnnern taucht das ^ild empor,
7>as BUd der Welt in Räumen und in Jeiten;
Gleichwie der Künstler aus sich selbst hervor
Sein Werk erzeugt, uns Staunen zu bereiten.
So muss dein Jluge schauend selbst gestalten.
Was dich umgibt, was wir für wirklich halten.
Çeheimnisvolle Werkstatt der Vernunft/
€in innres Weben, Schaffen und Srkennen
Erzeugt in ewig neuer Wiederkunft
2>as grosse /^hânomen, das „Welt" wir nennen;
€r hat's erlauscht, hoch über aller 3^^ft
Wie sich Çedankerj einigen und trennen.
Und wie das Jch beharren muss und dauern.
Um sich ein Universum aufjumauern.
Und aus dem Jnnern stammt das ^ellge auch.
Dem wir uns beugen, das wir tief verehren.
Wodurch wird dir ÇesetK der Sitte Brauch?
Wer kann unbändiges J{ancfe/n dir verwehren?
Jst's nicht der inneren J^athselstimme à(auch,
â(erz und Çewissen, was dich muss beiehren?
2>u selbst musst denkend fühlen, prüfend richten,
3>ir aufzubaun dein à(eiligthum der ff lichten.
Unsterblichkeit? — was hält dem Wechsel Stand?
Jfationen stürzen, Chrone, 7>ynastieen,
fluth folgt der €bbe, und aus J)/teer wird Sand,
Dogmen zergeh n, Systeme, Cheorieen;
Selbst was ein grosser Çeist entdeckend fand.
Verfallt dem Schulgezänk der Coterieen.
2>och Cold bleibt Cold, wie's auch sich umgestaltet,
Wahrheit bleibt wahr, wenn auch die form veraltet.
Jena. Otto Liebmann.
Nach hundert Jahren.
Von Wilhelm Windelband.
Wenn man auf die Bewegungen der Philosophie in den
letzten Jahrzehnten zurückblickt und in der Gegenwart Umschan
hält, so ist man wohl versucht, sich staunend zu fragen, ob denn
wirklich schon ein Jahrhundert dahingegangen ist, seit der grosse
Denker in Königsberg die müden Augen schloss: so unmittelbar
lebendig sind uns seine Probleme und Begriffe, so unablässig
arbeiten wir noch heute an der Ausspinnung der Gedanken, die
er angelegt hat. Und diese historische Macht der kritischen
Philosophie zeigt sich gerade darin, dass sie nicht etwa in der
Gestalt eines geschlossenen Schulverbandes weiter gewirkt hat,
sondern die ganze Breite des wissenschaftlichen Lebens befruch-
tend durchdrungen hat. Zahlreiche eindrucksvolle und gedanken-
mächtige Systeme der Philosophie sind iu der direkten Weiterent-
wickelung aus dem Kritizismus erwachsen; aber keines von ihnen
hat dauernd die Allgemeinheit und Tiefe der Wirkung auszuüben
vermocht wie das Kantische. Dabei erleben wir den eigenartigen
Vorgang — ein leuchtendes Beispiel von den sachlichen Notwen-
digkeiten, die in der Geschichte der Philosophie walten —, dass,
nachdem Kants Lehre ihren zweiten Siegeszug gehalten hat, aber-
mals aus ihr kräftige Triebe hervorzubrechen beginnen, die jenen
der ersten Entwickelung verwandt und ähnlich sind.
So stehen wir heute, nach hundert Jahren, wiederum vor der
Frage: was soll aus dem Kritizismus werden? Ein unver-
gleichlicher Reichtum von bedeutsamen Prinzipien ist in Kants
Denken vereinigt, ohne seine völlige und entschiedene Ausgleichung
gefunden zu haben: je energischer sich die neue Entwickelung
darin vertieft hat, um so unabweisbarer ist auch für sie die For-
derung geworden, zu dem Ganzen neu Stellung zu nehmen.
Wiederum stehen wir vor der Frage: wie müssen wir Kant recht
verstehen, um über ihn hinauszugehen?
6
W. WindelTiand,
Der Durchbriich dieser Einsieht, deu wir gepfeiiwärtig fest-
stellen können, hängt mit allgemeinen Wandhiiigen des wissen-
schaftlicben (feistes zusammen, die sich auch in dem Wechsel der
Auffassuüg des Kritizismus jsrespiegelt haben. Der neue Auf-_
Schwung der Kantisehen Lehre, der um das Jahr 1860 herum h
gann, fiel in die Zeit des Tiefstands von idiilosophischem Interesse,'
der fast leidenschaftlichen Ablehnoiig metaphysischer Fragen niid
der Beschränkung auf die Arbeiten der SpezialWissenschaften.
Aus dieser Stimmung heraus ergriff man begierig, namentlich von
Seiten der Naturforscher, eine philosophische Lehre, welche die
Unerkennbarkeit der Dinge-an-sich festzulegen und zugleich das
Recht einer mathematischen Theorie der Erfahrungswelt zu be-
gründen versprach. So wirkte Kant zunächst, gerade wie bei
seinen Lebzeiten, wieder mit den negativen Ergebnissen seiner
Erkenntnislehre. Damals war es eine Kontrastwirkung gewesen
gegen die Alleswisserei des Rationalismus und des Popularphilo-
sophentums, die der Alles ZermaJmende ein für alle Mal abthat:
jetzt war es eine Erscheinung der Sympathie, mit der man sich
an der philosophischen Rechtfertigung des eigenen Empirismus
freuen zu dürfen glaubte. Dieser Sachlage entsprach es, dass
die ersten Auffassungen und llmwandhmgen. die der „Neukantia-
nismus** erfuhr, den „Antimetaphysizismus" besonders betonten
und sich selbst z. T. relativistischen und positivistischen Neigungen
zuwandten.
Allein diese ^agnostische** Stimmung hielt nicht Stand. Von
Jatirzehnt zu Jahrzehnt wuchs auch in den besonderen Wissen-
schaften wieder das Bewusstseiu von der Aufgabe und dem Be-
dürfnis, die Fülle des thatsächlichen Materials und die Foimeu
seines wissenschaftlichen Zusammenhanges in letzter Instanz unter
allgemeinere Prinzipien zu ordnen, und unter der Einwirkung so
bedeutsamer Prinzipien wie der Erhaltung der Energie oder der
Entwickeinng mehrten sich die Versuche, das Ganze der gewon-
nenen Einsichten wieder in grossen Linien zusammenzuschauen.
Je kräftiger dabei die erneuerte Erkenntnistheorie des Kritizismus
behilflich gewesen war, den Materialismus zu überwinden, der halb
bewnsst, halb unbewnsst die naive Grundmeinung w^ährend jener
Ebbe des philosophischen Denkens ausgemacht hatte, umsoinelu'
erstarkten im Gegensatz dazu alle Denkmotive, welche auf die
Erfassung eines geistigen Lebensgrundes der Dinge, im Gedanken,
in der Phantasie, im Willen gerichtet sind. Mit diesen Wand-
Nach hundert Jahren. 7
langen aber vereinigten sich heftigere Strömungen in weiteren
Kreisen. Durch gewaltige Geschicke und mächtige Umwälzungen
des öffentlichen Lebens im Tiefsten aufgeregt, von fieberhaftem
Bedürfnis nach neuer Selbstgestaltung ergriffen, verlangte die
Volksseele nach dem bestimmten und bestimmenden Ausdruck
dessen, was sie bewegt: in Kunst und Litteratur hastet und tastet
sie nach dem Ungewöhnlichsten, um sich daran und darin zu
formen, und in der Bedrängnis ihrer socialen und religiösen Er-
regungen erheischt sie gebieterisch von der Philosophie das, ohne
das noch keine Zeit zu schöpferischer Gestaltung gelangt ist : eine
Weltanschauung. So haben wir es erfahren, wie am Ende des
neunzehnten Jahrhunderts Wissenschaft und Leben den „Mut der
Wahrheit** wiedergefunden haben, den Hegel an seinem Anfange
verlangt und den es verloren hatte.
Diese Entwickelung hat der „Neukantianismus" mitgemacht:
ihr gemäss sind in der Auffassung und Darstellung, wie in
der selbständigen Weiterbildung der Kantischen Lehre Schritt für
Schritt mehr die positiven Elemente zur Geltung gekommen, und
das allgemeine Interesse am Kritizismus geht heute, wie vor
hundert Jahren, wieder auf die Frage, ob er uns in seinem
Grundriss und in seiner Ausführung als philosophische Weltan-
schauung genügen kann, ob er die Tragkraft und die Erweiterungs-
fähigkeit besitzt, um den Reichtum des neuen Lebens in sich auf-
zunehmen und sich einzugliedern.
Dass diese positiven Momente und ihre Zusammenfassung zu
einer Weltanschauung bei Kant vorhanden sind, steht ausser Frage.
Die geschichtliche Wucht seiner Erscheinung wäre ohne dies un-
begreiflich. Und seine ersten grossen „metaphysischen" Nach-
folger, die ganze Generation von Fichte bis zu Herbart und
Schopenhauer, haben diese Momente sich nicht entgehen lassen:
sie haben daraus die Bausteine gemacht, mit denen sie die kühnen
Gebäude ihrer metaphysischen Systeme aufrichteten; jedes darunter
hat seine Grundlage in der Weltanschauung des „kritischen''
Philosophen,
Darum ist der Streit, ob Kant ein Metaphysiker war, ein
Wortstreit gewesen. Es ist offenkundig, dass Kant das, was er
Wissenschaft nannte, mit zwingenden Gründen als unfähig zur
Überschreitung der Grenzen der Erfahrung, zur Erkenntnis der
Dinge-an-sich, zum Aufbau einer Metaphysik im Sinne der „Wis-
senschaft vom Übersinnlichen'' erwiesen hat. Aber es ist ebenso
s
W, Windelband,
offenkuDcli^, dass er von der Realität der „intelligiblen Welt** un-
erschütterlich überzeuisft war, ued dass er voü ihreiTi Inhalt und
Leben, wie von ihren Beziehungen zur Erscheinun^welt sehr be-
stimmte und wohldurchdachte Vorstelhino^on hatte. Der ganze
Bestand seiner philosopliischeu Lebeosarbeit enthält eine streng
geschlossene und vullig ausgebildete Weltanschauung: und sie liegt
nicht etwa nur keiniailig zu Grunde oder andeutungsweise im
Hintergninde, sondern offen ausgesprochen zu Tage. Wer das
gewaltigste seiner Werke, die Kritik der Urteilskraft, begiîffen
hat^ kann darüber nicht im Zweifel sein, ebensowenig aber auch
über die Bedeutnng, die der Philosoph dafür in Anspruch ninirat.
Diese Weltanschauung gilt ihm nicht als eine bloss persönliche
Meinung, sie ist nicht seine Privat meta physik, die ebenso wie
vielleicht andere neben der Erf a krungs Wissenschaft nur so her-
laufen wollt« oder dürfte, — sondern er verlangt für sie die „not-
wendige und allgemeine Geltung'' in nicht geringerem Masse als
für die mathematisch-naturwissenschafthche Erkenntnis der Er-
scheinungen. Die Postulate der praktischen Vernunft beziehen sich
auf ihre intelligiblen „Gegenstände" gerade so notwendig wie die
Anscîiauungeu uinl dit* Kategorien auf die Sinnenwett, und die
heuristischen Prinzipien der teleologischen Urteilskraft erfassen das
Ganze der Natur und des Lebens gerade so allgemeingiltig, wie
die „Grundsätze" auf die Erfahrung angewendet werden. Die
Aufdeckung ihrer transscendentalen Geltung gehört zu den Auf-
gaben der kritischen Philosophie mindestens in demselben Grade
wie die Untersuchung über die Bedingungen der Erfahrung. Was
man in den Anfängen des Neukantianismus vielfach nachSchopen-
hauei-sehem Rezept als Beiwerk angesehen hat, erweist sich als
int-egrierender, vielleicht als der inhalthch bedeutsamere Teil der
kritischen Philosophie, die eben deshalb der systematischen Gliede-
rung und des architektonischen Aufbaues, den ihr Kant gegeben
hat und geben musste, auch in ihrer weiteren Entwickelung nicht
entraten kann. Nur so bleibt die Einheit und die gegenseitige
Ergänzung der negativen und der positiven Ergebnisse gewahrt,
welche das eigenartige Wesen des Kritizismus ausmacht.
Denn eben darin besteht dessen Grösse und Grigiualität,
dass Kant uns gelehrt hat, Li runde und Id halte der Weltanschau-
ung, welche die Philosophie bieten soll, nicht bloss in der wissen-
schaftlichen Theorie, sondern im gesamten Umfange des Vernunft-
lebens zu suchen. Der Einschlag, den früher die „Metaphysiker*
1
Nach hundert Jahren. 9
ans naiven Antrieben des ethischen, ästhetischen oder religiösen
Bewusstseins in das wissenschaftliche Begriffsgewebe eingewirkt
haben, um ihre philosophische Gesamtanschauung zu gestalten, wiid
von Kant mit vollem kritischen Bewusstsein in seiner Unentbehr-
lichkeit erkannt, in seiner Begründung gerechtfertigt, in seinen
Anforderungen geregelt: eben damit aber wird das Mass der An-
sprüche beschränkt, welche die wissenschaftliche Theorie für sich
allein im Rahmen der philosophischen Weltanschauung zu erheben
befugt ist. Das ist im letzten Grunde das Wesen der Epoche,
welche Kant in der Geschichte des menschlichen Denkens gemacht
hat: und darin besteht die aktuelle Bedeutung seiner Lehre für
ein Zeitalter, das, wie das gegenwärtige, wieder einmal die Ur-
rechte der Gefühle und der Triebe in der Gestaltung seines ge-
samten Lebens und damit auch seiner intellektuellen Überzeugungen
anerkannt sehen möchte.
Diese Bedeutung steht um so höher, als für den leidenschaft-
lichen Überschwang und die naturalistische üngezügeltheit solcher
Bestrebungen, wie sie sich ja sattsam in der popularphilosophischen
Litteratur unserer Tage breit machen, kein besseres Heilmittel ist
als die kritische Philosophie selber. Denn die Bedeutsamkeit
ethischer und ästhetischer Bedürfnisse für die philosophische
Weltanschauung erkennt Kant nun und nimmermehr in ihrer un-
mittelbaren, einzelnen, historisch bedingten individuellen Erschei-
nungswelse, sondern nur in der Gestalt an, welche sie für die
Vernunft, d. h. in allgemeingiltiger und notwendiger Weise be-
sitzen. Die Elemente der „Metaphysik", wie er sie verlangt,
sind sehr verschieden, aber gemeinsam ist ihnen allen die not-
wendige und allgemeine Geltung für die „Vernunft", für das „Be-
wusstsein überhaupt". Allein eben deshalb sind in der kritischen
Philosophie die Gründe der AUgemeingiltigkeit und Notwendigkeit
in den verschiedenen Bereichen des Wirklichen verschieden: für
die Metaphysik der Erscheinungen liegen sie im Wissen, für die
Metaphysik des Übersinnlichen und seiner Beziehungen zur Erfah-
rungswelt liegen sie im „vernunftnotwendigen" Glauben und im
vemnnftnotweudigen „Betrachten". Nicht jedes Glauben oder jedes
Betrachten hat dies metaphysische Recht, sondern nur das not-
wendige und allgemeingiltige, das vernünftige. Dies aber, das allein
berechtigte, aus der Fülle der individuellen und historischen Ansprüche
herauszuschälen, bleibt auch bei Kant die Sache der Philosophie, der
„wissenschaftlichen" Klärung; — ja, es ist ihre vornehmste Aufgabe.
W, Windelband»
Dauiit siehm wir an dem Puukte» wo die von Kant gej
Form dfis Kritizismus über sich selbst hinausweist. Ihis ,, Wissen*'
das er forträiinieu rnusste, um dem Glauben Platz zu machen, di
„Wissenschaft**» deren Anrerbt an die Metaphysik in der Ki-itik
d(*r reineu Vernnnft gewognen und zu leicbt gefunden wird, — si€(^|
umspaunen nicht den ^mv/jin Umfanfir der tbeoretlscheü Erkenntnis-
arbeit. Kants Betriff der ,. Wissenschaft** ist — historisch sehr
begreiflich — eingeengt auf den methodischen Charakter der theo«<^|
retischen Naturforschung, bestimmt durch das Newtonsche Prinzip. ~
Das kommt am dentlichsten und schroffsten bekannthch in den
„Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" zu Tage,
wo es heisst, dass „in jeder besonderen Naturlehre nur so vielfl
eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin
Mathematik anzutreffen ist", und wo deshalb ('hemie uud Psycho-
logie von der „eigentlichen" Wissenschaft ausgeschlossen werden.
Aber auf denselben Begriff der ,, Wissenschaft." sind die Kritik
und die Prolegomenen gestimmt: es ist lediglich der der Gesetzes-^
Wissenschaft. ^M
Heutzutage ist dieser Begriff der Wissenschaft zu eng.
Auf die Chemie fände Kant ihn jetzt vielleicht anwendbar, auf
die Psychologie — trotz aller psychophysischen Gesetze — im
Ganzen wohl kaum: und doch zählen wir auch sie zu den eigent-
lichen W^isseuschaften. In noch ganz anderem Sinne aber gilt das
von den historischen Disciplinen, die von Kant erst recht aus der
Sphäre der Wissenschaft ausgeschlossen werden. Wir können \
ihm daraus keinen Vorwurf machen: denn bis zu seiner Zeit gab
es in der That wesentlich nur eine Kunst der Geschichtsschreibung
und grosse Künstler darin; aber die Geschichte zählte eben zu
den belies lettres, sie war noch keine Wissenschaft. Dazu ist sie
erst nach Kant geworden. Es gehurt, zu den eigentümlichsten
Erscheinungen im geistigen Ijcben des neunzehnten Jahrhunderts, !
dass neben der imposanten, namentlich nach aussen eindrucksvollen
Entfaltung der Naturwissenschaft als ein stillerer, aber stetiger
und zielsichei'er Vorgang die Erhebung der Historie „zum Range
einer Wissenschaft" einhergegangen ist. W^ir haben jetzt die Ge-
schichte als Wissenschaft, die Kant noch nicht gekannt hat. Und
das ist nicht etwa daher gekommen, dass ein paar universalistische
Methodologen und ein paar theoretisierende Historiker — niemals
die grossen — gelegentlieh das Verlangen gestellt haben, auch
auf geschichtliche Vorgänge das Prinzip induktiver Aufsuchung
Nach hundert Jahren. 11
von „Gesetzen** anzuwenden. Nein, diese Scientifikation der
Historie verdanken wir einzig und allein dem kritischen Geiste,
der sich von der phantasievollen Betrachtung der Vergangenheit
her allmählich und mühsam zu streng methodischer Forschung er-
zogen und die dazu erforderlichen Verfahrungsweisen und Hilfs-
mittel mit vorsichtiger Anpassung an die eigenartige Natur der
Gegenstände bis in das Einzelne hinein systematisch ausgebildet
hat. Das schliesst nicht aus, dass in den abschliessenden Gesamt-
darstellungen des wissenschaftlich Erworbenen und Gesicherten
die künstlerische Genialität des grossen Forschers ihr Recht be-
behält: gilt doch dasselbe auch für die überschauenden Leistungen
des grossen Naturforschers und für den Abschluss alles Wissens
in dem Sinne, wie es Schiller in den „Künstlern** als höchstes
Ziel geschildert hat.
Diese grosse neue Thatsache der Existenz einer historischen
Wissenschaft verlangt nun von der kritischen Philosophie in erster
Linie eine Erweiterung des Kantischen Begriffs vom Wissen:
die Historie fordert neben der Naturforschung ihr Recht in der
theoretischen Lehre. Auch ihr Wesen und ihr Erkenntniswert
will, ihrer wirklichen Arbeit gemäss, verstanden und beurteilt
werden. Damit verschieben sich Inhalt und Form der Wissen-
schaftslehre um ein beträchtliches gegenüber der Behandlung, die
sie von Kant erfahren hat und unter den Voraussetzungen seiner
Zeit erfahren musste. In der reinen Logik und in der Methodo-
logie kann man schon seit langem, seit Lotze und Sigwart, die
prinzipielle Berücksichtigung der Formen und Aufgaben des histo-
rischen Denkens neben dem naturwissenschaftlichen beobachten:
in der Erkenntnistheorie ringt das gleiche Bestreben mit steigen-
dem Erfolge nach Anerkennung.
Dabei aber stossen wir von Neuem, wenn auch in veränderten
Begriffsformen, auf denselben Gegensatz, den Kant für die philo-
sophische Weltanschauung in seiner Weise zwischen dem Wissen
einerseits und dem vemunftnotweudigen Glauben und Betrachten
andererseits gemacht hat. Wir finden die eine Art des wissen-
schaftlichen Denkens, die der Naturforschung, durchgängig und
wesentlich durch das Bedürfnis bestimmt, aus den Thatsachen der
Erfahrung dasjenige herauszuheben, was im Sein und Geschehen
sich immer gleich bleibt: an der logischen Funktion des Gattungs-
begriffs entwickelt sich die Forschung nach dem, was im Wechsel
der Thatsachen beharrt einerseits als bleibendes Sein, anderseits
W. Windelbacd.
ate st-etige Reiherifolg^e der Ereignisse — nach den Subst^inzen
und den Gesetzen ihrer Thätigkeit. Das „Herauspräparieren"
dieser Ordnung ans dem Gewirr der Eindrücke gilt mit Recht als ^
bewunderiuigswiirdige Leistung des wissenschaftlichen Intellekts : V
aber eben damit ist schon gesagt, dass das so gewonnene Bild
d<'S Wirklich*ni nur einen Ansschnitt ans di^r „iinühei*sehbare!i
Mannigfaltigkeit'* des Thatsächlicheii bedeuten kann. Wenn dies
Bild auch — um die Terminologie von Heinrich Hertz anzu-
wenden — so adae(i«at wie möglich ist, so giebt es doch gerade
dann nur diejenigen Momente der Wirklidikeit wieder, welche sich
zu der Subsumtion unter die (Tattungsbngriffe des Seins und des
Geschehens eignen. Die l(*bendige Wirklichkeit des Einzelnen ■
geht in diese allgemeinen Begriffe nicht ein : sie lassen sich dar-
auf anwenden, aber sie ei^chöpfen sie nicht. Die so gewonnene
„Erkenntnis"* ist also nach der Auswahl, die unter den Thatsachen
getroffen wird, und nacli der Beziehung, die zwischen ihnen ge^ J
sucht wird, eine Konstruktion der Vernunft, die ihre eigene lo-^
gische (und mathematische) Gesetzmässigkeit in den Thatsachen
entdeckt mnl daraus heranspräpariert hat. Die „Natur" als Ob-
jekt der Wissenschaft ist ein Kosmos, dessen Zusammenhatïg wir
nur ans den Eorrnen unserer Vernunft in Ansclianuugen und Be-
griffen Torzustelh*n vei mögen : — genau wie es Kant gelehrt hat.
Aber ganz dasselbe gilt auch für die Geschichte - - mutatis
mutandis. Auch der Historiker geht nicht darauf aus, das ein-
zelne zeitliche Sein und Geschehen in seiner ganzen individuellen
Mannigfaltigkeit zu beschreiben; er denkt um so weniger darau,
als er das garni cht auszuführen vermöchte. Auch er trifft viel-
mehr aus der unendlichen Masse des geschichtlich Gegebenen eine
Auswahl, weh'he keineswegs nur durch das Schicksal der ITber-
liefernng, sondern vielmehr wesentlich <lurcli das hiteresse be-
stimmt ist, das die einzelnen Momente der Vergangenheit zu er-
w^ecken geeignet sind. Unsäghch vieles „geschieht", was niemals
zur ,. Geschichte'' gehören wird. Das Interesse aber, das die Über-
lieferung wie die Auswahl des Historikers leitet, Imngt in dit*sem
Ealle an den Wertbestimmuugen des Menschenlebens; nur das ist
histortsclie Thatsache, was irgendwie für die Erinnerung der
(Tattung, für ihi'f w^rtbestimmte Selbsterkenntnis bedeutsam werden
kann. Ebenso aber sind die Beziehungen, in die der Historiker
die Thatsachen zu bringen hat, wesentlicli durch dasselbe Interesse
bestimmt: er sucht nicht Gattungsbegriffe, sondern Gestalten und
Nach hundert Jahre il
13
Gestalteakomplexe, die durch solche Wertbeziehimgeii beding- sind.
Nur als Mittel im Verständuis solcher Znsamineiihänge benutzt
auch die histürische ForschuDg das Wissen von geuen^llen Vor-
hältuisseu, das sie zum Teil den Gesetzeswissenschaf ten entlehnen
kann, zum andern Teil aber selbst erst zu diesen Zwecken ge-
winnen muss. Auch die „Geschichte" also als Objekt der Wissen-
schaft ist ein geonlnètor Zusammenhang, den wir uns auf dem
Grundriss allgemeingiltig'er und notwendiger Vemuuftinteressen
aus dem Gegebenen herauszu[»riipariercn vermtigen: denn nur da-
durch unterscheidet sich dabei die Wissenschaft von der indiil-
duellen Erzählung, dass sie an Stelle der persönlichen luteressen
des Einzelnen die allgemein und notwendig geltenden Werte zum
Prinzip der Auswahl und der Beziehung zwischen den Thatsachen
macht.
Diese Erweiterung der erkenntuistheoretischen Untersuchung
von den naturwissenschaftlichen auf die historischen Disciplinen,
wie sie am besten von Rickei-t entwickelt und foiTimliert worden
ist, führt nun unmittelbar darauf, für das „systematische Geschäft"
der kritischen Philosophie die Allgemeinheit und Notwendigkeit der
Werte, denen die Geschichte den Charakter als Wissenschaft ver-
dankt, als das vollkommen ebenbürtige und parallele Problem zu
der Apriorität der intellektuellen Formen erscheinen zu lassen,
auf denen sich die Naturwissenschaft aufbaut. Die „Kritik der
historischen Vernunft" leitet mit sachlicher Notwendigkeit und
Selbstverständhclikeit zu den Aufgaben der Ethik, Ästhetik und
Religionsphilosopbie hinüber: sie leistet als Bindeglied dasselbe,
was Kant durch die Konstruktion der transscendentalen Dialektik
und durch die Beziehungen zwischen Ideen und Postulaten er-
reichen wollte, Sie zeigt aber dabei, dass nicht nui' für eine sog,
Metaphysik des Übersinnlichen, sondern schon für die unerlässliche
Ginndlage der historischen Wissenschaften die notwendige und
remeiue Geltung der Werte erforderlich ist.
Daher wird die Begründung dessen, was Kant den vernunft-
notwendigen Glauben der praktischen Vernunft und die vernunft-
notwendige Betrachtung der reflektierenden Urteilskraft genannt
hat. d. h. die philosophische Theorie der Werte zum Mittelpunkt
der Aufgaben, die der Fortentwickelung und systematischen Aus-
bildung des Kritizismus aus der gegenwärtigen Lage der Wissen-
schaften ebenso wie aus den allgemeinen Zuständen des geistigen
Lebens erwachsen. Denn gerade in letzterer Hinsicht hat sich
14
W. Windelband,
aus leidenscliaft lichen Impulseii, aus Gefühlen des Kraftübei-schusses
und der ExpansioDsbedürftig^keit, wie aus den unausbleiblichen
Kontras tstimmimgeu decadeuter Impotenz in dem allgemeinen Be-
wusstseiu unserer Tage ein Individualismus und Relativismus ent-
wickelt, der, nachdem er sich eine Zeit lang ausgetobt, bereits
nach seiner Erlösung von sich selbst zu seufzen und zu di*äugen
begonnen hat.
Solche Strömungen verdienen um so mehr Beachtung, als sie
in gewissem Masse gegenüber den formalen Bestimmungen der
kritischen Moralphilosophie im Rechte sind. Diese Bestimmungen
sind eben in der That rein formal. Alle Werte, die Kants Ethik
anerkennt, hängen an der Übereiustinmiung des Besonderen mit
allgemeinen Normen. In genauem Parallelismus zu dem Aprioris-
mus seiner Erkenntniskritik gesteht Kant auch im Felde der Sitt-
lichkeit die allgemeine und notwendige Geltung nur dem Oenerellen
zu: dem Sittengesetz als einer Maxime, die als Naturgesetz ge-
wollt werden kann. Und aus diesem Prinzip, das keinen andern
Inhalt mehr haben soll als die Gesetzmässigkeit selbst, ist ge-
flissentUch jede sachliche Bestimmung ausgeschlossen. Auch die
Persönlichkeit, auf deren Autonomie so starkes Gewicht gelegt
wird, empfängt ihre ^ Würde" nur von ihrer selbstgewollten Ideo-
tifLkatiou mit dem Vernunftgesetz, ihren Wert nur von der durch
sie vollzogenen Verwirklichung des allgemeinen Pflichtgebots: ihre
„Freiheit" besteht, dem i-»ositiven Begriffe nach, nui* in der Fähig-
keit, sich durch nichts anderes als diu^ch das Gesetz bestimmen
zu lassen. Diese Maximenmoral Kants ist schon in der ersten
Zeit einem ästhetisch bewegten und stürmisch aufgeregten Ge-
schlecht unbequem gewesen und unzulänglich erschienen: Jacobi,
die Romantiker, auch Fichte haben diese Fesseln der Gesetz-
mässigkeit zu sprengen gesucht, und Schiller ist, so nahe er dem
Prinzip der Pflichtmässigkeit bleiben wollte, doch dem Zauber der
Unmittelbarkeit in der ^sittlichen Natur** des Individuums nacli-
gegangen.
Allein alle diese Versuche, die generellen W^ertformen» auf
die Kant die allgemeingiltigen Gründe des moralischen Urteils
ausschliesslich ziirückzufüln-en für nötig befunden hatte, durch den
Hinweis auf den gesicherten Bestand individueller Werterschei-
uungen zu ergänzen, — sie blieben entweder im Halben hangen
oder sie stellten die Allgemeiugiltigkeit und Notwendigkeit des
Wertbevvusstseins in Frage. Erst in dem gi-ossen Sinne, womit
4
Nach hundert Jahren. 15
Schleiermacher die Ethik lehrte, den ganzen Umfang des histo-
rischen Lebens zu umspannen und begrifflich zu bemeistem, fand
sie auf diesem unermesslich erweiterten Arbeitsfelde auch das
Verständnis der lebendigen Inhalte, welche als einmalige, indivi-
duelle Verknüpfungspunkte der generellen Norm-Beziehungen neben
diesen selbst in ihrer Eigenart den Gegenstand allgemeiner und
notwendiger Wertung ausmachen. In dieser Richtung allein kann
die wesenhafte Entwickelung der kritischen Ethik gesucht werden:
nnr im unmittelbaren und methodischen Zusammenhange mit der
Geschichtsphilosophie kann sie daran arbeiten, das formale Gerippe
genereller Maximen mit dem Fleisch und Blut lebendiger Wertin-
halte zu umkleiden. So vermag sie auch den gesättigten Reichtum
der Hegeischen Lehre vom objektiven Geiste in sich aufzunehmen
und die Verwirklichung der „Ideale" als das Wesen alles histo-
rischen Geschehens zu verstehen. Eben dadurch wird sie zu einer
Philosophie der Gesellschaft, zu einer kritischen Theorie des Gat-
tungslebens: denn der Eigenwert der individuellen Gebilde der
Geschichte besteht in ihrer eigenartigen, nur an ihnen in dieser
Weise möglichen Beziehung zum Ganzen, zu der durch die Jahr-
tausende hin auseinandergelegten Entfaltung der Humanität. Dar-
auf allein beruht die allgemeine und notwendige Geltung ihres
Wertes. Sie zum Bewusstsein zu bringen und den Rechtsgrund
der historischen Wissenschaft darin blosszulegen, ist die wesent-
liche Aufgabe der Ethik als allgemeiner kritischer Werttheorie
und zugleich der unentbehrliche Ertrag, den sie für die philoso-
phische Weltanschauung zu liefern berufen ist.
Denn nichts anderes kann doch schliesslich die Aufgabe der
philosophischen Weltanschauungslehre — sagen wir doch ruhig
der Metaphysik — sein, als uns darüber zu verständigen, welches
Recht wir haben, dem objektiven Weltbilde, das uns die Wissen-
schaften als das notwendige und allgemeingiltige Denken der
Menschheit darbieten, die Kraft zur Erfassung der Realität, der
absoluten Wirklichkeit zuzutrauen. Das ist die Frage der Erkennt-
nistheorie und — der „Metaphysik". Denn von dem Verhältnis
des objektiven Denkens zum Realen kann man nicht reden, ohne
vom Realen zu reden — selbst wenn man es das unerkennbare
Ding-an-sich nennt. Die „Metaphysik des Wissens" — so hat
Kant mit Hume die kritische Philosophie genannt — ist auch eine
Metaphysik der Dinge. Aber freilich keine solche, welche aus
ontologischen Prinzipien ein eigenes Begriffssystem in der „freien
W. Wîndelband,
1
J
Luft der Einbildungskraft** ausführt, sondern eine solche, welche
aus den Argumenten der Sonderwissenschaften, die sie in ihrem
Bestände als objektives, allgemein und notwendig geltendes Denken
unangetastet und unerschüttert bestehen lässt, die kritische Frage
entscheidet, in welchem Sinne sie selbst eine „Erkenntnis der
Wii'klichkeit" zu sein beanspruchen dürfen, Das ist das Funda-
ment, welches Kants Kritiken ein für alle mal für alle weitere
Philosophie, für „eine jede künftige Metaphysik, die als Wissen-
schaft wird auftreten können,** in unverrückbarer Sicherheit gelegt
haben.
In diesem Sinne st^ht die kritische Philosophie, wenn es
sich um die letzten Fragen handelt, vor dem grossen Gegensatze
der Gesetzeswissenschaften und der Wertwissenschaften, — der
Naturforschung und der Hist<)rie. Jede von ihnen enthält in der
Aaswahl und in den Beziehungen der Thatsachen ein Produkt des
objektiven Denkens, das in seiner gesamten Struktur durch die
verschiedenen Zwecke dieses allgemeingiltigen und notwendigen
Denkens bestimmt ist: auf der einen Seite eme Ordnung von
Gattungsbegriffen, auf der andern ein System von Werten. Jeder
einzelne Bestandteil unseres Erfahmngsmaterials kann unter jede
der beiden wissenschaftlichen Bearbeitungs weisen fallen, und ein
grosser Teil der besondereo Discipllnen wendet sie in einer Ver-
bindung an» über die man sich durchaus nicht immer und überall
prinzipiell klar ist und bei der einzelnen praktischen Forschungs-
arbeit auch nicht klar zu sem braucht. Diese Verhältnisse fest-
zustellen ist Sache der Methodologie, deren Geschäft ja kein an-
deres ist und sein kann, als die Wissenschaften über den log-ischen
Sinn und Wert dessen zu verständigen, was sie in unmittelbarer
Bewältigung ihrer Aufgaben eigentlich thun. Aber wenn so die
beiden Grundfoinnen der Auswahl und Beziehung von Thatsachen
am Einzelnen angewendet, sehr verschiedene und scheinbar weit
auseinander Hegende Systeme der Erkenntnis des Wirklichen er-
geben, so erwächst für die Philosophie eben damit durch die Aii^
Wendung derselben Dualität der Behandlungsweiseu auf dt
Ganze die höchste ihrer Fragen: vne verhält sich das
der Gesetze zu dem Reich der Werte?
Das ist, wie man sieht, genau das Problem der Kritiw
Ürteilski-aft, das m den Kantischen Formeln auf die VereiuK det
von Natur und Zweckmässigkeit, von Notwendigkeit und ^^^|.vel
hinausHef Unter den Denkern des neunzehnten JahrhuiA<^ \^\iS
Rev
*^
^V
Nach hundert Jahren. 17
dies Problem keiner so klar gesehen und so deutlich formuliert
wie Lotze: seine ganze Lehre des „teleologischen Idealismus"
lauft — genau wiederum im Sinne der Kritik der Urteilskraft —
darauf hinaus, in der Gesamtheit der Gesetze das System der
Formen zu sehen, durch welche sich eine inhaltliche Welt der
Werte verwirklicht. Das beruht — wiederum wie in Kants „Meta-
physik" — auf der tiefen Einsicht, dass aus den allgemeinen
Formen des Geschehens, den ewig sich gleich bleibenden Gesetzen,
niemals der lebendige Inhalt herstammen oder begriffen werden
kann, den unser Wertbewusstsein in der Wirklichkeit sucht —
und findet.
Aber der übergreifende Begriff, der in dieser Weise das
Reich der Gesetze mit dem der Werte verbindet, ist der der Ver-
wirklichung, die höchste Kategorie der Weltbetrachtung ist das
Verhältnis des Mittels zum Zweck: es ist das Prinzip der Ent-
wickelung. Seine beherrschende Stellung tritt in der Kritik der
Urteilskraft deutlich genug hervor: es ist das heuristische Prinzip
für die vernunftnotwendige Betrachtung des „Lebens" : es ist der
leitende Gedanke in jenen gewaltigen Paragraphen am Ende des
Werkes, wo alle Linien der Kantischen Philosophie zusammen-
laufen, wo der zweckvolle Zusammenhang der Natur als der ge-
setzmässigen Ordnung der Erfahrungsinhalte und der wertbe-
stimmte Ablauf der ganzen Menschengeschichte mit einander als
die fortschreitende Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden
„vemunftnotwendig" betrachtet werden.
An dieser Stelle setzt mit Schelling in erster Linie Hegels
Gedankenarbeit in der Weiterbildung des Kritizismus ein: hier
gelangt der historische Charakter der neuen Weltanschauung zum
entscheidenden Durchbruch. Damit freilich kommt der Kantischen
Erkenntnislehre gegenüber eins der schwierigsten Probleme zum
Vorschein, das hier nur angedeutet werden mag. Wenn die Ent-
wicklung als das reale Wesen des Lebens und des Universums
vernunftnotwendig betrachtet werden soll, — wie ist damit die
Phaenomenalität der Zeit vereinbar? Wenn die Werte in der
Verwirklichung begriffen, nur in ihr zu verstehen sind, so
muss das Geschehen, das ohne Zeit nicht denkbar ist, eine wesent-
liche Bestimmung des Wirklichen selber sein, so darf es nicht
bloss als Form der Anschauung gelten. So stellt die Lehre von
der Entwicklung — das liesse sich auch au Kants Ethik und
Religionsphilosophie aufweisen — die parallele Behandlung von
KftnUtadien IX. 9
18 W. Windelband,
Kaum und Zeit, wie sie die transscendentale Ästhetik eingefährt
hat, unausweichlich in Frage.
Die Bedeutung des Prinzips der Entwicklung für die moderne
Naturwissenschaft ist allgemein bekannt: weniger verbreitet und
anerkannt ist die Einsieht, dass es ein Wertprinzip ist. und doch
ist das kaum deutlicher zu machen, als es schon Kant in der
Kritik der Urteilskraft eben da gethan hat, wo er die bedeutr
samsten Anwendungen dieses Prinzips auf die Gresamtanffassung
des organischen Lebens und seines geschichtlichen Zusammen-
hanges voraussehend in grossen Linien gezeichnet hat. Wer sich
darüber keine Gedanken macht, der mag wohl naiv von höheren
und niederen Formen, von der Herausbildung der ersteren ans den
letzteren, von normalen und abnormen Bildungen u. s. w. reden:
wollte er sich darauf besinnen, nach welchen Kriterien und mit
welchem Rechte er solche ihm geläufigen Unterscheidungen an-
wendet, so würde er auf die Wertbestimmungen stossen, deren er
beim Verständnis des Lebens nun und nimmermehr entraten kann.
Gerade da^ wo main gemeint hat« nan endlich das Wunder aus
der Welt des Mechamsmus verjagt zu haben, dem Geheimnis der
Zweckmässigkeit auf der Spur zu sein, - gerade da hat man dem
Gast aas der Welt der Werte das Bürgerrecht im R^che der
Gesetzeswissenschaften gegeben.
In der frachtbaren Anwendung dieses Prinzips auf die Er-
kenntnis der Körperwelt besteht offenbar der wesentliche Beitrag,
den die Naturforschang des neunzehnten Jahrhunderts für die
philosophische Weltanschauung geliefert hat. Mit der Fonnnliening'
des Prinzips von der Erhaltung der Energie hat âe fast gleich-
zeitig die allgemein und notwendig gütige Grundvoraussetzung
aller Gesetzeswissenschaft auf den glucklichsten Aasdruck gebracht.
Das Prinzip, dass es in der Welt nichts Neues geben könne« dass
alles Sein and Geschehen jedes Moments nicht mehr und nicht
weniger enthalten könne als das des vorhergehenden« ist darin anf
die universell brauchbarste Weise niedergelegt. Aber dieser Vor-
stellung von der quantitativ gleichbedeutenden Seihe der Um-
wancilongen fugt nun auch im Umkreis des körperUchen Geschehens
der Entwicklungsgedanke das Verständnis hinzu« dass der qualitatrre
Inhalt dieser Umwandlungen nach den Werten zu beurteilen ist,
die sich darin verwirklichen. Diese gegenseitige Ergänzung der
beiden grossen Prinzipien da: Xaturforschung scheint das Thema
der heutigen Naturphilosophie zu werden^ welche in Energetik und
Nach hunàert Jahren. 19
Neovitalismus den lang geschmähten Namen wieder zu Ehren
bringt. Je mehr sie mit der Erneuerung einer dynamischen Auf-
fassung von unorganischer und organischer Welt zu dem Bestreben
zurückkehrt, hinter den quantitativ bestimmten Formen des Ge-
schehens den Inhalt zu suchen, der sich darin verwirklicht, um so
mehr nähert sie sich auf ihrem Gebiete der von Lotze formulierten
Aufgabe, den Weltlauf zu verstehen und ihn nicht bloss zu be-
rechnen.
So drängt Alles darauf hin, dass die kritische Philosophie,
wenn sie die Lebenskraft, die sie ein Jahrhundertlang bewahrt
hat, auch in der Bewältigung der intellektuellen Bedürfnisse der
Gegenwart bewähren soll, sich fähig erweisen muss, mit ihrem
Begriffsystem eine Weltanschauung zu tragen, welche den geistigen
Wertinhalt der Wirklichkeit in sicherem Bewusstsein zu erfassen
vermag. Sie hat dazu das Recht und den Beruf, weil sie, den
Kantischen Grundlagen gemäss, die Gründe allgemein giltiger und
notwendiger Überzeugungen in dem ganzen Umfange menschlicher
Kulturthätigkeit, im sittlichen und geschichtlichen Leben, in Kunst
und Religion ebenso wie in der Wissenschaft zu suchen angewiesen
ist. Und diese Aufgabe zu erfüllen, dazu stehen die Zeichen der
Zeit nicht ungünstig. Schon erleben wir — fast von Tage zu
Tage — einen rapiden Niedergang der natui-alistischen Weltan-
schauung, die nur noch gelegentlich einmal von einem der Alten,
die nichts mehr gelernt haben, mit glücklicher Ahnungslosigkeit
aufgetischt wird. Unsere Jugend, die die Macht des historischen
Lebens in sich fühlt, — sie brennt darauf, ilire gährenden Wert-
gefühle in klare Begriffe umgesetzt zu finden. Es ist alle Hoff-
nung, dass der gute Kampf um einen geistigen Lebensinhalt, wie
ilin Eucken mit edler Leidenschaft kämpft, zum Siege führe.
Wenn wir die Weite des geistigen Lebens, das das ge-
schichtliche ist, für den letzten Inhalt aller Wirklichkeit ansehen,
dessen Verwirklichung herbeizuführen auch den Sinn alles natür-
lichen Geschehens mit dem ganzen Apparat seiner gesetzmässigen
Kausalität bilde, so wird wohl erwideil: das sei und bleibe An-
thropologismus und Anthropomorphismus. Ob man denn immer
noch nicht gelenit habe, dass unser gesamtes Geschlecht mit
seinem Leid und Lust, mit seinem Meinen, Wünschen und Wollen
in einem entlegnen Winkel des Universums eine beschränkte, auf
kurze Frist gespannte Existenz abspielt! Woher das Recht, das
20 W. Windelband, Nach hundert Jahren.
was uns bewejft, als Werte zu betrachten, die- in den letzten
Tiefen aller Wirklichkeit wurzeln sollen?
Das klingt sehr einsichtig und ist doch sehr kurzsichtig.
Gewiss, der Hegeische „Weltgeist" als der Inbegriff der Kategorien
der Wirklichkeit, er ist in Wahrheit der Menschengeist in der
historischen Entwickelung seiner inneren Wertbestimmungen. Aber
gehört nicht zu eben diesen Errungenschaften des historischeu
Geistes auch jenes Wissen von den gesetzmässigen Zusammen-
hängen eines in Raum und Zeit unendlich ausgebreiteten Weltalls,
wozu sich Schritt für Schritt die sinnlich beschränkte Vorstellung
unserer physischen Existenz erweitert und umgebildet hat? Ver-
danken wir dieser unserer eigenen geistigen Arbeit den Einblick
in die physische Ordnung der Dinge, der wir anzugehören über-
zeugt sind, fühlen wir uns damit in einen Zusammenhang gerückt,
der weit über uns selbst hinausreicht, so erhebt uns das geschicht-
liche Leben in eine geistige Ordnung, die an allen Ecken und
Enden über sich selbst hinaus, über alles menschliche Drängen
und Treiben in eine höhere weltumspannende Wirklichkeit weist.
Wenn irgend eine, so ist es die Aufgabe der Religionsphilosophie,
dies zur deutlichen Besinnung zu bringen. Wir kennen die Werte
der geistigen Wirklichkeit nicht anders als durch unsere Geschichte,
in der sie sich zur Geltung herausgerungen haben, gerade wie wir
die Gesetze des physischen Daseins nicht anders kennen, als durch
die Formen unseres Intellekts, die wir darin walten gefunden
haben: und eben deshalb haben wir das Recht überzeugt zu sein,
dass auch die Werte des geistigen Lebens, zu denen unsere ge-
schichtliche Entwickelung aufringt, ebenso lebendige Wirklichkeit
sind wie die Sonnensysteme. Mit dem Reiche der Gesetze, die
wir denken, und mit dem Reiche der Werte, die wir erleben, wissen
wir uns gleichermassen in den grossen Ordnungen eines Weltzu-
sammenhanges, die mit gleichem Rechte unsere Ehrfurcht ver-
langen: „der bestirnte Himmel über mir und das Sittengesetz
in mir."
Das Historische in Kants Religionsphilosophie.
Zugleich ein Beitrag
zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte.
Von E. Troeltsch in Heidelberg.
1.
Die Darstellungen von Kants Religionsphilosophie.
Die Kantische Eeligionsphilosophie hat, wie das bei der
Wichtigkeit der Sache begreiflich ist, eine grosse Anzahl von
Darstellungen gefunden. Ich hebe unter ihnen nur die wichtigsten,
sei es durch Erschöpfung des Stoffes, sei es durch charakteristische
Auffassung ausgezeichneten, hervor, um an sie eine Reihe von Be-
trachtungen anzuknüpfen, die mir mit den bisherigen Darstellungen
nicht erledigt zu sein scheinen, und die sich mit den neuerdings
hervortretenden Untersuchungen über Kants Verhältnis zur Ge-
schichte berühren. Sie werden zugleich durch die Entwickelung
der wissenschaftlichen Theologie auf eine immer eindringendere Er-
wägung der historisch-prinzipiellen Fragen nahe gelegt. Es sind die
Darstellungen von Kuno Fischer *), Otto Pf leiderer«). Albert
Schweitzer*) und Ernst Sänger;*) an sie reihen sich die für die
Entstehung der Kantischen Religionsphilosophie lehrreichen Arbeiten
von Georg Hollmann *) und Emil Amoldt, «) sowie die Auffassungen
der kantisierenden Theologen an.
1) Kuno Fischer, Immanuel Kant und seine Lehre. Heidelberg 1898.
Bd. IL
^ Otto Pfleiderer, Geschichte der Religionsphilosophie von Spinoza
bis auf die Gegenwart*. Berlin 1893.
3) Albert Schweitzer, Die Religionsphilosophie Kants, Freiburg 1899.
*) Ernst Sänger, Kants Lehre vom Glauben. Leipzig 1903.
^) G. Hollmann, Prolegomena zur Genesis der Religionsphilosophie
Kants. Altpreussische Monatsschrift 1899.
^) £. Arnoldt, Kritische Excurse im Gebiet der Kantforschnng
Königsberg 1894; Beiträge zu dem Material der Geschichte von Kants
22 E. Troeltsch,
Die Darstellung Fischers ist durch die Heranziehung des
ganzen Materials und durch das Bestreben nach Herstellung
möglichster Einheit im Kantischen Denken charakterisiert., wobei
diese Einheit im Sinne Kants gemeint ist und die nachbildende
Darstellung etwaige Brüche und Schwierigkeiten aus dem Sinne
Kants heraus zu glätten unternimmt. Sie spricht so, wie Kant
im Interesse der îiinheit und stilistischen Ausprägung seines Ge-
dankens hätte sprechen müssen, wenn er auf Diskrepanzen hin-
gewiesen worden wäre oder noch bessere Formeln von ihm ver-
langt worden wären. Für Fischer steht demgemäss die Religions-
philosophie als Abschluss aller Gedanken im genauen Fortschritt
des mit dem Transscendentalismus eröffneten Gedankenganges.
Sie reiht sich als Theorie vom reinen, d. h. aus der apriorischen
Selbstgesetzgebung hervorgehenden Glauben unmittelbar au die
Lehre von dem reinen, apriorischen Moralgesetz, wie diese ihrer-
seits sich an die Lehre von der reinen, die Erfahrung erkennenden
Vernunftgesetzgebung anschliesst, während der reine, auf die die
Erfahrung übersteigenden Gegenstände angewendete Vernunftge-
brauch oder die Dialektik die Vernunftideen von Seele, Freiheit
und Gott in der bekannten Schwebe zwischen Thesis und Anti-
thesis hält, welche durch den Hinzutritt der apriorischen prak-
tischen Erkenntnisse mit subjektiver Allgemeingiltigkeit zu Gunsten
der Thesis entschieden wird. Die Darstellung der auf den reinen
Vernunftglauben begründeten Religionsphilosophie giebt dann
Fischer im engsten Anschluss an die „Religion innerhalb der
Grenzen der blossen Vernunft", die er als den völlig angemessenen
Ausdruck der reifsten Erkenntnis Kants über diese Dinge ansieht,
und in der er mit der prinzipiellen Zuwendung zu dem religions-
philosophischen Thema eine ausserordentliche Vertiefung des Kan-
tischen Denkens erkennt. Diese Vertiefung stellt sich dar in der
Abgrenzung der ReUgionsphilosophie gegen die bis dahin mit ihr
noch allzueng verbundene Moralphilosophie, und diese Abgrenzung
vollzieht sich durch Einführung des Erlösungsbegriffes mit seinen
metaphysischen, wenn auch nur praktisch-metaphysischen, begriff-
lichen Korrelaten. Durch die Einführung des Erlösungsbegriffes
Leben und Schriftst^llerthätigkeit in Bezug auf seine Religionslehre und
seinen Konflikt mit der preussischen Regierung. Königsberg 1898; Kants
Jugend und die fünf ersten Jahre seiner Privatdocentur. Altpreussische
Monatsschrift XVm, 1881. Auch die erstgenannten Abhandlungen A meldte
sind ursprünglich in dieser Zeitschrift erschienen.
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 23
gelangt Kant nunmehr auch zu einer deutlichen Klarstellung seines
Verhältnisses zum historischen Christentum, das allein innerhalb der
ganzen Religionsgeschichte eine starke innere Beziehung auf die reine
Vernunftreligion hat. Der Anschluss an das (Christentum geht so-
A^'eit, dass mit ihm nicht bloss die Idee der Erlösung, sondern
auch das Zentraldogma des alten Protestantismus, die Idee des die
Erlösung bewirkenden stellvertretenden Leidens, als logische Kon-
sequenz des reinen Vernunftglaubens aufgenommen wird. Dieses
stellvertretende Leiden bleibt dabei nicht bloss in der Sphäre der
Bewusstseinsimmanenz als Leiden des Wiedergeborenen an den
Folgen seiner früheren Sündhaftigkeit im Schmerz der Busse, so
dass in demselben Subjekt der Wiedergeborene die Stelle des
Un wiedergeborenen vertritt; vielmehr lässt Fischer Kant auch die
stellvertretende Genugthuung durch ein fremdes sündloses Leiden
von dem Inhalt des Vernunftglaubens aus postulieren: „diese
Genugthuung ist nicht unser Verdienst, sondern ein fremdes, also
eine von uns unabhängige Thatsache, welche wir durch Offenbarung
erfahren und durch den Glauben an diese Offenbarung uns an-
eignen*" S. 843. Damit ist das für die ganze Kritik und auch
für die Religionsphilosophie grundlegende Prinzip der Bewusstseins-
immanenz durchbrochen, und prinzipiell die Frage nach dem Ver-
hältnis der bewusstseins-immanenten und durch apriorische Not-
wendigkeit ihrer selbst sicheren Religion zu den Thatsachen der
Geschichte gestellt. Dieses Problem lässt Fischer denn auch in
der „Antinomie" der „Rel. i. d. G. d. b. V." prinzipiell als eines
der Hauptprobleme der Kantischen Religionsphilosophie gestellt
und gelöst werden. Kant konstruieit darnach das Problem in
Analogie mit der oft befolgt-en Methode als Antinomie zweier von
derVernunft aus gleich notwendigen Sätze, einer die historische
Thatsache der Genugthuung fordernden Thesis und einer die Re-
ligion rein auf den bewusstseins-immanenten Ablauf der Willens-
bescbaffenheiten einschränkenden Antithesis. „Hier gilt die Thesis
ebensogut als die Antithesis, vielmehr gilt zunächst keine von
beiden. Wir haben zwischen Kirchen- und Religionsglauben eine
in der Natur der Sache begründete Antinomie : diese bildet den
eigentlichen Kern und Mittelpunkt des zwischen Kirche und Reli-
gion, Offenbarung und Vernunft streitigen Glaubens" S. H44. Die
Lösung erfolgt dann dadurch, dass die Anerkennung eines histo-
rischen Individuums als Verwirklichung des sittlich-religiösen
Menschheitsideals nicht durch historischen Autoritätsglauben, son-
24 E. Troeltsch,
d(5ni (lurch Messung der historischen Erscheinung an detn rational-
notwendigen Ideal, durch freie, rational notwendige Bejahung
dioHor Persönlichkeit als Ideal, zu Stande kommt. „Wenn
dcT historische (ïlaubc durch den rationalen bedingt ist, so ist
zwischen Kirchen- und Religionsglaube kein Widerspruch; gilt da-
go^cm der historische Glaube als unbedingt und von aller Ver-
nunfteinsicht als unabhängig, als der Glaube an ein wunder-
bares Kakturn, so ist der Widerspruch von Kirche und Religion
niemals zu lös(»n* S. 347. So ist Kants Religionspliilosophie für
Fisc.luu* im (iesanit(»rgebnis eine gegen alle andere Religion mit
d(^ni Christentum gemeinschaftliche Sache machende Theorie, die
innerhalb des (Christentums mit dem Protestantismus, innerhalb des
Protestantismus b(»züglich der Pi-ädestination mit den Lutheranern,
b(v/iiglicli der Sakramente mit den Reformierten geht, mit keinem
kirchli(*.hen Dogma sich deckend, aber in der Gesamtrichtung
christlich, inhaltlich am nächsten der Umbildung des christlichen
(Gedankens durch Lessiiig verwandt, aber auch Lessing gegenüber
völlig selbständig aus dem sittlichen Genius Kants hervorgegangen.
Ks ist deutlich, dass nach dieser Darstellung die Kantische
Religionsphilosophie sich aufs engste an das Christentum an-
sohliesst und den Glauben an den geschient liehen Christus als Er-
löser einschliesst, Ks darf aber nicht verschwiegen werden, dass bei
solcher Dai-stellung gerade an diesem Punkte starke Widersprüche
uuuntersuoht stehen geblieben smd. Es ist ein anderer Begriff
der Krlösung als der bisher vorausgesetzte, wenn es heisst: „Nur
wenn die TugtMul und die sittliche Wiedergeburt den Anfang ge-
macht hat, können wir vollkommen gewiss sein, dass das Ende
die Krlösung sein wird- S. 3()5. Und es ist ein direkter Wider-
spruch gt^gini die Krlösung durch Christus, wenn es heisst: „Wenn
die Bedingung -unseivs iiuieren Gott wohlgefälligen Lebens), die
erste und oberste, nicht in die Tugend, in unsere eigenste und
innerste That, sondern in die giHtliche Gnade und eine fremde
Genügt h nun g gi^setzt wird, so ist der Glaube nicht rein mora-
lisoh. s^>udern seinem wahren Urspnmge untreu und auf dem Wege
tnr Idololatrie-* S. 375. Diese Widerspriiche fallen freilich nicht
b%ohor, sondern Kant zui* Last: aber Fischer hat es unterlassen
auf den sehr widerspruchsvollen Charakter der von ihm zu
Grunde g^^egteu Hauptschrift hinzuweisen. Er bemerkt viel-
mehr ohne jtHle Rücksicht auf diese Widerspriiche uur ganz
allg^^mein: -Die Art und Weise, wie Kaut das Verhältnis der Re-
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 2ö
ligioD und Offenbarung, der unsichtbaren und sichtbaren Kirche
auffasst, darf als vorzügliches Beispiel seiner Entwickelungslehre
überhaupt dienen: er lässt, wie Lessing, die Offenbarung als die
religiöse Erziehung der Menschheit, die sichtbare Kirche als die
Erscheinungs- und Entwickelungsform der unsichtbaren gelten und
legt ein grosses Gewicht darauf, dass diese geschichtlichen Bil-
dungsstufen richtig gewürdigt werden; denn es sei eben so ver-
kehrt, sie für wertlos und überflüssig als für das Wesen der
Sache und für unwandelbare Formen zu halten" S. 574. Wie für
Fischer das Kantische Denken überhaupt in dem — freilich mit
den Prinzipien des Transscendentalismus nicht ganz einstimmigen —
Entwickelungsgedanken gipfelt, so sieht er auch die Religionsphiloso-
phie schliesslich wesentlich im Zusammenhange dieses Entwickelungs-
gedankens: in dem durch die Wiedergeburt bewirkten Heil wird
der rationale Ziel- und Normalbegriff der Religion durch das
Christentum verwirklicht, und das Christentum reiht sich damit ein
in den die ganze kritische Philosophie krönenden Begriff einer
Entwickelung der Vernunft.
Obwohl in diesem letzten Gedanken mit Fischer sich be-
rührend, giebt Pfleiderer doch ein erheblich anderes Bild von
Kants Religionsphilosophie. Seine Abhandlung ist zwar mehr eine
Kritik als eine Darstellung, und als Kritik zunächst das Gegenteil
einer immanenten Kritik. Er verwirft die Kantische Unterschei-
dung von Wissen und Glauben, die Sonderung und Wiederzusam-
menstimmung von gesetzmässiger Erfahrungserkenntnis, antino-
mischer Dialektik, praktisch-moralischer, kritisch-teleologischer und
apriorisch-religiöser Vernunft. Er übt auch an dem positiven In-
halt der Kantischen Religionsideen eine scharfe Kritik, die teils
die eudämonistischen Überbleibsel der Religionsphilosophie der
Aufklärung, teüs die starre Isolierung der apriorisch-religiösen
Ideen gegen das übrige Seelenleben tadelt. Die Kritik erfolgt vom
Standpunkt eines verschwommenen. Denken und Sein spekulativ
zur Deckung bringenden Monismus. Ist sie deshalb trotz mancher
treffenden Hinweise auf Widersprüche im Transscendentalismus
doch verständnislos gegen Kants eigentlichen Gedankengang und
ebendeshalb unfruchtbar, so ist sie doch an einem Punkte sehr
beachtenswert, nämlich da, wo Kant einem solchen Monismus am
meisten sich nähert, bei seiner Geschichtsphilosophie und damit
bei den geschichtsphilosophischen Elementen seiner Religionslehre.
Kant nämlich kann sich nicht damit begnügen, die Geschichte
26 E. Troeltsch,
bloss im Ganzen aus apriorischer Notwendigkeit so zu beurteilen,
als ob in ihr der Vernunft- und Freiheitszweck der Gattung sich
realisiere, sondern niuss von hier aus immer wieder den unum-
gänglichen Versuch machen, diese prinzipielle Betrachtung der
Geschichte am konkreten Geschehen zu bestätigen. Insofern diese
Greschichtsphilosophie dann wieder die Voraussetzung bildet für das
Verhältnis der reinen Religion zum Christentum, ist das für die
Beligionsphilosophie direkt bedeutsam. Darnach muss das Christentum
irgendwie eine Manifestation der Entwickelung der Vernunft sein.
Auf diesen Punkt legt Pfleiderer allen Nachdruck, dagegen igno-
riert er die von Fischer so umständlich reproduzierten Versuche,
dem Faktum der Offenbarung und der Erlösungswirkung Christi doch
auch von der Vemunftreligion aus eine gewisse Notwendigkeit zu-
zuerkennen. „Eine vierte Möglichkeit (des Verhältnisses von Ver-
nunftreligion und Offenbarungsgeschichte) ist nach Kant noch die,
dass eine Keligion objektiv natürlich und doch subjektiv geoffen-
bart sei, wenn sie nämlich so beschaffen ist, dass die Menschen
durch Vernunftgebrauch von selbst hätten auf sie kommen können,
nur nicht so früh schon, so dass die Offenbarung für gewisse
Zeiten und Orte nützlich, ja nötig sein konnte, ohne dass doch
die Wahrheit der Keligion bleibend auf ihr beruhte. Und das
scheint in betreff der christlichen Religion Kants Ansicht zu
sein** S. 176. Pfleiderer nimmt an, dass Kant über diese Sache
absichtlich sich nicht deutlich ausgesprochen habe. Jedenfalls
schränkt er die Bedeutung der so anerkannten eventuellen Offen-
barung ohne weiteres darauf ein, dass zu der eigentlich die Reli-
gion konstituierenden, rein bewusstseins-immanent^n. That eine „Ver-
anschaulichung des sittlichen Ideals in einem geschichtlichen EIxempel
von so henorragender sittlicher Erhabenheit, wie Jesus es darstellte,
anregend wirken könne"" S. 177. Auch die Bemühungen Kants
um die Herübemahme der Versöhnungslehre laufen ihm daher
lediglich hinaus auf eine ^Umdeutung der kirchlichen Versöhnungs-
lehre in einen subjektiven, immer neu sich wiederholenden Vorgang
im Innern des sittlichen Individuums"* S. 178. Wenn die Vemunft-
religion in dem so verstandenen Christentum sich selbst wieder
erkennen kann und um dessen willen ihm die Möglichkeit der
Offenbartheit zugesteht, so ist der Offenbarungscharakter „auch
unter dieser Voraussetzung nur als subjektiv mögliche Erklämngs-
weise eines geschichtlichen Datums zugestanden, nach seiner ob-
jektiven Bedeutung aber völlig in der Schwebe gelassen"* S. 179.
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 27
Pfleiderer sieht daher die eigentliche Tendenz der Kantischen Re-
ligionsphilosophie in einer rein subjektiven, rein aus dem Bewusst-
sein selbst quellenden Religion streng rational deducierten Cha-
rakters, zu der sich die Geschichte lediglich als allmähliche Ent-
wickelung und Durchsetzung dieses Zielgedankens verhält und auf
die auch die reinste geschichtliche Religionsbildung des Christen-
tum nur anregend und entbindend wirken kann. Die Idee der
Religion ist von der Geschichte absolut unabhängig, dagegen ist
die Geschichte abhängig von der Idee der Religion. Damit ist ihm
die Kantische Religionsphilosophie die direkte Vorläuferin der
Hegeischen, die neben und mehr als Schleiermacher mit diesem
Gedanken der in der Geschichte sich entwickelnden Idee der Reli-
gion vollen Ernst gemacht hat. Bei Hegel freilich ist diese Voll-
endung des Gedankens nur durch eine starke, aber zu diesem
Zweck auch unumgängliche Umbildung der metaphysischen und
erkenntnistheoretischen Voraussetzungen möglich geworden. Bei
Kant bleibt infolge der Mängel an diesen beiden Punkten — ab-
gesehen von der Dürftigkeit des Inhaltes der Religion — daher
auch immer ein unbefriedigendes Verhältnis zur Geschichte. Es bleibt
eine Sprödigkeit gegen sie, die alle Durchsetzung der Idee in der
Geschichte bestenfalls immer nur als Anregungs- und Veranschau-
lichungsmittel für die Entbindung des reinen Vemunftglaubens im
Subjekt würdigt, bei der aber niemals die Idee in der Geschichte
so stark und kennbar hervortreten kann, dass sie dem Individuum
tragender Grund und zeugende Kraft werden könnte. Daran
hindert Kant nicht bloss der ächte IndividuaUsmus des 18. Jahr-
hunderts, sondern vor allem der Ausgangspunkt seiner transscen-
deotalen Analyse im Subjekt, seine Bindung aller objektiven Er-
kenntnis an die apriorischen Erkenntnisse und der Gegensatz
dieser apriorischen praktischen Erkenntnisse, die nur im Subjekt
Objektivitätsgewissheit wirken, gegen alles andere als blosse Er-
scheinung. Es ist das Misstrauen der Kritik gegen die metaphy-
sische Realität der mehreren Subjekten gemeinsamen und vom
einen auf das andere wirkenden Macht des Geistes. Der Mensch
hat das Intelligible nur im eigenen Selbst und nicht im fremden,
das vielmehr Erscheinung bleibt, und darum ist bei aller relativen
Würdigung der Geschichte das Individuum doch gegen die Ge-
schichte und gegen den in ihr wirkenden Geist abgesperrt und
nur auf sich selbst angewiesen; ja es kann nicht einmal in sich
selbst das Intelligible und die Erscheinung sicher unterscheiden
28 E. Troeltsch,
and auf einander beziehen; es hält sich daher am besten bloss
an die apriorischen Vernunftgesetze, alles übrige nur so beurteilend,
als ob es mit ihnen im Zweckzusammenhang stehe. Wie die ganze
Geschichtsphilosophie die Prinzipien des Kritizismus überschreitet,
so ist auch Kants relative Würdigung der religionsgeschichtlichen
Entwickelung schon ein nicht ganz konsequenter Schritt. Der
Gedanke des ethischen Gemeinwesens, das Kant für die Erlösung
fordert und aus dem er seinen Gottesbegriff gelegentlich geradezu
erst ableitet, bleibt darum für ihn auch nur ein kritisches Postulat.
Die intelligible Freiheit ist im Einzelnen etwas Erfahrbares, eine
Realität, ein scibile, aber das Reich der Freiheit ist nur ein von
der Moral gefordertes, theoretisch aber überschwängliches Postulat;
das Gleiche bleibt damit auch die Geschichtsbetrachtung, welchç
das Reich der Freiheit werden sieht, aber die Erlösung des Indi-
viduums nicht in den Kausalzusammenhang mit diesem werdenden
Reiche selbst zu bringen wagt.
Erschöpfen die beiden bisher genannten Darstellungen den
ganzen Umfang der Kantischen Religionsphilosophie und tritt des-
halb bei ihnen das religionshistorische neben dem thetischen Pro-
blem deutlich zu Tage, so ist die Arbeit Schweitzers aus-
schliesslich dem letzteren gewidmet. Es ist in der Benutzung der
von seinen Vorgängern gegebenen Gesichtspunkte ein Abschluss
dieser ganzen Litteratur, die ja grösstenteils nur dem thetischen
Problem, den Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit und
ihrer Begründung im reinen Glauben, gewidmet ist. Schweitzer
dringt analytisch in diese Begriffsbildung ein, zerlegt sie in ihre
Componenten, untersucht die sie leitenden Denkmotive und prüft
sowohl den Gesamtzusammenhang der Religionslehre mit der Trans-
scendentalphilosophie überhaupt als den der besonderen religions-
philosophischen Begriffe unter sich. Damit tritt das Bewegliche
und Widerspruchsvolle, der Kampf und das Werden der Gedanken
zu Tage, die bei Kant so wenig als bei irgend einem Denker ein
wirklich einheitliches Resultat ergeben haben. Kuno Fischer habe
das Bild der Kantischen Religionsphilosophie so gezeichnet, wie
sie schliesslich historisch gewirkt hat; er will es zeichnen, wie sie
in seineu verschiedenen Entwürfen und immer von neuem unter-
nommenen Ausführungen wirklich beschaffen war. Dadurch wer-
den die Linien sehr viel unruhiger und verworrener, als sie das kon-
ventionell gewordene Bild zeigt. Vor allem hat Kant seine Reli-
gionsphilosophie bei ihrem viermaligen Entwürfe nie erschöpfend,
Das Historische in Kants tteligionsphilosophie. 2d
nie ganz prinzipiell, sondern immer mehr beiläufig dargestellt, und
der einzige Ansatz zur prinzipiellen Darstellung, die „Rel. i. Gr.
d. bl. V.", ist sowohl unvollständig als keine reine Ausführung des
Gedankens. Die Religionsphilosophie hat als Abschluss des
Ganzen von Anfang bis zu Ende sein Denken beschäftigt, aber sie
ist viel weniger fertig geworden, als die gewöhnliche Annahme
meint. Die Dialektik enthält einen religiousphilosophischen
Plan, der die Überführung der Thesen der Antinomien in prak-
tisch-religiöse Vernunfterkenntnisse in Aussicht nimmt und der
völlig originell ist, der aber niemals ausgeführt worden ist. Die
Methodenlehre der „Kr. d. r. V." enthält eine religionsphilo-
sophische Skizze, die aus der mit dem Transscendentalismus
nicht in inneren Zusammenhang gebrachten Freiheitslehre die
ethisch-eudämonistisch-metaphysischen Postulate der seit Locke und
Leibniz entwickelten Religionsphilosophie der Aufklärung kon-
struiert. Die „Kritik der praktischen Vernunft" bringt
dann die ausgebildete Freiheitslehre Kants mit ihrer spezifisch
ethischen und religiösen Würdigung, aber sie vermag die Einhal-
tung des religiousphilosophischen Planes der Dialektik und damit
den Zusammenhang mit den strengen Prinzipien des Transscenden-
talismus nur sehr künstlich und gewalttätig zu behaupten. Ihre
Postulate von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind etwas an-
deres als die Ideen der Dialektik; die Freiheit als scibile, als
Realität des Übersinnlichen im Menschen, ist etwas anderes als die
Freiheit der Dialektik; die religiösen Postulate schliessen sich an
diese Freiheitslehre nur sehr ungenau an, indem hier die Freiheit
aus der Basis der Postulate selbst zum Postulat wird und die Un-
sterblichkeitsidee nur durch eudämonistische Erschleichung und
erst durch diese Erschleichuug die Gottesidee gewonnen wird.
Die „R. i. d. Gr. d. bl. V.", in der Schweitzer weniger den reli-
giösen Erlösungs- als den ethischen Wiedergeburtsgedanken betont
findet, sprengt die kritische Freiheitslehre vollständig, indem sie
im intelligibeln, also an sich zeitlosen Charakter Geschehen und
Entwickelung annimmt; sie stellt zugleich neben der Beibehaltung
der alten eudämonistischen Unsterblichkeitsidee den religiösen
Gredanken doch im Grunde auf eine neue Basis, auf die Basis
der sittlichen Gemeinschaft, deren gemeinsames, rein inneres
ethisches Verpflichtungsbewusstsein auf die göttliche Venjunft als
Gesetzgeber zurückweist und eine unbegrenzte Entwickelung der
Gattung, nicht des Individuums, zum Ziel postulieren lässt. Im
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/L-i-iM- - :M'-ri»i'-i! Aju."-«- ■:•-■.-!! ihah ;:.- ^■"jîss^a '::n«rr»rnL
-»'iiv-r_-i.*LT a ma -^'jr-asur::" i.:/ ii.,r:>,'ii»-u y-â:£'«'iiï?oLiil':îïO-
jM" i*''-\i.i^--i it-i— -r IS sr-Mir -■.i:iiit. i.-i* ''"•.la-vs.'-utienra-Jsaias
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:..*^-'-i V - r L as -.■ 11 .>-*.-î II Lhu N'-'-Vü'-ikliiui r z''Z'\\ h^ Yriiik and
A.-iii:!'.'ii-T}:i:l- -•^îii^* 111: .ii/--'n yiiii:- ■: n i»-i- n ii:::- •iu;.rii W^jLt in
H^iii'ünu-T'-ii -ui«i uir mà-î--. :.:î- N .ii.u.-ü.i.'.r.i: i-i^i,... sr-U'^ail-r.
Das historische in Kants Religionsphilosophie. 31
für den Transscendentalismas die ganze Welt äusserer und innerer
Erfahrung gleicbmässig lediglich Erscheinung ist. Es ist das die
oft hervorgehobene Schwierigkeit des Kritizismus, die einerseits
in seinem Verhältnis zur Metaphysik und andererseits in dem zur
Psychologie liegt, und die zur Entstehung einer metaphysischen
und einer psychologistischen Schule aus ihm geführt hat ; die erste
zieht das Psychologisch-Phänomenale in das Intelligibel-Metaphy-
sische, die zweite umgekehrt das Metaphysisch-Intelligible in das
Psychologisch-Phänomenale hinein. ») Die andere Schwierigkeit,
die Schweitzer hervorhebt, liegt in dem Inhalt der religionsphilo-
sopbischen Ideen. In ihm nämlich stossen sich der Gedanke der
Glückseligkeit oder des Ausgleichs von Natur und sittlicher Wür-
digkeit durch eine beide aufeinander beziehende Gottheit und der
Gedanke eines sich entwickelnden Reiches des Guten und der
Freiheit, dessen geistige Einheit und dessen gegen alle Wider-
stände sich durchsetzende Zielrichtung nur unter der Voraussetzung
eines göttlichen Gesetzgebers und Weltleiters möglich ist. Es ist
im ersteo Falle der Gedanke der individuellen Unsterblichkeit und
jenseitigen Glückseligkeit, der in der Ethik der Aufkläning und
damit in ihrer Religionsphilosophie eine so grosse Rolle gespielt
hatte, im andern Falle der Lessing verwandte Gedanke einer im-
manenten und universellen Menschheitsentwickelung mit ihren re-
ligiösen Voraussetzungen, die Ausdehnung des Entwickelungs-
gedankens, den Locke und Leibniz noch auf das Individuum ein-
geschränkt hatten, auf die Gattung.
Einen noch enger begrenzten Teil, als Schweitzer behandelt
hat, macht sich Sänger zum Gegenstand, nämlich das prinzipielle
Verhältnis von Wissen und Glauben in seiner rein formalen, lo-
gisch-erkenntnistheoretischen Bedeutung. Es ist eine unverkenn-
bare Anfänger-Arbeit, aber in Geist und Methode Vaihingers ge-
halten, und daher von grossem begriffsstatistischem Verdienst. Sie
zeigt, dass diese Unterscheidung seit Beginn des kritischen Ver-
haltens mit fast monotoner Gleichförmigkeit als einer der wesent-
lichsten Grundgedanken durch alle Kantischen Äusserungen hin-
durchgeht, und legt dadurch den Schluss nahe, dass diese Unter-
scheidung nicht sowohl erst eine theoretische Folge des kritischen
Standpunkts als ein selbständiges, grundlegendes, gefühlsmässiges
Aperçu Kants ist, das sich seinem religiösen Bewusstsein in
«) Vgl. Elsenhaus, Das Kant-Friesische Problem, Heidelberg 1902,
32 E. Troeltsch,
dnr Auseinandersetzung mit der dogmatischen Metaphysik er-
geben und dann unter der Einwirkung der Kritik in den
immer festgehaltenen bekannten Formeln begrifflich verdichtet
liat. ') Diese ja auch von anderen gestreifte Entdeckung Kants
wäre demnach nicht notwendig an sein besonderes System ge-
bunden. Ausserdem zeigt die Abhandlung, wie streng Kant trotz
dieser Scheidung die Einheit der Vernunft festzuhalten bemüht
war. Er hat einerseits stets von der theoretischen Vernunft aus
in wechselnden Formen Hinweise auf die praktisch-religiöse ge-
sucht, sei es, dass er sie in den Ideen der Dialektik, oder dass er sie
in eimun neben ihnen behaupteten doktiinalen Glauben, d. h.
einem teleologischen Wahrscheinlichkeitsurteil, oder nach Entdeckung
der „reinen Urteilskraft** in der apriorisch notwendigen teleo-
logischen Wiîltbeurteilung fand. Andererseits hat er von den Be-
ligionspostulaten möglichst jede Kollision mit dem übrigen Er-
kennen, d. h. mit dem kausal-mechanischen Weltbild^ der inneren
und äusseren Erfahrung, ferne gehalten, und daher die religiösen
Postulate nicht nur in einer bloss subjektiv praktischen Allgemein-
giltigkeit, sondern auch in einer ganz abstrakten Allgemeinheit
gehalten. Sie beschränken sich darauf, dass das kausal-mechanische
Weltbild und sein Bestandteil, das menschliche Seelenleben, sich
beurteilen lassen, als ob die religiösen Ideen in Geltung stünden.
Von der intelligibeln Welt ragt in die Erfahrung nur die Freiheit
als reale Gewissheit herein, aber die hierauf aufgebauten Postu-
late sind ein Deukei^eugnis, dass das erfahrungsmässige, gesetz-
liche Weltbild nicht beeinträchtigen darf.
Diese Spezialfrage, das Verhältnis von Glauben und Wissen,
ist es auch fast allein, die die kantisierenden Theologen be-
arbeitet haben. Eine wirkliche Darstellung der Kantischen Eeli-
gionsphilosophie und eine Ent Wickelung ihi*er eigenen Auffassung
aus dieser hemus ist mir nicht bekannt. Zudem kommt als eigent-
licher Kantianer unter ihnen nur Wilhelm Herrmann*) in Betracht und
neben ihm Max Reischle.') Ritschi hat wohl allerband Berühnmgetf
^' Vgl. Simmel. Beiträge zur Erkenntnistheorie der Religion, Ztschr.
f. Philip, u. phili^ Kritik 1902, Bd. 119. S. 18.
*> Wilh. Herrmann. Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen
und zur Sittlichkeit« Halle 1879; Warum bedarf unser Glaube geschicht-
licher Thatsachen? Halle 185>2.
*) Max Reischle. Werturteile und Glaubensurteile. Halle 1900; Die
Fni^ nach dem Wesen der Religion. Pnfiburg 1889.
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 33
mit Kant, steht aber dem eigentlichen Geiste des Kritizismns ganz
ferne und hat auch nie etwas anderes als die Mithilfe Kants an
vereinzelten Punkten in Anspruch genommene) Aber auch bei
den vom eigentlichen Geiste Kants berührten Theologen wird nur
die Verwerfung der theoretischen Metaphysik und die Einführung
der praktischen Glaubenserkenntnis übernommen, die der phäno-
menal-gesetzlichen Erfahrungserkenntnis als religiöse Deutung auf
Grund „religiöser Erlebnisse" gegenübersteht; die „religiösen Er-
lebnisse" enthalten dabei immer mehr als die Bewährung der Frei-
heit, auf w^elche Kant das wirkliche intelligible Erlebnis ein-
schränkt, ohne aber dass dieses Mehr erkenntnistheoretisch genauer
fixiert würde. Ebenso fällt Kants energisches Streben nach der
Behauptung der Einheit der Vernunft fort. Weder die Hinweise
der Dialektik noch die der Urteilskraft auf den religiösen Gedanken
spielen irgend eine Bolle; ebensowenig der Versuch, diese letzteren
durch kritisch-subjektive Haltung und Einschränkung auf die allge-
meinsten Ideen, durch Ablehnung jedes unmittelbaren Verkehrs mit
Gott und aller Aussagen über das Verhalten Gottes zum Einzel-
geschehen, mit dem gesetzlich-kausalen Weltbild der inneren und
äusseren Erfahrung in Übereinstimmung zu halten. Ganz fällt
schliesslich der Kantische Schlussgedanke weg, die Welt als phä-
nomenale Entwickelung des intelligibeln göttlichen Vernunftwillens
zu betrachten. Das religiöse Bedürfnis nach unmittelbarem Verkehr
mit Gott, nach Beziehung des Einzelgeschehens auf den göttlichen
Vorsehungswillen und nach Anschluss an die konkrete Vorstellungs-
welt der Bibel und die beim religiösen Menschen so häufige Gleich-
giltigkeit gegen die Einheit des Gesamterkennens durchbrechen
hier überall die sorgfältigen Eingrenzungen und Anpassungen der
Kantischen Religionsideen, und es bleibt von Kant im Grunde nur
das Prinzip der subjektiv-praktischen Begründung nebst Ablehnung
der theoretischen Metaphysik. Vor allem aber durchbrechen sie
die Anschauung Kants von der Geschichte und ihrer Verknüpfung
mit dem normativen Beligionsglauben. Sie verschmähen dabei den
von Kant selbst angedeuteten Weg, die Offenbarung als Etwas
seiner Natur nach Unkontrolierbares neben der wissenschaftlich,
d. h* immanent-kausal vei-standenen Geschichte zu postulieren und
den subjektiven Glauben daran wegen seiner Unentbehrlichkeit für
1) Vgl. Lüdemann, Theologie und Erkenntnistheorie, Prot. Monats-
hefte 1897, der hierüber in feindseüger Form, aber sachlich richtig ge-
arteilt hat.
KantitadJeu IX. 3
34 S. Troeltsch,
die praktische Bdîgion wenigstens als möglidi zu konstnueren.
Diesel Weg haben die alten theologischen Kantianer Tor hundert
Jahren beschritten and aof ihm die kirchliche Offenbamngslehre
and Dogmatik in einer gewissen moralistischen Abblassang and
Umdeotang wieder hergestellt. Die modernen theologischen Kan-
tianer dagegen bestreiten Kants Begriff Ton der Geschichte fiber-
haopt als Überbleibsel des geschichtslosen Sinnes der Aoftlärong
and fordern eine wissenschaftliche Betrachtang der Geschichte,
welche ùberfaanpt das konkret-indiyidaelle Geschehen emstlidier
als solches würdigt, die idealen Überzeogangen des Menschen in
ihren positiy-historischen Begrändangen aofeacht and Tor allem insbe-
sondere in Jesus eine absolute Offenbarung des Intelligibeln durch
Glaubensurteil feststellt. Durch die Stützung auf diese Offen-
barung konunt den ohne Christas doch immer schwankenden
Glaubenspostulaten erst absolute, Vertrauen wirkende Sicherheit
und der in Trotz und Ungewissheit schwankenden sündigen Un-
kraft die erlösende Kraft zu. In dem Unterschied dieses prak-
tischen Glaubensurteils, das in Jesus die absolute Offenbarung des
Intelligibeln, d. Il der sittlichen Vernunft sieht und Ton dieser
Anerkennung ans erst den Beurteilungsmassstab der Historie der
Religion wie den Begriff der Seligion findet, gegenüber dem prak-
tischen Glaubensurteil Kants, das all seine Gewissheit seiner ratio-
nalen Allgemeingütigkeit und praktisch-ethischen Aprioritit ver-
dankt, liegt die grundlegende Korrektur des ELantischen «reinen
Glaubens*". Es liegt jedoch auf der Hand, dass diese Konr^^tor
Kants gänzlich ans seinen Voraussetzungen herausgeht und neben
dem allgemeinen kritischen Prinzip der Unterscheidung Ton Glauben
und Wissen noch die kritische Deduktion des Offénbarungs- und
Wunderprinzips samt einem Mittel, dasselbe sicher auf das histo-
rische Christentum anzuwenden, notwendig machen würde. Diese
wird Ton den kantisierenden Theologen jedoch merkwürdiger Weise
stets unterlassen und die Anerkennung der geschichtlichen Offen-
barung immer nur im Namen der modernen Überwindung des „jèB"
historischen Sinnes der Aufklärung'" gefordert, als ob der moderne
historische Sinn irgend selbstrerständUch zu einer solchen Aner-
kennung führte und als ob eine solche Verwertung der Historie
sich ohne Weiteres nachträglich in die Grundbegriffe des Trans-
scendentalismus einflicken Hesse. Und doch hätten sie für eine
solche, den Kritizismus freilich tief yerändemde Deduktion im
Begriff des radikalen Bösen und in einigen Andeutungen der
Das Historische in Kants Religionsphilosopbie. 35
„R. i. d. Gr. d. bl. V." eine Handhabe gehabt. Diese ist meines
Wissens niigends benutzt worden. Selbst die theologischen Inter-
preten des Eantianismus haben trotz alles Interesses an einer
solchen Verwertung des radikalen Bösen doch einen zu tiefen
Eindruck von dem auf das Allgemeine gerichtete und das Allge-
meingiltige in der Erfahrung realisierenden Charakter des Ean-
tischen Systems, als dass sie es von dieser Stelle aus aus den
Angeln zu heben versucht hätten.
Sofern neben den bisher genannten theologischen Kantianern
noch andere in Betracht kommen, die zwar auch vor allem die
Unterscheidung von Glauben und Wissen betonen, im übrigen aber
sich mit der psychologischen Symbolisierung der Glaubensideen
und mit der geschichtlichen Entwickelung dieser Symbolisierungen
beschäftigten, so fällt für diese freilich der Einwurf einer der-
artigen unmöglichen Korrektur und Interpretation der Kantischen Qe-
schichtsphilosophie weg. Aber sie haben dann den Kritizismus
an einer andern Stelle durchbrochen. Sie haben die spröde
Sonderung des Zufällig-Psychologischen von dem Notwendig-All-
gemeingütigen aufgehoben und damit sowohl den festen Wahrheits-
gehalt der Religion als die Begründung einer normativen religiösen
Elrkenntnis undeutlich gemacht, ganz abgesehen davon, dass die
so psychologisch verstandene und geschilderte Religion schwer
gegen das bloss teleologisch-kritisch gedeutete kausal-mechanische
Weltbild aufkommt. In der That ist Sabatier,i) der geistvollste
Vertreter dieser Auffassung der Kantischen Lehre, in Wahrheit auf
dem Wege zu dem Psychologismus von Fries und de Wette. Da-
mit ist er aber überhaupt auf dem Weg zu neuen Problemen, denen
gegenüber nur zu sagen ist, dass sowohl das Verhältnis dieser
psychologisch-historischen Religionsforschung zu den kritischen
Prinzipien überhaupt als insbesondere Wesen und Beurteilungs-
mögiichkeit der historischen Entwickelung nicht genügend durch-
gedacht sind. Noch mehr gilt das von Lipsius,«) dessen Eklekti-
1) August Sabatier, Theologische Erkenntnistheorie. Deutsch von
A. Baur, Freiburg 1896; Esquisse d'une philosophie de la religion d'après
la psychologie et l'histoire. Paris 1897. Vgl. meine Anzeige, Deutsche
Litt.-Ztg. 1898. Sp. 737 ff. Lasch, Die Theologie der Pariser Schule,
Berlin 1901.
*) Lipsius, Lehrbuch der evangelisch-prot. Dogmatik^, Braunschweig
1893; vgl. meine An^ieige Gott. Gel. Anzz. 1895; Ders., Philosophie und
Religion, Leipzig 1886. Vgl. die schon genannte scharfsinnige Abhandlung
von Ltidemann, die auch über Lipsius erschöpfend und zutreffend geurteilt hat.
3*
86 É. Troeltsch,
zismiis den kritischen Glaubensbegriffj spekulative Äquivalente
dieses Glaube us, psychologisch-kausale Geschichtsbetrachtung uad
metaphysische Geschichtskoostniktioe sehr unklar zu verbindeu
suchte^ und der ebeu deshalb trotz ernstlichen und gedankenreichen
Bemühens für Interpretation und Verwertung der Kantischeu Re*
ligionsphilosopie nichts Wesentliches geleistet hat. Immerhiu aber
steht diese zweitgenannte Gruppe — abgesehen von der Verdiinnung
des Apriorisch-Nortiiativen in der Kantischen KeUgionsphilosopkie
— jedenfalls in der von Sabatier gegebenen Durchführung dem
Geiste der Kautischen Geschichtsphüosophie näher als die erst-
genannte, und die sie drückenden Probleme sind zum grössten
Teil solche, die auch die Kantische Lehre drücken.
Die historischen Zusanimenliänge, iü denen und aus denen
für Kant selbst sich seine Religionsphilosophie bildete, sind noch
wenig erforscht. Ihre Kenntnis würde viele der Lehren Kants und
besonders seine Stellung zur Historie sehr erheblich erleuchten»
Doch siüd iiiimerhin solche Forschungen schwierig und darf mau
sich ihren Ertrag nicht allzu gross vorstellen. Kant hat bekannt-
lich wenig zitiert. Allein der Nachweis von Zitaten und direkten
Bemühungen würde nicht allzuviel beweisen für einen Mann, der
aus Recensionen und Gesprächen sich alle litterarischen Neuig-
keiten verschaffen konnte und fiir den auf diesem Gebiete nicht
die Details, sondern nur die prinzipiellen Hauptgedanken in Be-
tracht kamen. Andererseits ist das besondere Kapital von Kennt- J
nissen der Religionsgeschichte uud besonders der Geschichte deal
Christentums sicher nicht allzu gross gewesen. Ausser dem, was
ihm die anthropologischen Studien, die umfangreiche Lektüre you
Reiseberichten und dann das Studium der Hauptwerke der eng-
lischen uud französischen Litteratnr zugeführt hat, werden es our
einzelne Gmudanschauungen gewesen sein, an denen ihn nur die
prinzipielle Tragweite, nicht aber das historische Detail interessiert
hat. Wenigstens ist das der Eindruck, den man aus der kostbaren
Sammlung der «Losen Blätter'^ empfängt. Kaut hat sich für theo-
logische Studien und Littei-atur nach seiuer Universitätszeit nicht
besonders mehr interessiert und hat dann, als er den religions-
philosophischeu Studien sich näherte, mit geringem Kapital sehr
reichlich gewuchert. Die dogmatische Theologie hat er dann erst
in den Arbeiten seiner Schüler, die seine Prinzipien auf die Dog-
matik au wandten, wieder kennen gelernt. Von der historischen
und exegetischen, von Schöckh und Michaelis, hatte ♦■!■ Jugend-
Das HiBtorische in Kantfi Religionsphilosophie. 37
erinneruugen; von Semler scheint er mehr indirekte Kenntnis ge-
habt zu haben. >) Unter denjenigen, die sich dem Problem der
Entstehung der Kautischen Religionsphilosophie zugewandt haben,
hat daher Hol 1 mann ^Prolegomena zur Genesis der Beligions-
philosophie Kants" allererst vorausschicken zu müssen geglaubt.«)
Hier hebt er nach dem Vorgang von Benno Erdmann die besondere
Natui- des Königsberger Pietismus hervor, der in seinem Haupt,
Franz Albert Schultz, dem Lehrer Kants und dem Freunde seiner
Eltern, Wolffische Rationalität und Demonstration mit dem pietis-
tischen Bekehrungs- und Heiligungsgedanken verband. Hollmanu
glaubt in seiner sehr sorgfältigen Arbeit damit eine Hauptwurzel
von Kants Religionsphilosophie aufgedeckt zu haben. In der
That mag das Prinzip der Versöhnung von Philosophie und Theo-
logie, des Ausgleiches der beiden Fakultäten, von da aus in Kant
dauernd wirksam geblieben sein und mag ihm von hier aus die
Vereinigung rationaler Allgemeingiltigkeit der Religionsidee mit
der praktischen Strenge des Wiedergeburts- und Heiligungsge-
dankens eine gewisse gefühlsmässige Selbstverständlichkeit behalten
haben. Aber Kant entwuchs doch den theologischen Einflüssen
völlig und behielt von seiner Jugend vor allem eine Abneigung
gegen die pietistische Erregung der Sündenangst und gegen die
pietistische Andachtsübung. Er tauchte doch völlig unter in der
Welt der rein metaphysisch-spekulativen Probleme und dann in
der englisch-französischen Wissenschaft der Elmpirie und des Psy-
chologismus. Hier hat er sich völlig in die von der Theologie
ganz unabhängige Fragestellung der modernen Religionsphiloso-
phie eingestellt, und, als er von da aus zu den religionsphiloso-
phischen Problemen zurückkehrte, stand er auf deren prinzipiell
antisupranaturalistischem Standpunkt. Die Ausführung, die er dann
auf diesem Standpunkt gab, ist freilich von den bezeichneten
Jugendeindrücken mitgefärbt, vor allem in der persönlichen sitt-
lichen Stimmung, aber alle ihre wesentlichen Grundbegriffe ent-
stammen aus einer völlig anderen geistigen Welt. Wenn Kant
wirklich, wie Hollmann meint, für die „Rel. i. d. Gr. d. bl. V."
einen Königsberger Katechismus benutzt hat, so würde ich darin
nur ein Zeichen seiner völligen Entfremdung von aller Theologie
sehen können, die es ihm wünschenswert machte, für sein Werk
1) HoUmann S. 35.
^ Ober diese Prolegomena hinaus sind bis jetzt die Forschungen
HoUmanns nicht fortgeschritten.
38 B. Troeltsch,
gewissenhafter Weise noch ein offizielles Beligionsbnch zum Zweck
der Anseinandersetzong mit der Theologie zu kousultierea
Eine ganz andere Erklärong giebt Amol dt. Fjt unter-
nimmt es, Kants Beligionsphilosophie in die möglichste Nähe Les-
sings zu rücken und sie grossenteils als Zustimmung oder Gegen-
satz zu erklären. Die Beweise dafür beruhen allerdings nur darauf,
dass Kant einen so glänzenden Autor und Zeitgenossen gelesen
haben müsse, dass alle thatsächliche Übereinstimmung der beider-
seitigen Begriffe Übernahme Lessingscher Ideen durch Kant und
alle thatsächliche Verschiedenheit Korrektur derselben bedeute. Das
Richtige dagegen hat schon Kuno Fischer gesagt. ^) Die folgende
Abhandlung wird zeigen, wie Kant durchaus auf der breiten Basis
der Religionsphilosophie, Geschichtsphilosophie und Ethik der Auf-
klärung überhaupt steht, und wie die Berührungen mit Lessing
sich aus der gemeinsamen geistigen Atmosphäre von selbst ergeben.
Insbesondere die Aufstellungen über die Offenbarung, die Kant
und Lessing gemeinsam sind, sind nur die berühmten und viel
verhandelten Begriffe Lockes, mit denen er das deistische Schema
der Vereinigung von Vernunft und Offenbarung im Christentum
ausgebildet hatte. Es wird sich überdies zeigen, dass die Ver-
wendung dieses Schemas von Kant überhaupt nur im exoterischen
Sinne gemeint ist, indem er durch dasselbe den Theologen eine die
Philosophie nicht störende, möglicher Weise berechtigte, Provinz
einräumt. Amoldt hat einige Beziehungen auf Lessing und vor
allem auf Reimarus allerdings wahrscheinlich gemacht. Allein es
ist eine ganz falsche Vorstellung von der Sache, wenn man Kant
in diesen Dingen von einem einzelnen Autor statt von der Gewalt
der modernen antisupranaturalistischen Problemstellung überhaupt
abhängig denkt.
Ganz allgemein hat Paulsen in seiner Abhandlung „Kant der
Philosoph des Protestantismus"^ die Kantische Philosophie über-
haupt als „rechte FrucW des Protestantismus bezeichnet und da-
mit natürlich auch besonders von der Religionsphilosophie dieses
Urteil gefällt. Eine solche Zusammenordnung hat ihr voUes Recht
als Aussage über ein sachliches Zusammentreffen. Sofern sie da-
gegen genetisch gemeint ist, kann sie nur bedingt gelten. Schon
1) Kant n, 375 ff. Als blosse Vergleichung der Kantischen und
Lessingschen Lehre ist die] Abhandlung dagegen sehr branchbar.
«) Berlin 1899. Sonderabdruck aus Kantstudien IV, 1 Virl meine
Anzeige Deutsche Littztg. 1900, Sp. 157 ff.
Das Hûtorische in Kants Beligionsphilosophie. 39
der Ânti-fiationalismus der Kantischen Religionsphilosophie ist kaum
ein Ergebnis des Protestantismus. Der lediglich im religiösen
Widerwillen gegen die Spekulation begründete Anti-Rationalismus
Luthers hat nicht auf Kant gewirkt und ist im Protestantismus
selbst überhaupt rasch verloren gegangen. Das Christentum, das
auf Kant gewirkt hat, ist, wie Hollmann gezeigt hat, stark ratio-
nal, und von ihm hat er den Impuls auf eine Vereinigung des Ra-
tionalen und des Religiösen empfangen. Andererseits ist Kants
Anti-Rationalismus völlig selbständig in den Ergebnissen seiner Ar-
beit an den religiös-metaphysischen Spekulationen begründet und
wurzelt in seiner hierbei gewonnenen Einschränkung rationaler
Erkenntnisse auf die wissenschaftlich bearbeitete Erfahrung Die
Stellung, die dadurch den religiösen Gedanken zu Teil wird, ist
daher mehr antimetaphysisch als antirational; Kant hat sich alle
Mühe gegeben, ihre Rationalität auf anderer als metaphysischer
Basis dafür um so strenger zu behaupten. Die genauere Gestaltung
dieser Rationalität selbst ist dann freilich vom protestantischen
Individualismus und Gewissensbegriff, genauer vom Pietismus, er-
heblich bestimmt. Aber indem dieser Religionsbegriff der subjektiv-
persönlichen Überzeugung von der Begründung des Sittengesetzes
und seiner siegreichen Durchführung in Gott rein rational gehalten
und allem Historischen gleichmässig gegenübergestellt wird, be-
findet sich Kant im Zusammenhang der modernen wissenschaft-
lichen Religionsphilosophie oder des Deismus und steht er schroff
gegen Protestantismus und Katholizismus, die beide gleicherweise
einer abgelaufenen Periode angehören und von denen er den Ka-
tholizismus ausdrücklich konsequenter findet als den Protestantis-
mus. >) Sogar die ethisch religiöse Empfindung selbst ist viel-
leicht gleich stark Avie durch den Pietismus durch Rousseau beein-
flusst. Paulsen hat daher auch in seinem „Kant" die Religiosität
der Philosophen mit derjenigen Lessings, Spinozas und des Deis-
mus in einer Weise zusammengestellt, die den vollsten Gegensatz
gegen alle diejenigen enthält, welche den Erlösungsgedanken als
ihr Zentrum betrachten und hier den Anschluss an das Christentum
sehen. Kant empfindet in dem 18. Jahrhundert überhaupt ein
neues Zeitalter der Religionsgeschichte, das Zeitalter der nicht-
statutarischen, und das heisst der nicht-supranaturalistischen Reli-
gion, das einen Bruch mit allem bisherigen bedeutet und erst
1) Kant, Werke, Hartenstein, 1868. VH, 378.
40
E, Troeltsch,
in seinoii Anfängen ist. Dieser Bruch aber ist vor allem m der
StelliiBg zum Historischf'ü beja:riioilet Eiu ,,syoibolisdier Anthro-
proniophisiHUS" als notweudi^e Form jedes religiösen Glaubens
(S. ll>) iiïul die Aufg:abe der Keinigurig und Kontrule dieses Sym-
l>olisrnas durch reine Veruuuftideeu» das ist etwas, was nicht dem
Pmtestantisnius, soudern rein der niodenien Ideenwelt angehurt.*)
2.
Kants AusganjSfspuuki für die Bestimmung des
Verhältuisses von Religion und Geschichte.
Dieser Überblick über die wichtigsten Darstellimgen and
Auffassungen der Kantischtm Religionsiihilosophie zeigt, class ihre
Probleme sieh deutlich iu zwei Hauptgruppeu gliederu^ in die er- ^
kenutnistheoretisch -metaphysischen (das Wort „metaphysisch**^
hierbei im Sinne Kants gebraucht als Bezeichnung für eijie auf
reiner, gesetzgebender, apriorischer Vornuuft beruhende Erkennt-
nis) und lu die religionsgeschichtlicdieu. Das zeigt auch Kants
eigene Schriftstellerei, die in den wiederholten Hauf^tentwürfeiM
nur Aus erste Probleni ins Auge fasst, das zweite dagegen ausser
in der „R. i. d. Gr, d, bl. V," nur in Gelegenheitsschriften be-
handelt Das liegt schliesslich im Wesen der Kantischen Theorie
selbst, die überall die gewisse, aus der Venmuftgesetzgebuijg
hervorgehende Erkenntnis su(!ht und alle bloss psychologische An-
regung oder Durchkreuzung, alle historischeu Beimengungen oder
Durchsetzungen nur als Beiwerk betrachtet. Es ist nicht die
Absicht dieser Abhandlung, die Probleme der ersten Gruppe weiter
zu beleuchten und zu uutorsucheu. Übe)' diese diWte in einer
uferlosen Litteratnr allmähtich alles Vernünftige gesagt sein.
Insbesondere halte ich die Schrift von Schweitzer trot^ mancher
üborscharfsinnigen Meinungen auf diesem Gebiet mindestens vor-
läufig für das k^zte Wf)rt, Dagegen bedarf, wie die vorangegan-
gene tibersicht zeigt-, die zweite Gruppe noch sehr dringend ga«
nanerer Untei-suchung. Es kann zwar auch hier nichts wesentlich
Neues gesagt werden und darf vor allem nicht vergessen werden,
dass Kant diese Probleme absichtlich bei Seite geschoben und
ihnen keine integrierende Bedeutung zuerkannt hat. Sie düiien
daher auch nicht tiefer in seineu Gedanken hineingeschuhen
1) Was übrigens Paulseti selbst richtig liervorhebt S. lö 1 AusserdeB
vgl Paulsen 1. Kant 1898, S, 364 f.
Das Historische in Kants Reiigionsphilosophie. 41
werden, als er selbst sie hat haben wollen. Allein einerseits ist
die Auffassung von Kants wirklicher Stellung zu ihnen doch noch
sehr schwankend, und andererseits pflegen in solchen nur durch
Abschiebung erledigten Problemen die nicht aufgearbeiteten Reste
zu liegen, von denen aus sich die kritische Fortbildung durch die
Nachfahren zu erheben pflegt.
Um nun aber den Einsatzpunkt für diese Untersuchung fest-
zulegen, muss ich noch einmal den Hauptcharakter hervorheben,
der von allen Darstellern als der entscheidende Grundzug aner-
kannt ist. Die Kantische Lehre ist in allen Stücken erkenntnis-
theoretisch, das heisst: sie beruht auf der Voraussetzung, dass in
den apriorischen Notwendigkeiten der Vernunft und in deren Kon-
sequenzen die dem Menschen allein erkennbare normative Wahr-
heit gegeben ist; sie besteht in der Herausschälung der apriorisch-
rationalen, den Wahrheitskern konstituierenden, Gedanken aus dem
Win-warr des erfahrungsmässig stets getrübten und nie rein auf
seine apriorische Bestimmtheit sich besinnenden gewöhnlichen Be-
wusstseins ; sie ergiebt schliesslich derart als Ziel aller Denkarbeit
einen streng normativen, die für Menschen erreichbare Wahrheit
enthaltenden, Gedankenzusammenhang, der als Wahrheitskern des
gewöhnlichen Bewusstseins, als Massstab der thatsächlichen histo-
rischen Geistesbewegungen und als Zweck der völlig gereinigten,
Edles Zufällige von diesen Gesetzen aus beherrschenden und glie-
lemden, Vernunft erscheint. >) Die Bedeutung dieses Grund-
Aarakters gerade für die Rehgionsphilosophie zeigt sich bei dem
V^'ergleich mit der vorkantischen modernen Religionsphilosophie.
Diese war entweder rational-metaphysisch, indem sie einen meta-
[>hysisch konstruierten Sachverhalt als Wesenskern und Norm der
5ubjektiven Religion konstruierte und von diesem aus die verschie-
lenen historischen Offenbanmgsansprüche zu würdigen unternahm,
3der sie war empirisch psychologisch, indem sie mit Locke in den
îthisch-eudamonistischen Urteilen das religiöse Ingredienz heraus-
zuheben suchte oder mit Shaftesbury in Gefühl und Enthusiasmus
*) Vgl. an M. Herz 1773: „Da ich einmal in meiner Absicht, eine so
ange von der Hälfte der philosophischen Welt umsonst bearbeitete Wissen-
tchaft umznschaffen, so weit gekommen bin, dass ich mich in dem Besitz
^ines Lehrbegriffes sehe, der das bisherige Rätsel vöUig aufschliesst und
las Verfahren der sich selbst isolierenden Vernunft unter
ichere und in der Anwendung leichte Regeln bringt . . .* Er wiU diesen
.seinen domigten und harten Boden eben und zur allgemeinen Be-
arbeitung frei machen^. Briefw. I, 137.
42
E, Troeltflch,
oder mit Rousseau in der Stimme der Natur die religiöse Erkeont-
ids suchte und dabei de» einfachen praktischen (iehalt in alleu Be-
h'gfionen trotz verschiedener, meist nur kornmpiereiider Ausigrestal-
tunken identisch fanden. Der iteprensatz Kants gegen den erstp
genanuteii Zwei^ der Rehgionsphilosoithie liegt auf der Hand. £s
ist der Gegensatz der transseendental-kritischen gegen die meta-
physisch-spekulative Methode» wobei nur nicht zu vergessen ist,
dass Kant mit den i^letaphysikern das Interesse an einer unbe-
dingt, festen, begrifflich völlig gesicherten, normativen Erkenntnis
gemein hattet) Weniger scharf beachtet ist sein Gegensatz gegeo
den letztgenannten Zweig. Er hat mit diesem gemein, dass er die
Religion nicht als dogmatisches Refiexionsprodiikt, sondern als ge-
gebenes seelisches Phänomen nimmt. Aber er unterscheidet sich
von dem empirischen Psychologisnms dadurch, dass er sich nicht
au die psychische Ei^^cheinung als solche hält, die ihm direkt und
von sich aus keinen Zutritt zur Wahrheit gewährt, sondern Eü^^
schoinung des Seelenzusammeuhangs ist. Er schält vielmehr auct^^
hier erst kritisch-erkeuntnistheoretisch-transsceudeutal den hier zu
Grunde liegenden apriorischen Wahrheitskern heraus. Er unter-
scheidet Psychologrie und Erkonntnistheorie der Religion, und nur
auf der kritischen Erkenntnistheorie des TransscendentaüsmttS
baut oj' den Wesens- und Noi^m begriff der Rtjligion anf, den der
Psychologismus von sich aus konsetjuenter Weise gar nicht suchen
konnte und den die metaphysische Religionsphilosophie kons
quenter, aber irrtiimlichcr Weise suchtet)
1) Vgl Briefw. n, 512 vom 24. XI. 1794: „Mein Thema ist eigentlic
MetaphysOc in der weitesten Bedeutung und befasst als solche Tlieologie»
Moral ^mit ihr also Religion), ingleichen Naturrecht (imd mit ihm St^iat^-
und VfUkerrecht}, obzwar nur mich dem, wa-s bloss die Veruunft von iliDen
zu sagen hat,** und die Äusserung an Herz IL V, 1781 über die Kritik,
sie »,entlialte die Metaphysik von der Metaphysik"^ Briefw* 1, 252.
*) Lehrreich ist hierfür Kants Verhältnis 7ai Jacobi. Er hatte sich
durt*k die Berliner in scliarfenGegen.satz geja:en ihn treiben lassen (Briefw.
1, U% 432', bat aber doch die Verbindung mit ihm — wohl im Gefühl
einer gewissen Gemeinsamkeit — nicht abgebrochen sehen wollen (L öOo).
Kant hat dann seinen Unterschied gegen Jacobis Theismus oder Relierions*
pliilosophie überlegt und selbst in dem oben angegebenen Sinne fixiert.
Er schreibt an Jacoln 30. VIII. 1789: *,Etwas, was Über die Spekidation
hinzukommt, aber doch nur in ihr, der Vernitnft, selbst liegt und was wir
zwar (mit dem Namen der Freiheit, einem übersinnlichen Vermögen der
Kausalität in uns) zu benennen, aber nicht zu begreifen Tvissen, ist das
notwendige Ergänziingsstück derselben. Ob nun Vemunftj uin zu
diesem
Das Historische in Kants Beligionsphilosophie. 43
Es ist sehr nötig, dieses erkenntnistheoretische Moment in
Kants Religionsphilosophie zu betonen. Denn Auffassang und Be-
urteilung hängt zum guten Teil davon ab. Freilich ist sie aber
auch nicht lediglich aus diesem Gesichtspunkt zu verstehen. Wie
seine ganze EIrkenntnistheorie durchgängig von dem psychologischen
Befund der Bewusstseinsanalyse und damit von dem Stand der
damaligen Psychologie abhängig ist, so ist auch seine Erkenntnis-
theorie der Religion von der damals vorwiegend geübten Religions-
psychologie abhängig. Diese hatte an der Religion überall bereits
den wesentlich praktischen Charakter erkannt, und, da sie das
Praktische nur als Moralisches zu fassen wusste, so hatte sie die
Religion als Moral mit metaphysischen Korrelaten angesehen. Das
Begriff des Theismus zu gelangen, uns durch etwas, was allein Geschichte
lehrt, oder nur durch eine uns unerfassHche, übernatürliche innere Ein-
wirkung habe erweckt werden können, ist eine Frage, welche bloss eine
Nebensache, nämlich das Entstehen und Aufkommen dieser Idee, betrifft^
II, 73 f. Jacobi schreibt in seiner Antwort diese Stelle aus und bemerkt
zu ihr: „Und es entspringen diese Erkenntnisse nach meiner Meinung aus
der unmittelbaren Anschauung, welche das vernünftige Wesen von sich
selbst, von seinem Zusammenhang mit dem Urwesen und einer abhängigen
Welt hat. Bei der Frage, ob diese Erkenntnisse wirkliche oder nur ein-
gebildete Erkenntnisse sind, ob ihnen Wahrheit oder Unwissenheit und
Täuschung entspreche, wird die Verschiedenheit zwischen Ihrer Theorie
und meiner Überzeugung auffalleitd.^ II, 102. Jacobi bezeichnet auch den
gemeinsamen Boden, innerhalb dessen sich diese Differenz bewegt: „Da
ich meinen Theismus überall nur ans dem allgegenwärtigen Faktor mensch-
licher Intelligenz, aus dem Dasein von Vernunft und Freiheit hergeleitet
habe, so konnte ich die Möglichkeit einer Beziehung (sc. eines Angriffs
Kants) auf meine Theorie nicht einsehen.*^ I, 101. Die gegen Jacobi ge-
richtete Abhandlung „Was heisst sich im Denken orientieren^ 1786, die
die Berliner Kant abgedrungen hatten und auf die sich die oben zitierten
Briefe beziehen, hatte auch ihrerseits diesen Unterschied auseinanderge-
setzt. Das Prinzip giltiger Erkenntnis liegt nur in der reinen kritischen
Vemtmft. Das gilt gegenüber Mendelsohns common sense. Es gilt noch
mehr gegen Jacobis genienmässigen Glauben. In ihm hegt kein Prinzip
der Gütigkeit. „Der Venunftglaube (sc. die kritische Lehre) muss vorher-
gehen und alsdann könnten aUenfalls gewisse Erscheinungen oder Er-
öffnungen Anlass zur Untersuchung geben, ob wir das, was'^zu uns'^spricht,
oder sich uns darstellt, wohl befugt sind, für eine Gottheit zu halten, und
nach Befinden jenen Glauben bestätigen," IV, 349. Wie in den Er-
leuchtungen als solchen kein Prinzip der Giltigkeit hegt, so wird die
Nötigung bald sich einstellen, ein solches zu ergänzen. Man wird ent-
weder genötigt sein, auf das Eingebungsprinzip] das^Prinzip supranatu-
raler Offenbarungen aufzupfropfen oder, wenn man von ihm sich befreit,
44
E. Troeltsch,
ist bei so griindverschiedeneii Deiikerir wie Lot'ki% Leibuiz und
Pascal der Fall mid ist besutiders charakteristisch in der Kant
zunächst vorliegenden Reli^iooslehre der deutsclien Aufklärang
ausgeprägt. So liât Kant deu Religionsbegriff ilberkoniuien, uüd,
indem er ihn aus dem bloss Psychologischen ins Erkeuntnistheore-
tische erhob, hat er ihot die Erkenntnistheorie der Moral als Rück-
grat gegeben. Einmal aber so zum Rückgrat des Religionsb(?-
grifies geworden, hat die Moral über ihn eine ganz einseitige
Herrschaft erlangt, die über die persönliche Empfindung Kants
von der Religion doch wohl nicht unerhelilieh hinausging. Der
Wiedergeburts- und Erltksungsgedanke, die Idee einer göttlichen
die Spekulationen einer dogniatisclien Metaphysik zu Norm und Kern
machen müssen IV, Hb\, Ganx den gleichen Standpunkt nimmt die nicht
ausdrücklich, aber thatsai'ldich g-egen Jacohi ^rericlitete Abhandlung ^Von
einem neuerdin^ erhob*^nen vornehmen Ton in der Philosophie^ 1796 ein. Die
Reli^ioiisphiloHophie der Geniemänner fordert nnr „einen einzigen Scharfbhck
auf ihr Inneres'* (VI, 466); sie hält sich an das „Empirische, welchem eben
darara xur allgemeinen Gesetzgebung untauglich ist" und .^entraannet und
lähmt durch dieses untergeschobene Empinsche*' die auf apriori geltenden
Prinzipien bernhende praktische Vernunft 477* üni dann aber „glaubhaft
zu machen, dass dieses Gefühl nicht bloss subjektiv in mir sei, sondem
einem jeden angesonnen werden ki^nne/* macht sie aus dem Gefühl ^eine
Anschauung, Auffassung des Gegenstandes selbst"; „es lebe also die Philo-
sophie aus Gefüllten, die uns gerade zur Sache selbst ftthrt ! Weg mit der
Vernünftelei aus Begriffen, die es nur durch den Umschweif allg-emeiner
Merkmale versucht, und die, ehe sie noch einen Stoff bat, den sie immit-
ielbar ergreifen kann^ vorher bestimmte Formen verlangt, denen sie jeneu
Stoff unterlegen könne!" S. 471. Dem gegenüber fixiert Kant seinen
Standpunkt seharf: „Die innere Erfalu*un|^ und das Gefühl (welches an
sich empirisch und hiermit zufällig ist), wird allein durch die Stimme der
Vernunft (dictamen rat ionisa die zu Jedennann deutlich spricht und einer
wissenschaftlichen Erkenntnis fähig ist^ aufjtijerc^^, nicht aber etwa durchs
Gefühl eine . , . Begel für die Venmnft eingeführt, welches nniuôglicb
ist, weil jene sonst nie allgemeingillig sein könnte** S. 478. Znm Schluas
aber betont Kant, dans diese Differenzen bei der Gemeinsamkeit des Bodens
doch unbedeutend seien .,ein Länu um Nichts, eine Veruneinigung aus
Missverst«nd, bei der es keiner Aussivhnnng, sondern nur einer wechsel-
seitigen Erklärung bedarf** S. 48L Freilich ist mit der Hervorhebung
dieser Begriffe nicht der ganze Gegensatz erschöpft. Die Genie-Religiaii
will in ihrer Anschauung Gott haben und von ihm erj^riffen sein^ während
sie der Kantische Lehre %'orvvirft, dass nach ihr die Vernunft Gott erst
mache und ihn bloss Prinzip und Idee sein lasse. S. 477. Von diesem
Gegensatz wird später noch die Rede sein. \g{. VII, 444 (Anthropologie)»
wo iTacotu nicht genannt, aber sichtlich neben Pascal, der Bourij^on und
Alb. V. Haller gemeint ist.
Das Historische in Kants Religio nssphilosophie.
Onade tind Weisheit, die die Totalität der gnteu Gesiünimg für die
^ten Werke Bimmt, mid einer Voi-sehiing und Weltleitung, welche
das Gute gegvu das Böse stärken, das suid doch nicht mehr mora-
lische, sondern spezifisch religiose Gedanken. Auch die anbetende
Bewunderung vor der Majestät des Übersinnlichen geht über das
moralistische Schema weit hinaus. Aber diese Gedanken sind unter
dem Zwang der au die Moral augt*lohriten Erkenntnistheorie zu
keijier rechten Entfaltung gekonnneu. Doch soll das in diesem
Zusammenhang nicht besoudei-s betont werden; hier hat ja bereits
die romantische Religionsanalyse mit vollem Recht korrigiert. Hier
soll nur die Bedeutung des erkenntnistheoretisclien (^edankens als
solchen hetTorgehoben sein, weil an seiner Einführung die Be-
sonderheit des Verhältnisses von Religion und Geschichtre hängt,
wie es für Kant sich ergeben habe*
Noch ein weiterer Umstand ist bei dieser Betonung des er-
i kenntuistheoretischen Momentes von vornbereiu zu beachten, Kants
I ganze kritische Erkenntnistheorie ist eine Behauptung und Neu-
igestaltung des Rationalismus gegenüber dem Empirismus. Allein
les ist ein völlig formaler Rationalismus, der nur in den apriori-
' sehen Bewusstseinsfoi^men und Beuiteilungsweisen die Notvvendig-
I keit der Vernunft liervorhebt, aber diese Formen überall auf den
' thatsäcblicheu Stoff des äusseren und inneren Sinnes ei'st anwenden
^lässt Das ist verhältnismässig einfach und rein durchgeführt für
' die Naturwissenschaften und für die teleologische Urteilskraft.
Nicht völlig rein aber ist dieses Prinzip durchgeführt für die Ethik
und die Religionslehre. An sich müssten darnach die Grundbe-
griffe der Moral und der Religion Kriterien sein, die den mora-
lischen oder religiösen (îharakter eines Geschehens festzustellen
emioglichen und die in dem rationalen Seelengeschelieti immer
mehr als ordnende Prinzipien geltend zu machen sind. Statt
dessen aber schlägt die kritische od(^r formal-rationalistische Hand-
habung des Prinzips sein* häufig um in eine materiale mhn- inhalt-
lich-rationalistische. Aus dent formalen Moralprinzip wird ein
freilich sehr mageres inhaltliches Moralgesetz und ans dem for-
malen Religionsprinzip wird ein nicht minder magerer lïibegriff
rationaler Glaubensartikel gewonnen. Das aber ist von grosser
Wichtigkeit für unser Problent. Je mehr das erstere der Fall ist,
um so unbefangener wird die Religionslehre auf die wirkliche
Uisturische Religion eingeheu; je mehr das zweite, um so mehr
wird Kant die rationalistische Spr(idigkeit der Veriuinft gegen die
46 E, TroeUsch,
G^chîchte teilen. Immerhin aber macht sich dieser Unterschied
mehr nebenbei geltend. Das Wichtigste ist für Kant die Frage
nach der Geltung überhanpt, und diese für ihn nur erkenntnis-
theoretisch zu beantwortende Frage verschlingt alle feineren Unter-
fi*agen.
Kants Denken steht also durchaus in der Richtung auf das Nor-
mative. Er hat das mit dem ganzen aufstrebenden modemen
Denken gemein, das die Geltung der Autoritäten und Vorurteile
nicht dazu erschüttert hat, um sieh mit geistreicher Skepsis und
nachbildender Objektivität in die Mannigfaltigkeit des Wirklichen
und des Geweseneu zu stürzen, sondern das die durch die
anderthalb Jahrtausende christlicher Ei^iehung erw^orbene Richtung
auf absolute, höchste und normative Wahrheit nur mit anderen
Mitteln zum Ziele zu führen suchte. Hierin vor allem liegt das
begründet, was man den unhistorischen Charakter der Aufklärung
genannt hat. Die Aufklärung sucht auf dem küi-zesten Wege die
von der Autorität unabhängige, allgenieingiltige Wahrheit eines
endlich mündig gewordenen Zeitalters. Sie ist wohl mit Historie
beschäftigt, aber sie fasst die Historie überall als Nachweis der
menschlichen Entstehungsweise aller bisherigen historischeu AnUy
ritäten in Kirche, Staat und Gesellschaft, die zu solchen Autori-*
täten ja nur durch den Glauben an einen irgendwie göttlich-über-
menschlichen Ursprung geworden waren und die durch Abstreifuug
des göttlichen Ursprungs auch der göttlichen Aut4>rltät entkleidet
wurden» Und sie achtet andrerseits überall auf die ihrem Ideal
entgegenkommenden Ansätze, in denen sie das notw^eiidige Hin-
streben zu den natürlichen normativen Wahrheiten erkannt. Wenn
sie hierbei die Störungen dieser Wahrheiten durch subjektiv-
pragmatisch erklärte Abweichungen und Verschlechteruiigen zu
erklären versucht, so war ihr ja auch das durch die jahrtausend-
lange Herrschaft des Erbsündenbegriffes nahe genug gelegt, der
ebenfalls die Abweichungen vom Normativen nur als Korruption zu
erklären TriTisste. Daraus und nicht in erster Linie aus der natm^
wissenschaftLichen Gewöhnung des- Denkens folgt die eigentümliche
Behandlung der Historie in der Aufklärung. Nur indem ihr nor-
matives, auf die neuen Grundbegriffe der Welterkeuutnis gericb-
tetf'S Denken sich dabei vor allem den naturwissenschaftUch-tech-
niscben Emingenschaften zuwandte und zur Aufhellung der Zu-
sammenhänge der natiu^wisseuschaftlichen Methoden sich bediente
drang dann die alles Einmalige und Individuelle austilgende,
É
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 47
atomistische, der Naturwissenschaft analoge Behandlung auch me-
thodisch in die Historie ein, wobei nur nicht zu vergessen ist,
dass gegen das Individuelle und Einmalige auch die christlich-
nomative Geistesrichtung mehr als gleichgültig war. Daneben hat
es aber an Erwägungen des zufälligen Individuellen, auch an der
Verwertung des Entwickelungsbegriffes nicht gefehlt. Die Aufklärung
hat das historische Problem sehr wohl gekannt, hat aber in ihrem
normativen Geiste ein ganz anderes Interesse an die Historie herange-
bracht, als das dann eine in der Âllgemeingeltung des Bationalen aus-
gehungerte Zeit mit ihrem Bedürfnis nach Leben und konkreter Realität
später gethan hat. Es liegt ja auch auf der Hand, dass sich das
19. Jahrhundert mit seinem historischen Sinne zwar das Leben gross-
artig vertieft und ausgeweitet, aber doch die geistige Gesamtlage
nur erschwert hat. Für es liegt das Problem des Normativen in-
folgedessen in einer viel schwierigeren Höhenlage, als das für
die Aufklärung der Fall war; und alle modernen Versuche zur Be-
gründung des Normativen zeigen dementsprechend auch entweder
die Notwendigkeit, die Historie wieder im Sinne der Aufklärung
zu depotenzieren, oder für den neuen Problemansatz auch eine,
von den Begriffen der Aufklärungsphilosophie sehr verschiedene
methodisch-spekulative Voraussetzungen zu suchen.^)
1) Die Genesis des modernen historischen Sinnes ist noch sehr wenig
erforscht. Jedenfalls entwickelt er sich selbständig als Kritik und Rekon-
struktion neben dem naturwissenschaftlichen und wird von diesem nur ge-
färbt, aber nicht im Wesen bestimmt. Die Kritik und Politik der Renais-
sance, Kirchengeschichte, Philologie, Rechtsgeschichte sind seine QueUen.
Anthropologie und Ethnologie erweitem ihn mächtig. Menschheitsge-
schichte und Entwickelung, Fortschritt und Hemmung, der Begriff der
Kultur und eine bei den einzelnen Denkern sehr verschiedene Wertung
der Knlturelemente, ob Staat oder Kunst oder Technik und Naturwissen-
schaft die wichtigsten sind und zur Gliederung des Ganzen dienen können,
zugleich die Frage der Urkundenkritik und die erkenntnistheoretischen
Bedingungen der Rekonstruktion: all das beschäftigt die zweite Hälfte
des 18. Jahrhunderts. Das 19. Jahrh. hat freiUch dem eine ausserordent-
liche Ausbreitung der Urkunden und Verfeinerung der Kritik, sowie die
Vertiefung der Sozialpsychologie hinzugefügt. Aber etwas prinzipiell
Neues ist in seiner Historie nicht zu entdecken, es sei denn der Verzicht
atrf alle Beurteilungsmassstäbe, was aber kaum in jeder Hinsicht ein Vorzug
ist. Der Entwickelungsbegriff jedenfalls macht den Unterschied nicht aus.
Denn dieser ist heute kaum klarer als damals. Vgl. Goldstein, Die empi-
ristische Geschichtsauffassung Humes, Leipzig 1903; Fleint, Philosophy of
history in Prance 1893 ; Harsbach, Untersuchungen über Adam Smith 1891 ;
Görlitz, Historische Forschungsmethode Mascovs 1901; Bock, Wegelin als
48 E. Troeltsch,
So ist auch Kant darchaos dem Problem des Xormatiyen zu-
gewandt, und seine charakteristische Steilnng ist, dass er es in
einer von der übrigen Philosophie gnindTerschiedenoi Weise za
klsen versnchte. indem er entgegen der speknlatiren Metaphysik
sich anf die Er&Lhmng nnd das Gegebene und entgegen dem em-
pirischen PsTchologismns anf das streng rationale, apriorische Er
kenntnis gebende Element des Bewnsstseins zurückzog'. Damit
wnrde aber dann fr^ch das Verhältnis Ton Psychologie und Er-
kenntnistheorie, von kosmisch-psychischer Erscheinung, die als
Ganzes wie im Einzelnen für die menschliche Erkenntnis lediglich
Thatsache and Znfall ist, zn dem Apriorisch-Notwendigen, das
mit dem Gedanken des Normativen immer auch den eines, wenn
auch nnbekannten. intelligibeln oder übersinnlichen, vemnnft-not-
wendigen Grandes der Dinge mit sich bringt« für die Kantische
Lehre zn einem überaas schwierigen Problem. Das Problem ist
immer schwieriger geworden, seit Psychologie and Historie eine za
Kants Zeiten angeahnte Aasbreitang and Verfeinerung erfahr»!
haben, and seit man, dem anmittelbaren Zwang seiner an der
rationellen Metaphysik orientierten Fragestellang entnommen, es
nicht mehr so selbstverständlich findet, die normativen £ri:ennt-
nisse lediglich anf die apriorisch-rationalen Bewnsstseinselemente
za gründen. Dieser Sachveriialt charakterisiert nun aber vor
allem aach seine Beligionsphilosophie. Sie geht in der Richtung
einer die erfahnmgsmÂssige ThatsiUrhlichkeit des religiösen Be-
wnsstseins analysierenden Untersnchnng nnd lâsst dabei die Be-
gründung der Religion auf den Offenbarungsg^uben, der selbst
ein psychologisches Phänomen und Problem ist- weit hinter sich,
verschmäht aber aach einen raschen Übergang von dem seelischen
Phänomen der Religion zn einer darin angeblich sich äussernden
spekulativ-rationalen Gotteserkenntnis. Damit halt er die Grund-
richtung der modernen Religionsforschung ein, die mehr oder
minder klar bewusst diesen methodischen Ansatz des Problems
vorgenommen und damit überhaupt erst die Basis für eine wissen-
schaftliche Religionsforschung gelegt hatte, i) Aber seine Analyse
Geschichtstheoretiker 1902. Von alter Littermtnr ist sehr Iriirreich Aï L.
Schl5zer. Weltgeschichte 1786 «Dritte Auflage der ^Voisteilun^ der Uni-
versalhistorie- . wo die Litteratur sehr reichlich Teneichnet ist.
1 VieL meine Untersuchung: Theologie und ReligionswisaeBschaft
des IS. Jahrhunderts. Preuss. Jahrb. 1903 und meine Artikel ,4>eismiis^
and Jtforalisten. Engtische*^ in der Real-Encyclop. f. Prot.Theol «. Kirche^.
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 49
ist nun dämm nicht psychologistisch und deshalb unfähig, normative
Erkenntnisse zu begründen, sondern sie ist erkenntnistheoretisch,
d. h. sie sucht giltige Wahrheit und zeigt daher im rationalen
Apriori-Gehalt der Religion auch die giltige Wahrheit der Eeligion.
Was das bedeutet, kann man vor allem an einem Vergleich mit
Herder sehen. ^) Hat der letztere eine reichere und lebendigere
Anschauung von der Religion, so müht er doch von seinem reinen
Psychologismus aus sich vergeblich um einen fixierbaren Wahrheits-
gehalt der Religion und kann ihn auch durch die Heranziehung
einer poetisierten Metaphysik, durch den „Synkretism des Spinozism
und dem Deism in seinem Gott", wie Kant sagt (Briefw. IL, 74),
sich nicht verschaffen, weil gegen eine allzuenge Vereinerleiung
der wirklichen Religion mit dieser Metaphysik sich doch wieder
seine psychologische Einsicht sträubt. Die Überfülle psychologischer
und in eine kosmolgischej Metaphysik verwebter Feinheiten und
der Mangel an einem als giltig und notwendig begründeten Mensch-
heitsziel ist ja auch das, was Kants berühmte Recension an
Herders Ideen tadelt. In umgekehrter Richtung lehrt uns das
Gleiche ein Blick auf Schleiermachers Religionsphilosophie. «) Was
Schleiermacher von allen Vorgängern unterscheidet, ist, dass er
nicht bei schwankender Psychologie und Beschreibung der Religion
stehen bleibt, sondern das erkenntnistheoretische Apriori der Re-
ligion sucht, das ihm dann erst durch die Beziehung auf die wech-
selnden Zustände von Lust und Unlust und durch die Entwickelungdes
Weltbewusstseins seinen konkreten psychologischen Gehalt erlangt.
Wenn er das auch auf andere Weise thut als Kant, das Prinzip
selbst hat er von Kant. Die Einführung dieses Prinzips aber
macht den Fortschritt des Studiums der Religion durch Kant aus.
Ist dem nun aber so, so ergiebt sich erst von hier aus der
richtige Ansatz für das unsere Untersuchung beschäftigende Pro-
blem. Die Seele der Kantischen Lehre ist die Richtung auf das
Normative. Dieses Normative aber findet nur die Erkenntnistheo-
rie als Herausstellung der giltige Erkenntnis hervorbringenden,
reinen, d. h. apriorischen, von jeder bloss psychologischen Bei-
mengung befreiten Vernunftgesetze. Damit ist die Stellung zum
Psychologischen-Historischen von selbst gegeben. Es ist das rein
rhatsächliche und — von menschlicher Erkenntnis aus betrachtet —
Î) Vgl. Rud. Wieland, „Herders Theorie von Religion und religiösen
^''orstellungen-. Beriin 1903.
•) Vgl. Eng. Huber, „Schleiermachers Religionsbegriff". Leipzig 1901.
K«atstadien IZ. 4
50
'roeltsci
I
Zufällige, in dem der Empfindungsötoff der sog, äusseren Erfah-
ruDg und die EinzelÜmtsächliclikeit der sog. inneren Erfabning
gegeben ist. Und Dicht bloss den Stoff der ErkeuDtnis giebt es,
sondern es bewirkt im Zusamuieuhang seiner kausal bedingten
Bewegungen auch allerhand Anregungen und Befcirderuiigeti oder
Hindernisse uud Trübungen, wie Kant in seiner Gesehichtspihiloso- _
phie und seiner, eben diese Beziehung sehililernden Anthropologie^
vielfach ausgeführt hat Also es ist keineswegs ignoriert und
keineswegs unwichtig, aber ans ihm kommt keine Giltigkeit
der Erkenntnis. Diese stammt nur aus der reinen Vernunft,
ans dem von aller Vermischung mit dem bloss Thatsächlichen be-
freiten Apriori der Notwendigkeit. Daher stammt die Sprödigkeit
gegen alles Psychologische und Historische. Sie stammt nicht aus _
dem „unhistorischen Sinne der Aufklärung", die in ihrer Erzählungs*^
Utteratur und Poesie psychologische Freiheit genug entwickelt niid
deren Ethik von psychologischen Reflexionen und Beobachtungen
ganz und gar durchzogen war, die von hier aus das Gewebe der
historischen Vorgänge gelegentMch sehr fein zu analysieren
wusste. Ja, wenn man Habbes und Locke, Voltaire, Hume
und Eonsseau kennt, so zeigt sich bei Kant sogar ein fortge-
schrittenes, ao Tiefe, Weite und Feinheit über diese Begründer
der modernen Geschichtsphilosophie hinausgehendes Interesse und
Verständnis, eine völlige Antecipation des modernen historischen
Gedankens zugleicli mit der Einsicht, dass eine bloss empirische
Geschichtsforschung zu zunehmenden Relativismus führen müsse, dem
nur eine fest gegründete, rational-geschichtsphilosophische Theorii*
über Ziel und Entwickelungsgaug der Geschichte seine ti'ostlosen
Wirkungen nehmen kannJ) Kant will gerade gegen diese Fluten
den Daonn des Normativen aufrichten, und wie schwer das auf
andere Weise möglich ist, zeigt die Verwüstung des Normativen,
die diese Fluten seither bei ihrem ungeahnten Wachstum ange-
richtet haben, Sie stammt auch nicht aus dem „Individualismus**
der Attfkläning. Denn die Zugrundelegung des individuellen Be-
wusstseins, soweit es AUgeaieingiltigkeit enthalt, ist die notwen-
dige Voraussetzung einer solchen Giltigkeit erstrebenden Methode,
Das individuelle Bewusstsein ist mit seinen apriorischen Elementen
der einzige direkt erreichbare Repräsentant des Bewusstseins
überhaupt, und dem Über-Individuellen des Giltigkeitsbegriffes ist
^) Vgl: T|Idee zur aUgem. Gesell." IV, 1j>1 u. 156,
Das Historische in IBLant« Keligionsphilosophié. 51
ja Bechnung getragen durch Âusmerzung alles Zufällig-Psycholo-
gischen und Zufällig-Thatsächlichen. Im übrigen setzt Kants Ge-
schichtsphilosophie ja gerade bewusst die Gattung und nicht das
Individuum als ihr Objekt voraus.^) Die Sprödigkeit gegen
das Psychologische und Historische stammt also aus
dem innersten Kern der Methode selbst, eben der Methode
die durch Einschränkung von Raum, Zeit und Kategorien auf
bewusstseinsimmanente Giltigkeit die dogmatische Metaphysik zer-
stört und damit den Unterschied von Wissen und Glauben be-
gründet hat. Aber Sprödigkeit heisst nicht Ausschliessung und
Ignorierung. In seiner prinzipiellen Reform der ganzen Philosophie,
in seiner Riesenarbeit auf dem weiten Felde der Metaphysik, d. h. an
der Herausstellung der giltigen Erkenntnisse aller Gebiete, hat er nur
keine Zeit und kein Interesse für dieses Beiwerk. Die Anthropologie,
die dieser Aufgabe dienen sollte, kommt zuletzt und ist nicht erschöp-
fend. «) Es fallen vor allem in geschiohtsphilosophischen Aufsätzen
nur einzelne Bemerkungen ab. Hier aber zeigt sich Kant auch
weit entfernt davon, diese psychologischen Beimengungen nur als
Trübungen, die historische Mannigfaltigkeit nur als Korruption des
Rational-Einheitlichen aufzufassen, was ja bei seiner rein formalen,
bloss den Notwendigkeitscharakter betonenden Fassung des Apriori
auch gamicht möglich wäre. Vielmehr sieht er teils diese That-
sächlichkeiten als zur Ordnung und Beherrschung durch die
reine Vernunft bestimmt an, teils in einer Weise, die Hegels
List der Vernunft antecipiert, als die Mittel zur Entbindung
und Befreiung der reinen Vernunft aus ihrer bloss instink-
tiven Verborgenheit im psychologischem Getriebe. Ja, sein Inter-
esse gehört geradezu dem Problem der Bestimmung des Menschen
und damit der Weltgeschichte. ^) Aber er hat bei seiner schroffen
1) Ebd. IV, 146 u. 149.
«) Vgl. Briefw. U, 414 an Stäudlin 4. V, 1793: „Mein schon seit ge-
ranmer Zeit gemachter Plan der mir obliegenden Bearbeitung der Felder
der reinen Philosophie ging auf die Auflösung der drei Aufgaben: 1. Was
kann ich wissen (Metaphysik), 2. Was soU ich thun (Moral), 3. Was darf
ich hoffen ? (Religion) ; welcher zuletzt die vierte folgen soU : Was ist der
Mensch ? (Anthropologie, über die ich schon seit mehr als 20 Jahren jähr-
lich ein Collegium gelesen habe).^
8) Vgl. von Beck 27. X. 1791: „Und was kann dazu {nämlich das
Gemüt durch Beschäftigung mit den nicht-mathematischen Anlagen teils zu
erquicken, teils ihm abwechselnde Nahrung zu geben) j und zwar auf die
ganze Zeit des Lebens, tauglicher sein, als die Unterhaltung mit dem,
4*
B. froeltscli,
Richtung auf das Normative diesen Gedanken keine prinzipielle
Aiisfühnmg mehr 211 Teil lassen können. 1st die transseendentale
Notwendigkeit eines Begriffes, einer Idee» eines Postulates, einer
Beurteilurigsweise bewiesen, so ist ja die Hanjitsache erledigt; und
die psychologischen Beimischungen von Interessen und Associationeu,
von Trieben und Bedürfnissen, von Inlüniern und l^uklarheiteii
können nunmehr als nnseliädlieli sieh selbst überlassen werden
oder in dvn so abtresteckten und auf ihre Prinzipien beofriuideten
Fachwissenseliafteii erledigt werden. So hat Kant ja auch in
seiner Logik und seiner Kthik das rein Psyehologisdie behandelt.
Die reinen Begriffe der Natnrmssenschaften werden (his bloss Ge-
gebene von selbst finden und werden auch von selbst alles Spiel
zufälliger und unsidierer Verknüpfungen auflieben. Die reinen
Begriffe der Dialektik werden in der Spekulation von selbst die
Phantasie vertreiben. Die i*einen Begriffe der Ethik werden die
durch Triebe und Internssen vei-flllschten Kegelü des Handelns von
selbst aufklären. IHe reine Keiigion wird sich ihre kritische Stcdlung
zur positiven von selbst geben. Aber ebenso werden alle im Psy<^ho-
logischen hegenden Mittel der Beförderung , Veranschaulichung.
Technik und Erziehung von seihst sich geltend machen, AH das
mögen seine Nachfolger besorgen, die sich dabei nur hüten mögen,
dass sie „die grosse Sache der Kritik" nicht an die relativistische
Psychologie verraten.^)
was die ganze Bestimmung des Menschen betrifft; wenn man vornehmlich
Hoff» lin": hat, dass sie systematisch durchgt^dacht und \M»n Zeit zu Zeit .
immer einiger barter Gewinn darin gemacht werden kann. Überdem ver-
veini^en sich damit zuletzt Gelehrte- sowohl als Welt^schichte." Brief w,
II, L>77 f.
1) Wie wenig Kant sein System für fertig hielt, sieht man aus der
Bemerkung an den leidenden Garve 21. IX. 1798: „Ich weiss aher nicht,
ob . . . das Loa, das mir gefallen ist, vnn Ihnen nicht nocîi schmerzhafter
empfunden werden mr^chte, wenn Sie sicli darin in Gedanken versetzten;
nämlich für Geistesarbeiten hei üonst ziemlichen körperlichen Wohlsein
wie gelähmt zu sein: den vöUigea Abschluss meiner Rechimng in Sachen
welche das Ganze der Philosophie {sowoW Zweck als Mittel anliegend)
betreffen, vor sich liegen und es noch immer nicht vollendet zu sehen*
obwohl ich mir der ThunHchkeit dieser Aufgabe bewusst bin: ein tanta-
lischer Scliuierz, der indes doch nicht hoffnungslos ist,*^ Die Aufgabe, die
ihn zunächst beschäftigtj ist ^Der Übergang von den metaphysischen
Anfangsgründen der Natarwissenschaft zur P]lysik*^ Brief w, II, 254 Man
sieht, es iitt der Übergang von den reinen Vernunftprinzipien zur konkreten
Wissenschaft mit ihren Bestandteilen des bloss That säe blichen. Eiu Gleiches
i
Das Historische in Eant.s Religionsphilosophie. 53
Es ist hierbei das Historische iiunier mit doiii Psychologischen
lufs engste zusainmeuf^^efasst worden. Das ist in der That der
musste er aber auch irgendAvie für die historischen Wissenschaften in Aus-
sicht nehmen. Hier vollzieht den Übergang auch in der That die „Anthro-
pologie", die ja nichts anderes als vergleichende liistorisierende Psycho-
logie ist. Dabei steht freilich für Kant von vornherein fest, dass diese
Anthropologie und Psychologie nie im gleichen Sinne Anwendung der
apriorischen Grundsätze, der Metaphysik der Sitten, werden kann, wie die
angewandte Naturwissenschaft eine solche der metaphysischen Anfangs-
gründe der Naturwissenschaft ist, ja dass sie hei aller Begründung auf das
Kausalitätsprinzip nie strenge Wissenschaft wie die Naturwissenschaft
werden kann. „Auf die Erscheinungen des inneren Sinnes lässt sich
Mathematik nicht anwenden, auch als Experimentallehre kann die Psycho-
logie der Chemie wegen der viel ungünstigeren Bedingungen der Beo-
bachtung niemals nahe kommen; sie kann darum nicht naturwissenschaft-
liche, sondeni nur historische Disziplin werden, nicht Seelen Wissenschaft,
sondern nur Beschreibung der Seele.^ Vgl. Hegler, Die Psychologie in
Kants Ethik, Freiburg 1891 S. 14. So beschränkt sich die „Anthropologie**
darauf, „pragmatisch" zu sein, d. h. den Menschen zum Zweck der prak-
tischen Menschenkenntnis zu studieren. Sie giebt auf Gnmd des beobach-
teten Materials und der erforschten Zusammenhänge l^ypen, die der prak-
tischen Menschenbehandlung und vor allem der Förderung des rationalen
Endzweckes der Gattung dienen. «Das Gegenstück einer Metaphysik der
Sitten als das andere Glied der Einteilung der praktischen Philosophie
überhaupt würde die moralische Anthropologie sein, welche aber nur die
subjektiven, hindernde sowohl als begünstigende, Bedingungen der Aus-
führung der Gesetze der ersteren in der menschlichen Natur, die Erzeugung,
Ausbreitung und Stärkung moralischer Grundsätze (in der Erziehung, der
Schule und Volksbelehrung) und dergleichen andere sich auf Erfahrung
gründende Lehren und Vorschriften enthalten würde, und die nicht ent-
behrt werden kann, aber durchaus nicht vor jener vorausgeschickt oder
mit ihr vermischt werden muss." Vgl. Hegler S. 15 f. Dieses Verhältnis
beider ist allerdings nur möglich bei einer vorausgesetzten gemeinsamen
Wurzel der rationalen Ideen und des psychologischen Triebmechanismus,
die daher von der Anthropologie auch wiederholt aufs stärkste betont
wird. W. W. VIT, 574, 596, 626, 647, 655 u. s. w. Es kommt Kant dabei
nur immer wieder darauf an, dass die „Anthroponomie" nie in „Anthro-
pologie" aufgelöst werde. Hegler S. 16. Dass aber trotzdem doch diese
pragmatische Anthropologie ihre letzten Wurzeln in einer Lehre von der
Entwickelung der Vernunft in dem Seelengetriebe der Geschieht« hat und
also der Übergang von der Metaphysik der Idee des Guten zur historischen
Entfaltung dieser Idee gemacht wird, wird am Schlüsse genauer zu zeigen
sein. Nur ist dieser Übergang viel weniger methodisch ausgeführt als der
von den apriorischen Begriffen zu den empirischen Naturwissenschaften.
Der Grund ist, wie die oben angeführte Stelle zeigt, nicht ein geringeres
Interesse für die Geschieht«, sondern der Mangel einer wissenschaftlichen
Methode für sie. Kant hat eine solche nicht zu finden vermocht.
54
E. Troeltsch,
i
Schlüssel für das Verstäüdnis der Rolle, die das Historisehe in
Kants Lehre spielt. Es ist eiü Teil des phänomenalen Erfahrungs-
zasammenhanges. Seio Inhalt sind zum allergrösst^u Teil die
Thatsachen dex inneren Erfahrung, doch in kausaler Verknüpfung
mit denen der äusseren Erfahrung, Es ist das Gebiet des rein
thatsftchlkh Gegebenen, Zufälligen iiml Irrationalen, das kausaU
gesetzmässig erforscht wird und in den kosmischen Gesamtzu-
sammenhaug sich verläuft. Es ist ein Gebiet de^ Wechsels und
der Zeit» es ist empirische erzählende Psychologie im Grossen.
Aber allerdings ist das nicht die einzige Auffassung, die Kant
vom Historischen hat. Das Historische im bisher betrachteten
Sinne ist die Historie als Aneinanderreihung einzelner Seelen-
phänomene und (■îeschehnisse, die dabei als einzelne betrachtet
werden und dadurch naturgemäss in den Zusammenhang der Phäno-
minalität und damit der empirischen Psychologie fallen. Daneben
aber kennt Kant eine Geschichtsbetrachtung, die die Geschichte
als Ganzes, als spezifisch menschliche Gattuugseinheit, ansiebt
und als Ganzes auf ihre Angemessenheit zu dem in der praktischen
Vernunft offenbaren sittlichen Endzweck beurteilt*^) Kant hat
hier lange gesucht. Er hat anfangs die Leibnizsche praestabilierte ■
Harmonie, den christlichen Vorsehuugsgedanken oder die ^Absicht
der Natur** als begriffliche Mittel verwendet und hat natuj'gemäss
nicht davon lassen können, diese zweckvolle Leitung an einzelnen
besonders deutlich sie bezeugenden Ereignissen and am wirklichen
Gang der Dinge sich zu bestätigen. Nach Entdeckung-) des Prin-
zips der „reinen teleologischen Urteilskraft'^ hat er dieses Prinzip
auf die Geschichte angewendet und eine apriorische Notwendigkeit
gelehrt, sie so zu beurteilen, als ob sie der Verwirklichung des
ethischen Vernunftzweckes diene, aber ohne Möglichkeit spekulativ
dariiber sich Voi-stellungen zu machen, wie das geschehe. Es ist
*) Vgl hierzu Medicus ^Kant« C^eschichtsphilosophie** Berlin 1902
sowie Lask „Fichfes MealismiiÄ und die Geschichte** Tübin^n 1902. —
Das Obige ist deutlich ausgesprochen in „Ideen zu einer all^. Gesch «*
IV, 143.
») Über die^e „Entdeckung*^ vgl. Kant an Reinhold 20. XII. 1787
Brief. I, 478. Man fühlt aus dieser Stelle, wie Kant durch diese Ent-
deckung sich erleicht-ert ftlUt, und von ihr geht in der That eine leise
Neuening in der Organisation des Systems der reinen Vernunft vor sich,
das von hier aus erst sich dem Entwickehingsbegriff ernstlich ansckUesst
und erat von hier aus den andeutenden metaphysischen Hintergund der
menschlichen, wie auch schliesslich der kosmischen Entwickelung ausbildet
i
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 6Ô
aber sehr natürlich, dass er dann doch immer wieder sich diese
Beurteilung an einzelnen Hauptereignissen zu verifizieren versuchte
und damit immer wieder auf den Gedanken der Vorsehung oder der
Erziehung der Menschheit zurückkam. Diese zweite Betrachtung
ist nun aber doch nicht ohne nahen Zusammenhang mit der ersten.
Denn steht die Sache so, wie die zweite will, dann müssen die
empirisch-psychologischen Geschehnisse, die einzelnen Thatsächlich-
keiten der Geschichte, doch auf irgend eine, wenn auch dem
Menschen unerkennbare Weise im Zusammenhang stehen mit dem
in ihrer Totalität sich realisierenden Gattungszweck. Sie müssen
auf unerforschliche Weise als Verwirklichungsmittel des Intelli-
gibeln von diesem selbst hervorgebracht sein, wie sie ebenso auf
unerforschliche Weise die Möglichkeit einer Störung und Trübung
haben müssen. In ihnen muss die „Idee" sich entwickeln und in
diesem als Letztes sich ergebenden, wenn auch theoretisch völlig
überschwänglichen Begriffe der Entwickelung müssen das Psycho-
logisch-Empirisch-Historische und die Idee des sittlichen Vernunft-
zweck eines sein.^) Damit stehen wir aber — nur mit Erwartung
über die Menschheit und durch sie hindurch über den Kosmos —
vor dem alten Gruudproblem des Verhältnisses des Rational-Not-
wendigen und Empirisch-Thatsächlichen, des Erkenntnistheoretischen
und des Psychologischen, des Pseudouormalen und des Intelligibeln.
ij Vgl. hierzu die sehr interessante Bemerkung an den Katholiken
Matern Reuss bei Übersendung des „R. i. d. Gr. d. bl. V." Mai 1793: „Ich
Füge . . . eine kleine Abhandlung philosophisch-, nicht eigentlich biblisch-
theologischen Inhalts bei, mit welcher keiner Kirche einen Anstoss zu
g^ben bedacht gewesen, indem darin die Rede nicht ist, welches Glaubens
ier Mensch überhaupt, sondern nur der, welcher sich bloss auf die Ver-
nunft fusst, allein sein könne; die mithin gänzlich auf Gründen a priori
beruht, die ihre Giltigkeit unter allen Glaubensarten behaupten (R. scJneibt
offenbar axts Versehen „behauptet"), was das Objektive der Gesinnung be-
trifft; (die) aber, was die Ausführung dieser Absicht betrifft, als
[Gegenstand der Erfahrung, dadurch die allgemeine Welt-
regierung (Ä. fügt hier noch ein „fiie'^ das aber offenbar Dublette zu dem
folgenden Wort ,jene Ideen*' ist) jene Ideen in der Ausführung hat
larstellen wollen, das Herz nicht vor dem empirischen Glauben in
Ansehung irgend einer Offenbaning verschliesst, sondern, wenn sie in
Einstimmigkeit mit jenem stehend befimden wird, es für dieselbe offen
?rhält.** Brief w. II, 416. Die Stelle ist nur im Entwurf vorhanden, woraus
inch ihre stilistische Mangelhaftigkeit sich erklärt; ich habe mir daher
erlaubt, die beiden Korrekturen vorzunehmen und zur deutlicheren Be-
seichnnng der Fortsetzung des grossen Relativsatzes ein .die' einzu-
dämmen. Die Unterstreichungen stammen von mir.
56 E. Troeltsch,
Die scharfe Sonderuog wie die enge Wiederaufeiflanderbeziehniig
beider sind die charakteristischen Grandmerkmale und die grössten
Schwierigkeiten des Kritizismus.
Damit haben wir die Voraussetzungen für die Beantwortung
unseres Problems in der Hand. Es versteht sich nun von selbst,
dass nicht bloss Zufälligkeiten der Zeitlage oder persönlicher Eigen-
schaften die Sprödigkeit der Kantischen fleligionsphilosophie gegen
die Geschichte hervorgebracht haben. Es versteht sich ebenso
von selbst, dass die Frage nach dem Verhältnis der giltigen Re-
ligiouserkenntnisse zu dem Geschichtlichen sich auf das Gesam^
gebiet der historischen Entwickeluug überhaupt und damit auf die
Religionsgeschichte im Ganzen erstreckte. Es ist das
nicht bloss eine Konsequenz des Kantischen Denkens, sondern ist
als völlig bewusste und prinzipielle Fragestellung anzusehen, wie
ja auch bereits Locke, Hume, Leibniz, Voltaire, Lessing und Herder
in diesem Gedanken vorangegangen waren. ^> Die Kantische
Religionsphilosophie ist zwar im Prinzip von der Geschichte und
von der psychologischen Wirklichkeit der Religion ganz unabhängig.
Ihr Grundstock liegt daher auch in den immer neu aufgenommenen
Darstellungen über die reinen Religiousideen. Aber sie hat po-
sitive und negative Beziehungen zur Religionsgeschichte,
die an sich ebenfalls eine Darstellung fordern. Kant mnsste sich
ähnlich wie in der Rechtswissenschaft zu einer solchen Darstel-
^ So wendet sich denn in der That Plessing an ihn mit PUnen einer
fieilich noch sehr verworrenen vergleichenden Religionsgeschichte 6. YUL
179a : ^Mein Hauptzweck bei diesem Stadium des sc. orientalischen und grie-
chischen Altemmisi ist, die Nichtigkeit des der menschlichen Temimft
gremachten Vorwurfs zu zeigen, als wenn sie nur erst seit jüngeren Zeiten
auf die Idee eines göttlichen Wesens gekommen wäre und hierzu einer an-
deren als ihrer eigenen iülfe bedurft hitte : femer die Geschichte« den Zu-
sammenhanjir u^d alten entfernten Ursprun;«: jenes merkwärdi^n Svstems
zu entwickeln, das auf die Schicksale und die Denkart der Menschen einen
so unennesslichen Einâuss ^habt und daher ^nau untersacht zu werden
d«.K*a verdiene-. Er will dabei von den alten Sintfiutsa^n als eirem
Haupcdenk^ial iltester ReLution aasgehen. Briefw. U. Si2 f. Unter 6. IV.
1T96 fordert Stiudiin Kant auf zur Mitarbeit an einer •GOttinjser Monats-
Schrift far die Philosophie der Religion und Moral und die Geschichte der
verschiedenen Gîaubensarten-. die er zur Verbreitung der von ihm mit Eiler
erzriffenen Sancischen Rebjçionsphilosophie ^e^ründet hat. Briefw. JHÖ-
Kant hatte die Absicht, ihm den ^Streit der Kakult.- hierfür zn schicken,
hat es dann aber mteriassen, weil er nüt fremdartigen Materien verbanden
jetzt vor das Licht treten moss^ Briefw. UI^ ^45^
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Ö7
ng umsoraehr aufgefordert fühlen, als die Konkurrenz einer den
eichen Gegenstand behandelnden theologischen Fakultät und
e praktische Bedeutung des Christentums für Staat und Kirche
m dieses Thema nahe legten.
Kant hat sich zu einer solchen Darstellung denn auch ent-
'.hlossen. Sie liegt vor in der „Eeligion innerhalb der Grenzen
^r blossen Vernunft" von 1793 und im „Streit der Fakultäten"
m 1798, welcher letztere schon vor einigen Jahren fertig, aber
egen Zensurschwierigkeiten zurückgehalten worden war. i) Die
rage ist, ob die prinzipielle Auseinandersetzung der
ernunftreligion mit der Religionsgeschichte hier völl-
igen ist oder nicht. Ich glaube, dass das nicht, oder doch nur
idirekt der Fall ist. Das ist zunächst zu beweisen.
3.
Der Kompromisscharakter der Hauptschrift.
Der zeitliche und sachliche Zusammenhang des „Streites der
'akultäten" mit der „Rel. i. d. Gr. d. bl. V." ist jederzeit erkannt
'Orden. Man muss aber noch weiter gehen und sagen, dass das
'hema der letzteren erst von den prinzipiellen Darlegungen des
roteren aus ganz verstanden werden kann. Der „Streit" giebt erst
en eigentlichen Ansatz des Problems, wie es Kant vorschwebte,
demnach ist es ein wesentlich praktisches Problem, das durch den
lusammenhang der offiziellen Organisation der Wissenschaft in der
Fniversität mit den praktischen, vom Staat an sie gestellten, For-
erungen gegeben ist. ^) Der Staat wird dabei von Kant im Sinne
1) Briefw.in,230. Er war schon 4. XII. 1794 seit einiger Zeit fertig
[, 514, gehört also direkt in den Gedankenkreis der „R. i. d. G. d. bl. V.*
nd darf als eine Art Fortsetzung betrachtet werden.
*) Vgl. Amoldt „Beiträge etc." 140 ff., der die richtige Auffassung
er Sachlage trifft, sowie Laas „Kants SteUung in der Geschichte des
Konflikts zwischen Glauben und Wissen, Berlin 1882. Amoldt will gegen
•aas betonen, dass in dem Verhältnis der philosophischen zur theologischen
'akultät die philosophische schlechthin entscheidend sei. Aber das ist
or bedingt richtig, da, wie sich zeigen wird, das allerdings entscheidende
otum der letzteren doch immer dahin entscheidet, dass die christliche
heologie in ihrem die Gemeinschaft ermöglichenden symbolischen Vorstel-
mgsapparat immer etwas Eigenes behält, das nur die kritische Regu-
emng und Deutung durch die Ideen der reinen Moralreligion fordert,
înd das Ergebnis einer solchen Vereinigung sollte dann allerdings — da-
58 ^HHP K Troeltsch,
eines völlig leoitiiinstis€lieii Gehorsitnis als zu diesen Fonlerunj
/^^äuzlitih bereditigt betraeliti't. Kcint setzt das alte protestaütisi^^he
Siaatskirehentuni in seiner rationalistierteu Gestalt als gmiid-
salzlich berechtigt voraus; der Staiit hat an dieser wichtigsten
Tiiensehlichen Angelegenheit um seiner eigenen Existenz willen ein
wesentliclies Interesse, nmi die eines Vehikels bedürftige Keligioü
niuss für Ordnung und Aufrecbterhaltung die Macht und Gesetz-
gebung des Staates beansprtrchen. *) So versieht sich die Kirchen*
hoheit des Staates» der Ausschluss bedenklicher KirchengeuieiD-
Schäften und die Festsetzung oder Handhabung der geltendeu
1
rin hat Laas Reclit — von der Regierung, sofern sie dem Ideal einer er-
leuchteten Re^ieruüg entspricht, sanktioniert werden^ Schliesslich S, 146
konuTit doch mich Arn old t auf diese Auffassung hinaus, Gduz so steht e«
mit den heiden anderen positiven I'\ikultiiten ; sie haben Me ein relative*
selbständiges Recht und eine ihnen eigentümhch zukommende Materiej
aber ihre Leistungen müssen von der reinen Philosophie kritisch auf ihre
Angemessenheit 7àu Venmnft geprüft und reguhert werden. Kben des-
halb denkt auch Ktint das Problem der Zen^sur damit zn Irtsen, dass sie
ausschliesslich den Fakultäten überwiesen wird, welche als wi^isen-
sclmftliche Anstalten die positive Wissenschaft hinreichend mit pliilnso-
l>hischem Geist zu durchdringen geneigt sind, dasü die an ihnen geübt«
Zensur billige GeiBteßfreiheit garantiert. Nicht geeignet zur Ausübung
der Zensur sind dagegen Konsistoriumj Ministerinm, Gerichts- und Medi-
zimilbehörden. Dagegen halte ich es für einen Irrtum von Laas, wenn er
meintj die im ^Streit** vorgetragene Ansicht von der Kooperation der Fa-
kultäten sei erst nachträglich hier vürgetragen, nachdem die Christiam-
sierimg von Kants Deismus in der „Rel i. d. Gr. d. hl. V.** resultatlos ge-
blieben sei. Allein das letztere Buch beruht schon durchaus auf den im
Streit vorgetragenen Grundsätzen^ und der in ihm hinzutretende Vorschlßf
über die Gestaltung der Zensur ist durchaus im Geistt? von Kants stet»
betonter Ansicht, M
") Vgl. die Äusserung über den „Streit" an Stâudliii 4. XII, 1794: Sie"
(sc. Abh. über den „Streit*') scheint mir interessant zu sein, weil sie nicht
allein das Recht des Gelehrtenst^ndes, alle Sachen der LandesreUgion vor
das Urteil der theologischen Fakultiît zu ziehen, sondern auch das In-
teresse des Landesherra dieses zu verstatten, überdeni aber auch eine Op-
positionsbank der philosopliisclieu gegen die erstere einzuräumen aus
Licht stellt, und (weil sie) nur nacli dem Result nt der Idee der durch beide«
Fakult^äten instruierten Geistlichen als Geschäftsmänner der Kirclie, sofern
sie ein Oberkonsistorium ausmachen, die Sanktionierang einer Glanbeuü-
lettre zu einer öffentlichen Religion dem Landc-sherrn ?îur Pflit-bt- sowohl
als Kingheitsregel macht, indessen dans er andere freie Gesellschaften,
die nur der Sittlichkeit nickt Al>bruch thun, als Sekten tolerieren kann.
Briefw. n, 514. Die Abhandlung Jst eigentlich nur publicistisch und
nicht theologisch (de jure principis circa religionem et ecclesiaml."
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 59
Lehre durch die Staatsanstalt einer theologischen Fakultät von
selbst. Analog liegen die Verhältnisse in der juristischen Fakul-
tät, wo das dorn Staat unentbehrliche positive Recht gelehrt wird,
und in der medizinischen, wo die Mediziualpolizei und hygienische
Fürsorge des modernen Polizeistaates die Nonnen giebt. Von diesen
Fakultäten werden die auf die geltende Ordnung verpflichteten
greistlichen und juristischen Beamten gebildet, die denn auch streng
gehalten sind, in ihrer amtlichen Thätigkeit sieb an die geltenden
Regeln der Dogmatik, des Rechts u. s. w. zu binden.«) Die drei
grenannten, wegen dieser ihrer praktischen Bedeutung und der Aus-
stattung mit Macht als die oberen bezeichneten, Fakultäten sind je-
doch selbst nicht unbedingt gebunden, sondern zu freier wissen-
schaftlicher Bearbeitung dçr positiven Satzungen berufen als aie
Instanzen, die ja gerade der Staat, d. h. die Regierung, zu ihrer
eigenen Belehrung und zur rationellen Fortbildung eingesetzt hat.
Sie wirken durch ihre Arbeit auf die Regierung und bewirken so
indirekt durch die unter ihrem Einfluss von der Regierung getrof-
fenen Verordnungen auch für die Beamten eine Ausgleichung ihrer
positiven Verpflichtungen mit ihren rationalen Einsichten. Die
Impulse zu dieser fortbildenden, reinigenden und reformierenden
Thätigkeit zugleich mit den wissenschaftlichen Mitteln erhalten
nun aber die oberen Fakultäten von der Fakultät der reinen,
durch keine praktischen Zwecke und keine gesetzlichen Pflichten
gebundenen Wissenschaft, d. h. von der philosophischen Fakul-
tät Diese ist bei dem Mangel jeder direkt praktischen Be-
ziehung und bei dem Mangel jeder Machtausstattung die untere
Fakultät, aber als alleinige Inhaberin der rein wissenschaftlichen
Methoden und als alleinige Untersucherin des Rational-Normativen
Hüter dem wissenschaftlichen Gesichtspunkt die oberste und gesetz-
gebende. Sie respektiert alles Gesetzlich-Positive, aber doch niu'
als etwas auf Zeit Giltiges, und übt an ihm eine rein wissen-
schaftliche Kritik, durch die sie die oberen Fakultäten zu einer
immer neuen Annäherung an das Rational-Normative zwingt und
damit die Staatsgesetzgebung unaufhörlich indirekt zu Fortschritt
und Reformen drängt. Diese ganze Kritik und Reformarbeit aber
ist eine rein interne, esoterische Angelegenheit der Gelehrten und
«) Vn, 377 und 382: .Der Kirchenglaube darf in Kirchen nicht öffent-
lich angegriffen oder auch mit trockenem Fuss tibergangen werden, weil
er anter dem Gewahrsame der Regierung steht, die für öffentliche Ein-
tracht und Friede Sorge trägt.« VU, 359.
60 E. Troeltsch,
der freien wissenschaftlichen Litteratur, die weder das Volk noch
die verpflichteten Beamten direkt angeht oder gar zum Eingreifen
in solche Reformen mit aufrufen will. Es ist die von Kant über-
all betonte Idee eines in der Natur der Dinge liegenden, die Ent-
wickelung hervoi treibenden, dauernden Antagonismus, die er auch
für das Verhältnis der positiven und der rationalen, der praktisch*
politisch bedingten und der reinen Wissenschaft geltend macht
Es ist ein Antagonismus, d(M*, ohne CJhicune und ohne Hochmut
durchgeführt, lediglich der p]ntwickelung dient und die Möglichkeit
eines glücklichen Ergebnisses jedesmal in sich trägt, wenn einer-
seits die reine Wissenschaft die relative und momentane Geltung
des Positiven anerkennt und dieses, soweit irgend möglich, ihren
Forderungen anpasst, wenn andererseits die positiven Wissen-
schaften, soweit irgend möglich, sich den Forderungen der reinen
W^issenschaft annähern, wenn ferner die ganze Auseinandersetzung
Angelegenheit der berufenen fachwissenschaftlichen Instanzen und
der freien wissenschaftlichen Litteratur bleibt ohne willkürliche
und gesetzwidrige Eigenmächtigkeit der Unberufenen, und wenn
schliesslich — wie das freilich vor allem zu wünschen — eine
fortschrittliche Regierung die Arbeit der von ihr eingesetzten be-
rufenen Instanzen für ihre Verordnungen verwertet. Es ist das
eine Auffassung, die tief in Kants prinzipiellen Denken, in seiner
Geschichtsphilosophie, in seiner politisch-rechtlichen wie in seiner
^vissenschaftlich-rationalen Überzeugung und insbesondere in seiner
Idee von dem Beruf des fortschrittlichen Jahrhunderts wurzelt. So
ist dieser Gedankengang bereits in der Abhandlung „Was ist Auf-
klärung'' 1784 vorgezeichnet. ^ r)as Zeitalter der Vorherrschaft
des Rein-Positiven und damit der durch Bequemlichkeit verschul-
deten Unmündigkeit geht zu Ende. Aber die Kultur der Zukunft
soll nicht durch eine Revolution, durch plötzliche Durchsetzung
des Rein-Rationalen, sondern durch laugsame, von der Staatsleitung
in Praxis umgesetzte, Ausgleichung des Positiven und Rationalen
bewirkt werden. Was ihm vorschwebt, ist also ein Komproraiss
oder ein ,.Koalitionsversuch" des Positiven und Rationalen,»*) der
1) W. W. IV, 162— 16Ö.
'^) Vgl. die Äusserung an Sömerring bezüglich eines zwischen Phy-
siologie und Psychologie streitigen Problems 10. Vlll. 1795: „Mithin wird
ein Responsum gesucht, über das zwei Fakultäten wegen ihrer Gerichts-
barkeit ... in Streit geraten können, . . . wo, wie bei allen Koalitions-
versuchen zwischen denen, die auf empirische Prinzipien alles gründen
Das Historische in Kauts Religionsphilosophie. 61
unaufhörlich fortschreitend und die möglichste, durch die Verhält-
nisse erlaubte Annäherung an das Kationale suchend die positive
Wissenschaft verpflichtet, sich möglichst nach den Massstäben der
rationalen auszulegen, und die reine Wissenschaft verpflichtet, dem
Positiven durch Aufsuchung alles relativ Berechtigten und rational
Deutbaren in ihm entgegenzukommen. Der Kompromiss bleibt
durchaus ehrlich, wenn dabei die reine Vernunft wenigstens
in thesi nichts von ihrer allein entscheidenden Autorität opfeit.
Er ist zudem immer nur auf Zeit gemeint und daher nie ein
Letztes. Er soll stets auf die Regierung wirken zu einer offi-
ziellen Rationalisierung des Bestehenden, und auf diesem Fort-
schritt wird sich dann eine höhere Stufe des Kompromisses
erheben können, bis dereinst im Reiche der zum Völkerbunde
verbundenen Republiken unter der Sonne des ewigen Friedens
und der autonomen sittlichen Kultur die Kompromisse überflüssig
werden und die reine Vernunft aus sich heraus rein die Praxis
gestalten kann. >) Denselben Grundsatz spricht die für Kants Auf-
wollen, und denen, welche zu oberst Gründe a priori verlangen (ein Fall,
der sich in den Versuchen der Vereinigung der reinen Rechts-
lehren mit derPolitik als empirisch bedingter, imgleichen der
reinen Religionslehre mit der geoffenbarten, gleichfalls em-
pirisch bedingten noch immer zuträgt), Unannehmlichkeiten ent-
springen, die lediglich auf dem Streit der Fakultäten beruhen, für welche
die Frage gehöre, wenn bei einer Universität (als alle Weisheit befassender
Anstalt) um ein Responsum nachgesucht wird." Brief w. III, 31. Kant
spricht sogar selbst von Akkommodation. Auf einem losen Blatt Reicke II,
851 stellt er die Einwürfe gegen sein Buch zusammen und da lautet der
dritte : „Das, was eigentliche Akkommodation,^theoretische Lehre und künst-
liche Schrifterklärung ist und dem Buche stellenweise eine theosophische
Farbe giebt, das kann ich nicht für nützlich halten.^ Ähnlich Reicke III, 5 :
„Der Streit der Fakultäten kann und wird wohl zwischen der theologischen
und philosophischen immer bleiben, aber nicht als Widerstreit, sondern als
Antagonism der Einschränkung der einen durch die andern." Man beachte
die Einreihung dieses Themas in die allgemeine geschieh tsphilosophische
Theorie vom Antagonismus als dem Mittel des Fortschrittes. — Dass Kant
dem Prinzip einer exoterisch-anpassenden DarsteUung überhaupt nicht fem
stand, zeigt die Praxis seiner Vorlesungen, die an gegebene vorgeschriebene
Lehrbücher angeschlossen, prinzipiell dem Hörer Kants Lehre nicht völlig
adäquat entwickelten. Vgl. Amoldt, Krit. Exe. 38ö f. Ein solcher FaU
der Gedankenentwickelung aus dem Gegebenen und rechtüch Geltenden
Hegt auch in der „Rel. i. d. Gr. d. bl. V." zum guten Teile vor.
1) „Der Kirchenglanbe ist . . ., weil er nur Vehikel des Religions-
glaabens, mithin an sich veränderUch und muss einer allmählichen Reini-
gung bis zur Kongruenz mit dem letzteren fähig bleiben." W. W. VU, 359,
&2 E. Troeltsch.
tä^sun^ dieser Dinz^ nicht minder charakteristische Abhandlnng
.tt-^r den Genieinspnich: das mas in der Theorie richtig sein,
UttiTt ab-er nicht für die Praxis* 1793 aus. In der richtigen
T':iev>rlr. d. L. in dem Rein-Rationalen wurzelt auch die allein wall^
iiait zuüi Ziel führende Praxis. In der «Gegenwart zwar kann sich
dir an d;i< P'>?iiiTe und au die unvollkommenen [«oliiisirh-rechtlichen
ZiyZAnd-i^ ^»^bundene Praxis n»x*h nicht rein nach der Theorie
ri'.'ine:;. 'r^ie uiuss dem P.>>itiven Konzessionen machen, aber nur
in I-rz: -^iciT der H-chachtau;? und Liet-e zu dem gesetzlich gelten-
i-rti Zostan-i und mit der Gewissheit, ihn dereinst 2"anz ins Batio-
nil- i-irt.'i Riforc: cinüb-r rent wickeln zu kennen.*»
Ein s«.L'.'ner K oxpromiss oder Kvaliti.usversuch ist nnn
jLn:li ü- ,Et1. L Gr. 1. 11. V.- Sie zri^t die ».Tmn'lsatze. die für die
o^^ir-Til'in^r i-^ staats-sin'nli.'hen Re"j:rljaspr«jblems in der reinen
V*'l>sfnsc"naf: 'dr-^^n. >:- zei:^:t al-r rt-en damit, wir weit die rein
;i:i-.cial- Relijr'vtisIecLrv -irr i-.sitiT-iircnn-.'iien entze?»rn koinm«i,
nn«! -v:-r wti: nnjj:»rkenr: üe letz:cr*r zli der ersieren sich aus-
x-i-'n-n !ijLnn Sir zrUr. s:.rr j.i:l z^**rn iis W'Llnersche Regiment,
V j^> > • ii.rv" n : T riln ^ a ns;^^: s*: lil .■ s^sr n ": le fcrc m nss. we nn es zu einer
S4 !.'i:-n, ^^deLiliclie rrln:'.vl.:ielnn^ in Siaat md Kirriie erm^glichen-
irn K.a.:::«.[i i.moien s»//.. L-a^üTri: ist sie dar.'haas keine e^
Stil' c: -cd- :netis«.'ne I'lrs^eHnz:*: Sie is: nicit einmal di»? defimtive
rnr^rL/m^ zr^'i irr r-fine Aisdr-ük eines Trils seiner Religions-
;'i:_l-.>.ç'n:r. Sir "^r lii: v.Hrn: Bewnsscsein rine auf «lie gegen-
•^ ir'-i^ra srdäiskir'.'iili'.-n-n Zis^ande ixjes-'imittene F^arscellung der
■■ ^-\-Ai >c L*i yr^Litiir inr Fifd^r. .2 L-ii. Sririii-ea. der Hoch*
i:i-iix 1 1 i 1:-;":^ -ir i.r V^r:***!::^ w .r::i min. Lebe, dmch
i:r _: ?r:ri-r .--:<Lx:ii::jc i-.-r V:i:cr^;i*i.:»rci, iir ;eat: soca «îlati jelbst eia-
-:■ ^-c. ^aa*-t:r* i::d :aa ^ ^:Ki*:.ir-in.i.-ia >l«:.i idcn i:e F-eoerü aarerein-
i : : r • - . 1 -T . : ?:. iiTi." >.r i:: :t : jr-? ?? iîij-;:': Tirlieren. d»
-l:i.::^ >''Lj..iiii i:u i^r V L"tsr^i:j:c;' '•".. ?;^. T'as? '-^leiciie iÜT j^egendber
:--Ti Viarj^-Lr::iearini aI-s -in ei: ':ii;r*cn Sv.-e^-.ii.riL ie* dp*ircadeji Rechtes
•r-::::,i.:.:. Z.rdtrTiii.atri; 1. "S. ili ^"'tü r'i^-.&%. caea stnd i-ircä Üin» GeachAfte
-^ ^- Il A-:: iirriAC-ra LiaiMjiijr'.jc •'." >ea"u.rv:a. Sir iioätwa üe wahren
f --..i'isir^r ul^rTii»:.n ii.icjen i:<^ VTi^r^iiiiita. Jire Sràiiier. znädBen die
X.r-^' ■: Lirz:n.-A "nidrj: mii iir: Vriitrliiia^ ir> AcicrQWu - S. il6: .^Fttr
--::- - •-«: v-r .n irrc laafii:-:: :;*r«î: i --:::':. lad Li:^ ieurii G^^ctes ist
^•-..iv .^ :: iii>. Tie -.Lr-ii:3Lia^ri:iiC .>c i^crzz uuca nOn^ç ATyUnn
I :-K-s rrrî:.:cr:r:.£S.-i". iic ù'cr i-i'i^c st J.'id iiirir luix^îaijimnea wird."
•rj- ic n .>^i.iir.ra. in*^ iie :cnica .c ■:::':<; u v j>*i^?^in:j!>»n jn HiudexempJar
-.-■Ir:: -^-i i:«:U" r'Lr iit .feuracaiin.: Jc^:mi!iL >;nd.
Das Historische in Kants Keligionsphilosophie. 63
Ânforderangen einer rein rationalen Religionsphilosophie und des
bei diesen Anforderungen mögliehen Zusammenbestehens mit der
kirchlich-biblischen Theologie, ein Ausweg für Philosophie und
Theologie aus der Lage, die sich auf einer mittleren Linie treffen,
auf ihr eine vorläufig geltende Koalition errichten und von ihr
ans in der Richtung auf eine zukünftige rein wissenschaftliche
Religion weiterstreben können. So sind denn überhaupt die in der
„Rel. i. d. Gr. d. bl. V." vereinigten Abhandlungen überhaupt nicht
als Buch gedacht, sondern als einzelne diesem Zweck dienende
Abhandlungen für Biesters Zeitschrift. Sie sollten das Problem
der Vereinigung in einigen Hauptpunkten darstellen und lösen.
Erst die Zensurschwierigkeiten haben die gemeinsame Herausgabe
als Buch verursacht und ein Ganzes sind sie erst dadurch ge-
worden, dass die ausführliche Vorrede den eigentlichen thetischen
Religionsbegriff Kants hinzufügt, wobei er sich darin freilich be-
züglich des wichtigsten Punktes, des apriori-synthetischen Charakters
der Religionsideen, mit Andeutungen (W. W. VI, 100) begnügen
muss. Ihr eigentlicher Zweck ist die Herstellung der geschilderten
Vereinigung, wie ein Brief an Stäudlin 4. V. 1793 es ausdrücklich
ausspricht „Mit beikommender Schrift: Rel. etc." habe die dritte
Abteilung meines Planes zu vollführen gesucht, in welcher Arbeit
mich Gewissenhaftigkeit und wahre Hochachtung für die christ-
liche Religion, dabei aber auch der Grundsatz einer gewinnenden
Freimütigkeit geleitet hat, nichts zu verheimlichen, sondern, wie
ich die mögliche Vereinigung der letzteren mit der reinsten
praktischen Vernunft einzusehen glaube, offen darzulegen."
Briefw. H, 414. Dieser Zweck geht auch aus der ganzen Haltung
des Buches auf das deutlichste hervor, das in der That die Ver-
einbarkeit einer wissenschaftlich behandelten Bibeltheologie mit
einer rein wissenschaftlichen Religionstheorie zeigt und in einer bei
Kant sonst ganz ungewöhnlichen Weise auf die kirchliche Dog-
matik eingeht. Die Zensur hat in der That nicht so unrecht ge-
habt, das Buch als theologisches zu behandeln. Dass es ein solches
sei und den für die augenblickliche Lage möglichen Mittelweg
zwischen reiner Religionsphilosophie und kirchlich-biblischer Theo-
logie zeigen will, geht überdies aus seinen eigenen Äusserungen
deutlich hervor, besonders aus dem ersten der von Dilthey mitge-
teilten Entwürfe zu der Vorrede des Buches. Der Philosoph be-
darf des Anschlusses an die Theologie, um die reine Religion
praktisch zu machen, und der Theologe des Anschlusses an die
64
Proeltscîi,
Relis:ionsphüoso]>hie, nm die biblische Theolojsrie wissenschaftlich
zu inadieiL „Der Fliilosoph mug sich noch so sehr enthalten, sich
mit Bestimmungen des üffeubaruu^sglaübeus zu befassen und sitii
bloss auf Prinzipien der reinen Vernunft einschränken, so muss er
doch auch auf die Möglichkeit der Ausführung seiner Ideen in tier
Erfiihrung Rücksicht nehmen, ohne welche diese bloss leere Ideale
ohne objektive praktische fîealitat zu sein in Verdacht koinnieii
müssten, mithin keine öffentliche Religion (davon doch der Begriff
in den t^mfang seines (jeschäfts gehört), dadurch begründet oder
nui* als möghch vorgestellt werdeji köinite."^) ^ Der Geistliche al^j
ein solcher mag dagegen immer den besonderen Anforderungen des
Staates unterworfen, ja auch für eine gewisse Art der Öffentlichei
Behandlung der Religion privilegiert sein, so steht eben dei-selbe
doch als Gelehrter, der sich mit dem Philosophen misst, unter dem
Urteil der Fakultät, dazu seine Wissenschaft gezählt wild, nämlicli
der bibhsch'theologischen, welche als ein Departement der Uni-
versität nicht bloss für das Heil der Seelen (in Bildung zu Lehre
im geistlichen Stande), sondern auch fürs Heil der Wissenschaft
zu sorgen hat und der philosoplüschen Fakultät, deren Vernunft-,
Sprach- und Geschichtsforschungen sie oft zu benutzen nötig findet,
schlechterdings keine Finschränkungen auferlegen kann, wie weit
sie sich ausbreiten dürfe, weil es die Natur derselben mit sich
bringt, sich über alles auszubreiten/' ^j 2*;^ gj^bt also drei Stel-
lungen zu dem Problem, die des Rehgionsphilosophen, des wissen-
scbafthchen Theologen und des praktischen Geistlichen. Der
letztere hat den bestehenden Gesetzen zu gehorchen und nur auf
die Milderung und Rationalisierung zu hoffen, die die beiden ei'sten
in dem gemeinsamen Interesse an einer Vereinigung oder Mittel-
linie bew^ii^ken und den Kegierungsinstanzeu annehndich machen
werden. Dieses Interesse an der Herstellung einer Mittellinie
spricht auch noch aus der Eingabe an die Kiuügsberger theolo-
gische Fakultät um Entscheidung, ob das Buch einer theologischen
Zensur zu unterliegen habe; Kant hält ihr vor, dass „tue Theo-
logen als Universitätsgelehi"te (nicht bloss als Geistliche) das Inter-
esse der Wissenschaft nicht zu verabsäumen, sondern vielmehr . . .
zu erw^eitern befugt und verbunden sind.** Briefw. II, 345. Es
spricht aber auch noch aus der letzten Kedaktion der Vorrede,
1) Dilthey, Kants Streit mit der Zensur fiber das Recht freier Reli-
gionsforschmig, Archiv f. Gesch. d. Philos. Uli 1900. S. 437.
2) Dilthey S. 438. ~
Das Historische in Kants Beligioiiâpliilosophie.
65
wo Kant freilich die beiden Wissenschaften der Religiousphilosophie
und Theologie zunächst reinlich geschieden sehen will; aber er
will dann doch, dass schliesslich „der Versuch angestellt wird, sie
in VereiüigüDg zu betrachten**; man muss wissen, ^wie man mit
der Religionslehre im Ganzen daran sei", und es wäre daher wohl-
gethan, „nach Vollendung der akademischen Unterweisung und der
biblischen Theologie jederzeit noch eine besondere Vorlesung über
die reine philosophische Beligionslehre (die sich alles, auch die
Bibel, zu nutze macht) nach einem Leitfaden, wie etwa dieses
Buch, . , . als zur vollständigen Ausrüstung der Kandidaten er-
forderhch zum Beschlüsse hinzuzufügen/* VI, 105 fJ)
^b Aber diesen Sachverhalt hat nun freilich Kant selbst wieder
' verdunkelt, indem er in allen offiziellen Äusserungen, in der Vor-
rede zu der „Rel i. d. ür, d. bl V." und zum „Streit^*, in der
Eingabe an die theologische Fakultät und besonders in der Ver-
antwortung gegen den König, aber auch in den Briefen an die
^B ^) Noch detitiicber spricht ein loses Blatt Reicke 11, 253: „Ich glaube
T^^ts Unwürdiges in der Vemutifttheologie und, sofern sie Moral enthält,
in Ansehung der Religion der Vernunft gesagt zu haben, und, da der bib-
lische Theologe sich auch der Vemunftideen bedient^ musste ich sehen,
wie weit die^e für sich selbst reichen und auf welche Art. sie mit jenen
in Hannonie gebracht werden können; alJes als Hypothese, Die Saclie
wurde so vorgestellt, wie sie zwischen der philosophischen und theologischen
Fakultät, nicht zwischen der ersten und den Geistlichen, nnd nicht vor
dem Volk, sondern dem gelehrten Publikum geführt wird. Mein Buch ist
keine Rede an das Volk, denn dazu ist es viel zu g^elehrt und unverstÄnd-
lich, sondern an die Fakultäten, um, wieweit die Rechte der biblisch-theo-
logischen im Verhältnis auf die philosophisch- theologischen gehen, auszu-
machen, weil beide in Harmonie soUen gebracht werden". Ganz ebenso
Reicke HI, 4, Daher auch der Titel, der nicht Religion aus reiner Ver-
nunft, sondern innerhalb reiner Vernunft sagt und damit andeutet, dass
es eine rationale Religion nirgends gehe, sondern nur rationale Religions-
elemente, die eingehüUt sind in empirisch-positive und die dieser HüUe
immer bedürfen^ da nie reine Verminftreligion bei der sinnUchen Art des
Menschen möglich ist. Daher sein Prinzip: „Analytische Methode eine
gegebene Religion innerhalb der Grenzen etc, (d. h, auf ihren Gehalt an
reiner Vemufift m prüfen nnd wm dieaem Gehalt awt zu deiden) zu finden,
nicht synthetisch eine solche durch Vernunft zu machen", Reicke 111, 59.
Der Gedanke ist oft wiederholt. Ebd. III, 68; UJ, 90, Das ist aber das
Prinzip eines Kompromisses, der die Notwendigkeit der positiven Religion
anerkennt, die beste unter den vorhandenen aussucht, diese nach Vermögen
aus ihren eigenen rationalen Intentionen heraus rationalisiert und dabei
zugleich möglichst Rücksicht auf den rechtlichen Bestand des Staats-
kirchen turns nimmt.
KAXitotii<n*n IX 5
66
K Troeltscli,
Theologen^) eine mit dem wirklichen Zweck gar nicht überei
stimmende Unabhängkeit und blosse Parallelität gegenüber der
positiven Theologie behauptet. Er will nur vom Standpunkt der
philosophischen Fakultät aus gesprochen haben, die biblischen Be-
züge nur als Beispiel gewählt haben, an deren Stelle auch andere,
nur dann ihm weniger bekannte, weniger anschauliche und prak-
tisch bedeutsame hätten gewählt werden können ; er will vor allein
dem eigentlichen Erkenntnisprinzip der theologischen Fakultät gar
nichts präjudiciert haben. Seine Religionsphilosophie will sich zoofl
Theologie nur verhalten, wie die reine natürliche Religion gegen-^
über der offenbarten, und die Berührungen mit ihr bezögen sich
nur auf die Elemente natürlicher Religion, die nach eigener theo-
logischer Lehre ja auch in dieser selbst enthalten seien. Der für
jede Philosophie unkontrollierbare Begriff der Offenbarung falle
nicht in seine Kompetenz und könne von der Philosophie ans
wenigstens nicht als unmöglich erwiesen werden; somit verbliebeo
der kirchlichen Theologie ihr eigentümMches Erkenntnisprinzip und
die eventuell daraus ableitbaren Dogmen als ihr von ihm unange-
fochtenes Eigentum. Allein es liegt auf der Hand, dass dies«
Wendungen um* aus dem Streit mit der Zensur bervorgegaugeE
sind und die Prinzipien der scholastischen Theologie^) lediglich
benützen, um ans diesen selbst den Anspruch zu folgern, dass
seine Schrift nicht vor das Forum der theologischen, sondern vor
i) So z. B. in dem Briefe an den KatholikeD Renss, Mai 1793: ^Id
SBg-e hier nicht, dass die Vernunft in Sachen der Religion sich seibat
nug zu sein behaupten wage, sondern nur {dass)^ wenn sie sich nicht at^l
wohl in Einsicht als im Vermögen der Ausübung genug ist, sie alle^ üb-
rige, was über ihr Vermögen hinzukoramen muss^ ohne dass sie es wissen
darf, worin es bestehe, von dera übemattirlichen Beistand des Himmels
erpi^arten mu8s> Bricfw. Lf, 416. — tTber die Verantwortung an den König
vgL Amoldt, Beiträge 111 ff., der hier „tTbertreibung" 120 findet.
*) Vgl. meine Schrift, Vernunft und Offenbarung bei W. Jos-Gerhard
und Melanchthon. Göttingen 1891, Ich kann Dilthey nicht zugeben, dass
in diesen Formeln sich für Kant das grosse Problem des Verh^tnisse*' der
historischen Machte der Religion zur neuen Religionswissenschaft aae-
spreche. Die wirkliche Auffassung Kants liegt in dem vorher geschilderten
Koalitions verfahren. Dagegen kann ich in den scholastischen Formeln Über
die Kompetenzen der Zensur und in der der Teilung dieser Korapetenzea
entsprechenden Teilung der philosophischen Religionslelire und der Offen-
barungstheologie nur eine momentane Auskunft gegenüber den Zensur-
schwierigkeiten sehen, zu der er die von ihm. selbst gänzlich überw^undenea
scholastisch-theologischen Formeln benutzt»
Das Hîâtorîsclie in Kants ReUgicmspliilosopMe.
67
fias der rein philosopHscheD Zensur gehöre. Das aber war der
Gegenstand seines Streites mit der Berliner ZensurkommissioD und
war die Bedin^uüg» unter der allein sein Buch gedruckt werden
konnte. Dass hierin allein der Oruud dieser eigeûtihnlich schola-
stischen und zopfigen Wendungen liegt, ist ohne weiteres klar,
wenn man die zur Fonnel gewordenen ganz (liploniatischen und
inhaltsleeren Äusserungen über die neben der Religionsphilusophie
allenfalls noch mögliche Offenhamngstheologie betrachtet, wenn
man bedenkt, dass Kant die sämtlichen christlichen Dogmen als
richtig zu interpretierende Belebungs- und Erweckungsmittel der
Eeligion betrachtet und der scheinbar anerkannten Offenbarung
zwar nichts präjudiciert, aber auch keinerlei Platz übrig lässt.
Er erkennt sie in der Theorie als miiglich an und arbeitet prak-
tisch ihren ganzen Stoff auf, als ob sie nicht vorhanden wäre.
Das heisst die Offenbamtig haben, als hätte man sie nicht, oder
sie nicht haben, als hätte mau sie,
Ist also die „ReL i, d. Gr, d. bh V." ein für die momentane
und wohl noch lange dauernde Lage gemeinter Koalitionsversuch,
eine Vereinigung von Religionsphilusophie und Theologie, so ist
sie für die Auffassung von Kants Religionsphilosophie nur mit
Vorsicht zu benutzen und jedenfalls kein erschöpfendes Dokument,
Mindestens das Verhältnis zu der Eeligionsgeschichte wird aus ilir
nur sehr indirekt erhellt werden können, i^ber nicht bloss dieser
Kompromisscharakter erschwert die Ausnutzung. Kants Schreib-
weise hat in iliesen Dingen vielmehr noch einen ganz besonderen
diplomatischen und übervorsichtigen Charakter, sie ist reich an
Mentalreservationen und Zweideutigkeiten, die der grund wahrhaftige
Mann vor sich mit dem Gebot des Gehorsams gegen die bestehende
Obrigkeit rechtfertigte. Wer den Veraicht auf religionsphiloso-
phische Schriftstellerei »,als seiner Majestät getreuester llnterthan**
bedingungslos leistet und dann selbst erklärt, sich damit den
Rücktritt von diesem Versprechen bei dem Eintritt eines neuen
Herrschei^ haben sichern zu woollen;') wer Mendelssohns Ablehnung
jeder Konversion durch Berufung auf die zuvor notwendige göttliche
Annulierang des Gesetzes als „vorsichtige^ Andeutung auffasst,
ÜBER j& die Christen selbst jüdische, erst zu überwindende Trü-
bungen in ihrer Religion hätten;-) ein solcher Mann mag vieles
geschrieben haben, dessen wirkUche Meinung heute nicht mehr
1) W. W. Vü, 330,
») W, W. Vn, 369.
5*
E. Troeltsch,
eptziffert werden kann. So schreibt Kant ja anch selbst ^es sei
jedermann bekannt, wie sorie^ältig er sich mit seiner Schriftstellerei
in den Schranken der Gesetze halte", Brief w, III, 238. Am deut-
lichsten aber hat er sich über seine Grundsätze gegen Fichte er-
klärt, der von ihm Auskunft haben wollte, wie man in der Frage
der Offenbarung gegenüber der Zensur aufkommen könne. Er
stellt zunächst fest, dass aus den ihm und Fichte gemeinsamen
Grundsätzen allerdings unvermeidlich folgt-, ^dass eine Religion
überhaupt keine anderen Glaubensartikel enthalten könne, als die
es auch für die reine Veniuüft sind''. Von hier aus sei an sich der
Zensur gegenüber nicht schwer durchzukommen. „Dieser Satz ist
nun memer Meinung nach zwar ganz unschuldig und hebt weder
die subjektive *) Notwendigkeit einer Offenbaruug noch selbst daij
Wunder auf (weil man annehmen kann, dass ob es gleich mög^
lieh ist, sie, wenn sie einmal da sind, auch durch die Vernunft
einzusehen, ohne Offenbarung aber die Vernunft doch nicht von
selbst darauf gekommen sein würde, diese Artikel zu introducieren,
anfangs Wunder von Nöten gewesen sein können, die jetzt der Ke-
Ugion zu Grunde zu legen, da sie sich mit ihren Glaubensartikehi
nun schon selbst erhalten kann, nicht mehr nötig sei),** Allein
damit komme man bei der jetzigen Verschärfung der Zensur nicht
mehr durch, die sich nicht darauf einlässt, „dass die Offenbarung
dergleichen Sätze nur aus Akkomodation für Schwache in einer
sinnlichen Hülle aufzustellen die Absicht hege und dieselbe insofern
auch, ob zwar bloss subjektive, Wahi-heit haben könne.** Es
bleibe aber unter diesen Umständen immer noch der Weg übrig,
dem Zensor „den Unterschied zwischen einem dogmatischen, über
alle Zweifel erhabenen (sc. kirehUchen) Glauben und einem bloss
morahschen freien, aber auf moralische Gründe (die Unzuläng-
lichkeit der Vernunft, sich in Ansehung ihres Bedürfnisses selbst^
Genüge zu leisten) sich stützenden Anuehmung (sc. des Wunden^
und der Offenbarung) begreiflich und gefällig zu machen ; da alsdami
1) „Subjektiv- heisst hier und weiter unten einfach soviel als ^psy-
chologisch**. Vgl. Hegler, „Psych, in Kant« Ethik'; S. 21, der an einigen
schlagenden Beispielen diese Begriffsgleiciiheit nachweist. An anderen
Stellen freüich heisst .subjektiv" soviel als ppersnnheh-ethisch in der Gel-
tung begründet^. AUein das ist — wenn man die sonstige Behandluof
des Wunderbegriffes sieh vergegenwärtigt — hier sicher nicht, der Fall. Die
zweite Auskunft gegenüber der Zensur ist ein Versuch, jene erate Be-
deutung von ..subjektiv^ allenfaUs m diese zweite hinübe rzuspielen, oder
sie ilir doch anzunähern.
Das Historische in Kants Relij^onsphilosophie.
69
der auf Wunderglauben «lurch moralisch gute Gesiimnng gepfropfte
Religiousglaube ungefähr so lauten würde : Ich glaube lieber
Hpfr! (d. h, ich uehme es (sc. dm Wunder) g?rne an, oh ich es
gleich weder mir noch anderen hinreichend beweisen kaun); h^ilf
, meinem Unglauben: d* h. den moralischen Glauben in Ansehung
I alles dessen, was ich aus der WundergeschichtserzäbUing zu
' innerer Besserung für Nutzen ziehen kann, habe ich und wünsche
' auch den historischen, sofern dieser gleichfalls dazu beitragen
könnte, zu besitzen/' Kant nennt diese Ideen „in der Eile hin-
I gelegt, obzwar nicht unüberlegt". ') Und es ist klar, dass in
dieser Sache Methode ist. Die Methode ist in den relîgionsphilo-
I sopMschen Schriften nur allzu spürbar. Aber wenn von den
I beiden Wer vorgeschlagenen Methoden die erste noch allenfalls für
' Kants Gedankengang möglich ist, so ist die zv^^ite eine direkte
Vei leugnung seiner wesentlichen Grundsätze. Ks ist auf eine be-
reits exoterische Methode eine mehr als esoterische aufgepfropft.
TJüd diese Anweisung gab Kant im Februar 1792, also während
er an seiner „Rel. i. d. Gr. d. bL V." arbeitete! Wie unsicher
ist dann der Boden für die Interpretation dieses Buches!
Im Ganzen aber wird doch die Auffassung des Buches nicht
allzusehr beeinträchtigt durch diese Winkelzüge, zu denen eine
bornierte Pfaffen Wirtschaft und sein korrekt-legitimistischer Sinn
den souveränen und alle diese Menschlichkeiten mit beissender
Ironie betraclitenden Denker genötigt haben. Ist nmn einmal auf
sie aufmerksam geworden, so lassen sie sich an der stereotypen
1^ Formel, an der gleichartigen Einflickung durch „obw^ohl", „wo-
I bei*, ^oder** u. s. w., vor allem an dem den Kontext oft empfind-
I lieh störenden oder verwackelnden Widerspruch zumeist leicht er-
kennen und ausscheiden.*) Nach dieser Ausscheidung erhält das
1) Briefw. II, 308 f.
«) Ich notiere einige Beispiele: W, W, VI, 13i*, 157, 158, 180, 181,
208, 303, 210, 241, 270, 286, ein sehr charakteristisches Beispiel ist S. 169,
wo ich die Kongression durch eckige Klammer ausscheide und der Satz
durch die Ausscheidwiie: erst .seinen echteii Sinn gewinnt : „und diese (sc.
die nme sittlivhe (iesifimmg) in ihrer Reinigkeit, wie die des Sohnes Gottes
(sc. des sittlicheji Menst^hheitsiileak üherJiaupt)^ welche er (sc. der Mensch) m
. sich Aufgenommen hat (oder, (wenn wir diese Idee perso nifi-
cieren) dieser selbst (sc, jetzt ChriBhin)} trügt ftir ihn, [und so auch
für alle, die an ihn (praktisch) glauben] als St«D vert reter die
*Stlndenschuld, thut durch Leiden [und Tod) der höchsten Gerechtigkeit
^nug und macht als Sachwalter, dass sie hoffen köEBen, vöt ihrem Eich ter
70
E. Troeltsch,
Buch einen ganz anderçD, viel geschlosseneren, grossartigeren
nnd freieren Charakter. Es kennzeichnet sich dann deutlich als
rationalisierende Vermittelungstheologie grössten Stiles. Es giebt
drei Theologieen: die rein wissenschaftliche oder die das Ganze
der Religion deduzierende und in seinem Verhältnis zur Religions-
à
als gerechtfertigt zu erscheinen, [nur da s s (in dieser Vorstellungs-'
art) jenes Leiden, das der neue Mensch, indem er dem alten
abstirbt, ira Leben fortwährend Übernehmen miiss, von dem
Repräsentanten der Menschheit als ein für allemal erlitte-
ner Tod vorgestellt wird)." Der Satz ist für Kant« Methode sehr
interessant: Die Einschiebsel heben seinen einfachen Sinn geradezu aul|^—
denn er will sagen, dass der neue Mensch in der Totalität seiner Gesin^^
niing Erlöser, Stellvertreter und Sachwalter ist; die Einschiebsel entstellen
den Sinn durch Einfügung einer allenfalls, weil für die Vernunft unkon-
trollierbaren» annehmbaren Ergänzung; aber Kants EhrMcbkeit hebt diese
Ergänzung in der letzten Einschränkung wieder auf, wo er diese Er-
gänzung lediglich als Symbol ftir einen täglichen psychologischen Vorgang
erklärt; eine grosse Anmerkung unter dem Text erläutert vollends die
Symboltheorie; dabei bleibt aber doch im Text der völlig zweideutige und
sinnsiörende Doppelgebrauch des Ausdrucks Sohn Gottes. Beiläufig sei
bemerkt^ dass dies die einzige Stelle ist, wo die Worte Erlöser und Er-
lösung gebraucht sind, und dass liier der Erlöser ganz ausdrücklich die neae
Gesinnung ist. Ein ähnlich charakteristisches Beispiel findet sich S, 184:
„Da er also mit ihnen (sc, dm himnüüchen Einßimat) unmittelbar nichts an-
zufangen weiss, so statuiert er in diesem Falle keine Wunder, sondera
verfährt so ... , als ob alle Sinnesänderung und Besserung lediglich von
seiner eigenen angewandten Bearbeitung abbinge." Zu diesem vieUeicht
Anstoss gebenden „statuiert^^, giebt nun die zweite Auflage die Anmerkung:
„Heisst soviel als: er nimmt den Wunderglauben nicht in seine Maximen
(weder der theoretischen noch der praktischen Vernunft) auf, ohne doch
ihre Möglichkeit oder Wirklichkeit anzufechten.*' Dabei ficht er aber an
anderer Stelle beides an. — Die bisherigen Stellen, die ganze Theorie der
Parerga, der bloss möglichen und zwar die Theologie, aber nicht die Reli-
gionsphilosophie betreffenden Wunder, Geheimnisse nnd Geschicktstbat-
sachen VI, 146, verfahren nach dem ersten, Fichte gegenüber geäusserten
Grundsatz. Andere verfahren nach dem zweiten, dass sie den historischen
Wunderglauben zwar in hypothesi anerkennen und als wünschenswert be-
zeichnen, aber nickt von üim, sondern ninr von der sittlichen Gesinnung
ausgehen wollen, um i-^on dieser aus ihn dann, soweit er moralisch
fnichtbar gemacht werden kann, annehmlich zu machen. Es handelt sich
dann nicht um den historischen Wunderglauben selbst, sondern nur um
seine Voranstellung oder Nachstellung. Kant kämpft nur für die xweite
(VI^ 278, 283) und es fehlt anch nicht in diesem Zusammenhang das gegen
Fichte gebrauchte Stichwort: ,jlch glaube, lieber Herr, hilf meinem Un-
glauben". VI, 289. Das ist ganz unverkennbare Befolgung des dort ge-
schilderten Verfahrens gegenüber der Zensur. — Am schlimmsten ist der
Das HistoTische in Kants Reli/grionsphilosophie.
71
^^scbichte zeigende Eeli^ioiisphilosopliie , die rein kirdilich-posi-
^p^e, ans der offenbarten und inspirierten Bibel die Dogmen
darstellende eigentliche Theulogie (VII, 340 und 353), und eine
Verbindung von Religioosphilosopliio und Thi'ologie, in der diese
von jener durch und durch erleuchtet, deduziert und geregelt
wii'd, aber auch jene sich diese als Organ praktischer Wii^kung
und Mittel religiösen Fni-tschrittes aneignet (VII, 359). Die erste
JCheologie behält Kant für sich; sie würde für die Praxis im
^bgenwärtigen Zeitpunkt leer und wh*kungslos sein und durch
ihren Rationalismus nur P^bitterung oder Vei^tiindnislosigkeit be-
Abschnitt VI, 212-222, wo über da^ Verhältnis der in der sitthcheii
Wiedergeburt selbst voUzogenen Befreiung vom Bösen zu dem fremden
Verdienst des historischen Christus gehandelt wird. Die Stelle ist in ihrem
Wortlaut absohlt unverständhch und ist auch in Kuno Fischers ausführ-
licher Reproduktion nicht verständlich geworden. Sie wird nur durch das
Zcnsiirprinzip verständlich, den historischen Glauben allenfalls auf die
moralische Gesinnung aufzupfropfen, und ist eine Auslegung des Wunsches
j^iilf meinem Unglauben'^ Kant giebt sich hier den Anschein, eine fremde
Gemigtbaung zur Straftilguiig für eine Vemunfiforderung zu halten, und
konstruiert sogar eine Antinomie zwischen dem rein innerlich-rationalen
Religionsglanhen mid einem notwendigen Rekurs auf fremde historische
Ergänzung. Allein das Ende vom Liede ist, dass es auch hier nur auf
Voranstellung des sittlich -rationalen Gedankens ankommt und das andere
dann wohl oder übel als der moralischen Erneuerung zuträglich und von
üur ans bestimmbar liinzugefügt werden m5ge: Der Religionsphilosoph
„wird bei aller Achtung filr eine solche üherschwängliche Genugthuung,
bei allem Wunsche^ dass eine solche auch für ihn offen stehen
möge, doch nicht umhin können, sie nur als bedingt anzusehen^ nUmüch,
dass sein, soviel in seinem Vermögen ist, gebesserter Lebenswandel vorher-
gehen müsse, um auch nur den mindesten Grund zur Hoffnung zu
geben, ein solches höheres VerdieDst k5nne ihm zu Gute kommen."
S. 215. Das ist lediglich für die Zensur. Seine wahre Ansicht deutet
Kant dadurch an. dass er diese Abhandlung über die Anerkennung einer
fremden historischen Genugthuung überschreibt: ,,Der allmähliche Übergang
des Kirchenglaubens zur Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens iat
die Annäherung des Reiches Gottes**! — Erwähnt sei noch, dass VII, £^80
ÉOpfening Isaaks einfach als Mythos bezeichnet wird, während in der
sl, L d. Gr. d. bl. V." dieselbe Geschichte nur als ,, nicht apodiktisch
vim**, als möglicher Weise einen Irrtum der Überlieferung und Auslegung
haltend VI, 286 bezeichnet wird. — Dabei ist aber nicht zu vergessen, dass
Kant, indem er nach dieser dogmatischen Seite sich starke Zurilckhaltung
«erlegt, dafür auf der praktisch-kirchlichen um so schroffer und grim-
rer das Wöllnersche Regiment bekämpft. Das Prinzip des Zwangs-
abeus wird mit sittUcher Entrüstung und mit schneidendem Hohn be-
Umpft ^
72
E. Troeltsch,
wirken. Die zweite hält Kant für das grosse Übel, für den vou
Kleiolichkeit, Äiisserlichkeit imd Herrschsucht festgehaltenen ReslA
einer überwnnileiieii Relig^ousstiife, der in den gegen wärtigen, der
Aufklärung sich entgegen bewegenden, Zeiten die Religion nur ver-
giften und verächtlich machen kann. Die dritte ist ihm das van
der Zeitlage geforderte Mittel der Versöhnung und Fortentwicke-
lung, durch das aus der chiistlicheu Landeskirche als der reinsteu
Verkörperung der religiösen Wahrheit, die die Erf aiming darbietet,
durch allmähliche Umdeutnng, Einschränkung und Selbstanfhebung
die ideale Zuktmftskirche, die reine, famiüenhafte, religiöse
Menschheitsgemeinschaft, angebahnt werden soll. Es gilt, die hier
erreichte relative Wahrheit der historischen Religionsgemeinschaft
möglichst heraus zu heben und sie damit auf die Bahn zu bringeU|.Ä
auf der sie — in freilich noch unabsehlich weiter Ferne — zur™
absoluten reinen Wahrheit sich erheben wird. So hat Kant seine
Stellung im Unterrichtsorganisraus der Univei^itM aufgefasst, W0^|
ReligionsphUosophie und Fakultätstheologie nebeneinander standen
und von den gleichen Hörern benntzt werden sollten; so hat er
die reiferen unter seinen theologischen Schülern zur Einheit undfl
Versöhnung ihrer Ausbildung geführt; so hat er vor allem die
Mission der Philosophie in Bfzug auf das grosse religiös-kirch-
liche Problem der neuen Zeit aufgefasst. ^) Es ist das nichts
Ï) Das Pro^rramm fftr die Gegenwart, die für Kant eine nene Epoche
in der Geschichte des Cliristentmns und zwar die wichtigpste in ihr Über-
haupt ist, ist folgendes: ^1. Bass , . . , da die Verbindung der Menschen
zu einer Religion nicht füglich ohne ein heiliges Buch und einen auf
dasselbe gegründeten Kirche nglanb en zu Stande gebracht und beliarrüch
gemacht werden kann; da auch^ wie der gegenwärtige Zustand raensch*Ä
lieh er Einsicht h es ch äffen ist, wohl schwerlich jemand eine neue Offen-™
baning, durch neue Wunder eingeführt, erwarten wdrd, es das Vernünftigste
und Billigste sei, das Buch, was einmal da ist, fernerhin zur Gnmdlage
des Kirchenunterrichta zu brauchen und seinen Wert nicht durch unnütze
oder willkürliclie Angriffe zu schwächen ; 2, dass, da die heihge Geschichte . . »M
nur zur lebendigen Darstellung ihres wahren Objektes (der zur Heiligkeit w
hinstrebenden Tugend) gegeben ist, sie jederzeit als auf das Moralische ab-
zweckend gelehrt und erklärt werde. ** VI, 23L An sich freilich ist ,jdie
heilige Geschichte bloss xum Behuf des Kirchenglaubens angelegt^*
d. h, ein rein histuriclies Produkt urchristlicher Apologetik und Legende
und als solche geht es die Religionsphilosophie nichts an. Aber sie ist
die „Hülle für den Embryo** der reinen Religion (S. 219) und als solche ist
sie ein vielleicht für immer (S. 234), jedenfalls auf lange Zeit unentbehr-
liches „Vehikel".
Das Hisforische in Kants Reli prion spb il osophie.
73
anderes als die l^iiteracheidimg einer rein wissenschaftlichen Theo
logîe lind einer Kirche und Wissenschaft versöhnenden» aber nicht
rein wissenschaftlichen, sondern die Wissenschaft nui* benutzenden
nnd den historisch-populären \%rstelliingen sich mög^lirhst an-
schliessenden Theologie. Diese Unterscheidung liegt lief im Wesen
der Sache. Zu ihr sahen sich alle grossen Denker und Forscher
in der Theologie genötigt, Ihr habeu in der Begriindung der
Theologie die grossen Alexandriner gehuldigt, sie ist in der moder-
nen Neubildung der Theologie von Semler und von Schieier mâcher
gefordert worden, und sie hat sich immer deutlicher als die Konse-
quenz des Eindringens der reinen Wissenschaft in die Theologie
herausgestellt.*) Der wahrhafte i^isseiischaftliche Radikalismus
kennt seine Tragweite und versteht die konservativen Mächte des
Gegebeueu, Er macht daher nicht den Versuch, mit abstraktem
Wahi'heitsfanatisEUis diesen Abstand zu iiberspriugen, sondern sucht
ihn in besonnener langsamer Ausgleichung zugleich zu schonen
und zu überbrücken. So hat Kant weder die revolutionäi^e Er-
setzung der historisch bedingten Theologie durch eine reine Ver-
nunft théologie *), noch die Einnjengung einer rein historisch-kritischen
Bibelforschung in die Theologie gewollt ;3) Die erstere entspricht
^) Vgl Bernoulli, Die mssenschafthciie nnd die kirchliche Methode
in der Theolog-ie, Freibnrg- 1897 nnd meine Anzeige Gott. Gel. Anzg, 1898.
Von Bernoullis Historismus unterscheidet sich die KaBtische Lehre sehr
charakteristisch dnrch den Besitz eines normativen Religionsbegriffes und
die Möglichkeit von hier aus der „Vermittelung" ein festes Rückgrat zu geben.
*) W. W. VI, 220: t,ln dem Prinzip der reinen Vernunft religion als
einer an alle Menschen beständig geschehenen götthchen {obzwar nicht
empirischen) Offenbarung muas der Grund zu jenem Überschritt zu jener
neuen Ordnung der Dinge hegen» welche einmal aus reifer Überlegung
gefasst> durch allmählich fortgehende Reform zur Ausfühning gebracht
wird, sofern sie ein menschliches Werk sein soll; denn was Revolutionen
betrifft, die diesen Fortechritt abkürzen können, so bleiben sie der Vor-
sehung überlassen und lassen sich nicht planmÄssig. der Freüieit unbe-
schadet, einleiten" und S. 210: „Der Kirchenglaube kann als Volksglaube
tiieht vernachlässigt werden, weil dem Volke keine Lehre ?m einer unver-
änderlichen Norm tanglich zu sein scheint^ die auf blosse Vernunft- ge-
gründet ist, und es göttliche Offenbarung, mithin auch eine historische
Beglanbigung ilues Ansehens durch Deduktion ilires Ursprungs, fordert."
8) W. W, \TI, 383: ,,Nun mag wohl die philologische Auslegung für
den Schriftgelehrten und indirekt für das Volk in gewisser pragmatischer
Absicht wichtig genug sein, aber der eigenthche Zweck der Religions-
lehre . . . kann auch dabei nicht allein verfehlt, sondern wolü gar ver-
hindert werden,^* Vgl. VIJ, 386; VI, 2m und Reicke, ÜI, 9.
74
K Troeltscli,
den Volksbedurfiiisseu nicht, und die zweite lenkt die Religion v
dem, was sie allein interessiert, vom Absoluten, auf das ab, Wi
für sie völlig gleichgiltig ist, auf das Zufällig-Relative. Er liebt
die Bibelkritik so wenig wie Goethe, soiulern will Verwertung der
Bibel zur unmittelbaren Erbauung, ohne welche ihre Verwertußg
keinen Sinn hätte, In dieser Beorderung und Methode weiss er sich
einig mit der wissenschaftlichen Theologie aller Volker und Zeiten^
mit der christlichen und jüdischen, der indischen und islamischen,
die alle genötigt waren, die reine Wissenschaft von der Volks-
religion zu sondern, aber die letztere nach Möglichkeit im Sinne
der ersteren zu deuten, V) Aus so krummen Holze, wie der Mensi
geschnitzt ist, lässt sich oben nichts gerades zimmern.*)
So ist also allerdings die „Rel. i. d, Gr, d. bl. V,** die Ai
einandei"setzung mit der Historie. Aber sie ist nicht die prinzipielle
Untei'suchung des Problems an sich, sondern die Losung der prak-
tischen Aufgabe, wie die Religionsphilosophie sich zu dem die
Praxis beherrschenden historischen Element, dem chiistlicheo
Landeskirchentum, zu verlialten habe. Und zwar sind es speziell
die Zentraldogmen des lutherischen Pietismus, Erbsünde, Bekehrung,
Eechtfeitigung, Wiedergeburt, Sündenstrafe, Geuugthuung, Stellver-
tretung, neues Leben, Reich Gottes und Kirche, mit denen Kant
sich beschäftigt, während die trimta.risch- Christo logisch -kosmolo-
gischen Dogmen der alten Kirche ganz zuriicktreten. Die Gnind-
gedanken der so entstehenden Koalitionstheologie sind leicht in
ihren Umrissen zu zeichnen. Den wichtigsten Punkt bildet die Lehre
vom radikalen Bösen, das zwar That jedes Einzelnen ist und
dessen Allgemeinheit nur von der Erfahrung festzustellen ist, das
also von der christlichen Krhsünde sehr verschieden ist. Es be-
deutet die Herrschaft einer Gesinnungstotalität, die unbe-
greiflich und doch fühlbar die Ifnterordnung des Trieblebens unter
das apriorische Sittengesetz im Prinzip aufhebt und dadurch eine
böse Gesinnung hei verbleibendem Keim des Guten und bei ein-
zelnen Bethätigongen des Outen hervorbringt. Dadurch berührt
sie sich mit der christlichen Lehre von einer jeden Menschen be-
hen*schendcn und erst zu überwindenden Macht des Bösen. Diese
Überwindung als Umkelu^ung der Maximen, als Herstellung des
Übergewichts der Grundaidage zum Guten über die Störung des
Bösen, ist ein in seiner Möglichkeit gänzlich unbegreiflicher, aber
1) VI, 206.
2) VI, 198, offenbar ein Lieblingswort; vgl IV, 149,
Das Historische in Kants Religion sphilosopMe.
75
durch die Notwendigkeit des Sittengesetzes als möglich und iu ud-
begrenzter Eotwickekiiig verbürgter V^organg, der durch religiöse
Selbstbesinnung und Vertiefung d. h. durch Wirkung der geheim-
nisvollen Majestät des Sitteogesetzes und der in ihm enthaltenen
metuphysischeu Hintergründe auf das Gemüt zu Stande kommt.
Sie giebt dem Keim des Guten das Übergewicht und begründet
eine qualitativ neue und einheitliche Gesinnungstotalität des Guten,
bei der quantitative Mängel immer übrig bleiben und erst in lang-
samer Annäherung au das Ziel überwunden werden mögen. Der
Vorgang ist für die menschliche Auffassung eine innerlich-psycho-
logische Entwickeluug, unter dem zeitlosen Gesichtspunkt Gottes
eine Revolution, eine uubegri'eifliche Umkehrung der Maximen durch
die Freiheit. Die Schmerzen der Busse, die diesen Vorgang be-
gleiten, büssen im erneuerten Menschen die Sünden des alten,
lassen ihn stell ve^tret^^nd die Folge der Sünde tragen. Damit ist
das Wahrheitsmoment der christlichen Bekehrungs-, Rechtfeilignngs-,
Wiedergeburts- und Busslehre, daneben auch das der Sti*af- und
Genugthuungslebre anerkannt; denn um der Totalität der Gesinnung
willen kann der neue Mensch trotz quantitativer UnvoUkommenbeit
der Werke Gott als genehm gelten. Die blosse Vergegenwärtigung
der Majestät des Sittengesetzes ist nun aber zwar ausreichend zu
dem unbegreiflichen Vorgang der Sinnesänderung und zu der Ge-
meinschaft ans der Idee des Guten, aber nicht ausreichend zur em-
pirischen Behauptung des neuen Lebens, das aus der menschlichen
Gesellschaft und ihrem Egoismus immer neue Anfechtungen erfährt;
es bedaii zur Sicherstellung der Behauptung und des Fortschrittes
einer Vereinigung der erneuerten Menschen, die in dieser Ver-
einigung sich gegenseitig starken und in dieser Verstärkung die
Einflüsse von aussen abwehren. Damit ist aus den rein immanenten
Vorgängen der Übergang zum Historischen und zur empirischen Ge-
meinschaft gemacht, die in der Geschichte von dem ersten starken,
orgauisationskräftigen Durchbmch der reinen sittlichen Idee aus
erw^ächst und die Menschen zunehmend zu einer reinen Religions-
gemeinschaft der blossen Tugendgesinnnng und Tugendpflege
sammelt Es ist zugleich der Übergang zur positiven Religion.
Damit ist die Wahrheit der christlichen Lehre von dem Reiche
Gottes und der es verkörpernden Kirche anerkannt und auch die
relative Wahrheit der christlichen Idee von der Heilsgeschichte,
d. h. von einem in der Geschichte erfolgenden und am geeigneten
Zeitpunkt von der Vorsehung aus Licht geführten Durchbruch
76
E, Troeltsch,
der reinen Sittlichkeitsgemeiuschaft. Kant giebt einen Ahriss"*
dieser Heilsj^eschichte, wie Piaton einen Mythos erzählt oder wie
Goethe in ^Wahrheit und Dichtung" die Bibel schildert» em^|
Mischling: rationell auf^efasster Geschichte mit poetischer universal-^
geschichtlicher Legende, deren Ansetzung an diese Geschichte so
begreiflich als reizvoll und erbaulich ist. Eine vsolche Mensch-
heitsgemeinschaft oder ein solches Reich der religiösen Sittlichkeit
muss nun aber auch schliesslich seinen Kultus haben. An sich wäre
nur der Kultus reiner sittlicher Gesinnung und darin liegender Ver-
senkung in das Göttliche sowie des guten Handelns erforderlichJÄ
Allein bei der auf Gemeiuschaftsformen angewiesenen Schwäcbe der
menschlichen Natur» bei der noch dauernden Teilung der Staaten
und dem Interesse des Staates an einer Organisation des sitt-
lichen Geistes ist eine nach Ländern geschiedene versin olichende
Organisation des Gottesreiches oder eine Kirche im engeren Sinne
nicht wohl zu entbehren. Sie ist so unentbehrlich, dass überhaupt
von einer Religion aus reiner Vernunft, d. h. von einer bloss sitt-
lichen Gesinniingsreligiün gar nicht die Rede sein kann, sondern
als Belebungsmittel ein heiliges Buch un erlässlich ist, als welches
man dann das beste vorhandene — und das ist die Bibel — auf
nnabsehliehe Zeiten benutzen wird. Ja, auch das Judentum, das
zur Euthanasie in der reinen Moralreligion neigt, wii'd deshalb zum
Anschluss an die chiïstliche Kultus-Organisation genötigt werden
müssen. 0 In ihr muss dann nur dafür gesorgt werden, dass die
Aufstellung von Geistlichen oder moralischen Volkslehrem der
Freiheit und Mündigkeit der autonomen Sittlichkeit und Frömmig-
keit keinen Eintrag thue, dass die Predigt nur Mittel der Belebung
und Entwickeluug freier sittUcher Gesinnung sei, und dass die dog-
matischen SymhoUsierungen der religiösen Idee sowie die kultischen
Gebräuche nie über die Stellung von Belebungsmitteln hinauswachsen.
In diesem Sinne ist sogar auch das Privatgebet als Meditation
und Selbstbelebung der guten Gesinnung, das Gemeindegebet und
Kirchengehen als S}Tnbol der Allgemeinheit der Religion, die Taufe
als Symbol der Aufnahme in das Reich Gottes und die Kommunion
als Symbol brüderlicher Gemeinsamkeit zu fordern. Damit is^
dann die christliche Lelii*e vom Kultus und den Guadenmitteln in"
ihrem Wahrheitsgehalt anerkannt, der Üliergang zur Landesreligion
oder der privilegierten Staatskirche vollzogen und der Abriss diese
Î) Das erste Reicke 111, 4 1 ; das zweit-e Reicke III, 39.
Das Historische in Kants ReUgionsphilosophie,
77
Theologie beschlosseD. Freilich sind daneben im Vorbeiweg: noch
einzelne andere Dogmen gesti-eift; es ist die Trinitäts-, Beruf iings-
und Er wähl nngst ehre sowie die Christologie und Logoslelirc im
moralischen Sinne als Exponent des Freiheitsgeiieioinisses und î3eines>
religiösen Gehaltes umgedeutet worden. Allein das ist deutlich als
Nebensache behandelt. Die Hauptsache ist das Geheimnis der
Freiheit, die göttliche Majestät des Sittengesetzes und die mit
immer neuer Anbetiiug erfüllende Tiefe der hierin geoffeuharten,
aber yöllig unbegi^eif heben, intelligibleu Welt, Aus ihm und aus
der Erkenntuis des radikalen Busen ergeben sich alle die über die
blosse Moral Mnausgeheuden religiösen Gedanken^ ebendamit aber
auch ihre Coincidenz mit dem ewigen Wahrheitsgehalt des Christen-
tums, der als solcher sich gerade durch diese Coincidenz erweist.
Jesus und die Bibel christUchen Anteils sind die klassische Illu-
stration und Verkörperung des Guten trotz alles Morahsch-lu-
diöerenteu, was der Bibel und dem Messianismus Jesu anhaften
mag. Das Detail der Glaubeusvorstellungen mag dann bei dem
unveräusserlichen Hang der menschlichen Natur zur Versiunlichung
und Symbolisierung sich selbst und einer es immer reiner ratio-
nalisierenden moralischen Interpretation überlassen bleiben. Es
lassen sich dabei allerhand tiefe, freiUch stark in Metaphysik und
Theosophie hinüberschweifende, Gedanken anknüpfen, die aber, je
weiter sie sich vom Uumittelbar-Morahscbeu entfernen, um so
schwerer für die Wissenschaft fassbar sind.')
1) Es zeigt sich hierin die öfter beobachtete Doppelneigung Kants,
einerseits mit der Phantasie und Hypothese sich viel weiter in eigentJictie
Metaphysik einzulassen, als die Kritik an sich erlaubte; Beispiele dafiir
gieht A mold t „Krit. Exe/* bei der Besprechung seiner Vorlesungen über
Metaphysik. Andererseits ist ihm der letzte sichere Punkt der Erforschung
des Übersinnlichen lediglicii die Freiheit und das Sittengesetz, und schon
die elementarsten religiösen Zusatzgedanken sind ihm fatale Verwicke-
lungen des Problems. Sehr charakteristisch ist gerade bei den Zetteln, die
die Begrime der Genugthuung, Erwählung» Berufang behandeln, der
Schliussatz Reicke U, 186: „Würden wir von aUer Religion abstraliieren,
so würde die Moral ihren sicheren Gang gehen. Wir würden wissen, was
wir zu thun haben, ohne uns ums Schicksal zu bekümmern. Jetzt, da wir
um dieses besorgt sind und deshalb einen Gott annehmen, kommen \w
in neue Schwierigkeiten." Ähnlich sagt er von dem in der christlichen
Lehre ?,ht kritischen hinzutretenden Pkis Reicke II, 168 „Allein die Philo-
sophie geht ungern daran, sich bis zu Erklämngsgründen zu versteigen,
deren Begriff in einem ewigen Dunkel für uns bleiben muss." Zwischen
dieser Doppelneigung geht die ganze Religionsphilosophie Kants hin und her,
. Das wird sich noch später bei der Metaphysik der Geschichte wiederholen.
78
£. Troeltseliy
Das Mittel dieser Koalition ist die „moralische Inte^p^etatiott^
Allein diese Interpretation verhält sich zu den verschiedenen Dog^
men sehr verschieden. Sie stellt einerseits die Identität der ratio-
nalen Ethik und der Ethik Jesu sowie die weitere Identität der
in der rationalen Moral enthaltenen übersinnlichen Be^ge mit den
in der Lehre Jesu gepredigten fest; sie ist also der Aufweis der
inneren Wesensübereinstimmung in den Hauptlehren. Dagegen be-
handelt sie andererseits die apostolischen und kirchlichen Lehren
über Gott und Christus als von der Lehre Jesu stark abweichende,
wenn auch der uneutbehrlichen Versinulichung dienende, Aus-
führungen anthropomorphistischer Art, die ziemlich gewaltsam und
iOBserlich umgedeutet werden dürfen, da sie ja von Hause aus ihr
Daseinsrerht nur in dem Masse haben, als sie die reine Lehre
Jesu ausdrücken wollen. Kant verwahrt sich daher gegen den
Vorwurf der allegorisch-mystischen Interpretation, der schon da-
mals von historisch-philologischen Exegeten gegen ihn erhoben
wurde, 0 Er will keine von aussen hereingetragene und willkür-
liche Allegorisiening des Christentums gegeben haben, sondern eine
Interpretation aus den eigenen wesentlichen Grundideen des
Christentums heraus, das ja der Durchbruch der remeu Religion
in der Geschichte ist und nur einer Ausnierzung der auch ihm noch
anhaftenden Reste des anthropomorphistischen Suprauaturaüsimis
in Dogma und Kultus bedarf. Die gewaltsame Behandlung des
Alten Testamentes darf man liierbei nicht m Anschlag bringen, da
das alte Testament nach Kants Meinung den Juden und nicht den
Christen gehört, ja am besten überhaupt abgestossen würde. *) Das
Prinzip ist die Deutung der religiösen Vorstellungen aus einer sie
hervoilreibenden Idee, und der Schein willkürlicher Allegorisiening
*) Vn, 362 ff. Dass Kant die christüchen Dogmen einfach im Sinne
«einer Moralreîigion allegorisiert babe, ist auch lieute noch eine sehr ge-
läufige Auffassung-. Er hat sie nicht mehr allegorisiert, als e^ die ganze
moderne Theolog^ie Überhaupt thut, wenn sie von wesentliclien und ewigen
christlichen Ideen und zeitgeschichtlichen Hüllen spricht. Es ist dann eben
nur die Auffassung des Wesentlichen und damit die Deutung der zeitge-
geichichtliciien Hüileu eine andere. Kant« wirkliches Verfahren ist^ wie
er selbst sagt, „Reduktion der Glatibensartikei*^ aufs Minimum Reicke B,
868 und allegorisch-mythiache Erklärung oder auch nur Behandlung des
Bestes.
*) Reicke U, 244: „Wenn man es herausscbaff ete l Lappen an einem
neuen Kleid!" Kant pflegt das A. T. und die jüdischen Einflüsse auf das
N. T, selten zu erwähnen ohne Zufügung des Spruches: hae nos reliqu
exercent,
Das Historische in Kants ReligionspliilosopMe.
79
stammt nur aus der einseitig raoraUstischen Erkenntnistheorie der
Religion.
Diese Auffassung des Buches scbliesst nun aber selbstver-
ständlich nicht aus, dass seine Bedeutung nicht in der Herstellung
^eines solchen Kompromisses aufgeht. Es ist kein Zweifel, dass
Kant hei der Vertiefung in diese Aufgabe und bei der damit ihm
aufgedritngten eingehenden Analyse des Christentums seine
eigene Religionstheorie erheblich fortgebildet hat. Es tritt das
an den beiden Hauptpunkten des Buches, in der Lehre vom radi-
kalen Bösen und der Wiedergeburt und in der von der rehgiüs-
ethischen Oerneinsehafi deutlich zu Tage. In ihnen liegt nicht
ein durch die Koalitiorj von aussen her aufgenötigter Korapromiss,
sondern eine innere Forthikking und Vertiefung des Kantisclien
Beligionsbegriffes selber vor. Das hat Schweitzer durchaus zu-
treffend gezeigt- Er hat auch mit Recht darauf aufmerksam ge-
macht, dass die Freiheitslehre des radikalen Bösen und der
Wiedergeburt über die Prinzipien des ursprünglichen Transscen-
dentalismus weit hiiiausfühi-t, indem sie trotz aller Verwahrungen
Kants Veränderung and damit Geschichte im Gebiet de^ Intelligibein
lehrt, dessen Zeitlosigkeit Kant mit dem vSündenfall und der Wieder-
geburt, dessen Einfachheit er mit der als Entwickelung sich dar-
stellenden empirischen Bekehmng trotz aller Versicherungen nicht
zu vereinigen vermag. Ebenso hat Schweitzer mit Recht hervor-
gehoben, dass in dem Begriff der ethisch-religiösen Gemeinschaft
als Volk Gottes ein anderer, mindestens weiterer Begriff Gottes
als der ursprüngliche der „Kiit. d. prakt. V." sich darbietet,
dass neben der zu postulierenden Einheit von Sinnlichkeit und in-
telligibler Welt im jenseitigen höchsten Gut hier der Gedanke
einer in der Entwickelung der Geisteswelt sich offenbarenden und
zum Ziel wirkenden Vernunft trete. Er hätte noch hinzufügen
dürfen, dass die ganze Heranziehung der Gemeinschaft zur Be-
hauptung und Befestigung der guten Gesinnung eine Durch-
brechung der strengen, alle Deduktion nur auf die Vernunftgesetze
gründenden Bewussiseinsimmanenz bedeutet und eine positive Wür-
rg des Gesamtbewusstseins anbahnt.
Aber diese Dinge sollen hier nicht weiter verfolgt werden.
Ks handelt sich hier nur um die Auseinandersetzung der Kan-
tischen Religionsphilosophie mit der Historie, und es ist daher hier
vielmehr die Frage, ob nicht — ganz abgesehen von den durch
die Zensiu* und die Rücksicht auf das Dui'chschmttspubhkum ab-
80
E. Troeltscli,
gezwungenen Akkonitnodationen — die Hanpt- und Grundideen selbst
durch den Koalitionsgedanken in einer Weise positiv cliristlich gefärbt
sind, die nicht ganz der eigentlichen Auffassung Kants von der Historie
entspricht. Die Frage macht sich an drei Punkteo ganz von
selbst geltend : wie verhält sich das radikale Böse und die WJede^
geburt zu dem von Kant überall festgehalteneu und seine ganze
Weltauffassuug behen^chendeti Gedauken der Ent\^ickelung ? wie
verhält sich die m den verschiedensteu Wendungen gelehrte gött-
liche Thätigkeit und Wirkung zu dem rein subjektiv-imuianenteu
Ablauf des Bewusstseins ? Was ist Kants wirkliche Meinung über
die Bedeutung Jesu für die Religion?')
Kuno Fischer charakterisiert Kants Religionsphilosophie als
ErU>sungslehre^ was ohne nähere Bestimmungen jedenfalls die An-
nahoie einer Fehlentwickelung und eines historischeu Ausgangs-
punktes der Erlösung voraussetzt; damit stimmt auch die Be-
tonung, die Fischer der Geuugtheung und dem Werk Christi zu
Teil werden lässt. In der That kann der von Kant entwickelte
Begriff des radikalen Bösen mit seiner Behauptung einer grund-
sätzlichen verdorbenen Gesinnuugstotulität, seiner Anschauung von
der Allgemeinheit und Erregbarkeit des Bösen ausserhalb des sitt-
lichen Tugendreiches und seinem ausdrücklichen Ausschluss eines
*) Die Schrift von C, v. Kugelten „Kantus Auffassimg von der
Bibel und seine Auslegung derselben. Ein Kompeudium Kantischer
Theglogie" 1896 ist eine ganz steuerlose Zusamnienst^Uung von Stellen
ans Kants Werken und, abgesehen von dem Nachweis der reichlichen
Benntzung der Bibel durch Kant, vöUig wertlos. In dieser Bibel-
benutznng spiegelt sich übrigens zum grossen Teil wie in den Citato
lateinischer Dicîiter nui die christ lieb -humanistische Erziehung jener Tage.
— Ich mache im Folgenden den Versuch, Kants Religion sieh re so darzu-
Btellen, wie sie nach Abzug sowohl der aus dem Koalitions- und Koopera-
tionsgedanlcen stammenden christlich-dogmatischen Färbungen als auch der be-
Bondereïij von der Zensur abgenötigten Konzessionen im Rahmen seiner allge-
meinen Denkweise sich darstellen würde. Auch Laas hat das in seiner sehr
interessanten Darstellung unterlassen. Er lässt daher Kant mit seiner
Christianisierung des Deismus selir stark aus der Rolle faUen mid veraïutet
hiervon seine stark theologisch-metaphysischen Neigungen als Ursache,
Das ganze Kooperations- und Kompromissprinzip llsst Laas erst nachtrSg-
lieh im „Streif* eingeführt werden und damit die Christianisierung, die
Kant als freie Utterarische That raisslungen ist, als Kooperation der Fakxd-
täten und Vorlage des Kompromisses an die Regierung von neuem
versucht werden. Dabei ist aber verkannt, dass die „Rel. i, d. Gr. d. bL
V.** bereit« ebenso gemeint war und in Kant« wirklichem Sinne erst dtireh
starke Abzüge verstanden werden kann.
Das Historisclie in Kant« Religionsphilosophie.
81
Nebeneiüander von Gutem und Bösem dazu veranlasseu. Alleia
dagejgfea macht schon der Umstand bedenklich, dass der Ausdruck
^Erlösnog^ gar nicht vorkommt, ^) dass iiur einige male vom Heil die
Kede ist (VI, 179), vor allem, dass das radikale Böse in diesem
Simie in keiner anderen Schrift vorkommt. Von dcHi Bösen ist
wohl in den gesehichtsphUosophischen Schriften die Rede. Die
Abhandlung ^Vom mutmasslichen Anfang der Menschengeschichte**
schildert den mutmasslichen typischen Anfang des Bösen. „Die
Geschichte der Natm- fängt also vom Guten an, denn sie ist das
Werk Gottes ; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist
Meusehenwerk" IV, 322, Dieses Böse trägt durch seine Folgen
die Selbstkorrektur in sich, indem es zur Stiftung der Kultur und
des Staates nötigt; und trotz der liierbei sich ergebenden, die
Menschheit fast hoffnungslos um^ürdig machenden Kulturlaster treibt
doch die Kultui* über sich selbst hinaus zm^ Enichtnog und Kräf-
tigung der sittlichen Gesinnung und damit zum Fortschritt des
Ganzen. Das ist ein in den ersten und letzten Schriften Kants
immer wiederholter Gedanke. So gilt von dem anfänglichen Bösen :
„Für das Individuum, welches im Gebrauch seiner Freiheit bloss
auf sich selbst sieht, war bei einer solchen Veränderung Verhist;
für die Natui\ die ihren Zweck mit dem Menschen auf die Gattung
richtet, war sie Gewinn** I\\ 322. Von dem Ganzen der Ge-
schichte aber gilt: ^Zufriedenheit mit der Vorsehung und dem
Gang menschlicher Dinge im Ganzen, der nicht vom Guten an-
hebend zum Bösen fortgeht» sondern sich vom Schlechten zum
Bessern allmählich entwickelt; zu welchem Fortschritt dann jeder
an seinem Teile> soviel in seinen Kräften steht, beizutragen, durch
die Natur selbst berufen ist** IV, 329. In der Schrift „Zum ewigen
Frieden" 1795 ist von „einer gewissen in der menschlichen Natur
gewurzelten Bösartigkeit" die Rede, die sich in der legalen Ord-
nung des Staates zwar verbürgt, die aber unverhüllt noch heute
in dem Verhältnis der Staaten zu einander sich kund giebt VI, 442.
Schon der Ausdruck verrät, dass hier das Böse der „Rel. i. d. Gr,
d. bl V.** gemeint ist. Aber von diesen Bösen heisst es dann
sofort: „Das moralisch Böse hat die von seiner Natur unab trenn-
liehe Eigenschaft, dass es in seinen Absichten (vornehmlich gegeu
andere Gleichgesinnte) sich selbst zuwider und zerstörend ist und
*) An der oben erwûtinten Stelle ist nur \*om Erlöser die Rode zu-
sammen mit anderen stehenden Termini der Dogmatik wie SteUvertreter
und Paraklet, und der Krlöiber ist die reine sittliche Gesinnmig selbst.
E. Troeltsch,
[iti- I
so dem (moralischen) Prinzip des Öuten, wennj^leich durch lang-
same Fortschritte, Platz macht" VI, 446, Ähnlich stallt die
Abhandlung über das „Ende aller Dinge" 1794 das Problem. Sie
wiirdigt das irrationale Böse als eine mügliche Hemmung des Zieles
der Menschheit, lehnt aber sowohl die buddliistisch-platonische
Lehre von einer Strafverbannung des Menschen in die Sinnlichkeit
wegen intelUgibler Sünden ab, als die christliche Eschatologie mit
ihrem allgemeinen Abfall des Menschen zum Bösen und zum Anti-
christ. Die ethisch-teleologische Gesanitanscliauung von der Gi
schichte fordert eine zunehmende Entwickelung zum Guten,
durch das Böse und den Ausgang aus der blossen tierischen In-
differenz mitbefördert wird. „Natürlicher Weise eilt in den Fort-
schritten des menschlichen Geschlechtes die Kultur der Talente,
die Geschicklichkeit des Geschmacks (mit ihrer Folge, der Üppig-
keit) der Entwickelung der Morahtät vor; und dieser Zustand ist
gerade der lästigste und gefähi'lichste für die Sittlichkeit sowohl
als physisches WohL . . . Aber die sittliche ^Anlage der Menschheit,
die (me Horazens poena pede claudo) ihr immer naclihinkt, wii^d
sie, die in ihrem Lauf sich selbst verfängt und oft stolpert, (wie
man unter einem weisen Weltregierer wohl hoffen darf) dereinst
überholen; und so sollte man selbst nach den Erfalirungsbeweisen
des Vorzugs der Sittlichkeit in unserem Zeitalter in Vergleichung
mit allen vorigen wohl die Hoffnung nähren können, dass der
jüngste Tag eher mit einer Eiiasfahrt als mit einer der Kotte
Korah ähnlichen Höllenfahrt eintreten und das Ende aller Dinge
herbeiführen dürfte** \% 364. So ist also das radikale Böse unter
allen Umständen ein Moment der Entmckelung, das teils sie selbst
vorwärts treiben hilft, teils in ihr wieder überwunden wird, mit
dem mutmasslichen Ende, dass wohl einige im Bösen sich verhärten,
die Gattung im Ganzen aber das in der Zeit überhaupt immer
nur approximative Ziel erreicht. Das wirkliche Ziel liegt im Zeit-
losen und Intelligibeln. Dieselbe Betrachtung ist es nun aber
auch, die in Wahrheit in der ,EeL i, d. Gr. d. hl. V." vorliegt.
Die am Anfang auftretende und für Kants entmckelungsgeschicht-
liehe Anschauung so befremdliche Ausschliessung eines Nebenein-
ander von Gut und Böse^ wird an späteren Stellen ausdi'ücklich
auf die inteUigible Anschauung beschränkt, w^ährend in der
fahrung und Erscheinung sowohl ein anfänglicher Zustand
1) VI, 118, 130 u. 152,
Das Historische in Kante Eeligionsphilosüphie.
83
lodifferenz als dann ein kämpfendes Nebeneinander von Gut und
Böse zu konstatieren ist;*) So ist auch die Wiedergeburt nur für
die zeitlose Beurteilung Gottes eine totale Urakehruiig und Revo-
lution, in der an Stelle des Totalböseu das Totalgute tritt, wäh-
rend sie „für die Beiu-teilung der Mensclien, die sich und die Stärke
üirer Maximen nur nach der Oberhand, die sie über die Sinnlichkeit
in der Zeit gewinnen, schätzen können, sie nui^ als ein immer
fortdauerndes Streben zum Besseren^ mithin als allmähliche Reform
des Hanges zum Bösen als verkehrter Deukungsart, anzusehen
ist,***) Was es hier auch immer mit dem sehr dunklen Verhältnis
zwischen empirischer und intellektueller Bemteilnng auf sich habe,
Motiv und Sinn des Gedankens sind klar. Das Böse ist neben
dem Guten ein Bestandteil der Ent\^icklung, der in allmählicher
Llberwindung zurückgedrängte ^'d; aber der Gegensatz des in
dieser Entwickeking hervortretenden Böseu und Guten soll nicht
als ein Gegensatz des Mehr oder iDoder, sondern jedesmal als ein
ausschliessender Gegensatz der Gesinuungstotalitäteu betrachtet
werden. Wo das Böse überhaupt eintritt, wird es durch die
Durchbrechung des einheitlichen Prinzips des Sittengesetzes eben-
damit zur Totalität des entgegengesetzten Prinzips, und seine
Überwindung ist daher nicht quantitativ im Einzelnen, sondern
qualitativ im Totalen der Gesinnung gefordert. Alles das aber
vollzieht sich innerhalb der aufwärtssteigenden Entwickelung,
und in diesem Sinne lauten auch die tlberschriften der beiden das
Thema behandelnden Aufsätze „von der Einwohuung des bösen
Prinzips neben dem Guten" und von dem „Kampf des guten
Prinzips mit dem bösen" ; in dem Kampfe findet die vom ethischen
Glauben geforderte siegi'eiche und wachsende Entwickeluug der
Menschheit statt. In der Einzelausführung aber ist diese Be-
r rui
*) .Hieraus, d, b. au» der Einheit der obersten Maxime bei der Ein-
it des Gesetzes, worauf sie sich bezieht» lässt sich auch einsehen : wa-
rum der reinen intellektuellen Beurteilung des Menschen der Grundsatz
des AussckÜessens des Mittleren zwischen Gut und B^se zum Grunde
Liegen müsse; iDdessen, dass der empirischen BeurteOung aus sensibler
That (dem wirklichen Thun und Lassen) der GnindaatK untergelegt werden
kann: daas es ein Mittleres zwischen diesen Extremen gebe, einerseit«
ein Negatives der Indifferenz vor eller Ausbildung, andererseits ein Po-
sitives der Mischung, teÛB gut t-eils büse zu sein. Aber die letztere ist
OUT Beurteilung des Menschen in der Erscheinung und ist der ersteren im
Endurteü unterworfen." VI» 183.
«) VI, 142, Der gleiche Grundsatz im »Ende aller Dinge** VI, 366.
84 E. Troeltsch,
tonung des Totalitätscharakters des Bösen allzusehr der christ-
lichen Terminologie der Erbsündenlehre angenähert worden, und es
entsteht der Anschein einer nicht bloss partiellen, sondern totalen
FeUentwickelung. In Wahrheit ist vom Christentum nur der Ge-^
danke des Gesinnungs- und Prinzipeharakters des Guten wie de0^
Bösen ü'jernoinmeo und die Ausschliesslichkeit des nur durch eine
GesinnUDgsuoikehr zu überwindenden Gegensatzes; der Gegensatz
selbst aber ist einer aufsteigenden und einei- das Böse durch seine
Wirkungen zur SelbstkoiTektur antreibenden Entwickelung einver-
leibt/«) Das schon von den antiken Moralisten erkannte Wesen
des Bösen ist nur in Übereinstimmung mit dem Christentum dahin
zu vertiefen, dass es nicht ein Minder-gut-sein oder eine Unwissen-
heit, sondern überall da, wo es eintritt» jedesmal auch ein Total-
prinzip der falschen Gesinnung ist Damit steht Kant unter den
modernen Religionsphilosophen Pascal am nächsten^ aber er ver*
wirft seinen dualistischen Supranatui'alismus. •) Hierdurch ist auch
1) Vgl. VI, 164 u, 15L Das Motiv Kants ist an der ersten SteUe
deutlich ausgesprochen: „Es ist eine Eigentümlichkeit der chmtlichen
Moral: das Sittlich-Gute vom Sittlich-Bösen nicht wie den Himmel von
der Erde, sondern vne den Himmel von der Hölle unterschieden darzu-
fltellen, eine Vorstellung, die zwar hiJdlich und als solche empörend, nichts-
destoweniger aber ihrem Sinne nach pliilosophisch richtig ist. Sie dient
nämlich dazu, zu verhüten: dass das Gute und Böse^ das Reich des Lichtes
und der Finsternis, nicht als aneinander grenzend und durch allmähliche
Stufen sich in einander veriierend gedacht, sondern durch eine unermess-
liche Kluft von einander getrennt vorgestellt werde. Die gän2iiche Vn-
gleichartigkeit der Grundsätze und zugleich die Gefahr, die mit der Ein-
bildung von einer nahen Verwandtschaft der Eigenschaften, die zu einem
oder dem andern qualifizieren, verbunden ist, berechtigen zu dieser Vor-
stellungsart, die bei dem Schauderhaften, das sie in sich enthält, zugleich
sehr erhaben ist'* Aber es ist das nur das Motiv für die jetzt erfolgende
nfthere Ausgestaltung seines immer festgehaltenen Begriffes des Bösen, da«
wie Mephisto ein Moment der Entwickelung ist und bei aller gmndsätz-^
liehen Entgegensetzung doch» indem es das Böse wiU, das Gute schaffen^
hilft» „Das Böse ist die Triebfeder zum Guten", Reicke II, 315. Kant
nennt das die ^^Parodoxie" der historischen Dinge IV, 167, VgL auch Vn,
648, 652 ff., 80wie über die Wiedergeburt als Befestigung der sittlichen
Gesinnung gegen die schwankenden Instinkte zwischen dem 30. und 40.
Lebeuiyahr VII, 617.
*) In den Stellen, wo ich Pascal erwähnt gefunden habe (Anthrop.
vn, 444 u. 474)j wirft Kant Pascal überklinstliche Selbstbeobachtung vor,
die ihn zu „scln-eckenden und ängstlichen Vorstellungen" geführt habe.
Auch Pascal folge dem blossen Psychologismus, der zu Illuminatismus odeJ
Terrorismus führt. Die psychologische Aiiulyse aber ist es, worauf Pascid
1 L
Das Historische in Kanls Religionspliilosophie, 8o
ohne Weiteres klar, was Kant unter der Erlösung: versteht. Sie
Bt für ihn nicht Erlösung dui-ch eine göttliche Wiï'kuog, am aller-
weniiEfsten in dem Sinne einer supra naturalen, an einem Pnnkt in
die Entwickehiug eingreifeuden, Gottesthat Alle Rede von der
fremden Geuugthuung ist nur kunstvoll verklausulieile theologische
Diplomatie. Der ganze Gegensatz einer verlorenen und wiederge-
wonnenen Welt fehlt Kant bei der Anlage seines Weltgedankens
überhaupt. Von Erlösung kann also nur insofern die Rede sein,
als die Erlösung identisch ist mit der Wiedergeburt, dem Sieg des
guten Prinzips, der Durchsetzung des Sittengesetzes, der Geltend-
machung des Grundgesetzes der praktischen Veniunft. Bewirkt
ist sie durch eine bei der Unbegreiflichkeit der Freiheit völlig
mysteriöse Freihdtsthat, die die Umkehrung der Gesiunungsrich-
riang im Zenti^ura des Willens bedeutet. Aber darin allein besteht
Erlösung. Sie findet überall statt, wo überhaupt das Sitten-
setz seine Majestät gegen das radikale Böse durchsetzt, und
wenn sie im Christentum besonders zu Hause ist, so kommt das
cur davon her^ dass eben das Christentum das reine Sittengesetz
mit besonderem Ernst und Nachdruck geltend gemacht hat und in
seiner Gemeinschaft diesen Nachdruck durch das Gemeinbewusstr-
sein um das Gute vei-starkt. Alles wm darüber hinausgeht, steht
unter dem Eiufluss des chiistlichen Sprachgebrauches und färbt
dadurch den Kantischen Gedanken in eiuem ihm nicht von Hause
aus eignenden Sinne, Vielmehr ist Erlösung und Religion über-
haupt identisch und beide sind überall, wo das Gesetz der prak-
tischen Vernunft den Willen beherrscht. *) Die Erlösung ist die in
seinen Supranatiurahsmns aufbaut, während ein solcher auf die rein er-
kenn tn is the ore tische Bekaiidlun|r des Sittengesetzes und des Bösen nicht
aufgebaut werden kann. Es seien Täuschungen des inneren Sinnes, der
ja doch das Seelenleben nur als Erfuhrting und Erscheinung zeigt.
') Vgl. VI , '62. ,So wird , wenn gar ein solches {sc. Erläsunge-
gfheimnië) ist, Jeder es nur in seiner eigenen Vernunft zu suchen
haben,** Oder bezüglich der Gnade vgl.VlI, 360, „Wird aber unter Natur
(in praktischer Bedeutung) das Vermögen aus eigenen Kräften überhaupt
gewisse Zwecke auszurichten verstanden, so ist Gnade nichts anderes als
die Natur des Menschen, sofern er durch sein eigenes inneres, aber über-
siuniiches Prinzip (die Vorstellung seiner Pflicht) zu Handlungen be-
stimmt wird, welches^ weil wir es uns erklären woUen, gleichwohl aber
vreiter keinen Gnind davon wissen, von uns als von der Gottheit ge-
wirkter Antrieb znm Guten, dazu wir die Anlage in uns selbst nicht ge-
gründet haben, mithin als Gnade vorgestellt wird". Oder VU, 365 über
die moralische Schriftanslegung, die allein authentische Selbstauslegung
E, Troeltech,
der Menschheitsentmckeluug sich vollzieheDde Überwindung des
Bösen, das doch selbst als Hebel in diese Entwickelong hinein-
gehört.
Damit ist in der Hauiitsachc auch schon die zweite Frage
beantwortet. Es kann nicht deutlich genug betont werden: Kantfl
ist Gegner jedes Supranaturalisnius, der Kundgebungen und Wir-
kungen Gottes irgendwo anders erkenut und statuiert als in dem
übersinnlichen Vermögen der Freiheit und im Sittengesetz selbst.
Die „Reh i. d. Gr. d» bl. V," täuscht hierüber sehr stark durch
die immer wieder vorbehaltene Möglichkeit, dass eine dem Philo-
sophen bei seiner Methode völlig unzugängliche und daher
von ihm auch nicht widerlegbare Offenbarung von der Theo-
logie erwiesen und weiteren Sätzen zu Grunde gelegt werden
könne. Allein dieser ^geistliche Vorbehalt** ist nur ein Werk der
Diplomatie, und dieses asylum ignorantiae für die Theologie ist in
Wahrheit nur ein Schutzort für den von der Zensur bedrängten
Schriftsteller. Kant hat ausdrücklich den Suprauaturalismus in
jeder Gestalt verw^orfen und ist darin nur der Vollstrecker der
Konsequenzen der modernen Religionsphilosophie. Die Unklarheiten
von Locke und Leibniz, die archaistische Position von Pascal sind
überwunden, er geht hierin mit Hume, Gibbon, Voltaire und Rous-
seau. Und zwar hat er das Problem allseitig erwogen, den mehr
kirchlich-orthodoxen und den pietistisch-scbwarraerischen Suprar
naturalismus unterschieden. Den ersteren verwirft er ohne Wei-
teres als zum historischen Religionswahn gehörig. Das äussere
historische Wunder ist völlig unannehmbar, wobei er sich dieH
Huniesche Lehre von der Unmöglichkeit der Feststellung eines
solchen rundweg aneignet. Der zweite kann bei seiner Unab-
hängigkeit von der Historie als Spielart oder Sekte in die Ver-
nunftreligion aufgenommen werden, aber ist trotzdem ebenfalls
zu verwerfen, da er sich an das bloss Psychologische, Zufällige
und Empirische hält statt an das Notwendige und Giltige und
somit zur Schwärmerei, zur Unmöglichkeit der Unterscheidung von
des göttlichen Geißte^ im menscbhchen ist; „der Gott in uns selbst ist der^
Ausleger, weil wh* niemand verstehen als den, der durch unsem eigenen
Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer
an uns ergangenen Lehre also durch nichts als durch Begriffe unserer
Vernunft, sofern sie rein moralisch und hiermit untrÜgUch sind, erkannt
werden kann**. Gott wirkt und spricht also nur in der praktischen Ver-^
nunft als einem apriorischen Bewusstseinsgeset« selbst.
Das Historische în Kants BeligioBsphilosophîe, 87
Wahrem uod Falschem, führt. Damit sitid die dem modernen
Denken in der That uähersteheDden Lehren der Pietisten und
Jacobis abi^elehnt. i) Aber damit ist das Problem doch noch nicht
erledigt. Kant hat vielmehr das diingende Bedürfnis, das rehitive
Recht des Offenbarungfsgedaukens, den Geheimnischarakter der
lîeligion und die objektive, vom Mensehen unabhängige Gegeben-
heit, zu betonen. Das erste geschieht, indem er unemiüdüch den
Geheimnischarakter und die Unbegi-eifüchkeit der Freiheit hervor-
hebt. Die Wolke des Geheinmisses liegt wahrlieh feierÜch genug
auf Kants Religionsphilosophie. und darin giebt er Jacobi nichts
nach. Das zweite geschieht, indem er in der Freiheit die Gegen-
wart des Ubersinnliclieo, das absolute Wunder, betont. An Stelle
der historischeu Wunder der Heilsgeschichte uud an Stelle der
psychologischen Wunder der iibersinnlichen Ei-fahrung tritt das
erkenntnistheoretische Wunder der Verknüpfuug der kausalen Er-
scheinungswelt mit der Freiheit. «) So setzt er sich völlig bewusst mit
Jacobis Vorwurf auseinander, dass seine Lehre ein „Machen"
Gottes durch menschliche Reflexion bedeute und jede direkte
innere Berührung mit Gott aufhebe. Dagegen macht Kant geltend,
dass zwar die menschliche Reflexion die Gottesbegiiffe als reflek-
tierende Folgerungen „mache'\ dass aber das GöttUche und Ewige
als Prinzip und Gesetz in dem uubegreifhchen Vermögen der Frei-
heit selbst präsent sei. Die religiösen Postulate sind nicht aus
ft
1) VI, 267 ff. u. Vn, 371 ff.
^ Vgl VII, 876: j^Daas wir auch das Vermögen dazu h ab en , der
Moral mit unserer sinnlichen Natur so grosse Opfer zu bringen, dass wir
das auch können» woran wir ganz leicht und klar begreifen, dass wir es
sollen» diese Überlegenlieit des ti b e rs i n n 1 i c h e n Men s che n in uns über
den sinnliclien^ desjenigen, gegen den der letztere (wenn es zum Wider-
streit koinint) nichts ist, ob ûieseT zwar in seinen eigenen Augen alles
ist, diese moralische von der Menschheit unzertrennKche Anlage in uns
ist ein Gegenstand höchster Bewunderung, die, je länger man dieses
wahre (nicht verdrehte) Ideal ansieht, nur immer desto höher steigt; so-
das« diejenigen wohl zu entschuldigen sind, welche, durch die llnbegreif-
Uchkeit desselben verleitet, dieses Übersinnliche in uns, weil es doch
praktisch ist, für übernatürlich d. i. für etwas, was gamicht in unserer
Macht steht und uns als eigen zugehört, sondern vielmehr für den Einfliwa
▼on einem anderen und höheren Geiste halten/' Über die Freiheit ala
,,Faktnni" vgl. Hegler S. 89—93, über die Vernunft a!s reÜgiös ge wertetes
tinzip der Teilnahme an der übersinnüchen Welt vgl. Hegler S. 106 tf
er die ,^eaMtät des Übersimilichen'^ vgl Hegler S. 142.
E. Troeltacb,
Not und Drang geborene Wünsche, sondern „Imperative",*) die
aus dein Wunder der Freiheit notwendig uud insofern objektiv
hervorwachsen,«) Es ist sozusagen ein rein innerer, ein rein
moralischer Siipranaturalismus, der aller uud jeder Religion imma-
nent ist, wo irgend sie sich in ihrem reinen Wesen erfasst.*)
Aber damit ist das Proldem der Gegen wart und Wirkung Gottes
in der Eeligion immer noch nicht erschöpft. Kant betont allzu
deutlich und allzu beharrlich die Notwendigkeit, den reiB imma-
nenten Ablauf „irgendwie" durch transscendente Beziehungen zu
ergänzen, und zwar schwebt ihm dabei gleicher Weise die Sünden-
vergebung wie die Kräftigung des sittlichen Gesetzes zu i^illen-
bestimmender Macht vor. Die Hinweise auf das fremde Verdienst
<
») VI, 495.
^ Vgl. VI, 421 gegenüber Jacobi : ,,Die versckleiert« Göttin, vorder
wir beiderseits unsere Kniee beugen, ist das moralische Gesetz in uns, in
seiner unverletzlichen Majestät. Wir veniehmen zwar ihre Stimme und
verstehen auch gar wohl ihr Gebot; sind aber beim Anhören im Zweifel,
ob sie von dem Menschen aus der Machtvollkommenheit seiner eigenen
Vernunft selbst, oder ob sie von einem Anderen^ dessen Wesen uns unbe-
kannt ist und welches zum Menschen durch seine eigene Vernunft spricht,
herkomme. Im Grande thäten wir vielleicht besser, uns die^^er Nach-
forschung gar zu überheben, da sie bloss spekulativ ist, und wa« uns zu
thun oblieg't (objektiv), immer dasselbe bleibt, man mag eines oder das
andere Prinzip zum Grunde legen; nur dass das didaktische Verfahren,
das moralische Gesetz in uns auf deutliche Begriffe nach logischer Lehrart
zu bringen, eigentlich allein philosophisch, dasjenige aber, jenes Gesetz
zu personifizieren und aus der moralisch gebietenden Vernunft eine ver-
schleiert« Isis zu machen (ob wir dieser gleich keine anderen Eigenschaften
heüegen, als die nach jener Methode gefunden worden), eine ästhetische
Vorstellungsart eben desselben Gegenstandes ist, deren man sich wohl
hinten nach, wenn durch erst^re die Prinzipien schon ins reine gebracht
worden, bedienen kann, um durch sinnliche, obzwar nur anaiogische, Dar-
stellung seine Ideen zu beleben, doch immer mit einiger Gefahr, in
schwärmerische Visionen zu geraten, die der Tod aller Philosophie sind."
Vgl auch VI, 268 und Reicke O, 168: Das Gewissen als einziges Wunder.
*) Vgl. VI, 220: „Das Prinzip der reinen Vernunft religion als einer
an alle Menschen heständig geachehenden göttlichen (obzwar nicht empi-
rischen) Offenbarung" und VI, 240 das Chrißt^ntum „als die Offenbarung
degenigen, was ftir die Menschen durch ihre eigene Schuld bis dahin Ge-
heimnis war,*' Doch ist diese Offenbanmg natürlich nicht auf das Christen-
tum beschränkt: „Dieser sehgraachende Glaube . , . kann bei aller Ver-
schiedenheit de« Kirchenglaubens doch in jedem angetroffen werden, in
welchem er sich auf sein Ziel, den reinen Eeligionsglauben, beiziehend
praktisch ist." VI, 813.
1
I
Das Historiâche in Kant« Beligionsphilosophie. 89
sind hierbei nach allem bisherigen nicht ernst zu nehmen. ^ Aber
ein Problem bleibt ihm hierin doch. Im „Streit" korrigiert er diese
dogmatischen Zugeständnisse dadurch, dass er eine irgendwie die
Schuld der Sünde aufhebende göttliche That als einen aus dem Ver-
mmftglauben selbst zu postulierenden Begriff erklärt: „Von einem
heiligen und gütigen Gesetzgeber kann man sich die Dekrete in An-
sehung gebrechlicher, aber alles, was sie für Pflicht erkennen, nach
ihrem ganzen Vermögen zu befolgen strebender Geschöpfe nicht anders
denken, und selbst der Vemunftglaube und das Vertrauen auf eine
solche Ergänzung, ohne dass eine bestimmte empirisch erteilte Zu-
sage dazu kommen darf, beweiset mehr die echt moralische Ge-
sinnung und hiermit die Empfänglichkeit für jene gehoffte Gnaden-
bezeugung, als es ein empirischer Glaube thun kann" VU, 36Ô.*)
f^ bleibt also auch in der reinen Vernunftreligion ein „Irgendwie"
der Sündenvergebung, nur ist dieses „Irgendwie" ebenso wie die
Erlösung und Offenbarung dem reinen fieligionsglauben überall
wesentlich immanent, wo er rein sich erfasst, und hat mit dem
Christentum nur insofern und in dem Masse zu thun, als dieses
mit der reinen Vemunftreligion identisch ist. Aus dem Glauben
an einen heiligen und gütigen Gesetzgeber folgt überall der Glaube
an dessen Bereitschaft zur Sündenvergebung von selbst. Soweit
darüber hinaus aber noch weitere Wirkungen Gottes, Lenkung der
Geschichte zur Herausstellung der reinen Religion und zu ihrem
schliesslichen Sieg in der Gattung oder Lenkung des individuellen
Seelenlebens zur Gewinnung des Sieges über das Böse, in Betracht
kommen, sind wir auf Kants allgemeine geschichtsphilosophischen
Lehren und damit auf seinen Vorsehungsglauben hingewiesen. Eant
ist nämlich weit davon entfernt, sich bloss auf den Kanon der
„Urteilskraft" zu stimmen,») dass die kausal verlaufende Geschichte
1) Daza kommt noch, dass die Auffassung der an sich eine natürliche
Folge bildenden Übel als Strafen etwas Subjektives, eine bloss mensch-
liche Beurteilung durch das böse Gewissen ist IV, 321; VI, 170, und dass
die Lehre von dem Strafleiden Christi nur ein Spezialfall des in allen Reli-
gionen üblichen elementaren Expia tionsglaubens ist VI, 218.
*) Ebenso und noch deutlicher Reicke ni, 7: „Wir haben a priori
Ursache zu glauben, dass uns unter der Bedingung eines guten Lebens-
wandels eine solche Genügt huung versprochen sei, ob wir gleich historisch
oder empirisch davon keine Kunde haben; in diesen Glauben, durch den
wir nichts bestinmien, würde auch das Verdienst Christi gehören, wenn es
von GK)tt versprochen wäre."
*) Wie Medicns a. a. 0. gerne möchte, der daher die nach der Urteils-
kraft auftretenden Äusserungen als Verwirrung des Alters betrachtet!
w
E. Troeltsch,
bloss im Ganzen so beurteilt, werde, als ob sie der Verwirkliehimg
des ethischen Gattuagszweckes diene. In Wahrheit hat Kant voi
her wie nachher einen sehr energischen und überaus häiifigeo Ge-
brauch von dem Voi-sehungsgedanken gemacht, der ihm durch das
sittliche Gesetz gewährleistet schien, und der für ihn wie für
Goethe uod für das ganze Jahrhundert das Zentrum der religiösej
Betrachtungsweise war. Das geht von der Vorliebe für deii-l
physikotheologischen Beweis bis zu den geschichtsphilosophischea
Aufsätzen und den Betrachtungen seines Alters* So sehr er mit
der ganzen Aufklämng den Anthropomorphismus kritisch verwirft,
der Vorsehungsglaube ist noch dui^ch keinen Neu-Spinozismus ent-
nervt, und Kants Denken ist in seinem Kern durch und durch
teleologisch, viel mehr, als es nach seinen modernen Darstellern und
Kritikern scheint, die meist nur an seiner Grundlegung der Natur-
wissenschaften interessiert sind, „Das was die Gewähr leistet
(sc. für den etvigen Friedefi, ebenso aber auch naturlich für dii
zunehmende Ùyerwindung des Bösen und den Sieg des Guie7u (dso
für die Erlöm7igj ist nichts geringeres als die grosse Künstlerin
Natur, aus deren mechanischem Lauf sichtbarlich Zweckmässigkeit
hervorleuchtet» , . , und (die) dämm, gleich als Nötigimg einer
ihren Wirkungsgesetzen nach uns unbekannten Ursache, Schick-i
sal, bei Erwägung aber ihrer Zweckmässigkeit im Laufe der WeIH
als tiefliegende Weisheit einer höheren, auf den objektiven End-
zweck der menschlichen Gattung gerichteten und diesen Weltlauf
prädeterminierenden Ursache, Vorsehung genannt wird; die wir ,
zwar eigentlich nicht an diesen Kunstanstalten der Natur e^fl
kennen oder auch nur daraus auf sie seh lie s sen, sondern (wî"
in aller Beziehung der Form der Dinge auf Zwecke überhaupt)
nur hinzudenken können und müssen, um uns von ihrer Möglich-
keit nach der Analogie menschlicher Kunsthandlungen einen Be-
griff zu machen; deren Verhältnis uod Zusammenstimmuug zu dem
Zwecke, den uns die Vernunft unmittelbar vorschreibt (dem mora-
lischen), sich vorzustellen eine Idee ist, die zwar in theoretischer
Absicht überschwänglich, in praktischer aber dogmatisch und in
ihrer Realität wohl gegründet isf" VII, 427 f. In den Rahmen
dieses Vorsehungsglauhens liinein sind alle Äusserungen der „BeL
i, d. Gr. d. hl V." über „irgendwie*' erfolgende göttliche Er-
gänzungen uod Thaten zu denken, und durch ihn stellen sie sich
in den Zusammenhang eines Entwickelungsbegriffes, der im kau-
salen Geschehen doch weder die Freiheit noch das göttüche Thun
à
Das Historische in Kaufs Eeligionsphîlosûphie.
dl
kusschliesst. Alles aber, was diesen Gedankeu iibersclireitet,
Loschlnss an den christüch-theülogischei! Sprachgebrauchs )
ist
*) Ich kann daher der Charakteristik, die auch Windelband ,,Lehrhnch
brGeach. d. Pkilos."^ 1903 S. 456 jsrieM. nicht ^anz zustimmen: j,ln jenem
«rkchrt^n Zustand (sc. des radikalen Bonen) wirkt die eherne Majestät des
KtteDgesetsZes auf den Menschen nur mit niederschmetternden Schrecken,
md er bedarf daher zur Unterstützung seiner moralischen Triebfedern des
llaabens an eine göttliche Machte welche ihm das Sittengesetz als ihr
lebot auferlegt, aber auch zu dessen Befolgung die Hilfe der erlösenden
Âehe gewährt," „Er setzt damit . , , die wahrhaft religiösen Motive, die
ED Erlösiingsbedürfuis wurzeln, wieder in die Rechte ein, welche ihnen
tnrch den Rationalismus der Aufklärung verkümmert worden waren,'* Es ist
las Ähnlich wie bei Kuno Fischer der Versuch» das Wesenthche derKantischen
teligionsphilosophie durch den Erlösungsgedanken zu bezeichnen. Alleiu
las scheint mir aus den oben angegebenen Gründen nur sehr bedingt
ichtig. Von der Aitfklänmg unterscheidet sich Kaut vor allem dnrch
einen Freiheitsbegriff und die daraus folgende Irrationalität des Bösen
He der Wiedergeburt, durch die Einführung des Irrationalen^ das an
leiden Punkten gleich irrational ist. Der Gegensatz von Sündenschrecken
Uid Erlösungskraft scheint mir aus der kantisierenden Theologie in Kant
ingetragen zu sein. Dagegen spricht deutlich die Warnung vor „übel
^erstandener Demut** VI, 281 : „Die Herabsetzung des Eigendünkels in der
khfttzung seines moralischen Wertes durch die Vorlialtung des mora-
leehen Gesetzes soll nicht Verachtung seiner selbst^ sondern vielmehr Ent-
chloasenheit bewirken, dieser edlen Anlage in uns gemäss uns der Ange-
nessenheit zu jener immer mehr zu nähern^ statt dessen (sc. bei den
Üftrt^ai) Tugend, die eigentlich im Mut dazu besteht, als ein des Eigen-
tünkels schon verdächtiger Name ins Heidentum verwiesen und kriechende
ïimstbewerbung dagegen angepriesen wird/* Kants bekannte Äusserung
Jber die Liebens^ilirdigkeit des Christentums VI, 369—372, die man noch
m ehesten in jenem Sinne deuten könnte, will doch nur den besonderen
par moralischen Achtung vor dem Sittengesetz hinzukommenden, aber von
echtswegen zu ihr gehörenden Zug bezeichnen : „Liebe zu dem Geschäft
br Beobachtung seiner Pflicht überhaupt zu befördern*', und es „bringt
ie auch hervor, weil der Stifter desselben nicht in der Qualität eines
lefeàlâhabers, der seinen Gehorsam fordernden Willen, sondern in der
ânes Menschenfreundes redet, der seinen Mitmenschen ihren eigenen woM*
»e»tandenen Willen, d, i. wonach sie von selbst freiwillig handeln würden,
Ireim sie sieh selbst gehörig prüften, an Herz legt/' Es ist „die liberale
)enkungsart'*, „das Gefühl der Preüieit in der Wahl des Endzweckes",
iber all das ist ja nur das voll verstandene Wesen des Sittengesetzes, und
lie Erl50ttng ist nur das in jedem Individuum sich wiederholende, unbe-
[reifliche Wirksam-werden des vollen Eindrucks vom Sittengeset« , in
reiches als solches erst der Gedanke eines ,, gütigen Weltregierers**^ aber
ichwerüch der der göttlichen Liehe, eingeschlossen ist. Wo Kant daa
Christentum gegen den seinem R^liginnsbegriff ja gleichfalls sehr nahe
flehenden Stoicismus abgrenzt, da hegt der Unterschied in der eindrucks-
E, Troeltsch,
Schwieriger zu beantworten ist die dritte Frage. Auch Wer
brauchen wir uns freilieh nicht damit aufzuhalten, die Deutung di
,, Sohnes Gottes'* als ethisches Ideal nnd die an die Doginatik
klingenden Anwendungen dieses Begriffes auf Jesus näher ztt'
untersuchen, Es ist deutlich, dass es sich hier um eine Umdeutung:
des kosniologisch-idealistischen Logosbegriffes in einen kritisch-
ethischen Begriff handelt, und dass die Anwendung auf Jesus nichts
anderes bedeutet als die Behauptung eines irgendwie gearteten
Verwirklichungsf altes dieses Ideals: Jesus ist an Stelle der Inkar-
nation des Logos oder der bei und in (lott seienden Weltvernunft
zu einer Verwirklichung des etliischen Menschheitsideals geworden
Die Frage ist mir, in welchem Grade Kant diesen Verwirklichungs-
fall als von allen anderen wesentUch verschieden betrachtet, und
welche Bedeutung er diesem Verwirklichungsfall für die reine«
Religion zuschreibt. Hier sind nun zwei Dinge von vornhereii^|
klar. Einmal teilt Kant die historisch-kritische Auffassung der
Geschichte Jesu, die seiner Zeit überhaupt erreichbar war. Et
kennt dabei freilich die Unterscheidung der johanuischen und synop-
tischen Überlieferung noch nicht und steht mit seiner Auffassonf
deutUch unter dem Einfhiss der ersteren. Die mesquine Kon-
struktion Reimarus* und Bahrdts verwirft er, aber er sucht doch
selbst ebenso eine psychologisch verständliche Auffassung der Ge»
schichte Jesu, indem er ihn im Kampf mit Theologie und Priester-
tum, mit Heteronomic und Observanzen seine Jünger zum Angriff
in Jerusalem sammeln, dabei aber den Heldentod durch die Feind-
schaft des Priestertums finden lässtJ) Er ist ihm der Menschen- i
freund und Volkslehrer, der in einem durch die Einwirkung der
vollen Personification des Sittengesetzes, vermöge dessen die Tugend zur
„Gottseligkeit'* wird, und in dem Gefühl der Sündhaftigkeit wie der in
der Wiedergeburt erfolgenden unbegreiflichen „Heiligung'*, wodurch der
„edle Stob'* des Stoikers nicht zum „Kleinmut", aber zur „Demut" er-
mässigt wird Reicke U, 167. Kants eigene Ansicht hält zwischen Stoi-
cismus und Christentum die Mitt^, Oh mehr das eine oder das andere,
das hängt von dem Mass der jeweiligen Personifikation des Gottesbegriffes
und der Betonung des Radikal-Bösen ah; vgl, Eeicke II, 183, 247. So oft
Kant vom ,jBeistande'' oder von der „Ergänzung*' redet, wird er dunkel,
wie er denn überhaupt her\^orheht, dass die Moral für sich allein wissen-
schaftlich wohl verstëndlich ist, der Hinzutritt der Religion dagegen alle»
dunkel mache- Ebd. 186. Charakteristisch ist der Satzr „Die Ergänzung
ißt aber wieder die Spontaneität**,
Î) VI, 177.
Das Historische in Kants ReligionspMlosophie.
ätantiken Moral auf das Jndciituni wohl vorbereiteten Monieet
.uftritt und diuxh den Zusamraeoschluss mit dieser auf dem
echisch-römischen Boden siegt, 0 Immerhin aber ist er dabei
eit erhaben über die Stoiker, indem er das Böse und den Kampf
gen das Böse viel tiefer aus dem Wesen des sittlicheu Bewusst-
ins heraus erfasst und die Forderungen der Autonomie in seinen
ittlichen Lehrvorträgen populär auschaulich entwickelt.-) Er ist
ftabei freilich zu Akkommodationeu an die jüdische Welt genötigt,
iie, durch die rabbinische Argumentation der Apostel und die ur-
bhristliche Apologetik verstärkt, noch heute schwer auf uns lasten,
lie aber Kant in der That für wirkliche Akkommodationen hält,
irährend sie bei den Aposteln zeitgeschichtliche Bedingtheit ihres
Penkens sind,^) Sehr ablehnend ist Kant gegen den bei solcher
iàuffassung freilich überhaupt sehr schwer erträglichen eschatolo-
p-is^-'hen Messianismus Jesu; er betont nur, dass Jesu „inwendiges"
(&ott€sreich den klaren Bruch mit dem Messianismus bedeutet*]*)
hn übrigen glaubt Kant bei dem Stand der Quellen und der Art
ier Überlieferung, die aus völlig ungebildeten, erregten und leicht-
rläubigen Kreisen stammt, die wirkliche Geschichte nur sehi^ be-
liogt mehr erreichen zu können;^) jedenfalls ist Anfang und Ende
feines Lebens vom ÄIrthus eingehüllt, wie das ja bei dem Bedürfnis,
line göttliche Offenbarung zu beweisen, erklärUch genug ist^)
lieber ist zweitens, dass Kant die Verwirklichung des sittlichen
Ideals in Jesus nicht als absolutes und reines Offenbar-Werden
fles Intelligibeln betrachtet hat und nach seiner ganzen, die liisto-
liscbe Et^cheinungswelt an allen Punkten vom Intelligibeln trennen-
Beo, Denkweise nicht betrachten konnte. Aber an diesem em-
^indÜchsten Punkte der Kirchenlehre ist Kant überaus vorsichtig.
Ipat auch Jesus den Kampf mit dem radikalen Bösen gekämpft?
fVie steht es mit der Sündlosigkeit Jesu, die unter Kants Gesichts-
unkte der Zentralbegiiff werden müsste für eine direkte religiöse Er-
1) VI, 176, 227.
j ^ VI, 151, 257 ff. Interessant ist, dass Fessier die Stoiker unter
liecien Gesichtspunkten als Vorlaufer der Kantischen Moral behandeln will
ind hierzu Kants Rat einholt. Briefw. Ill, 29.
3} VI, 261; Vn, 354, 357,
I *) VI, 235, 233» wo die Eschatologie der Evangelien mit den sybilli-
Usehen Büchern verglichen und die Apokalyptik Jesu nur als Ermutigung
Édner JUnger aufgefasst wird.
*) VI, 229.
«; VJI, 357; VI, 277, 17H.
94
E. Troeltsch,
fassung- Jesu und das auch bei Schleiermacher geworden ist? Id
Wahrheit kaun von einer Jesus prinzipiell aus der Menschheitv
gemeinschaft heraushebenden Sündiosigkeit nicht die Rede sein, und
Kant hat das in der That auch deutlich genug angedeutet.^) Wie
steht es ferner mit dem Anspruch Jesu auf absolute Offenbarung
der Wahrheit in ihm, wie ihn namentlich das JohaDnesevangeUum
schildert-? Kant hat ihn unverkennbar auf die Absolutheit des von
Jesus anerkannten Ideals gedeutet und damit die Geltung von der
Person abgewiesen.*) Das Aufkommen des Christentums ist daher
auch nicht eine völlige Weltveränderung, sondern nur der Durch-
bruch des guten Prinzips zu einer zunächst noch reclit beschränkten
und kümmerlichen Wii'kung, die sich breiter erst in der Zukunft
entfalten wird und hierzu in Wahrheit erst mit dem 18. Jiüu^
hundert ernstlich eingesetzt hat.^) Die Person Jesu hat daher
auch nichts zu thun mit dem Weltende, sondern das „natürliche
Ende der Dinge" lässt sich nur als Sieg des Guten in der Gattung
niut^assen. Jesus ist also im Grande nichts als der wichtigste
historische Vermittler des sittlichen Ideals und aller darin liegeo-
den religiösen Folgegedanken. Alles das schliesst nun aber doch
eine zentrale und bleibende Bedeutung Jesu für die Religion auch
in Kants strengstem Sinne nicht aus^ und man hat bei ihm den
Eindruck nicht bloss eines ausserordentlichen Respekts vor der
Lehre und dem Heldentum Jesu, sondern auch einer dauernden
Beziehung des religiösen Gedankens auf ihn. Indem die mensch-
liche Schwäche zur Behauptung und Durchführung der Religion
die Gemeindebildung erfordert, indem die psychologische Veran-
lagung des Menschen Belebung und Entwickelung der ethisch-
religiösen VeiTiunft durch Symbol und Beispiel nötig macht, indem
die Gemeinde Jesu eben der Durchbruch der sittlichen Vernunft ist
und indem schliesslich Lehre und Leben Jesu gerade das grossartigste
Beispiel und Symbol wahrer Religion in der ganzen Weltgeschichte
ist, indem all das der Fall ist, ist doch auch die Vernunftreligion
an die Gemeinde Jesu und an das Bild Jesu als an ihr ßelebungs-
und Entwickelungsmittel gebunden, Ihre Wahrheit und Öütigkeit
beweist die Religion nur durch sich selbst» aber ihre empirisch-
psj^chologische Durchsetzung bedarf dieses Hilfsmittels oder Vehi-
kels. Die zukünftige Entwickelung der Religion hat doch nur die
1) VI, 159, 176.
») VI, 160,
^ VI, 2Ô0, 220, 230 f.
Das Historische in Kants Beligionsphilosophie. 96
Aufgabe, die zeitgeschichtlichen, supranatoralistischen und statu-
tarischen Elemente der Bibel abzustossen, und nicht die, sie selber
los zu werden. Sie und — da in ihr für Kant in Wahrheit nur
Jesus in Betracht kommt, das alte Testament dem Judentum an-
heimfällt und die apostolischen Schriften der Zeitgeschichte des
Urchristentums — die Persönlichkeit Jesu werden aller Wahr-
scheinlichkeit nach immer als Vehikel nötig bleiben, i) Das ist
natnrgemäss nicht apodiktisch sicher vorauszusagen, aber bei der
Schwäche der Menschheit ganz überwiegend wahrscheinlich. Die
Schwäche der Menschheit also macht an diesem Punkte eine dauernde
Bindung der rein rationalen Religion an die Historie wahrschein-
lich, aber diese Bindung ist dann so zu denken, wie sie allein für
die reine Religion möglich ist, als Nährung und Pflege einer an
sich völlig autonomen und selbst genügsamen Wahrheitserkenntnis
durch Beispiel und Symbol, das selbst als solches nur durch seine
Übereinstimmung mit dem Vemunftideal erwiesen werden kann.
4.
Die eigentliche Lehre Kants.
Die Analyse der „Rel. i. d. Gr. d. bl. V.^ zeigt allerdings
Kants Auseinandersetzung mit der Religionsgeschichte. Allein es
ist doch vor allem die praktische Anwendung seiner Theorie auf
die christliche Dogmatik und das Landeskirchentum. Die prinzi-
pielle Behandlung des Problems, wie die rationale normative Reli-
gionswahrheit und die geschichtlichen Religionsbildungen sich ver-
halten, ist es nicht. Aber freilich bei Kant ist nichts in der
Praxis richtig, was in der Theorie unrichtig ist, und die wahrhaft
förderliche Praxis kann ihren Grund nur in der richtigen Theorie
haben. So muss der praktischen und besonderen Lösung des Pro-
blems allerdings eine theoretische und pmzipielle zu Grunde
liegen. Diese muss die Voraussetzung bilden, von der aus für ihn
die geschilderte praktische Lösung erst möglich war. Aber sie ist
doch eben nur die Voraussetzung und muss erst aus dem Zustand
fragmentarischer und gelegentlicher Ausführungen, verklausulierter
1) VI, 214, 234; VII, 364. Das Christentum „ist, soweit wir wissen,
die schicklichste Form der sinnlichen Vorstellungsart des göttlichen
Willens*'. VI, 166, 176: „Jesus das Symbol der sich selbst über die Ver-
suchung zum Bösen erhebenden, diesem siegreich widerstehenden Mensch-
heit.** 170.
96
E. Troeltsch,
und verdeckter AndeiitEngeu hervorgezogen werden. Sie muss
mit den übrigen geschichtsphilosophischen und anthropologischea
Schriften ziisanuneiigestellt werden und mit den Angaben dieser
zu einem Ausdruck des prinzipiellen Kantischen Gedankens über
Wesen nud Bedeutung der Religionsgescbichte zusammenwachsen.
Freilich spricht auch das Buch selbst schon deutlich genug,
wenn man es einmal unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. Es
ist eingetaucht in eine Atmosphäre religiousgeschichtlicher Ver-
gleichungen. Die Mensch heitsanfänge sieht Kant im Lichte einer
vergleichenden Zusammenstellung der Sagen vom Paradies, vom
goldenen Zeitalter, vom ersten Menschen; das Menscliheitsende ijd
Lichte der Prophetien, Apokalypsen und Sibyllinen. Einzebe
theologische Begriffe, wie die Trinitätslehre und die Stellver-
tretungs- oder Expia tionslehre verfolgt er bei Indern, Persem,
Germanen, Juden und Christen, ') Vollends die Sakramente, Obse^
vanzen, Kirchenorgauisationen und Kulte verfolgt er durch alle
möglichen Religionen und knüpft hier besonders gern die ent-
wickelten Institutionen au die der Naturvölker an. Die antiken
Dichter und MoraUsteu sind ihm überall Parallelen der Bibel. Die
historische Relativität und die weitgehende Analogie oder Abhängig-
keit christlichen Küxhentums und cbiistlicher Legende gegenüber
den entsprechenden Erscheinuugeu anderer Völker und ReUgioneE
sind für ihn so selbstverständUch wie für Voltaire undHurae; von
De Brosses Fetischlehre macht er den ausgiebigsten Gebrauch,
Aber die Andeutungen sind noch direkter, Kant spricht von einem
psychologischen Bedüiinis der Vernunft zui* Vei-sinnhchung, das m
1) Arnoldt, der den Aufsatz „Das Ende aller Dinge*^ für eine Art
Eikurs zu der „Rel i. d, Gr, d. bl V." hlllt, glaubt, dass die hier ent-
wickelt« vergleichende Trinitätslehre ihn zur analogen Ausführung einer
vergleichenden Eschatologie gefülirt habe, Beiträge etc. 96. Jedenfalls ist
der Grundgedanke der Abhandlung religionsgeschichtlicb vergleichend und
kritisch reinigend: ^Er muss mit der allgemeinen Menschenvemunft auf
wundersame Weise verwebt sein, weil er unter aOen vernünftelnden Völkern
zu aUen Zeiten, auf die eine oder andere Art eingekleidet^ angetroffen
wird. Vly 359, — Ein aus den Vorarbeiten stammendes loses Blatt notiert
zu der Lehre vom Strafleiden Christi einfach eine Stehe aus Cicero „De
haruspicum responso oratio" : Nomen populi Romani (imaginem divinam)
tanto seelere contamina vit, ut id nuUa re posKit ni^i ipsius supplido eipiari
Reicke II, 320. Das eingeklammerte imag. div. stammt von Kant und soll
die Parallelen sowie die beiden Anschauungen gemeinsame psychologische
Wurzel noch stärker andeuten«
Das Historische in Kants Eeliit^ionsphilosophie.
97
allen Menschen liege, und die religiösen Ideen überall unvermeid-
lich anthropomorphisii-^re, von einem „îScliematismiis der Analogie",
der die religiösen Ideen diircli ihr<^ Analogie zu meDScbliclicra
Leben verdeutliclit, und der, individuell verschieden, die unendüdie
Mannigfaltigkeit authroijomorpher Religionsideeii auf christHetiem
und nicht cliristlifiiem Gebiete heiTorbringt. Die cliristlichen
Dojçnien haben hier durchaus keinen Vorzug. Er spricht von der
Notwendigkeit religiöser Gemeinschaftsbildungen oder Kirchen-
stiftungen, die alle ilire heiligen Bücher hervorbringen, und stellt
in dem unterdrückten Entwurf der Voirede die Bibel in bedingungs-
lose Parallele mit dem Yeda, dem Avesta und dem Koran. Will
der Religiousphilüsoph seine Lehre an Beispielen verdeutlichen,
„so muss irgend eine Glaubensgeschichle, sie sei im Zendavesta
oder in den Vedas oder in deui Koran oder in der vorzüglich so
genannten Bibel enthalten, ihm allein dazu tauglichen Stoff dar-
reichen können/*, ^) Aber wenn er so über die historische Rela-
tivität und Gleichartigkeit aller dieser Erscheinungen keinen
Zweifel lässt, so knüpft er doch an die Bibel nicht an, weil sie
allein ihm zufällig eben nahe liegt, sondern weil ihr, rein histo-
lisch angesehen, ein Vorzug vor den anderen Büchern zukommt.
Auch sie enthält in ihrem neutestamentlichen Bestandteil, der allein
ÎD Betracht kommt, reichlich m3-thischen und statutarischen Stoff,
aber neben dem in der Predigt Jesu doch in einer unvergleich-
lich klaren Weise die Grundwahrheiten der reinen Religion. Sie
ist „dasjenige heiUge Buch, das im MoraUschen unter allen, soviel
man deren kennt, am besten mit der Vernuuftreligion in Harmonie
zu bringen ist."*^) Das deutet auf eine geschichtsphilosophische
Theorie über die Stellung des Chiistenturas innerhalb der Reli-
gionsgeschichte hin, vermöge deren allein der ganze Kompromiss
mit der Bibel möglich war, und die dem ganzen Buche erkennbar
als Haüptvoraussetzung zu Grunde liegt.
So enthüllen sich deutlich die Umrisse eiuer auch die Reli-
gionsgenchichte umfassenden prinzipiellen Religionstheorie, die das
Ganze der liistorisch-wirklichen und der rational-seiusolleudeu Re-
ligion umfasst. Sollen aber diese Umrisse ausgefüllt werden, so
ist dreierlei nicht ausser acht zu lassen. Erstlich, dass Kant
diese Gedanken nirgends zusammenhängend durchgedacht hat,
'J Dilthey, Arclav f. Gesch. d. Phil. III, 437.
«) Ebd. 437.
ICsiiUtnili«!} IX.
98
E, Troeltsch,
ihnen somit die Durcharbeitung versagt geblieben ist, die iminer
erst dann eintreten kann, wenn ein Thema im vollen Umfang
prinzipiell behandelt wird. Si« teilen das Schicksal der gesamteü
Geschichtsphilosophie Kants. Der zweite Umstand ist, dass Kant
bei seinem streng geiassten Religionsbcgriff und seiner Beziehung
aller wissenschaftlichen Geschichte auf in ihr sich herausarbeitende
giltige Zweckgedanken die eigentliche Religionsgeschichte viel
enger fasst und mit dem Worte ganz andere Begriffe verbindet,
als wir zu thnn gewöhnt sind. Für ihn gehört alles, was sich
nicht direkt auf jenen Zweck beziehen lässt, also die Geschichte
der Mythen und Gülte, die ganze vergleichende Forschung über
die Religionen der Naturvölker und deren (îbergang zur Knltur-
religion, nicht zur eigentlichen Keligionsgeschichte, sondern zur
Antlu^üpologie oder zur ,,Archäologie der Religion", ^) Auch, wo
die reine Religion prinzipiell en*eicht ist, gehört doch auch dann
noch das mythisch-dogmatische und kuitisch-ceremonielle Element
zur Anthropologie, d. h. zur Darstellung des thatsäclilichen, psy-
chologisch erklärbaren Zustandes, und nicht zur Geschichte, d, h.
zur Darstellung des auf den notwendigen Zweck hinstrebenden
Verlaufes, Der dritte umstand liegt in der sehr bescheidenen
Kenntnis éev empirischen Religionsgescliichte, über die Kants
Zeitalter verfügt^i. Kant hat zweifellos das gesamte Material seiner
Zeit im Allgemeinen gekannt; er hat insbesondere aus Reisebe-
schreibungen und anthropologischen Berichten, wie alle Geschichts-
philosophen des Zeitalters, das Religionswesen der Naturvölker
studiert. Aber die grossen Religionen der Kulturvölker wio'den
ihm nur sehr mangelhaft bekannt. Auch hier sind vor allem
Reisebeschreibungen seine Quellen, dagegen fehlen historische
Untersuchungen über deren Entstehung noch fast ganz. Sogar
die Religion der Griechen liegt ihm noch wesentlich nur als In-
begriff von Mythen und von kultischen „Religionsaltertümern'* vor.
Da ist es begi'eiflich, dass er an diesen Religionen fast nur die
anthropologische Seite kennt und aus ihnen das wesentlich Reli-
giöse nicht herauszufühlen vermag. An diesem Punkte ist Herder
weit über Kant hinausgeschritten. Kant dagegen blieb unter dem
aus der orthodoxen Theorie nachwirkenden und ja auch die Locke-
Leibnizsche Religionsphilosophie beherrschenden Eindrucke, dass
1) Der Ausdruck bei Reicke m, 9. Hier wird der urchristlicke Mes-
siaiiismas zur Archäologie gereehnet.
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 99
das Christentum allein die Elemente reiner Religion enthalte. Es
ist ihm mit seinen Parallelen in der spätantiken Ethik der erste
Durchbrach und der Beginn der eigentlichen Keligionsgeschichte, ja
das einzige wirkliche Thema einer solchen. Judentum, Christentum
und Islam mit Lessing gegeneinander zu neutralisieren, hat ihm
völlig fem gelegen. ^ Im letzten Grunde ist von dieser Isolierung
des Christentums freilich nicht bloss die mangelhafte Kenntnis der
fremden Religionen die Ursache — Lessings Wissen war kaum
grösser — , sondern eine persönliche Meinung und Überzeugung
Kants, der an der Vorzugsstellung des Christentums als an etwas
Selbstverständlichem festhielt, und den auch die Betrachtungsweise
eines Voltaire, Hume und Gibbon hieran niemals einen Augenblick
irre gemacht zu haben scheint.
Von hier aus ergeben sich die drei Hauptgesichts-
p unkte, die Kant für die Bewältigung des Historischen in der
Eeligionsphilosophie entwickelt hat, und die naturgemäss nur eine
besondere Anwendung der Grundbegriffe bilden, welche er über-
haupt für die Bewältigung des Historischen in seinem Verhältnis
zum Intelligibeln ausgebildet hat. Ich kann hier den Faden der
Untersuchung wieder aufnehmen, den ich oben habe fallen lassen,
um die Frage nach der Bedeutung der „Rel. i. d. Gr. d. bl. V." für
das Verständnis von Kants Lehre aufzuwerfen. Kant unterscheidet
darnach die anthropologisch-kausale Betrachtung, welche
die bunten Erscheinungen und Erfahrungen des „inneren Sinnes^
nach Kausalprinzipien verknüpft; die kritisch-regulative oder
systematische Geschichtsbetrachtung, welche dies Ge-
schehen betrachtet, als ob es dem ethisch-notwendigen und damit
zugleich religiös zu deutenden Endzweck der Gattung diene, und
welche die E^cheinungen nach ihrem Verhältnis zu diesem Zweck
systematisch auf eine in der Geschichte sich verwirklichende
Zweckidee bezieht; schliesslich die vermutungsweise metaphy-
sisch-spekulative Betrachtung, welche den Gang der ge-
schichtlichen Erscheinungen als von der Zweckidee oder dem in
ihr enthaltenen kosmischen Grundwillen hervorgebracht und gegen
*) Vgl. hierüber die treffenden Bemerkungen Fischers gegen Ar-
noldt U, 877, wodurch aber Fischers eigene Bezugnahme auf das Gleich-
nis von den drei Ringen sehr eingeschränkt wird. Das Gleichnis ist
durchaus nicht im Sinne Kants. Er würde den Massstab der reinen Ver-
nunftreligion zur Ausmittelung des Weitunterschiedes der drei Ringe
energisch benutzt haben.
7*
K
lï. TroeltBcb,
die immer neaen Abimingen durchgesetzt ansieht. Die^e "
Kategorieen gilt es nunmehr im Einzelnen auszafüJlen,
Die Anthropologie ist, ^ie bereits ohen betont wordeip
ist, ein Hauptziel des Kantischen Denkens, Der dort angeführtes
Brief an Stüudlin bezeichnet sie als den Schlusspunkt seiner Arbeit
und ich habe dort bereits auseinandergesetzt, in welchem Sinne
das zu verstehen ist Es ist der Übergang Ton der kritischeu
Erforschung des Bewiisstseins und seiner transscendeutalen Ge-
setze zu der historisch-psychologischen \\'irklichkeit des Bewusst-
seins und damit analog der Aufgabe des Übergangs von den kri-
tisch-transscendentalen Prinzipien der Naturmssenschaft zur kon-
kreten Natur Wirklichkeit, i) Erdmann meint zwar in seiner
Dai-stellung der Entstehungsgeschichte der Kantischen Anthropo-
logie, diese Äusserung Kants sei nicht mehr als ein gelegentlicher
Einfall und man könne die Anpassung weder von der Anthropo*
logie noch vou den andern Disziplinen aus finden.*) Allein ich
1) Vgl. oben S. 49 f.
•) B. Erdmann, Reflexionen zur kritischen Philosophie Kants, I
S. 62. Zu der Daratenung Erdmanns über Genesis und Problemstellung
der Eantischen Anthropolog-ie ist die sehr viel ausführlichere, g^euauere
und lehrreichere DarsteUun^ Arnoidts Krit. Exe. 268—369 z\x vergleichen.
Hier ist der ganze Betriff der von Kant nicht ausgeführten Anthropologie
durch Herauziebung der die Anthropologie betreffenden zerstreuten
Stellen konstruiert. Die mit der physischen Geographie von Anfang an
in enger Verbindung stehende Anthropologie hat zunächst in der voricri-
tischen Zeit den Zweck, dem Studierenden das Material der empiiischen
Weltkeuntnis als Voraussetzung aller Spekulation zu geben. In der kri-
tischen Periode entsteht die Notwendigkeit, dieses Material zu den trans-
scendeutalen Prinzipien in fe^te ßeziehung zu setzen, was Kant jedoch
nur in gelegentlichen programma tisch en Ausführungen gethan hat. Kant
nennt so die „ausföhrhche Anthropologie das Pendant zur empirischen
Naturlehre"* S. 344, die Parallele zur empirischen Physik S. 345, die „em-
pirische Seelenlehre als psychologisch-theoretische Anthropologie, welche
den zweiten Teil der Naturlehre ausmachen wurde, wenn man sie als Philo-
sophie der Niitur (à. L der Scelmnatur) betrachtet, sofern sie auf empirischen
Gesetzen begründet ist" S. 345. Die „Urteilskraft** identificiert die empi-
rische Psychologie mit der Anthropologie, welche letztere ausdrücklich die
empirische Geschichte befasst S. 346. Die Schwierigkeit, diese Disziplin
in den Rang einer wirklichen Natunvissensclmft zu erheben^ s. S. S46ii.SI8t
vgl. auch oben die von Hegler gesammelten Stellen, Das aber würde die
Aufgabe der Anthropologie nicht erschöpfen. Sie soll nicht bloss den
Übergang von den transscendentalen Prinzipien der Gesetzeserkenntnis zu
der empirischen Psychologie und Geschichte machen, sondern steht auch
noch in Beziehung zu den transscendentalen Prinzipien und Imperativ«
â
Das Historische in Kunts Reli^onspLUosophie.
101
glaube, gerade das lolztoro ist *^\iiiz deutliclL Die Anthropolojsrie
als Aüseinajidersetzuiig des IiiltdligilH^l-Ktitisrh'TraDSsceijileutalen
mit dem Psyehologisdi-Hishjrisrhen scheint mir doch geradezu der
notwendig gefordert!» Absebliiss des Kaiitisclieu Deiikeos nach
unten zu sein, wie der Gedanke einer Siimliiddveit und Verstand,
Triebmechauismus und Freiheitszweek vereinigenden Teleologie der
Abschluss nach obeu ist. Die Ijösung dieses Problems ist freilich
überaus schwierig, schwieTiger noidi als bei dem t'l>ergang zu den
Nâtur\\issenschafteu, Denn hier genügt nicht die Verbindung der
gestalt-enden und ordnenden Kategorieen mit dem Stoff des empi-
rischen Seelenlebens und (jesdieheris, sondern hier muss die ge-
setzeswisseuschaftlich aufgefasste und gestaltete historische Er-
fahrung noch in Beziehung gesetzt werden zu den intelligiblen
Freiheitsideen, deren Erscheinung sie ist und die in sie eingreifen.
In ilen Wissenschaften des äusseren Sinnes oder der äusseren Er-
fahrung ergiebt sich ein gesetzlich geordnetes Bild, für das die
Vemunftideen höchstens die heuristische Bedeutung und den regu-
lativen Wert der Messung an einem absolut einheitlichen Erkennt-
der Etkik und zn den Forderungen der praktisch-techiiisclien Vernunft.
Di© Beziehung der Anthropologie zur Moral würde eine monilische Anthro-
pologie ergeben, die die Anwendung^ die Begüustiginig oder Hemmung des
sittlichen Bewusatseios durch psychulogische Thatsliclüichkeiten, ku schil-
dern hatte und die auch die Geschichte in moraUscher Absicht, d. h die
Entsprechung des psychologischen Geschehens zu ethischen Zielbegi'iffen,
EU behandeln htttte 8, 351. Als dritte Aufgabe hat sie die einer Ordiiung
des Stoffes nach dem pragmatischen Zweck der Welt- und Menschen-
kenntnis, welche Aufgabe in der Anthropologie von 1798 auch allein — wenn
attch mit Seitenblicken auf die beiden andeni — ausgeführt worden ist. Der
grome Plan îilieb unausgeführt. Aruoldt konstruiert ihn S, 352, Dement-
sprechend beurteilt Arnoldt die oben citierte Äusserung an Stludlin
ebeOM), wie ich es gethan habe. Die Anthropologie im vollen Sinne wäre
der Abschluss des Systems gewesen, indem sie gesetzeswissenschaftliche
Psychologie und Geschichte rait der Logik und Ethik und mit einer von
Ethik und Urteilskraft bestimmten Geschichtsphilosophie verhimden und
darin erst die Totalität des wirklichen Bewusstseins dargestellt hätte. In-
teressant ist, das» Kants Vorlesungen über Géographie, die ja die Anthro-
pologie mit einschlössen, den Aus^an^punkt der Herderscheii Geschicht«-
philo«ophie bildeten, Arnoldt S. 8â7, Haym, Herder I^ 83. Die verschiedene
Entwickehing desselben Gedankens bei beiden Milnnem ist äusserst lehr-
reich, bei Herder ausserordentliche Ausbreitung; und Feinheit der psycho-
loschen Analyse und Verlust eines Zieles und Massstehes der Entwicke-
lung, bei Kant vorsichtige Einschränkung der Psychologie und HeraiM-
arbeitung eines transscendental gesicherten Massstabes.
102
E. Troeltsch,
iiisideal haben. In den Wissenschaften des inneren Sinnes
der ionereu Erfahrung aber herrscht eine Verknüpfung des Pfey
chologisch-Thatsächlichen mit dem Apriorisch-Notwendi^n, die ^
andere Probleme stellt^ die überhaupt nicht ein einfaches, sondern
ein Doppelproblem stellt. Sie muss sowohl die kausale Verknüpfung ,
der „inneren Erscheinungen*" als ihre Beziehung auf die Freiheit in
Handeln der ilenschen und im Fortschritt der Geschichte aufzeigen
Die Anthropologie in diesem doppelten Sinne, als theoretische und ali
moralische, hat allerdings Kant niemals ausgeführt, und fünf Jahre»
nach dem Brief an Stäudlin bezeichnet Kant ^den Übergang Ton den
metaphysischeo Anfangsgründen der Naturwissenschaften zur Physik**
als die Arbeit eines ausgedienten Mannes, ^woniit er divs kritische
Geschäft zu beschliessen und eine noch übrige Lücke auszufüllen
denkt". Die Gründe für diese Unterlassung sind nicht schwer zu
finden. Sie liegen in erster Lijiie iu dem überhaupt nicht völlig
aufgeklärten Verhältnis zwischen psychologischer und transscen-
dentaler Begriff sbiklung, das Kant so oft innerhalb seiner grossen
Werke im Einzelnen in Augriff genommen hat, dass er damit das
Problem im Einzelnen für erledigt halten und zu einer prinzipiellen
Behandlung im Ganzen bei der Schwierigkeit der Sache sich nicht
mehr aufgelegt fühlen mochte. Es wäre eine neue Aufnahme de
Problems des Kritizismus selbst geworden, und hier mochte er et
was noch Unfertiges in seiner gangen Position empfiudeu, das
nicht von neuem durcharbeiten wollte.^) Ein weiterer Grund ist
die ausserordentliche Ausbreitung des Themas, dessen Materialien
er von Anfang au gesammelt und bisher in seinen Werken auch
schon von Fall zu Fall aufgebraucht hatte, so dass er die Unlust
des Alters zu solcher Unternehmung wie die bereits gegebenen
Einzelausführungen als ausreichenden Grand für den Verzicht auf—
ein solches Werk anseheu durfte,») Vor allem aber hatte er jaH
schon von seiner vorkiitischen Zeit her seine Anthropologie, die
zwar freilich eine andere Aufgabe stellte, die aber doch alle diese
Fragen streifte. Es war sein altes Lieblingskolleg, das aus der
physischen Geographie zur Anthropogeographie geworden und
3
1) Briefw. ILI, 2öfi an Kiesewetter 13. X. 1798. 1
*) Vgl. hierzu die schon mehrfach g-enannte, gerade fär diesen Pimkt
höchÄt lehrreiche Schrift vtm Hegler „die Psychologie in Kants Ethik';
ausserdem Windeiband „Präludien"'- 1903 den Aufsatz „Kritische oder ge-
netische Methode ?**
3) Vgl. Erdmann 1, 1 S. 56.;
Das Historische in Kants Beligionsphilosophie. 103
sich schliesslich als „pragmatische Anthropologie" verselbständigt
hatte. Das war allerdings nur eine historisch-psychologisch be-
gründete Anweisung zur praktischen Menschen- und Völkerkennt-
nis; aber da die Pragmatik auf wissenschaftlicher Einsicht in die
empirische Psychologie, in die Thatsachen der Geschichte und in
die Zusammenhänge des Körperlichen und Seelischen beruhte,
so durfte sie als Abschlagszahlung für die Lösung des Problems
angesehen werden. ^) Auf diese engere Aufgabe sich zu beschränken,
hatte ja schliesslich Kant auch einen dringenden Grund in der
Natur dieser Wissenschaft selbst. Auf ihrem Gebiet konnte nicht
gelingen und nicht erstrebt werden, was bei den konkreten Natur-
wissenschaften vorschwebte, eine streng kausale Ordnung und die
Gewinnung von Gesetzen. Ein derartiges Verfahren hat nur bei
der Erfahrung des äusseren Sinnes mit der Räumlichkeit der
Massen und Messbarkeit der Kräfte einen Sinn. Auf dem Gebiet
der Erfahrungen des inneren Sinnes herrscht zwar ebenso die
Kausalität. Aber bei der Unmöglichkeit, die Erscheinungen hier
zu quantificieren, fehlt auch jede Möglichkeit zur Gewinnung fester
Gesetze und mathematischer Berechungen. Es fehlt jede Möglich-
keit einer Gliederung des Stoffes nach festen Gleichungen und
nach strengen Gesetzen. ») Es bleibt nur die Selbstbeobachtung
und die Beobachtung anderer und die stets sehr subjektive
Nachfühlung der Zusammenhänge der Erscheinungen. „Der Lauf
der Welt ist zum Teil auf Regeln zu bringen, zum Teil nicht.
Daher Schicksal und Zufall. Zwischen beiden das Natürliche."«)
Das Anthropologische ist so identisch mit dem Empirischen,*) und
es bleibt hier trotz der „verstandesmässig vereinigten inneren Er-
scheinungen" und trotz dem „Fortschreiten zur Behauptung ge-
wisser Sätze, die die Natur des Menschen überhaupt angehen",
das Empirische im Humeschen Sinne des Wortes; die Rationali-
sierung des Gegebenen durch apriorische Kategorien zur gesetzlich
geordneten Erfahrung ist unerreichbar, man bleibt bei gelegent-
1) Vgl. die ganze Einleitung Erdmanns S. 37 ff.
•) Vgl. oben S. 52 Anmerkung. Hier ist denn auch der Punkt, wo
Rickert die historische Methode des Transscendentalismus neu begründen
will, indem er eine Theorie der historischen Erfahrung und Ordnung dieser
Erfahrung im Gegensatz gegen die gesetzeswissenschaftlichejvorschlägt.
Vgl. „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung*^ 1902. ÄhnUch
Medicus „Kant und Ranke^, Kant«tudien 1903.
•) Brdmann 1 1, S. 104.
«) Ebd. S. 61 not 4.
104
E. Troeltscli
'i
^
lidieu Successiooen, Koordinatioiieu uud NjH^hfuhluwg des unmitte^
baren LebeESzusamiiienhangrs. Die Bezieliuii^spiiDkte, nach den<
die Erscheinungeu durchgängig zu ordnen wären, fehlen, und so
bleibt die Ordnung nach dem praktischen Zweck der Menschen-
kenntuis» also nach einem nicht im 8tüff seihst liegenden, sondern
von aussen herangebrachten subjektiven Zwecke, noch ein leid-
licher Ausweg. Die theoretische Anthropologie, zu der ja auch
die schwierigen physiulogischen und anthropogeügraphischen Prolh
lerne gehöreu, ist ein nicht zu realisierendes Ideal,») während dit^
moralische zwar möglich, aber von Kant nicht mehr ausgeführt
worden ist. Damit bleibt für Geschichte, Psychologie und An-
thropologie in theoretischer Hinsicht trotz der im Prinzip be-
haupteten Kausalität doch faktisch derselbe Standpunkt, wie ihn
H a nie und die englischen Psychologis ten zu der Sache eingenommeD
haben, *j wie denn ja auch Kants feine Beobachtungen in In divi-
dual- und Sozialpsychologie durchaus au die Beobachiungs- und
ZergHederuDgskunst der englischen Psychologisten erinnern.
Aber wenn auch der grosse anthropologische Plan aus diesen'
Gründen nicht ausgeführt wurde, so hat Kaut doch in diesem
Sinne aothropologisch-psychologisch-gesetzlich gedacht und von hier
am sowohl das ttanze der Geschichte als einen grossen gleich-
artigeo Zusammenhang aufgefasst wie auch vorkoramendeu Falls
Jedes Einzelne nach diesen Gesichtspunkten betrachtet. Er hat in
der Weise Huuies die Bedingungen eines sicheren historischen
Wissens erörtert: die formelle Kritik der Urkunden, die Beur-
teilung aller Überlieferung nach der Analogie des heute noch vor-
konimenden psychischen Geschehens und die Herstellung eines
alles umfassenden Korrelationszusammenhanges, in dem jedes Ein-
zeLue durch Beziehung zu einem anderen sich erklärt, uod der
io letzter Linie auf den Zusammenhang der Menschheits-
geschichte hinweist. Von hier aus ergiebt sich die Aufgabe
^) Vgl. die Einleitung zu Kants Aßthropologie VlI, S. 431—434.
Hier ist scwar nur die physiologische und pragmatische Anthropologie
unterschieden, aber die späteren Ausfülirairgen heben dann doch stark
hervor^ dass die pragmatische Anthropologie nur ein Ausschnitt aus der
theoretischen historisch-psychologii<chen und aus der moralischen ist zum
Zweck praktisclier Menschenkenntnis. ^Ê
*) Vgl, Goldstein, Die enipi ristische Geschicht«auffassung David Humes."
Hier ist besonders lehrreich, wie auch bei Hume für die Ge^chichtsthat-
Sachen schliesslich kein anderes Ordnimgsprinzip bleibt^ ^als psychologisches
Materiai tu geben äu einer Erkenntnis des Menschen'*. S. 63.
É
Das Historische in Kante Eeligionsphilosophie.
105
historischen Kritik mid Kekonstraktion. Die prähisto-
scheti Zeitalter ohne urkuiidlkiie Überlieffmop: uötJ die bar-
irischen ohne wissenschaftlich geschulte Überlieferung sind kein
fceustand sicheren Wissens. Hier giebt es nur Mutmassung und
rastruktion aus der Analogie von beut igen Naturvölkern» vou der
ntwickelung des Kindes und der rugebikleten, ja auch die typi-
erende Allegorie kann hier verwendet werdeïh Von den Zeit-
tern der Kultur- und Wissenschaft aber giebt es i'herlieferiing,
,e die Kritik nach jenen Oruudsälzen der Analogie und der Korre-
>iion behau deltJ) Dabei löst die Kritik insbesoudero die Haupt-
Jschungen der Überlief erungp die Mythen und Legenden der
eligion, auf, indem sie deren Verst(jss gegen die Analogie heutigen
eschehens und die leichte Verständlichkeit ihrer psychologisch eu
otive aufzeigt.-) In der Wuuderkritik steht Kaut völlig auf dem
Landpunkt Humes, Bald wendet er die mythische Erklärung
1, die Wunder uud Legenden aus dem psychologischen Ik^-
irfnis der Versinnlichung von Gedanken ableitet, bald die
itioualistische, die aus der Überlieferung einen möglichen und
îûkbaren Kern wii'klicher Geschichte herausschält.») So ist die
*) Sicherlieit des kritiâch gesichert«]! historischen Wissens IV, 847
id 352, Grundsiitsi:e dieser Kritik IV, 155, wo auf Hume und Thucydides
erwiesen wird. Wie Hume von natural lûstory of religion spricht, so
rricht Kant von „natüriicher Gesdiichte der Menschheit" Reicke U, 314.
i^leich notiert er die Ausgangspunkte einer solchen natCirlichen Ge-
Uichte; t, Wilde, Keime, Anlagen**. — Bedeutung der Analogie für die
rähistorie, der Urkunden fUr die spätere Gschichte IV» 315.
*) Am deutlichsten bei Reicke I^ 97: „Wunder sind nicht Facta,
indem übemattirliche Deutungen von Fact.is*% und Ebd. 3&8: ^ Jeder, der
Iche erfahren zu Itaben meint, darf sie innerkalb der Grenzen der Moral
ïntttxen**. So versteht er die Oberlicferung des Nenen Testaments aus
m Bedingungen der Tradition hei alten Völkern: ,,AUes ist hierbei ganz
irlich durcli nach und nach sich vermehrende Tradition der Wunder zu-
igangen. Die Zahlenmystik bat liieran grossen Anteil. — Wer mag wohl
ïT Redaktenr der hibhscben Schriften gewesen sein? Es niuss ein Juden -
irist gewesen sein.** Reicke III, 64. An anderer Stelle Ebd. IT, 246
)tiert er die Frage: »,Wer hat die Episteln geschrieben?" Nueh skep-
icher steht er ûem Alten Testament^ wie allem rein Orientaliscben, gegen-
»er. Hier sclieint ihra der aUein sichere Punkt, der noch erreichbar ist,
ie griechische Bibelübersetzung zu sein, weil sie eine Beurkundung durch
riechen d. h. der Kritik fähige Menschen ist. IV, 165; VII, 38&. Die
ànze Chronologie des Alten Testament ist ihm als kabbahstisch verdäch-
g Vll, 379.
•) Beispiele für mythische Erklärung: Der Sündenfall, die Urge-
îhichte der Genesis VI, 157, IV, 321; Kampf Gottes und des Teufels VI,
106 ^^P^ E, Troeîtsch,
Baliii frei gemacht für eine „natürliche Geschichte der ReligioD".
die die einzelnen Bildungen am allp!:emeSn verständlichen psycho-
loß-iseheu Motiven ableitet, sie in ihrem Zusanimenhanis: durch die
j^anze Breite der Reli^ionsgeschichte verfolgt und sie in die Wechsel-
wirkung mit allen iihrigen Leheusei'scheinuniren hineiustellt Es
ist in allen Stücken das Verfahren der englisch-französischeu
Oeschiditsphilosophie. Man braucht nur' Humes methodische Kr-
läuterungen, Voltaires Essai sur les moeui-s et Fesprit des nations
oder Condor eets ^Esquisse d'un tableau historique des progrès de 1
l'esprit humain** zu lesen, um zu erkennen, dass es sich um eine |
bereits Allgemeingut gewordene Methode handelt. Aber auch die
feinen Erwägungen Wegehns und die Kant gegenüber noch etwas
archaistische „Weltgeschichte** Schlözers, die übrigens beide selbst j
auf englische und frarrzösische Antoreu weisen, zeigen den gleichen
Anschauungskreis und das gleiche BeginffsniateriaL
Die Religionsgeschichte, in diesem anthropologischen Sinne
betrachtet, bietet ihm vor allem das Schauspiel des Bnnten, Ver-
wirrenden, Unabsehlicheu : es ist ,,das grosse l>rama des Religions-
wechsels" (VlI, 370), „die Verschiedenheit der Rassen, der Sprachen
und der Religionen^, „die Ursache so vieler Trennungen und gar
offensiver Kriege" (Reicke 11, H(î8). Er hat nirgends einen in
seine öffentlich!* Schriften aufgenommenen Vei'snch gemacht, diese^
bunte Masse zu gUedern, wie denn in ihnen überhaupt jeder Ver^fl
such eineri^Gliederuug der empirischen Geschichte nach bloss em-
pirischen Zusammenliängeu aus den oben ausgeführten Gründen
fehlt Thatsächlicb und für seineu Privatgebrauch hat er jedoch
solche Gliederungen natürlich vorgenommen und sie bei allen Up^
teilen über die empirische Geschichte vorausgesetzt. Er hat die
historischeu Hauptgebilde gesondert und sie in einen Entwicke-
lungszusauHuenhaug gebracht, der aus dem psychologischen Grund-
gesetz des anfänglichen Überwiegens der Sinnlichkeit end des allJ
174; Die Jtin^fraii en gehurt Reicke III, 53; Cbrißti Höllenfahrt analog den
Hade.sfabrten der antiken Heroen Reicke 11, 182; ebenda Analogie von
Christi Versuchting mit Erzählung von tibetanischeii HeiUgen; Himmel-
fahrt und Auferstehung Christi VI, 227, Vll, 307; Die Opfeniu^ Isaiikd
Vn, 379. Beispiele rittionalistisch-natürticber Hrklilnuig: Pfing:stgeschicht«
VII, 383; Durcbgang durch das rote Meer Ktig:elgen 51; Sümiflut Ebd. 36;
Wachtelspeisiuig in der Wtiste Ebd. 34; Das götthche Strafgericht über
Sanherib EbcL33: Die jüdische Propbetie als St'hreckung durch die Folgen»
die aus der prophetischen Verhetzung des Volkes selbst s^ich naturgemäS8
ergeben mussten und daher leicht voramsgesehen werden konnten.
L
Das Historische in Kants BeligionsphilosopMei
107
mählich im Kampf eiotn'teudeii Überwi«^|Groiis der Vf^ruunft ver-
ständlich ist (Reicke II, 224), Ein besonders merkwürdiges loses
Blatt zeichnet die Hauptgruppen der empirischen Religions^eschichto
und kann aus anderen gelegentlichen Notizen zu einem Abriss von
ihr vervollständigt werden.^) Zuerst kommen die Wilden mit
ihrer rohen, sinnlichen und authrnponiorphistischen Natnrdeutnng,
die anter dem Einfhiss von Furcht und Hoffuung die Götterwelt
I eines rohen ungeordneten Polytheismus erzeugt. Die „erwartungs-
j volle Einbildungskraft" des Menschen sieht tiberall Zeichen und
Wunder (VI, 363), und FiUTht und Hoffnung erkünsteln in der Seele
allerhand aufgedrungene Göttervorstellungen (VII, 359), Zauberei,
Geister und Priester sind die wesentlichen Elemente einer solchen
Religion; und diese Priesterreügion ist die älteste alter I Hchttmgt^n
(VI, 113), Diese von der Furcht im Bewusstsein des linvermögens
dem Menschen abgenötigten knechtischen Götzenilieiiste haben wohl
I Tempel, aber keine Verfassung, kein Gesetz, keine Bibel, aller-
höehstens prit^terliche Tradition und sind darum schwankend und
ansicher (VI, 275; VII, 367; VI, 20b}. So sind Reste des alten
i Hinduismus in den Zigeunern erbalten, die zeigen, wie w^eit eine
^solche ReUgion der Tradition von dei' des Buches entfernt ist
KU, 235). Eine solche Ableitung der ältesten Religion aus anthro-
rpomorphisierender Pliantasie und aus l^'iircht und Hoffuung soll
80 wenig wie bei Hnmo eine nattWiche Neigung und innere Noti-
I gtmg zu derartigen VorstelUingsbildungen ausschliessen, aber sie
soll die Gründe ihrer eminrischeu Gestaltung aufdecken.-) Über
dieser dauernd wirksam bieil*eiiden Unterschicht erheben sich nun
drei grosse Klassen von Reiigionsbildungen. Ein weiteres und
späteres Motiv der religiösen Gedankenbildung ist nämlich das
Forschen nach einer obersten Ursache, ganz so wie Hume den
Gebilden von Furcht und Hoffnung die Gebilde einer anf Ursache
Ï) Beieke U, 238 f. Das Blatt giebt nur abgerissene Notizen, die ich
hier in Satze auflöse und unter Heranziehung anderer Stellen ergänze.
Dus Blatt stammt nach Reicke« sehr wahrscheinlicher Verumtiiug spätestens
atiB den 70 er Jahren. Das ist aber für unseren Zweck unerhebüch.
^ Hume, The natural history of religion (in Essays and treaties
Basel 1793 IV) S. 78: „The nniversal propensity to believe in invisible, in-
I teUigent power» if not an orig^inal instinct^ beings at least a jsreneral atten-
dant of human nature may he considered as a kind of raark or stamp^
which the divin workman has set on his work.** Kant» Meinung ist sicht-
üch die gleiche. Im vorkritiachen Sinne setzt das Blatt noch den Trieb
nach dem All der Reabtäten als tiefsten Gmnd voraus, der denn auch
' diesen Gebilden von Furcht und Hoffnung zu Grunde liegt.
108
E. Troeltêch,
îiDd Zweck der Welt sich erstreckenden Reflexion folgen lässt
Dieses Forschen führt nnti durch seine verschiedene Richtung auf
die drei Hanptklassen. r>as erste ist, dass die Speknlation anf
das natiii'liche Urweseu, das oherste logische Ideal, ffihrt. 8ie er-
fasst dann die oberste und ewige Ursache, das Substratum der
Welt. I»ie Götter des Polytheismus werden zu Untergöttern und
Landesguttern, Das zweite ist die Auffassung des Urwesens als
eines „frei handelnden Wesens, als Prinzip der natürlichen Ord*
nung. Das Leben kann allein den ei-sten Anfang machen* Daher
hier der erste Beweger, der lirheber, der oberste Geist, der leben*
dige Gott." Es ist der anthropniuorpho Theismus. Als eijie be-
sondere Unterart tlieser beidt-n spekulativen Religionsbildimgen
notiert er den Pantheismus oder Spioozismus, den er anderwärts
mit dem Buddhismus und Taoismus gleichsetzt, ja nur fiii' eine
Süblimieniiig der tibetanischen Religion erklärt (VI, :^67), Es ist
ihm ein ungeheuerliches System, das er nur aus dem uubegrenztfiû
Durst nach Seligkeit erklären kann, wobei das Streben nach völlig
übereudlicliem Genuss in das Nichts umsehlägt. Unter diese
Klassen gehören wohl auch die anderwärts genannten Keligionen,
die in ihren Göttern Begriffe personif icieren ; es sind sichtlich die
allegorischen Religionen HumesJ) So notiert er (Reicke IIL 49)
die ägyptische Triuität: Phta der von der Materie unterschiedene
Geist, Knepb die Gütigkeit, Neith die Weisheit. Daneben stellt er
die parsistische Trinitat, die er anderwärts als Allegorie des
Kampfes zwischen dem (TUten und Bösen hezeichnel (VI, 239\
Diese ägyptische und parsistische Trinitat parallelisiert er dann
iveiterhin mit der christlichen und brahmanischen, ja auch mit einer
altgermanischeu: din Götterdreiheit ist Jedesiiial *'ine Allegorie der
zum Regieren nötigen Eigenschaften, der schriplViischen Urmacht,
der regierenden (iütigkeit und der diese einsrhränkenden Weisheit
oder Gerechtigkeit (VT, 239). Besondere Züge fügt, diesen Reü-
gionen noch das Bedürfnis nach einer Eschatologie hinzu, wo ein
Weltplati zui' I?ettung der ersehnten Lebensgüter ersonnen wird,
und wo in mumi unabsehlicheu Wirrwarr doch meist alte Ideen
wiederkehren: Hauitttypeu siud neben dem Messianismus der Juden
und der Eschatologie der Christen der Fatalismus der Derwische
Uïid der Pessimismus der brahmanischen, tibetanischen und anderer
Weisen des Orients, der sogar einen Piaton angesteckt hat (\1,
368 f., 363). Au diese beiden Klassen schliesst sich dann aber
1) Hume, Nat. hist, 2ô f.
Das Historische in Kants Beligionsphilosophie. 109
eine dritte an, die bei Hume infolge seiner Skepsis gegen die
ethischen Elemente der Religion und überhaupt gegen alle aprio-
rische Ethik fehlt, die Klasse der Religionen aus Moralität. „Es
moss ein inniglich gegenwärtiger allgemeiner Richter sein." Ihr
Hauptbegriff ist der des „heiligen, gütigen und gerechten Wesens**,
und sie wurzelt in der Neigung, „den Lauf der Natur an Gesetze
der Moralität anzuknüpfen" VI, 168. Unter diesen Begriff fällt
für Kant freilich nur das Christentum und die ihm verwandten
Elemente der Spätautike, vor allem des Stoicismus. Die ethischen
Memente im Parsismus werden gerne betont, aber er kommt mit
seinem Dualismus gegen die beiden ersten nicht auf. Das Christen-
tum ist für Kant historisch sehr isoliert. Es hatte eigentlich im
Orient so gut wie gar keine historische Anknüpfung (Erdmann
I 1, 214), um so mehr allerdings im Occident. Hier sind Anaxa-
goras, Sokrates, Piaton und die philosophierenden Römer Vertreter
eines „moralisch bestimmten Theismus", „gute Christen in poten-
tia" (Reicke HI, 37, 38). Nicht dagegen rechnet er hierzu das
Judentum. Es ist ihm barer Polytheismus, wie jede Religion mit
bestimmten Götternamen Polytheismus ist, weil sie sich dadurch
von anderen Volksgöttern unterscheiden will (Reicke HI, 39; II,
105). Es ist ihm eine durch Religion gesicherte und gestützte
politische Bildung, wie das Altertum überhaupt die Religion gerne
im Dienste der Politik und der Herrschaftsbegründung verwendete
(Reicke 11, 224; Erdmann I 1, 200, 209). Er gesteht ihm höch-
stens zu, dass es zur Hervorbringung einer reineren Religion
schicklicher war als seine orientalischen Nachbarn (Reicke II, 105).
Dazu mögen es die im Spätjudentum „angehängten moralischen
Zusätze" (VI, 224) befähigt haben, unter denen Arnoldt wohl mit
Recht die Aufnahme des Unsterblichkeitsglaubens erkennt. ^) Sehr
wenig Beachtung schenkt Kant dem Islam, der ihm nur eine Kirche
neben der jüdischen, persischen, buddhistischen, christlichen ist
(Reicke HI, 82). Er betont an ihm nur den Fanatismus und die
Eklusivität, worin er ein typisches Beispiel der Motive und Wir-
kungen der Kirchenstiftung überhaupt ist (VH, 367).
^) Arnoldt, Krit. Exe. S. 257. Hier wird wohl auch mit Recht auf
Beimanis als die QueUe dieser Anschauung verwiesen. Übrigens ist in
dem Ganzen, in dem Ausschluss des doch so natürlichen Unsterblichkeits-
glaubens vom Judentum, welcher Ausschluss nur aus einer besonderen
politischen Berechnung erklärbar ist, die berühmte Warburtonsche Kontro-
verse zu erkennen.
110
E. TroelWcl
Eine Hauptunterscheidung unt-er diesen so Terstaudenen Reli-
gionen bildet natiir^emäss der Gegensatz von Polytheismus und
Monotheismus, Aber auch hier folgt Kant Hume darin, dass er
weit davon entfernt ist, den Monotheismus ohne weiteres für die
höhere Ent^ieklungsstufo zu halten. Nor sind freilich seine Gründe
andere. Nicht das mit beiden verbundene Jlass von Toleranz,
sondern das der etliischen Beziehungen entscheidet für die Höher-
stelluijg. Aber hier findet Kant, dass der Monotheismus sehr leicht
ganz abergläubisch und ceremonieü sein kann, während der Poly-
theismus sehi- hoch steh»^D kann, wenn er den einzelnen Göttero
die verschiedenen Gebiete des Sittlichen als Departements zuweist,
(Reicke H, 245, 359; DI, 37.)
Eine weitere Schattierung bringt in das Bild der Unterschied
von Orient und Occident. Vielleicht in absichtlichem Gegensatz
gegen Hamanns und Herders Verherrlichung des Orients sieht Kant
im Orient nichts als ein Übermass träger, hochmütiger Phantastik
ohne Sinn für das Schöne, für Verstandesbegriffe, für reine Grund-
sätze der Gesinnung. „Die orient aUschen Nationen würden aus
sich seihst sich niemals verbessern.'' Dahingegen ,,müssen wir im
Occident den kontinuierlichen Fortschritt des menschlichen Ge-
schlechtes zur Vollkommenheit und von da die Verbreitung auf
Erden suchen." Und zwar sind es hier die Griechen, welche die
natürhchen Aulagen für eine solche Entwickelung besitzen. Freilich
sind auch sie mehr anschaulich begabt und daher zu den eigent-
lich abstrakten Begriffen noch nicht vorgedrungen. Immerhin aber
sind sie die Träger alles geistigen und ethischen Fortscluuttes.
Im Orient hat eigenthch nur Jesus den Bann durchbrochen : „Wenn
wir schon occidentale Bildung hatten, so konnten wir in die orien-
talischen Schriften Verstand hineindenken, niemals aber haben sie
diU'ch sich selbst den Verstand aufgeklärt. Es war zwar einmal
ein Weiser, welcher sich ganz von seiner Nation unterschied und
gesunde praktische Religion lehrte, die er seineu Zeitläuften ge-
mäss in üSiB Kleid der Bilder und Sagen u. s> w. einkleiden nmsste;
aber seine Lehren gerieten bald in Hände, welche den ganzen
orientalischen Kram darüber verbreiteten und wieder aller Vernunft
ein Hindernis m den Weg legten." (Erdmano I 1, 204, 214;
Reicke H, 314.)
Damit ist schon die Bedeutung betont, welche zufällige Ver-
anlagungen, natürUche Verhältnisse des Bodens und Kümas, des
Temperaments und Naturells, des Alters und Geschlechts fiir die
Das Historische in Kants Beügionsphilosophie. 111
Bildung der Religionsvorstellungen haben. Wie Montesquieu die
Wirkungen der Umwelt auf die historischen Gebilde untersucht
und wie Rousseau die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion
als eine „affaire de géographie" bezeichnet, so spricht Kant von
einer „theologischen Geographie", die analog der politischen, mo-
ralischen und merkantilischen Geographie „die theologischen Prin-
zipien nach der Verschiedenheit des Bodens" darstellt (Erdmann
I 1, 46). Insbesondere die natürliche Veranlagung der Phantasie
übt einen starken Einfluss auf die Religion aus. Die Phantasie
der Orientalen ist masslos und doch unproduktiv ; die Überschwäng-
lichkeit der Phantasie macht Schwärmer; die Verbindung solcher
Phantasie mit Vernünftelei macht aberwitzig; Herrnhuter, Pietisten,
Böhme, die Guyon sind schrifttoll (Erdmann I 1, 100 f. 124). Um-
gekehrt prägt aber auch die Religion Naturell und Charakter des
Volkes mit allerhand zufälligen Zügen: die Juden charakterisiert
die Peinlichkeit, den Islam der aggressive Hochmut, den Hinduis-
mus der Kleinmut (VI, 283 f.).
Nicht minder beeinflusst ist die Religion durch ihre Ver-
flechtung mit dem übrigen Leben. Diejenigen Kulturstufen oder Be-
schäftigungen, die viel mit unberechenbaren Gefahren zu thun haben,
neigen, wie auch Hume hervorhebt, ^) zum Aberglauben (VII, 597).
Die Religion wirkt auf den Staat und der Staat auf sie. Wie
nichts zur Beherrschung der Menschen so behilflich ist als Macht
über ihre Phantasie, so bedient sich der Staat der Religion, um
die Phantasie zu leiten (Erdmann I, 209, 115, 108, 99 VH, 377).
Die von der Natur gewollte Trennung kämpfender Staaten, welche
eine zu frühe und gehaltlose Uniformität verhindern sollte, wird
vor allem bewirkt durch die Befestigung dieser politischen Tren-
nungen in religiösen Gegensätzen und Ausschliesslichkeiten, sodass
die Religionsdifferenzen als ein Hauptfaktor der Entwickelung
gelten dürfen (Reicke H, 308 VH, 657). Die Religion sanktioniert
Gesetze und Gebräuche und macht dadurch das Recht fest, wie
das bei der Kastengliederung der Indier geschieht (VI, 326). Sie
ist in Ausdruck und Götternamen bestimmt durch die Sprache,
und Kant rät die empirische Religionsgeschichte vor allem durch
Benutzung der Sprachgeschichte aufzuhellen, wie er selbst seine
Liebe zu etymologischen Erklärungen auf diesem Gebiete oft sehr
zuversichtlich bethätigt VH, 361. Andere Verwickelungen erwachsen
>) Hume, Nat. hist. 13.
118
E. Troeltsch,
n
ihr aus dem Eiüfliiss einer rohen Wissenschaft, wo Kant nament
lieh Astrologie und Zahlenmystik eine grosse Rolle bis in die
Bibel hinein spielen lässt und ihrem Einfluss vor allem die Uu-
fruehtbarkeit der orientalischen Religionen zuschreibt (VII, 509,j
Krdmann I 1, 2iHl
So fehlt es auch riaturgemäss nicht an religionsgeschicht*
liehen Vergleichiitigen der verschiedenen Ersclieinungen bei ge-
trennten Völkern» die entweder aus natürlicher Analogie oder aus
Entlehnung abgeleitet werden; so die Ableitung des eleusioischen
Festruies konx oöipax aus dem Buddhismus (VI, 426), die Er-
klärung des sog. noachischeo Blutverbotes als mythische Fixienin^
des Übergangs vom Jägerleben zum Ackerbau (VI, 430), die ana-
loge Erkläi-uog des Hamlwahrsagens, der Astrologie, der griecht
scheu Orakel, des Scham an entums» der römischen Augurien und
Harnsiiieien, der Pythia und der Zigeuneriu (VIT, 393. VU, b03)^M
die Reduktion des Jüdischen Bestattungsw^esens auf das ägyptische^
(Kügelgen 32), die Erklärung der ouiinösen Bedeutung der linken
Seite aus der Gewohnheit des linkshändigen Waffentragens (VI^H
491)* Die pHrsische und altgermanische Religion sind wegen sprach-
licher Älinliehkeit der Götternauien stammverwandt (VI, 3l31). Die
allegürische Methode ist eine allen Reügionen gemeinsame Art ûe^Ê
Anpassung heiliger Texte au Vernunft f orderungen, die bei Stoikern
und Piatonikern ebenso wie bei Juden und Christen, bei Muslimen
und Indiern geübt wird (VI, 208 f.). Die die Gottheiten bearbeiten-
den Gnadenmittel sind ein Rest des Fetischismus und das Papst-
tum ein Rest des Schamaneutums ; die christUchen Sakramente sind
den muhamedanischen fünf Hauptgeboten analog (VI, 239, 299).
Die Exklusivität der Kirchenreligionen geht auf den Hochmut des
Stifters zurück, „als habe er den Begriff der Einheit Gottes und
dessen übersinnliche Natur allein wiederum in der Welt erueueil"*.
Das gilt besonders vom Islam, der „statt an Wundern an den
Siegen und Unterjochung vieler Völker die Bestätigung seines
Glaubens findet^^ VI, 283 fJ)
*) Die Methode reUg:iünageschichtlicber Vergleichung und Erklärung
ist jenem Zeittdter durchaus geltlufig. Das betont Gunkel ^Zum religions-
geschichtlichen Verständnis des N. f ," Güttingen 1903 mit Recht, vgl, die
Litteraturangaben S. 1 f. Hier haben erst Sclileiermacher, Hengstenberg,
aber auch die Bäurische Schale und ihre Konstruktion des Christentums
als immanenter Eiitwickeliiiig aitfgerÄumt, Was heute Usener „Religions-
geschichtliche Unt^i^uchungen" und Dieterich „Nekyia^ wollen, ist imj
Das Historische in Kants Religionsphilosophie.
113
Besonders interessant ist, dass Kant sich hier nirgends mit
der blossen IndividualpsycholoiErie begnügt, sondern sehr nachdrück-
lich sozialpsycbolugische Begriffe verwendet» Er geht auch hier
Zunächst in der Bahn des englischen Psychologisnins, *) der die
Gesellschaft aus Interessen und Überlegungen des Individuums,
weiterhin ans Trieben der Sympathie und aus der in das fremde
Subjekt sich hineinversetzenden Phantasie aufbaut. Aber iudem
für Kant die sozialpsyehischeti Gebilde in eine gleich näher 7M
schildernde Verbindung mit seinen ethischen Ideen der Allgemein-
giltigkeit des Sittengosetzes und der ethischen Vollendung der
Gattung treten, gewinnen sie eine besondere Bedeutung und
Färbung, Und ganz besonders ist das der Fall auf dem Gebiete
der Religion. Im Menschen sind von Hause aus egoistisch-isolie-
rende imd sozial verein igeiuh^ Triebe vorausgesetzt- Damit sind
die Einseitigkelten von Hobbes ujui Rousseau abgelehnt. Ans
dem Gegensatz dieser Triebe geht dann nun aber nicht die Ge-
sellschaft, sondern ein Kampf einzelner sich sozialisierender
Gruppen hervor: „Die Jlensehen liaben eine Fähigkeit und Trieb
iu Gesellscbaft zu treten; aber sie misstrauen einander wegen der
Gewaltthätigkeit. Daher versucht eiuer dem andern aus FiU'cht zu-
voi-zukomnien, sie verbinden sich in kleiner Menge, um einander
zu vertreiben'' (Reicke II, 315), Wie der englische Psychologismus
in diesem Kampfe durch das wohlverstandene luteresse und durch
die in den Standpunkt des Betrachters sich einstellende Phanta-
sie die höheren Gesellschaftsformen entstehen lässt, so hlsst
auch Kant sie slus dem Kampfe hervorgehen und bezeichnet er
gerade diesen Kampf als das Mittel, w^odurch die Natur die
höheren rechtlichen, poUtisclien und sozialen Bikliingeii hervor-
gehen lässt. Aber sie tbut das doch nur, indem die so bewirkte
Brocliung des sinnliclien Egoismus und die so herbeigeführte
Gemeinsamkeit Aidass wud Raum giebt für die Kinigung aus
Veniunftprinzipien. Die rein sozialpsychischen (j ebilde rücken
Prinzip die Fortsetzung der Tendenzen des 18. Jahrhundert«. Audi liier
formen sich heute durch Wiederberflhriin^ mit dem Geiste dieses Jahr-
hunderts die Probleme neu. Die ForMchungeii in den Bahnen der ßje-
nannten Thetdogen haben «ich erscliOpt, und es treten die alten, damals
zurückgedrängten Probleme neu her vi »r. Kant, der Übrigens aucli an diesem
Punkt phantÄsit'loser ist ab die ührigen Geschicktsphilosoiihen seinerzeit,
würde gegen die Methode nichts einzuwenden haben,
V) Vgl. meinen Artikel „Morahsten, englische", Prot.-ReaL-Encykl.^
KAutaliidiaEi IX, g
114
M. Troeltich,
damit bei ihm an die Sphäre der Vernunft heran, sie geben der -
Vernunft Anlass zum Hervortreten, empfangren von der Ver- j
nnnft erst die eigentliche und wirkliche Festigkeit und unterstützen
wieder die bloss ethisch-rationale Gememsamkeit durch natürliche
Motive (Reicke U, 224). „Die Menschengattung ist als eine ans
dem Bösen zum Guten in beständigem Fortschieiten unter Hinder-
nissen emporstrebende Gattung vernünftiger Wesen darzustellen;
wobei dann ihr Wollen im Allgemeinen gut, das Vollbringen aber
dadurch erschwert ist, dass die Erreichung des Zweckes nicht
von der freien Zusammenstimmuug der Einzelnen, sondern nur
durch fortschreitende Organisation der Erdbürger in nnd zu der Gat-
tung als einem System, das kosmopolitisch verbunden ist, er- ■
wartet werden kann** VII, 658 J) Damit habe ich freilich der
späteren Darstellung vorgegiiffen und in die bloss erapirisch-an-
thropologischen Begriffe die rational-ethischen hineingezogen. Aber
wie die letzte Stelle der ^Anthropologie" entnommen ist, so ist M
überhaupt die Bedeutung von Kants Sozialpsychologie nur durch
diesen Zusammenhang klar zu machen. Es ist der Grund ihrer
Hochscbätzung und das Motiv ihrer Gestaltung, Wie in der In-
dividualpsychologie die künstliche transscendentale Trennung des
Kausal-Empirischen vom Intelligibel-Rationalen nicht festzuhalten
ist, so ist das eben auch in der Sozialpsychologie der FalL In
den psychologischen Zwecksetzuugen wirkt ein latenter Trieb auf I
die Idee: „Alles» was sich erhalten soll, ranss eine Gemeinschaft
der Richtung haben, und verschiedene Zwecke müssen nach einer
Idee zusammenhängen, welche, wenn sie gleich nicht intendiert
ist, doch den Ausgang ihrer widerstrebenden Bestrebungen aus-
macht, in welchem sie alle vereinigt werden können" (Erdmann
1 1, 218), Aber Kant hat doch die empirisch-psychologischen Be-
dingungen sorgfältig beachtet, welche ein solches GemeinbewTisst- Ä
sein hervorbringen und befördern : die Regierung als Ergebnis der
im Kampf aufgedrängten Organisation und als Mittel, durch Zwang
*) VgL Erdmann I !, 210 „Hier liegt nun die Scliwierigkeit, das»
das Gute einzeln (?) nur vuni Allgemeinen erzeug werden kann, das Gut«
aber nicht aU^emein werden ktinn tihne das Einzelne . . , Es ncheint alles
darauf anzukommen, dass man von dem^ was allgemeinen Einfluß hat»
d. i. von der Rej^erun^ anfanp^îe. Hier muss man Philosophen, Gescldcht^
achreiher, Dichter, voniehmlicii Geistliche ersuchen, diese Idee vor Augen
zu haben. Die Geseilschaft ist die Büclise der Pandora, wo alle Talente
und zugleich Neigungen entwickelt ausfliegen, aber auf dem Boden sitzt
die Hefe/' Das letztere Bild ist häufig wiederholt.
Das Hiâtorisclie in Kants BeLigionsphilosaphie.
115
die Gemeinsanikeit zu beförderü (Erdmauii II, 210); die Sug-
gestJOQ, die den esprit de corps crzeugl. und die von der Summe
der Eiuzelwirkmigcti so verschiedene Masseiiwirkimg hervorbringt
(ErdmauD I 1, 143); die beständige Selbsterweiterung, die in der
Aofsnchuug von Genossen, in der beständigen Gegenwart eines
imagiiüerten Zuschauers liegt (lleicke I. 25H). Der Wille hat eiue
Tendenz dazu, Gesamtwille zu werden: ^Es ist eine besondere
Neigung des Menschen zur Vereinigung io einer Gesellschaft, nicht
immer der Einigkeit ihrer Gesinnungen wegen, sondern um einen
vereinten Willen» dessen Kraft stärker ist, heiTorzub ringen, und
aus einer Liebe zum System^ d. i. zu einem Ganzen nach Ge-
setzen'' (Erdraanu I 1, 206). Die Anwendung dieser sozialpsycholo-
gischen Gedanken auf die Gescluclite der Staaten und des Rechtes
ist bekannt. Nicht minder bedeutend ist sie aber auch auf dem Ge-
biete der Religion, Hier machen sie zunächst die im Zusammenhang
mit dem St-aat entstehenden Nationalreligionen verständlich. Sie
äussern sich aber vor allem auf dem Gebiet der ethischen ReU-
giouen, die am der Schwachheit der Menschen willen, d. h, um
ihrer psychologisch-anthropologischen Beschaffenheit willen, um- in
brm einer organisierten Geraeinschaft bestehen können und dieses
ehikel für immer voraussetzen. Anch die reinste Religionsidee
w^ird niemals freie Zusammenstimmung einzelner tJberzeugungen,
sondern immer auch ein anthropologisch- soziatpsychisches Ge-
ilde sein. V)
Damit ergeben sich schliesslich auch die Grundzüge einer
Phänomenologie der Religion, und es ist begreiflich, dass Kant
eine solche im Grunde nur von den organisierten Religionen oder»
Ifrie er sagt, Kirchen abstrahiert Die nichtkirchlichen Religionen
teigeu ihm nur die Phänomenologie des lockeren Aberglaubens, Aber
be verkirehhchten Religionen weisen ihm eine phänomenologische
îleîcliartigkeit von hörhster Bedeutung auf, die sowohl für die
Beuileihmg der empii'iscben Religion überhaupt als insbesondere
für eine kritische Reinigung des Christentums gi'osse Dienste
Ï») Rel. i, d. G. d, bh V. VF, im ff., 200 ff, 218. Erat, ivenTi diese
gemeineîï psyoholofjisehen Theorien heraii^ezojafen werden, wird die Ge-
'inscbaftslehre den Buches verstund lieh, dan die reiTi ethij^che Uesiminugs-
inoinschaft de.s Tugendreichej* mit der Stiftung? einer empirischen Oe-
meinschaft ^um der Schwäche der Menschen willen** verkoppelt. Die
Wertung des Psycho h »fischen rds ^Schwäche^ ist ein bei Kant Inliifig-er
Umschlag, Vgl. Hegler.
IUI
wi
SO]
îie
E. Troeltsch,
leistet. Mit jedem Goltesbegriff ist die Notwendigkeit eines Kultus
verbundeil, und mit diesem die Verkirchüchung samt allen ihren
verhängnisTollen Folgen (Reicke ü, 85). Sie ist so uneotbehrltch
als reich an Gefahren und Schäden. Wie jeder Staat seinen Ur-
sprung mythisch verherrlicht und in ihm die Gründe der Geltung
seiner Gesetze sucht, so bedarf noch mehr eine Kirche ihres grossen m
Stiftungsmythus, des Wunders ui^d der Legende. Es scheint keine"
starke Gemeinschaftsbildung unter Menschen möglich zu sein
ohne solche Verherrlichung und Vergöttlichung der Anfäugofl
(Reicke m, 4R). Auf Grund dieser Auffassung ihrer Anfänge"
fordert, aber dann die lÜrche weiter geheimnisvolle Dogmen,
Gnadenmittel, Sakramente, Übernatürlichkeiteu und die Festlegung
aller dieser Dinge in einem heiligen Buch. Sie fordert mit einem
Wort den Supranaturalisnius, aus dessen Wesen sich alle weiteren ^
Folgen ergeben. So entstehen die von Kant stets zusammen ge«^
nannten grossen Bibeln der Menschheit, der Veda» der Zendavesta,
der Koran, die jüdisdi-chnstliche Bibel. Das alles aber erfordert,
dann einen Stand von Theologen und Clerikern, der die heiligen
Urkunden mit Gelehrsamkeit behandelt und das Volk in Unumudig-
keit erhält. Es befördert andererseits den Religions wahn, der in
der Anthropomorphisierung und Objektivierung des Übersinnlichen
besteht und die Menschen verleitet, das Übersinnliche mit Schmeiche-
leien und Gaben gleich einem Menschen zu behandeln oder gar
zu betrügen. Die so hergestellte übernatürliche Aüeinwahrheit
aber reizt natiirgemäss den Widei^pruch und treibt zu Religions-
kriegen nach aussen, zur Sektirerei nach innen. Daraus entsteht
endloser Streit, Und alles das sind nicht etwa Auswüchse, son-
dern sind die notwendigen Folgen der Sache selbst, die natürlicheii
Ergebnisse jedes die empirische Religion vergötternden SaprdH
naturalism US, Wo man ihm zu entrinnen hofft durch Preisgabe
des Äusserliclien und Zurückziehung auf das Innei^, aber seine
Idee festhält, da entsteht der Glaube an innere Offenbarungen und
Erleuchtungen, die Schwärmerei, die noch zügelloser ist als der
Kirchenglanbe und geradezu eine Gefahr für die Staaten bildet.
Sucht man aber diesen Fährtichkeiton zu entgehen durch gelehrte
theologische Arbeit und auf sie die Kirchenreligiou zu gründen,
so verleiht man ihr dadurch wohl eine gewisse wissenschaftliche
Ruhe und Reinheit, aber man häuft dann auch die ganze Last
historischer Gelehrsamkeit auf die Religion und macht sie dadui'ch
abhängig von der stets inlumsfähigen Wissenschaft, üud zwar
Das Historische in Kants Beligionsphilosophie. 117
ist das bei beiden Möglichkeiten der Theologie der Fall, sowohl
bei der die Übematürlichkeit der Geschichte festhaltenden, rational-
apologetischen als bei der historisch-kritisch verfahrenden. Die
erstere erstickt in der apologetischen Not, das Geschehensein der
Gründongswunder und den Wunderbegriff überhaupt zu beweisen.
Die andere ist zwar interessant und für den Gelehrten bedeut-
sam, aber sie stürzt die Religion erst recht in die Unsicherheiten
historischer Erkenntnisse und kann ihren archäologisch interessanten
Einsichten keine direkte und wirksame Beziehung auf die Religion
der Gegenwart geben. 0
Aber all das ist nun eben nicht Religionsgeschichte im Sinne
Kants. Es ist Anthropologie oder vielmehr dasjenige Stück der
Anthropologie, das als gesetzliche Verknüpfung der Erscheinungen
eine im Prinzip klare, wenn auch in der Praxis nicht streng dui-ch-
führbare Aufgabe stellt. Wissenschaftliche Geschichte giebt es
aber nur bei einer streng durchführbaren systematischen Gliederung
des Stoffes, was die kausal-psychologische Anthropologie nicht
leisten kann. Wissenschaftliche Geschichte hat ausserdem die Auf-
gabe, zu zeigen, wie dieser Ablauf der Erscheinungen sich zum
ethischen Sinn und Ziel der Geschichte verhält, was die Anthro-
pologie im bisherigen Sinne ebenfalls ihrer ganzen Natur nach
nicht kann. Beide Probleme zusammen löst nun aber die „systema-
tische Geschichte", die Aussonderung der Geschichtsphilosophie
aiis der Anthropologie. Sie stellt im Zusammenhang mit der Ethik
das allgemeingiltige Ziel der Geschichte und die Pflicht eines
Glaubens an die Realisierbarkeit dieses Zieles fest. Aber eben
dieser Glaube giebt auch das methodische Organisationsprinzip für
die bunte Masse des Geschehens, das nunmehr nach dem Grade
und der Art geordnet werden kann, in welchem dieser Zweck
stufenweise realisiert wird. Damit ist die sachliche Forderung,
die Beziehung der Geschichte auf einen Sinn der Geschichte, und
^) Vgl. VI, 267 ff. .Vom Afterdienst in einer statutarischen Rehgion".
Über die Sekten und Schwänner VFI, 371 ff., 368 ff. Reicke II, 34. Über
kritische Theologie, Reicke III, 9. Briefw. II, 153. Diese Gedanken ziehen
sich durch Kants sämtliche Schriften und bedürfen keines einzelnen Beleges.
Insbesondere beruht die „Rel. i. d. Gr. d. bl. V." durchaus auf einer solchen
Phänomenologie und scheidet aus dem kritisch gereinigten Christentum
aUe diese der Phänomenologie des Supranaturalismus entstammenden
Züge aus.
118
E. Troeltsch,
die mßthodische Forderung eines wisseusch aft lieh feststeheDdea
Organisationspriüzips befriedig-t. i) Dass dabei die erajiirische (je-
1) Den Unterschied der imge gliedert en empirischen Geschichte imd
der einen Leitfaden und damit Gliedeniiig suchenden philosdphischen Ge-
schichte betont schon die „Idee etc.' IV, Infi f. „Da.ss ich mit dieser hie«
einer Weltgeschichte, die gewissen nassen einen Leitfaden a priori hat,
die Bearbeitung der eigenthch bloss empirisch ahgefassten Historie ver»
tlrüngen woUte» wäre Missdeutung meiner Absicht; es ist nur ein Gedankt
von dem, was ein phih^sophisclier Kopf (der übrigens sehr geschicht«kimdie
sein müsste) noch aus einem anderen Standpunkt versuchen könnte.** Kant
empfindet die Not des Rektivisnius. die eine rein empirische Geschichte
mit sich bringen würde: „Wie werden es unsere späteren Nachkomraeü
anfangeu, die Last der Geschichte, die wi/ ilinen nach einigen Jahrhunderten
hinterlassen m Richten, zu fassen^* IV, 157, Die Anzeige Über Herder betont die
„Kenntnis der Materialien der Anthropologie'^, die Kant besitzet, die rtl>er
uocb keine Geschichte ausmacht. Daran hindert „die unermessliche Kluft
zwischen dem Zufälligen und Notwendigen" IV, 182» Genau formuliert
ißt- das Prinzip dann in der Anthropologie Erdmann 1,1205: ^a) Geschichte
der Menschheit (allmählicher Fortgang der ganzen Gatt im g zu ilirer Be- ^
stimm ungjy nicht Beschreibung der Menschheit (d. h. nicht blos^f Anthro-
fHilogie); b) von der Idee (Methode) einer rniversalhistorie." Ähnhch Hd
Reicke II, 277 : „Alle historische Erkenntnis ist empirisch und also Er-
kenntnis der Dinge, wie sie sind; nicht dass sie notwendig so sein müss«ni|
Das Rationale stellt sie nach ihrer Notwendigkeit vor." Daran reibt sicli '
ein Programm der Geschichte der Philosophie^ das sich Tnit dem spateren
Hegels deckt. Ebenso S. 286. Oder Erdmann 11, 173: „Man kann in Ad*
sehimg des Interesses an dem, was in der Welt vorgeht, zwei Standpunkte
nehmen, den Standpunkt des Krdensohnes und den des Weltbürgers, ^^
dem ersten interessiert nichts als Geschiclite und was sich auf Dinge t>e- _
zieht, sofern sie Einfhiss auf unser Wohlhefinden haben. Im zweiten int^**«!
essiert die Menschheit, das Weltganze, der Ursprung der Dinge, ihr innere*^
Wert, die letzten Zwecke." Hiermit shid die Ausgiingspunkte von Kan**
Auffassung der Geschichte als Wissenschaft im engen Zusammenhang tï*^^
seiner Grundwnterscheidiing des Psycliologisch-Thatsächlich-Zufälligen a^^
des Hational-Notwendig-Giltigen gegeben. — Beiläufig sei bemerkt, d**^
sich von hier aus das Vt^riiältnis der Ricke rtscben Lehre zu der KaX*^*
leicht bestimmen lässt. Auch Rickert fordert vor allem mit Kant ein c3^*^
Geschichte eigenttimliches Gliedenmgsprinzip und erkennt mit Riuit, d*^^
die gesetzeswissenschaftliche Behandlmig, also die Aufsuchung psycfc^^
logischer und sozial psychologisch er Gesetze, ein solches nicht gewftlw '^
Aber während Kant dieses Gliedenmgsprinzip direkt hus den ethisch
Nonnideen des abstrakten Gattnngsi deals entnimmt, sucht Rickert ein ^^
empirischen Geschichte eigentümliches empirisches Bearheitungsprinzip, ^^
dem er den Gedanken der gesetzeswissenschaftlichen Gliederung dur- ^
den Kant ganz mibekannten Gedanken einer Gliederung nach individuell^^
Zweckkomplexen ergitnzt. Immerhin kann aber auch Rickert diesen B^*
düngen einen festen wissenschaftlicheii Halt erst durch ihie Beziehua
i
Das Historische in Kants RelijerionspMlosopMe.
119
^sch
Bsä<j
d<
i
schichte als Totalität des Lebens der Menschheit zu nohiiK^n und
diese Totalität als eine im Stiifengang trotÄ aller Unterbrechuiigeu
aiifwärtsschreitende zu verstehen ist, tias ist für Kant mit der Ge-
schichtsphilosopliie Humes, Voltaires und Turbots selbstverständlich,
ber der kritische Denker» der die Normen nicht aus dem that-
ächlichen Ablauf, sondern aus dem Apriori des Bewusstseiiis ent-
nimmt» entwickelt seine (»rganisation des Stoffes der Geschichte
doch uicht aus diesen von der enipirisclien Geschichte aufgezeigten
Elntwicke hingen heraus, sondern aus der kritischen Ethik, aus der
Idee der Freiheit und den in ihr gesetzten ethischen Begriffen.
;ßie werden an den Stoff herangebracht und der Stoff nach ihnen
egliedert.. Wahrend in den authrot>ologischen Betrachtungen Kant
die Geschichtsphihisophie seiner fortgeschrittenen Zeitgenossen teilt,
liegt in dieser „systematisrhen Geschichte** sowohl betreffs der
methodischen Begriffsbild inig als in Bezug auf die inhaltliche Auf-
fassung die originale Wendnng des Kantischen Denkens. Dabei
bleiben freilich weilero schwierige Fragen: wie verhält sich die
Freiheit zmn kausalpsychologischen Ablauf, in den sie doch als
irgendwie eingreifend gedacht werden muss? wie verhält sich eben
diese Freiheit dann aber andererseits zu dem Weltplan oder der
Absicht der Natur, die doch auch angenommen werden müssen,
wenn dies Ineinander von Natur und Freiheit als Realisierung
des Endzweckes gedacht werden soll? Kant hat auf diese Fragen
von Anfang bis zu Ende vei-schiedenartig und gelegenheitlich
au
auf ein in ihnen sich reaUsierende^ System objektiver Werte geben. Er
hiebt also zwischen Kants Ântliropologie und ethikotheologische Ge-
hich t-sph il osophie die auf den Indi vi dualitätsbe griff inifgebaute Methodik
tier enipinscheii Geschichte ein, mnss aber üucli seinerseits diese Indivi-
diifühildungen tax den objektiven Werten in Bezielumg setzen und bildet
»durch Kants Begriff des ethischen Geschichtszieles zu einem in jedes-
mal individiieUen Werthiklungen sich naanifeÄtierenden Prinzip um, das
selbst eine abstrakte C'barakterisienmg seines InbaUes nicht mehr ziiUlsst,
Umgekehrt hat Di! they die Kantiscbe Lehre fortgebildet. Er zerschlftg:t
den Erscheinungs- und damit den Phänomenahtät^seharakter der inneren
»Brfahning und sucht ro eine neue nicht^natnrwissen schaftliche Soziatpsycho-
lo^€, die die Geschichte pliedern soU^ die aber diese Ghederung nur
unter dem Gesichtspnnkt spezifisch seelÎBcher J^i^ntwickehingsgesetze voll-
xiehen kann und kein Mittel der Fixierung ir^-end eines konkreten Koni-
lexes hat, die eben deswegen nur Gesetze der Abfolge und keine ge-
ichichtlichen Werte darbietet. Er endet im voUen Relativismus, in der
Anarchie der Werte. V^L meine Abh. „Moderne Ge^chichtsphilos." TheoL
itnedscliau iyû3 imd Grotenfelt, Wertschätzung i. d. Geschichte 1903.
120
E* Troeltsch,
geantwortet. Er hat sie als Fragen zweiten Grades gedacht,
üeoug, dass die theoretische Geschieht sbetraehtung in der Haupt-
sache festgelegt nnd» wie die Natur durch Begriffe bewältig-l
wurde, so auch die Geschichte transscendental-begrifflich in der
Hauptsache gegliedert werden konnte. Wie die Naturwissen-
schaft sieh um den blossen Erscheinuii gsc harakter der Natur
nicht küiiuuert, sondern die Fülle des Wirklichen hinnimmt, lun
sie gesetzlich zu ratioimlisieren, so kiimuiert sieh auch die Ge-
schichte nicht um den Erscheiuungscharakter des Seelengescheheiis,
sondern nimnit seine reiche Mannigfaltigkeit hin, um sie durch
Beziehung auf die in ihr erfolgende und zu glaubende Kealisieiimg
der ethischen Idee auch ihrerseits zu rationalisieren. Die GeschicJit^
geht über die Naturwissenschaften dadurch hinaus, dass sie ihren
Stoff nicht bloss kausal verknüpft, was für sie ja auch nicht mit der-
selben Klarheit und Strenge möglich ist T^ie für jene, sondern dass
sie ihn auch direkt auf in ihr sich realisierende ethische Ideen kri-
tisch bezieht. Das schwierige Problem des Verhältnisses von Phäno-
menalitat und Noumenalität gehurt unmittelbar nur in die Gnmd-
lagen der Kritik und dient hier vor allem der Zertrümmerung der
spekulativen Metaphysik, t'ür die Naturwissenschaften kommt es
gar nicht in Betracht, für die Geschichtswissenschaft nur insofern,
als eben jene Fragen zweiten Grades erhoben werden. Dann aber
dient es vor allem dazu, durch den Nachweis der Möglichkeit einer
intelligibeln Betrachtung neben der restlos durchgeführten kausal-
phänoraenalistischen den Hinzutritt der besonderen Eigentümlich-
keit der Geschichtswissenschaft, die Beziehung auf intelligible
Zw^ecke, als inögÜch und erlaubt zu bezeichnen. Dass dieser Hin-
zutritt notwendig ist, das ist eine Sache der Moral und des
Glaubens. Die verbleibenden Probleme sind das Schicksal mensch-
licher Beschränktheit,
Wie die oben geschilderte Anthropologie ganz von selbst ge-
legentlich tlie Probleme der „systeuiatischen Geschicht^^** oder der
in systematischen ethischen Ideen begründeten Geschichtsphiloso-
phie streifte, so zweigt sich notwendig und von selbst von der
Anthropologie die Geschichtsphilosophie ab. *) Es geschah nach
dem Vorgang der „Beobachtungen übei^ das Gefühl des Schönen
und Erhabenen** zunächst in den bekannten geschichtsphiloso-
4
I
I
') Erdmann I l^S. 48f. Es ist die wenigstens partielle Durchführung
der .moralischen Anthropologie"*.
Das Historische in Kants Beligionsphilosophie. 121
>chen Abhandlungen and in der Recension Herders, deren be-
rscheuder Gedanke bereits die Forderung ist, nicht bei der
jirisch-psychologischen Fülle der Erscheinungen stehen zu
iben, sondern im Gedanken eines aus der Vernunft notwendigen
reckes ein Organisationsprinzip zu finden. Sie finden ihn im
«htsstaat und schliesslich in einem Weltbund der Rechtsstaaten,
ide Abhandlungen sehen die empirische Geschichte noch sehr
g mit der philosophischen zusammen und verknüpfen sie in dem
îdanken der Absicht der Natur oder dem der Vorsehung. Es
die Natur der Stoa, Brunos, Shaftesburys und Turgots, des
talistisch gedachten Pantheismus, die dann auch die Natur
îrders, Goethes und Schellings geworden ist. ^) Wie wenig aber
mt dabei dem Zauber des pantheistischen Gedankens erlag, zeigt die
5 ins hohe Alter fortgehende Gleichsetzung dieser Natur mit der
)rsehung. Denn diese Vorsehung ist die religiös empfundene
"Metermination und Prästabilierung Leibnizens. Dem gegenüber
înnt dann die Abhandlung über den „Mutmasslichen Anfang"
ides strenger, und konstruiert als den Zentralgedanken die or-
nisierende Bedeutung der Freiheit. Die Freiheit aber ist —
d damit setzt der Gedanke das bisherige Geleise fort — zunächst
? Prinzip des Rechtsstaates und dann durch ihn hindurch
8 der sittlichen Kultur, die das ganze Leben aus der Idee des
tonom-Notwendigen bestimmt. Eine noch festere methodische
Gründung gewährt dann die Entdeckung des Prinzips der teleo-
ischen Urteilskraft. „Man kann und soll die Welt nach der
alogie mit der physischen Teleologie, welche letztere uns die
^nv wahrnehmen lässt (auch unabhängig von dieser AVahmeh-
Qg), a priori, als bestimmt mit dem Gegenstande der moralischen
eologie, nämlich dem Endzweck aller Dinge, nach Gesetzen der
îiheit zusammenzutreffen, annehmen, um der Idee des höchsten
tes nachzustreben, welches ... in theoretischer Rücksicht . . .
überschwänglicher, in praktisch-dogmatischer Hinsicht aber ein
Uer und durch die praktische Vernunft für unsere Pflicht sank-
lierter Begriff ist."^ Damit hat die in der Geschichte voll-
Ï) Vgl. die höchst lehrreiche Abhandlung Dütheys „Der entwicke-
l^sgeschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammen-
fir mit den älteren pantheistischen Systemen", Archiv f. Gesch. d. Phil«
i. 1900.
«) VIII, 668. Medicus, Kant« Philos, d. Gesch. S. 7. Die lehrreiche
Stellung von Medicus ist überhaupt hierzu zu vergleichen. Doch habe
122
E, Troeltsch,
zo^eiiLî und sie erst zur wertvoUeu Wisseuschaft machende B^-
zieliniig des Thatsächlicheii und Seiu-sollendeu, welche bisher für
den kritisdieu Standinuikt Schwierig-keiten machte, ihr Fundament
in eiuem weitereu apriorischeu (besetz des Bewusstseiiis, iu der Be-
ziehun«: aller Wirklichkeit auf intelligible Werte, gefuntleo uud kann
die Geschichtsphilosophie als Spezialfall dieses Prinzips konstmiert
und iu den Kreis der kritisch ^esicherteu Wissenschafteü aufgenommen
werdeu, Ihr Idsherigrer Inhalt wird damit nicht verändert, Niir
tritt jetzt als Zweck und Sinu der Geschichte mit voller Strenge
der ethisrlie Gedanke des Reiches der sittüciien Persönlichkeiten
ein, für das die Rechtsorjoranisation nur eine Vorstufe ist. Auch
ist mit der apriorisch-uotwendigen Beurteilung der Geschichte, als
ob sie der Verwirklichung des moralischen Endzweckes diene,
die bisherige hypothetisch-metaphysische Anschauung von einem
die ethischen Zwecke in der Erscheinung auswirkeiulen Weltplau
nicht aufgegeben, sondern nur durch eine vorsichtigere, dem Geist
des Kritizismus gemässere, Redeweise ersetzt Überdies verzichtet
gerade auch die „Kritik der l'rteilskraft** nicht darauf, die meU-
physische Basis und Voraussetzung einer solchen Wissenschaft zn
heionen, aber nun freilich in der strengen Gestalt der Ethiko-
theologie, des moralisch motivierten Glaubens an Gott als die ge-
meinsame Quelle der sittlichen Vernunft und als den Wehregenten»
der den Sieg des Guten und die Angemessenheit des Sittlichen
und Natürlichen bewirken werde. Indem dieser geschichtÄphilo-
sophische und moraltheologische (bedanke dann auch noch die
teleologische Katurbeurteilnng in sich aufnimmt uud die Zweck-
ich gegen sie sehr erhebliche Bedenken. Sie stellt Kants Geschieh tspliÜo
Sophie mehr dar, wie sie hsltti^ sein so h en als wie sie wirkHch war. Da-
rum stellt er die Als-ob-Lehre der „ITrleilskraft"^ in den Mittelpunkt und
schneidet von ihr überdies noch die für Kant so wesentliche Fortfiihrung
der Linien in die Ethiko théologie ah. Deshalb erscheint ihm alles Vor-
lieiige als „nnkritisch'* und ailes Nachherige als Rückfall und Verwimmg.
Die mit dem btsonderen Gegenstand eintretenden besonderen und wech-
selnden Antworten erscheinen ihm wie eine jedesmal neue Theorie, ein
jedesmal t>esonderer Abfall von der reinen Lehre« Dadurch aber wird das
Bild m, K. falsch. Kant hat îïlle diese Gedanken stets zusammen ^hegt
und nnanfhilrlich mit ihren Schwierigkeiten ^erun^eiL Die Fragen zweiten
Grades haljen ihn eben immer von neuem mit ^tem Grunde ^equ<.
Denn die Ais-oh-I^ehre ist doch imr ein vorsichtiger Ausdruck, eine Zurück*
drtlngung und Verhüllung der weiteren Probleme. Bei ihr kann meine«
Erachtens niemand stehen bleiben und ist daher auch Kant selbst niemal*'
stehen geblieben.
Das Historische in Kante Religionsphilosophie.
123
mässii^keit der Natur auf das Oberhau|it im Reich der Geister zu-
rückführt, eDtst-eht der Gedanke eiuer das Thatsächliidie und Gel-
tende, Natur und Verounft einheitlich befassenden Weltentwicke-
lang. In der That verschwinden ja mit dieser neuen FonnnUerunj^
auch nicht die äitereu metaphysischen Bemühungen um das Ver-
hältats von Freiheit um] Weltplan, von psychologischem Mechanis-
mus und autonomer Vernunft, Die Schriften nach 1700 bennlhen
sich infolge der Erweiterung' und Vertiefun»: der liistorischen Ob-
jektsanschauiing durch Religions- und Rechtsphilosophie um diese
ubrigbleibeuden Fragen noch ernster als die früheren, uutl der kri-
tische Begriff der Freiheit hat diese Bemühungen nicht erleichtert.
Von diesen Problemen wird später noch die Rede sein. Hier
ist nur hervorzuheben, dass jedenfalls die systematische Geschichte
damit ihre tiliederung endgilt ig gefunden hat. Sie beginnt mit der
Tierheit, mit dem Naturzustand der sittlichen Indifferenz und des
völligen Überwiegens der Sinnlichkeit über die Vernunft. lu den
ersten Thaten der Gew^alt befreit sich der Willed entdeckt sich die
Freiheit und scheidet sich der Mensch vom Tier. Aus der Freiheit
gehen die Vergesellschaftungen und ihre Kämpfe htjfvor, in welchen
Küiupfen mit dem Bewnsstseiu um die Unrechtmässigkeit und Sündig-
keit der selbstsüchtigen Gewalt auch langsam das Ideal einer die
Freiheit achtendeu und erusllich oi^ganisierenden Gemeinschaft ent-
steht. Durch die Urformen der Kultur, das Jäger-, Hirten- und No-
madenleben, hintlurch bewegt sich Sozialisierung und Kampf. Mit der
Stufe des Ackerhanes w^erden die Elemente der Rechtsgesellschaft
gewonnen. Das eudämonistische Bedürfnis nach Schutz un<l das
instinktive Rechtsgefühl tier Freiheit verbindeu sich zur Entwicke-
Ittng und zur Befestigung aller Aidagen und Kräfte, und der so
gegründete Staat entldndet die ersten Elemente des sittlichen Be-
wusstseins, den Rechtsgedanken der Koexistenz der pci'söulich
freien Individuen und die Legalität der Befolgung cUeser Regeln.
^Die systematische Geschichte fängt vom trojanischen Kriege an.
Nehen der kommen episodische Geschichten anderer Völker vor
und die propädeutische Geschichte fabelhafter Zeit^ai. . . Eine Idee
leitet die tnensehlirhen Handlungen alle, d, i. die ihres Rechtes**.
Erdmanu I l, 219. Der Staat ist ein Produkt des Kam|ifes ums
Dasein und sehränkt den Kampf ums Dasein ein» giebt Raum füi'
die sich seihst erfassende sittliche Idee und führt die (■ivilisation
herbei, in welcher die Totalität der Anlagen vom sitilichf^n Geist«'
behernidit und organisiert wird. Die höchste Staatöbildung iu
E. Troettsch«
diesom Sinne ©iTeichten die Griechen und Römer, die daher auch
die höchste Blute der Civilisation erlebten. Hierin und in der
Beurteilung des Mittelaltei's ist Kant völlig einig niit Turgot,
Voltaire und Condorcet. Das Mittelalter hat nut dem Staat
auch die Kultur sinken lassen. Aber nach der Palingenesie
der Reformation und Renaissance ist in den neueren Zeiten
wieder das Staatsprinzip gereinigt and gefestigt worden, womit
sofoit auch ein neuer Kulturaufschwuug verbunden war. In-
zwischen geht der Kampf ums Dasein aber zwischen den Staaten
fort und nötigt sie durch die grossen Kriege der letzten Zeit,
durch die Erschwerung der politischen und finanziellen Machteot-
faltung zur Einschränkung des Kampfes und fühil damit zur Ide<*
des Weltstaatenbundes und der Beteiligung der Bürger au der Entr
Scheidung über Krieg und Frieden. Hier fügen sich die Ideen Rous-
seaus ein, soweit Kant sie sich aneignen konnte. Damit aber hat,
durch Kampf und Bedürfnis geführt, die Menschheit wieder eine
höhere moralische Stufe erreicht. Denn der Weltstaatenbund giebt
den Anlass und Raum für die Begriffe des Volkerrechtes und die
Republik für die der Menschenrechte, Die französische Revolution,
auch wenn sie äusseriich scheitern mag, hat den sittlichen Gehalt
der hierin enthaltenen Ideen den Menschen unverlierbar ins Herz
ge[>rägt, und diese Ideen müssen in der Zukunft zum Rechtsstaat
und zum Weltstaatenbund als der Orgaiüsation der sittlichen Frei-
heitsidee führen. Aber diese poUtisehe Organisation der Freiheit
ist doch nur Vorbedingung und Vorform des eigentlich sittlichen
(Jeistes- Sie ist zugleich dasjenige, was als äussere Institution
allein von der Geschichte sicher erfasst werden kann. Aber in
ihr ist die sittliche Vernunft doch nur erst latent und bereit
zu weiterer und tieferer Kntfaltung im Eigentlichen und Wesent-
lichen des sittlichen Lebens, in der ethischen Gesinnung und m
der Tilgend. Hier verlässt Kant die Bahnen der englisch-fran-
zösischeu tjeschichtspiülosophie und kommt zu seinen eigenen,
atis seinem sittlichen und religiösen Empfinden stammenden Ge-
danken; höchstens Tnrgot ist ihm hier eiuigermassen verwandt.
Die Organisation der Geschichte zum ^kosmopolitischen System
der Weltgescliichte** ist nicht das letzte Wort; aus ihr und über
ihr, manchmal auch neben ihr, erhebt sich das „philanthropische
iSystem" (Erdmann I 1^ S. 219), d» h, die Abzweckung der Geschieht«
auf das Reich der Tugend. Es ist das unsichtbare und darum von
der Forschung nicht direkt fassbare, aber doch ihren höchsten Or-
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 125
lisatioDspunkt bildende Reich der autonomen Persönlichkeiten,
die alle Entfaltung der Anlagen und Civilisation in den Dietist
der sittlichen Idee stellen und dadurch ethisch ei*st wertvoll
machen. Insofern dieses Reich der Tugend auch den religiösen
Glauben in sich schüesst, ist es das Reich Gottes, und es gilt der
Satz: ^Das Reich Gottes auf Erden, das ist die letzte Bestimmnng,
des Menschen Wuusch, Christus hat es herbeigerückt; aber man
hat ilin nicht verstanden und das Reich der Priester errichtet,
nicht das Gottes in uns" Erdmann I 1, 213. Aber die Priester
werden falh*n und zu moralischen VolksleUrern werden; und mit
der kommenden politischeu Entwickekmg wird die ethisch-religiöse
Hand in Hand gehen. Trotz aller Jakobinei-furcht und aller
Dunkehnännerei wird der vorgeschlagene Weg w^eiter verfolgt
werden, und, wenn die Menschheit von diesen Ideak^n wieder am
weitesten abgekonnnen zu sein seheinen wird, wird die ethische
Reaktion am nächsten sein;*)
*) Es ist unmöglich, hiei-zii die einzelnen Belegstellen auszuschreiben,
Sie sind überdies grösstenteils i^esarTiinelt beiDieterieh. Kant und Rousseau,
Tübingen 1878. Seine Darsielliin^ ist (trotz der sînrk Übertreibenden An-
knüpfung an Rousseau, einer gewissen Modernisienin^ des Kantischen
Denkens nud der Yerv^ischung des Gegensatzes zwischen Anthropologie
and systematischer Geschichte) die beste Wiedergube des Inhaltes der
Kantischen Geschichtsphilosrjphie. Inshesoudere ist mit Recht hetout, dnss
Kants moralischer Rigorismus nielir seinen Grund in der erkenutuistheo-
retischen Entgegensetzung des Allgemeiugiltigen gegen das bloss Psycho-
logifiche als in einem sachlichen Atisschhiss des Ideals einer ethisierten
Kultur üder Totalität der Geisteseiitfaltung hat Die frühem Schriften
fordern durchaus das letztere Ideal, die kritisch-ethischen Schriften arbeiteu
aus ihm die Autonomie in Parallele zur Allgemeingiltigkeit des Logiseheti
flcha.rf heraus und können den Weg zum Psychologischen nicht mehr recht
fiiidenf ohne doch sachbck das alte Ideal aufzugeben. Das zeigt schon die
Veröffentlichung der Anthropologie 1798, die das Ideal der etliisierten Tota-
lität des Geisteslebens noch streng festhült. Vgi auch Medicus S. i:i und
das roehrerwälmte Buch v«»n Hegler, das freilich weniger dieses Problem
als das des Verhältuisses der erkenntnistheoretischen Begründung der
Moral zu ihrer empirisch-psychologischen Aktualisienuig mitersucht. Das
entere Problem, das Verhilltiiia des allgemeingiltigen P'ersönlichkeitszweckes
so den übrigen aus der Vernunft folgenden Zwecken und zu der Harmonie
des Gesamtmenscben, bedürfte noch einer bescmdereu Darstellung, die frei-
lich wie die der Geschieh tsphüosophie Kantus auch auf ihrem Gebiet den
Bruch zwischen dem Anthrop*dogischen und dem Allgemeingiitigen nicht
beseitigen können wird. Kant ist eben von Hanse aus neben dem Meta-
piiysiker zugleich Naturforscher und Kiüturpsychologe gewesen. Als ihn
die Metaphysik /.um Trunsscejideiitalisiuus und zuj' Zertrümmerung der die
1S6
E. Troeltsch,
Damit hat nun aber auch erst die systeiHatische Religion»
geschichte oder Philosophie der Eeli^ioosg'esehichte ihren iesiei
OrgaiiisHtiüiispankt ^efimdeii. Rechts-, Moral- und Reli^^onsent-
wickL4iiog greifen meinander (VI, 195). ;Die Rechtseut Wickelung
oder kosmopolitische Cxeschichte» die äusserlich fassbare That-
sacben enthält, ist der feste Unterbau als Geschichte de
p
Einheit des Wirkliched konstruierenden Spekulation trieb, da hat er
krttisehe Grundprinzip der Unterscheidung und Beziehung des Thato
liehen und Allgemeingiltigen als der beiden Glieder de« empirischen
wussft^eins in seine Naiurwisseniiciiaft und in «eine Kulturplülosophie hiü
eingearbeitet^ aber die Kluft zwischen dem seinen Inhalt bewusstsein
immanent ordnenden Subjekt einerseits und einer die transsiibjektive Reahti
der Körperwelt sowie die transsubjektive Realität der fremden Ich
voraussetzenden und all das kausal aufeinanderheziehenden Geschicliti
Riulererseitü nicht aiLsfüllen können. Das ist bei der Natur der Sache nie
anders iiiüglicli und kann nur anders werden, wenn von der zerstörte
Metaphysik soviel wieder hergestellt wird, um die transsubjektive Realitâ
von Natur und Geschichte auch begrifflich 7x\ bichem und die Vernun
aus ihrer Latenz in der Natur genetisch hervorgehen lassen zu kt^nne
Daher auch bei Kant immer wieder die Rückfillle in die sog. Privatroetj
physik. Doch ist diis im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter zu verfolgen»
Icli notiere liier vielmehr nur noch einige Stellen^ die die oben ausge*
sprochene Reiheufolg:e „Recht- G e^sinnungsiii oral*' als genetische Reibe
kennen lassen: IV, 153; „der weltbür^erliche Zustand als derSchoss, wor
alle nrsprünghchen Anlagen der Menschheit entwickelt werden** IV, Ifi
190; VI. 364 »,die Entwickelung der Moralitât**; VI, 433 „von der guten"
Staatsverfassung allererst die gute moralische Bildung eines Volkes zu er-
warten**; VI, 190, Aufbau der ethisch-bürgerUchen Gesellschaft auf der
rechtlieh-bilrgerhchen ^wie es (d, h. dir nstere\ vom Menschen g:ar nicht xu
Stünde gebracht werden könnte, ohne dass das letztere zum G rtin de liegte
VI, 194 das Recht ^^ht aus dem bilrgerüchen Naturzustand, das Reidi
Gottes aus dem ethischen Naturzustand hervor, welcher letztere innerhalb
des bürgerlichen Recht^tzustandes IieîB:t ; Reicke 11,309 die staatsbürger-
liche Gesellschaft ein „Analogon der Moral**; Reicke IL 98 „Der fest
geg^nindete Frieden bei dem grosseren Verkehr der Menschen unter ein-
ander ist di^eni^e Idee, durch welche allein der Überschritt von den
Rech tspf lichten zu den Tugend pflichten möglich gemacht wird. Indem.
wenn die Geset^.e ansserhch die Freiheit sichern, die Maximen auftreten
können, sicli auch innerlich nach G^etzen zu regieren und umgekehrt
diese wiederum dem gesetzlichen Zwange durch ihre Gesinnungen den
Eiufluss erleichtem, sodass friedliches Verlialten unter öffentlichen Gesetzen
und friedfertige Gesinnimgen {auch den inneren Krieg zwischen Grond-
ttätzen und Neigimgen abzustellen), also I^galitilt und MoralitÄt, in dero
Friedeusbegriffe den Unterstützunj^punkt des trberschritte« von da
Becht«lehre zur Tugeudlehre antreffen^.
Das Historische in Kant-s Reli^ioiisphilosophie.
127
Die Moralentwickelimg gelit auf die Gesiimimg und ist
darum weniger fassbar; aber, da sie in den moralischen Gesetzen
das betrifft, wovon wir wissen, dass es in unserer Gewalt stehe,
so ist sie immer noch verhältnismässig konkret. Die lieligiods-
entwickeluDg dagegen geht auf die Herausstellung des übersinnlichen
Grundes der Moral, damit auf den Gedanken der in aller Moral
offenbaren göttlichen Vernunft und auf die durch Gottes W elf-
regieruug herzustellende absolute Einheit oder das Ganze der
Gattungsvemunft, also auf etwas, wovon wir nicht wissen können,
ob es in unserer Gewalt ist. Daher ist sie am schwersten fass-
bar. „Die Religionsgeschich t^» da sie auf die andere Weit geht
und nur die inwendige Bildung der Sitten (betrifft), muss beson-
ders abgehandelt werden" (Erdmann I, 1, 220). Diese besondere Be-
handlung aber auf Grund der ganzen entvvickehmgsgeschichtliclien
Anschauung giebt daun auch das dritte Stück der ,,ReL i. d. Gr.
d. bL V.*" mit dem Titel „Von dem Siege des guten Prinzips über
das Böse"*. Man mnss das Stück nur in dem Sinne der Kau-
tischen Geschichtsphilosophie und ihrer Theorie von der Herans-
eotwickelung der Vernunft aus dem psychologischen Triebmechanis-
sius lesen. Das ganze Material der füi- eine Geschichtsphilosophie
präparierten, aus dem [psychologischen Mechanismus die Vernunft
herausent wickelnden, Anthropologie steckt in ihm* Von deiu vor-
politisehen Zustand zum pohtischeu, vom politischen zum mora-
lischen, vom morahschen zum religiösen geht die Kette. Das Be-
sondere des religiösen Zustandes ist, dass er zur Moral den mit
dem Gottesgedanken innerlich verbundenen Gedanken der Einheit
der Gattung in der sittlichen Gesinnung hinzufügt. Aber die
Idee des sittlichen Gattungszieles ist von Anfang an latent in allen
Evolutionen der Vernunft, und, indem die Religion diesen Gedanken
dea in der gemeinsamen sittlichen Venunft oder in Gott vereinigten
Ganzen heiTorbringt, bringt sie geradezu den Abschluss und das
Ziel der Geschichte, den letzten und litiehsten Organisationspunkt
überhaupt, wobei uns eben dieser Organisationspunkt hei seiner
Mpirisehen llnfassbarkeit und bei der Anweisung auf die Zukunft
äo Gegenstand des Glaubens ist. Von iliui geht die letzte Ürga-
oisation der Geschichtserken utnis und der stärkste Antrieli dei* zn-
kilnftigen Geschichtsgestaltung aus. Indem aber die Religion oder
der praktische Glaube allein zur Moral die Zuversieht einer sieg-
reichen und die Vernunfteinheit der Gattung herstellenden Ent-
wickelung hinzu bringt, ruht wieder der ganze Ent\^ickeluugs-
128
E, Troeltscli,
gedaoke selbst auf diesem religiöseo Grand* Das Reich Gottes
uns oder die lujsichtbare Kirche, dieser rational verklärte pietisti^che '
Begri-iff *) Vüi» einer rein iimerliclieii Geisteseinheit und einer allen
Eudäiiionisnius ausschiiessenden GesbiiiiiigsreiDheit, ist diis Ziel
der Gesclndite. Die Religionsgeschichte ist die Voüenduog und
der tragende Grand der Geschichtsphil osopliie zugleich.
80 wird erklärlich^ dass die systematische Religions- oder
Kircheugeschichte erst so spät einsetzt. Sie beginnt ei-st mit dem
Üliristentum. Zwar ancli in den vor- und ausserchristlichen Reli-
gionen ist die sittliche Yernunftrehgion latent gewesen: ^Lauf(*'
vor diesem letzteren lag die Anlage zur moralischen Religioü m
der menschlichen Vernunft verborgen, wovon zwar die ersten rohen
Äusserungen bloss auf gottesdienstlichen Gebrauch ausgingen und
zu diesem Behuf selbst jene angebliclien Offenbarungen veran-
lassten, hierdurch aber auch etwas von dem Charakter ihres über-
sinnlichen Ursprungs selbst in diese Dichtungen» obzwar unvor*
sätzlich, gelegt haben'' VI, STO/*^) Aber die Religiunsgesehicht^
kann nicht die Geschiebte des irgendwo verborgenen reinen reli-
giösen Gedankens schreiben, sondern nur die der deutlichen An-
näherungen der empirischen Religion an dieses IdeaL Diese An-
näherung aber hat entscheidend, klar und durch gix'if end nm' statt-
gefunden im Christentum. ,,Es war einnuil ein Aveiser Lehrer, der
dieses Reich Gottes im Gegensatz zum weltlichen ganz nahe herbei-
gebracht, welcher sich ganz von seiner Nation unterschied und
gesunde praktische Religion lehile, die er seinen Zeitläuften ge-
mäss in das Kleid der Bilder, der allgemeinen Sagen u. s. w, ein-
kleiden rnusste. Er stürzte die 8chrîftgelebrsanïkeit, w^elche nichts
als Satzungen hervorbringt, w^elche nur die Menschen trennen, und
errichtete den Tempel Gottes und der Tugend im Herzen. Er
bediente sich zwar der Schriftgelehrsamkeit, aber nur, um die,
worauf andere geschworen hatten, zu nichte zu niachea** Erd-
maun I 1, 21^ f. Damit ist der ürganisationspuiikt der Religtoii^-
Î) Den Begriff des Reiches Gottes in diesem Sinne hat Kant, vne
Jüh. Weiss, Die Idee des Reiches Gottes in der Theologie, Giessen 1901t
S. 87 sehr walir&cheinhch macht, von Reinhard, Versuch über den Plan*
welchen der Stifter der christlichen Religion zum Besten der Menschen
entwarf** 1781 ühemommen, während frtlhere Scliriften Kants dag Reich
Gottes als jenseitijg^e Seh^keit betrachten. IJbrigens findet er sich ancli hé
Seniler und Herder. Er hünort hier überall mit dem Pietismiis zusammen,
2) So wird anch der moraliscli-religiöse Sinn der Trinitätslehre ^in
der Religion der meisten gesitteten Völker" angetroffen.
Das Historische in Kante Religionsphilosopliie.
gescWchte gegeben. „Wir konueii also die allgemeine Kircheii-
geschichte, sofern sie ein System ausniaolien soll, niclit anders als
vom Urspnuig des Christentums anfangen, das eine völlige Ver-
lassung des Judentums ist, worin es entsprang, auf einem ganz
neuen Prinzip gegründet, eine gänzliche Revolution in Glaubens-
lehren be\\irkte** VI» 226. Der späte Einsatz ist begreif lieh. Erst
spät entsteht der Rechtsstaat ans dem juridischen Naturzustand,
ei-st spät entsteht die reine Religion aus dem ethischen Natur-
ssustand. Ja der eigentliche Beginn der reinen Religion liegt in
der Gegenwart, die erst die christlichen Ideen wahrhaft entdeckt
hat. Jesu Lehren ^^gerieten bald in Hände, welche den ganzen
orientalischen Kram darüber verbreiteten und wieder aller Ver-
nunft ein Hindernis in den Weg legten'' Erdmann I 1, 214.
Auch der Staat verfiel, und erst die Neuzeit hat beide zusammen
unter der Einwirkung des freien wissenschaftUcben Denkens wieder
ans Licht gebracht. Die Welt ist noch jnng, die höchsten Ziele
der Gescidchte sind eben erst erschienen, unendliche Wege liegen
noch vor ihr, und der beste Teil der Geschichtspliilosophie liegt in
der Zukunft (VII, 407) V)- Sie ist „ Wahrsagung'*, sie ist der Vernunft-
glaabe an den Völkerbuntl und das Gottesreich der Zukunft; „Wir
sind von der Vollendung unserer Bestimmung noch sehr weit ent-
fernt. Die halbe Erdkugel ist erst vor 20O Jaliren eutdeckt, so
wie 90U die Ostsee entdeckt w^urde"" ßeicke II, 314. Diese Be-
stimmung selbst freilich ist Glaubenssache; sie glaubt in allen
Schwankungen an einen Fortschritt der Gattung, die Herausbildung
der Gattungseinheit im Gottesreich, und ist vor dem abstrakten
Chiliasmus aller Theoretiker der immanenten Entwickelung dadurch
bewahrt, dass neben dem tilanben an den Sieg des Guten im Ganzen
der an die Unsterblichkeit des Individuums steht. Es sind beides
religiöse Postdate, ein Gleichgewicht des individualistischen und
des universalistischen Entwickehingsglaubens, das viele weitere
Probleme in sich enthält, das aber keine Inkonsequenz ist. Denn
in ihm konmien beide gescbichtsphilosophische Haupttendenzen
Kants, die auf die freie Persönlichkeit und die auf die sittliche
(4attungstotalität, zum Ausdruck, und in ihm findet seine Geseliichts-
philosophie die Unbefangenheit für die Würdigung der Thatsachen,«)
*) Ebenso Erdniann I 1, 216: „Die Erziehnngskiinst, Begriflfe der
Sitte und Religion hegen noch in ihrer Kindheit."
*) Vgl. die treffende Bemerkung Max Webers zu der analogen Auf-
fassung Roschers, Jahrbuch f. Gesetzgebung etc., herousg. von SchmoUer,
SftAl«tDdl«ii IX g
130
E. Troeltsch,
Von hier aas erklärt sich auch der zunächst befremdliche
Eiudnick, den die Verwerfung des grössten Teils der Religioos-
geschichte als gar nicht zu ihr gehörig macht. Man braucht nur
Voltaire und Hume zu lesen, um bei ihnen den gleichen Eindruck
zu bekommen. Die Messung an der Vemunftreligion und der Ghiube
des Zeitaltei-s an den Beginn eines neuen Weltâbschnittes macht
es verständlich. Das Gleiche liegt bei Kant vor. Die Geschichte
der positiven Religionen ist ihm in der Hauptsache die Geschichte i
des Aberglaubens, und die Geschichtsschreibung kann sich nicht di«H
Mühe nehmen» die in ihm etwa latenten Elemente derVernunftreügioa '
zu suchen. Darin stimmt Kant mit beiden überein und teilt er J
die Stimmung des 18. Jahrhundeits. Aber ganz anders wertet^
sein ethischer Idealismus das Christeutum und die Znknnft der
Menschheit. Er glaubt an einen Aufschwung der Menschlieit durdi
die gereinigte christliche Religion, Und ganz anders wertet er
die positiv-kirchliche Form des Christentums. Sie ist das psycho-
logisch unentbehrliche Mittel zur Ausbreitung und Befestigung dei;
(Christentums. Er will nicht Religion aus reiner Veniuuft, sondern
„Rektifikation" der positiven Religion durch die Vemunftreligiûu.
Aber allerdings ist es ihm nur bei dem Christentum der Mühe
weil, die Mythen und Legenden, die Dogmen und Satzungen
einer solchen schonenden Behandlung und Umbildung zu unter*
ziehen. Es aileio hat den hinreichenden moralischen Vernunft
gehalt dazu.
So ergeben sich die Kategorien für die Beurteilung der Reli-
gionsgeschichte, Es sind Kategoneu, die a priori entworfen werdeu
müssen. Die Religion ist entweder reine Vernunftreligion, d. Ii.
Überordnung des ethischen Gedankens über alle Versinnbildlichung
Gottes, oder Heidentum, d. h, Unterordnung der ersteren unter die
I
XXVII 4, S, 33. Weber weist auch auf Rankes ähnliche SteUung hin.
Daa Nebeneinander beider Gedanken bei Kant ist wieder das Nebenein-
ander der Ergebnisse der kritischen Lehre, für die das Individuum mit
seiner Bejahung des Giltigen aües ist, und der geschichts-philosüphiscb*
anthropologischen Lehre^ die mit dem Gattungszusamiuenhatig als einer
trans-subjektiven Reahtät rechnet. In der Idee des Reiches der (unateTb-
liehen) sittüchen Persönlichkeiten fliesst beides zusammen, ist aber
freilich die Unsterblichkeit aller fraglich geworden. In dem analoge»
Kontlikt der gleichen Gedankenreilien hat LesÄings Geschichtsphilosophie
bekanntlich zum Gedanken der Seelenwanderunçf g^egriffen; die nicht mr
ünsterbUchkeit eingegangenen Seelen kehren in derMetempsychuse wieder.
Vgl Dil the j, Lessing, Preuss, Jahrb. 1867,
Das Hifltoiiiclie in Kants Eelîgionspliilosopliie.
131
letztere (Vu, 366).^) Es sind die Beurteilungsprmzipien, die sich
aus dem kritischen Ürgamsatioiispunkt einer system atischeü Reli-
gionsgeschichte ei^eben. Dabei ist nur nicht zu vergessen, dass
im gewöhnlich sogenannten Heidentum leicht Vernnnftreligion und
io der vermeintlich sogenannten Vernmiftreligion liel Heidentum
stecken kann. Kant hat die Glanhensartikel der Vernnnftreligion
— wohl im Gedanken an das Apostolicnm oder die Trinitätslehre —
in der Dreizahl forrauliert, obwohl mit bekannten wichtigen Schwan-
kungen in der Formulierung, Diese Glaubensartikel sind aber nicht
die Artikel einer Kehgion, die die Vernunft erst machen oder ein-
setzen sollte, sondern der kritische Kanon für Beurteilung und Rek-
tifikation der positiven ReligioiL Er hat auch die Glaubensartikel
des Heidentums formuliert (VI, 267), ebenfalls nm^ als kritischen
Kanon zur Erkenntnis der heidnischen Bestandteile der positiven
Religionen,
Diese beiden Kategorien sind seine geschichtsphilosophischen
Hauptkategorien und mit ihrer Hilfe begründet er die Stellung des
(Christentums. Nicht dagegen hegen in Kants eigentlichem Sinne
die Kategorien der natürlichen und der geoffenbarten Religion,
Es ist das die Fragestellung, die die christliche Kirchenphüosophie
^«eit dem zweiten Jahrhundert zur Bewältigung des Problems der
Keügionsgeschichte ausgebildet hatte, und die auch noch den konser-
vativen Deismus eines Locke und eines Leibniz beherrsciit. Für
Locke ist die Offenbarung die gottliche Mitteilung von Erkennt-
Qissen, die an sich auch in der menschlichen Vernunft gelegen
hätten, deren langsamen und bei der Natui* des Menschen wenig
hoffnungsvollen Progress aber Gottes Güte abgekürzt hat, indem
sie die rationale Wahrheit durch ein Üffenbarungswunder vor der
Zeit und in der schlichtesten» auch den Unmündigen verständlichen,
Komi mitgeteilt hat, übrigens unter Hinzufügung eines Zusatzes
unbegreiflicher Mysterien. Das, was heute hinterher als rational
bewiesen werden kann, was aber den Menschen auf rein rationalem
Wege zu erreichen zu schwierig war, das hat die Offenbarung
gegeben. An der Konformität ndt der rationalen Ethik und Meta-
ph3^sik, sowie an den beglaubigenden Wundem erkennt man
das Recht des christlichen Ofi'enbarungsspruches gegenüber dem
anderer Religionen.^) Ähnlich, nur mit engerem Anschluss au die
^t||
1) KbeiLso Reicke III, 36 und 8L
*) Locke, The reasonableness of Christianity as delivered in the scrip-
Works, LoDdon 1724 11, 530-537, Die au^serat interessante ReU-
132
E. Troeltsch,
scholastische Theorie, verwendet Leibeiz die speknlative Meta-
physik als Kriterium ziir Ausiiiittelutig des Wührbcits wertes de
verschiedenen religionsgeschichtlichen Öffenbamngsansprüche, da-
bei aber seiner ganzen Richtung nach mehr die tbeosoiihischen
Einsichten als die moralischen Volkswahrheiteii betonend und ohne
Fühlung uiit der biblisch-historischen Kritik. Dit^ Coiucidenz der
christlichen Lehre mit der Hpekulation und der historische Beweis
für die Uiaub Würdigkeit der biblischen Wundererzäbhmg erweiscB
das Christeutum als übeiuatürliche Offenbarung, w^ozu danu abe
noch Mysterien hinzutreten, als für die Philosophie weder beweis
bar noch widerleglar, wenn sie keinen Widerspruch gegen die^
logischen iimudpriazipien enthalten. ^) Die einfachere Lehre Lockes
hat in nianuigfacheu Verbindungen mit der Leibnizens und nntesH
Znrückdriingnng des Zusatzes der Mysterien die weitere Entwicke-
lung beberi^cht» sie bat auch die religiousbistorische Theorie in
Lessiugs „Erziehung des Menschengeschlechtes" inspiriert, während
Lessings Theorie von der Religion seihst, mehr nuter dem Einfiusafl
Leibnizens stehend, pautheistischen und mystischen Gefühlen Aus-^
druck giebt, Neben diesen rationellen, halb entwickelungsgescbicht-
lichen, halb wunder-apologetischen Offenbarungstheorien gab (3^M
dann aber noch die mystisch-pietistischen, mit denen ja auch Lessing
gelegen tlich spielt. Für den Of feubartingsehar akter des Christen-
lunis gegenüber anderen Religionen beweist das innere Wunder der
gefühlsinässigeu Vemcheruug und Erleuchtung, die Auflösung der
sonst überall vorhandenen unlöslichen Widersprüche durch daSji
innere Wunder der Bekehrung und des Seelenfriedens in Christas
So hat Pascal argumentiert, und auf Pascal berief sich mit Vor
liebe Jacobis Religionslebre, die ja auch pietistische Elemente in
sich aufgenommen hatte und die Kant verschiedentlich ernstlich
beschäftigt hat.«) In diesem Sinne hatte auch Rousseau die Locke-
sche Lehre mit neuen Ideen gemischt. 3) Alle diese Motive finden
las«
gionspliilosopbie Lockes verdien te sehr eine Bearbeitung, die vor allem
auf ihren Zusammenhang mit der la titudin arisch en engUschen und mit der
freien hoUändischen Theologie achten müsste und die Gesta^ltung diesi
theologischen Materialien durch Locken philosophische Gnindgedanken a
Licht stellen müsste.
Ï) VgL H. Hoffmann, Die Leibnizscke Eelig^ionsphilosciphie in ihrer
geschichtUchen SteUimg-. Tübingren 1903. Eine Untersuchung Wolffs unter
diesen Gesichtspunkten fehlt leider noch.
*) Boutroux, Pascal, Paris 1900, S, 197.
3) VgL meinen Artikel Deismus PHE^^ D, 658.
4
Das Histomche in Kanis Relierîonspbilosophîe,
133
wir tiiiü freilich bei Kant btniiitzt. Kr spricht vod der im Christen-
imn Hiiteciiiierteu Vermuiftivligion, von den mö/2fllcher Weise hiii-
riikotiiniendeD Sanktionen ilorch die Wunder der Heilsg-eschichte
oder die Wunder der Erleuchtung^, die als unbeweisbar und im-
^widerlegbar für die Theologen wohl ihre Geltung behalten mögen.
Er spricht von der Coincidenz der Vernunftreligioji nnd der ge-
offenbarteo als dem Kriterium für die Geltung des Christentums,
Ton der Hinzwfiigung des sanktionierenden Vehikels zu der Vernunft-
religion. Aber in Wahrheit zeigt doch seine ganze Anthropologie
und Geschichtsphilosophie den völlig exoterischen t 'harakter solcher
Wendungen, eine rein historisch-psychologische und entwickelungs-
geschichtliche Betrachtung, die die christliche Offenbarung genau
so betrachtet wie die (jffenharnngen aller anderen Religionen: als
unabsichtliche Dichtung, in welche sich für Meuscheu einer un-
msscnschaftlichen Kulturstufe die religiöse Idee einkleiden niusste.
Nur anthropomorphe Versinnlichung und zur Schwärmerei geneigter
Enthusiasmus setzen eine solche Idee in der Menschheit durch. Der
Embryo der Vernunft tritt nur in solchen Hüllen zu Tage, die
dann die später erwachende kritische Vernunft abstreifen darf.
Die Bt>deutung des Christentuins ist nur, dass in ihm bei der Ah-
streifung dieser Hiillen der unvergleichlich stärkste Moralgehalt
übrig bleibt. Man müsste geradezu annehmen, dass Kant bei der
ausdrücklichen Beschäftigung mit dem Rehgionsproblem in den
90er Jahren den tlundogischen und deistischen Offenbarungsideen
meder wenigstens mehr Möglichkeit einzuräumen geneigt gewesen
sei. als er bisher in seiner offenbar unter dem Einfluss der radikalen
englischen und französischen Kritik stehenden KultiU'psychologie
und Oeschichtsphilosüphie gewesen war. Allein das scheint mir
völlig undenkbar. Die „Eel i. d. Gr. d. bl. V:"* zeigt ja auch
selbst zu deutlich diesen Untergruiul eiiu^r prinzipiell entwickelungs-
geschichtlicben and religionspsychologischen (lesamtsnschauung.
Kant hat hier aus ûvw fiiiher entwickelten Gründen die Spitzen
seiner Theorie abgebrochen. Kr wollte ja in seiner Religions-
lehre aufhauen und nicht negieren. Er durfte glauben, seinem
Publicum Hartes genug zugemutet zu haben und hat die tiefer
Blickenden die vollen Konsequenzen nur zwischen den Zeilen er-
kennen lassen. Zudem stand er ja hier im scliroffen Kampf gegen
das Wöllnersche Regiment und duiite in der radikalen Verhinde-
rung des pfäffischen Extrems das nächste praktische Ziel erreicht
zu haben glauben.
134 E. Troeltsch,
Dass das so ist, ergiebt sich schliesslich aus seiner Behand-
lung des Christentums und der Bibel. Hier gebraucht freilich
Kant häufig das deistische Schema: Das Christentum ist die tod
Gott veranstaltete Introduktion der reinen Vemunftreligion, die
Bibel ist die göttliche Sanktionierung der reinen Religion, Christas
ist der Lehrer derjenigen Religion, die allein unter allen mit der
Vernunft übereinstimmt; die Offenbarung ist das Vehikel für die
Kundmachung und Einführung der Vernunftreligion.») Zwar die
Hinzufügung eines Zuschusses unbegreiflicher Mysterien ist weg-
gefallen, die allenfalsigen Wunder dienen lediglich formell der
Einführung der reinen Religion, um sie als solche kenntlich und
wirksam zu machen; in diesem Punkte war Leibniz und Locke
vom späteren Deismus längst überholt, und Kants Formeln stellen
den reinen Deismus dar. Allein man braucht sie nur näher anza-
sehen, um sie als blosse Beschwichtigungsformeln zu erkennen,
und jeder Blick auf die sonstigen Lehren Kants bestätigt diesen
Eindruck. Nicht bloss der Zuschuss der Mysterien ist weggefallen,
sondern die ganze wunderbare Introduktion selbst und die wesent-
liche Identifikation des Christentums mit der Vemunftreligion, die
ganze Auffassung des Christentums als göttlicher Offenbarung der
Vemunftreligion. In diesem Punkte denkt Kant völlig wie Hume,
Voltaire und Rousseau. Die ganze Introduktion, der Glaube an
Offenbarung und Wunder, hat nur subjektive Bedeutung vom
Menschen aus, keinerlei objektive von Gott aus. Es sind die Vor-
stellungsformen, in die sich bei der Schwachheit der Menschen
der religiöse Gedanke kleiden muss, und in die er sich teils für
Jesus selbst, teils und vor allem für seine Gemeinde kleidete.
Diese Formen waren unentbehrlich zur Sammlung einer Gemein-
schaft und für die damalige Zeit glücklich und förderlich.*) So
wurde der reine Religionsglaubc Christi zum Glauben an Christus,
>) Vgl. VII, 361 : „Das Christentum ist die Idee von der Religion,
die überhaupt auf Vernunft gegründet und insofern natürlich sein muss.
Es enthält aber ein Mittel der Einführung derselben unter Menschen, die
Bibel; deren Ursprung für übernatürlich gehalten wird, die (ihr Ursprung
mag sein, welcher er wolle), sofern sie den moralischen Vorschriften der
Vernunft in Ansehung ihrer öffentlichen Ausbreitung und inniglichen Be-
lebung beförderlich ist, als Vehikel zur Religion gezählt werden kann
und als ein solches auch für übernatürliche Offenbarung genommen
werden mag." Über das „deistische Schema" vgl. meine Abhandlung
„Grundprobleme der Ethik" Z. f. Theol. u. Kirche 1902, S. 127-130.
«; Reicke HI, 46 f., 77, 64; U, 6; VI, 230, 263, 266 f.; VU, 354.
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 136
zur Vergöttlichung Christi, zur Religion zweiter Hand.^ Messia-
nismus und antijüdische Apologetik haben ihn geformt und ihm
für die neue Gemeinde die Loslösung vom Judentum durch starke
Konzessionen an jüdische Denkweise ermöglicht.*) Diese Vor-
stellungsformen sind für spätere Zeiten zu einer schweren Last
geworden; aber, da auch sie der Vehikel und der Versinnlichung
für den Zusammenhalt einer Gemeinde bedürfen, so sind sie auch
heute unentbehrlich bis auf unabsehliche Zeiten. Darauf beruht
auch die Bedeutung der Bibel. Da die Eeligion der Vehikel be-
darf und die Bibel dieses Vehikel darstellt, so muss trotz der Un-
kontrolierbarkeit und vielfachen Fraglichkeit ihrer Überlieferungen,
trotz der zahlreichen bedenklichen Bestandteile doch die Bibel als
psychologisch unentbehrliches Mittel der Erbauung, Leitung und
Zusammenhaltung einer Gemeinde beibehalten werden. Bibeln und
Religionen entstehen nur in wundergläubigen und enthusiastischen
Zeiten. Solche sind abgelaufen, und eine neue bessere Bibel ist
darum nicht zu erwarten. So halte man sich an die alte Bibel,
die doch zugleich eine unvergleichliche Majestät und Grossartig-
keit besitzt, und sorge nur für eine Auslegung, die das Bedenk-
liche neutralisiert. Sieht man die Sache so an, dann wird trotz
des Wegfalls jedes objektiven Wunders „die Welt nie etwas die
Seele belebenderes, die Selbstliebe niederschlagenderes und doch
zugleich die Hoffnung erhebenderes sehen als die christliche Reli-
gion, die sich von dem Judentum erhoben hat" Reicke UI, 57.
Dann „entschädigt die Göttlichkeit ihres moralischen Inhalts die
1) Reicke n, 283; lU, 66.
2) Kant betont durchgängig, dass das Legendarische und Mythische
des Urchristentums aUes aus dem Judentum und aus dem Messianismus
stammt, der seinerseits das Mittel war, die Juden leichter zur Anerkennung
des Christentimis zu bringen. Daher „die messianisch-christliche Lehre
von der Versöhnung mit Gott durch ein Opfer" Reicke III, 34, daher das
^Vehikel der Religionslehre, nämlich die Geschichte des Glaubens, welche
mit dem messianischen Glauben anhebend durch den evangelischen (der
jenen zurücklässt) zum rein moralischen hinweiset** Reicke III, 68, daher
der Abriss der Geschichte des Christentums, wonach erst der rein mosa-
ische Glaube, dann der mosaisch-christliche, dann der rein christliche
Glaube kommt, wonach insbesondere der evangelisch-mosaische als evan-
gelisch-messianisch sich vom jüdisch-messianischen unterscheidet und der
rein evangelische jetzt erst anfängt. In dieser Betonung des Judenchrist-
lichen scheint mir Semlers Einwirkung vorzuliegen. Das Vehikel ist dar-
nach nicht eine mögliche wirkliche Offenbarung, sondern stets nur der
jttdisch-messianisch gefärbte Off enbarungs glaube des Urchristentums.
136
E. Troeltsc!
Vernunft lùereicheud wegen der Menschlidikeit der Geschichts-
ei'zähliiüp: und zk-lit diese vielmehr durch Akkoninii^dation und Ans-
legniig: selbst l)ei dejii gerijigsteii (Irade der Walirseheinliclikeit
siegreich in ihr Interesse'* Reickelll, 14. Sielit mau dagegen die Sache
objektiv iiüt^fr dem (.lesidit.sjuiiikt des gottlictien Thuns an» dann ist
Christentum und Bihet ein Werk der Voi-seliung, und das ist für Kant
gleichhudeuteiid mit einem Ergebnis der geschiditlieiien Entwickeluug:.
In der Stufenfolge der durch den psydiologisehen Mechanismus
hindurch sich bewegenden Entfaltungen der Vernunft ist es der
Dnrchbruch der A'erunuftreligiou in der durch Zeit nud Lage be-
dingten Form, ^Man kann hiervon wie von dem Zweckmässigen
und Heilsamen, was sich im Laufe rler Welt auch ohne unser Zu-
thun ereignet und was nicht bloss als Znfall anznseheu ist, (als
Ursache) nichts anderes als die Vorsehung nennen, w^elche sich
auch aufs Thun und Lassen des menschlichen Geschlechtes im M
Grossen erstreckt ''. Es ist ein ^.Ereignis, welches wegen seiner ■
unendlichen aus der grössten Simplicität hervorgehenden Wirksam-
keit zur Besserung der Menschen als ein Werk der Voi-sehuDg,
darum aber nicht minder als natürlicher Erfolg der fortschreiten-
den Kultur augesehen werden darf", Eeicke IIL. 63 f.') Ist abtT
so das Christentum bei all seiner Grossartigkeit als Hervorbriugun?
der natürlichen Entwickelung zu betrachten, so teUt es auch das
Wesen aller Erzeugnisse dieser Entwickelung: es ist nicht ewig.
Das Unveränderlich^Normative liegt nur in der Verunnftreligion,
aber alle Ausgestaltungen der Vemunftrdigion sind zeitlich, zufälUof,
d. h. von Lage und Ort nntbestimmt und relativ. Das Christeu-
tum ist nui' auf unabsehbare Zeiten die Verkörperung der Ver-
nunftreligion, sein Küx'henglaube „vereinigt nur provisorisch die
Menschen zur Befördeiiing des Guten**.«) Was dann kommen soUi
i) Fast wörtlich ebenso VET, 381.
«) Die Stelle bei Dieterich S. 165, ausführlich bei Reicke III, 4 f
mit dem charakt^ristiBchen Schluss *,Der Satz vom geschriebenen Wort
Gotte.'j, dass es nB.ralich ewig dauern werde, ht nur so zu verstehen, dass
es Pflicht derMenscben, vornehmlich der Lehrer, sei, es so zu beherzigen
und zu lehren, als ob es çvng zu währen bestimmt sei, weil der Gedanke
von ihrer möglichen. Abändeningr zugleich den von einer felilerhaften Be-
schaffenheit derselben und der Glaubenslehre bei sich führen und so ohne
Kraft sein wllrde*^ Sehr klar auch Reicke 111, 2 ^So lange die Aufklärung
in der Welt bleibt, wird nie ein für das Volk in Sachen der Religion
schickücheres und kräftigeres Buch angetroffen werden; denn die Salbung
der Geschichte wird ihm fehlen, und eine andere Geschichte wird eben
1
i undeutlich* Maodimal scheint es, als solle die naiie \\^i'iniDft-
^ligion ohne alle Vehikel l*oriimen; aU(*in das ist bei Kauts psy-
loloçischer Auschaiiunof von df»r steten Verhuiidenhrit der Ver-
»nft mit sinnlich-psychuluirischeii Verwirküehunj^sniittcln eiîie
ufhebung der Voransseizun^en, Mauelinml s|pielt Kant ntit dem
«danken eines neuen Vt'hik<ds uu<l einer niMU'U Biln'!, nni aber
lesen Gedanken sofort wieder fallen zu lassen. Ob er so oder so
enkt, das hangt davon ab, ob mehr sein rationalistisches Interesse
m tjiltigen oder seine knltnrpsycbologisohe Kinsirlit in die Not-
reodigkeit psyeholog'isch bedingter Verwirkliehung-sfi^rmen der Ver-
imft vorheiTScht. Im iiauzeii ist daher seine Autwort stets, mau
oUe sich an das Christentum halten und aus ihm soviel (irutes
lachen, als man zu machen im Standi^ ist. Auch wo er von d<*r
Pen Veruuuftreligion der Zukunft" spricht, scheint er doch meist
ein eiidgilti^ rationalisiertes (Christentum zu meinen, dessen
nken völlig auf das Haltbare reduzieit sind uiul dessen Halt-
sicher als inadärjuates Bihl erkannt istJ)
Es ist klar» dass das deistische S«*heraa völlig aufgelöst ist,
fani befindet sich mit Voltaire und Hume an dem Punkte, wo
1er Deismus in die moderne religiousgeschicbtliche Forschung
Ibergeht. Ei* uuterscheidet sich von ihnen nur dadurch, dass ihm
lie nackte Vernunft überhaupt nichts gilt, sondern die Notweudig-
:eît des Vehikels der [lositiven Religion bei der thatsachüchen psy-
hologischeu Beschaffenheit des Menschen feststeht, und dass unter
en positiven Religionen ihm das Christentum durch seinen Gehalt
ine unvergleichlich hohe und dauernde Bedeutung hat. Auch
sychotogisch und religionsgeschiehtlich als mannigfach bedingte
Einkleidung der religitisen Idee betrachtet, verliert es nichts von
einer Herrlichkeit und von seiner Führerstellung im geistigen
jeben.
Das sind die Ergebnisse der systematischen Geschichte der
leligioD. Sie hat den kritischen Massstab a priori konstruiert
nd darnach die AuBäheningeu der geschichtlichen Religion au ihn
eurteilt, I>abei hat sie das Christentum als die einzige, den Ge-
anken selbst prinzipiell rein erhaltende, Verkörperung der Idee
rkannt und alle ausserchrist liehen Religionen trotz gelegentlicher
lOerkennung von Wahrheitsmomenteu in ihnen schroff verworfen.
urch diese Aufklärung, weil sie aus neuen Wundern bestehen mllsste, nie
^QAehen bekommen"«
*} Vgl oben S. 45 f.
EM
138
E, Troeltficîi,
Diese ^»'aiiz eigentümliche, im Grunde sehr nnhistoriseh eiiipfirndeoe
Tr**tiiiuiig: des Ätithroptdos^rischen und Normativen, des Ausserchrist-
liehen und Chrisllicheu, ist der AusfUiss des kritischeu Gedankens,
der Treunung des Thatsächlich-Psycliohjgisclien vom Intelligibel-
Normativen. Aber die Darstellung hat doch auf Schritt nnd Tritt
erkeuuen lassen, dass das nicht das ganze Bild der Sache ist
tiberall, wo nicht das methodisch-kritische Gewissen des Traos-
scentlentalphilosophen spricht, spricht doch der Geschichtsphilosopb,
der î>êides aufs engste aufeinander bezieht, der die Vernunft aos
der Natur sich entwickeln und in d*^n psychologischen Gebilden
sich verkörpern nnd befestigen lässt, der Psychologisches nnd In-
telligibles zusammeuschant und beides teleologisch aus einer S^Ê
nieinsamen Quelle sich entwickeln lässt. Es ist der MetÄ^
physiker, der eine gemeinsame Wurzel von Sinnlichkeit und Ver-
stand, von Kausalität und Freiheit hypothetisch für w^ahrscheinlich
hält und der, wo er vom Zwang der Methode frei ist, die Objekte
so nimmt, als läge ihnen eine solche metaphysische Einheit zu
Grunde. Die Bedeutung dieser raet^ipliysischen Voraussetzungen
für unser Problem ist daher der let^t« nnd abschliessende Gegeu-
stand unserer Untersuchung.
nie Religionspsycbologie ist unter diesem Gesichtspunkte»
denn doch in Wahrheit nicht so scharf gescliieden von dem e^
kenntnistheoretisch gesicherten Wesen der Religion, als es nach der
bisher geschilderten rein kritischen Auseinanderhaltung ei-scheiücß
möchte. Kant hat übei^all dasjenige vorausgesetzt, wavS Wandt
die „Heterogonie** der Zwecke nennt. Er lässt aus dem eudämo-
nistiscbeu Triebmechanismus der Seele durch gegenseitige Hemmung
der Triebe Raum und Gelegenheitsursachc für das Hervortreten
der politischen und ethischen Vernunft hervorgehen, die Ergeb-
nisse des Jlcchnnismus von der Vernunft beseelen, befestigen lUid
für ihre Zwecke gestalten. Er lässt die frei gewordene Veraunft
aus eigenem Wollen oder unbewusster Nötigung sich mit sinnliclu^n
Bildern und Formen bekleiden und so Kinfluss und Macht unt«r
den Menschen erlangen, namentlich dett IMechanismus der Sozial-
psychologie für ihre Zwecke vf^rwenden, tla sie ohne das schwach
und bodenlos bliebet) Wenn Kant für die Religionsphilosopliii^
1) VII, 370. Die Juden sollen Christen oluie Trinitätslebre werden
und eine Kirche bilden: J>a hip utui so lange das Kleid rditie Miißii
(Kirche oîme Religion) ^^tiaht haben, gleichwohl nher der Mann ohne
Kleid (Beligion ohne Kirche) auch nicht gut verwahrt ist, sie also gewisse
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 139
diese Gedanken relativ am wenigsten durchgeführt hat, so kommt
das von seiner einseitig ethischen Auffassung der Religion, die
ihn allerdings gegenüber den tieferen Religionsstufen hilflos
machte. An Feinheit der Analyse hätte es ihm dazu nicht gefehlt.
Immerhin macht er doch wenigstens Andeutungen dieser Art.
Das schon einmal erwähnte lose Blatt (Reicke I, 238) beginnt mit
der Bemerkung: „Der Begriff von Gott ist nun einmal da.
Man muss ihn aus dem Gebrauch (sc. der thatsäcJilichen psycho-
logiscfien Gestalt) genetisch (sc. in Eücksicfd auf den darin
latenten Vernunftgehalt) entwickeln, indem man nicht den
Sinn, den man wirklich damit verbindet, sondern die Absicht
aufsucht, die bei all diesen Begriffen zu Grunde liegt". Und
zwar muss das zunächst geschehen „in allen Erkenntnissen, die
sich lange vor der Wissenschaft erheben und die Gelegenheit dazu
{d. h, jedenfalls zum Hervortreten des reinen Oottesbegriffes) geben".
Kant exemplificiert dann auch sofort auf die Religion der Wilden.
So habe ich ja auch bereits früher einen Satz aus der „Rel. i. d.
Gr. d. bl. V." angeführt, wo die Mythologien aller Religionen als
Dichtungen bezeichnet waren, in denen unbewusst die religiöse
Idee sich einen Ausdruck schafft. Dass die zu einer solchen Auf-
fassung unentbehrliche Anerkennung der unbewussten Vernunft,
der aus der Latenz heraus wirkenden und erst zuletzt sich in
ihrem eigentlichen Sinne erfassenden Vernunft, Kant durchaus ge-
läufig war, bezeugt seine Anthropologie (VII, 445 ff.) Hier hatten
Leibnizens „Nouveaux essais" stark vorgearbeitet. Aber aller-
dings hat Kant diese Gedanken stets nur angedeutet. Zu der
Feinheit der Analyse religiöser Erscheinungen, wie sie Herder,
Förmlichkeiten einer Kirche, die dem Endzweck ihrer jetzigen Lage
angemessen wäre, bedürfen," so sollen sie dem Vorschlag Bendavids folgen
und eine moderne judenchristliche Kirche gründen. Ebensowenig will
Kant wissen von dem Experiment der Theophilanthropen, die reine, durch
kein Vehikel bekleidete Vernunftreligion einzuführen: „Keine theophilan-
thropische Gemeinde, theologische Mystik, wird den Mangel derselben
{sc. der Kirche) ersetzen, weil die Erfahrung nicht bloss zeigt, dass ohne
alles heilige Buch Barbarei in Religionsbegriffen sich einfinden würde,
sondern auch weil dieses gegenwärtige System durch Erfahrung seiner
Brauchbarkeit in Ansehung alles Moralischen sich selbst zum Kanon be-
rechtigt, den selbst die Regierung mit Achtung anzuerkennen nicht er-
mangeln wird" Reicke III, 6. Die Beifügung der theologischen Mystik
mag sich auf Lessings evangelium aetemum der Zukunft beziehen, wie
Amoldt Krit. Exk. 252 f. wohl mit Recht eine Opposition gegen diese auf
die Mystiker gestützte Lehre Lessings im , Streit der Fak." vermutet
140
E, Troeltscli,
Hegel Schelliiip:, tTiimm, Schleif^rinacher und ih* Wette vorg
iioninieii habfiü, ist er nie voiTrednin^eiL
Weiiü mui cihi'v auch dio Throrio der Kîilwickidtmg od«
Heterogoüie der intelli^qbelu Reli^noii aus psychologiseheii Ansätoii
lieraus vod Kant iiielit frf'nauer durehgefiihrt worden ist, so hui
er dit' Kiulieii di-s Veniütifti^^rii und Psychologiselieii doch wenig-
stens in Bezug auf die herausgebildete ethische Keliginn t^rnsllich
geltend gemacht. Die Religion ist kein willkürlich gemachtes
Produkt des Verstandes, sondern eine Änsserung der (Trund gesetzt'
der Vernunft. Sie hat rationale Notwendigkeit, aber nie rein ra-
tionale, von aller Siunliehkeit und iisychologisehen Intensiviening
unabhängig«' Wirklichkeit. Sie bedarf des anthropooiorpheu
Bihles oder des Scheniatismus der Analogie oder des versinnliehendpo
Syjnhoîs, durch welches sie erst mitteilimgsfähig, motivationskräftig»
organisatorisch und belebend wird. Kant hat diese Theorie ganz
ausdrücklich in der ^ReL i. d. t-ir. d, bl. V.** entw^ickelt und
kommt hn Einzelnen unanfhörüch auf sie zurück. ^ Der Gedanke
1) Die auph von Dilthey (Arch. f. Gesch. d. Pli. Ill, 433) stark betonte
Haiiptstelle ist ^ReL i. d, Gr d. bl V/^ VI, 160 f. ^Wir hedürlen, um uns über
sinnlicbe Beschaffenheiten fa.^«lich zu inachen, immer einer gewissen Analogie
mit Natarwesen . , . das ist des Schematismus der Analogie (zur Erliiutenili^',
den wir nicht entbehren können". Irre ich nicht, so haben wir hier eineu
der hRufi^en Fälle, wo Kant die in der „Kr. d, r, V." gewonnene Termine-
log-ie auf andere Gebiete tlbertrüp^t. Wie von den reinen Kat^gorieo
stiu' konkreten Natunviasenschtift der „Schematismus der reinen Verstandes-
beg-riffe** notwendig den IJber^ng macht, 80 ist auch der Übergang von
den reinen Religionsideen zur wirklichen Religion durch einen Schematic
mus der Einbildungskraft bedingt. Sofort aber sorgt dann Kant dafür,
dass diese Symbole nicht als adäquat« Erkenntnisse genommen werderi
dürfen, weil sie ja auf das (übersinnliche Zeit und Kaum und die sämt-
lichen Kategorien Ul>ertragen würden, die .sämtlich nur Geltung: ftir die
Erfahrung haben und deren Anwendung auf die Ideen des Übersinnlichen
diese nur zersetzen würde. ,,Man kann im Anfat eigen vom Sinnlicben zum
Übersinnlichen zwar wohl schematisieren (einen Begriff durch Analogie
mit etwas Sinnlichem fassbar machen), schlechterdiugs aber nicht von dem,
was dem ersteren zukommt, dass es auch dem letÄteren beigelegt werden
müase, schliesaen {und so seinen Begriff erweitern ;>\ Ebenso susführücU
über das Symbolische und lutellektuelle in der Religion VII, ö07. Also
ein stets kritisch an seine Inadäquatheit erinnerter symbolischer Anthro-
pomorphismus, aber kein spekulativ-dogmatischer oder theosophischer
Anthropomorphismnsi der das Uli ersinnliche logisch behandelt wie Gn^ssen
der Erfahrung. Es ist die Schwebe, in der alle metaphysischen Be-
griffe bei Kant bleiben; sie gehen notwendig ans der Vernunft hervor, als
Das Hiatoriflclie in Kants Religionspïiilosophie.
141
»Uügt in seinem Prinzip, ila die Verniuift immer nur kritisclies Ke-
fgülativ des wirklirheu BewusstseitiS, immer bezogen auf das zu-
l^leieb thalsächlich und zutnllig bestimmte empirische Bewusstsein
ist, Sü verwahrt er sich Ja aorh mehrfach dagegen, dass ei' eine
^Religion aus reiner Vernunft" geben wulle. Das giebt es iiher-
liaapt nur als kritischen Kanon, nicht als thatsächliclie Wirklichkeit
l^des Bewusstseins. Er will unr „Religion innerhalb der reinen
Vernunft*", das heisst unter diTKontroIe der reinen Vernunft gehen
(Reicke HI, 55, 908), Hierin liegt ja auch der tiefste Gnmd und
das silthclie Recht seines Koalitionsversuehes.*) Der Religions-
iMosse Abstraktionen der Einheit ans der theoretischen, als praktisch-leben-
' dige Verge^enwftrtigutig des Sein-Sollenden aus der praktischen, als änthro-
! pumorph die übersinnliche Welt persouit'icierende aus der religiösen ; aber
sie liegen in all diesen Fällen über die erkennende und beweisende Wis-
[goiinrhift hinaus, soweit analogiscb gedacht, um tlberhuupt ^edaclit werden
BÉ können, und soweit jeder Analogie entrückt, um keine Erfahrnn^-
•ß^genstönde ta\ sein. Das ist w<dd auch die einzii^ m<igliche Aulwort auf
die von Vaihinger in der Einleitung zu Sänger, Kants Lehre vom Glauben**
S. XI aufgeworfene Frage, Ähiihch bezeichnet Kant die Personifikation
des übersinnlichen als „eine ilsthetische VorsteOungsart, deren man sich
wohl liinten nach, wenn durch erstere {die pfiilosophwche) die Prinzipien
schein ins reine gebracht sind, bedienen kann, um durch sinnliche, obzwar
nur analogische Darstellung, jene Ideen zn beleben, doch innuer mit einijyrer
Gefahr, in schwiinnerisihe Visionen zu geraten, die der Tod aller Philo-
sophie sind** VI, 4H1. — Diese ^symbolische Darstellung ist Mittel der Be-
förderung des reinen Religionsglaubens** VI» 275, „Das Unsichtbare bedarf
doch beim Menschen durch etwas Sichtbares (Sinnliches) repräsentiert, ja
was noch mehr ist, durch dieses zum Behuf des Praktischen begleitet, und,
obzwar es intellektnell ist, gleichsam nach einer gewissen Analogie an-
schaiiLich gemacht zu werden, welches^ obzwar ein nicht w oh! entbehrliclies,
doch ÄQgleich der Gefahr der Missdeutung gar sehr unterworfenes Mittel
ist" VI, 292, Bei Gelegenheit der christlichen Trinitât, Himmelfahrt, Auf-
erstehung: „Wir können, nra unsereu Begriffen von veniilnftigen Wesen
Anschauung zu unterlegen, nicht anders verfahren als sie zu anthropomor-
phideren; unglücklich aber oder kindisch, wenn dabei die symbolische
Vorstellung zum Begriff der Sache selbst erhoben wird" VII, 486 f. Die
Gründe hiervon im Wesen des Versta-ndes und der Phantasie \1I, J-ißS,
454, 483. Das vielgenannte „Vehikel*" ist nichts anderes als die sinnliche
Einkleidung VI, 359. 298, 1Ô3. VII, 35B, 354, Reicke III, 16, II, 183. Diese
SymboHsierung wirkt die Belebung des Willens, bewirkt die Mitteilung
und Belebung der Religion im Unterricht Vn, 364, die Stellen bei Diete-
rich S, 162 f. Besonders wichtig ist das für die Zeiten der Introduktion
VI, 207, 231, also für die Ursprünge der positiven Religionen.
*) Hiennit sind freilich auch die Unsicherheiten der Auffassmig ge-
geben, die üben S. 45 u. 137 bezeichnet worden sind. Jedenfalls aber ist es un-
142 WtKtß F. Troeltsch,
Philosoph muss, wo er praktisch werden will, sich an die konkreU'
positive Religion als an die noimi^ängliche Verkörperung der Re-
ligion halten. Die reine Veraunft ist auch in der Religion sowenig
wie im konkreten Erkennen oder in der konkreten Ethik vollkomineü
nackt, sondern hnmer bekleidet. Es kommt für ihn deshalb geradezu
darauf au, eine konkrete Religion zu finden, deren Bekleidung
durchsichtig genug ist oder gemacht werden kann, um stets die
Idee liindnrchleuehten zu lassen. Wie weit in dieser Theorie des
Symbolismus auch Anregungen Hamanns oder etwa Rückwirkungen
Herdei-s vorliegen mögen, das ist nicht mehr auszumachen, ün-
wahrscheiulicli ist es nicht. Aber freilich die volle Fruchtbarkeit
dieses Gedankens hat Kant selbst aus gleich zu erwähnenden
Gründen nicht erkannt. Die geniale Religionspsychologie Herders
und die feine Analyse der „Idee in der Fonn der Vorstellung**»
wie sie dann Hegel entwickelt hat. sind seiner kulturpsycholo*
gischen Kunst ferngeblieben.
Besonders wichtig ist dieses Vehikel des symbolischen Anthro
pomorphismus in seiner sozialpsyehologischen Bedeutung. Es ist
das em Punkt, der in seiner AVichtigkeit für die Kantische Reli-
iar. a^
richtig Kants Reliai onsk' h re wesenÜicli ah reine Veninnftrelig^ion dar
zu wollen, Sie stellt immer nur den bcgrifflicli haltbaren Kern dar,
der Versinnlicliiing im Bild und der psycliolo^sclien Actuahsiening oder
Belebung durch Vehikel bedarf. Was ich ohen S. 80 ff. als wirkheben
Sinn der „Reh i. d. Gn d. bl. V," herausgeschlüt habe, ist iiicht reine
Vernunftrehprion, sondern das wissenscbnftlich allein zidässigje Mass der
Antliroponiorphisiening und Actnalisierung-, Über âm das Buch in Wahrheit
— wenn auch jedesmal mit Kautelen — hinausgegan^^en ist. Xauts Reli-
gion enthält also immer prinzipiell melir, als die kritischen Relig:ionsideen
selbst besagen. Da aber dieses Plus psychologisciier Art ist und das Psy-
cholo^scbe in seinem Verhtlltnis zum Kritisch-lntelligibcln innrer undent-
heb bleibt, bald ledighch einkleidende Form ist, bald aber doch auch in-
halthch die religiöse Stimmung mitbedingt, so ist die Darstellung dieses
Plus wohl eine sehr anziehe ude, aber auch sehr schwierige Aufgabe, Sie
seihst fällt nicht in den Rahmen dieser Arbeit, bedürfte aber sehr eintat
feinen und vorsichtigen Bearbeiters. Eni sutcher müsste immer im Auge
behalten^ dass die Vehikel, d, !k die Vorstellung des persönlichen Gottes,
der Weltregierung, des Jenseits, des Gegensatxes von Siinde und Heilig-
keitj ja aucli die Veranschaulichung des Guten in Jesus u. s, w, nichts
bloss Fonnelles, sondern Träger ganz bestimmter religiöser Stimmungen
sind, die auch inhaltlich auf die Religion wirken. Darüber hat Kant sich
nicht genügend Rechenschaft gegeben»
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 143
gionslehre selten richtig verstanden worden ist.*) Das Reich der
Persönlichkeiten, das Reich Gottes, die Republik der Tugendge-
sinnung, die unsichtbare Kirche sind an sich reine Religionsbegriffe
und haben mit der positiven Religion und so auch mit dem Christen-
tum an sich nichts zu thun. Aber bei der Schwäche der Menschen
und bei der psychologischen Notwendigkeit, nach der alle Willens-
zwecke erst durch Vergesellschaftung eine beherrschende Macht
bekommen, ist es unumgänglich notwendig, dass die rein intelli-
gible Gemeinschaftsidee Basis und Mittel in einer empirischen Ge-
meinschaft bekomme. Wie der organisierte Staat die Voraus-
setzung der Moralität bildet, der ihr erst Raum und Boden schafft,
so ist die staatartig organisierte positive Religionsgemeinschaft
erst Voraussetzung und Mittel für die Entwickelung, Befestigung,
Belebung und Verstärkung der reinen Religion. Diese organisierte
Religionsgemeinschaft oder sichtbare Kirche kommt aber nun bloss
zu Stande, wenn die Erregung der Phantasie und der Enthusias-
mus durch energische Symbolisierung die Macht eines Gesamt-
willens erlangt. Dabei ist freilich die Gefahr eines äusserlichen
Supranaturalismus und einer ihr Gefühl objektivierenden Schwär-
merei immer nahe. Aber ohne diese Gefahr entsteht keine Reli-
gionsgemeinschaft, und sie kann später durch wissenschaftliche
Selbstkritik wieder beschworen werden. Dafür entstehen aber auch
in einer wissenschaftlichen Welt keine neuen Religionen mehr, und
die Religion hat daher allen Anlass, das die erste Introduktion,
den dauernden Zusammenhalt und die Fortpflanzung ermöglichende
Vehikel zu schätzen. Ohne Vehikel keine Gemeinschaft, ohne
organisierte Gemeinschaft keine Dauer und Lebenskraft der reinen
Religion. Die in der politischen und moralischen Entwickelung
latente Vernunft steigt auf zur Produktion religiöser Symbole und
religiöser Gemeinschaften, in denen die religiöse Vernunft latent
ist und Gelegenheit empfängt, sich selbst in ihrer Reinheit zu er-
fassen. So ist das Vehikel von grösster Wichtigkeit für die Reli-
gion, und der Religionsphilosoph hat die Untersuchung der ver-
schiedenen Vehikel, Kirchen, Bibeln und prätendierten Offen-
barungen durchaus in sein Geschäft zu ziehen. „Die Regeln der
öffentlichen Gründung einer Religion" dürfen zwar nicht „unter
1) Dieterich hat es hervorgehoben: „Im Kampf um seine Existenz
sieht es (das Moralische) sich gewissennassen nach psychologischen Stützen
um." S. 33, 66, 169. Doch ist die Ausführung sehr ungenau und wirft die
intelligible Gemeinschaft mit der empirischen zusammen.
144 ^f9r ^' Troeltäcli,
(lie Prinzipien der Reli^oii selbst** gezählt werden (Reicke III, 91),
weil sie eben zufällig-thatsächlich-psycholog^seli sind, aber die reine
Religion nmss sich doch wesentlich daranf beziehen» „indem, me
selbst das Vehikel der Reli^on beschaffen sei, was jemand in
seinen Kirehenglauben aufoininit, für die Religion keine j^leich-
giltige Sache ist" VII, 869. Der Religioiisphilosoph halt dalipr
nnter den verscMeilenen Kirchen und Bibeln Unisrhan, welche sich
am besten znni Vehikel der die Wiedergeburt und das Tugendreich
bewirkenden Religion eigne, und das gerade ist die Bedeutung des
Chi'istentnms, dass es unter der Einwirkung des grossen mora-
lischen Volkslehrers im Neuen Testament und in der chrißtlichen
Kirche ein unvergleichlich giosses, die reine Religion einzigaitig
durchschimmern lassendes Vehikel zur Leitung und Beförderung
der Religion auf unabsehliche Zeiten heiTorgebracht hat.V) Eben
deslialb musste auch die „Religion innerhalb der (irenzen der
rtîinen Vernunft'* sich als UeUendmachung des reiuen Religions-
gehattes in dem Vehikel des christlichen Kh'cheutums dai-stellen.*)
1) Jüli. Weiss a. a. O. S. 88 hat richtig liervorgehoben, dass Jesus
nach Kant das Reich Gottes nicht stiftet. Aber er bat den Gruod nicht
erkannt. Das Reich Gottes ist eine apriorische Vernunft idee und kann
natürlich nicht g^estiftet werden* Dagegen kann das empirische Vehikel
dafür gestiftet werden. Hierin folgt Kant Reinhard gegen Bahrdt und
Reimarus VI, 177. Jesus bat eine Kirclie stiften woDen. Seine Absiebt
ist ,,nicht gelungen, aber docb nicht ganz vereitelt, sondern nach seinem
Tode in eine sich im Stillen ausbreitende Religionsumänderung überge-
gangen." Von dem Theologen Reinhard mit seiner Identifikation der Stif-
tung Christi und des Reiches Ciottes unterscheidet sich eben bewusat der
apriorische Religionsphilosopb, der das Reich Gottes als Verniinfüdee und
die Stiftung Jesu als empirisch -psychologisches Vehikel betrachtet. Bitscbl
hat hei seiner Verwendung des Kantischen Reiches Gottes diesen Unter-
schied gamicht beachtet, wie ja das Wesentliche der Kantischen Reli-
gionslebre, die Unterscheidung und Beziehung de^ Vernünftig*Apriorischen
und des Znfällig-HistoriscIi-SjTnbtjlischen, welche Unterscheidung gleicher
Weise fîir alle Religionen gilt, für ihn garnicht existiert.
2) Vgl. hierzu das ganze dritte Stück der „Reh i. d. Gr. d. bL V."
Vom Sieg des guten Prinzips ilber das Böse. Die Inhaltstibersicht VI, X
giebt den Gedankengtuig genau wieder in seiner geschichtsphilosophiBchen
Absiebt. Vom ethischen Naturzustand führt die Betrachtung zu der aus
ihm sich erhebenden religiösen Idee des Tugendreiches tlberhaupt. Von
dieser Idee geht e^ zur Notwendigkeit einer Unterstützung durch social-
psychische Institutionen oder Kirchen mit Bibeln und StiftungsmytUos,
von den versclüedenen Kirchen geht es zum Christentum als derjenigen
Kirche^ welche in ilirem Kirclienvehikel allein die reine Idee enthalt. Als
solche das Reich Gottes anbahnende Kirche kann aber auch das Christen-
iigionsphi losoph ie.
Aber freilich hat Kant diesen klaren Gedankengang nicht
immer streng eiogehalten. Es ist ihm mit der ReUgionsphilosophie
geTiau so gegangen wie mit der Ethik. Das Prmzip der Unter-
scheidung des Intelligiblen nnd des Psychologischen, der alleinigen
iBegründung alles Oiltigen anf die Vernnnft, hat ihn iu der P^thik
dazu geführt, den formalen Gedanken der Antononiie und des kate-
gorischen Imperativs in einer A\'eise gegen alles Psychologisehe zu
isolieren, dass diese Isolierung geradezu zum Gegensatz und zur
Ausschliessung wird. Die Unterscheidung schlägt um in den plato-
nischen Gegensatz von Idee und Sinnlichkeit» in den pietistisehen
Rigorismus des notwendigen Gegensatzes gegen jeden Trieh und
jede Neigung, Seine ältere Ethik, die mit intellektuellen Gefühlen
und Vernunfttrieben arbeitete, verwandelt sich in die rein ratio-
nale Ethik des formalen Freilieitsgedankens, und die Anerkennung
aller idealen Zwecke als teiihabend am ('harakter des Sittlichen
weicht der Konstruktion von Geboten, die sich k^gisch widerspruchs-
los als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung denken lassen. Es
bleibt aber dabei doch das Wesen der kritischen Ethik, durch
ihren formalen Grundbegriff des Moralischen in allen» empirischen
Handeln nur kritisch den moralischen oder nicht- moralischen
Charakter festzustellen, es bleibt die Aufgabe der Pädagogik, aus
dem Psychologischen das Intellektuelle zu entwickeln, es bleibt die
Aufgabe der nujraliseh<:'n Antliropologi*', das Hervorgehen des Mora-
lischen aus dem Triebmechanisnms und die Anwendung des Mora-
lischen auf das konkrete Wollen zu zeigen. Die Aufgaben sind
freilich aus den bezeicbneten Gründen verkümmerte) Ganz genau
so geht es mit der Religionsphilosoplüc. Die Geltung der Religion
beruht auf ihrer ideellen aiuiorischeu Notwendigkeit. Aber die
damit gesetzten religiüsen tiedanken sind nur ein kritischer Kanon
atur Ausmitteinng des Religiösen in der empirischen Religion und
zu ihrer Läuterung. Allein der kritische Kanon wird im Handum-
drehen zum Gegensatz gegen alle empirische Religion. Er wird
tum nur gelten, wenn es üicli aus seinem Kern, dem Vemunftglauben^ be-
ständig int-erpretiert. „Die Idee eines Volkes Gottes ist (unter mensch-
Uclier Veranstaltung) niclit anders tüs in der Form einer Kirche auszu-
führen** VI, 198, Ganz deutlich ferner V!, 25R; Reicke 111, 80: ,,Al]e
Religion muss ihr Vehikel haben, ohne welches sie nie eine Kirche aus-
machen wird, welches doch zu ilirer Beförderung und Erhaltung not-
wendig ist/*
*) Vgl hierüu die überaus feine Untersuchung Keglers; bes, S. 35 f.,
aö4 über da8 „Gemüt" und die „Einbildungskraft»', 8.74, D5 t, 114, 279.
KaoUtQdlcD DE. XO
146
E. Troeltsch,
zur Verimnftreiîgpon, im Vergldch iiüt der alles andere grösserer
oder geriiigerer Aberglaube ist und die dereinst völlig rein ahne
jede psy<iiologisclie Beimischung lierrsclieu solL Aus einem Prinzip
der Hektifikation unaustilgbarer Symbole wird er zuïn Glaubens-
artikel der Vernnnftreligion.i) Hierin wurzelt der Schein, der
mehr als eio Schein ist, als ob Kant nur ein fortgeschrittener*
Vertreter des reinen EationalisDUis sei, was er so wenig ist, als '
ein Vertreter des reinen Rigorismus wai*. Der Schein hat seine
Grund in der kritischen Wendung seiner Philosophie, die bei aller
Hindung der Vernunft an die Erfahning doch ein Sieg des Ratio-
nalisnms war, und die in Ethik und Religionsphilosophie zu einem
rein formalen und erfahnuigslosen, aber doch dürftige Inhalte aus
sich hervorbringenden Rationalismus wurde. Trotzdem ist es Dur
ein Schein, Denn da8 kritische Priuzip, eingebettet, wie es ist,
in ein aus der reichsten Eiialirung genährtes Denken, will die
erfahrbare Wirklichkeit nur regulieren und läutern, aber nicht
ei*setzen. Sein Rationalisums ist in Wahrheit nur forma!, und ahes
gelegentliche l'mschlagen in einen inhaltlichen Rationalismus ist
nicht nur gegen das Prinzip, sondern auch gegen die im Ganzen
festgehaltene Praxis des Kantischeu Denkens. Dei' rein formale
Rationalisnius aber enthält überall, und so auch in der KeligioDS-
philosophie , die Voraussetzung einer gemeinsamen verborgenea
Wurzel des Rationalen und Empirischen, Diese Voraussetzung
blickt denn auch überall in der thatsächlichen Ausführung durch,
sie ist aber nicht zur vollen Entialtung gekommen nud mehrfach
in Widersprüchen zwischen einer bloss formal rationalistischen und
einer inhaltlich rationalistischen Behandlung stecken geblieben.
Die hif^rmit hervorgehobenen Widersprüche steigern sich noch,
wenn ^ir von der so in den Individuen behaupteten Einheit des
Intelligibeln und Psychologischen zurückgehen auf deren Einheit
im Ganzen der geschichtlichen Entwickelung. Es ist aus der bis^j
Ï) So sehr scharf Reicke I, 257: ,jDie Theologie miiss endlich Reli-
gion bis Kur Einsicht und Überzeugung des blossen gesunden Menschen-
verstandes bringen; . . ,. sie wird dnmnl dahin kommen müssen, dass jeder-
mann nach seinem blossen Mensch en verstand, da sie einmal da ist, wird
einsehen, sich davon überzeugen und sie wird fassen k5nnen. Da muas
jeder Pimkt, der vielleicht anfünglich zur Intr^iduktion nötig war^ we^
fallen» wenn die Überzeugung von seiner Richtigkeit Gelehrsamkeit (tï, h.
hkiorhthe llferhgungen) voraussetzt.** Doch verlangt auch hier Kant nocl
einen gewissen Anschluss au die Geschichte, um den Vorwitz und die
Hirngespinste zu zügeln.
Das HÎBtorisclie in Kants Religioiisphilosüpliie.
147
herigen Darstellung klar geworden, dass Kants ganze Auffassung
von dem uns bescliäftigeiideu Problem zum guten Teil T^^xirzelt in
seiner überaus eij2:eoaitigeii und gfeistvollen Metaphysik der Ge-
schichte, in seinem Entwickehingsbegriff, der die Vernunft aus
dem psychologischen Triebmechanisnms heraus sich verselbständigen
und ihn sieh mit steigendem Erfolg dienstbar machen lässt, um
damit dann ein noch weiteres HeiTOitreten der Vernunft zu er-
möglichen. Wie in den Individuen die Einheit des Psychologischen
Bnd Intelligibeln letztlich begründet ist in einer metaphysischen An-
schauung, so ist diese Geschichtsphilosophie im Grossen ganz unver-
kennbareineteleologisch-evolutionistischeMetaphyvSik, deren Reizdarin
liegt, dass sie in der Heterogonie der Zwecke trotz aller Einheit doch
die Verschiedenheit von Seelennalur und Vernunft wahrt, und dass
sie dem Triebleben die sündige Opposition gegen die Vernunft
offen lässt Kant hat unter dem Eiufluss der Kritik seine Ge-
schieht sphilosophie zwar auf den Ton gestimmt^ dass sie nur syste-
matische Ordnung oder Gliederung des anthropologischen Stoffes
nach Prinzipien a priori, nach dem Ideal der Freiheit, sei. Allein
das ist nur eine Eioschnürung seines natürlichen, viel reichereo
Gedankens, Dieser geht auf eine Theorie der „Psychogonie" (IV,
475) oder, wie man richtiger sagen würde, der heterogonischen
Eni Wickelung der Gattungs Vernunft. Von diesem Grundgedanken
smd auch alle seine späteren Schriften noch durchdrtingen, und er bat
ihm in der Kritik der Urteilskraft eine neue, dem kritischen Stand-
punkt entsprechende Form zu geben gesucht, die nur eine kritische
Verschleiening der in Wahrheit metaphysischen Position ist. Er
É|l das geistvolle Ergebnis einer immensen Lektüre und seiner
BkftvoUsten Mannesjahre wohl offiziell verleugnet, aber praktisch
immer weiter benutzt und vorausgesetzt Das ist auch nur natür-
lich. Den Konsequenzen seines kritischen Ideatismus, die für sich
allein ihn oft genug an den Rand des subjektiven Idealismus
führen, entgeht er nur dadurch, dass er die Naturwelt und die
Geschichtswelt überall selbstverständlich als Realitäten voraussetzt,
in die das Ich hi neingehe tt et ist, und die es nach seinen notwen-
digen Denkformen beurteilt und ordnet, unbekümmert darum, wie
m überhaupt zu diesen Realitäten gekommen sein mag. Und eben
diese Denk- und Urteilsformen selbst gehen doch erst hervor aus der
iu der Welt sich realisierenden, insbesondere aus der im histo-
rischen Geschehen sich erfassenden, Vernunft; sie gehen hervor
ans der werdenden Natur, deren Absicht in der Selbsterfassung
KT
['roeltscl
ikt
eu J
der Vernimft erst erreicht wird, und die diese Absicht durch den
psychologisch en Associations- und TriebmeehanÎHunis hindurch ver-
wirklicht. Dieser Begriff der Nalur ist freilich nir eine mögliche
metaphysische Hypothese, deren einziger fester Halt der ethisflio
Glaube an eine sinnvolle Einheit der Wirklichkeit und eine von
der Beobachtung des wirklichen Verlaufs ans zu gewmnende Walir-
scheinlîchkeit ist. Zugleich ist dieser Begriff dnrch die Einfiihruiig
des sehr bedentsanieii Gedankens der Heterogonie, durch die Unter-
scheidung der Vernunft von tleni nur Anlass und Heiz, Stützpunkt
und Organisation gewährenden psychologischen Naturgescheheu
vor pantheistischer Zerflossenheit geschützt. Ja» durch die Vei
hindung der Vernunft mit der Freiheit, die hier freilich kaum mehr
im echtPii ti'ansscendentalen Sinne zn verstehen ist, ist der in-
sprüngltch pantheistische und bei Herder nud Goethe stark pantheis-
tiscb entfaltete Begriff der Natur eher einem iuimanenteu Dualismus
angenähert, wie ihn Eut?ken in seinem „Kampf um einen geistigen
Lebensinhalt '* schildert. Und wenn so die metaphysische Einheit
des Psychologischen und dei' Vernunft nicht in einer vitalistischeu
Auswirkung der Weltsubstanz, sondern in der Aufeinauderbeziehuug
zweier in der Erfahrung stets getrennter, sich unterstützender, aber
auch sich bekämpfender Pi'inzipien liegt, dann kann der Weltgruud
selbst nicht bloss als monistische Einheit, sondern nur als schöpferisehelM
Wille gedacht werden, dann ist der letzte mutmassliche x\bsehluss
der Weltanschauung und damit der letzte Untergrund der Gescliichts-
philosophie der Theismus. Es ist hier nicht der Oit, die sehr zu-
sammengesetzte Genesis dieses Kantischen Gedankens zu verfolgen:
das Theodiceeproblem, die psjThologistiscbe Eutwickelöng des Ge-
meinsiirnes um] Rechtes aus dem antagonistischen jrechanisnnis der
Motivation, die englisch-französische Geschichtsphilosophie, seine
eigene originale Giltigkeitkeits- und Notwendigkeitsidee, sein Erei-
heitsbegriff und seine religiöse tirundrichtuug: alles hat an diesem
Gedanken gearbeitet, dem die Kritik der Ihleilskraft eine zweifellos
ihn nicht erschöpfende Form gegeben hat*) Jedenfalls ist dieser
^) Auf Ausgangspunkte im TUeodiceeprobleTn, das ihn zur Aufsuehung
des Sinneis der üe,sc'hichte im Ganzen der Gattung trieb, und dem englischen
Psychol ogi Si m iiü^, der den Triebraechaniünnii* zur Erzeugung dt?s Gattungs-
simies benutzt, weisen die Blätter Reicke t, 296 und 297 über Leibiiix und
Pope hin. Ähnlich Erdmann I 1, S. 2H. Im ührig-en wird sich die Frage
erst bei einer genauen Kenntnis der En t Wickelung des historischen Be-
wusstseins im 18 Jahrhundert beantworten lassen* JedenfaUs ist es die
Das Historische in Kants Relig^onsphilosophie. 149
Evolutionismus die Fortführung und eigenartige Umgestaltung der
besten psychologischen und historischen Erkenntnisse des 18. Jahr-
hunderts, und in ihm wurzelt auch schliesslich seine Grundan-
schauung über das Verhältnis von Religion und Eeligionsgeschichte.
Die religiöse Idee, die bei der völligen Abwesenheit des Gedankens
einer Individualisierung der Idee in ihren grossen geschichtlichen
Bildungen') eine durchaus abstrakt einheitliche ist, beweist sich
durch sich selbst, durch ihre eigene, subjektiv verpflichtende
Notwendigkeit und AUgemeingiltigkeit, durch ihren Charakter als
praktischer Vemunftglaube. Aber diese Idee wird in ihrem
Hervortreten und ihrer Durchsetzung durch den psychogonischen
Prozess der Geschichte sehr wesentlich bedingt. Sie fordert
gewisse psychologische Entwickelungen und Reize, um hervor-
treten zu können, und bedarf dann der konkret -symbolischen
Gestaltung durch die Phantasie, der Belebung und Verkörperung
Gedankenmasse, die von Hume, Gibbon, Robertson, Adam Smith, Voltaire,
Montesquieu, Turgot und Rousseau ausgeht, und die mit dem längst entdeckten
Begriff der Entwickelung hier den der Freiheit zu vereinigen sucht. Dass
das dann freilich eine evolutionistische Metaphysik der Geschichte dar-
stellt, ist nicht zu leugnen; aber das ist nur für den befremdlich, der in
der Kritik den Ausgangspunkt und nicht den Höhepunkt des Eantischen
Denkens sehen will, von dem aus er nur sein bereits erworbenes Wissen
neu organisiert. Die Betonung der Metaphysik in Paulsens „I. Kant" 1898
scheint mir in der That sehr berechtigt; Vaihinger sagt in der Abhand-
lung „Kant — ein Metaphysiker?*' (Philos. Abhg. Sigwart gewidmet 1900)
nur mit stärkeren Kautelen im Grunde doch dasselbe. Dem Satze Paulsens
(S 238) „Man kann vielleicht sagen, dass Kant von allen Grundanschauungen
zur Theologie, Psychologie und Physik, wie sie in den vorkritischen Schriften
vorliegen, nicht einen einzigen hat fallen lassen. Die meisten finden sich,
nur mit veränderten Vorzeichen, in den kritischen Schriften wieder" möchte
ich in Bezug auf die Geschichtsphilosophie zu versieh tlicli zustimmen. Dass
das auch für den mit der Geschichtsphilosophie eng zusammenhängenden
theistischen oder panentheistischen Gott-esbegriff gilt, zeigt die höchst
interessante Stelle Reicke 11, 236 ff. : Epikur ist mit seinen eigenen Waffen,
d. h. dem Begriff der natürlichen Entwickelung überwunden.
>) Wo dieser Begriff in die Geschicht«philosophie eingeführt wird,
da wird naturgemäss der innere Zusammenhang des Psychologischen und
Int^lligibeln sehr viel enger und ist die Wiederauflösung der Verbindung
sehr viel weniger in Aussicht zu nehmen, als das bei Kants abstrakter und
spröde sich aussondernder Vemunftidee der Religion der Fall ist; freilich
ist dann auch die apriorische absolute Geltung eines religiösen Inhaltes
weniger gesichert-. Vgl. meine Schrift „Die Absolutheit des Cliristentums
und die ReligioiKSgescliicht<*" 1902 und meine Aufsätze „Was heisst Wesen
des Christentums" in der „Christlichen Welt" 1903.
ur-
I
150 K TroeHsch,
in einer urbildlielieu Persönlichkeit, iJer Befesti^unf^: uii«l Fort-
pflauzuiig in einer kultischen Orj^anisütion der Relig-ion oder Kirche.
Dabei ist es die Aufgabe, den Symbolismus mit der fortschreitenden
wisseusehaftliehen Einsieht in seinen Synibolcharakter immer reiner,
bewnsster und strenger zum AusUnink der Idee zu machen» Das
aber ist mojsriich nur im Christentium, das in der Person Jesu eini
gi'ossartijs: reine ^'erkörpernnf;: der roligiüsen Idee hat, uud das
daher die Krisis eines wissenschaftlichen Zeitalters übei-stehew
kann, wenn es seine von kultnrhiseo Massen geformte und von kultur-
losen Zeitaltern weiter bearbeitete Kirchenform zur Reinheit di
Sinnes Jesu emijorläutert. Was aber in tausend Jahren s(^
möge, das vermag niemand zu wissi^i, und darum brauchen wir ims
nicht zn sorgen. Wir haben uns an das Cliristentum zu halteu»,
und es ist tTcnng, dass Jedes Jahrtausend seine eigene iSorge habe.
Was heute Wahrheit ist, kann ja nie völlige Unwahrheit werden,
und das Christentum muss unter allen Umständen ein hervor-j
ragender Punkt in der Manifestation der göttlichen Welteutwicke^
hing oder der Vorsehung sein. Dafür bürgt der Theismus der
geschichtsjihilosophisehen Betrachtung. Dieser Theismus selbst be-
ruht auf einer axioniatischeo iiersönUcheu W^eltanschauung, die in
ihrer Deutting der Welt aus den WVrten des persönlichen Lebens
oder der Freiheit dem t 'hristentiim verwandt ist uud für Kaut aus
ihm ent-spraug. Er sichert eben deshalb eine Auffassung der ge-
schichtlichen Gesam tent. Wickelung, die im Christentume eine die
höchste Vernunftnotwendigkeit und empirische Aktualisierung ver-
einigeiiile Manifestation des verborgenen Weltgrundes anerkennen
muss. Aber freilich steht diese Entwickelungslehre in einer un-
überwindlichen Spannung zu der Grundidee der Kritik. Der aus
dem unerkennbaren Grunde die Vernunft uud das Thatsächliche
hervorgehen und beides in immer neuem Kampf sich durchdringen
lassende Evolutionisnius ist nicht zu vereinigen mit dem streng^
bewusstscins-immanenten Ausgangspunkt der Kritik, mit ihrer B]iu-
schränkung der Zeit auf die Phäuomenalitat mui ihrer blossen
Parallelisierung der iutelügibeln Freiheit und phänomenalen Kau-
salität. Fis mögen das Schwierigkeiten sein, die unüberwindlich
in allem menschlichen Denken liegen. Aber sie dürfen nicht über-
sehen und nicht wegretouchieil: werden, wenn das Problem des
Verhältnisses von Idee uud Geschichte klargestellt werden soll.
Der blosse Rückzug auf die „systematische Idee der Geschieht^**
würde den vollen Sinn nicht erkennen lassen, den Kants Arbeit
A
Das Historisrhp in Kfiiits Beligionsphilosophie.
161
an einet Vei*söhnuDg des Ideelleii imd Historischeu in der Beli-
flgion hau
Nur weim mau alles das ziisaiiimerifasst, versieht niaü die
bekannte Kantische Formel über die BedeiUuurr ii^r Geschichte
für die Religion richtig. Kant imterscheidet den Keligionsglauben
vom Kircheuglaubeu.i) Der Religioüsglaulve alleia hat imbcdiügie
\Vatu"heit, Giltigkeit und Notwendigkeit und nniss mit allem Histo-
rischen uiiverworreij bleiheu, soweit es sieh um den Beweis für
seine Wahrheit handelt. Der Kirchenglauhe dagegen enthält zu-
fällige, lïioiuentan und örtlich bedingte Eigeotümlidikeiten, ist
psychologisch und gehiul. vom Statuipuukt der Vernunft xn den
„Adiaphora"*. Aber deswegeu besieht doch nicht zwischen beiden
ein Verhältnis der Ausschliessung, sondern ein Verhältnis der
inneren Aufeinanderbeziohuug. Der reine» seine tjiltigkeit
nur in sich seihst tragende Veruuuftglauhe bedarf zur bistorischeu
Wirksamkeit des Kirchenglauhens als Vehikel, und der Kiichen-
glaube geht unbewusst aus der im Psychologischen vvirkendeu und
in ihm sich gestaltenden religiösen Vernunft hervor. Daher gilt
es richtige Einkleidung des Vcrnuuftghiubens und richtige Auslegung
des Kirchenglanbens. Die kürzeste nnd schlagendste Formel, die
Kanl diesem Gedanken gegeben hat, findet sich auch hier auf
einem losen Blatt: „Das Historische dient nur zur Illustration,
üicht zur Demonstration" Reicke 1(1,66, Mit Lessings berühmtem
Satze, dass „zufällige Geschichtswalirheiten nie der Beweis von
notwendigen Vernnuftwabrheiten werden können**, ^) hat Kant das
Motiv gemein. Kant und Lessing und alle Männer der modernen
ReUgionsphilosophie, die die heilige Geschichte historisch-kritisch
haben liehandelu lernen, haben zugleich die notwendige Konseijuenz
erkannt, class dann auf eine solche Geschiebte sich nicîit mehr die
Geltung des religiösen Glaubens begründen lasse. Das war nur
möglich, solange diese Gescbichle durch das Wunder zu einem
direkten Hereinragen der übersinnlichen Welt gemacht und aus
*) Kants Äusseningen shid sein- zahlreich und auch durchaus bis auf
die Worte ttbereinstimmend, aber selten zu kurzer Fonnel geprägt, vgl.
VI, 212, 256 f., 262, 28Ü f., Vil, 361, 367, 363 L, VI, 479; sehr interefiÄant
ist der Brief an Lavater 28. IV. 1778 Briefw. I, 167 ff., an Mendelsohn
über sein „Jerusalem" Briefw. L S2b, an Bahrdt I, 453, an Juii^ II, 10;
nicht minder interessant sind die Stell ujignahui en der Korrespondenten
zu dieser Lehre, die von begeisterter Zustimmung zu vermittelnder An-
nähme und heftig-er P<ilemîk gehen.
m
11
152 E. Troeltscli,
der wirklichen Geschichte Yöllig herausgehoben war, Sobald ab*
die heilige Geschichte in den Strora der Geschichte hineingestellt
\iird, \\ird sie etwas Relatives und Bedingt<-s und kann nicht mehr
der Beweis für absolute \^'ahrheiten sein. Alle Unsicherheit histo-
rischer Foi^chung und alle Bedingtheit geschichtlicher Erschein
ungen geht dann auf den religiösen Glauben selbst über. Das h;
Katit in klassischer Weise auch gegen Herders ,.Älteste Urkunde'
geltend gemacht, die versuchte, mit Historie das tlberhistorisch*
zu beweisen,') Alles das ist nicht die typische Tendenz d
Ration alisnuis, sondern die notwendige und selbstverständliche
Folge der Historisierung der heiligen Geschichte. Das ist keiji
Mangel an historischem Sinn, sondern im Gegenteil ein seh^^
fernes Gefülil für die Wirkung des historischen Denkens aaf abso-
lute Wahrheiten. Lessing ist dann freilich von hier aus den ty-
pisch-rationahstischen Weg gegangen, die Vernnnftreligion überhaupt
und unbedingt von der Geschichte zu emanzipieren^ indem er au
die Lockesche Erziehung des MenschcDgeschlechtes durch Anteci-
pation der Vernuuftwahrheit die Erwartung des evangelium aeter-
num knüpft» wo die reine Veniunftreügiou ohne jede historische
Stütze und Beimischung rein aus eigener Kraft die Gemüter er-
füllen wird. Dass er sie hierbei pantheistisch und gefühlsmässi
belebt, ändert an deui reinen Rationalismus des Gedankengang
nichts, Kant dagegen nimmt prinzipiell nur die Befreiung des
Beweises von aller Historie in Aussicht, nicht aber die des Lebens
der Religion selbst. Für ein historisch-denkendes Zeitalter giebt
es nur den inneren Selbstbcweis des Glaubens, aber andererseits
doch auch das tiefe Verständnis für die Bindung alles religiöse]
Lebens und aller religiösen Kräfte an die historisch -psychologische]
Realisationen der Idee. Der auch hei Kant verbleibende Resi
des Rationalismus besteht (abgesehen von den Abirningen zu einer
platonisierenden Geringschätzung und Abscheiduug des Sinnlichen)
in der Fassung der Idee selbst, die für ihn zwai' nm^ in den
Formen des Bewusstseins begründet und daher jeder thatsäch*^
liehen Ausfüllung an sich fähig ist, die ihm aber in Wahrheit doch
zu einem abstrakten allgemeingiltigen Inhalt der Religion wird,
und die er als in den grossen geschichtlichen Bildungen sich inner
Uchst individualisiereud nicht zu denken vermag. 2) Dafür ist
LUS
]
») Vgl. Briefw. I, 187 f. an Hamann 8. l\\ 1774.
*) Dieser Rest von RationalisHins isit auch hei Schleiermacher und
Hegel nicht überwunden. Die so redsehge Schleiermacher-Litteratur hätte
É
Das Historische in Kants Religionsphilosophie. 153
seiner Geschichtsphilosophie der Gegensatz des Rationalen oder
Geltenden gegen das Psychologisch-Thatsächliche doch zu spröde
and liegt seinem ganzen Denken der Begriff des Individuellen viel
zu ferne.
Es ist nicht die Absicht dieser Abhandlung, die Kantische
Lehre über das Verhältnis von Religion und Geschichte zu kriti-
sieren. Es galt vor allem einmal, sie zu verstehen. Dass das
bisher noch nicht im vollem Umfang geschehen ist, zeigt ein Rück-
blick auf die am Anfang charakterisierten Darstellungen von
Kants R«ligionslehre. Kuno Fischer hat zwar mit vollem Recht
üire Beziehungen zur Geschichte prinzipiell als charakteristische
Aa Wendung des Kantischen Entwickelungsbegriffes bezeichnet; aber
in der Darstellung der Religionslehre selbst lässt er sich viel zu
stark durch die exoterischen Elemente des Hauptwerkes bestimmen
üad lässt damit einen ungelösten Widerspruch zwischen ihm und
der Kantischen Entwicklungslehre stehen. Pfleiderer bindet sich
zwar weniger an das Hauptwerk; aber auch er durchschaut den Kom-
promiss-Charakter der angeblichen KantischenOff enbarungslehre nicht
fenügend und hat andererseits zu wenig umfassende Anschauung von
Kants Geschichtsphilosophie, um die Zusammenstimmung dieser mit
dem Hauptwerk zu empfinden. Schweitzer und Sänger lassen die
Wstorischen Elemente völlig bei Seite liegen und vermehren damit
den irrigen Eindruck, als dürfe die Kantische Religionslehre ohne
prinzipielle Beziehung zur Historie gedacht werden. Von den theo-
logischen Kantianern vollends wird nunmehr gänzlich klar sein,
^e weit sie aus dem für Kants Denken wesentlichen historischen
ßvolutionismus und damit aus den von Kant klar erkannten Vor-
raussetzungen des historischen Denkens überhaupt herausgehen.
*^le die Beteiligung historischer, insbesondere religionsvergleichen-
^^r, Erwägungen an der Religionsphilosophie der Aufklärung über-
*^aiipt gerne unterschätzt wird, so hat sich gezeigt, dass auch für
^Hut eine solche Unterschätzung üblich ist. Kants Lehre nimmt
^^gativ und positiv zu einer univei'salen, wenn auch noch sehr
'Mageren, Religionsgeschichte Stellung. Die P^insatzpunkte für die
f^tik treten dabei von selbst zu Tage. In der Hauptsache aber
^^t eine Kritik nicht nötig. Hier liegt alles völlig klar und
^Wingend. Kants Lehre ist weit entfernt von dem ihr gewöhnlich
^^ Schleiermachers Geschichtsphilosophie ein äusseret wichtiges und lelir-
*^iches Thema, von dem sie sich bisher stets sorgfältig fern gehalten hat.
154 E. Troe lisch, Das Historische in Kants Religionsphilosophie.
zugeschriebeuen geschieh tsloseu SiDue, sie zieht vielmehr geradezu
die Konsequenz der beginnenden Historisiening des menschlichen
Denkens und der Einverleibung der heiligen Geschichte in die all-
gemeine Religionsgeschichte. Es ist der Bruch der modernen
Welt mit dem auf der urchristlichen Apologetik beruhenden Wissen-
schaftssystem des Katholizismus. Wer diesen Bruch vollzieht, wer
die Quasi-Historie des Wunders aufgiebt und die reale Historie
der Kritik und analogischen Rekonstruktion anerkennt, für den
bleibt nichts anderes übrig als die Ausarbeitung und Vertiefung
des Kantischen Satzes : „Das Historische dient nur zur Illustration,
nicht zur Demonstration."
Immanuel Kanis philosophisches Vermächtnis.
\ Gedeiikblatt zum hmulcrtjährigon Todestag ilos Philosophen.
^L Vtm F. He m an in BaseL
Als Kant am 12. Fehniar 1804 seine Augeo scliloss» schien
schon seit einer ßeih«* von Ji^hren seinen Rnhm liherlebt zu
)en. Mehl allein, dass Kant schon seit fünf Jahren alter öffeut-
leD Thätigkeit hatte entsagen und atif alle berufliche Wirksam-
t hatte Veracht leisten müssen, sondern Andere, Jüngere, waren
getreten» die mit der Verwegenheit, dei" Jugend noch zu seinen
iizeiten ihü und seine Philosophie für veraltet und abgethan er-
rten, mit dem Lorber seines Ruhmes ihre Stirnen schmückten
l ihn und seine Philosophie nur noch als Piédestal ihrer eigenen
isse woUteu angesehen wissen und gelten lassen. Und ilie
«se Menge war ihnen gefolgt; sie hatten es ja verstanden, die
*l>e Schärfe der kritischen Philosophie durch ausgiebigen Miss-
.neh ihrer produktiven Einbildungskraft in l>ei'auschend süssen
ktÄi" umzuwandeln, durch den die Sterblichen au Erkenntnis und
ssen den Göttern gleich zu machen, sie ruhmredig sich an-
schig machten. Als Kant starb, schien auch seine Philosophie
tgiltig mit ihm t>egraben zu werden.
Und in der That, ein Menschenaltfr hindurch steigerte sich
ner ärger der TaunuVl des absolnteu Wissens bis zur Selbstver-
terung der Pliilosophie und ihrer Koryphäen; kein Mensch
^hte mehr an den bescheidenen Kant oder wollte sein Wissen
die engen Sclu*anken des Kantischen Kritizismus bannen lassen.
ar brach jählings dann das Erwachen herein und alle Denken-
i waren wie aus den Wolken gefallen, als sie die hochgernhmten
Sterne Ihrer Philosophen vor der Macht der Thatsachen» welche
Naturforscher ins Feld führten» wie Spinngewebe zerreissen
en. Allein es dauerte noch eiînnal ein Menschenalt^^r, bis nmn
reuigen Einsicht in die Ursache der verfehlten EntwickeUmg
ir>(î
F. Hem an,
kaiîL Ihi t'iitUirh im Anfaiiß" tier serhziger Jahro des rorigt^n
.Fahrhïiiiilints ertönte immer lauter und lauter der Ruf: Zuriict
zu Kant! Es war ein triiter, heilbringender Knï dei* Selbstbe-
sinnung,
Man grub ihn und seine grossen Werke aus dein Grab ihrer
Vergessenheit wieder aus; es entstand ein freudiges und eifriges
Kantstudium. Jetzt erst wurde Kant der eigentliclie Schulpbilo-
soph der Dent.schen, der Meister und Lehrer aller, die auf philo-
sopliisehe Kenntnisse Anspruch machten. Man hegte allenthalben
die besten Hoffnungeu und Erwartuogen einer neuen Blütezeil
der Philosophie; die Veraditung, in welche einst Kants spekulativ*
idealistische Nachfolger die Philosopliie gestürzt hatten» sollte ei«
Kiide nehmen und ein neues Zeitalter der Glorie anbrechen.
Allein trotz allem Eifer und aller Mühe wollte keine der
Hoffnungen in Er-füllung gehen. Zwar rühmteu Einige, wir ver-
stünden heute Kant besser, als er sich seiner Zeit selber ver-
standen habe; es erschienen grosse und glanzende Darstellunj2:en
der Kantischen Philosophie, eine ganze Flut von Monographien
über einzelne Teile und Punkte seiner Philosophie traten zu tage,
aber die Philosophie selber verblieb in dem wirren, trostlosen Zu-
stand, in den sie gestürzt war. Ja, trotz allen Anstrengungen
schien durch die Ungunst der Zeit ihr gänzlicher Verfall nicht
verhütet werden zu können. Selbst einige Kantianer glaubten
durch Kant genötigt zu sein, die Philosophie auf diiiTe und
uufruchthare Erkenntnistheorie reduzieren zu müssen. Es eut*
standen nicht nur endlose Streitigkeiten über das Verständnis
und die Auslegung der Kautischen Philosophie, sondern auch,
w^as noch viel schlimmer war, über die Möglichkeit, die Berech-
tigung und den F^egriff der Philosophie selber. Man stritt der
Philosophie das Recht der Existenz ab im Namen der Kantischen
Kritik. Manche kehrten daher auf den Humeschen Staudpunkt
des Skeptizismus zurück, von dnrn ja doch Kant die l^hilosophie
hatte befreien wollen. Andere warfen sich dem Positivismus in die
Arme. Aber dennoch waren diese eifrigen Kantstudien nicht um-
soîist. ThT Sinn für echte, die Probleme piinzipiell bchandelndt*
Philnsoidiie wurde dadurch während der traurigen Zeit der mate-
riaUstischen Hochflut iu Deutschland wach und rege gehalti^n.
Der Neukantiauisnuis hat das grosse, nicht zu unterschätzende
Verdienst, den Zusammenhang der philosophischen Entwickeliuig
in Üeut.schland gewahrt und das Erlöschen rein philosophischen
Immanuel Kants philosophisches Vermächtnis. 1Ö7
Denkens verhütet zu haben, sodass Deutschland seinen Ruhm be-
hielt, die Pflegestätte der Philosophie in Europa zu sein. Dies
Verdienst bleibt ihm unbestreitbar, obwohl es ihm damals noch
nicht gelang, dui-ch die Wiedererneuerung Kante die Philosophie
selbst auf eine neue, höhere Stufe zu erheben und eine neue Epoche
derselben zu inaugurieren.
Wir haben zunächst zwei Fragen zu beantworten:
1. Warum irrten Kante direkte Nachfolger so weit von Kant
ab, dass seine Philosophie in Vergessenheit geriet?
2. Warum hat die Erneuerung der Kantischen Philosophie
noch nicht ihr wirkliches Ziel erreicht?
Dann wollen wir das betrachten, was Kant selber in den
allerletzten Jahren vor seinem Hinscheiden uns noch als Weg-
leitung für eine künftige Entwickelung und Weiterbildung seiner
Philosophie, als der Philosophie selbst, hinterlassen hat; es ist
Kante philosophisches Vermächtnis an die Nachwelt, an uns, auf
die es gekommen ist.
I.
In bezug auf die erste Frage können wir kurz sein und
brauchen nur an Bekanntes zu erinnern. Der Punkt in Kante
Philosophie, der Fichte zum Sprungbrett diente, um kurzweg über
Kante ganzes System hinwegzukommen, war „das Ding an sich".
Schon Änesidemus-Schulze hatte das Ding an sich für einen
Widerspruch in der Kantschen Erkenntnistheorie erklärt. Wenn es
unerkennbar ist, dann ist auch nicht erkennbar, ob es nicht doch
auch Ursache der Form unserer Erkenntnis ist und nicht bloss
des Stoffes unserer Empfindung. Auch machte Schulze schon da-
rauf aufmerksam, dass sich Kant von Berkeley nur dadurch unter-
scheide, dass er noch unberechtigter Weise Dinge an sich als
ausser uns annehme, während Berkeley nur Geister und ihre Vor-
stellungen oder Ideen kennt. Ziehe man bei Kant die Selbst-
täuschung mit dem Ding an sich ab, so bleibe nur Hume und
Berkeley übrig. Auch Maimon machte geltend, dass es unmöglich
sei, dass ein ausser unserem Bewussteein befindliches Ding in
unserem Bewussteein rot, süss, sauer bewirke. Als Erkenntnis-
prinzip bleibe einzig unser Bewussteein übrig. So wenig aber der
Stoff der Empfindung aus dem Bewussteein könne abgeleitet wer-
den, so wenig könne das aus dem Ding an sich geschehen. Aus
158
F. Heraan,
(Ifrii Ding- an sich lasse sich die Empfindting und ihr Stoff in
keiner Weise erklären. Es habe ja gar keine metaphysische Rea-
lität, sondern sei wirklich mir ein Grenzhegriff. Das sei die wahre
und kouseifiiente Theorie der Kritik d, r, W Mainion forderte,
dass Kants Theorie als voller und ganzer Idealismus niiisse auf-
gefasst werden. Auch S!g:ismund Beck, nächst Reinhold, der be-
geistertste und einsichtsvollste Anhänger Kants, den dieser selbst
mit einer Erläuterung seiner Philosophie beauftragt hatte, glaubte
Kants Theorie nicht anders verstehen zu können als im Sinne
des vollen Idealismus, in dem das Ding au sich keinen Platz hat.
Unter der Voraussetzung, das Ding an sich bedeute etwas Wirk-
liches, bleibe die ganze Kritik d. r. \. unverständlich. Das Ding
an sich soll unvorstellbar sein, aber stelle man es als Ursache
des Empfindungsstoffes vor, so werde es ja doch vorgestellt. Beck
meint, die Kritik d. r. V. rede nur die Sprache des Realismus um
des Verständnisses willen, weil dies die natürliche Denkart sei;
aber Alles laufe doch auf die Behauptung hinaus, dass nur
Erscheinungen und Vorstellungen existieren, und desivegen
sei die Zusammenstellung Kants mit Berkeley vollkommen zu-
treffend.
Es nutzte nichts, dass Kant diese Ausdeutung seines Phäno-
menalismus iu absoluten Idealismus für „hyperkritisch** erklärte;
auch seine Erläuterungen und Zurechtstellungen in der zweiten
Auflage der Kritik, zusamt seiner geharnischten Erklärung
gegen den Idealismus darin, fanden weder Glanbeu noch eingehende
Beachtung. Im Jahre 1793 war bei allen Anhängern Kants ebenso-
sehr, wie bei seinen Feinden ausgemacht, Kants Theorie habe nur
Sinn, wenn sie rein idealistisch aufgefasst werde, und das „Ding
an sich" sei im W^iderspruch mit der recht verstandenen Theorie.
Man glaubte es einfach nicht, dass Kant kein reiner Idealist sei
und hielt alle Proteste Kants für blosse Ausflüchte und für Ac-
commodation an die populäre Meinung. Daher konnte Fichte im
selben Jahr 1793 sich dahin äussern, die Kritik d. r. V. würde
eher für das Werk des sonderbarsten Zufalls zu halten sein, als
für das Werk eim^s Kopfes, wenn man das Ding an sich nicht für
eine blosse vorläufige Annahme in der Kritik halte und wenn
man den entschiedensten Idealismus der Kritik mit dem gröbsten
Dogmatismus des Dinges an sich zusammenstelle und verunstalte.
Als Kant 1799 dagegen remonstrierte, scheute sich Fichte nichts
hu einen ,,Dreiviertelskopf" zu schelten.
I
e» Vermachtîii».
Die Grundlage und der Ausgangspunkt der nachkantischen
Philosophie ist also die reiu idealistische Auffassung der Kantisclien
Kritik. Die FortentiivickeluDg stützte sich nicht auf das ganze
System in seiner Totalität, sondern auf ein einzelnes Stück der
Kautischen Philosophie, das überdies noch, ohne Berücksichtigung
des oftmaligen Protestes Kant-s, nicht im Kantischen Sinn aufge-
fasst und ausgelegt wurde.
Freilich, wenn mau die ganze Philosophie Kants rein idea-
listisch interpretiert und den Wortlaut der ersten Auflage der
Kritik der r, \. im Gegensatz zu Kants eigenen Erklärungen zum
Kriterium des ganzen Kantischen Systems macht, dann allerdings
mass die Weitcrentwickelung die Richtung Fichte, ScheUing, Hegel
einschlagen. Fichte, Schelliug und Hegel wären unmöglich ge-
wesen, weun man nicht Kaut rein idealistisch aufgefasst hätte,
und wenn man nicht gemeint hätte, dadurch ei*st komme der Kau-
tische Kritizismus zur strikten Kouse(iuenz. Kant hat bis au sein
Lebensende dagegen protestiert. Aber mau hatte Kant, noch be-
vor er gestorbeu, zu den Toten gelegt, und so konnte man nach
Herzenslust im extremsten Idealismus schwärmen und fhegeu und
die exorbitantesten Systeme ans Licht fördern, und konnte dennoch
meinen, auf dem von Kant geschaffenen Boden zu stehen.
Die Exstii^*ation des Dinges an sich bedeutet also die Um-
wandlung der Kautischen Erkenntnistheorie in reinen und piu'eu
Idealismus. Dies entsprach aber durchaus in keiner Weise den
Absichten Kants bei Aufstellung seiner Erkenntnistheorie.
Bei der totalen Verkennung seiner Absichten und dem allge-
meinen Missverständnis, dem seine neue Theorie ausgesetzt war
durch ihre Umdeutung in puren Idealismus, fühlte Kaut das Be-
dürfnis, sich über die innere Entstehungsgeschichte seiner Kritik
ausführlich in der Vorrede zur zweiten Auflage auszusprechen.
Hier giebt er uns deutlichen Aufsclünss über die innersten Motive
und Gründe^ über die Absichten und Zwecke, die ihn zur Aufstel-
lung seiner so durchaus neuen Theorie des Erkennens geführt
haben. Er thut es, um darzuthuu, dass keinesw^egs die Aufstellung
eines puren Idealismus zu diesen Motiven und Zwecken gehört
habe, vielmehi* werde dadurch „zuletzt auch dem Idealism uud
Skeptizism seihst die Wurzel abgeschnitten werden/ 1) Sein
Motiv ist der verworrene Zustand der Metaphysik der theoretischeu
») Kants Kritik der reinen Venuinft. Ed, Kehrbach, 2, Aufl. S, 28.
F. Hcman,
Philosophie, die noch nicht, wie die Loß^k, die Mathematik und
die Naturwissenschaften, „üeu sichern Heeresweg der Wissen-
schaft" gefunden hahe> sondern immer gleich „ins Stocken ge-
rate**, noch „keine Einhelligkeit ihrer Anhänger*" besitze, sondern
„ein KaiDpf platz sei, der ganz eigentlich dazu bestimmt zn seio
scheint, seine Kräfte im Spielgefechte zu üben**, ^) Als Grund,
waruni die andern Wissenscliaften iri gutem Znstand und Fort-
schritt begriff en * seieu, giebt Kant an» dass mau auf Logik uüd
Mathematik von Alters her, auf Naturwissenschaften seit Oalilei
den (Truudsatz augewendet habe, ,.(]ass die Vernunft nnr das
einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervor-
l>riugt, dass sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen
Gesetzen vorangehen und tlie Natur uutigen müsse, auf ihre Fragen
zu aiitwurtcn, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leit-
bande gängeln lassen müsse, denn sonst hängen 'zufällige, nach
keinem vorher entwurfeuen Plane geumchte Beohachlungen gar
nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die
Vernunft sucht und bedarf,"*)
„Woran hegt es nun, fragt Kaut, dass für die theoretische*
Philosophie, die reine Vernunft Wissenschaft, noch kein sicherer
Weg der Wissenschaft hat gefunden werden können? Ist er etwa
unmöglich*:? Woher hat denn die Natur unsere Vernunft mit dvr
rastlusen Bestrebung heimgesucht, ihm als einer ihrer wichtigstcu
Augelegenheiten nachzuspüren? Noch mehr, wie wenig haben wir
Ursache, Vertrauen in unsere Vernunft zu setzen, wenn sie uns in
einem unsrer wichtigsten Objekte nnserer Wissbegierde nicht bloss
verlässt, sundi^rn durch Vorspiegelungen hinhält und am Ende be-
trügt? Oder ist bisher der Weg nur verfehlt? Welche Anzeige
konneu wir benutzen, um zu hoffen, dass wir glücklicher seio
werden, als andere vor uns gewesen sind?"^)
Kants Antwort ist, die Metaphysik muss die Beispiele din^
Mathematik und Naturwissenschaften nachahmen und jenen
Grundsatz, dem diese folgen, auch auf sich anwenden: die Ver-
nunft sieht nur das ein, was sie selbst nach ihrem EuU
wurf hervorgebracht hat. 1
Und w^as folgt aus diesem Grundsatz für die Theorie unserer
Erkenntnis der Pinge? Kant sagt es deutlich : „Bisher nahm man
I) Ebenda S. 16.
8) Ebenda S, 16 f.
*) Ebenda S. 17.
Immanuel Kants philosopldsches Vermächtnis,
161
an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen
richten ; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe
auszumachen y wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen
unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher
einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik da-
mit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegen-
stände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten/
Kant war also zur Einsicht gekommen, dass unsere Erkenntnis
der Dinge durchaus bedingt sei durch die Prinzipien unserer
Vernunft, durch die Organisation unseres Bewusstsems, durch
die Form und Wirkungsweise unserer Erkeuntuiskräfte. Er
konnte das so ausdrücken: unsere Erkenntnis der Dinge richtet
sich nicht so sehr nach den Dingen; als vielmehr nach den trans-
scendentalen Bedingungen des erkennenden Subjektes. So kam
Kant auf die originale, bisher noch vou Niemand entdeckte Idee,
die im Subjekt liegenden Erkenntnisbedingungen aufzusuchen und
nachzuweisen, dass alle uusei-e Erkenntnis der Dinge sich inner-
halb dieser Formen unseres shinlichen und vernünftigen Erkennt-
nisTermögens bewege und deren Grenzen nie überschreiten könne,
Kant hat darum ganz recht, wenn er sich in dieser Hinsicht
mit Copernicus veiglcicht und sagt: „Es ist hiermit ebenso, als
mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem
m mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort
wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um
den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte,
wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in
Ruhe liess. Tn der Metaphysik kann mau nun, was die Anschau*
UDg") der (Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen.
Wenn sich die Anschauung nach der Beschaffenheit der Gegen-
stände richte!) müsste, so sehe ich nicht ein, wie man a priori
vou ihr etwas wissen könne, richtet sich aber der Gegenstanii {als
Objekt der Sinne) nach dt^r Beschaffenheit unseres Auschauuugs-
vermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vor-
stellen*** Dasselbe gilt vou der Verstaudeserkenntnis der Gegen-
stände durch Begriffe, Richten sich die Begi*iffe der Dinge
auch nach den Dingen, dann sind wh^ wiederum in derselben Ver-
legenheit wegen der Art, wie wir apriori etwas davon wissen
können, nehmen wii* aber an, die Gegenstände, oder welches einer-
*) Von Kant ôclion ausdrücklich imterstrichen*
lUutotudien IX,
162
P. Heman,
er- J
im
an '
lei ist, die Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene
Öegenstände) erkannt werden, richte sich nach unsern Begriffei
so sehen wir sofort eine leiühterri Auskunft, weil Erfahrung selhsi
eine Erkeuntnisart ist, die Verstand erfordert, dessen Regeln ich
in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, niitiiiu a priori
voraussetzen rauss, und nach denen sich also alle Gegenstände der
Erfahrung notwendig ricbten müssen. Die veräudeite Method*^
der Denkungsart besteht also dai"in, dass wir näniUch von den
Dhigen nur das a priori erkennen, was wir s^^lbst. in sie legen.*)
Beachten wir Kants Vergleich mit Copernicus genauer, daiui
werden wir Kants Tendenz, Zweck and Absicht ganz klar ver-
stehen, Gopernicus hat die Eigenbewegung des Sternenhinnneli
der Fixsterne, der Sonne und der Planeten durchaus nicht leugnen
wollen, vielmehr wollte er nur sagen, wenn wir diese ihre Be-
wegungen richtig erkcTinen wollen, dann tniissen wr zuerst imserr
eigene Bewegung, d. h. die Bewegung der Erde erkennen und für
die Bewegnng des SternenhimmelK in Betracht ziehen. So hat
nun auch Kant „durch die veränderte Methode der Denkungsart"
weder die Existenz noch Realität dvr Dinge leugnen und aufliebeoÄ
wollen, sondern hat nur gefordert, dass wir bei der Erkenntnis
der Dinge vor allem und in erster Linie unsere, uns eigentümlichen
Formen der sinnlichen Anschauung und des begrifflichen Denkens
in Betracht ziehen müssteu. Die Existenz und die Realität der
Dinge sollt4?n wü' „in Ruhe lassen**, wie Copernicus die Be-
wegungen des Sternenheeres vorläufig „in Ruhe Hess**, um die^
Bewegungen der Erde in ihrer Beziehung zum Steruenheer zu eilfl
foi^chcn. Deswegen hat auch Kant oft genug erklärt, dass er
den Bestand und die Wirklichkeit der Dinge, ihre empirische
Realität durchaus nicht leugne und aufhebe, dass er die Phäno-
menalwelt durchaus nicht zu einer blossen Scheinwelt degradiei-en
wolle, sondern nur aufzeigen wolle, wie viel von unserer Erkenntnis
dieser nicht bloss realen, sondern sogar empirisch realen Welt auf
den transscendeutaleu Bedingungen unseres Erkenntnisvermögens
beruhe. Er wollte zeigen, wie unsere Erkenntnis dieser empirisch
realen Welt bedingt sei, abhänge und erklärt werden müsse aus
der Einrichtung unserer Sinnlichkeit und unseres Denkvermögens.
Dieser transscendeutale Idealismus (eine vieldeutige und
unglücklich gewählte Bezeichnung seiner Theorie) ist aber j
1) Ebenda S. 18.
Immanuel Kants philosophisches Vermächtnis.
163
btzlich himmelweit verscliieden vom eigentlichen und gewöhnlichen
d. h. psychologischen Idealisnins. Aber Kants Zeitgenossen und
Nachfolger haben diesen trausseendenUilen Idealismus Kauts immer
wieder trotz aller Proteste und Erklärungen Kants mit dem psy-
chologischen verwechselt und darnm Kant zum reinen und blossen
Idealisten gestempelt und auf seine vermeintlich ideahstische,
dem Berkeley verwandte Theorie des Erkenuens idealistische
Systeme erbaut
Ferner hat man seither imuier gänzlich ausser Acht gelassen,
dass an dieser wichtigen Stelle, wo sich Kant über sehie Ab-
sichten und Zwecke bezüglicb seiner Erkenntnistheorie giiindsätz-
lieh auslädst, Kant zweimal ausdrücklich sagt, dass er nur durch
feine Theorie erklären wolle, wie viel wir a priori von der
Beschaffenheit der Gegenstände etwas wissen können.
Er wolle niu- das a priori unserer sinnlichen und unserer denkenden
Erkenntnis der Dinge, nicht auch das a posteriori derselben er-
klären. Statt diese Einschriinknng auf das a priori einzuhalten
und zu beachten, hat man Kant innner so verstanden, als ob
unsere gesamte Erkenntnis der Dinge auf transscendeutalen Be-
dingungen benihe und als ob auch das a posteriori unserer Er-
kenntnis, die Empfindung und der VorsteUuugsstoff aus dem Be-
wiisstsein und seinen transscendentalen Bedingungen könne oder
müsse abgeleitet werden. Diese Möglichkeit oder gar Notwendig-
keit hat Kant nicht nur nie behauptet, sondern immer bestritten.
Hätte man diesen Protest beachtet, so wäre man nie darauf ver*
fallen, aus dem Ich ein Xichtich, aus dem Subjekt ein Objekt, aus
der blossen Idee die reale Welt ableiten zu wollen. Man gab sich
uicht die Mühe, Kant zu vei^stehen, wie er selbst forderte, dass
man ihn vei^tehe, sondern hielt ihn für den „Dreiviertelskopf",
den jeder normale „Kopf** leicht zu verbessern imstande sei. Man
glaubte den inkonset|uenten Kant konsequent machen zu müssen,
um von seiner Piiiiosopliie einen tiewinu ziehen zu können.
IL
^H_ Als der aus dem vermeintlichen Ideahsmus Kants heiTorge-
P^^iHieBe wirkhche Idealisinus Fichtes, Schellings imd Hegels ab-
f gewirtschaftet und die Philosophie in die kläglichste Verachtung
herabgedrückt hatte, da beschloss man freilich, wieder zu Kant
zurückzukehren, um einen neuen Ausgangspunkt zu gesunderer
ir
F, Heman,
Eut Wicklung zu finden. Aber es geschah eiB ganz Merkwürdiges.
Man Hess sich durch das Erlebte nicht warnen. Zwar entstand
wiedenuii, wie in den neunziger Jahi^en des XVIIl. Jahrhunderts,
ein heftiger Streit über das rechte Vei'ständnis der Kantischeu
Philosopliie, aber anstatt die Kritik der reiueu Vernunft
nach Massgabe und in Übereinstimnumg mit dem ganzi^n
System Kants auszulegen, isolierte mau wiederum die Kritik
vom übrigen System und kam darum wieder dazu, die Kritik rein
idealistisch zu verstehen und alles Nicht-idealistische darin für in-
konsequente Eiuschit*bsel dei' 2. Auflage zu erklären. Dadui'cb-
wurde wiederum der ganze Gedankenbau des Systems zerstört.^
Die ganze praktische Philosophie Kants, nach Kants eigener
Schätzung der wichtigste und wertvollste Teil des Systems, iuusste.
als mit dem Idealismus und Phänomeualismus unverträglich, gänzlich
weggeschnitten werden. In einer reineu und blossen Phanoraenal-
welt kann sich kein apriorisches, uoumeuales Sittengesetz geltend
macheu* Auch das Moralische ist nur ein a posteriori, ein Phäno-
menales, Weil aber eine Metaphysik überhaupt unmöglich ist, so
muss die Philosophie überhaupt sich auf kritische Erkeuntnistheorie
reduzieren, und diese hat zum Resultat, dass wir a priori und a
posteriori, durch Vernunft und duj'ch Erfahrung, doch niehts wissen
können, als unsere eignen Voi'stellungen, dass wir uns in einer
reinen Vorsteüungswclt bewegen, deren Sinn und Bedeutung uns
unfassbar bleibt, obgleich oder vielmehr gerade weil wir selbst
durch Sinnlichkeit und Verstand sie produzieren. Dass eine solche
Philosophie keinen Funken Lebenskraft besitzt, nichts, was die
Menschen erheben, begeistern und versittlichen könnte, nichts, was
eine höhere Kultur zu erzeugen imstande wäre, liegt offenkundig
vor aller Augen. Diese Philosophie konnte ausserhalb der Schul-
wäude keine Beachtung finden. Der Grundfehler war also der,
dass man die Kritik nicht als blosse Grundlage des Systems Kants,
sondern nui* als Zerstörungsmittel desselben zu gebrauchen wusste.
Kants ganzes öedankenleben und System ist aus der Kiitik heraus-
gewachsen und ruht auf seiner Kritik der reinen Vernunft und
wird von ihr getragen; man daif sie also vernünftigerweise oicht
so auslegen, dass sie diese Tragfähigkeit verliert oder gar, dass
sie zum Si>rengmittel des Systems wird. Dies ist ein antik antischer
Missbrauch der Kritik,
Doch wir müssen gerecht sein. Wenn die alten Kantianer
sehou und dann die neuen die Kritik der reinen Vernunft glau
Immanuel Kants philosophisches Vermächtnis.
165
!Uüd
Wit'
so auslegi^i zu nuisseii, dass dabei das eî^2:cnt!iehe System Kants
oicht liest^hen konnte, sondern preisg^egebeu werden nm.sst*', dann
kau 11 der Fehler doch nicht gam an d('n Auslntrorn Kants liegen*
Die Kritik der reinen Vernunft ninss Unind und Aiilass dafür geben,
Uüd dies ist in der That der Fall.
In der Absiclit, die subjektiven Bedingungen des Erkenntnis-
izesses darzulegen, übersehroitet Kant weit seitje Aufgabe; er
beweist zu viel Htatt in der transst^eudentalen Ästhetik sieb daran
öijügen zu lassen, die Bedingungen unserer sinnlichen Erkenntnis,
!ie Ansrhannngsfonnen, nachzuweisen und zu zeigen, dass wir
die Räumlichkeit nud Zeitlichkeit der Dinge gar nicht aufzufassen
und zu erkennen verm^ichten^ wenn diese Formen nicht in der Ein-
richtung unserer Krkenntnisfähigkeiten lägen, weini also das trans-
scendentale Subjekt des Erkennens nicht mit diesen Formen der
Anschauung ausgeKtattet wiire, geht Kaut so weit, beweisen zu
wollen, dass diese Formen überhaupt und in keiner Weise den
Dingen selbst» sondern nur dem betrachtenden, d. h. sinnlich er-
^^euQenden Subjekt zukommen könnten. Weil Kant der Copernicus
^■er Erkenntnis sein wollte, Hess er sich fortreissen, viel mehr zu
^■behaupten, als ('opernicus auf seinem Gebiet behauptete. Dieser
^behauptete nur, dass das Sternenheer sich nicht um die Erde
I drehe, aber nicht, dass es sich überhaupt nicht drehe. Kant aber
■Jiegnügte sich nicht zu beweisen, dass die Anschauungsfornien von
^zeit umi Raum in nus liegen müssen, wenn wir sie an den Dingen
erkennen wollen, sondern dass die Dinge selber gar keinen Bezug
zu Raum und Zeit hätten! Damit waren iu der That die Dinge
um ihre Realität nud Existenz gebracht und der reinste Phäno-
menalismns und der absolute Idealismus zum Erkenntnisprinzip
erholien, Die Welt ist dann rein nur und kann gar nicht.s andres
mul nichts mehr sein^ als pure Vorstellung, als eine Phantasmagorie
unserer produktiven Einbildungskraft, als eine subjektive ScheinweU,
in der nichts Wirkliches erscheint. Kant sagt in der zweiten Auf-
lage, 8. 73, das sei nicht seine Meinung, und w^enn man ihn so
hyperkritisch vei-stebe, dass die Erschein uugs weit zu einer blossen
»Scheinwelt herabsinke, so könne das nur an der Ungeschicklichkeit
Beiner Darstellung liegen. Aber statt den faulen Fleck zu korri-
frieren» liess er ihn auch in der zw^eiten Auflage stehen und meinte,
die eingeschobene Widerlegung des Idealismus und der Protest gegen
die idealistische Auslegung genüge hinreichend. Aber darin
täuschte er sich. So lange die irausscendentale Ästhetik so stehen
160 ^^^^^^^m F. Hetnan,
bleibt, wie sie lautet, mag Kaut noch sovi^^l la-otestiereo; man
schenkt ihm keinen Glauben. Dc^nn damit, da-ss Kant grlaiiht, be-
weisen zu können, Raum und Zeit komme den Dingen absolut und
in keiner Weise zu, sondern sei nur unsere Anschaiiuujsrsfon»
und allein dem Subjekt als Bewusstseinsform eifren, hebt er
auch offenbar die eiufiinsche Realitiit der l)in*:?o auf, dir* er doch
nicht antasten wollte, sondern immer behauptet. Mit der Häum-
lichkeit und Zeitlichkeit der Dinge schwindet überhaupt ma
schlechthin ihre Wirklichkeit und Existenz, und die von Kaut
immer und konstant behauptete „empirische Realität'' der IHn?»*
wird zum inhaltlosi-n Wort, bei dem man sich nichts denken kann,
denn riatürlicher und vernünftiorer Weise besteht ja das Kriterium
der empirischen Reahtät eines Dinges eben darin, dass ihm selbst
und nicht mir alleiu, dem bloss erkennendeu Subjekt, die Fähigkeit
zakommt, sich in Form meiner Räumlichkeit und Zeitlichkeit geltend
zu machen. Soll ein Ding empirisch real sein, dann muss es in-
soweit räumlich und zeitlich sein, dass es mein Bewusstsein, mein
transscendentales Ich oder Subjekt, zur Produktion der R^ium- und
Zeitauschauung veranlassen kann, in der es mir erscheint. Wenn
mein Subjekt nicht raumzeitlich konstruiert wäre, könnte ich uiclit
erkennen, welchen Kaum und welche Zeit die empirischen Dinge
einnehmen. Aber weU ich raumzeitlich konstruiert bin, folgt noch
nicht, dass Raum und Zeit den Dingen selbst absolut und in keiner
Weise zukommen, im Gegenteil: die Ausstattung des Subjekts mit
den Anschauungsfonnen von Raum und Zeit liat nur Bedeutung,
Sinn und Verstand, wenn diese meine Bew^usstseins-Konstruk-
tion mir dazu dienen soll, die Räumlichkeit und Zeitlichkeit der
Dinge selber zu erkennen. Raum- und zeitlose Dinge räumlich
und zeitlich anschauen zu müssen, böte keine Erkenntnis der
Dinge, sondern pureu Missverstaud der Dinge. Unser Erkenntnis-
vermögen wäre höchst unzweckmässig und sinnlos konstruiert.
Also hätte Kant in keiner Weise nötig gehabt, seine Aufgabe zu
überschreiten und mehr zu beweisen als erforderlich w^ar, um der
Copernicus der Metaphysik zu sein. Sind, wie Kant immer be-
hauptet, die Dinge empirisch real, d. h. haben sie für unsere Er
fahrung Räumlichkeit und Zeitlichkeit, so würden wir diese ihre
empirische Raumfülking und Zeitfiillung gar nicht walirnehmen
und auffassen, d. h. zu einer uns bewussten, von uns erkannten
machen können, w^enn nicht unser eignes Bew^usstsein und unsre
eigene trausscendentale Apperzeption mit den Anschauungsforraen
i
I
I
J
Immanuel Kants philosophisches VermächtTib.
167
voo Raum uinl Zeit ausgestattet wäre, und wenn nicht in ims
seihst die Gesetze von Raiini und Zeit zu entdecken wären. Dies
^lar und deutlif*h zu lieweisen, daran hätte sich Kant sollen ge-
Hßgen lassen. Statt dessen will er noch darüher hiiians beweisen,
Hkss, weil jene Erkenntoisforinen in uns liegen, si«' nicht auch
virtuelle Wirklichkeit in den Iviugen hahen kunîiten. Weil Co-
pernicus behauptete, die Erdi* bewege sich utii die Sonne, hat er
^■ch doch nicht fortreissen lassen zu der falschen Behauptung,
Hko stände das ganze Sternenheer, Sonne, Fixsterne uinl Planeten
^dle, ahsohit still und seien ohne Bewegung. Er nu^inte nicht, die
Erdbewegung sei die einzige Bewegung und erklärt- jegliche
Himmelshewegung, Kant aber verfiel in die Übertreibung, zu be-
haupten, wril unser transsi*endentah'S Snhjrkt Tîanin- und Zeitan-
schauung produziert, so koniine Raum und Zeit nur uns, nicht
auch den Dingen zu. Wie unsere Erde sich bew^egt, abei* zugleich
^Ke Planeteiu die Soinie und der ganze Fixstendiiminel sich be-
"îregeu, so kounut dem erkennenden Subjekt Raum- und Zeitan-
schaumig zu, aber auch den erkannten Dingen in ihrer Weise,
^Vie aber die Planeten-, Sonn- und Fixstern-Bewegungen nicht er-
Kannt werden können ohne vorherige Erkenntnis der Erdbewegung,
so können auch wir die Räumlichkeit und Zeitüchkeit der Dinge
liicht erkennen, wenn wir nicht zuvor unsere apriorische Fälligkeit
der Raum- und Zeitanschanung und die apriorischen Gesetze von
Raum und Zeit, die in [Uisneni vernünftigen Bewusstsein liegen,
erkannt haben. Das und nur das zu erweisen, w^ar Kants Aufgabe,
wenn er beabsichtigte zu zeigen, ^wie viel wir a{iriori von der
Beschaffenheit der Gegenstände wissen können" und wenn er das
Prinzip, „dass die Vernunft nur das einsieht, w*as sie seihst nach
ihrem Entwurf hervorliringt", in der Metaphysik zur Geltung
bringen wollte. Es darf aber nicht geleugnet w^erden, dass die
^^iuge so beschaffen sind, dass, wenn sie unsere Empfindung er-
Bkgen, wir veranlasst und genötigt sind, ihre Raum- und Zeitvor-
stellung zu produzieren.
Reduziert man also den absokitan und excessiven Phäno-
metialismus auf den relativen, den allein Kant hätte zu beweisen
gehabt, dann bekommt seine Philosophie die gewünschte Konse-
quenz und Zusammenstimmung, dann können wir ihm glauben, dass
er die empirische Realität der Dinge nicht leugne, dass sein
Idealismus nur ein formaler, trau sscenden taler, aber nicht wie der
Berkeleys ein psychologischer und materieller sei; dass das Ding
F. HemsTi^
au sich Ursache uBsrer Empfiiidimg sei uud dass der lühalt, der
Kmpfiiidnngsstoff, die Materie der Euipfiiuluiig, gegeben und vani
Subjekt rezipiert werde. Ihmn gelten seiue Widerlegungen des
Idealismus in der Vorrede zur zweiten Auflage und in der syste-
matischen Darstellung allei- Grundsätze des reiueu VerstandesJ)
Dann giebt es eine wahre, oicht bloss scheinbare empirische Bea-
lität der Dinge und dann bedeutet Kauts transsrendeutaler Idealis-
mus nicht inateriale, sondern nur formale Idealität der Dinge,
weil zwar Dinge ausser mir wirklich da sind, aber, um sie ausser
mir zu erkennen, ihre Erkenntnisfornjeu von nur produziert werdeu
müssen uud ohne meine apriorische Erkenntuistornien ich niemals
irgend etwas von ihi^er empirischen Realität wissen und niemals
zu ihrer Vorstellung gelangen ktViinte. Was ich also von den
I>ingen erkennen und wissen kann, ist allenlings nur meine Vor-
stelluug^ aber deswegen sind sie doch wirkliche Dinge, die^ abge-M
sehen von meiner Vorstellung und ausser und ohne sie, wirkliche
Dinge an sich sind, _
Demnach verhält sich die Sache so: Alles was wir, sei esf
sinnlich, sei es begrifflich, a priori von den Dingen wissen, stammt
aus uns und führt uus zur Erkennttiis ihrer em(tirischen Realität.
Alles aber, was wir durch Empfindung a posteriori von den Dingen
erfahren, stammt aus den Dingen selbst und ist Wirkung der Dinge,
wie sie ausser unserer Vorstelhmg, also als Dinge an sich, sind.
(liebt es aber Dinge an sich, Noumena, nicht bloss Vor-_
st^ilungsbilder, und bin ich selbst nicht bloss Sinnending, nicht^
bloss Vorstellung, sondern auch Noumenon, Vernuuftw^esen, Ding
an sich, dann kann auch in mir, als Vernunftwesen, sich der nicht-
sinnliche^ kategorische Imperativ geltend machen; uud dann wird
auch erklärlich» wanim ich notwendiger Weise mir die Ideen, Gott,
Welt, Freiheit, Unsterblichkeit u. s. w. bilden muss, obgleich ich
weder empirisch noch metaphysisch ilire Realität erweisen kann.
Die Concinnität der Kantischen Philosophie hängt also davon
ab, dass die Kritik der reiueu Vernunft gemäss dem iihrigeu
System ausgelegt, und demgeraäss die Extravaganz des absolute»
Phänomenalisraus auf den relativen und bloss formalen redu-
ziert wk± M
Am hundertjährigen Todestag Kant« ist also die Sachlage
die: entweder fahren wir fort, uns nur au die erste Auflage der
^) Bei Kehrbach S.31— S2; 208-^216.
Immanuel Kants philosophisches Verraichtnis,
169
Kritik mit ihrem subjektiven iiiiJ cxcessiveü Plmnomeualisnnis zu
halteo; dann musseri wir aber 1. das ganze übrige System der
Kaütisehen Philosophie verwerfen und 2. die direktem Nachfolger
Kants für seine legitimen Fortsetzer erklären luid 3, die Kantische
Philosophie bleibt steril, d, h, wir lassen Kaut bei den Toten und
entsagen fürderhin allen Zitationen seines Gespenstes — oder
aber der hundertjährige Todestag Kants veranlasst uns, die Philoso-
Iphie Kants als Ganzes, als zusanimenhängendes System» wieder auf-
zunehmen, indem wir die erste Auflage der Kritik auf sich beruhen
lassen und die zweite gemäss dem ganzen System und der Wider-
lej^ung des hlealismus interpretieren. Dann werden sich A nsgangs-
punkte finden la,ssen zur Fottbilduug der Philosophie auf Grund des
ganzen Systems. Dann dürfte vielleieht Kant nicht mehr bloss der
Schulphilosoph in dem Sinne sein, dass jugendliehe Geister an ihm
ihren Scharfsinn iibcLi, wie Latt^iusehülej^ an Julius Caesar, sondern
dass sich eine Schule der Kantischen Philosophie bildet., die auf
den Pfaden weitersehreitet , die Kant inauguriert hat. Dann wird
Kant zu neuem Leben erstehen.
Daraufhin, um dies zu ermöglichen, hat auch Kant unemiüd-
lich an der Ausbildung und Fertigstellung seines Systems bis in
die allerletate Lebenszeit gearbeitet. Und gerade seine als Manu-
skript hinterlasseuen Schriften zeigen deutlich, nach welcher Rieh-
^teng hin er sein System ausgebaut wissen wollte, im Gegensatz zu
den Systeuïeu, die das Seine für veraltet erklärten und sich an
seine Stelle setzten.
Es ist eine Ehrenpflicht der Dankbarkeit geg<Hi Kant, der
seiner Zeit die Deut>schen an die Spitze der Philosophierenden ge-
stellt hat, dass wir dieser letzten, abschliessenden Arbeit Kaut« die
gebührende Beachtung schenken, die sie verdient. Was der grosse
Philosoph der Deutschen geschrieben hat, darf nichts wie bisher
geschah, ignoriert werden, weil es foraiell die Spuren des Alters
an sich trägt. Denn, was er da produziert hat, bildet den ab-
schliessenden Teil seines ganzen Systems, (Tehcn wir daher formell
und materiell auf Kants philosophisches Vermächtnis an die Nach-
welt ein.i)
*) Nachdem der nachfolgende Abschnitt bereit-s seit Monaten fertig:
leben und der Hedaktion der Kimt^itudien zur Verfügung g^estelh
habe ich erst Bekanntschaft mit dem Werke A îb recht Krauses |^e-
macht: ,Die letzten Gedanken Immanuel Kants, Aus Kant^ hinterlassenem
kosknpt^ Hamburg, 1902*'. Es freut mich, dass wir teilweise zu den-
170
F* Hemaîi,
III.
Die letzten Manuskripte Kants.
Im Jahre 1797 beschloss Kant seine schriftstellerische Tbäti(
keit mit der AbhaiuHiiti^^ ,,Voii der Macht ties Gemütes durch den
blossen Voi^atz seiiit^r kraiikliaftpn (4efîihle Meistt^r zu sein** (zu-
erst veröffentlicht in Huf lands Joiu-nal für praktische Heilkunde,
Bd. V, 1797, dann wieder abgedruckt 1798 iu der Schrift: Der
Streit der Fakultäten). Es macht einen ebenso rührenden, me
peinlichen t^iudruck, wenn hier Kant zum „Beschluss" der \h-
handhing: seineu eigenen geistigen tiesundlieits- oder Krankheits-
stand mit klarer Urteilskraft und mit vollem Bewnsstseiu seiuer
sinkenden Kräfte also beschreibt: „Vie krankhafte Beschaffenheit
des Patienten, die das Denken, sofern es ein Festhalten eines
Begriffes (der Einheit des Bewusstseins verbundener Vorstellungen)
ist, begleitet und erschwert, bringt das (iefühl eines spastischen
Zustandes des Organs des Denkens (des Gehirns) als eines Druckes
hervor, der zwar das Denken und Nachdenken selbst, ingleichea
das Gedächtnis in Ansehung des ehedem Gedachten eigentlich
nicht schwächt, aber im Vortrage (dem mündlichen oder schrift^
liehen) das feste Zusammenhalten der Vorstellungen in ihrer Zeit-
folge wider Zei'strenung s]<*hern soll, bewirkt selbst einen unwill-
kürlichen spastischen Zustand des Geliirns, als ein ünverniögeß,
bei dem Wechsel der aufeiiumder folgenden Vorstellungen, die
Einheit des Bewusstseins derselben zu erhalten. Daher be^epet
es mir, dass, wenn ich, wie es in jeder Rede jederzeit geschieht,
zuerst zu dem, was ich sagen will (den Hörer oder Leser), vorbe-
reite, ihm den Gegenstand, wohin ich gehen will, in der Aussicht,
dann ihn auch auf das, wovon ich ausgegangen bin, zurückge-
wieseji habe (ohne welche zwei Hinweisungen kein Zusammenhang
der Rede stattfindet) und ich nun das Tietztere mit dem Ersterea
verknüpfen soll, ich auf einmal meinen Zuhörer {oder stillschwei-
gend mich selbst) fragen muss: wo war ich doch? wovon ging ich
aus? welcher Fehler nicht sowohl ein Fehler des Geistes, auch
nicht des Gedächtnisses allein, sondern der Geistesgegenwart
(im Verknüpfen), d. h. unwillkürliche Zerstreuung und ein sehr
selben Resultaten über die Bedeutung der Kantiscben Schrift gekomifien
siadj und ich empfehle das Buch von Krause teilweise als gute Ergänz ang ,
meiner Arbeit^ teilweise als brauchbaren Kommentar zu Kants Gedanken.
Nur sind Krauses eigene Spekulationen, die er dazwischen mischt, wohl
aiiszuscheiden.
Immanuel Kants j»iTilosf>phisches Vermächtnis.
171
igeuder Fehler ist; dem man zwar in Rdiriftc^ii (zumal »Irii
)hilosophischèu» weil mau du nicht imtiMT so leicht ziiriiekseheii
Eaim, wovon mau ausging) mühsam vorbougeu, obzwar mit aller
Ifihe nie vöUiier verhüten kann."* Bei einem Srhriftsteller, wie
fant^ der selbst in seinen besten Jahren, nur in mächtigen Feri-
Kleu zu schreiben gewohut war, und da schon nicht immer den
i'aden der üedankeu- uinl Satzfolge konsequent festzuhalten ver-
öocht-e, musste dieser „peinigende Kehh^r" mit dem Alter je länger,
ËJ mehr zunehmen, und der erst** wenigstens von jenen beiden
en, in denen Kant sein Leiden beklagt, ist selbst ein deut-
r Beweis der nicht mehr zu verhütenden Schwäche. Das
Aller brachte ihm jedoch nicht jenen marasmus senilis, der in
fcinmpfer vegetierender Gedankenlosigkeit besteht Die Einleitung
kur obgenanuten Abhandlung zeigt, dass er auch noch in geist-
reichen Wendungen seine (Tedanken ausdrücken konnte, und die
ilini in besondei'em Masse eigene Vorüebe für präcises Definieren,
pistinguieren und Systematisieren, was den eigentlichen Schul-
ßhilosopheu charakterisiert, blieb ilnn bis zum Ende ungeschmälert.
^*iir die konsequente Durchführung des Zusammenhanges seiner
(btedanken^ was ihn Zeitlehens Mühe gekostet hatte, litt Schadet»,
BO dass er sie nur ./mühsam*' und notdürftig, schliesslich gar nicht
IBiehr zustande brachte. Ausser einer ganz kurzen „Vorrede" und
leiner ebenso kurzen „Xaehschrift** zur Etnpfehhing zweier fremder
fechriften bat darum Kant nichts mehr veröffentlicht nach 1797.
ßleichw^ohl blieb ihm das Bedürfnis, sehie Gedanken schriftlich zu
fixieren. Denn Kaut ging es mit der Philosophie nicht etwa wie
^nem Industriellen, der sich vom Geschäft zurückzieht, um dann
«uch in seinem inneren Leben gar nichts mehr damit zu thun zu
àaben* Philosophieren w-ar das Leben seines Geistes, wie er in
fiben jener Abhandlung es aussprach, dass „das Philosophieren die
ïiebenskraft nicht stocken lässt**, selbst wenn es um* als Spiel
Äes Gemütes, w^elches in seine Beschäftigung Interesse bringt, be-
trieben wird. „Dagegen Philosophie, die ihr Interesse am
Ganzen des Endzwecks der Vernunft hat, ein Gefühl der Kraft
bei sich führt, welches die körperlichen Schwächen des Alters in
gewissem Masse durch vernünftige Schätzung des Wertes des
ILebeos wohl vergüten kanu*\ Er konnte aus Erfahrung davon
teden, dass echte, reine, w^ahre Philosophie auch eine mächtige
CODSolatio senectutis ist.
172
F. Heman,
r
Diese Aufzeichuiiiïg-i.^ii aus Kants letzt<3U Lebensjahren, die
nur für sich selbst iiiaelite, belaufen sich auf etwa l(Mi Foliobogeti.
welche alle, ausser ein paar Bogen, von Kants Hand selbst ge-
schrieben sind. Sie verteilen sich anscheinend in 12 Convolute,
(1. h. je eine Anzahl Bogen sind in einem besonderen Umschkg
zusammengefasst. Einige dieser Convolute, w4e z, B, das 10.,
IL und 12. gehören nach Inhalt und Bezeichnung zusammen.
Fast alle sind von Rudolf Reicke als Manuskript herausgegeben
worden, iudem er sie in der Altpreussischeu Monatsschrift, Band
XIX— XXI, 1HH2— 1884, zum Abdruck brachte unter dem Titel:
Ein uugedrucktes Werk von Kant aus seinen letzteü
Lebensjahren,*) Zwanzig Jahre früher hatte Reicke schon in
der AUpreuss. Monatsschrift eine ^Xa<-*hricht von Kants nach^
lassener Handschrift" veröffentlicht, und dieser Titel wäre zutref-
fender, als der ^ein ungedrnektes Werk"", denn ein eigentliches
„Werk**, worunter man doch gewöhnhch ein in sich zusammen-
häügendes und abgeschlossenes Ganzes versteht» ist die Handschrift
durchaus nicht; es sind nur Materialien und zwar nicht bloss zu
einem, soudern, wie sich zeigen wrird, zu zwei ganz verschiedenen
Werken, Reicke wurde wohl veranlasst, von einem nachgelassenen
Werk zu reden, w^eil ihm eine „Anzeige, den Nachlass des sei
Kaut betreffend** vorlag, in welcher es hiess: „Der Tit€l des
Werkes» zu welchem sie nur Materiaüen enthalten, sollte seio:
Übergang von den metaph. An f. ihr. d. N. \\. zur Physik**. Aber
in dieser Anzeige war übersehen, dass das erste Convolut, w^elches
der Abfassung nach das letzte ist, in höchst ermüdender Weise
mehr als 60 mal, wie Reicke nachher selbst berichtet, versucht,
noch einen anderen Titel aufzustellen für ein ^System der reinen
Philosophie in ihrem ganzen Inhegriffr*^, wie schon 1804 Hasse
in seinen ,,Merk\vüi'dige Äusserungen Kants (Königsberg)*' erzählt
Von eint^ni opus postunuim kann also nur insofern geredet werdeü,
als mau die ca, 1(K) oranzc und halbe Bogen im allgemeinsten Sinn
ein Opus nennen kann.
Betrachten wir nun Reickes Veröffentlichung, so ist sie höchst
verdienstlich, w^eit sie mit ganz ausserordentlicher Sorgfalt und
1) Von diesem Abdruck in den emxelnen Heften der Âltprems.
Monatsschrift sind hucIi Sepsirat^ibzöge gemacht worden, die zusammen
einen Ktattlichen Oktavband bilden. Durch die dankenswerte Güte des
Herrn Prof Dr. H. Vaihin^er in Halle a. S. stand mir dessen Exemplftf
von zusammengebundenen Separat«bzûgen zur Verfügung,
Immanuel Kants philosophisclies Vermächtnis,
173
Zuverlässigkeit veranstaltet ist, soweit sicli Jas aus der Ver-
üffentlichung selbst ohne Einsicht nahm e der Manuskiipte beurteilen
lässt. Wir dürfen annt^hnieti, dass das von Reicke nicht zum
Druck gebrachte (die (-ouvolute 4, 6, 8) nichts enthäU, w^is nicht
schon im (Gedruckten sich findet Doch wird es innnerhin wiltisch-
bar sein, dass die neue Gesamtausgabe aller Kautischen Werke
auch einen vollständigen Abdruck dieser zurückgelassenen Manu-
skripte bringe. Die Veröffentüchung geschah uicht in der zufäl-
ligen Reihenfolge, wie die Convolute aufeinander lagen, und auch
nicht innerhalb eines jeden Convolutes nach der Reüu^nfolge der
Blätter, denn Reicke ging darauf aus, dass den) Inhalte nach Zu-
sammengehörige auch zusammen zu ordnen.
Wann die einzelnen Bogen und Convolute von Bogen abge-
fasst und aufgezeichnet wurden» lässt sich nicht durchweg mit
Sicherheit angehen. Die bedruckten Papiere und Zeitungen, die
als Con volut Umschläge benutzt sind, tragen die Jahreszahlf^n 1799,
1801 und 180B. Nur ein einziges Convolut giebt an drei Orten
genaue Daten an, wann Kant daran gearbeitet hat. Nämlich das
erste Convolut ist in einem Umschlag gehüllt, auf dessen erster
Seite unten links Kant notiert: „Im HOsichsechsten Jahr
meines Alters". „Nach dem die 70 sechsicher und auch die 70
siebscher verlaufen*". Demgemäss hat er noch iju letzten Lebens-
jahr an den Bogen dieses Couvoluts geschrieben. Sodann auf der
dritten Seite des 10. Bogens dieses Convoluts findet sich unten
die Bemerkung: „den 22, April trat in mein 79. Jahr. Mein Ge-
burtsjahr ist 1724, den 22, April". Der 10. Bogen ist also im
Jahre 1802 geschrieben worden, während die Notiz auf dem Um-
schlag aus dem Jahre 1803, dem letzten Lebensjahre Kants
stammt. Wir wissen also ganz genau, womit Kants Geist sich
bis zuletzt beschäftigt hat. Eine weitere Notiz findet sich noch
auf Bogen U Seite 4 (hei Reicke S, 417), wo Kant einen am
Donneretag, den 3. Juni abgeschickten Brief notiert. Aus diesem
Datum ergiebt sich gleichfalls das Jahr 1802. Auch inhaltlich
zeigen die Bogen dieses (îoiwolutes die traurigsten Spuren, dass
Kant damals an der Grenze seiner Kraft und seines liebens an-
gelangt war.
Trotzdem ist dieses Convolut für uns gerade das allerwich-
tigste. Es enthält allerdings in höchst fragmentarischer und unge-
i nügender Form Gedanken, die in einem andern Werk zum Aus-
druck kommen sollten» als das in den übrigen Convolnteu Aufge-
F. He m an.
zeichnete; ja vielfach müheü sie sich nur damit ab, den rech
Titel für das neue Werk zu finden und zu fixiereu. Es soll eine
TrausscendeTitalphilosoi>hi<> werden und. wie Roicke narli-
gezählt hat, niüht sich Kant miodestt*ns eiiihuudertfüutzig mat
damit ab, eine Definition dieser Wissenschaft zu ^ebeii und ihreo
Gegenstand zu bestimmen.
Nicht bloss weil diese Bogen die letzten sind, die Kaut
schrieben hat, sondern weil sie etwas ganz Anderes enthalten als
alle übrigen, hätte dieses ('onvolut ganz zuletzt zum Abdruck
konimen sollen. Statt dessen bescliliosst Reicke seinen Abdruck
(iiit dem siebenten ('ouvolut. Wahrsclieiulich that er das, weil
dieses Convolut die Bezeichnung „Beilagen'' trägt und verschiedenf
Bettierkungen über Gegenstände aus der Naturwissenschaft und
aus der Transsceiidontalphilosophie enthält. Allein die Aufschrift
^7. Convolut Beilagen" rührt nicht von Kant selbst her, und weim
Reicke ferner bemerkt, dass dies Convolut kaum früher als äos
den Jahren 1799 und IHOO geschriebeîï sein dürfte, so fügen wir
hiir/;u, dass es wohl auch nicht später und gewiss nicht nach de^
ersten Convolut gesclirieben ist, weil, wie Reicke selbst augieb^H
die Niederschrift der einzelneu Bogen viel weniger Schwierigkeit
bietet, als das ei^te Convolut, das aus den beiden letzten Lebens-
jahren Kants herrührt. Obwohl es also auch Bemerkungen über
(legeustände aus der TransscendentalphUosophie enthält» so bilden
diese doch keine „Beilagen'' zum ei^teu Couvolut, sondern siüd
für Vorläufer desselben zu halten. Während nämlich sich Kâul
noch mit der Abfassung der Physik beschäftigte, diiingten sicli
ihm schon Gedanken auf, die Um bald veranlassten, die Physik
ganz liegen zu lassen und sich mit der Idee einer Transscendeutal*
philosophie zu tragen. Dies kommt im Gemisch des 7. ('onvulats
zimi Ausdruck, in welchem die Bogen I— IV vom Ding an sieb
und der Möglichkeit von s^Tithetischen Sätzen apriori handeln, die
Bogen V — \^II aber ausschliesslich niu* von der Transscendentali
philosophie und ihren Objekten.
Weil also das erste Convolut von Reicke erst gegen im
Schluss hin und doch noch zwischen den übrigen veröffentlicht
wurde, so ist dies w^ohl mit ein Grund gewesen, warum gerade
dieses allerletzte unter Kants Erzeugnissen keine besondere Be-
achtung gefunden und man immer nur ^) von Kants uaturwissen-
1) Ick werde nachträglich vom Herausgeber der Kanststudien darauf
aufmerksam gemacht, daes er selbst schon erkannt hat, dass es sich um
Immanuel Kants philosophisches Vermächtnis. 175
chaftlichem opus postumum bisher geredet hat. Dazu kommt,
lass der Herausgeber die besondere Bedeutung des Inhalts dieses
îonvoluts nicht erkannt hat, vielmehr nur beklagt, dass bei
ceineni der Convolute man so sehr an den altersschwachen Kant
remahnt werde, wie bei diesem; keines gewähre einen so traurigen
^blick, wie dieses, schon äusserlich, denn nirgendwo sonst sei so
riel ausgestrichen, über- und zwischengeschrieben, und mit so
deiner, bisweilen unleserlicher Schrift, so dass das Ganze bunt-
scheckig aussehe und das Auge beim Lesen ermüde. Ebenso er-
mädend wirke auch der Inhalt, u. s. w., u. s. w. Die einzige
Elrholung in diesem Einerlei gewährten noch die hie und da ein-
gestreuten Allotria, allerlei zufällige Gedanken über die verschie-
denen Gegenstände, wie sie ihm bei seiner Lektüre und bei seinen
Gesprächen mit seinen Tischgenossen aufgestossen seien, wirt-
schaftliche Notizen und allerhand Sachen, die nicht vergessen
werden sollten. Der Leser wird also geradezu von der Lektüre
dieses Couvolutes abgeschreckt, als ob eigentlich gar nichts be-
deutendes darin stehe und nichts, was die Mühe des Lesens lohne
und uns einen neuen, unerwarteten Einblick in Kants Denken
biete. Der Inhalt ist aber von besonderem Interesse, weil er so
anders ist, als der der übrigen Convolute, und weil Kant uns hier
zeigt, wie er diesen neuen Gegenstand, die Transsceudentalphilo-
sophie, in einer eigenartigen, originellen und genau aus seinem
System hervorwachsenden Weise aufgefasst hat. Es ist zu ver-
wundem, dass es überhaupt noch dem altersschwachen Greis ge-
langen ist, wenn auch nur mühsam und schwerfällig, eine seinem
eigenen früheren Denken entsprechende und mit den
Grundgedanken seines Systems übereinstimmende Idee
einer Transscendentalphilosophie zu erzeugen. Nicht zu
verwundern ist aber, dass auch nur diese Idee zu produzieren den
abgearbeiteten Denker die allergiösste Anstrengung kostete; hatte
zwei ganz verschiedene Werke handelt; es geschah dies in der Anzeige
der Kranse'schen Ausgabe des „Nachgelassenen Werkes^' (1888) im Archiv
für Geschichte der Philosophie, Band IV (1891), S. 731—736. Es heisst da-
selbst auch ausdrücklich: „Das aUgemeine transscendentalphilosophische
Werk ist viel interessanter, als jenes spezielle naturwissenschaftliche, auf
welches man bis jetzt aUein die Aufmerksamkeit gerichtet hat." Da ich
unabhängig von Yaihinger zu derselben Anschauung gelangt bin, freue ich
mich umsomehr über die Übereinstimmung mit demselben in diesem
Punkte.
176
F, HeiTiÄn,
or doch schon 1798 1) den „Tantalischen Schmert-z'* beklagt,, deu
es ihni bereite, „den völligen Abschluss seiner Rec.huiing in Sachei
welche das Ganze der Philosophie betreffen, vor sich liegen utii
es noch itniuer nicht vollendet zu sehen". Dieser Ausspruch be*
zieht sich auf die übrigen Convolute, deren Inhalt der „tîbergang
von den metaph. Auf ür. d. N. W. zur Physik" bildet. Wie
gi'oss nun aber dieser tan talis che Schmerz gewesen bei Abfas-
sung des letzten Convolutes, davon geben die mehr als 60 Titel-
versuche und mindestens 150 Definitionsversuche unzweideutige
Kunde, Wir ehren das Andenken Kants, wenn wir diese seiii«^
letzte mit so qualvoller Anstrengung erzeugte Idee in ihrer
ganzen Grosse und Bedeutung uns vor Augen zu stellen suchen*
Zuvor sei aber noch ein Wort über die VeranJassung und
das Motiv gesagt, die Kant bestimmten, seine anfängliche Arbeit
über die Physik abzubrechen und sich die neue Aufgabe vorzu- -
setzen, eine Trausscendentalphilosophie zu ersinnen. ^Ê
Unter Kants Sclmfteu kann man nämlich zwei Arten unter-^
scheiden, solche, die gleichsam spontan ohne direkten Anstoss vou
aussen entstanden sind, und solche, zu deren Erzeugung irgend
ein Ereignis oder eine Erscheinung seiner Zeit Veranlassnnjs^ gal>,
Es war kein Tagesereignis» das im Jahre 1781 die Kritik der
reinen Vernunft zu Tage brachte; daher fiel sie wie eine Bombe
in das Lager der zeitgenössischen Popnlarphilosophie. Dagegen
seine Schrift „Von den Ursachen der Erderschütterungen" 1756
entstand, wie der Titel schon bemerkt, ,,bei Gelegenheit des Un-
glücks» welches die westlichen Länder von Europa gegen di
Ende des vorigen Jahres betroffen hat". Zu den spontan eut
standenen gehören offenbar seine grossen philosophischen Haupt-
werke, die ieweilen dann eî'st ans Lieht traten, wenn sein Nach-
denken iil»er die betreffenden Probleme, die er selbst und nur er
sich gestellt hatte, zu einem seinen Geist und seine Gesinnung be-
friedigenden Abschluss gelangt war. Nachdem aber die di'ei
grossonKi'itiken mit den dazu gehörigen kleineren Schriften erschienen
waren, und so die iuneie Arbeit eigentlich abgeschlossen, und da-
mit auch der innere, spontane Trieb zur Arbeit mehr und mehr
zur Ruhe gekommen war, so Hess Kant, je länger, desto mehr, sicli
durch Erscheinungen des Tages und der Zeit veranlassen, über
56
J) Siehe bei Reicke, Altpreuss. Monatshefte XX, 1883, S. 342
einem Brief Hanta au Garve.
Immanuel Kants pliilosophisclies Vennäcbtnis.
177
weitere Probleme seiner Wissenschaft üachzudenken und sicli da-
riiber zu äussern oder wenigstens seine Gedanken darüber schrifl-
ich zu filieren.
1790 erschien die Kritik der Urteilskraft, das letzte der
systematisch aufgebauten Werke, in welchem er das letzte der
drei Probleme, die er sich selbst zur Begründung einer neuen
Philosophie gestellt hatte, zu lösen unternahm: wie sind ästhe-
tische UHeile a priori möglich? Damit war die kidtische Philo-
sophie vollkommen begi^ündet und in ihren Prinzipien und Konse-
quenzen hinreicheud dargelegt Sich über weitere, einzelne Punkte
seiner Denkart auszusprechen, blieb uun gleichsam dem Zufall,
d, h. den Umständen und der Gelegenheit überlassen. Und der
rege Geist Kants benutzte jede Veranlassung; jede neue Erschei-
nung auf dem Gehiete der Philosophie regte ihn an, die betroffeu-
deo Gegenstände in seiner Weise zu überdenken, 1791 erschien
Fi cht es Versuch einer Kritik aller Offenbarung; dies veranlasste
Kant im folgenden Jahre 1792 die erste Abhandlung seiner „Re-
ligiou innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft" erscheinen zu
■blassen. 1796 folgte Fichtes Grundlage des Naturrechts; ihr
Fstellte 1797 Kant seiue „Metaphysischen Anfangsgründe der
Rechtslehre'' gegenüber. So sind auch die 100 Bogen des Nach-
lasses auf Veranlassung von Schriften verfasst, welche gerade da-
' mais in philosophischen Kreisen Aufsehen erregten.
Neben Fichte war es nämlich Sehe Hing, dessen Schrifteu
Kant veranlassten, zu den neu aufgeworfenen Problemen Stellung
zu nehmen. 1797 führte sich Schelliug als selbständigen Denker,
' der auf ein eigenes System lossteore, bei der philosophischen Welt
durch die Scbrift: „Ideen einer Philosophie der Natur" ein. Dies
war der Grund, dass nun Kant seine 11 Jahre früher (1786) er-
schienenen ^Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft**
, hervorholte und sich daran machte, daraus eine spekulative „Phy-
sik" abzuleiten, d. h. die dort aufgestellten apriorischen Grund-
sätze auf die Physik zur Erklärung der Natur anzuwenden. So
I entstanden die Foliobogen der l'On volute 2 — 12; keiner dei'selben
I ist vor 1798 niedergeschrieben; die meisten in den Jahren 1798
—99. Im 12. Convolut findet sich die Einleitung, von der drei
Bogen soweit gediehen waren, dass Kant eine Abschrift, konnte
anfertigen lassen, mit der Reicke seine Veröffentlichung beginnt.
Diese Einleitung trägt den Titel: „Von dem auf Prinzipien a priori
gegründeten Übergänge von den metaphysischen Anf Gr, der
17B
F. Heman,
Naturwissenschaft überhaupt zur Physik". Es liegt am Tage,
das8 für Kaut keio anderer Griiüd vorlag, sicli von der praktischen
und Religionsphilosopiiie wieder der Naturphilosophie zuzuweudeD,
al8 weil er von seinen eigenen Prinzipien aus ein Gegen-
stück zn Schellings „Ideen" liefern weilte. Er empfand das Be-
dürfnis, sich darüber klar zu werden, wie von seinem eigenen
Standpunkt aus eine Naturphilosophie sich gestalten ^iirde. Und
in diesem Streben, eine Natui-phUosophie zu produzieren, wnirde
er noch mehr bestärkt, als 8chelling 1799 seinen ^Ersten Ent-
wurf eines Systems der Naturphilosophie" herausgab.
Aber der allzeit lange überlegende» wohlbedächtige und bereits
bedenklich altersschwache Kant konnte seinetu jugendlich eilfertigen»
in neuen Produktionen sich wahrhaft überstürzeuden Genossen
Scbelling niclit nachkommen. Schon im Jahre 1800 überraschte
Schelling die Welt mit seinem „System des transscendeutaleD
Idealismus*. Im selben Jahre schrieb Kant au den Bogen, die im
7, Convolut zusammengelegt siud; darum miscbeu sich hier bereits
Gedanken zu einer Trausscendeutalphilosophie ein. Und die Lek-
türe der Schellingschen Schrift packte ihn so, dass er nun die Physik
ganz nnd gar liegen liess und sich iuuerlich gedrängt fühlte, von
seinen Prinzipien aus dasselbe Problem, wie Scbelling, zu bearbeiten.
So entstanden die letzten Oedankenproduktionen Kants, die er nur
noch mit allergt^össter geistiger und physischer Anstrengung zu
Papier bringen konnte. Die so, man möchte sagen, zusanmieuge-
kritzelten Bogen (es sind 10 ganze und 2 halbe), entstanden .in
den Jahren 1801 — 1803. Hasse in seinen „merkwürdigen
Äusserungen Kants'' (Königsberg 1804) berichtet darübei* (siehe —
Heicke a. a, 0. XXI, S. 309), dass das Werk den Titel hätte er-^
halten sollen: System der reinen Philosophie, und in den
Bogen selbst kommt ja der notierte Titel an mehreren Stelleu an-
nähernd so vor. t3lerade dieser Titel aber beweist, dass das ge-
plante Werk ein Gegenstück zu Schellings System des trans-
scendentalen Idealismus hatte w^erden sollen. Der letzte Zweifel
aber wird dadurch gehoben» dass Kaut selber zweimal (bei Keicke
a.a.O. XXI, S. 375 nnd S. 383) ausdrücklich Schellings Schrift
mit vollem Titel erw^ahnt, wälirend sonst nui* einzelne Namen
wie Spinoza, Lichtenberg, Zoroaster in ganz unbestimmter Weise
hervorgehoben werden. Ausserdem ward aber auch mehrmals auf
die 1798 erschienene Schrift Schellings „von der Weltseele" mit
deutlichen Worten angespielt, nämlich a. a. 0. S. 323, S. 378»
Immanuel Kants philosophisches Vermächtnis. 179
S. 406, S. 576, S. 574. So also erklärt es sich, warum Kant um
1797 sich plötzlich von der Religions- und Moralpbilosophie wieder
zur Naturphilosophie, und dann um 1800 von dieser wieder zum
Idealismus gewandt hat; das Motiv war die Zeitphilosophie, ins-
besondere die Schriften des allseitiges Aufsehen erregenden
Schelling, dessen Gestirn im glänzenden Aufstieg begriffen war.
Über den inneren Wert der auf Physik sich beziehenden
Bogen zu urteilen möge einem kompetenteren Betrachter überlassen
bleiben ;») ich beschränke mich auf das erste Convolut, welches
das Letzte ist, was Kant geschrieben hat, und welches von der
Transscendentalphilosophie handelt, und auf die dazu ge-
hörigen Bogen V— Vni des siebenten Convolutes.
Wenn es nun aber auch Schelling war, der Kant zu seinen
letzten Gedankengängen veranlasste und Kants Schrift ein Gegen-
stück zu der Schellings werden sollte, so wäre es doch ein grosser
Irrtum, wenn jemand glauben würde, es sei Kant dabei ergangen,
wie es den meisten begegnet, welche auf irgend einem Gebiet zu
einer bereits vorhandenen Sache ein Gegenstück herstellen wollen.
Solchen Gegenbildem, die sowohl einen Gegensatz zum Urbild
darbieten, als auch die Vorzüge des Urbildes noch übertreffen
wollen, leiden allermeist an einem gründlichen Defekt. Es fehlt
ihnen die Originalität und Selbständigkeit. Man sieht ihnen Zug
für Zug an, dass sie im Gegensatz zu einem Andern entstanden
sind, dass sie ein Anderes übertreffen wollen, mit einem Wort,
dass dem Urheber beständig noch etwas Anderes vor Augen
schwebt, als das, was er produziert. Das Gegenstück hat nur
Bedeutung und Verstand im Vergleich und Gegensatz mit dem
Urbild. Nicht so ist es bei Kant. Er besitzt ein eigenartiges
Denken, einen Geistesbesitz, der seit Jahren ausgereift ist und die
kompakte Substanz seines Bewusstseins ausmacht. Zu diesem ur-
eignen Gedankenbesitz gehört auch die Idee einer transscenden-
talen Philosophie, die ja zuerst von ihm erdacht und aufgestellt
1) Albr. Krause hat das Verdienst, die auf Physik bezüglichen
Bogen, inhaltlich geordnet und mit einem wertvollen Kommentar versehen,
noch besonders herausgegeben zu haben unter dem Titel: „Das nachge-
lassene Werk Kants: Vom Übergange von den metaphysischen
Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik mit Be-
legen populär-wissenschaftlich dargestellt^, Frankfurt a. M. und
Lahr, Moritz Schauenburg. 1888. Doch unterliegt sein Verfahren auch
manchen Bedenken, welche Vaihinger in der oben erwähnten Anzeige
im Archiv für Geschichte der Phil, zum Ausdruck gebracht hat.
12*
180
F, He man,
worden war. Und seine Denkart ist ihm in Fleisch und Blut über-
gegangen. Wenn ihn nun ein Anderer zum Denken anregt,
denkt er den Gegenstand doch immer nur in seiner ihm selbst
eigentümlichen Weise und kann ihn gar nicht mehr aoden
denken. Sein Denken bleibt sich treu. Hat ihn daher aud
Schelling durr.h sein System des transscendcntalen Idealismus ai
den Gedanken geführt, ein System der reinen Philosophie oderj
der TransseendenUilphilosophie auszuarbeiten, so verarbeitet er!
diesen Gedanken doch auf seine eigene W^eise, nach seinen eigeneil
Prinzipien; es entsteht etwas Eigenartiges, Originales. Das wirf
Niemand leugnen können, der diese mühsam erzeugten Gedanken ,
genauer betrachtet und sie mit dem ganz anders gearteten Geist«
Produkt Hchellings vergleicht. Es ist genau so, wie bei Kants
spekulativer Physik; obwohl auch' von Schelling veranlasst, ist siej
doch himmelweit von dessen Naturphilosophie verschieden. Um'
Kants Gedanken zu verstehen und zu wüi^digen, bedarf es daher
in keiner Weise eines genaueren Eingehens auf Schellings trans-
scendentalen Idealismus.
IV.
Die letzten Gedanken Kants nach ihrem Inhalte.
Kant bemühte sich ausserordentlich, den richtigsten und be-j
zeichnendsten Titel für sein Werk zu finden. Bald nannte er es
einfach „Trausscendeutal-Philosophie'', bald „Systeoi der reinen
Philosophie nach ihrem ganzen Inbegriff", zuletzt scheint er sieb
für den Titel entschlossen zu haben: „Der Transscendentalphiloso-
phie höchster Stiindpunkt, von Gott, der Welt, und dem Menschea—
als moralischem Wesen in der Welt." f
W^ährend Kants Nachfolger den Begriff der Transscendental-
philosophie gänzlich verändert^en und darunter eine Philosophie
verstanden» die ihre Quelle in der intellektuellen Anschauung habe,,^
dem Vermögen, auch ohne Erfahning rein durch produktive EiiiH
bildungskraft des Intellekts ein System aller Dinge im Himmel
und auf Erden auszuhecken, blieb Kant dem eigentlichen Begriff
der Transscendentalphilosophie, so ^ie er ihn entdeckt und in der
Kritik der reinen Vernunft aufgestellt hatte, und wie er allein ver-
nünftigen Sinn hat, treu. Er bezeichnete damit diejenige Philosophie,
welche die Bedingungen unserer Erkenntnis, sofern sie in der
Organisation unseres „Gemütes" liegen, aufsucht, aufzählt, ordnet.
Immanuel Kants philosophisches VermachtniB.
181
ihre Anwendung auf die Erkenntnis darlegt und damit zeigt, was
lUes an imsereiii Erkennen a priori und von der Beschaffenheit
anseres Erkenntnisvermögens aWiängig ist. Diese transscenden-
talen Bedingungen sind die Formen zur Aufnahme und Auffassung
dessen, was die Eii'ahrung uns durch die Empfindung darbietet.
Ohne die Spoutaueität des Subjekts und seiner apriorischen Er-
kenntnisforoien wäre die Rezeption des durch die Erfahniiig
a posteriori Gegebenen gar nicht möglich. Die Transscendental-
philosophie hat es aber in keiner Weise mit dem Stoff der Er-
fahrung zu thuii, kann diesen Jiicht herbeischaffen, kann ihn nicht
aus dem Subjekt herausspinnen, kann also die Erfahrung weder
ignorieren noch ersetzen, wie Kants Nachfolgiîr teilweise wähn-
ten, Kants Absicht beim Niederschreibon seiner letzten Ge-
danken war alsoj dem falschen Begriff der Transscendentalphiloso-
pliie gegenüber wieder den walireu zur Gelluug zu bringen.
Während HcheOing in seinem System des transscendentaleu Idealis-
nuis von der vermeintlich trausstendentalen, iutellektuelleu An-
schauung» der Identität von Subjekt und (Hijekt aus ein Welt-
system deduzierte, wollte Kant nur ein System aller Begriffe
apriori, als Bedingungen zum Erkenntnissyst-em der gesamten
Erfahrung der Dinge aufstellen. Schelliugs Trausscendentalphilo-
sophie war nicht „reine Philosophie", weil er ebeu die wirklichen
Dinge selbst zu deduzieren unternahm, die doch nur durch Er-
fahrung a t^osterioii uns zur Erkenntnis kommen. Daher wollte
Kant sein projektiertes Werk „System der reinen Philosophie**
nennen. Weil aber nicht, wie in seinen früheren Schriften, nur
einige dieser transscendentaleu Formen der Erkenntnis sollten auf-
gezählt, sondern systematisch alle sollten deduziert werden, machte
er beim Titel den Zusatz: ,,in ihj'eni ganzen Inbegriffe'*. Daher
sagt er uns: „Transscendentale Philosophie ist das philosophische
Erkenntnissystem, welches a priori die Gegenstande der reinen
ruuft in einem System notwendig verbunden dai^stellt".
Ein solches System transscendeu taler Philosophie erreicht zu-
gleich den höchsten Standpunkt apriorischen Erkennens, für den
tUe früheren Standpunkte sich nur als Voiistufeü zu erkennen
geben. Was die Kritik der reijien Verutinft begonnen, soll liier
bis zum höchsten Standpiuikt geführt werden.
Die erste Stufe, der niederste Standpunkt der Erkeuotuis ist
nämlich die theoretische, die Erkenntnis der durch sinnliche Er-
fahrung uns gebotenen Naturdinge* Wie kommen wir zur Er-
181
F. Heman,
<
keimtttis von Sinneiidingeii? Was bringt unsre Vernunft a priori
tVL den Siunendiügeu hinzu, damit wir sie erkennen können?
Die Kritik der reinen Vernunft nämlicli legt sieb daher die
Frage vor, wie ist Mathematik und wie ist reine Natui*wissenschaft
möglich? d. h, nach Kants eigener Erklärung: Was bringt die
Vernunft nach ihrem eigenen Entwurf (a prioii) hervor als Grund-
bedingungen aller mathematischen und naturwissenschaftlichen Er-
kenntnisse? Und er hatte geantwortet: Für alle mathematischrü
Erkenntnisse ist die Grundvoraussetzung, dass wir die Auschanungs-
form des Baumes besitzen. Vermöchte» wii^ nieht Rauuianschauung zu
produzieren, so wiissten wir oichts Mathematisches, könnten desseü
nicht bewusst werden, es nicht erkennen und keine Erfahning davon
machen. Und ebenso könnten wir keine Naturdinge denkend be*
greifen und ihrer empirischen Reahtät bewusst werden, wenn
nnser Verstand nicht befäiiigt wäre» sie nach gewissen Grundsätzen
zu beurteüen, die er a i>riori aus seineni ,, eigenen Entwurf'
hervorbringt und auf sie anwendet. Diese Grundsätze des Ver-
standes sind die Axiome der Anschauung, die Aotizipationen der
Wahrnehmung, die Analogien der Erfahrung und die Postulate des
empirischen Denkens überhaupt., ohne die wir die Dinge nur er-
kenntnis- und verständnislos anstarren» aber nichts von ihnen uds
zum Bewusstsein bringen könnten. Alle diese Grimdsätze beniheû
aber wieder auf Grundbegriffen, die unser Verstand spontan und
sofort von selbst sich zu bilden befähig t ist, sobald Dinge sich ihni
empfindlich machen. Niu^ mittels der Verstandesbegriffe und ihrer
Grundsätze können wir die verworrene Masse der recipierten Em-
pfindungen auffassen, ordnen und denkend als so und so beschaffene
Dinge begreifen, ^Wir machen Alles selbst", sagt also Kant mit
Recht in seinen letzten Gedanken, denn alle unsere Erkenntnis
der Natiu^dinge beruht auf dem Entwurf unseres Vei'standes, aetM
a priori seine Kategorien und Grundsätze airE sie anwendet.
Vom niederen Standpunkt der theoi-etischen Erkenntnis steigeu
wir dann zur zweiten Stufe empor; es ist der praktische Staud-
punkt. Wie ist richtiges Handeln, d.h. Moralität möglich? Wie
kommt der Mensch überhaupt dazu, des Moralischen sich bewusst
zu werden? Welches sind die transscendentalen Gründe alles
moralischen Handelns?
Diese Fragen beantwortet Kant Lu der zweiten Kritik, der
Kritik der praktischen Vernunft. Da legt er uns dar, dass Moral
nur möglich ist, weil der Mensch keiu blosse« Sinnen-, sondern
i
I
1
à
Immanuel Kants philosopbisches Vermächtnis.
183
^^ernunftwescD ist, das spoiitaü und a priori sich oiii (lesetz auf-
^Blegen vermag für all sein Thun und I.assf»ii. Die Autonomie
^Ics Vernaiiftwosens beweist seine transsceudentak^ Freiheit^ sich
gemäss dem kategorischen Imperativ des a priori sieh gidiend
macheiiden Gesetzes bestimmon zu könuen. Es gäbe keine
R lichten- und keine Keehtslehre, keine sittlichou PersÖnlichkeiteu
d keine sittüidK^n Oesetlschaftslornien ohne das moralische, kate-
gorisch und apodiktisch gebietende Geselz, das die Vernunft auto-
nom, aus sich selbst produziert und demgomass das Vernunftweson
selbst sich kraft seinr^r transscen dentalen Freiheit zu bestimmen
^Uirmag. l)i<' Vernunft bringt ^nach eigenem Entwurf* das Sitt-
^bhe zu ihrem Handebi, und darum können wir im Menschenleben
' gut und br>s unterscheiden und Sittliches und Unsittliches beur-
teilen und thun. Auch die Moral hat ihr a priori, durch das allein
sie möglich uiul erkeinibar wird,
mß Aber auch dei* i^raktische Standpunkt ist noch nicht der
Tiôchste. iJer hat es mit dem Höchsten uiul Grossten zu thun,
was der Mensch zu denken befähigt und geuidigt ist Der Philo-
sophie höchster Staudpunkt hat es mit den drei Maxima menscïi-
licheo Denkens zu thun. Das Grösste, was der Mensch zu denken
Termag, über das hinaus auch der erhabenste und weitest<3 Ge-
dankenfhig nicht hinausrcicht, sind die drei Ideen: Gott, Welt und
der Mensch selbst, der Gott unti die Welt uod sich selbst zu
denken vermag. Diese drei Ideen sind keine zufälligen Produkte
menschlicheo Denkens, welche etwa nur da und dort sporadisch
im Gedaukenleben der Menschen auftauchen, oder von denen etwa
nur das Eine oder das Andere ihm zum Bewusstsein käme, sondern
es sind die drei Ideen, welche die menschücbe Verounft sich all-
gemeiu und notwendig bildet, welche also in allem vernnnftigeji
Denken die allgemeinsten und notwendigen, also apriorischen Be-
standteile sind, auf die das menschliche Bewusstsein spontan und
Ion selbst kommt. Es giebt keine vornünftigeu Menschen, denen
bse drei Ideen fehlten. Die Menschen können hinterher leugnen»
ft8S etwas diesen Ideen Entsprechendes in Wirklichkeit vorhanden
ri, aber die Ideen selbst bleiben ihnen nicht fremd,
lu diesen Ideen offenbart sich das Grösste, was das raensch-
liche Denken, die menschliche Vernunft zu leisten vermag. Sie
sind zugleich der umfassende Abschluss menschlichen Vernunft-
lebens. r>urch sie wird es der Vernunft möglich, ihr gesamtes
Gedaukenlebeü zu einem systematischen Gauzen zusanimen zu
H email,
schliessen lUid ein einheitliches» geordnetes Geistesleben zu MhrenJ
Auf diesem höchsten Standpunkt der Ideen ist also „das System
der reinen Philosopiiie in ihrem ganzen Inbegriff" erst möglich.
Dabei- ist die transscendentale Philosophie „das philosophische Er-
kenntnissystem, welches a priori die Gegenstände der reinen Ver-
nunft in Einem System notwendig verlniüdcn darstellt**. Dies<
System handf^It „vom AU des Wesens*\ „Ihre Gegenstände sind
Gottj die W'^elt und der dem Pflichtbegriff imtei-worfene Mensch
in der Welt**.
Dieses System hat aber f^ine doppelte Aufgabe ; es soll „eben-
sowohl die Subjekte als das Ühjekt in einem ganzen Inbegriffe
der reinen synthetischen Erkenntnis a priori befassen." Damit
fordert Kant erstens, dass dieses System die ganze^ einheitliche,
alle apriorischen Elemente der Vernunft, alle transscendentalen
Bedingungen der menschlichen Erkenntnis umfassende Organisation
des Menscheugeistes systematisch darlege. Das Subjekt in seiner
transscendentalen Beschaffenheit als theoretisch erkennendes und
moralisch handehides Vernuuftwesen soll der Selbsterkenntnis dar-
geboten werden. Zum Andern aber soll dieses System auch ob-
jektive Erkenntnis bieten. Das heisst: sie stellt die Objekte der
menschlichen Erkenntnis dar, sofern ihre |diilosophische Erkenntnis
erreicht ist durch Anwendung unserer apriorischen Erkenntnis-
bedingungen auf sie» Es enthält also das System der Transcen-
dentalphilosophie nicht bloss eine Erkenntnistheorie de^s mensch-
lichen Geistes, worauf soviele Kantianer die Philosophie reduzieren
wollten, sondern auch eine Philosophie der Objekte des mensch-
lichen Geistes, eine Metaphysik der Natur, der Moral und der
Theologie. Sie ist der Inbegriff aller menschlichen Erkenulms.
sofern sie nicht empirisch, sondern ein System synthetischer Er-
kenntnis aus Begriffen a priori ist. Die Einzelwisseuschaften sind
empirisch und hahen es mit der empirischen Erkenntnis der Dinge
zu thun; die Philosophie ist transsceudental und hat es mit der
philosophischen Erkenntnis der Dinge zu thnu, d. h. mit der Er-
kenntnis, welche die apriorischen Prinzipien der Vernunft auf tlie
Dinge anwendet und uns zur vernünftigen Einsicht in das Wesen
und die Bedeutung der empirischen Dinge bringt. Die systema-
tische Ordnung der Prinzipien und Grundbedingungen alles ver-
nünftigen Erkennens bietet uns dann auch die notwendigen Formen
und das erkenntnistheoretische Schema, um die erlangten i^hiloso-
phischen Erkenntnisse der Objekte in die Einheit eines philoso-
*r-
4
Immanael Kants philosophisches Vermächtnis. 185
jhischen Systems zu einer einheitlichen, vernünftigen Weltanschau-
ODg zu ordnen.
Das ist Transscendental-Philosophie in ihrem eigentlichen,
ursprünglichen Sinn, wie ihn ihr Entdecker Kant gemeint hat.
Zu diesem Begriff der Philosophie müssen wir zurückkehren, wenn
unsere Philosophie gesunden soll. Die Missdeutung und Umbiegung
des Begriffes unter den Händen Fichtes, Schellings und Hegels
hat die Verachtung und Zerstörung der Philosophie verschuldet.
Es ist das philosophische Vermächtnis Kants, das er in den letzten
Produktionen seines Geisteslebens niedergelegt hat, auf das wir
zurückkommen, das wir annehmen und ausführen müssen, wenn
die Philosophie wieder zu Blüte und Fruchtbarkeit gelangen soll.
Unsere Gegenwart zeigt lebendiges philosophisches Interesse, eine
Sehnsucht nach einheitlicher Weltanschauung, nach einem System
des Denkens und Handelns. Es dringt der Gedanke durch, dass
ohne Metaphysik keine Philosophie möglich ist, aber uns mangeln
die Prinzipien dazu. Der sterbende Kant hat sie uns noch gezeigt,
indem er zwar nur fragmentarisch und abrupt die Grundlinien eines
Systems der Philosophie aufzeichnete und ihren Begriff bestimmte
im Gegensatz zu den herrschend gewordenen falschen Bestim-
mungen.
Eine solche Philosophie und Metaphysik besteht dann nicht
iu allerlei subjektiven, die Erfahrung ignorierenden Gedanken-
fespinsten und mit der Erfahrung im Widerspruch stehenden Kon-
struktionen, sondern trägt die Garantie der Festigkeit und Sicher-
keit in sich, weil ihre Prinzipien auf den objektiven, allgemeinen
und notwendigen Bedingungen alles Vernunfterkennens beruhen,
i h. auf den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit des Er-
kennens selber. Sie erklärt die Masse der sich immer unter den
Händen der Forscher mehrenden Thatsachen der Erfahrung syste-
matisch und methodisch aus den Prinzipien der Möglichkeit der
Hrfahmng, die in der Konstruktion des erkennenden Subjekts
Wenn nun das Subjekt in Folge recipierter Empfindungen
sich selbst konstituiert kraft seiner Spontaneität zur Produktion
von Anschauungen der Dinge; und wenn es dann die geschauten
Dinge denkt kraft der Spontaneität seines Verstandes und so zum
Begreifen der Dinge gelangt, so sind das doch immer nur erst
^nzeldinge, die es anschaut und denkt. Das Subjekt erkennt
noch keinen Znsammenhang der Dinge. Wie und wodurch können
186
F. H email,
wir mill abor ilie Masse der Dinge onlmiO zu einem zasanfimeiir
liängfcnden, eiiiheitlicheii Ganzen? Wie wii-d atis der Meng«* der
vorpftîst eilten und gedarbt en Dînge eine wolilgeordnete Welt, ein
Kosmos? Audi dazu muss das Subjel^^ dnrch die Kotistruktion
seiner selbst befähigt, sein. Und nur weun dies der Fall ist, ist
Trausseeudental-Philosophie möglich „als Wissenschaft der Formen,
sich selbst zu eiuem Ganzen der Anscbauung und des Deukejis
synthetisch nach einem Prinzip zum (»bjekt zu machen*". I>**r
höchste Htandpuukt der Philosophie ist also der, welcher nach dem
TViuzip der Kinheit all unsers Änschauens und Denkens sucht,
wodurch wir das Ganze der Dinge, das All der Wesen denkend
erfassen können. Die Menge der Eiuzeldinge ordnet sich uns zu
einem systematischen Ganzen iliirch ihre Unterordnung unter die
drei Maxima menschliehen Denkens, unter die drei Ideen : Gott,
Well, Mensch (in dor Kritik d. r. V- hiessen sie Gott, Seele, Welt).
Unsere Vernunft entninimt dies** drei Ideen nicht der Erfahrung,
denn sie shtd keine ansehanlichen (Gegenstände, sondern produziert
sie spontan aus sich selbst als ihre höchsten Ideen eben zu dem
Zweck, alle empirischen Dinge durch sie zur Einheit, Ordnung
und Zusammenhang zu bringen.
Die Objekte der Philosophie auf dem höchsten Standpunkt
sind also die Ideen Gottes, der Welt und des Menschen, letztere!
aber nur, sofern er yerniuiftwesen, d, h. moralisches Wesen ist.
iSie bilden die drei Teile des Inbegriffs aller Erkeuntnis, das All
der Wesen oder das Allwesen. Denn es giebt keine Wesen^ die
nicht einem dieser Drei könnten zugeordnet werden. Es ist er-
weisbar, „dass es nicht mehr oder weniger Elementarprinzipiea
der Transscendental-Pbüosophih gebe, als die drei genannten."
Das „All der Winsen", „das Allwesen besteht also nicht ans eineiu
Einzigen Wesen, aus einem Wesen aller We^n, oder einer all-
seienden vSubstanz, sondern da.s „All der Wesen"* oder „Allwe«;eü"
besteht ans den drei Wesen: Gott, Welt, Mt^nscli, die nicht uiil-
eiuander identisch, nicht einerlei sind. Aber diese Drei bilden
kein blosses Aggi'egat von Wesen, denn „Transscendental-Philoso-
phie ist nicht ein Aggregat, sondern ein System nicht von objek-
tiven Begriffen, sondern von subjektiven Ideen, welche die Ver-
nunft selbst schafft, nud zwar nicht hypothetisch (problematisch
oder assertorisch), sondern apodiktisch, indeuï sie sich selbst
schafft/* Die Schöpfung und Produktion dieser drei Ideen ist
also zugleich die Selbstkonstitution der Vernunft, denn das Sein
Immanuel Kante philosophisches
187
und Leben der Verüunft besteht in der Produktion dieser drei
Maxima des Denkeus. Üadurcli, dass der Mensch diese drei Ideen
prodnziert, wird er vernünftig und erweist er sich als Vernunft-
wesen. Er dichtet sie selbst, daher sii^t Knut: „Trauss<!endenial-
Philosophie ist das ganze System der Ideen. Dichtungen der reinen
Philosophie** und ^absohite Einheit des Systems der Ideen (Pich-
tungen) der reinen Yernunft bezieht sich auf Einheit möglicher
Erfahrung," Das Subjekt dichtet sie nicht zufällig, sondern not-
wendig als Formen der Einheit des Systenis der Erfahrangen, so
notwendig, wie die Foraien der Anschauung und die Formen des
Terstandes, denn die Ideen sind die höclisten Ei'kenntnisformen
der Verniinft, durch welche sie die Masse ihrer Erkenntnisse zur
Einheit eines Systems zu einem Univei^suni, zum AU der Wesen
ordnet, Damm sagt auch Kant: „Ideen sind selbstgeschaffeu«^
subjektive Prinzipien der Derikkraft", ,Jdeen sind nicht Begriffe,
sondern reine Anschauungen, nicht discursive, sondern intuitive
Vorelellnugeu, denn es ist nur Ein solcher Gegenstand (Ein Gott,
Eine Welt univers,) und in dem Freiheitsgesetz nur Ein Prinzip
der Verehrung aller Meiischenjifiichteu als Giittlicher Gebote durch
Menschen in der Welt.'*
Was nun Kant über die drei Ideen aufgezeichnet hat, ist
wenig, aber grundlegend nud lichtnnggebend. Wir nehmen niu*
einige fragmentarische Sätze heraus. Die von der Idee Gottes
handeln, um daraus zu schtiessen, nach welcher Richtung hin Kant
sein System auszubauen gedachte.
„Der Begriff von Gott ist der von einem Wesen als obersten
Ursache der Weltwesen und als eine Person. Wie Freiheit eines
Weltweseus möglich sei, ist direkt nicht zn l>eweisen; nur im Be-
griff von Gott* wenn der angenommen wird, wäre es thnnlieh".
„Es ist ein Gott, nicht als Weltseole in der Natur, sondern als
persönliches Prinzip di'r menschlichen Vernunft (ens summum»
summa in teiligen tia, summum bouum), welches als Idee eines hei-
ligen Wesens völlige Freiheit mit dem Pflichtgesetze in dem kate-
lyrischen Imperativ verbindet/* „Gott ist nicht W\^ltseele; Spi-
^^las Begriff von Gott und Mensch, nach welchem der Philosoph
^Bl Dinge in Gott anschaut, ist schwärmerisch (conceptus fanati-
rus)", „Der erete Gegenstand (Gott) erhebt sich über Dinge als
Sachen durch Persönlichkeit, mithin durch die erhabene t^na-
Utat der Freiheit selbst, ursprünglich Ursache zn sein, eine
Eigenschaft und Vermögen, deren Möglichkeit direkt gar nicht
188
F. Heraan,
bewiesen imil orklärt werden kann, aber indirekt durch uni^ider-
sprechlichc Diktatt* der Vernauft im kategorischen Iraperativ seine
Realität volljafiltijsr macht." „Ans der Idee, die wir iids von üott
selbst {lenken, kann zwar nicht die Existenz eines solchen Wesens
gefolgert werden, aber doch mit i^hnchem Nachdmck, als ob ein
solches (dicta men ratiouis) in Substanz nut unserm Weseo ve^
blinden wäre". „Dieses Gebietende Wesen ist nicht
ausser dem Menschen als vom Menschen verschiedene
Substanz das Gegenstück von der Welt als Inbegriff aller
Sinnenwesen." „Was nötigt uns die Idee von Gott ab? Kein
Erfahrnngsbegriff, keine Metaphysik. Was diesen Begiiff a priori
darl>ietetj ist der Pflichtbegiiff. Dieser aber setzt den Begriff der
Freiheit eiin^r Kausalität voraus, deren Möglichkeit nicht erklart
werden kann." ,,Gott ist nicht ein Weltbewohncr, sondern
Inhaber. Als das Elftere wmi er die Weltseele, zur Natur
gehörend." Die merkwürdigste Stelle, die Kant geschiieben hat,
ist aber wohl die: „Es ist ein Wesen in mir, was von mir uIlte^
schieden im Kausat-Verhältnis der Wii'ksamkeit (nexus effectiviis)
auf mich steht, (agit, facit, operatur), welches selbst frei, d, h.
ohne vom Naturgesetz in Raum und Zeit abhängig zu sein, mich
innerlich richtet {rechtfertigt oder verdammt], and ich der
Mensch bin selbst dies Wesen, und dieses nicht etwa
eine Substanz ausser mir, und was das Befremdlichste ist:
die Kausalität ist doch eine Bestimmung zur That in Freibeil
(nicht als Naturnotwendigkeit)". „Wenn auch Gott bloss als Ge-
dankeuding (ens ratiouis) in der Philosophie angesehen werden
soll, so ist es doch notwendig, dieses und alle ihm beigelegte
Prädikate der reinen Vernunft aufzustellen, die analytisch aus
dieser fdet* hervorgehen: **s mag auch |mussl eine solche Substanz,
die in ihrem Begriff die Idee von einer Person die höchste sowohl
techniseh praktische, als ancli moralisch praktische Vollkommeu-
heit und ihr gemässe Kausalität vereinigt, doch notw^endig auf ge-
stellt und kann nicht ilbei-sehen werden» man mag nun annehmeu,
sie existiere, oder nicht. Wenn es gleich Thoren sind, die in
ihrem Herzen sagen, es ist kein tiott, so mögen sie immer unweise
sein, es liegt ihnen doch ob, über diesen Begriff und das, w^as er
in sich enthält, nicht vorsätzlich unwissend sein zu wollen/
^ Der Begriff oder die Idee von Gott ist 1, die von einem höchsten
Wesen fens entium\ 2. von einem höchsten Verstandeswesen, d, i.
einer Person (summa inteiligentia), 3. dem Urquell alles dessen,
Immannel Kants philosophisches Vennachtiiis. 189
was unbedingt Zweck sein mag (summum bonum), das Ideal der
moralisch-praktischen Vernunft und allem, was diesem zur Regel
dienen kann, das Urbild (Archetypen) und Architekt der Welt aber,
obzwar nur in unendlicher Annäherung, dienen kann (sie). Wir
schauen Ihn an, als in einem Spiegel: nie von Angesicht zu An-
gesicht." „Die Vernunft schafft sich unvermeidlich selbst Objekte.
Daher jedes Denkende einen Gott hat". „Ein lebendes
Wesen, das sich seiner selbst bewusst ist, enthält ein immaterielles
Prinzip und ist Person." „Gott ist also keine ausser mir be-
findliche Substanz, sondern bloss ein moralisches Verhältnis
in mir"*. „Gott wird als eine Person gedacht: d. h. als ein Wesen,
welehes Rechte besitzt."
Suchen wir uns Kants Gedanken klar zu machen. So wenig
wir wissen, was die Dinge an sich sind und abgesehen von ihrer
Erscheinung, so wenig wissen wir, wer, was und wie Gott an sich,
in sich und seinen Wesen nach ist, abgesehen von seinem Ver-
hältnis zu uns. Sobald aber das menschliche Subjekt Empfindungs-
stoff recipiert, wird seine Spontaneität erregt zur Erzeugung einer
Erscheinungs- und Vorstellungswelt, die das notwendige Produkt
der in Thätigkeit geratenen Erkenntniskräfte, der Formen der
Anschauung und der Formen des Verstandes ist. So erfahren wir
sinnlich und begreiflich die Welt der Dinge.
Der Mensch ist aber auch Vernunftwesen, nicht bloss Sinnen-
wesen. Sobald er daher seiner selbst bewusst wird und vernünftig
zu handeln sich anschickt und sich Rechte in Anspruch nehmend
als Person in seiner Welt der Dinge geltend macht, macht sich
auch in seiner Vernunft das dictamen rationis mit apodictischer
ünausbleiblichkeit als kategorischer Imperativ geltend, er erfährt,
recipiert das Pflichtgebot, das seiner sinnlichen Natur entgegen-
tritt. Kraft seiner transscendentalen Freiheit als Vernunftwesen
und Person ist der Mensch autonom, d.h. er kann das sich in ihm
geltendmachende Sittengesetz sich selbst auflegen, es annehmen,
oder aber sich ihm entziehen und dawiderhandeln. So ist der
Mensch durch die Apprehension und Reception des kategorischen
Imperativs ein moralisches Wesen.
Aber diese moralische Erfahrung erregt auch die Spontanei-
tät seiner Vernunft als Denkkraft zur notwendigen Erdichtung
und Erzeugung nicht hypothetischer, sondern apodictisch sich ihm
aufdringender Ideen. Diese sind das Höchste und Grösste, was
der Mensch zu denken vermag. Die erste dieser notwendig im
190
F. Heman.
Bewusstsein sich et-zeugeuden Ideen ist die Gottes. Es ist die
Idee einer Person, die Rechte hat, zu befehlen und zugleich All*
gewalt liai, seinen Beft-lilen Geltung zu schaffeu und die Dinj^e
zu einem von ihr gesetzten Endzweck zu leiteu. Wie also Silin-
hchkeit und Verstand die Stätten sind, wo die Welt der Ding?
ei-scheint und sich offenbart, so ist die Vernunft die Stätte, wo
(jfütt als Ideal der Vernunft erscheint und sich offenbart. Gleich-
wie das Was uud Wie der Siunenwelt zwar auf Anregung der
ï-ecipierten Empfindungen doch ganz und gar nach den dem Sul
jekt eiuorgauisieileri Fürmeii der Anschauung und des Verstanden'
beschaffen ist, also ein blosses Erzeugnis der Sinnes- und Ver»
standesthätigkeit des Subjektes ist, — so ist auch das Was und
Wie Gottes zwar auf Anregiing des übermenschlichen kategorischi
Imperativs, aber doch ganz und gar nach den dem Subjekt eüi-
orgauisierten Vernunftiormeu beschaffen, also ein blosses Enteugnis
der Veriiuuftthätigkeit des Subjekts, eine Idee und Ideal.
Wie aber die Ei^cheiunngswelt keiü blosser Schein ii
sondern auf Dinge an sich deutet, und wie nur selbstherrlii
Einbildung diese Erscheinnngswelt für blosse Phautasmagoii
des Subjektes, für eine blosse Scheinwelt erklaren kann, gerade
so ist auch die Gottesidee zwar nui* Dichtung unserer Veraunft,
diHitet aber doch auf ein Wesen aller Wesen, das real sein musa,
so dass nur die Thoren in ihrem Herzen sprechen können, es ist
kein Gott. Wie es sinnlos ist, die ReaUtät der Welt zu leuguen,
so ist es sinnlos, die Realität Gottes zu leugnen. Die Gottes-
leuguung hat nicht inehr Berechtigung als die Lengnung der
Dinge der Welt. Wie der Ei'scheinungswelt empirische KealitM
zukommt, so kommt der Gottesidee moralische Idealität zu. Diese
Welt ist nur Erscheinungswelt, aber auf Grund der Empfindnog:
Gott ist nur Ideal der Vernunft, aber auf Grund des Sittenge-
setzes. Die Empfindungen, die nicht ans uns stammen, sondern
sich uns unabweislich aufdrängen, veranlassen uns zur Ei'zeuguug
dieser Ei^cheinungswelt, und das Sittengesetz, das nicht aus uns
stammt, aber im Gewissen sich unabw^eislich uns aufdrängt, ver-
anlasst uns zur Erzeugung der Gottesidee. Als Sinnenweseu
müssen wir uns die Welt vorstellen, als Vernunftwesen raüsseti
wir Gott denken. Darum „haben alle Denkenden einen Gott" und
giebt es nie und nirgend Menschen, die nicht ii*gendwie der Gottes-
idee bewusst wären.
Immannel Kants philosophisches Verm&chtnis. 191
Wie verhält es sich also mit der Existenz Gottes? Wie die
Welt nur Dasein hat kraft unserer Sinnlichkeit und in unseren
Sinnen, so hat auch Gott nur Dasein kraft unserer Vemünftigkeit
imd in unserer Vernunft. Die Tiere haben keinen Gott, für sie
existiert er nicht, obgleich sie nicht ohne ihn existieren können.
Das menschliche Subjekt ist aber so organisiert, dass es not-
wendiger Weise sich die Idee Gottes bildet. Das menschliche Be-
wusstsein, sofern es vernünftige Denkkraft und moralische Persön-
lichkeit ist, ist die alleinige Stätte, wo Gott offenbar, manifest
wird, wo das Wissen seiner als moralisch gesetzgebenden Person
erzeugt wird, wo er sich Existenz und Präsenz giebt in geistiger
Weise, als Idee und Ideal der Vernunft. Der Mensch erzeugt und
schafft sich selbst Gottesbewusstsein, aber in diesem Gottesbewusst-
sein ist Gott selbst präsent und bezeugt seine persönliche Präsenz
durch den kategorischen Imperativ des Vernunftgesetzes. Im ver-
nünftigen Selbst des Menschen tritt Gott dem persönlichen Ich des
Menschen gegenüber als persönlicher Gesetzgeber, der Macht und
Befugnis hat, dem Menschen durch seine ihm eigene Vernunft zu
gebieten. Das ist die wahre, allein wirkliche Immanenz Gottes in
der Welt, seine Immanenz im menschlichen Selbstbewusstsein, das
notwendiger Weise sich die Gottesidee einerzeugt. Als Idee ist
Gott mein Gemachte, Dichtung meiner Vernunft, aber mein ver-
nünftiges Bewusstsein wäre in keiner Weise veranlasst, sich diese
Idee als Ideal der Vernunft zu bilden, wenn es nicht dazu ver-
anlasst würde durch die präsente moralische Wirkung Gottes, wie
mein Bewusstsein in keiner Weise veranlasst wäre, sich die Welt
vorzustellen, wenn nicht Dinge präsent wären, die Empfindungen in
mir wirken. Gott macht sich geistig in meinem vernünftigen Ich
präsent, wie die Dinge sich sinnlich meinem körperlichen Ich
präsentieren.
Diese geistige Präsenz Gottes im menschlichen Bewusstsein
als Gottesbewusstsein ist auch die einzig Gottes würdige Immanenz
in der Welt. Es ist eine Depravation und Diminution der Gottes-
idee, Gott nur als Substanz der Welt oder nur als ihre Seele zu
denken, denn dann ist er nicht mehr Ideal der Vernunft d. h. nicht
mehr Idee einer summa intelUgentia, summa potestas und summum
bonum, sondern sinkt herab zu einem unbewussten, nicht mit
Freiheit, sondern nur mit Naturgewalt wirkenden Naturwesen; 'er
wird Teil der Natur, beschränkt auf die Naturwirksamkeit, unfähig
des persönlichen und moralischen Handelns. Das menschliche Be-
192
F. Hemaii,
wusstseiii aber ist der rechte Thron Gottes. Da kann er sid
seiner ganzen Idee nach manifestieren, und die Entwickelnng und
Bildnng des menHchÜclieu Bewusstseius iimss von Stufe zu Stnf^
fortschreiten, bis die ganze Idee Gottes theoretisch und praktisch in
idealer VoUkomnienheit in ihm erzeug^t ist» bis das ganze Menschen-
hewusstsein theoretisch und praktisch davon erfüllt ist und gaM
und gar dem Gottesbewusstsein sich ergebeü hat, damit GoU
wirkhch in ihm Alles in Allem sei,
Von diesem Standpunkt aus eröffnen sich die weitesten Per*
spektiven beziiglidi des Menschen.
Die Transscondental-Phjlosophie sucht die dem Subjekt zu-
kommenden transscendentalen Bediugungen der Erkenntnis aaf.
Wir haben Naturwissenschaft; welches sind die im Subjekt liegeo-
den Bedingungen, dass es sich Natiu- voi-stellen kann? Wir sind
moralische Wesen; welches sind die in unserem Selbst liegenden
Bedingungen, dass wir moralisch handeln können? Wii' habea
Gotteshewusstsein, welches sind die im Selbstbewusstsein liegenden
Bedingungen, dass es Gottesbewusstseiu erzeugen und sich die
Gottesidee bilden kann? Dass ist die letzte und höchste der den
Menschen betreffenden Fragen, die Kant sich zui" Lösung gestellt
hat Die Lösung dieser Fragen muss die ganze Bedeutung d<s
Menschenwesens Gott und der Welt gegenüber darlegen und m
Licht setzen.
„Der Mensch ist Verbindungsmittel von Gott und Welt, dfl
als Natiu'wosen doch zugleich PersönUchkeit hat, um das Sinnen*
prinzip mit dem übersinnlichen zu verknüpfen". „Gott und die
Welt sind Ideen — nicht Substanzen ausser meinen Gedanken;
wir sind der gedachten Gegenstände subjektiv Selbstschöpfer".
„Gott, die Welt und Ich, der beide Objekte in Einem Subjekt ver
bindet".
Der Mensch ist seiner Idee nach auch ein Maximum, m
Grösstes, über das hinaus nichts Grösseres gedacht werden kann.
Gott ist die Idee des allerweisesten, mächtigsten, gütigsten PersoQ-
wesens, die erste Ursache und der letzte Zweck aller Wesen Mi
alles Seins» ens entium und ens realissimum. Die Welt ist die
Idee des geordneten Zusanimenhangs aller Sinnendinge» das Grösstß,
was in Raum und Zeit gedacht werden kann, von dem auch der
Meusch als Naturweseu nur ein sehr minimaler Teil ist. Der
Mensch aber als Vernunft wesen ist darum auch ein Grossies,
weil er durch seine Denkkraft, durch sein selbst thatiges Bewtisst-
Immanuel Kants philosophisches Vermächtnis. 193
sein eben jene beiden andern Grössten ihrer ganzen, allergrössten
Idee nach in sich selbst erzeugen und beide miteinander in Be-
ziehung setzen kann.
Der Mensch ist seiner Vernunft, Denkki*aft, seinem Geiste
nach die einzige Stätte in der Welt, wo Gott seinem wahren
Wesen nach als geistige Person präsent d. h. gegenwärtig da ist;
zugleich ist der Mensch das einzige Welt-, Natur- und Sinnen-
wesen, das sinnlich materiell auf die Welt der Dinge einwirken,
zwecksetzend sie gestalten und umordnen, verbrauchen und ver-
wenden kann. In seiner Vernunft ist Gott gegenwärtig und durch
seine Vernunft zugleich wirkt er auf die Dinge nach seinen geistigen
Zwecken. Wenn nun seine Vernunft ganz von Gott, dem Ideal
der reinen Vernunft, erfüUt wird, wenn also sein Bewusstsein ganz
Grottesbewusstsein geworden, und sein Ich ganz dem göttlichen,
allerhöchsten Ich sich hingegeben und unterworfen hat, — dann
wird der Mensch, als der, in dem Gott ganz präsent ist, der
wahre Repräsentant Gottes in seiner Welt sein und diese ganze
Welt gemäss dem göttlichen Endzweck des Guten zu einem
^yReiche Gottes^ wirksam umgestalten und ordnen, so dass dann
Gott wirklich in der Welt existiert und die Welt die wirkliche
Behausung, der Tempel des lebendigen Gottes ist. Dann wird
von der Welt das Wort giltig werden, nicht bloss: Siehe da, eine
Hütte Gottes, sondern: „Siehe da, eine Hütte Gottes bei den
Menschen". Denn der Mensch ist ein Maximum, weil er das
Mittelglied zwischen Gott und der Welt ist, durch das Gott in der
Welt existierend wird.
Diese Giiindlinien, die Kant hinterlassen hat, zu einem System
der Transscendental-Philosophie ausgebildet, dürften das System
Spinozas weit an Tiefe und Grösse, Kraft und Sicherheit über-
treffen. Und das war auch Kants Absicht. Daher wird der Name
Spinoza in diesen letzten Aufzeichnungen sehr oft genannt, wenn
auch immer in polemischer, nie in zustimmender Absicht. Damals
war ja Spinozas Name in aller Munde, und besonders Schelling
bemühte sich, seine Denkart zu Ehren zu bringen. Man war nicht
bloss des orthodoxen Supranaturalismus müde, sondern auch der
seichte Rationalismus und Deismus befriedigte Niemanden, während
des Spinoza Pantheismus ebenso tiefsinnig wie poetisch, rationell
wie religiös schien. Unter Schleiermachers Führung schickten
sich sogar die Theologen an, Spinoza auf ihre Altäre zu heben
und ihm „eine Haarlocke zu opfern". Kant aber war und blieb
KanUtadiao £Z. |3
r, Heiïïan,
unerschütterlich bis ans Ende der festen tTberzeugung, dass der
Spiüozismiis und aller Pantheismus irrig sei. Beständig weist er
darum in seineu letzten Gedanken den Pantheisraus ab: Gott ist,
nicht die Substanz der Welt und nicht Weltseele, nicht ein unper-|
sönliches Wesen ohne Verstand und Willen, sondern vernünftiger
Geist, Person mit höchstem Wissen und höchster Macht uudl
höchster Güte.
Andererseits aber erkannte Kant sehr gut, dass man nur
darum dem Pantheismus so sehi- huldige, weil er ein Element ent-
halte, das weder beim daftialigen Theismus noch Deismus zu findtii'
war; die Immanenz Gottes in der Welt. Kants Bestrehen geht
daher dahin, eine Immanenz Gottes aufzustellen, die nicht pan-
theistiseh ist, d. h. die nicht den Gottesbegriff zerstörende Konse-
quenzen hat. Er stellte daher eine Imnmnenz Gottes im uienscb-
licheo Bewusstsein auf, tiefsinnig und grossartig, die zugleich dem
transscendentalen Idealismus der kritischen Philosopliie aufs ge* J
naueste entspricht und in kemer Weise die Gottesidee, wie alle"
Menschen sie sich bilden müssen, schädigt. Gott an sich ist
transscendent, für uns absolut unerkennhar. Er existiert nirgends
als Substanz, auch nicht als Weltseele; er hat überhaupt keine
Existenz m der Natur und Sinnenwelt; er ist kein äusseres Ob-
jekt der Erfahrung. Existenz hat er allein im trausscendeutalen
Ich, im Vernunftwesen des Menschen; indem er sich hier als mo-
ralisch gebietende Persönlichkeit geltend macht, wird sieh der
Mensch Gottes bewnsst. Weil also Gott dem menschlichen Be-
wusstsein immanent ist, setzt der Mensch Gott als seiend auch inj
die Welt seines Bewusstseins und stellt sich seinen Gott vor als'
in oder ausser oder über seiner Welt, je nach den Gedanken
seines Herzens. Die Menschen wüssten wieder von Gott öocb
Göttern, hätten kein Gottesbewusstsein, wenn nicht Gott im mora-
lischen Bewnisstseiu wirksam gegenwärtig wäre. Die Immanenz
Gottes in der Welt ist also keine physische, wie bei Spinoza,
sondern eine moralische^ geistige, ideelle, wie sie der Idee Gottes
allein entspricht. So ist der Pantheisnnis der substanziellen Im-
manenz überwunden, und die rein geistige theistische an ihre
Stelle gesetzt. Die wahre, von der Vernunft geforderte Imnianenï
entspricht genau den Prinzipien des Kritizismus und befriedigt
ebensosehr das religiöse Gefühl,
Möchte diese kurze, unvollständige Angabe der letzt-en G
danken Kant« hundert Jahre nach ihrer ei*steu Produktion A
Immanuel Kants philosophisches Vermächtnis. 195
regnng geben, Kants Philosophie von diesem letzten, höchsten
Standpunkt aus eingehend zu betrachten und verstehen zu lernen.
Möchte ein Denker erstehen, Kant kongenial, der das, was Kant
wohl beabsichtigte, aber nicht mehr ausführen konnte, mit scharfer
und tiefer Denkkraft als System ausdenken und systematisch dar-
legen könnte! Der Philosophie der Gegenwart würde reicher Ge-
winn daraus entspringen. Wir dürften hoffen, zu einer Natura
philosophie und zu einer Geistesphilosophie auf sicherer kritischer
Grundlage zu gelangen, zu einer Philosophie, die auch praktisch
die kulturellen und religiösen Probleme der Gegenwart mit ihrem
Licht zu erleuchten befähigt und im Stande wäre.
13*
Die Persönlichkeit Kantsj)
Von Bruno Baucli in Halle a.S..
„Der Mensch wirkt alles, was er vermag, auf den Menschen
durch seine Perslînlichkeit." Dieses Wort Goethes passt sicher i
auf den Dichter selbst, es passt auf einen Napoleon, einen Bis-
marck; einen Jesus, einen Luther. — Passt es aber auch ui
Kant?
Die wirksamen Persönlichkeiten scheinen eine ganz eigene!
Sphäre für sich zu haben: Das Thathaft-tTcwaltige scheiut ihr
Bereich, sei's im Leben der grossen Öffentlichkeit ihres eigenen _
Volkes, sei's in der Bestimniuug und Richtunggabe für VolkerH
und Nationen überhaupt, von Geschlecht zu Geschlecht. Der
Mensch jedoch, der seiüe Kraft im schlichten Rahmen der Gesell-
schaft aufbraucht, nach Aussen und nach seiner äusseren Wirk-
samkeit lediglich als deren Glied unter Gliedern erscheint, nicht
hervortritt an die Hebpunkte der breiten Öffentlichkeit, nicht ein-
tritt in die weiteste Weite des öffentlichen Lebens, ja vielleicht,
einem Descartes und Spinoza vergleichbar, sich davon zurückzieht
und ferohält, der scheint den Goetheschen Satz leicht umstosseu
zu können. Denn auf der einer» Seite wird es möglich sein, dass
ein Plus von Persönlichkeit über die Wirksamkeit überwiegt und
nicht in sie eingeht, Anderei^eits scheint die Wirksamkeit auch
ein Plus der Persönlichkeit gegenüber erlangen zu können. Di
1
1) Unser Thema ist gewiss oft ^enug in Gesamtdarstellungen von
Kants Leben und Wirken erörtert worden. Und doch erscheint es nm
durch die besondere Gelegenheit als gerechtfertigt, ja als Pflicht ehr-
furch t.s voller Pietät, auch an dieser Stelle das Andenken an die Persön-
lichkeit eines der Grössten, die je gelebt, zu erneuen. Dieser Gedanke
mag der vorhegenden Darstellung ilir Daseinsrecht gehen, und manchem
Leser mag sie vielleicht gerade darum etwas geben können, weil ihr
C^egenstand nicht einfach in die Gesamtheit eines Lebensbildes '
ist, sondern selbständig für sich auftritt.
is verflochte^H
Die Persönlichkeit Kant«,
197
iivaleüz von Pers*1nlidikHt rind Wirksamkeit wäre aber m
keinem der beiden Fälle herg-estellt. Vniov die letzte Kategorie
IScheint der Mann der strengen Wissenschaft — die erwähnten
Descartes nnd Spinoza waren vielleieht nur die eklatantesten Bei-
spiele dafür — am ehesten zu geh(>ren ; ihr scheint auch Kant
einzuordnen zu sein.
L Allein wer auf diese Weise den (^oetheschen Satz urazu-
en gedächte, würde, trotz aller formalen, disjunktiven Richtig-
keit seiner Argumentation den Dichter gar nicht treffen. Er
würde unter Persönhchkeit etwas anderes verstehen wie jener.
^A Das , Voilà un honiiiie*, das selbst dem thatgewaltigen Napo-
Wn die Persönlichkeit Goethes abnötigte, bezeichnet die Wudit
des Eindrucks, den der Dichter auf den Gewaltigen gemacht hatte.
Und es ist bekannt, wie sehr auch dieser Gewaltige mit seiner
personlichen Wucht auf den Dichter gewirkt hatte. Dieses .Voilà
un homme', das einem ganz impulsiv der Eindruck eines Menschen
abnötigen kann, bezeichnet gewiss die überragende Bedeutung eben
schon des äusseren Eindrucks, der sicherlich vorzüglich thatge-
waltigen, thathaften Charakteren eignet. Und die Persönlichkeit
Ib diesem bereits sehr prägnanten Sinne hat der Einwurf gegen
den Goetheschen Ausspruch vor Augen. Aber so hoch gerade
Goethe auch die Personlichki'it in diesem Sinne schätzte, so hat
doch sein hier in Rede stehender Satz die Persönlichkeit in einer
■bz anderen Bedeutung zum Gegenstände: Die einniaUge und be-
sondere, ihrei-selbst bewusste Eigenheit, die Individ nalität, die
ihrcrselbst inue wird, hat vr hier gemeint» Auch sie ist schon
^hftchstes Glück der Erdeukhider'*. Sie eignet der menschlichen
Gattung allein. Nur eignet sie im Gegensatz zur Persönlichkeit
im eminenten Siune des Wortes allen Ghedern dieser Gattung;
wenngleich mit mehr odei" minder scharfer Prägung ihrer Eigcnlieit.
^B Die Persönhchkeit in dieser aüerallgemeinsten Bedeutiuig
^M^ert keineswegs jenen s])ezifischen Eindruck des Gewaltigen
SBirlifiichtvollen nach Aussen hin, sondern lässt für die Spezifi-
kationen der Individualität überhaupt einen unendüchen Raum.
Sie wird unter sich befassen Naturen des machtvollsten, wirkungs-
reiehsten Eindrucks, deren Kraft in unendliche Weiten reicht;
Naturen, deren blosse äussere Erscheinung auch schon ihi^e innere
Bedeutsamkeit zu diagnostizieren verstattet; diese ebenso, wie die
Rchlichtesten, äusserlich und innerlich schlichtesten, Naturelle. Sie
aber auch unter sich belassen Individualitäten, deren innerer
198 ^^^m B. Bauch,
Reichtum sich weder in Jie Weite und Breite, noch in die änssei-e
Erscheinung, den offenbaren Kindruck restlos ergiesst, deren
Grösse still und deren Erhabenheit Einfalt ist, die erst auf dea
för Charaktere geschärftereu and dnrcli Übung auf sie eingestell-
teren Blick T^irken, auf ilin aber wirken, wie nach Winkelniaiui
die pîechisehen Meisterstücke in der Malerei und Bildhaui^r-
knnst.V)
Alle diese Eigenarten mit ihren unendlich mannigfaltigen
Zwischenstufen fallen unter den Begriff der Persönlichkeit in
diesem weiten Sinne. Und darum bewahrheitet sich Goethes Wort
doch. Sein Sinn ist kein anderer als der: Wie ein Mensch auf
und für Menschen wärkt, hängt davon ab, was er selbst für ein
Mensch ist. Hier ist das Wort „Wirken" in ebenso umfassender
Bedeutung gebraucht, wie das Wort ^Mensch" oder vorhin », Per-
sönlichkeit'', und besagt nichts Anderes, als die ßethätigung inner-
halb des Vernunftreichs der Menschheit» Und in diesem Sinne gilt
es auch von Kant.
i
^
Es mag gewiss richtig sein, dass seine Eigenart, sich nach
Aussen hin nicht in jenon wuchtigen, niederhaltenden Eindruck zu
erpessen vermochte, dass sie nicht die Prägnanz eines Plüs
gegenüber ihrem Wii^ken besass, dass vielmehr diesem Wirken im
Verhältnis zur Persönlichkeit im eminenten Sinne des Wort^
ein Phis zustehen mag. AUein ihre Besonderheit ist — soweit
man eben überhaupt bei der jeder Individualität zustehenden und
in ihrem Wesen liegenden Besonderheit so reden könnte — keine
alltägliche. Zwar nicht jene wuchtige Grösse historischer Helden^
naturen ist ihr eigen. Edel-einfältig und still ist ihre Grösse.
Aber Grösse besitzt auch sie, eminente Grösse. Und in ihr bietet
die Persönlichkeit Kants das adäquate Abbild zu seiner Wirksam-
keit, sodass wir in Wahrheit sagen können: Was Kant auf mis
gewirkt hat, das wirkt« er durch seine Persönlichkeit, weil er war,
der er w^ar und so war, wie er war: Nicht die grosse extensive
That charakterisiert, sein Wesen und Wirken, sondern die stille,
intensive, absolut nachhaltige Bethätigung. Kant hat nie
sein Wirken in die Weite des allgemeinen Lebens erstreckt und
wird schw^erlich je die Allgemeinheit der Menschen mit seiner
1) Ich darf hier vielleicht daran erinnern, dass Schiller einmal be-
tont: Das Genie habe ,,mit der architektonischen Schönheit viele« ge-
mein,"
1
Die Persönlichkeit Kant«, 199
Wirkung ergreifco, wie das im Wesen timtgewaltig'er Naturell
liegt, die die Führerstellon im Leben und ti«scljîck ganzer Völker
und Nation^u inne haben* Wo er aber mit seiner Wirkung ein-
sotzt, da üborlnetet er jene vielieieht ebenso an Tiefe, wie sie
ihn an Weite der Wirksandîeit übertreffen. Nicht ganzen Völkern
bestimmt er dujTb seine Füiirerschaft ihr Geschick. Aber auf
Einzebie, Wenige wirkt er bestimmend, und diese Wenigen bilden
selbst eine von der Masse abseits stellende^ ihr in ihrer Ali un-
endlich überh»gene Sonderlieit.
^^ „Edle Einfalt und stille Grösse" — so ist sein Wirken, so
^■Mieh sein Wesen.
^P Dnreh die intensive, in die Tiefe greifimd»' Wirksamkeit Kants
f haben wir auch bereits den allgemeinsten Zug seiner Persöidichkeit
I für die Charakteristik gewonnen. Intensiv und tief wirkend ist
alle Thätigkeit des (lenies. Beim staatsmauni.scben und religiösen
GteDie konnnt dazu noch die extensive Wirksamkeit, die Wirkung
in die Bnnte^ Wo aber die Wirkung allein durch Tiefe und In-
tensitüt bestimmt ist, da haben wir es entweder mit dem künst-
lerischen oder dem wissenschaftlichen (irenie zu thun. In Kunst
und Wissenschaft ist die wahre Wirkung des wahren Genies
still und ruhig. Das unterscheidet es von den blossen „Talent^
niannern" in ihren Bethätigungsgebieten ebenso, wie vou dem
wahren Genie ausserhalb dieser ihrer Bethätigungsgebiete; oder
von jenen seltenen Naturen, die, wie G. Bruno, in ihrem Wiesen
einen Komplex geiualer It^igenarteu — Bruno ist ebenso wissen-
scbafUiches und künstlerisches, wie religiöses Genie — be-
schliessen.
8tül und ruhig ist auch die Wirksamkeit Kants, und wie
»ehr solche Wirkungsweise von d(^r praktischen Seite des Menscheu
bestimmt wird, wie sehr also das Genie nicht bloss eine intellek-
tuelle, sondern eine sittliche Bestimmung ist, das zeigt die Per-
sönlichkeit unseres Philosophen ganz evident.
Der am 22, April 1724 als einfacher Sattlerssohu Geborene
behalt die itim gleichsam von iieburt mitgegebene Einfachheit und
stille Hcbiichtheit sein ganzes Leben im Kern seines Wesens bei.
Er war und wolllt(% wie Kuno Fischer mit treffender Verstandnis-
iiiaigkeit liemerkt» nie etwas Anderes sein, als ein deutscher Pro-
fessor, Es ist gewiss walir: Kant besass auch, was mau welt-
männische Bildung neuntp er wusste sicli in der vornehmsten —
200
B. Bauch,
im Siiine: der durch Geburt aiis;^ezeichnetsteu — Gesellschaft, wie
Diir einer zu benehmen uud zu bewegen, er war in dieser Gesell-
schaft, eiu Fiel begehrter, gern gesehener und überaus geschätzter
Gast. Es ist weiter wahr^ dass Kant vornehme Gesellschaft unü
Stand nicht verachtete, ja sogar über Orden uud Titel nicht gar
zu geringschätzig dachte und alles dies in seiner sozialen, allerdings
nur zeitlichen Bedeutung nicht verkannte, wie es Gelehrtendünki"!
leicht thut. Dazu war Kant eben viel zu wenig Gelelirter, nml
viel zu viel Weiser* Aber eben darum hat er für seine Person ■
auch weder hohe Stellung, noch Orden, noch Titel erstrebt. Ibni
war es genug, ein deutscher Professor zu sein. Die sozial*^ j
Stellung war ihm ja nur das Mittel zu höherem Zweck; die Posi-B
tion, von der aus, das Medium, innerhalb dessen ein jeder, seiuer "
Individualität entsprechend» am besten nntwirken könnte an (kr
Verwirklichung des sittlichen Endzwecks.
Der sittliche Endzweck aber war der Leitstern seines Lebens.
Unter tlieseni Zeichen — wir haben nun den Zentralpunkt von
Kants Persöuliclikeit ergriffen, von dem aus wir sein Wesen bis
ins Einzelne verstehen können — steht seine ganze Lebensfühningt
und seinem Dienste weiht er seine eigene, die seiniT ludividuaütät
gemässe höchste Lebensaufgabe: die menschliche Erkenntnis in ^
ihrem Weile zu ergründen uud ihren Wert zu begründen. Es'^
hat wohl nie ein Mensch gelebt, der gerade dieses Ziel mit solcher
Schärfe ins Auge gefasst, und mit solcher Koncentration aller
Kräfte itim nachgestrebt hat, wie gerade Kant.
Das also müssen wir festhalten: Sittliches Ideal und Er-
kenntuisideal durchdringen sich in Kants Wesen so, dass zwar das
erste iumier das übergeordnete bleibt, aber doch da.s zweite sa —
innig iimschliesst und in es eingeht, dass dem Weisen die Erkeuntnii^
zur sittlichen, ja religiösen Lebensaufgabe selbst wird, und dass
seine Sache auf beide Ideale und ihre Durchdringung zugleick
ganz uud gar gestellt wird. So vereinigt sein Wesen genialen
Tiefsinn und kritische Schärfe mit der gewattigen Schaffenslust
und Schaffenskraft im Dienste der Wahrheit, dei' ihm zugleich
einen Dienst des sittlichen Zweckes bedeutet. Der moralische
Faktor seiner Persönlichkeit ist von derselben Kraft und Stärke
wie der intellektuelle, der Mensch verdient die gleiche Bewunderung
wie der Philosoph, P'ine gewissenhaftere Ausnutzung der Talente,
wie wir sie durch Kaut vollzogen sehen, ist kaum denkbar. Die
Persönlichkeit des Philosophen, der den kategorischen Imperativ
É
Die Persönlichkeit Kants. 201
als Formel des Moralprinzips aufstellte, bildet auch dessen Ver-
körperung im Leben, im Dienste der Sache, die Kant zur Sache
seines Lebens gemacht hatte. So lebte er praktisch seine Lehre
Tom Praktischen.
Wie er seine Haupt- und Lebensaufgabe, den Dienst der
Wahrheit und Erkenntnis als einen sittlichen, ja religiösen Dienst
fasste, wie er die Hauptbethätigung seiner Kraft unter den Wert-
gesichtspunkt des Sittlichen rückte, und als einen Dienst dieser
letzten und höchsten Bestimmung des Menschen betrachtete, so
ordnete er auch alle übrigen Angelegenheiten seines Lebens, grosse
und kleine, dem nach seiner Auffassung höchsten und allein abso-
luten Zwecke des Sittlichen und seiner sittlichen Berufsaufgabe
unter.
Das Ideal des pflichtgetreuen Lebens im Allgemeinen und das
ffir seine Individualität unter jenes letzte und höchste Ideal zu
liebende Ideal der Wahrheit und Erkenntnis im Besonderen,
lern zu dienen er für seinen sittlichen Beruf erkannte, — sie
^eide erklären und tragen das Leben unseres Philosophen als
fenschen.
Im Hinblick auf sie verstehen wir den ganzen Plan, die
^dnuug, die sein Leben beherrschen, wir verstehen sein Leben
Is ein Leben im Dienste des Zwecks.
Denn das Leben in den Dienst des Zweckes stellen heisst
. an sich schon nichts Vergebliches, nichts Unnötiges thun wollen,
lin Handeln planvoll ordnen ist darum gleichbedeutend mit der
Brfolgnng des Wertvollen und der Vermeidung des Wertlosen und
[iQÜtzen; einen Lebensplan haben wollen, gleichbedeutend also
it Nutzung der Zeit. Diese aber lässt sich voll und ganz nur
reichen in einer strengen Durchführung von praktischen Grund-
tzen, die sich ihrerseits in der Maxime planvoller Zeitanweudung
reinigen. In dem ,carpe diera* müssen also als in einer Art
m oberer Maxime eine Reihe einzelner besonderer Maximen zu-
mmenfliessen, die alle, ebenso wie jener obere Grundsatz, selbst
ren letzten Ursprung haben in dem obersten und höchsten Grund-
.tz, der Selbstbestimmung durch das Sittengesetz und seiner Ver-
nigong mit dem Erkenntnisideal als der sittlichen Benifsbe-
immung Kants. Ethisches Ideal und Erkenntuisideal machen also
Ewh Kant und für seine Persönlichkeit eine Reihe von Einzel-
rundsätzen notwendig, und wie allgemein logisch, so bedingen sie
2(12
B. Bauchf
aurh insbesoüdere für die Itidividiialität Katits als einen zwische
iliiieii und deu besonderen Grundsätzen vermittelnden Grundsatz i
Maxime: benutze die Zeit. In der That erreichte Kant, vorlän
noch ahj^esehen von allem Erspnessliclien oder UnerspriesslieheD ii^
Einzelnen des Inhaltes seiner besonderen Maîduien durch
grundsätzliches Handehi überhanpt, eine absolut« Herrschaft üb
die Zeit. Wenn wir nns sein Tagewerk ansehen, so müssen
wahrhaftig sagen: es ist geordnet nach der rhi% Bestiramt ist
die Stunde des Aufstehens am Morgen, bestimmt nicht blos die
Zeit seiner Vorlesunpreu, sondern auch seiner Vorbereituugszeit
die^e; bestimmt die Zeit der Arbeit an seinen epochemachende
Werken, die Zeit des Mahles, der Ruhe und Erholung in aüg
nehmer Gesellschaft, die Stunde des Spazierganges, seiner nihigeo,
ohne Aufzeichnung gehaltenen Meditation, seiner Lektüre und de
Schlafes. So musste Kaut mit der Zeit umgehen, um der Phibsoph
der philosophische Schriftsteller zu werden, der die copernicaoisch
Umwälzung im philosophischen Denken hervorbringen könnt«
hinter die zurück alle kommende Philosophie wird ebensowenig
gehen können, wie die Astronomie auf den vorcopemica-
Mischen Standpunkt T^-ird zoruckschreiten können. So musst«
schliesslich auch der akademische Lehrer sein und leben, derohce
alle Rhetorik, die kleinsten rednerischen Kuustmittel» die Paiadoxe
ebenso wie den Witz vermeidend, allein durch die Sache wirkt«?
und doch einer der gefeiertsten Lehrer war, die je auf dem
Katheder unserer Hochschulen gestanden haben. Die philosophische
Schriftstellerthätigkeit und das akademische Lehramt aber erfüllten
den sittlichen Beruf des Menschen« erfüllten sein Wesen und
Wirken.
Wie dieses sein berufliches Wirken dnrch und durch bestimmt
ist und getragen von seinen Idealen, so bestinimen und bedingmi
diese mch dnrchalts sein attsserl»erufliches Sein und Sich-Haben
m seineo besood^nen Maximen: Sein oberer unter den besonderen
Gnmdsâueo, den allein vnr bishejr beUachlet haben, und den wir
kxn in die Worte fassten .carpe diem', der die zweckvoUe Be-
anixung der Zeit, die Vermeidung aUes Unnützen und Yergeb-
lichm £um Inhall hatte^ involvierte aber für ihn eine doppelle
Pfltehi: einmal« wie wir sdiea gos^hm hâbea, seine eigene Zeit
md nilabar «nniwenden. daaa aber anch gegen den
Dieseni die nutabare Anweadia; der Zeit nicht zu er-
Sek vereu» die auch filr ihn Pflichl ist ; seine Zeil m «rMPM^^, ihn
Die Persönlichkeit Kant«.
203
reder unutitz zu störeu, noch ihn zu uötigeü, seine Zeit leer zu
m. Piiüklliebkeit iiud absulutt! persöolklie Zuverlässigkeit iü
len Diogeu^ im Kleinen wie im Grossen, sind darum hervor-
chende Charakteristika Kauts. Er belraditete ja uieht hlos sich
einen Diener des sittlictieu Eudzwei-ks, soudern auch den
Nächsten, da er die Menschenwürde überhaupt in tier sittlichen
Bestimmuug einer jeden Persönlichkeit erkannte. Wa8 er darum
aber als seiue Pflicht gegeuüber dem Nächsten ansah, von dem
war er wenigstens nach der hier in Rede steheuden Rücksicht hin
iBUch überzeugt, dass es der Nächste ihm selbst gegenüber als
Pflicht zu respektieren hätte. So verlangte er die selbst so pein-
lich beobachtete Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit auch vom
Anderen.
Einer der ersten Biographen Kants, Borowski, berichtet davon
ein kleines ebenso bezeichnendes, wie ergötzliches, übrigens auch
recht bekannt gewordenes Geschichtchen: Kant hat eine Verabredung
mit einem Studenten. Dieser verspricht, sich zu einer festgesetzten
Zeit bei dem Philosophen einzufindeu, bleibt aber unentschuldigt
aus. Als darauf der Student bei einer öffentlichen Disput4ition
die Rolle eines Opponenten übernehmen will, weist Kant sein An-
suchen ab, mit der Begründung; „Sie möchten doch wohl nicht
Wort halten, sich nicht zur Disputation einfinden und dann alles
jrerderben/'
^
Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sind also die treibenden
Faktoren zur planvollen Anwendung der Zeit, die selbst eine Be-
ßtlniniung der höchsten sittlichen Zwecke der Kantischen Persön-
lichkeit ist. Nun sind, wie bereits bemerkt, nach Kants Lebens-
auffassung, wonach das Leben nur einen Dienst für höhere sitt^
liehe Zwecke bedeutet, eben zu deren Erreichung auch besondere
ürundsätze nötig. Denn die allgemeine Regel- und Gesetzmässig-
keit der Lebensführung lässt sich, wie ebenfalls betont, praktisch
mir diUThfuhren vermittels besoiulerer Maximen. Und der Grund-
satz, den Kant in der Ausnützung der Zeit bethätigte, bildet Ja
hur den vermittelnden Übergang von den allgemeinsten Idealbe-
Utimmnugen, wie sie das Sittengesetz im Allgenieinen und das
Erkenntnisideal für die persönliche sittliche Berufsbestimninng
Kants enthielt, zu eben diesen besonderen noch konkreteren
Grundsätzen. Sie finden wir darum auch bei Kant bis in die ein-
zelnsten Einzelheiten seiner individuellen Verhältnisse durchgebildet'
204 B. Bauch,
Nach praktischen Grundsätzen nmsste alles in seinem Leben ge-
rogelt sein ; nicht nur, wie bereits erwähnt, seine hochbedeutsamen
Berufsarbeiten, nicht nur seine alltägliche Lebenseinrichtung. Sie
erstreckten sich sogar bis in die Gesundheitspflege, die Kant, wie
sein Aufsatz „über die Macht des Gemütes, durch den blossen
Vorsatz seiner krankhaften Zustände Meister zu sein"" zeigt, als
sein eigener Arzt besorgte, indem er kein anderes Heilmittel an-
wandte, als seine Willenskraft, den „blossen Vorsatz". Ja bis in
die einfachsten Angelegenheiten des Haushaltes wirkte die Be-
stimmung seiner praktischen Grundsätze.
Je weiter wir sie nun ins Individuelle verfolgen, desto deut-
licher zeigen sie uns freilich den Menschen Kant von zwei Seiten.
Einerseits ist nicht zu leugnen, dass seine Lebensführung durch
sie einen Stich ins Pedantische erhielt. Wenn wir sehen, wie der
Weise gleich die Maxime fasst, niemals mehr in seinem Leben
einen Wagen zu besteigen, über den er nicht allein frei verfügen
kann, bloss weil er einmal durch die Annahme einer fremden Ein-
ladung zur Wagenfahrt seine Heimkehr über die gewohnte Stunde
hinaus verzögert hat, ») oder wenn er sich zum Grundsatze macht,
„Lampe niuss vergessen werden", weil er seinen Diener Lampe,
den er länger als dreissig Jahre bei sich gehabt, wegen der gröb-
sten Vergehungon hat entlassen müssen, sich aber infolge der Ge-
wöhnung schwer von ihm trennen kann, — wenn wir das sehen,
so muten uns solche allzumenschliche Züge zwar ganz ergötzlich,
aber doch auch kleinlich an. Auf der anderen Seite jedoch zeigen
uns die Maximen den Menschen in einer geradezu vorbildlichen
Art. Es ist genugsam bekannt, wie sehr er aus reiner lauterster
Wahrheitsliebe die Tiüge, selbst die Notlüge verwarf, wie sehr er
grundsatzlich (-îenK'htinfkeit übte, wie bereitwillig er, aus Grund-
satz, würdigiMi, der Unterstützung bedürftigen Menschen hilfreich
zur Seit(» stand. S(ûnp ersten, ihm selbst noch befreundeten
Biographen, Rorowski, Wasianski, Jachraann geben davon rührend
Zeugnis.
Gegen dieses maximcMihafte Handeln mag sich genug ein-
wenden lassen: Es mag dagegen zu bedenken sein, wie wenig es
den unl)er<»chenbaren, absolut individuellen Situationen des Lebens
gerecht zu werden vermag, in denen die beste Entscheidung doch
M Zuerst von .iHclimann berichtet, daiin in mannigfache Darstel-
lungen von Kants Leben und Philosophie übergegangen.
Die Persi^nliclikeit Kant«. 205
Bm momeutaneû» sittlichen Impuls überlassen bleiben muss; es
zu erwägen sein^ wie sehr es überhaupt das ursprüngliche,
îipulsÎTe Leben unterbiiideu niuss; ja endlich» wie es gerade ans
ritischer Rücksicht jeder Verallgeiiieinenuig unfähig ist, und wie
Kant, bei dem Wunsche nach Verallgemeinerung hätte wenig
^Rücksicht nehmen können auf sein kritisches Prinzip und wie er
1 dessen formale Bedentnng hätte einfach durchbrechen müssen — er für
[seine sittliche Person bleibt davon unberührt. Praktiscli, sittlich
fei er seinem Prinzip ebenso sehr gerecht geworden» wie wetiig
er auch der Formel dieses Prinzips theoretisch entsprochen hätte.
Ihn bat eben nur eines geleitet: eine edle, erhabene Gesinnung,
mid auch die oft vielleicht schnillenhaften Maximen flössen aus
ihr nicht minder wie seine schönsten nnd vorhikllichsten Züge.
Sein sittliches Wesen steht rein und gross und erhaben vor uns.
Heiligkeit ist dem Menschen, nach des Philosophen eigener Lehre,
yersagt Das Höchste, was er danach erreichen kann, ist ein
*:utPr Lebenswandel, ein makelloses Erdenleben. Dieses Höchste»
was der Philosoph lehrte, liat er erreicht, iüdem er es lebte.
Wir können uiclit alle alles. Es wurde bereits vorhin darauf
hingewiesen, wie ein durchgängig maxim en haft bestinnntes Leben
der impulsiven Urspriinglichkeit keinen Raum geben könne. Das
heisst: Die rein-gemütliche Seite des Menschen umss durch die
st^tig^eReflektiertheit des Handeins beschränkt und beengt werden,
und Kant selbst bat das an seinen) eigenen Wesen erfahren
'ttiissen. Das üebot der praktischen Vernunft ward, ohne dass
dies in der Konsequenz seiner Ethik lag, dunii die persönliche
^Waxifuisierungssucht einseitig überspannt nnd zu denî gemacht»
^^ wir im gemeinen Leben vemunftmässig im Sinne von ver-
*^Unr}esmässig nennen. Kaut selbst Hess so eine Seite seines
^^'Sens, die des rein-Gemtitlichpn, schon für seine Person nicht
*'îiîï v'ölligen Ausleben, zu vollkommener Kiit Wickelung gelangen,
^iiti ebeu danmi versperrte er sich sogar das VerstJindnis für die
^"?f*/rioiiie, Bedeutung dieser uienschlichen Ijebensäusserung. In
^J^iïi ßestreben, am sittlichen Werte alles zu messen, alles sogar
'" ei£ie?ïii stark rationalistischen Bedürfnis zu nuiximisieren, ver-
*%/^o ^î* einerseits, dass es nocb neue \Verte ontologischer Natur
^H 0fi^t>4l ecken galt, dass also im sittlichen Werte, trotzdem sie
^//e^J^^^^^^^ine Ausstrahlungen sind, nicht alle Werte beschlossen
-%^'ûraiif ihn schon sein eigenes Erkenntnisideal hätte hin-
S06
B. Bau ell.
weisen konoen; andererseits, dass manches gerade erst dann aaeh
sittliche Kraft und sittlichen Wert erlangen kannte, wenn die
maximisierende l'berspannnng des Vernünftigen zum Verständigeü
— and diese (Tïerspiannung Ih^ in der Konsequenz der allgremeioeD
Maximisierungsteodenz, ja deckt sieb mit ihr sogar bis zu einem
gewissen Grade — davon ferngehalten würde. Es gilt dies von
allen Gefühls- nnd Gemütswerten. Sie mussten, mitsamt dem Ver-
ständnis für sie, in Kant bis zu einem gewissen Grade infolge é
Umbiegung des Vernünftigen zum VerstÄndigen hintangehaltenj
ja unterdrückt werden. Dass es ein charakterlogiseher VVertmitei
schied von eminentester Bedeutung ist, ob einer seine von d<
sittlichen Bemfspflichten freie Zeit dem Genuss von Kunstwerkea
widmet, oder sie beim harmlosen Dämmerschoppen zubringt —
beides eventuell sittlich ganz gleichwertige, d. h. irrelevante, ii
différente Handlungen — diese Überzeugung konnte sich in Einl
bei seiner einseitigen Betonung des Ethischen, jedenfalls nicht zu
genügender Starke und Klarheit durcJiringen, Ebenso musste ihffl
mancher sittliche Wert des Gefühlslebens verborgen bleiben, gerade
weil er, nach Sokratischera Vorgang, dem Sittlichen — nicht in
setner Ethik, aber für seine Person! — die Bedeutung des Tei
sUlndigen vindizierte. Und wie es in ihrem Plane lag, rausst€tt'
die Maxinjen auch in die^r Weise auf Kant menschlich zurück-
wirken, Kants Ehelosigkeit und seine ganze Stellung zur Ehe
überhaupt wird uns auf diese Weise durchaus verstandlich. E&.
ist ge\iiss zuzugeben, was Kuno Fischer') in seinem mit Künstlei
hand gezeichneten Lebensbilde unseres Philosophen sagt: dass die
Ehe in Kants gleichförmigen Plan sich nicht harmonisch eingefiigkj
hatte. Wir selbst haben auf die strenge, zu dem höheren ZwecWfl
seinen idoalen Aufgaben zu dienen, unternommene Zeiteinteilung
und Zeitausnutzung zur Genüge hingewie^ien, wir verstehen sei
wohl, Tiiie sie durch die Ehe mannigfach durchbrochen word
Wftre« wie die Ehe der ganzen Richtung der Kantischen Lebens-
fühnuig zuwider und liinderlich gewesen wäre» Es ist femer zu-
zugeben, dass Kantiî Hagestolzentuni sein Unverständnis für die
Ehe verschuldet hat. Aber ebenso gewiss ist der Gegensatz
richtig, dass Kants Mangel an Vexst&ndnis für „die Tiefe dieser
Leheusgemeinschaft • sein Hageslolzentum mit verschuldet hat.
Beide bedingen sich wechselseitig, Dass Kant aber die Ehe nur
Kant
*) Immanuel
114 u. 115.
und seine Lehre. Heidelberg 1898.
Die Persönlicbkeit Kants.
207
m Begriff des bürgerli<^hen Reditsveitrages unterzuordöeii wusste,
lediglich aus ökonomischen Gründen für beg:ehrenswert ansehen
ite. kurz überhaupt nur die ,,Vet'nunfteliè*' kannte, das geht
tiefer. Das weist zurück auf dit* durch seiti Muximisiereii
eriolg:te Unterdrückung der tjefühlswerte und die auf deren Kosten
begÜQStJgte Verstau (lesniässigkeit im Wesen Kants.
Es wäre natürhi h grundfalsch, nun in Kant etwa das sehen
m wollen, was man einen gefühllosen Menschen nenul. Wie ge-
fuhlstief er von Natur veranlagt, war, das hat sieb, nach dem
Zenguis seiner Freunde, oft genug in seinen Vorlesungen an den
Tag gerungen; wohl am besten zeigen es seine Freundschaften
Beltet, die er herzlich und innig hegte. Aber gerade an ihnen
wird auch wieder klar, wir sehr er die imtuïiiche (Tcfühlsanlage
»liircli die Kunst der Maxime in Schranken zu s|ierren bemüht war.
In rührend hei"zlicher Weise erkundigt er sich tagtäglich während
lier Krankheit eines F>eundes nach dessen Befinden, Sobald er
aber verschieden ist. darf mit seinem Andenken auch nicht mehr
tlL^r Schmerz erneuert werden. Also nicht an Gefühl und der ge-
mütlichen Seite überhaupt fehlt es Kant, sondern nur an der im
Verhältnis zur intelh^ktuellcn Eigenart harmonischen Eiilfaltung,
da er sie nicht, wie diese — was wir von vornherein bemerkten —
sich auswirken und mit ihr gleichen Schritt lialten lässt, sondern
zu deren Gunsten tuaxiniisierend niederhält.
Hier sind wh* auf einen Zug im Wesen des Philosophen ge-
stossen, der zu einem lange gehegten Missvei-ständnis seiner Lehre
Veranlassung gegeben hat, Kant hat wohl in seinem Leben oft
genug empfunden, wie sehr ilm gemütliche Neigungen von seinen
Maximen abzugehen versucht haben. Fast macht er es sich zur
Maxime, sich allein von Maximen und so wenig wie möglich von
iKeignngen bestimmen zu lassen, Neigungen geraten aber nicht
tloss in Widersprach mit persönlichen Maximen, sondern nit^bt
feiten auch in etwelche, manchmal conträre Beziehung zur Pfliclit,
^mm objektiven Gebote. Der Philosoph muss dies Verhältnis in
der Ethik scharf und genau i^rüfen untl herausarheiten. Dass er
persönlich im Leben in ziendich rigoroser Art die Neigungen zu
Gonsten der Maxiiaen beschränkt, ist keine Frage. Deutlich geimg
jhaben wir es gesehen, Unwillkürlich klingen aber hie und da auch
»einer Ethik, deren prinzipieller Gruudton absolut nicht rigoristisch
immt ist, persönliche Obertöne rigoristischer Htimmung mit,
ie Logik des Sittengesetzes erfordert ohnehin, dass der Pflicht
208
B. Bauch,
der Vorzug vor der Neigung» sofern beide roUidiereD, gegeben
wird, was au sich jederuiaon als richtig einleuchtet. Aber flags
wird für viele luterpreteu nun Kauts Ethik selbst rigoristiscj],
willirend der Rigorismus doch lediglich ein pei-sonlicher, weûfi
auch stai'k eut\iickeU«r Zug des Menseheu Kant ist. Es vvini
behauptet, jede Handlung aus Neigung, alles Streben niic-h <^'
si'ligkeit habe Kaut für verwerflich in seiner Ethik erk..::,
während er doch beides nur der sittlichen Bestiniuiung und zwar
mit absoluter logischer Notwendigkeit untergeordnet hat Wir
gering Kant allerdings den Glückseligkeitswert auch als ^k'li*^ii
nicht blos gegenüber dem sittlichen Werte bemass, wie ireffeu<J
er die ganze Schwäche und Haltlosigkeit des Eudainionismus gerade
durch die Aufdeckung seines logischen Widersiuues und des meusi
liehen Uuveriuögeus, das endamonistische Ziel zu erreichen, an
Tag gebracht bat, das wissen wir. Wenn man Kaut daram eil
Pessimisten nennen will, weil »'r erkannte, auf welch haltloi
saudigen Grunde alle Sucht nach Glückseligkeit basiert ist^
weitai» sie von ihrem erstrebten Zieh? bleibt und mit logisc
Konsequenz bleiljen niuss, so läüst sich gegen die Bezeichnung ni^
einw*'udeu. Allein es lässt sich eben auch uui" solange nichts
gegen eiuweudeu» wie man sich der von vornherein gemachten Ei
schränkung auf oint^ besondere Spezifikation des Begriffs „Ve^^i-
niistuus'' bewusst bleibt. In der Einschränkung, wie sie R von
Hartmann statuiert, dass Kant «^irdischer eudämouologischer Pe&^i•
mist sei/' ^) wird man es gelten lassen können; aber zugleich aüct
jedeu Gedanken an einen ethischen oder metaphysisclien Pessij
mus» nach Art Schopenhauers etwa, fernhalten müssen.
Dieser „eudauionologiscbe Pessiiuismus** ist übrigens auch
sich schon ein Beweis dafür» wie wenig Kants Persünlichkeit die
Gefülilsaulage gefehlt hat, und dass sie nur durch seiue pi
tische hUelh'ktualität in allzuengeu Schranken gehalten war.
iJass aus solcher Charakter ologiscb er Konstitution Stimmaugeu
füessen können, die der Mclancholin ahnlich seheu, ist sehr be-
greiflich. In gewisser Abliängigkeit von Platon sieht schon Arist«>
teles, der wohl gerade in dieser Konstitution die Konstitution des
Genies erkannt zu liaben glaubt^^, in der Mi4ancholie, wie nach
die ,
1) Kantstudien V. S. 21 ff. vergl. aucli die hier zitierten Schriften
„Zur Gesch. u. Begr. tL Pes», 1. Aufl. S. 26 f. u. ± Auf], 8 IHTi f u.
Fragen der Gegenwart 8.113 ff,**
Immanuel Kant.
Original im Städtischen Museum in KiViiigsber^.
Ult C^Drhmliraüff tob J. J Wtb«r in Lfttpxlf.
KitntetndleD Bd. IX,
1
210 B. Bauch, Die Penönlichkeit Kant».
Die Gesamtheit seines Wesens, die Totalität seiner Persön-
lichkeit mag ihre Schranken haben, — ebendarum ist sie Persön-
lichkeit, — so hat sie doch die Besonderheit ihres Wesens zur
Einheit entwickelt, zu gleicher Vorbildlichkeit gestaltet die Er-
habenheit des Geistes und die Erhabenheit ihrer sittlichen Eigen-
art. Und ebendarum ist die Persönlichkeit Kants doch eine Per-
sönlichkeit im eminenten Sinne des Wortes; für jeden, der sie
versteht
K^ants Bedeutung für die Pädagogik der Gegenwart.
Zum Streite Natorps mit den Herbartianern.
Von F. Staudinger in Dannstadt.
Wenn wir über Kants Bedeutung für die Pädagogik der
Gegenwart reden, so werden wir selbstverständlich nicht viel über
die Bedeutung von Kants Pädagogik zu reden haben. Denn diese
Disziplin ist bei Kant nicht ausgebildet worden. Sein Büchlein
über Pädagogik enthält Abrisse, Schemata und Einzelbemerkungen
zum Behuf pädagogischer Vorlesungen, aber keine systematische
Durcharbeitung aus dem Grundgedanken seines Systems heraus.
Bei der Pädagogik sollte man zwei Dinge scharf auseinander
halten, das Erziehungsziel und die Erziehungsart, d. h. die
»Summe der Mittel, dadurch man sich diesem Ziele annähert. Es
ist offenbar, dass die letzte in sehr hohem Masse durch die erste
bedingt ist, in so hohem Grade, dass die Erziehungsmethoden viel-
fach geradezu entgegengesetzt werden müssen, je nachdem man
z. B. ein in bestimmten Fertigkeiten geübtes, fremdem Wollen dienst^
willig fügsames Wesen abrichten, oder eine zu mannigfaltiger Thätig-
keit befähigte, vernünftig sich selbst bestimmende Persönlichkeit
erziehen wül. Zu ersterem ist, wie Kant sagt, Dressur, zum
anderen Disziplinierung, Kultivierung (Belehrung und Unterweisung),
Zivilisierung und vor allem Moralisierung nötig. Die letztere
muss „gründen auf Maximen, nicht auf Disziplin^.
Dass dies letzte Erziehungsziel richtig sei, ist für Kant
selbstverständlich. „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, son-
dern dem künftig möglich besseren Zustande des menschlichen Ge-
schlechts, das ist: der Idee der Menschheit und deren ganzer Be-
stimmung angemessen erzogen werden. Dies Prinzip ist von
grosser Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur
so, dass sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt,
14*
212
F. Standinger,
P
passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünf-
tiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde." ^VVir
leben*' eben, so sagt er etwas später, Jm Zeitpunkte der Dis/J-
plinierung, Kultur und Ziviüsiening, aber noch lange nîtîht in dem
Zeitpunkt der MoraLisiernug." Aber „wie kann mau Menschen
glücklich macheu, wenn man sie nicht sittlich und weise macht V***)
Man könnte hier freilich vorlaut genug sein, zu fragen,
wer denn die Erzieher dazu erziehen könne, dass sie
solches Ziel wollen und die Mittel dazu zu erkeuneu und
anzuwenden yermögen? Diese PYage aber wollen wir nicht
ansclmeiden. Im übrigen ist das Ziel durch Kants Fest-
stellung wenigstens im allgemeinen gegeben. Es handelte
sich nur noch darum, es genauer zu bestimmen und dessen
objektive theoretische wie praktische Bedingungen zu er-
forschen* Davon redet nun freilich Kant in seinem Vorlesung**-
hefte nicht; diese Arbeit hat er in seinen drei grossen Kritikan
geleistet, soweit er sie für seiue Zeit leisten konnte. In jenem
Werkchen ist bloss von der Eraehungsart, der physischen, wie
der praktischen die Bede.
Auf diese Erziehungsart legt denn auch die folgende Päda-
gogik das Hauptgewicht. Freilich der Erziehungszweck wurdi^
von Kautiî Nachfolgern mehr oder weniger im Sinne Kants ge-
fasst, als wäre das selbstverständlich. Sehr schön formuliert
z* B. Stephens : „Behandle deinen Zögling als ein freies Weseu,
welches seinen Willen nach den Vorschriften der Vernunft ge-
brauchen lernen soll."-) Diesen Gedanken vertritt denn auch*
dem Worte nach diejenige Pädagogik, die auf Kant fussend heut«
am meisten Bedeutung und Einfluss gewonnen hat, die Pädagogik
Johann Friedrich Herbarts. Er vertritt schembai^ ebenso ent-
schieden als Kant die sittliche Autonomie und verw^irft alle die-
jenige Erziehung, die ihi-eu letzten Zweck ausserhalb des Indiri-
duums steckt, und ihn gewissen anderen Zielen, z* B. Glücksehg-
keit, Nutzen, Familie, Staat, Kirche unterordnet* Aber die^e
Nachfolge Kants ist denn doch nicht so sehr, wie Herbait selbst
glaubt, wirklich dem angeführten Prinzip gemäss. Es befinden
sich ganz wesentliche Elemente in ihr, die diesen Grundsatz ver-
dimkeln und trüben. Und ihnen gegenüber ist es am Platzej
1) Alis Kants Pädagogik.
»> Nach Sclimidts Gesch. d, Pädagogik. 2. Auü. IV, 860,
Kants Bedeutung für die Pädagogik der Gegenwart.
213
2ts wahre ivtid echte Oniudgedatilteu hervorzuheben uod diesen
Trübimgen gegenüberzustellen. Diese Trübung-en sind freilich
nicht bloss in Ht-rbarts Päd^igogik vorhanden. Im Gegenteil, diese
ist relativ vielleiclit vollkommener als die meisten anderen. Aber
gexade darum, weil sie deo Anspruch macht, Kants Frei-
heitjslehre weiter zu entwickeln, weil sie also massgebende Ver-
treterin der Erziehung zur sittlichen Autonomie zu sein bean-
sprucht, ist es notwendig, zu zeigen, dass sie nicht leisten kann,
was sie leisten müsste. Gewiss hat Herbart ebenso, wie Kant, den
guten Willen, gegen jede Hetm'onomie Front zu machen. Der er-
folgreiche Kaiiïpf gegen die phantastischen Seelen vermögen, die
Ueterstelluog des Unterrichts unter die Konzentration im Denken,
das Bewusstseiu, dass ein grosser, in all seineu Teilen ijmigst
verknüpfter Gedankenkreis vor die jugendliche Seele gebracht
werden müsse, dass er das' Meuschsein auf den Aufgaben der
Menschheit gi^ündet, dies und vieles andere ist freudig und dank-
bar anzuerkennen.
Gerade darum aber muss umsoschärfer auf die Elemente hin-
gewiesen werden, die trotz alledem von dem W^ge zu dem ge-
steckten Ziele ablenken* Indeoi die autoritären Trübungen bei
Herbait blossgelegt werden, ist die Kritik seines Systems zugleich
eine Kritik des Autoritarismus in der Erziehung überhaupt.
Der Kampf gegen die trübenden Elemente in Herbart wnrde
Tor allem mit Energie aufgenommen von Paul Natorp in Mar-
burg. Zunächst geschah dies mehr negativ, aber doch unter An-
knüpfung an die positiven Grundlagen Kant-s in einer Reihe von
acht Vorträgen, die er in den Marburger Ferienkursen 1H97 und
1898 ;^'êhalten und sodann veröffentlicht hat, ^) und sodann hat er
den positiveu Gnmdbau selbst in einem gleichzeitig erschienenen
grösseren Werke» seiner „ Sozialpädagogik, ^) ausgeführt.
Von anderen Seiten her ist Ja die Pädagogik Herbarts und
besonders die seiner Fortbildner schon öfters bekämpft worden.
Natorp selbst nennt Dittos, Ostermann, wozu noch, besonders
gegen die oeuesteeFoilbildner Herbails, in erster Linie Oskar Jäger
und Salwürk zu treten haben.
*) Herbart, Pestalozzi imd die heutigen Aufgaben der Erziehunge-
lehre, Stuttgart. ^Frommann) 1Ô99.
*) Sozia Ipädagrogik, Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage
der Gemeinschaft. Ebenda erschienen. 2. Aufl., 1904.
M
214 P. Staudinger,
Von speziell Kantiseheii Gruodanschauiingen aus ist da
noch kaiini anjafokämpft worden. Event, wäre hier herzusetzen
Otto BröhnieP) in einer Progranimschrift des Marburj^er Real-
gymnasiums, der gegt^niiber der Herbartschen Ableitung* und den
Interessen die Kantische Korrehition von vernünftiger Persönlich-
keit und Gemeinschaft betont, und von hiei* aus gegen Herbarts
Ideenlehre und dessen Wahl der Bildungsstoffe polemisiert.
Umen gegenüber betont er, was in Natur, Sittlichkeit und Kunst
den inneren Gesetzescharakter am reinsten zum Ausdi'uck bringt.
— Ebenso habe ich, freilich nicht so sehr gegen Herbart selbst,
als gegen die Übeilreibungeu, insbesondere die willkürlichen Syn*
thesen der sog. „modernen Pädagogik**, eine kleine Arbeit ver-
öffentlicht. Dieser Pädagogik der Lehr|>rüben und Lehrgänpe
gegenüber, die vor andeithalb ilahrzehnten mit einigem Unfehlbar-
keitsauspruche auftrat, suchte ich die Notwendigkeit der objek-
tiven Zusammenhänge von wesentlich Kantischen GesichtspuDktje«
aus geltend zu machend)
Eine umfassende, den Kern der Sache in Augriff nehnieüde
Kritik von Kants Grundlage aus hat aber zuerst Natorp ge-
liefert.
Der Grundgedanke seiner Kritik besteht etwa in Folgendem:
ThatsächUch ist heute neben Pestalozzi Herbart als Ausgangspunkt
wissenschaftlicher Pädagogik anerkannt; aber welche achtungge-
bietende Vorzüge dieser Mann auch hatte und wie fruchtbar sich
seine Pädagogik praktisch erwiesen hat, ilie theoretische Grund-
lage, die er gegeben hat, ist weder auf Seiten der Ethik nochfl
auf Seiten der Psychologie haltbar. Die Ethik ist vielleicht diiî
schwächste Seite seines Systems; aber die Pädagogik rauss doch
z. T. darauf ruhen. Die Psychologie aber, obwohl sie bei Herhart
trotz „verfehlter Theorie" „auf reicher und richtiger Beobachtung
i ruht", vermag „überhaupt nicht^ die „primären Grundlagen der
1 Pädagogik zu liefern". Die Entscheidung liegt „in der objek-
I tiven Analyse des Bewusstseinsinhalts". Was Pestalozzi dag^egea
Psychologie nennt, ist vielmehr wirklich Gesetzlichkeit des Auf-
baues des Bildungsiuhalts.
I 4
L *) Otto Bröhmel, Der prinzipieUe Gegensatz in den pädagogisch en
I Anschauungen Kants und Herbarts, Marburg-, ünivercitütsdnickerei, 1891.
) 2) F. Staudinger, Die objektive Apperception und üire pädago-j
f gische Bedêutung. Wormser Gymnasialprogramm 1897.
Kants Bedeutung für die Pädagogik der Gegenwart.
215
Diese Gesichtspunkte sind im ersten der acht Vorträge ent-
halten, aus denen das kritische Büchlein »Herbart, Pestalozzi" etc,
besteht. Von ihnen ans wird dann in den folsfenden vier Vor-
trägen, dem zweiten bis fiiuften, Herhart kritisiert, die hetzten,
die wesentlich von Pestalozzi handeln, überg-ehen wir hier.
Die Bildung des sittlichen Willens, die nach Herbart, wenn
auch nicht klar, für das letzte Ziel der Erziehung erkläil wird,
mht bei Kant auf der „Autonomie des Willens'\ d, h. in „der
Form des Willens", seinem „Üesetzescharakter", der ^strengen
und durchgängigen Einstimmigkeit des Wollens mit sich
selbst**. Das Bewusstsein hat also die letzte Entscheidung über
das Wollen. Bei Herbart, dagegen soll der Wille nicht über den
Willen luteilen können, tiarum setzt er den Geschmack als Richter
darüber, d. h. den willenk)sen Beifall oder das willenlose Miss-
faUen^ das sich im uninteressierten Beobachter mder die zu be-
mteilende Willenshandlnng erhebt.
Herbart will ferner einen bestimmten Inhalt der Sittlichkeit
finden, und darum stellt er seine fünf Ideen der Freiheit, der
Vollkommenheit, des Wohlwollens, des Rechts und der Billigkeit
auf, Ideen, die, wie wir hinzufügen möchten, abgesehen von
deren methodisch unhaltbarer Ableitung bei Herbaii, soweit sie
richtig sind, aus dem sittlichen Grundgesetz abgeleitet werden
müssen, nicht aber auf Grund von Geschmacksnrteilen zu ihm hin-
zutretven dürfen.
Sodann aber bedarf es, bevor wir in der Psychologie die
Mittel kennen lernen, wie man die Abirrungen vom normalen Wege
kennen und verhüten soll, eine Kenntnis dessen, was normal ist.
Die aber kann keine Psychologie geben, sondern nur die Logik
bezw. Erkenntniskritik. Und wenn in der Psychologie selbst
Herbails Ablehnung der Seelenvermögen ein grosses Verdienst ist,
80 hat er doch nicht Denken, Fühlen und Wollen als drei un-
trennbare Momente in dem einen ununterbrochenen Strome des
psychischen Lehens erkannt, sondern macht das Bewusstsein, das
doch „konzentrische Einheit" ist, zu einer Operation von Vorstel-
lungen als Kräften, wir möchten sagen zu einer Mechanik von
einzelnen Vorstellüngsatomen, die sich abwechselnd vor das Guck-
loch des Bewusstseins zu drängen suchen.
Von solchen Gesichtspunkten aus betrachtet Natorp die
eigentlich pädagogische Frage, das Verhältnis von Willens- zur
Verstandesbildung, von Erziehung zum Unterricht. Die Scheidung
216
F. Staudîn^i^er,
Ton Erzieliuüg uail Zucht wird verworfen und wenn schon Sitfc
lîclikeit des WoUens der letzte Zweck der Erziehung ist, so habeo
doch nach dem Vorgange Pestalozzis hannouische Bildung von
„Kopf, Herz und Hand" oder genauer: wissenschaftliche, tech-
nische, ästhetische Bildung ihr eigenes Recht. Man könnte sagfen,
sie gehörten genau ehenso in die zentrale Einheit zusaoinien, wî^^
Denken^ Fühlen, Wollen incL Handeln. Auf sie müssen denn auch
die „Interessen " konzentriert sein. Betreffs ihrer zeigt Natorp,
Herbart fordere zwar, dass man ihre Einheit nie zu verlieren
habe, aber die gesetzraässige Einheit weise er nirgends nach; eben-
sowenig habe erden Gedanken, dass die GemeiDschaft erziehe, ge-
nügend durchgebildet. Die Gemeinschaft erziehe viel mehr als difl
Schnlf, die w^eseutlich unterrichte« Zur Erziehung des Willeos kan
sie das Hire nui" leisten, wenn sie ihre Wirknug ^vereinigt mit
der Erziehung, die das ganze Leben dem Jüngling angedelheD
lässt**. Die massgebliche Stellung, die dem WoUeu in der Erziehung
gebühre, das „Selbstschöpferische" in ihm übersehe Herbait. Auch
die Gemeinschaft würdige er nur in der matten Form der „Teil-
nahme", die durch „Umgang" geweckt werde; die auf Herstellung
von Gemeinschaft gerichtete organisierende Thätigkeit, die aus
dem Zusaniraenlebeu quillt, verkenue er.
Damit hat Natorp den tiefsten und grundlegendsten Mangel
getroffen, der freilich nicht bloss ein Maugel Herbarts ist, sondern
ein Maugel einer ganzen Zeit, deren wirtschaftliche Tendenz zum
Individuahsnms auch von einer mehi* oder weniger geistig und
sittlich individualistischen Tendenz begleitet war und die notwen^H
dige Biaheitsbeziehung, die in der „Gemeinschaft frei wollender
Menschen", wie Stammler sie nannte, verkennt; die Korrelation
nämlich, die zwischen vernünftiger Persönlichkeit und der sowohl
auf sie gegründeten wie sie ihrerseits bedingenden Gemeinschaft
besteht. „Erziehung zum Menschentum" heisst nicht bloss Er-
ziehung zur Sittlichkeit als letztem Ziel, sondern zu der Einheit
des Gesanitlebens, iu der Einheit des Wollens und Handelns, Ein-
heit des Denkens und Einheit des ästhetischen Fühlens und
Bildcns (Lebenskunst)» wie Form, Farbe, Schwere am physischen
Körper auseinandertreten und doch untrennbar zuKammengehöreürÄ
Im Anschluss hieran w^erfen wir noch einen km-zen Blick auf
Natorps ,,Sozialpadagogik", welche neben die Kritik die positive
Begriindung setzt. Sie baut sich auf die bedingungslose For-
derung der Einheit alles Mannigfaltigen oder der Gesetzlichkeit
Kants Bedeutung für die Pädagogik der Gegenwart. 217
überhaupt auf. Von dieser Forderung aus entwickelt Natorp im An-
schluss an eine frühere Auf satzserie^) die Willensentwickelung vom
Trieb zum Einzelwillen und zum Vemunftwillen, welch letzterer
auf den Ausbau einer Welt der Zwecke und damit auf die Ge-
meinschaft übergreift. „Erhebung zur Gemeinschaft ist Erweite-
rung des Selbst". Das soziale Leben folgt denselben allgemeinen
Gesetzen wie die Entwickelung des Individuums. Dieser Satz, der,
natürlich mutatis mutandis, mit dem von Haeckel, dass die Ontogenie
eine abgekürzte Phylogenie sei, eine gewisse Analogie befolgt,
sollte im Grund vor dem so oft erhobenen, aber geradezu wider-
sinnigen Vorwurfe schützen, als ob der Kantianismus starr und
entwickelungsfeindUch sei,») während gerade er erst die innersten
Grundlagen der Entwickelungsgesetze blosslegt. Damit ermöglicht
^ gerade das diesen Bildungsgesetzen Entsprechende von fremden
Elinflüssen ebenso zu sondern, wie man die normale Entwicke-
lung einer Pflanze von den durch schlechte Ernährung, Schmarotzer
Und Krankheiten hervorgerufenen Wandlungen erst dann unter-
scheiden kann, wenn man ihre normale Struktur kennt.
Von hier aus werden nun bei Natorp die besonderen
sittlichen Ideen, oder — nach Plato — Kardinaltugenden
entwickelt, die bei Herbart von aussen her an das allge-
meine Gesetz angehängt werden: die Wahrhaftigkeit, die sitt-
liche Thatkraft, das Mass, die Gerechtigkeit. Diese letztere führt
zam sozialen Gesetze hinüber, das sich von einer gewissen —
labilen — Tendenz sich ins Gleichgewicht zu setzen (161) zur
Forderung durchgängig vernünftiger Regelung der sozialen Thätig-
keit (165) fortschreitet.
Von hier aus wiederum werden die Tugenden auf die Ge-
meinschaft angewendet, und daraus deren Grundlagen abgeleitet,
die gleichheitliche Teilnahme Aller an menschlicher Bildung, die
Ordnung der regierenden Funktionen vom Standpunkt der Gleichheit
und die Gemeinschaft und durchgängige Organisation der Arbeit
auf demselben Boden; womit der Gerechtigkeit genüge gethan ist.
Das „wesentlichste Mittel zur Willenserziehung ist die Orga-
nisation der Gemeinschaft" als „Organisation der Arbeit", „recht-
liche Organisation", Organisation der Bildung. Deren „wirtschaft-
liche, regierende, bildende Thätigkeit muss sich den Stufen der
*) Arch. f. systematische Philosophie, Bd. I— UI.
*) So sagt z. B. E. Lange, Über Apperzeption, 4. Aufl., Plauen 1891,
S. 90 : „Kant kennt eine solche Entwickelung des geistigen Lebens nicht'^.
218
F, Staudinger^
Willeusliilduiig zugesellen in der Erziehung in Hans, Schule
Leben, d. h. organisierter Geiueinsriiaft. In diese hoehinteressanten
Ausführungen des dritten Buches kann hier nicht eingegangen
werden. Nur das Wort sei noch als für unsere zu bt^haudeUiden
Fragen wesentlich herbeigeholt, das Natorp gegenüber dem er-
ziehenden und Gesinnungsuntürricht ausspricht: „Je reiner die
Verstandesbildung ihre Eigenart bewahrt, um so reiner vermag
sie zur Willensbildung beizutragen. Zugleich fordert die Wahrheit
der Gesinnung selbst, dass man sich grundsätzlich davor hüte, Ge-
sinnung zu machen** (274). Dass Natorp den Pestalozzischen Ge-
danken, von der Arbeitsbildung zum Erkennen aufznsteigeD,
diesen wichtigen, aber in unserer heutigen Schulerziehung fast
unmöglichen Gedanken vertritt, sei nur beiläufig erw^ähnt.
In Bezug auf die praktischen Einzelvorschläge kann mau
manchmal zweifeUiaft sein oder Natorps Standpunkt bestreiten.
Ebenso treten wir ihm keineswegs darin bei, dass er mit Kant die
Elemente, welche der Erfahrung zu gründe liegen, durchweg „für
eigene Erzeugnisse des Denkens" ansieht (S. 26), dass also z. B.
„die geometrische Form der Objekte nicht von gegebenen Gegen-
ständen abgeleitet" sei, dass diese vielmehr als urspriingliche Entr
würfe des anschauenden Geistes zu gelten haben* Er steht da
unserer Überzeugung nach unter dem Banne von einem psycholo-
gischen Vorurteile Kants, wonach die grundlegenden Formen der
Erfahrung in der Seele erzeugt sind; während es sich doch der
Erkenntniskritik zunächst gar nicht auf die Frage nach dem Ent-
stehungsort und der Eotstehungsart dieser Formen, sondern um
ilire objektive Bedeutung handehi darf, — Der Kein von
Natorps Buch verfolgt dagegen durchaus einheitlich und konsequent
die Aufstellung einer Erziehungslehre vom Standpunkte einer Ge-
meinschaft vernünftiger Wesen aus, unter strenger Vermeidung
all der Trübungen, die durch bewusste oder uubewusste Herein-
mengnng irgend welchen Sonderinteresses und irgend welchen
autoritären Erziehungsziels zu entstehen pflegen.
Dass eine Sozialpädagogik wie die Natorps heute nicht sehr
ausgedehntem Verständnis, dagegen ziemlich ausgedehnter Ab-
neigung begegnet, ist selbstverständlich. Die Zeit für die sieg-
reiclie Durchsetzung solcher Ideen ist heute ebensowenig schon
gekommen, wie die Zeit für den Siegeszug der Herbartschen Ideen
schon zu seinen Lebzeiten vorhanden war. Wie damals die
seinen, so müssen sich heute diese, nach unserer Überzeugung für
Kants Bedeutung für die Pädagogik der Gegenwart.
219
die Zokiinft massgebendereu Ideen mit spärlichem Beifall einiger
tiefierschaaenden Geister begnügen. Die fruchtbaren wissenschaft-
lichen Gedanken Kants müssen erst heraus- und fortgebitdet
werden, so dass sie auch ein massig begabter Mensch, falls sein
Geist noch nicht durch andere Gedankengänge besetzt ist, leicht
und einfach begreifen kann. Und um das zu erreichen, muss
freilich das schon genannte psychologische Voruileil Kants, dass
die apriorischen Fonneu in uns erzeugt sintl, dieses Vorurteil, um
das sich das ganze vorige Jahrhundert herum gebalgt hat, und
das heute noch den meisten als wesentliches Fundament von
Kants Denken erscheint, in die Ecke gestellt werden.
Auch ein so feinsinniger und gegen das ,, Phrasendreschen
und Gesinnungstrompeteu*', das gerade manchen eifernden Neueren
so unvorteilhaft auszeichnet, so überaus wohlthätig abstechender
pädagogischer Autor wie Rudolf Lehmann ist in seinem Buch
„Erziehung und P>zieher" über das heute von den Meisten Kant
gegenüber gehegte Vonuleil nicht liinausgekommen, obwohl er
ihm seiner ganzen Oesinnungs- und Gedankenrichtung näher stehen
dürfte, als er selbst glaubt*
Mit Recht w^eist er — ohne damit den Wert, psychologischer
Beobachtung und deren Anwendung zu bestreiten — die psycho-
logische Grundlegung zurück. Das Problem der Charakterbildung
ist ihm das Erziehuugsziel, wobei er freilich, weil ihm eben das
Verständnis für Kants ethische Leistung fehlt, Gemeinschaftsgefühl
und Individualismus, (richtiger Persönlichkeit und Gemeinschaft)
nicht als sich bedingend, sondern als sich ergänzend und heil-
sam einschj'änkend ansieht. Die Erziehung selbst ist ihm eine
Knnst, die freilich der lehrbaren Technik nicht entraten kann.
Ganz nahe an Kant rückt er (254) heran, indem er das philoso-
phische Streben empfiehlt, ^ einen gi-ossen und allgemeinen Zu-
sammenhang herzustellen, und die einzelnen Thatsachen und Dinge
in diesem Zusammenhange zu überblicken, wie andererseits die Ge-
setze dieses allgemeinen Zusammenhangs in jeder einzelnen Er-
scheinung wiederzufinden**. Dieser Gedanke sollte nun freilich
nicht bloss in einer philosophischen Propädeutik gelehrt; ihm ge-
mäss sollte der ganze IJnterrichtszusammenhang von vorn herein
aufgebaut werden, und so sollte auf Kantischem Fundamente sich
tlieser philosophische Gedanke aufbauen. Die bloss begiiff liehe,
abstrakte Philosophie muss schliesslich nur das Seibstbewusstsein
des konkreten Inhalts sein, der sich bereits von Kindesbeinen auf
F. Staa'dinger,
gemias dein Ziisammenhange aufgebaut hat. Da Lehmann dv
Gedanke D, der eigentlich in semer Grandauschaaong liegt, DJ(
kJar erkennt, so bemerkt er au Natorps Bach nur die ^system»-'
tische Begriffsentwickelong", die er für nicht stichhaltig hält^
Die Kraft und Tiefe der Gesinnung, die es ihm sympathisch machl
bewandert er. Immerhin stellt er es als ^bedeutendsten Ausdra<
des soztaipädagogjschen Strebeus hin, und meint: „Fiir die Ge-'
schichte des deutschen Geistes möchte kaum ein Zug bezeichnender
»ein, als dass am Anfang und am Ende des 19, Jahrhunderts zwei
Werke stehen, die bei mancher Verwandtschaft der Anlage von
so entgegengesetztem Kthos getragen und duichzogen sind,
Herbaris Allgemeine und Natorps Sozialpädagogik** (341)*
Wetio Lehmann freilich glaubt, sie suche der EinseitîgkëS"
des Individualismus gegenülier den sozialen Pflichten . , . in ge-
wissem Sinne ausschliesslich Rechnung zu tragen, so yerkennt
er eben die oben schon berührte gegenseitige Bedingtheit von
sittlicher Persönlichkeit und sittlicher Gemeinschaft. Die Per-
sönlichkeit ist schliesslich gerade so, wie beim Individualismus
letztes Ziel, nur in ihren inneren und äusseren Bedingimgen rich-
tiger begriffen als von diesem. ^Ê
Von anderem Gesichtspunkt aus bestreitet Paul Berge-^
mann in seiner „Sozialen Pädagogik auf erfahningsviissenschaft-
licher Grundlage** (Gera 1900) die Positionen Natorps. ») Auf ihn
könnte jeuer ebengenannte Satz R. Lehmanns passen, dass er dem
Sozialeu zu ausschliesslich Rechnung trage. „Es giebt keine Ein-
zelnen"; so mft er aus. Der „einzelne" Mensch ist ein blosses
leeres Abstraktum. Jeder ist bis in die feinsten Fasern seines
geistig leiblichen Organismus hinein ein geschichtliches Wesen.
Wir hängen» wir „zappeln alle am historischen Faden, wie der
Fisch an der Angel** ^|
Er wendet sich auf das schärfste gegen Natorps bezw^.
Kants auch von uns verworfene Theorie über den inneren Ur-
sprung des Apriori; aber leider nicht nur hiergegen; er yerkennt
die wirklich grundlegende Bedeutung von Natorps Position und
meint (Vorrede iX): nNi<^ht aus irgendwelchen kritisch-philosophi-
schen oder sonstigen Voraussetzungen werden pädagogische Priu-
1) Seine Beurteilung von Natorps Werk in der Leipziger Lelirer^
Zeitung VI No. 17 und 18, ist ihm in A. Diesterwegs Rheinischen Blüttem
Er/Jehung^ nnd Unterricht ed Bartels 1901, Heft V und VI durch eu
scharfe Kritik seines eigenen Werkes von Natorp beantwortet worden.
Kants Bedeutung Mr die Pädagogik der Gegenwart.
221
zipieo hergeleitet, sondern die für die Erziehuugslehre in Betracht
kommenden Giiindsätze werden gewonnen als Ergebnisse^ als
Konseqnenzen von Erfahning^thatsachen und zwar von Thatsachen
|4er äusseren Ertalirung.** Wenn Bergenianu analysieren wollte,
Mis Erfahning lieisst, dann würde er vielleicht auch einmal den
Blick gelegentlidi auf tîen Punkt richten, auf den Natorp ihn
richtet, auf das Gesetz der Einheit, das er S. 265 so verächtlich
abthut^ Er müsste sozusagen handgreiflich wahrnehmen, dass ilitti
selbst in jedem Moment diese „Einheit** zu Grunde liegt. So,
wenn er die vei-scliiedeuen Gedanken eines Satzes in einem Zu-
sanunenhaüg erfasst, wenn er ein Mittel als zu einem Zwecke er*
forderlich erkennt, ja schon, wenn er das Tintenfass, in das er
vorhin und nachher seine Feder taucht, für dasselbe Tintenfass
ansieht Er scheint sich unter der ^Einheit des Bewusstseins*"
Gott weiss welche Ungeheuerlichkeit vorzustellen, weil er die
schlichte Tb a ts ache nicht bemerkt, dass er fortwährend selbst
damit oiierieren niuss, auch weun er nur zwei psychisch vei-schie-
deue Bewnsstseinselemente als zu demselben Gegenstiinde gehurig
bezeichnen will, Zusammenhang, objektiv giltigen Zusammenhang
in das Mannigfaltige zu bringen, ist doch offenbar auch sein
Streben. Wozu schriebe er sonst ein Buch, darin er mît Sperr-
druck „das Sittliche im höheren und weiteren Sinne'* für dtni
^Gegenstand" erklärt, darauf alles zu beziehen ist Aber auf
mese Betracht ungsart ist sein geistiger Blick noch nicht einge-
Htellt; und so kann ihm Biologie und Kulturgeschichte alles sein,
und er kann verkennen, dass der Erkenntnis auch von Biologie
eben die Bedingungen des Erkennens überhaupt zu Grunde liegfih
Deshalb, weil er nicht sieht, dass diese Instanzen auch ein
Gegenstand der Untei^uchung sein müssen, muss sein Urteil über
Natorp, trotz all seiner Belesenheit einseitig ausfallen, darum kann
ihm Natur i» mit Recht den Vorwurf machen, dass er alles zu
änsserlich nimmt, und dass ihm bei alledem eine Reihe un-
kritischer metaphysischer Voraussetzungen unterlaufen, die ihm
schwerlich begegnet wären, wenn er vor aller Biologie nntl
Historie ein wenig objektive Analyse unseres thatsächlichen
Erkeuntuisverfahreus vorgenommen hätte. Es ist jaumier-
schade, dass dadurch Leute, die im Grund nach einer Zielrichtung,
dem Aufbau des Kulturlebens auf der Basis freier, vernünftiger
Persönlichkeit, hinsti^eben, sich methodisch befehden müssen, statt
sich ergänzen zu können.
F. Staudinger,
Eine mehr zustimniende SteUuog" zu Natori> nimmt F.
HerrmaiHi iu seiner kleinen Schrift, über „Die neueste Wendung:
im preussischen Schiilstreite und das Gymoasium etc." (Berlin,
Reuther Sz^ Reichard 1901) ein. Er tadelt iiui* an Natorp, dass er
dem Einzelnen das Ganze zu unmittelbar gegeutiberstelle und die
thatsachlichco Zwischenglieder nicht berücksichtige. Dieser Tadel
beweist, dass auch er das Wesentliche au Natorp bei aller Zq-
Stimmung nicht klar erfasst hat. Der Einwand klingt, wie wenn
Jemanden, der eine Plauetenhahn aus Centrifugal' und ( 'entripetal-
kraft berechnet hat, der Einwand erwüchse, er habe dabei die
Ablenkung durch andere Gestirne niidit in Betracht gezogen. Die
Untersuchung, wie das Wij*kliche ?on dem normalen Gang abweicht,
hat eben erst nachher zu kommen. So muss auch die gegen- J
seitige Bedingtheit der veniünftigen Pereönlichkeit und der Gê*^
ineiuschaft zuerst logisch fixiert sein, ehe wir fragen können, wie
sich die Wirklichkeit dazu verhält und wie etwa die dadurch be-
dingten Abweichungen unabänderlich oder zu beseitigen sind.
Wenn dies dem Verfasser vorschweben sollte, — was er freiÜcli
nicht klar zum Ausdruck gebracht hat —, so Uesse sich darüber
reden. Hier bedarf Natorp zweifellos der Erganznng. nicht aber
der Bestreitung; und die Ergänzung wii'd er sich wohl, wenn sie
methodisch stichhaltig ist, genie gefallen lassen. H
Alle diese Bestreitungen aber haben nicht die Wucht ußd
den Nachdruck, wie diejenigen, mit denen sich die Herbartschc
Schule in ihren massgebenden Häuptern gegen Nat^jrp wendet
Diese Schule fühlte sich selbst durch die Angriffe Natorps auf
den Meister verletzt, spricht das auch ausdrücklich aus; imd ant-«
weitet in zum Teil recht erregter Weise. f
Zunächst trat Otto Will mann auf den Plan in zwei Kritiken,
erstens in dem von Ziller begründeten, von Theodor Vogt heraus-
gegebenen Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik»
im sechsten Stücke einer Übersicht „Über Sozialpädagogik'' und
sodann im zweiten Heft des sechsten Jahrgangs der von O, Flügel
und W. Kern herausgegebenen „Zeitschrift für Philosophie und
Pädagogik" unter dem Titel: „Der Neukantianismus gegen Herbarts
Pädagogik''. M
Wenn wir diesen Autor behaupten hören, das Verständnis
dafür, dass „Aut^ïnoniie und Sittlichkeit sich ausscliliessen**,
sei durch die Konsequenzen, die Friedrich Nietzsche aus Kants
Moral zog und die sie ad absurdum führen, angebahnt (Zeitschrif
Kants Bedeutung für die Pädagogik der Gegenwart. 223
S. 105), wenn wir vernehmen: „die moralische Bildung beruhe auf
der Yerinnerlichung des dem Zögling von aussen kommenden Ge-
setzes, und eine solche sei bei Kant ausgeschlossen, da das Gesetz
nnr von innen kommen dürfe" (ebenda S. 106), wenn uns mit-
geteilt wird, die Wahrheit im Sinne Piatons sei „Konformierung
des Geistes an die geistigen Inhalte" der „Ideenwelt", bei Natorp
aber werde die Wahrhaftigkeit zur Herrschaft des Bewusstseins
verflüchtigt; wenn endlich die „autoritätslose Fürsorge" als hölzer-
nes Eisen und viereckiger Kreis verspottet wird : so verstehen wir
nnr allzudeutUch, dass hier Grundsätze zu Tage treten, die zu
den „unverrückbaren Grundlagen" modemer Wissenschaft und
modernen Kulturlebens in ausschliessendem Gegensatze stehen.
Konformierung des Geistes an bestimmte autoritäre geistige
Inhalte war ja die Forderung aller Dogmatik und Kirchenautorität,
die sich für den Mittelpunkt und Massstab der wissenschaftlichen
Wahrheit auszugeben bestrebt war. Ebenso war auf dem Gebiete
der Ethik die Yerinnerlichung des von aussen kommenden Gesetzes
die Forderung derselben Autorität, die den Menschen in ihre
Zwangsgesetze bannen wollte. Die moderne Wissenschaft erkennt
jene Konformierung nicht mehr an. Sie verlangt, dass sie sich
auf einzig durch ihre Logik zwingenden Folgerungen aus realiter
nachweisbaren Thatsachen begründe. Und das moderne Kultur-
leben, das freie Menschen zur Beschlussfassung über die Gesetze
der Gemeinschaft beruft, ist mit einer Ethik, die ein von aussen
konunendes Gesetz nur aneignen lassen will, grundsätzlich unver-
einbar. Sie verlangt Schaffung des Gesetzes nach den innersten
Grundlagen des vernünftigen Bewusstseins, d. h. nach einer Ord-
nung, die, nach Kants angeblich ^selbstzufriedener, völlig indivi-
dualistischer und geschichtsloser Moral" (Willmann, Jahrbuch S. 318)
macht, „dass jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammenbestehen
kann" (Krit d. r. V., 2. Aufl., 372).
Dass ein Standpunkt, wie der Willmanns, solchen „Kuckucks-
eiem des modernen Radikalismus" keinen Geschmack abgewinnen
kann, verstehen wir sehr wohl. Wir können unsererseits den
Forderungen der gebundenen sittlichen Anschauung, die Willmann
vertritt, keinen Beifall spenden. Hier ist einfach die Wahl zu
treffen zwischen Schwarz und Weiss, wie es Natorp treffend in
einem offenen Briefe an Rein (Die deutsche Schule ed. Rissmann
1899, 4. Heft, S. 231 f.) ausdrückt. Natorp stellt hier nämlich,
ohne weiter auf Willmann einzugehen, an die Herbartianer die
224
F. Staudinger,
Frage, ob „der Wille seine Güte und Würde iu sich selbst'' habe,
wie es eio Herbartianer, Dötiler, iu einer Lehrerzeitung Natorp
gejcenüber als Herbartiseh bezeirhuet, oder ob „die Verinnerlichung
des dem Zögling von aussen koni ni enden Gesetzes, die WiUmami
als Leitsatz erhebt, für Ethik und Pädagogik gnmdlegend sein soOe/
In der That! Freies oder gebundenes Menschentum? das ist
die Kernfrage, um die der ganze Streit sich dreht und drehen
niuss. Mögen in der Praxis heute noch so oft beide Prinzipien
vermengt, sein, mag es auch dem Einsichtigsten und Tüehtiptea
heute oft unmöglich sein, die Scheidung zwischen beiden Lebens-
grundlagen in allem eiuzehien durchzuführen: die Richtlinien, nach
denen wir wirken wollen, müssen klar und zweifelsohne festgestellt
werden.
Und um diese Feststellung der Richtlinien di^eht sich der
Streit, den Natorp entfacht hat. Kant hat diese Richtlimen,
wenn auch noch in allzu abstrakter W^eise im Sinne freier
menschlicher Selbstbestimmung festgelegt. Und diese Grand-
lagen sind im wesentlichen die Wurzeipunkte jedes Yerfa^sungs-
lebens, in dem das Gesetz durch das freie Zusammenwirken der
Staatsbürger entstehen soll Herbart dagegen hat diese Orund-
lagen eklektisch verwässert; das ist's, was ihm Natorp vorwirft,
und wie ulr glauben, wesentlich mit Recht. Das wollen Herbarts
Freunde nicht einsehen. Nicht darum handelt es sich, dass etw
Herbail auch von Selbständigkeit, von Freiheit redet, dass auci
er den Eudämonismus bekämpft, von „allen aussen liegendett
Motiven", wie Just sagt, frei bleiben will: sondern ob er wirklich
die Grundlagen festhält, die auf dies Ziel hinweisen, oder oh tir
Elemente hereiugemengt hat^ die der anderen Zielrichtung eni
noramen sind.
Mag Natorp im einzelnen zu scharf geuileilt haben, mag
Herhart gegenüber Pestalozzi in übertriebenem Masse zui-ückgesel
haben, ja mag er selbst in manchen Punkten positiv irren: in der
Grundfrage, um die es sich handelt, hat er Herbart und seinen
Anhängern gegenüber zweifellos das Rechte getroffen. Und gerade
inhetreff der Grundfrage verstehen ihn die Herbartianer iu keiner
Weise, sondern kritisieren ebenso an ihm vorbei, wie seiner Zeit
die Reid, Beattie, Priestley u. a. an Hume vorbeikritisierten.
Diese Qegenkritik haben nach Willmann die drei Häupter der
Herbartschen Schule, 0. Fïugel, Pastor in Wansieben, Direkior
K. Just in Altenbiirg und Prof. W, Rein in Jena in der „Zeitschrift
er
Kants Bedentnng für die Pädagogik der Gegenwart,
für Philosophie und Pädago^k'* ilHWX 4. Heft, S, 257 ff.) in einem
Kollektivaefsatze geübt, darin der erste Herbarts Psychologie, der
swoite dessen Ethik, der diitte die Pädagogik des Meisters ver-
teidigen soll.
Für deu ersten der drei Gegetikritiker, den Pastor Flügel,
ist es charakteristisch, dass er sich um seine Hanidanfgahe, die
Verteidigung von Herbarts Psychologie, ziemlich wenig kiiinniert;
eine Erörterung speziell über den Willen nimmt fast den ganzen
Aufsatz ein und davon wieder handelt etwa ein Drittel von „der
sittlichen Würde des Willens", also vo[i einem Thema, das man als
zur Aufgabe des zweiten Kritikers gehörig aniiehnien sollte. Und
f^erade der Kernpunkt von Natorps Angriff wird fast gar nicht
berührt. Dieser war: Nicht die subjektiv psychologische Einheit
des Bewusstseins, sondern die objektive, d. h. die den gegen-
gtändlichen Natur- und Kulturzusamnienhang darstellende Einheit
hat die Grundlage der Pädagogik zu bilden; die Psychologie eben
kann nicht Grundlage, sondern nur Hilfswissenschaft sein. Es
wäre interessant gewesen, zu hören, was Natoi'ps Kritiker gerade
auf diesen Kern, der die Pädagogik auf eine ganz andere Basis
stellt, als es Herbart thut. zu sagen hätten. Natorp hatte doch
diesen Kern seiner Kritik mehrfach, besonders deutlich aber,
Herbart, Pestalozzi etc. S. 11 hervorgehoben, wo er geradezu
sagt: „Ich könnte mich in einigen Streitfragen der Psychologie .. *
sogar auf Herharts Seite stellen und gelange doch zu einer nicht
minder radikalen x\blehnnng seiner Pädagogik, da ich die Eut*
Scheidung eben nicht in der Psychologie, sondern in der ob-
jektiven Analyse des Bewnsstseinsinhalts sehe. Der über-
aus dürftige Hinweis Flügels darauf, dass die Psychulogie der
Herbartscheu Schule noch den Markt beherrsche (a. a. 0, S, 258),
dass Herbarts Schule mit grosser Energie die Untei'suchung über
das Verhältnis von Physiologie und Psychologie aufgenommen
habe (259) etc. sind doch nichts, was auf obige t>age eingeht,
geschweige denn Widerlegung. Und wenn er S. 271, Natorps
Satz: „Wie verschiedenes Bewusstseiu dennoch ein Rewusst-
sein sein könne, das ist eben das Wunder" damit bemängelt, dass
er auf Herbarts Lehre von dem Widerspruch zwischen Einheit und
Vielheit hinweist, so ist damit erst recht nichts geschehen; die
genannte Frage hat er damit erst recht nicht angeschnitten. Es
fragt sich ja, ob nicht Herbarts Metaphysik eben blosse Begi'iffs-
klitterung statt thatsächhcher Analyse des wissenschaftlicheu Be-
KAiil«tadJ»a IX. 15
226
F. Staudinger,
I
wusstseins ist, Und auch dann, wenn dies wäre, so wäre da
„Wunder" des Bewusst-seius und erst recht des Selbstbewnsstsein
nicht beseitigt.
Dass aber Flügel dies thatsächliche, wenigstens mit den
heutigen Erkenutnismittehi imauflöshare Wuiiiler beanstandet, lia-
gegen bald nachher Natorp den ganz aus der Pistole gesell osseueu
theologischen Vorwurf luacht, er sehe in seiner „Religion inner*
halb der Grenzen der Humanität" „nicht allein vom positiven
Christentum, sondern auch vom Glauben au einen persönlichen
Gott ganz ab'\ das ist überaus charakteristisch. Ob und wieweit
das positive Christentum haltbai- ist, das ist eine Frage der
Untersuchung; es ist nicht so ohne weiteres als gegeben hiiizn-
nehmeu, wie das Bewusstsein, mittelst dessen wir alles, auch das
Bewusstseiu selbst untersucheu. Ich bestreite damit keineswegs
den religiösen Gehalt des Christentiinis; wohl aber, dass man es
so dogmatisch einem Denker zum Vorwurf machen darf, wenn er
etw^as davon bestreitet. Hier giebt, wie es scheint, der PMiosoplil
dem religiösen Dogmatiker den Vortritt,
Im Ganzen aber zeigt Flügel, dass er den, den er bestreiten'
will, nicht begreift. Und daraus, nicht etwa aus Übelwollen,
möchten wir die z. T. allerdings zahlreichen, recht merk-
würdigen Missverstäudnisse und fehlerhaften Citate zurückführen,
die Natorp in seinen späteren Gegenltritiken Flügel mit Recht zui*
Last legt, üb er ihn nicht begreifen w^ill, diese Frage muss man_
in sein eigenes Gewissen schieben.
Die gleichen Mängel treten denn auch in überaus drastische
Weise bei der Kritik von Kants Ethik hervor. Hier hat Flüge
wie gesagt-, etwas vorausgenommen, w^as eigenUich Justs Aufgabe
war und was dieser nochmals in No, 2 — 8 seiner Entgegnungen
S. 279—284 variieit. Und im Wesentlichen fussen dann auch,
trotz einzelner Verschiedeuheiteu, beide Kritiken auf der nämUchen
Gruudlage. Beide verstehen in gleicher Weise nicht, was KanH
und was Natorp will, polemisieren also, Herbart einfach nach-
redend, gegen Dinge, die nur in ihrem eigenen Kopfe, keineswej
aber in dem ihres Gegners vorhanden sind.
Daraus, dass Kant die Ethik in der Gesetzmässigkeit des
von Furcht und Hoffnung, Lust und Unlust unbeeinflussten Willens
gründet, folgert. Flügel, der Wille werde „nicht normiert** (262);
also könne sich auch jemand den angenblickUchen Gelüsten hin-
geben, wenn der Wille keine andere Norm hat, als mit sich selbst
lan
«^
fSnfs Bedeutung fttr die Pädagogik der Gregenwart,
227
in Einklang zu stehen (263), Und Just meint genau ebenso, die
Autonomie als absolute Selbstbestiramuug sei Willkür, der durch-
aus nichts Sittliches inne wohne (280), Die Würde des Willeus
I liege allerdinj^s in der Form, aber diese Form müsse erst be-
stimmt sein (2H1), Und da die philosopliisdie Ethik nidit wie
I der biblische lïekalog autoritär gebiete, soiuleni vou jeder aussen-
r stebendeu Autorität absehe, 0 so müsse die Bestimmung der Form,
lllielehe dem Willen Würde verleiht, „in ihm selbst gesucht und
l^funden werden" (282). Dazu genüge aber die Allgemeinheit
»d Einstimmigkeit des Willeus uiclit (282).
Damit treffeu wir gerade auf den charakteristischen Kern
des Gedankenkreises dieser Herren. Hier tritt die totale Verschie-
denheit ihrer Denkweise von moderner wissenschaftlicher Denkart
drastisch zu tage- Was wüt'de mau heute vou einem A'aturwisseu-
schafter sagen, der behauptete : Der Gedanke, die Thatsachen nach
einheitlicher Methode zu verbinden, genüge nicht, mau müsse diese
Methode selbst festlegen. Wenn das gelieu soüte, so würden wir
noch etwa am ptolemäischeu System festhalten, Oder wie, wenu
ein Techniker behauptete, es sei nicht die Aufgabe, unter thun-
lichster Erkenntnis der Naturgesetze diejenigen praktischen Me-
thoden zu finden, die einer gegebenen technischen Aufgabe am
vollkommensten genügteu, sondern es müsse die Form bestimmt
werden, in der das technische Verfahren ein- für allemal abzulaufen
habe* Es zeigt sich hier die ganze Rückständigkeit der festge-
frorenen Methode, über deren Bannkreis man bei Leibe nicht hin-
ausgehen darf. Keine Spur von Einsicht darein, dass Kants
gn^sstes Verdienst auf dem Gebiete der Ethik gerade darin be-
steht, dass er an Stelle der starren Eiuzelmethode ein Gesetz der
Methodik setzt, ein Gesetz, danach jeder neue Eotwickelungs-,
jeder neue Erkenntnis-, jeder wechselnde soziale Zustand die ihm
^eniiissen vollkommensten Methoden zu suchen hat
^m Dieser Glaube, der sittliche Wille müsse noch durch etw^as
"nderes als durch seine Allgemeinheit und innere Gesetzmässig-
keit (Einstimmigkeit) bestimmt werden, ist ein Rudiment jener
autoritären Auffassung, die Wilhuanu so entschieden vertritt, wenu
er von der Aneignung eines von aussen kommenden Gesetzes redet.
Just kommt nur insofern dem Rechten etwas näher, als er die sitt-
liche Würde des Willens in ihm selbst suclien und finden will.
') Dan ist wi>hl schön gegen Willmann; aber lange
nicht genug.
15*
F. StaiidingeïV
Aber er verdirbt diesen richtigen Gedanken sofort wieder durch
sein Zuiiickj2:elieü auf Herbarts Gesclinmcksurteile, d**nii sie
heben eben jene Willkür, die beide Besireiter Kants von dem i
^ Gesetzescharakter" fürchten, in der That auf den Thron; derfl
hentigen Praxis entspriclit das freilich nur zu oft. Heute ent- '
scheiden die meisten Leute wirklich nach dem ihrem anerzocrenen
oder unorzogeneu Willen eutspringendeu Gesclimacksmteil über
das, was sittlich richtig sein solL Und das geschieht gerade da-
rum, weil die tiefere Selbstkritik, die an Stelle des Geschniarks-
iirteils eine logisch begründete Entscheidung setzen könnte,
gänzlich fehlt.
Es mag schwer sein^ dem noch derart in seinem Geschmacks-]
urteil befangenen Denker den springenden Punkt überhaupt klar
zu machen; wohl ebenso schwer wie dem, der da meint, die Erde
müsse doch noch durch dnen anderen Faden, als den im Gravita-
tionsgesetz bezeichneten, an der Sonne festgehalten werden, deuj
wahren Sachverhalt zum Verständnis zu bringen. Er müsste dochi
mindestens erst eine Ahnung davon haben, dass er hier nicht
streiten, sondern ei-st einmal verstehen lernen darf.
Es seien wenigstens einige Momentj? berührt, die vielleicht
dazu mitwh'ken können, wenigstens dem, dessen Wille nicht wider-
strebt, den Blickijunkt zu zeigen, von dem aus die Frage betrachtet
werden rauss.
Zunächst ein paar triviale Analogien, die dazu dienen sollen,
den Blick auf die Stelle zu richten, auf die es ankommt. Wir
haben tausendfache Arten z. B. von Thürschlössern, von Ma-
scliinen etc. Die einen sind gross, die anderen klein, die einen
kompUziert, die anderen einfach, die einen dienen diesen, die an-
deren jenen Zwecken. Aber gleichviel wie klein oder gross, oder
einfach oder zusammengesetzt, oder welchen Zwecken dienstbar:
wer sie fertigt, hat vor allem eines im Auge zu haben : Die
Teile müssen so zueinander passen, dass das Ganze rich-
tig funktioniert, ^
Diesen (Gesichtspunkt müssen wir ehimai von den übrigen, die da™
in Frage kommen, abgesondert betrachten. Natürlich nicht so, dass
wir nun glaubten, die Abstraktion sei schon für sich etwas.
Denn das ist sie so wenig, wie das Fallgesetz, losgelöst vom fal-
lenden Körper, etwas ist. Wir müssen hier von den Besonder-
heiten der fallenden Körper und der sonstigen Einwirkungen auf'^
sie einmal absehen und bloss die Gesetzesform für sich betrachten
Kants Bedeutung für die Pädap^oßrik der Gegenwart. 229
lernen, um zu sehen, wie die Gesetzmässigkeit beschaffen ist. Wir
betrachten also den Umstand, dass die Teile einer Maschine, eines
Schlosses, eines sonstigen Werkzeugs zu einander passen müssen,
einmal für sich und denken gar nicht daran, was sonst mit dem
Werkzeug geschehen soll. Da finden wir denn sofort: diese For-
derung des Zusammenpassens gilt von dem besonderen Zwecke
unabhängig völlig allgemein. Eine Maschine, die nicht ineinander-
greift, ist nichts wert. Das drückt eine Forderung an den Werk-
meister aus, der er seinen Willen unterwerfen soll; es enthält
die Idee der inneren Vollkommenheit. Diese Idee wird also
Richtmass und Zweck für den Werkmeister. Er muss ohne
sonstige Nebenrücksichten das Richtige erkennen und die
Fertigkeit üben, diesem Ziele thunlichst zu entsprechen.
W'enn er dies versäumt, wenn er hudelt, wenn er Fehler ver-
schleiert, so trifft ihn nicht etwa bloss von aussen her, sondern
auch vor allem von der Sache selbst aus der Tadel. Sein Werk
wird nicht vollkommen. Wenn er aber neue Formen und Zu-
sammensetzungen schafft, bessere Materialien auswählt, und in
Folge dessen das Gerät besser funktioniert, so gereicht es ihm im
Gegenteil zum Lobe. Das ist der Unterschied alten und neuen
Verfahrens, dass dort die Methode und Form fest bestimmt, starr
gefordert war, dass dagegen heute kein Gesetz gilt, als das,
welches aus der Forderung thunlichst vollkommenen Funktionie-
rens folgt. Das ist äusserst einfach; aber - es muss eben zum
Selbstbewusstsein kommen.
Nun, was hier für die äussere Technik gilt, das gilt in der
Ethik für den Zusammenhang menschlichen Handelns überhaupt.
Auch hier haben wir viele verschiedene Materialien, tote und
lebendige. Wir haben Gedanken, Gefühle, Bedürfnisse, Ziele und
Zwecke; wir haben Elemente und Stoffe der Aussenwelt; lebende
und tote, die teils als Mittel zu diesen Zwecken dienen, teils als
Hindemisse entfernt werden müssen. Hiervon redet die Kultur-
lehre.
Und nun stehen wir als bewusste, d. h. als denkende, fühlende,
wollende Wesen diesem gesamten Getriebe gegenüber und suchen
es natürlicherweise unseren pei'sönlichen Wünschen gemäss zu ge-
stalten. Soweit da die tote Natur und vemunftlose Wesen in
Frage kommen, scheint demObjekt gegenüber allenthalben nur
jene bereits besprochene technische Frage hervorzutreten. Je
sorgsamer wir in der Bearbeitung, Handhabung und Ordnung des
230
F. Stauding:er,
toten Materials sind, umso vollkommener wird es iu unserer Hand
funktionieren, — natürlich auch unsere Bedürfnisse am besten be*
friedig:en; aber von dieser Frage hatten wir ja eigens abgesehen.
Nur auf den einen, von Kant betonleu, nicht uuwiditigeu Umstand
wollen wir aufmerksatu machen, dass sehon hier die vollkoinnvene
Bedürfnisbefriedigung von der vollkommenen technischen Ordnung
abhängig ist, nicht umgekehrt. Wer Ursache und Bedingimg nicht
unterscheiden kann, der kann, beiläufig bemerkt, freilich einwenden,
der Wunsch nach Bedürfnisbefrieiligung sei doch die Ursache davoi
dass wir jene Veranstaltungen träfen. Solch billige Weisheil
schenken wir uns; denn weun auch gewiss das Redüi'fnis nach Brot
die Kunstmühle verursacht, so bliebe unerfiudbar, w^ie dies Bediü^f-
nis auch nur den geiîiigsten Beitrag zu der technischen Zusammen*
Setzung der Miihle liefern könnte. i
Dagegen ist etwas anderes höchst wesentlich. l>ie genannte
Beherrschung der Natur, deren Ordnung luul Formung unserem
Zwecke gemäss kann nicht geschehen, ohne dass unsere Thätig-
keiten selbst dem entsprecheud geordnet und geformt sind. Und
das kann wiederum nicht geschehen ohne Einsicht, Fertigkeit und
Wille. Die Ordnung unserer Handlungen genuiss der Einsicht ist
Willensthat. Und der der ordnenden Einsicht gemässe Wille heisst
vernünftiger Wille. Was da noch anderes hinzukommen soll, das
sich nicht aus dem Gesetz dieses Willens selber zu entwickelu
hätte, um ihm den Obarakter und die Würde eines Veniünftigen
zu geben, ist unei-findlich. Wahrhaftigkeit im Streben nach rich-
tiger Einsicht, Thatkraft, Masshaltung all das fliesst aus der
Grundf orderung des vernünftigen Willens selbst; es bedarf keiner
„Ideen'*, die von sonstwoher dazu kämen. Denn sie f Hessen aus
dem Grundgesetz selbst. Und es bedarf keiner Geschuiacksurteile,
die da sonstw^oher autorisiert wären, den Richter zu spieleo. Im
Gegenteil, die Geschmacksuiteile werden ihi*erseits gerichtet»
nachdem sie der Vernünftigkeit entsprechen oder ihr im Wej
stehen.
Damit wäre die Moral zu Ende, wenn nur ein einziger vei
nünftiger Wille wäre! Aber in Wirklichkeit sind viele Willen;
und da fragt, es sich, wie es nun steht; ob sich dadurch unser
Ergebnis modifiziert. Eine grosse zweite Reihe tritt uns ausser
der genannten entgegen, Nebenmenschen, die uns teils helfen, teils
hindern, unsichtbare und sichtbare durch die Jahrtausende ge-
spoüneue Fäden, die uns mit ihnen verbinden, ein Netz, in dessi
i
Im
I
Kant« Bedeutung für die Pädagoßfik der Gegenwart. 231
Maschen wir hineiDgeboren werden, zwischen denen wir einige
Freiheit haben, während wir dadurch andererseits unser Leben ge-
bunden sehen und nur selten und im kleinen Masse mit unserer
Individualkraft an dem Netzwerke etwas biegen oder zerreissen
oder unserem Belieben gemäss knüpfen können.
Mit diesem Gedanken treten wir an das zweite von Kant
und mehr noch von Natorp betonte sittliche Moment, das Moment
der Gemeinschaft heran. Und hier versagen unsere Her-
tartianer wieder völlig. Natorp hat gesagt, das Kriterium des
Sittlichen bestehe in der duichgängigen gesetzmässigen Überein-
stimmung der Zwecke, nicht bloss des einzelnen Subjektes, sondern
aller in einem fieiche der Zwecke vereinigt gedachten willens-
fähigen Subjekte. Dem gegenüber meint Flügel: „Solange jedes
der Subjekte keinen anderen Zweck hat, als vermittelst der Ge-
meinschaft seine besonderen Zwecke zu en-eichen, . . . solange
besteht kein sittliches Band der Gemeinschaft" (a. a. O. S. 267).
„Der soziale Zusammenschluss ist zunächst eine Naturnotwendig-
keit, ein Streben nach Bedürfnisbefriedigung." . . . „Auch Recht,
Sitte und Gesetz sind auf dieser Stufe" (auf welcher?) „nur Hilfen
ziir Bedürfnisbefriedigung. Bei Herbart hätte Natorp dies alles
finden können; nicht allein aber dies, nämlich, was die Gesellschaft
ist, sondern auch das, was die Gesellschaft zumal in Form des
Staates sein soll. Um dies letztere zu bestimmen, dazu gehören
^ber selbständige ethische Normen, die Natorp nicht kennt und
öie unverträglich sind mit dem, was er als das Sittliche be-
stimmt" (268).
Wir haben die wesentlichsten Entgegnungen Flügels auf
Natorps erstgenannten Satz wörtlich zitiert, um die Methode
seiner Polemik klar vor Augen zu führen. Von einer Widerlegung
des Gedankens vom Keich der Zwecke findet sich keine Spur.
Dagegen wird betont, dass wir einem solchen Keich der Zwecke
noch recht weit entfernt sind, so lange die Subjekte mittelst der
Gemeinschaft ihre besonderen Zwecke erreichen wollen, eine Wahr-
heit, die Natorp am allerwenigsten bezweifeln wird. Sodann wird
der soziale Zusammenschluss, was Natorp jedenfalls ebensowenig
bestreitet, zunächst als Naturnotwendigkeit gekennzeichnet und
dann wird autoritär auf Herbart verwiesen, der das alles schon
beantwortet habe. Das ist ja völlig, wie wenn man einem Theo-
logen alten Stils einen Widerspruch in der Bibel zeigt. Er ant-
wortet kühnlich: Die Bibel enthält keinen Widerspruch, sondern
taudmgr^r,
I
ist Gottes Woit, wie mau in der Bibel selber nachlesen kaOD.
Dieselbe Log*ik int. hier verübt. Freilich, wenii Herbari schon Bibel-
antorität besitzt, so muss aller ICinwiirf schweioren.
Just da^rgen führt Herbarts ^esellsehaftlielte Ideen ins Feld.
die die Willensverhaltnisse, die beim Kiozeloeii «fefiiuden sind,
wiederholen. Iti Wiiklidikeit wiederholen sie niciit. Die Urideeu
des Wohlwollens, des lleehts, der BiUigkeit setzen die Gesellschaft
ja schon voraus; das Knltnrsystein Herbarts briüg^t ein Element
herein, das, so enge es praktisch mit der Ethik verbunden ist,
theoreMscli doch nbenso scharf davon zu trennen ist, wie die Ge-
setze der Elektrizität von der elektrischen Batterie.
Bei beiden Bestreiten) Natorps spukt, wie freilich auch bei
Herbart selbst, die lieute noch laudesiib liehe Ai't der Gegenüher-
steJluug von Staat bezw. Gesellschaft und ludividoum, welche
dann zu dem Streben nach einem Kompromiss zwischen den An*
Sprüchen beider führt. Man zerbricht siidi dm Kopf darüber, wo
die Grenzen der Herrschaft des Individuums und der Gesellschaft
liegen (St, Mill). Das Gemeinwesen ist aber weder, wie Man-
chestertnm und Auarcîiismus g^lauben, eine Idtisse Summe von In-
dividuen, noch ist es etwas, was als eine heterogene Miicht über
den ludividuen steheji dürfte; es ist thatsächlich eine bestimmte
Verknüi>fung der Individuen, deren — meist unsichtbare — Ver^]
bindungsfäden ebenso stark und ebenso real sind, wie die mate-
riellen (Tehäude und Schienenwege und Arsenale, deren sie sich
bedienen. Diese Verknüpfung ist entweder so, dass die Fäden
dem Erwerbs- nnd Machtinteresse einzelner (j nippen gemäss sind;
dann entstellt für die übrigen Menschen der Anblick von einem
Gemeinwesen, das über üinen steht, mit dem sie nur auf dem
Wege des Kampfes oder des Kompromisses auch ihre Interessen-^J
fäden in Einklang bringen können. Oder aber das Gemeinwesen
verknüpft sich gemäss der Idee frei sich selbst bestimmender
Menschen; dann sind seine Fäden eben die Bedingungen der
Freiheit der Einzelnen selbst, oder, um mit Kant zu reden, Ge-
setze, welche machen, dass des einen Freiheit mit der anderen _
ihrer zusammenstimme. f
In jedem Falle aber ist das Gemeinwesen weder ein Organis-
mus, in dem die Individuen bloss Zellen wären, noch eine blosse
Summe wie ein Sandhaufen, sondern eine Organisation, also
etwas, das in der Natnr höchstens schwache Analoga, aber kein
Ebenbild zeigt. Denn Organisation ist, selbst wenn sie so zu
I
Kants ßedeutixiig für die Pttdajîopfik der Gegemvait, 233
Ug^tï îinhewusst uihI naturwüclisipf oîitstaïideii wäre, dptinoch die
Beïidiimgr denkender lUid wolleiuler Wesrn; sie ist sleis das,
sei es bewusst gewollte, sei es uiibewiisst sich er^^ebende Produkt
be w u s 8 1 e i* Thät ij^'^k*:;it m .
Wenn wirklich, wie Flügel sag^t, der suziale Zusanimeiischliiss
eine Naturnotwendigkeit ist, so muss denn doch vor allein elumal
— gerade im Hinblick auf Pädagogik - die Art dieses Zusammen-
schlusses klar erkannt werden, damit man wisse, wozu nuiti zu
^rzipheu bal>e; damit «lie t Organisation nielit unbewusstes Ergebnis
bewiisster, aber in ihri^ii Konsequenzen unbegriffener Handluugen
bleibe, sondern selbst bewnsst, einen» bestimmten Ziele gemäss
erstrebt werde. Es muss eiugesehen werden, tlass die Gemein-
schaft und das Individuum eine unzertrennliche Korrelation
'^flJeii, derail, dass der 8tand des Gemeinwesens für die Ent-
i*1ckeluug der Individuen, deren Entwirkelung aber rückwirkend
för die Vorwärts- oder Knckwärt>sbilduüg des (Gemeinwesens mass-
gebend ist
Was aber Vorwärtsbildnug, was Riickwärtsbihhing zu heisseu
li*t» das ist niclit so eiufach zu bestimmen. Da ktmimi einerseits
^ö Mannigfaltigkeit und der Keichtum der Lebeusfunktionen in
Frage. Die blosse Hirten- und ßanerugemeinschaft ist von diesem
^^ichtspuukt aus rückständiger als ein moderner Kulturstaat,
t%ser Gesichtspunkt ist der" Gesichtspunkt der Kultur,
Dagegen kanu die Frage auch auf die Geschlossenheit, das
löeinandergi-eifen der Leiieusfuuktioueu gehen und auf die Art,
Wodui'ch solche Geschlossenheit, solcher Zusammenhang der Ord-
NUügen und der Handlungen und des Woliens hergestellt wird.
Das ist der Gesichtspunkt der Ethik. Da kann es sein, dass ein
elementares Gemeinwesen freiere Selbstbestimmung und grossere
Geschlossenheit eutwickelt als ein Kulturstaat. lu diesem Falle
stände das kulturell unentwickeltere Gemeinwesen sittlich höher.
Penn sittlich ist eben nichts als das ans freier Selbstbestimmung
^ hervorgehende geschlossene Ineinandergreifen der Lebeusfunktionen.
Wir haben dies vorhin betrachtet, als wir den geschlossenen
Zusammenhang, wie ihn etwa ein einziges Vernunftwesen in seinen
Beziehungen zur veniuuftlosen Natur haben möchte, ins Ange
fassten.
Wenden wir uns zu diesem zurück. Wir sehen, dass dieser
( Zusammenhang vollkommen wird durch die Ordnung seiner Funk-
tionen, nicht durch die Abhängigkeit von der Bedürfnisbefriedigung,
a
\
234 F. Staudinger,
die nur — wie bei der Koriimühle — Folge aber nicht bedingender
Umstaud ist. Die vernünftige Ordnung: darin lag der ganze
Zauber beschlossen. Und nun fragen wir, wird die Gesetzmässig-
keit solch vernünftiger Ordnung in ihrem Wesen auch nur um ein
Haar anders, ob ein oder zwei oder zwanzig oder alle vernünf-
tigen Wesen sich in ihr befinden, von ihr geleitet werden und sfe
ihrerseits aufrecht erhalten? Schwerlich. Auf diese ganz objek-
tive, von Willkür völlig freie üesetzesgestaltung kommt also alles
allein an, wenn wir von Sittlichkeit reden.
Da könnte man nun freilich nach Flügel sagen, derartige
Gesetzmässigkeit sei nicht vorhanden. Dass sie nicht rein yot-
handen ist, dies ist zweifellos. Aber darum ist sie immerhin ^
was vorhanden ; und in ihrer Reinheit ist sie doch Noim und Ziel,
wenn wir eben vernünftige Wesen sein wollen. Denn sie drückt
ja, wie wir gesehen haben, die eine Gesetzmässigkeit des Ver-
nünftigen aus. Was eben hiermit nicht stimmte, ist eben noch I
nicht oder nicht mehr vernünftig. Vernunft wesen müssen ihrer |
inneren Art gemäss die Ordnung, in der sie ihre Bedürfnisse b^ ,
friedigen, in vernünftiger Gesetzmässigkeit gestalten. Nur soweit
sie das thun, sind sie Vernunftwesen. \
Daraus folgt nun ohne weiteres eine ganze Reihe von
Sätzen, die die Beziehungen des Einzelnen zum Einzelnen, zur
sittlichen Gemeinschaftsidee und zur unvollkommenen wirklichen
Gemeinschaft betreffen, und die schliesslich die Fortentwickelung
der wirklichen Gemeinschaft zur sittlichen Gemeinschaft zur Auf-
gabe haben.
Davon seien einige angeführt. Der Mensch muss sich ve^
nünftig selbst bestimmen können; d. h. er muss schon äusserlich
frei sein, seine sittliche Entschliessung darf nicht durch Zwang,
durch Angst ums Brot, durch Sondervort^^ile gebeugt werden. Die
direkt<3 Sklaverei wie die indirekte des Mammons ist also unsitt-
lich, Kant drückt dies dadurch aus, dass er fordert, das Ver-
nunftwesen dürfe niemals — wie die vernunftlose Natur — bloss
als Mittel, sondern müsse zugleich stets als Selbstzweck behandelt
werden. Die sämtlichen Pflichten des Menschen gegen den an-
deren erwachsen zwanglos aus diesem Prinzip.
Nun geht Kant freilich allzurasch dazu über, zu fordern,
dass die Willensentscheiduugen stets direkt dem Prinzip der all-
gemeinen Gesetzgebung gemäss seien. Das können sie nicht. Der
Richter z. B. kann nicht dem Prinzip des allgemeinen Gesetzes
KaTits Bedenttiîig für die PftdH^oprik der Gegenwart,
235
pemäss richten, sondern er muss dem ipfegeben en Gesetze ^eniäiss
iandeln; selbst wenn dies bloss aus dem Bestreben einzelner
Volksgruppen, mittelst der Oemeinschaft ihre besonderen Zwecke
zn erreichen» hervörp:eganjs:en wäre. Was er thnn kann und
rauss, das ist, dass er die Änderung* unvoUkotnmener und niimora-
fecher Gesetze ersti'ebt.
Und hier erscheint nnu das Korrelat zu der ersten Fuixle-
ma^ vernünftiger Gesetzmässifrkeit: die Ausbildunpf der Ord-
nunj^. (Inrrh die das Zusaiinnenwirken frei sieh selbstbestinunt'nder
Menschen mr»g:lich ist Hierfür ist ja in unseren Verfassungen
wenigstens der (Trnmi gelegt; es ist also für uns diese Forderung
nichts Neues und Unerhörtes mehr.
Um dem Ziel freilich näher zu kommen, bedarf es zuneh-
ïoeuder Einsicht und zunehmenden sittlichen Willens. Uiid hier
Setzt die Frage der Erziehung ein. Von hier aus wird
deren Ziel ganz direkt bestimmt: Es gilt, den GesirJitspunkt
Vernünftiger Ordnung, die durch frei sich selbst bestimmende Ver-
nunftwesen weiterzubilden ist, in den Mittelpunkt zu rücken und
I 2i\r Khirbeit zu bringen; so dass sie der Massstab sei» an dem
• auch die Gesetzmässigkeit des gegebenen Gesetzes selber zu
' messen ist.
Die Herren Herbartianer werden, wenn sie wirklich ernstlich
* diesen Gedankengang durchdenken, zugeben müssen, dass ihr
; Meist^er, in so viel Einzelnem er sich auch an Kant anlehnt, doch
' gerade die tiefsten und reifsten Gedanken Kants nicht zn erkennen
vermochte. Darum müssen wir Natoq) durchaus recht geben,
wenn er bei aller Anerkennung der treffhchen Einzelgedanken
Herbarts sein Schlussurtcil über dessen Etliik doch dahin abgiebt;
„Sie hat die von Kant gewonnenen Fundamente wieder preis-
I gegeben". Es ist Eklektizismus ohne solidi^n inneren Znsanimeu-
Ihang.
Herbarts Ideen bilden nur schwache, im einzelnen haftende,
ans keiner gemeinsamen Wurzel strebende Fäden dazu, 1st schon
harmonische Verhältnis zwischen Wille und Urteil ^^ innere
it, so kann auch der Wille der rücksichtslosen Egoisten
„frei* genannt werden. Ist der stärkere aber nicht der mit dem
jl allgemeinen Vernunft gesetz übereinstimmende Wille das Vollkom-
tmene, so könnte ja wohl Herbart nicht ohne Grund von unseren
modernen Kraft männem angezogen werden. Und wenn zum
Wohlwollen schon das harmonische Verhältnis meines Willens zu
M
F. StandÎTi^er,
dem f^etliicliteii fi<*m<lt'U ^enii^^t, so könote es ja wolil schon da
Verliällnis zweier liicksiçlilslosiii VertTrtrr dor Macht sein, da«1
(li<^s Wülilwolh^ii hcj»TiiiiLlete..
Aber da koninit die vierte Idee Herbarls, die uus sairt, da
der Streit niissfällt, und dass zu dessen Verrueidung das Recblj
gesetzt werden inuss. Bloss zur Vernieidiiiifr des Streites? frage
wir da zunächst. Nicht ancli ziii- Regeluiï^r iiositiveii Zusaiiiroeii«^
Wirkens? — Sodann aher ist noch gar nicht ansgeniacht, dass de
Streit missfiillt; in der That missfäHt nicht jede!" Streit. Dft
nämlich nicht, wehlier zur Durchsetzniig und Krhaltnug freie
Lebensgemeinschaften geführt wird. Von der fiiuften Idee Herbarts
der Billigkeit, wollen wir Heber schweigen. Natorp hat deu \vi
geltungsgedanken, der in ihr steckt, hinreichend als unsittlirJ
gekennzeichnet.
Diese fünf Ideen sind aber, ganz abgesehen von ihrer inneren
Mangelhaftigkeit, dwrch kein gemeinsames Band vereinigt. Just
behauptet zw^ar (287) : „Jeder IJabefangeue muss tue Griiudlictikeit
und Schärfe des Denkens bewundeni, mit der Herbart diese|
Musterbikler des Willens aufsucht und koustrniert, so dass eine au
die andere mit zwingender lugischer Notwendigkeit sicli aureiht,
bis die Reihe geschlossen ist und eine Fortsetzling logisch nicht
mehr möglich erscheint," Aber ich bedauere, dieser „Unliefaugene
nicht sein zu können, so gerne ich es möchte. Öder ist vielleicW
Jeder Unbefangene** nur in Herbarts Lager zu finden? Jedea-,
falls verlange ich etw^as niehrp w^enn von zwingender logische
NotW'endigkeit die Rede sein soll.
Muss mau diese Ethik als durchaus rückständig ansehen, b<l
achtet sie gerade Kants wesentlichste Krrungenschaften nicht,
ist damit auch festgestellt» dass sie nicht der Pädagogik zu gründe
liegen kann, wt^nigstens nicht einer Pädagogik, welche klar und
zweifelsoline den frei sich selbst bestimmenden Menschen als Er-
ziehungsziel aufstellt, eines Menschen also, wie er theoretisch dem
Jiegriffe dfis Verniinftigeu, wie er praktisch einer Verfassung ent-
spricht, welche die Gesetze durch die Gesamtheit der Staatsbürgerin
bezw. deren Beauftragte schaffen lässt. Sagt mau, das ebe^l
wolle mau nicht» gut! Danu steht mau auf dem Standiïunkte
Willmanns, der ganz konsequenterw^eise bewirken will, dass der
Menscli sicli von aussen her autoritär gegebene Gebote innerlich
aneignet, ihnen also Einsicht und Willen anbequemt. Das ist we-
nigstens ein klarer Standpunkt, w^euu auch nicht einzusehen ist,
ea-
I
Kants Bedeutung für die Pädagogik der Gegenwart. 237
rie vernünftige Wesen, falls ihre Vernunft nur einmal ein wenig
r^vacht ist, sich derart zu Mitteln für autoritäre Zwecke benutzen
issen werden. Sie werden mder solche Zumutung sich aufbäumen
ad sagen, dass ein Vernunftwesen nicht das Recht habe, das an-
ere als blosses Mittel zu benutzen und werden eine Ordnung
ordern, in der sie gleichermassen als Vernunftwesen geachtet und
»nerkannt werden; oder vielmehr: sie brauchen das nicht erst zu
hun, sie haben es in den Kulturstaaten bereits gethan, und sie
>ratichen bloss zu erhalten und konsequent durchzuführen, was
îchon gilt. Es dürfte schwerlich möglich sein, die alte autoritäre
Ethik wieder allgemein zur Anerkennung zu bringen, wenn auch
ihre völlige Überwindung noch manchen Kampf kosten mag.
Wenn aber nicht Erziehung zur Autorität, so bleibt nur Er-
ziehung zur Vernunft und zur allgemeinen Erkenntnis ihrer
strengen objektiven Gesetzlichkeit übrig. Sonst erhalten
wir statt Ordnung nur Willkür, wobei dann die an dieser oder
jener Ordnung Interessierten die Ideen der Gesetzmässigkeit aus
ihren zufälligen Geschmacksurteilen, d. h. nach teils unbewussten
Und verborgenen, teils aber auch noch offen und zynisch verkün-
deten Gruppen- und Einzelinteressen entwickeln. Das Ergebnis ist
dann ein zufällig aus dem Vertragen und Streiten egoistischer
Gruppen hervorgehender Majoritätswille, der sich der Minorität
aufdrängt, ohne auch nur im geringsten danach zu fragen, ob das
sogenannte Gesetz auch durch den Grundgedanken vernünftiger
Gesetzmässigkeit zu sanktionieren ist. — Wohlgemerkt, es ist
fi-eilich nicht anzunehmen, dass jemals völlige Übereinstimmung
zwischen den Menschen über all das herrschen werde, was ver-
nünftiger Ordnung gemäss ist. Das wechselt ja auch mit der
Entwickelung selbst; neue Erfindungen und deren Folgen z. B.
machen neue Ordnungen nötig. Aber wesentlich ist, dass die
Schaffung dieser Ordnung nicht dem Geschmacksurteil bezw. den
Interessen entspringt, sondern ernst und gewissenhaft auf der Er-
kenntnis fusse, dass auch das Interesse selbst endgiltig am besten
damit gewahrt werde, wenn es bei Schaffung der Ordnung als
solches gar nicht mitspricht.
Wenn die Schule Herbarts sagen kann, sie habe diesen Ge-
sichtspunkt bisher ihrer Erziehung zu Grunde gelegt, sie habe
den Gedanken objektiver Gesetzmässigkeit, der sich unmittelbar
ams dem Gedanken freier Vernunft begründet, gelehrt und gepflegt,
ïann müssen wir Abbitte leisten. Aber es ist doch merkwürdig.
F. Staudinger,
dass dieser Gedanke dann so ausserordentlich wenig auch nur be-
kannt ist, obwohl Herbails Richtung im Wesentlichen die Schüie
beherrscht.
Wohl sagt ja Wilhelm Rein, der dritte und vorgeschrittenste
der ßestreiter Natorps (314), Sittlichkeit gedeihe nur auf freiem
Boden, wo Zwang herrsche, da sei sie verloren. Er nimmt ausser-
dem erfreulicherweise gegen Willmanu, gegen die autoritär voa
aussen kommende Ethik entschieden Paitei. Und er sagt gaiH
anstlriicklich: „Hier liegt das Problem: Wie vereinigt sich innere
Schöpferkraft mit objektiv gegebenen sitttichen Ideen?*" Man
sollte meinen, diese Problemstellung erlaube logisch einzig unil
allein die Antwort: Sie sind nur zu vereinigen, wenn sie ans der
inneren Schöpferkraft der freien Yerauiift, aus ihrem Gesetz» als
dessen eigenster geseizmassiger Ausdruck erwachsen.
Aber da biegt auch Rein, statt handfest auf diese einzig
mögliche Lösung loszusteuern, ab, und nun kommt er zu dem Ge*
danken: ^ Woher will der Einzelne das Recht nehmen, dass er
nicht bloss formell sondern auch inhaltlich die Massstäbe für Ge-
sinnung und Handlung festlege?" ™ Auch inhaltlich? Die Frage
ist allerdings sonderbar. Sittliche „Inhalte" giebt es nicht, wenig-
stens nicht nach dem, was wir als Inhalt zu vei-stehen gewohnt
sind. Das ist ja eben der Gnmdunterschied alter autoritärer UDd
neuer freier, entwickelungsfähiger Ethik, dass erst ere bestimmte
inhaltliche Gebote ein für allemal festlegen will, während letztere
sagt: Jede Handlung ist richtig, sofern sie sich einstimmig in den
Zusammenhang fügen lässt, falsch, sofern dies nicht der Fall ist.
Ich vermute, dass Rein hier ein wenig Kulturinhalte mit sittlichen
Beziehungen vermengt. Wenn er (S. 313 t) ganz richtig sagt,
„die Form verdanken die sittlichen Maximen der Autonomie, aber
der Inhalt fliesst der gestaltenden Arbeit von aussen zu"*, so ist
damit doch eigentlich gesagt, dass der zu gestaltende Inhalt an
sich weder sittlich noch unsitUich sei, sondern es erst durch die
gestaltende Arbeit werde; ebenso wie ein Eisenstück noch nicht
funktionsfähiger Maschinenteil ist^ sondern es erst wird durch das
formende Schaffen. Aber es scheint ihm vorzuschweben, dass
dieser von aussen kommende Inhalt bis zu einem gewissen Masse
schon sittlich gestaltet ist; denn er setzt hinzu, der Inhalt fliesse
„aus der sitthchen Gemeinschaft zu".
Wenn hier Rein etwa daran denken sollte, dass die auto-
nome Vernunft trotz allem ihre sittlichen Ideale uicht un ver-
Kants Bedentang fttr die Pädagogik der Gegenwart. 239
mittelt verwirklichen kann, so wäre darüber zu reden. Immerhin
moss die durchgängige Gesetzmässigkeit als Endziel trotzdem
ebenso anerkannt werden, wie dies vollkommene Ineinandergreifen
der Teile bei einer Maschine. Völlig werden wir ja nie das Ideal
erreichen. Aber das ist wieder ein Unterschied alter und neuer
Ethik, dass jene die Schlechtigkeit des irdischen Jammerthaies
hinnmimt und das Ideal als Troststück daneben stellt, während
fur diese das Ideal der Wegweiser ist, der die Aufgaben zeigt und
die Richtlinien dazu angiebt. Für die Aufstellung dieses Ideals
aber ist das Vemunftgesetz durchaus autonom; und ihm das
Wirkliche zuzubilden — ist eben die sittliche Aufgabe.
Hierauf muss die Pädagogik also begründet sein, wenn sie
Erziehung zu vernünftigem freien Menschentum sein soll, wenn
sie den Menschen zu dem befähigen soll, was heute schon ver-
fassungsmässig seine Aufgabe ist, zum freien Mitgesetzgeber im
Gemeinwesen.
Zu diesem Zwecke muss allerdings der Unterricht eine andere
Richtung erhalten, als sie ihm Herbart geben kann. Vor allem
iat Natorp darin recht, wenn er gegen die Begriffe vom erziehen-
den Unterricht und vom Gesinnungsunterricht sich ablehnend ver-
hält Denn diese Zusätze sind entweder reine Pleonasmen, oder
es verbirgt sich dahinter die Tendenz, den Schüler in der That
zu einer inhaltlich bestimmten Überzeugung und sittlichen
Auffassung zu erziehen, also nicht etwa zu einem wahrhaftigen,
in dem Gedanken sittlicher Gemeinschaft gefestigten Menschen,
sondern in erster Linie zu einem Anhänger eines bestimmten
Glaubens, oder eines exklusiven Patriotismus, wo nicht gar zu
einer bestimmten Parteigesinnung. Die „inhaltliche Erfüllung" des
sittlichen Prinzips, so meint Rein (313), kann nirgends anders
woher, als aus dem sittlichen Bewusstsein der Gemeinschaft ge-
schöpft werden. Das ist richtig, wenn damit gemeint ist, dass
ein folgender Zustand nur auf Grund des vorherigen erwachsen
kann; aber es ist sehr bedenklich, wenn sich damit die Meinung
verbindet, in der gegebenen Gemeinschaft und deren Bewusstsein
liege irgendwelche Begründung für das, was ich für richtig
halten soll. Auch die Mathematik, die Naturwissenschaft, die das
Individuum lernt, ruhen ja auf der Arbeit der Vergangenheit,
können nur aus dem wissenschaftlichen Bewusstsein der wissen-
schaftlichen Geraeinschaft hervorgehen. Aber der Grund, warum
ein mathematischer oder physikalischer Lehrsatz als richtig an er-
240 F. Staudinger,
kannt wird, kann nur aus der Logik des betreffenden Zusammen-
hanges, nirgend woandersher sich ergeben. So auch in der Ethik,
wenn man das sittlich Richtige feststellen will. Sonst l&uftman |
doch stets Gefahr, statt wirklich wissenschaftlicher Gemeinschafts- \
ethik nur die Geschmacksurteile eines Parteimilieus, etwa des
Milieus der sogenannten guten Gesellschaft vorzntragen. Dassder
Lehrer sich davon nicht ganz loslösen kann, mag ja zugegeben
werden, dass er sich aber nach Kräften verselbständigen soll,
dass es ihm zur sittlichen Aufgabe gemacht werden muss, das
zu thun, das ist doch wohl zweifellos. Hierüber aber hat sich
auch Rein nicht klar und unzweideutig ausgesprochen, wenn er
auch wohl sachlich auf diese Seite neigt.
Aber noch etwas anderes ist zu bemerken. Es handelt sich
darum, ob trotz dem Gesagten die Ethik für sich den Kern und
das Centrum des Untenichtes bilden soll. Rein erkennt zwar eine
relative Selbständigkeit der wissenschaftlichen, ästhetischen und
technischen Bildung an; er möchte sie aber in Beziehung znm
Cent rum der Persönlichkeit, zu den sittlichen Ideen setzen. Damit
scheint er — es bleibt ja zweifelhaft, wieweit die Schwierigkeit
des Ausdrucks hier Missverständnisse schaffen kann — die sitt-
lichen Ideen als so eine Art Pfosten zu betrachten, an denen aller
Unterricht angebunden werden soll. Das wäre dann eben falsch.
In diesem Sinne ist die Ethik nicht Centrum des Unterrichts,
sondern nur ein Teil des Unterrichts, sofern sie ein Teil der
Wahrheit ist; und der Lehrer wird nur dann an sie anknöpfen,
wenn es der Gegenstand mit sich bringt, wie er gegebenen Falls
ebenso an andere Uuterrichtsteile anknüpft, wo sich ungezwungen
Beziehungen bieten. Der Unterricht selbst ist dem Ziel nach nur
dazu da, Erkenntnis zu schaffen, also intellektuell zu erziehen.
Sofern er dies thun will, muss er wahrhaftig sein, und er wird
den Sinn für reine Wahrhaftigkeit dadurch wecken, also ohne
weiteres Gesinnungsunterricht sein. Eis muss Zucht und Ordnung
herrschen, regelmässige Arbeit, Aufmerksamkeit etc. gefordert
werden. Somit wird er ohne weiteres auch erziehend wirken,
wenn auch nicht so allumfassend, wie es Lehrerstreben und oft
Lehrerhochraut in Anspruch nehmen möchte.
Darum sind die Worte erziehender Unterricht und Gesinnungs-
unterricht, das sei nochmals gesagt, entweder eine leere und fiber
flüssige Phrase, oder es verbergen sich besondere Tendenzen da-
hinter, Rudimente altautoritärer Gesinnungsmacherei, die im Inter
Kants Bedeutung für die Padagrogik der Gegemvart.
esse gerade der Wahrhaftigkeit und Sittlichkeit auf das Schärfste
zurückgewiesen werden müsseiL
Auf die Streitfrage über den Zusammenhang: von Begierung
and Zucht sei hier nicht eingegangen, da sie minder wesentlich
sein dürfte. Wenn man unter Zucht die Lenkung der noch nicht
vernünftig selhstbeherrschten Antriebe, unter Regieren g die Weiter-
bildung der bereits entwickelten vernünftigen Strebungen versteht,
80 ist doch wohl nichts, was diese Unterscheidung anfechtbar er-
scheinen lassen könnte.
Dagegen muss ein anderer Einwand erhoben werden, der
Mch gegen den (8. 304) von Beiu aufgestellten Satz richtet, das
I »»Interesse'* sei der Fundamentalbegriff der Lehre vom erziehenden
' Ijnterricht, Zwar gegen dies mehrdeutige Wort als solches
^SolJ nicht angekämpft worden, da sonst vielleicht nur Woilr
pitreit herauskäme. Mit der Herbartschen Auffassung des
îïiiteresses aber scheint ein anderer Satz von Rein auf das engste
zusammenzuhängen, der da lautet: „Gesetzmässiger Aufbau des
Jtildungsinhalts gemäss dem gesetzmässigen Aufbau der Geistes-
iräfte war das Ideal Pestalozzis, Herbarts und seiner Nachfolger"
(305). Diesen Satz müssen wir, um den Gegensatz unserer päda-
gogischen Grundrichtung klar herauszuschälen, geradezu um-
stülpen: Gesetzmässige Entwickelung der Geisteskräfte
gemäss dem gesetzmässigen Zusammenhange des Bildungs-
inhalts: das muss das Ideal der Erziehung, also auch
des Unterrichts sein.
Der gesetzmässige Zusammenhang des Bildungs-
inhalts muss also das erste Ziel sein, das wir ei'streben müssen,
ein unendliches Ziel, in dem wir noch nicht sonderlich weit ge-
kommen sind trotz unserer überaus leistungsfähigen E*ahriken von
Einzelerkenntnissen und unserer gewaltigen Warenhäuser voll
Wissen. Wir dürften hier im Gegenteil noch recht sehr in den
Elementen stecken, wie unser heutiges Herumtasten zwischen
Gymnasien, Realgymnasien, Realschulen, Reformgymnasien etc. aufs
deutlichste kennzeichnet Aber die Verschiedenheit dieser Anstalten
gründet sich nicht etwa darauf, dass man etwa aus einer ver-
schiedenen Auffassung der psychologischen Geisteskräfte verschie-
dene Bildungsinhalte abgeleitet hätte, sondern umgekehrt, weil
eine verschiedene Auffassung des Wertes der Bildungsinhalte und
ihrer Zusammenhänge zu einer verschiedenen Erziehung der
Geisteskräfte geführt hat. Damit soll diese Verschiedenheit der
ffaat0tii(ll«D IX
16
F, Standln^er,
Schulen ja nicht etwa getadelt werden, Wir müssen heute noc
tasten, suchen und versuchen; und sowohl was die hi *st mogliehe Zn-'
sammensetzung des Bildungsinhalts, als was die bestmögliche Art ihn,
zu vermitteln, angeht» sind wir noch auf langehiu auf das Experi-
ment angewiesen. „Man muss Experimentalschulen errichten, eh||
man Normalschulen errichten kann," Dies Wort aus Kants Päda-
gogik gilt noch heute. Das einzige, worüber Einhelligkeit und
Klarheit hen^chen sollte und müsste, ist das Bildungsziel. Gefl
rade dies ist aber heute noch dem Streite der Parteien unter-
worfen, da es mit der gesamten Richtung der Weltanschauung
unzertrennlich zusammenhängt. Vollblutautoritarier, eklektischÜ
Halb- und Viertelsautoritarier und Anhänger der verniinftigen
meinschaft kämpfen hier noch — nicht so sehr um die Art
um das Ziel, danach das Leben, danach also auch der ünterricbt
organisiert werden soll. Und dieser Streit erschwert sich durch
die Unklarheit, darin sich viek^ Veilreter der freien, vernünftige
Selbstbestimmung über das Gesetz ihres eigenen Willens be
finden.
Bei der Suche nach dem richtigen Aufbau des Bildungsinhaltil
aber wird nach unserer Überzeugung wiedenim der prinzipieller
Vertreter freien vernünftigen Menschentums früher oder späte
den Sieg, den Sieg auch über den Eklektiker Herbail davontrageiK
Statt sich mit der mindestens überflüssigen Scholastik der sechs
Interessen, der „Formalstuf eu" zu belasten, wird man seinen Flei»,
mehr darauf richten, wie man den Unterrichtsstoff so wählt, da
am Schlüsse eine einfachere oder zusammengesetztere aber jede
falls klare Überschau über den auf jeweiliger Stufe begreifba
gesetzmässigen Zusammenhang von Welt und Leben ins Selbste
bewusstsein der Zöglinge eingeht. Die Psychologie ist nicht
Urundlage, sondern Hilfsmittel für den Unterrichtenden; ein zwar
wichtiges, aber mit Vorsicht zu benutzendes Hilfsmittel, das vc
allem zu keiner Schematisierung, zu keiner Einzwängung de
Stoffs tn psychologische Schubfächer führen darf. Die Fra
wie kann ich etwas dem Geist und Herzen des Schülers nahe
bringen, wie kann sein Wille am besten zur Arbeit, zur Einsicht
in das Wahre und Rechte bestimmt werden, das ist, wie auch
Lehmann betont, vielmehr eine Frage der Kunst als der Wissen-
schaft. Technische Handgriffe sind da recht nützlich; aber di^
für den einen taugen, taugen oft nicht für den anderen, und dH
Art, wie man heute einen bestimmten Stoff der einen Klasse mit
Kants Bedeatang fflr die Pftdagogik der Gegenwart. 243
Leichtigkeit beibringt, kann morgen bei einer anderen gleichalte-
rigen völlig versagen.
Als grundlegend aber müssen wir festhalten; und das wollen
wir am Anschluss an Natorp (Herbart und Pestalozzi S. 10) folgender-
massen ausdrücken : Das positive Bilden geschieht nach den Gesetzen,
nach denen sich der menschliche Bildungsinhalt, d. i. der gesetz-
mässige Inhalt des theoretischen, des ethischen, des ästhetischen
Bewnsstseins folgerichtig aufbaut; die psychologische Erwägung
dagegen richtet sich wesentlich auf die Überwindung der Hemm-
nisse, die sich — infolge der besonderen Geartung und Entwickelungs-
stuf e von Lehrer und Schüler — gegen die Übermittelung und Er-
fassung dieses Bildungsinhaltes auftürmen.
In drei Hauptpunkten ist also Herbarts Pädagogik vom Stand-
punkte kantischer Grundgedanken und ihrer Fortentwickelung im
modernen Denken zu beanstanden: erstens darin, dass an Stelle
des Strebens nach objektiv einheitlicher Gestaltung des Bildungs-
inhaltes das Streben nach einem psychologisch einheitlichen und
damit oft zu Schematismus führenden Verfahren tritt; zweitens
darin, dass die Ethik, statt einfach die durchgängige Gesetzmässig-
keit im Zusammenhange alles menschlichen Wollens und Handelns
zum Ziel zu setzen, die Form selber bestimmen will, und damit
notwendig zu erstarrendem Formalismus und Dogmatismus führen
moss, darin endlich, dass diese so zugerichtete Ethik einseitig in
den Mittelpunkt des Unterrichts gestellt wird, statt eine Seite
bezw. ein Teil des gesamten Menschen bildenden Unterrichts zu
sein. Hand in Hand damit wird dann die Bedeutung der Schule
gegenüber dem Leben und seinen praktischen Einflüssen überspannt.
Dass darum nun Herbart abgesetzt, Kant auf den Thron ge-
hoben werde, diese Forderung ist keineswegs in obiger Kritik ein-
geschlossen. Das viele Tüchtige und Treffliche, das Herbart im
Einzelnen geleistet hat und noch leistet, soll nicht verkannt werden,
wenn auch selbstverständlicherweise bei einer Kritik, die speziell
die Fehler aufzudecken unternimmt, die Erörterung der guten und
bewahrenswerten Seiten zu kurz kommen muss. Diese können ja
auch erst dann mit Erfolg aufgesucht und eingefügt werden, wenn
die prinzipielle Kritik zum Ziel geführt ist.
Dass auf der anderen Seite Kant so ohne weiteres über-
nommen werde, kann ebenfalls nicht die Absicht sein. Gewiss
muss auch er in gar manchem, sowohl in seiner Erkenntnislehre
als in seiner Ethik verbessert werden, und zwar in fundamentalen
16*
tandingefi
Punkten. Zu denen rechne ich, wie schon angeführt, in der E^j
kenntnislehre, — worin ja Natorp allerdings heute noch nicht zu-
stimmen wird — das Ahstreifen des erkenntniskritiscben, Töltig
unbegründet hereingeschneiten Vonurteils, dass Raum, Zeit und
Kategorien deshalb, weil wir psychologisch unser Weltbild damit
aufbauen, auch in ihrer Bedeutung ,, subjektive Bedingungen derj
Anschauung und des Denkens*" blieben und nicht für eine Well
der Dinge an sich Geltung beanspruchen dürften^ ja niüsstea
Mit diesem thatsächlicb aus psychologischen Erwägungen hervor-^
gegangenen Irrtum hat Kant selbst die psychologischen Auf-
fassungen seiner im Wesen durchaus nicht psychologisch gemeinte».
Entdeckungen verschuldet. Ebenso hat er in der Ethik zwar da^M
Gesetz der Einheitlichkeit vernünftiger menschlicher Handhmgei^P
aufs schärfste betont und es als Gesetz fur ein Reich der Zwecke
freier Wesen gekennzeichnet; aber er hat es völlig unniittelbair^
auf das menschliche Handeln für anwendliar gehalten; er hat nicht-
gesehen, dass es nui' Ziel und Richtlinie sein kann, wonach wic^
die praktischen Ordnungen des Lebens selbst ausgestalten mtisseH y
dass diese Ausgestaltung notwendig ist, wenn es auch nur möglich seiim
soll, das individuelle Handehi diesem Gesetz gemäss zu gestalten: i)
und er hat mit seinem „Du kannst, denn Du sollst!** einen Rigo-
rismus — sehr wider seine Absicht — gelehrt, der thatsächlicb
Ideal und Wirklichkeit unüberbrückt lässt und den Einfluss
seines Sittengesetzes auf das wirkliche Handeln und wirkliche ,
Ordnen der Gesellschaft verkümmern musste. Damit erwächst
ihm kein grosser Vorwurf. Zu seiner Zeit gab es noch nicht die
Anfänge eines Verfassungsstaates in Deutschland und somit noch
nicht die praktische Aufgabe aller Staatsbürger, das Gesetz der
Einhelligkeit zum Leitfaden ihrer gesetzgeberischen Willensent-
scheidungen zu machen. Aber ein grosser thatsächlicher Schade
war es doch, denn umso leichter konnten in den rückläufigen
ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts seine Gedanken ver-
schüttet und vergessen werden, und auch dann noch nnbegriffen
und unangewandt bleiben, als die Anfänge des Verfassnngslebeus
die altautoritäre Normativethik prinzipiell unmöglich machte. Als
es dringend erforderlich gewesen wäre, einen Leitfaden aufzustellen,
1) In sfiiner Schrift zum „ewigen ïYieden" Anhang H spricht Kant
betr. des Völkerrechts aUerdings davon, die Voraussetzung sei, dass ein
rechtlicher Zustand existiere« Das wäre für unseren Fall in seine Konse-
queiuc zu V erfolgen.
KanU Bedeutung für die PiLdagogik der Qegeiiwart.
245
danach die Willensentiicheiilttiig bei gesetzg-eberischer Thätig"keit
hätte stattfiadeu sollen, fehlte das Bewusstselu von Kants Vor-
arbeit So begründete sich auch voe hier aus — abgesehen von
dea Einfliisseo der rohen Triebe — an Stelle der Einheitlichkeit
des Zusammenwirkens eiii durch Kompromisse zeitweilig ober-
^rückt^r Interessenkampf, ein Streit der Geschmacksurteile, in
dessen bedenklicher Entwickehing wir mittea inne stehen*
In dieser Hinsicht ist das Wort Liebmanns auch heute noch
»m Platz, »»Also muss auf Kant zurückgegangen werden". Und
^bcsnso ist es auf theoretischem Gebiete der wissenschaftliche, von
allem Zwange der Methodik und des G!au!»cns YöUig freie Gedanke
<ler vernünftigen Einhelligkeit aller Erkenntnisse und aller Er-
'^onntnismethoden, der noch heute sowohl gegenüber den „leoni-
Hischen" Gelüsten eines Willmann, als auch gegenüber den Platti-
tiiden der Mr. Gradgriuds und ihrer engen „Thatsachen"gelehr-
samkeit den Ruf notwendig macht: Also muss auf Kant zmück*
gegangen werden.
Uud da unsere Kultur au einem Schwebepmikte angelangt
ist, w^o es sich ernsthch fragt, ob nicht die destniktiveu Mächte
eines heute immer anarchischer sich entwickelnden Autoritarier-
und Interessent ums wieder über die bildenden Kuttiu^mächte siegen
uud uns wiederum um einige Stufen herabdriicken sollen: so tritt
vor allem auf das dringendste die Frage heran, ob diejenigen
wissenschaftlichen Grundsätze, auf denen die ernste Wissenschaft
bereit« niht, dit^jenigeu sittlichen Grundsätze, auf denen imser
Rechts- und Verfassiuigsleben, wenn es nicht ein Spott sein soll,
ruhen niuss, nicht auch bewusst und folgerecht die Grundlagen der
Jugenderziehung bilden sollen un*! müssen. Denn auf der Jugend
heniht unsere Zukunft. Gl» wir es durchsetzen können, dass sie
zu völlig vorurteilsloser, von keiner Dogmeuscheii angekränkelter
Wahrhaftigkeit und zu einer von keiner Menschenfurcht getrübten
sittlichen Selbstb^'stimmung erzogen werden, das ist die Haupt-
frage, um die si(*h in den nächsten Jahrzehnten geradezu alles
dreht Und insoweit, als Herbails psychologischer Schematismus
und erkenntniskritischer Eklektizismus, ebenso wie sein ideal ge-
färbter Halbautoritiirismus diesem Ziel im Wege stehen, handelt
es sich auch auf dem Gebiete der Pädagogik und vor allem auf
ihm darum, ihn zu überwinden. Hier vor allem also müssen wir
den Ruf erheben: Also muss auf Kant zurückgegangen werden!
Herder und Kant
an ihrem 100jährigen Todestage.
Von Eugen Kühnemann in Posen.
Der huiidertj ährige Todestag Kants ist ein echter Jubiläums-
tag, — ein Tag, der jeden mssenschaftliehen Mann zur Einkehr
zwingt. Denn es ist iinmögiich, über ihn zu schi-eiben, ohne ein
Bekenntnis abzulegen — und ein Bekenntnis nicht nur über den
Begriff, den wir von der Wissenschaft haben, sondern über unser«
ganse Art, zu Leben und Welt zu stehen* Dies ist das Ruhmes-
Zeugnis für ihn, wie es in der Geschichte des wissenschaftlichen
Geistes einzig dasteht. Das Werk Kants bedeutet diejenige Klar-
heit des Menschen über sich selbst, nach der die intellektuelle
Geschichte der modernen Menschheit drängt, und damit zugleich ,
den Ausgangspunkt einer unendlichen weiteren Arbeit. M
Es ist aber auch eine ganz seltsame Fügung, die die Todes-
tage Herders und Kants so nahe zusammengerückt hat, zweier
Männer, die in der Jugend Herders als Lehrer und Schüler in innigster
Gemeinsamkeit verbunden waren und am Lebensende in tötlicher
Feindschaft von Herders Seite zum Ausdruck wurden für zwei
entgegengesetzte Sichtungen des Geistes, — der Mann der grossen,
mitlebenden und mitfühlenden Phantasie, der Seher der Geschichte
und prophetische Erwecker eines neuen Dichtungsfrühlings und der
Mann des logischen Gewissens, dem kein Leben möglich ist als in
wissenschaftlich zweifellosen, ihrer Begründung gewissen Begriffen»—
zugleich der letzte geniale Ausläufer der alten metaphysisch dich-
tenden Philosophie und der erste, ganz reine Tj^ïus des spezilisch
modernen Geistes, für den das Wissen» das wirkliche Wissen
Inbegriff seiner Sehnsucht und die bestimmende Macht im Leben
geworden ist.
um diese Dinge wieder zum Austrag zu bringen, scheint der
Augenblick sehr günstig zu sein. Schon bei den vielen Herder-
Herder und Kant
247
{eîeni glaubte man etwas mehr zu spiireii als iitterarische Mode,
Hache und Neugier, Es wirkte etwas mit wie ein Zug nach jener
Zeit» deren führender Genius Herder gewesen ist, wie ein Be-
dürfnis, w^eoigstens sich in eine neue Beziehung zu setzen zu dem
innersten Geiste, der die Blütezeit unserer grossen Dichtung be-
seelt hat. Vollends für Kant ist die Epoche eines neuen Xantia-
nisnius gekommen, in der aber nun der letzte Anschein einer
philosophischen Schulbildung abgestreift wird. Der Geist seiner
Methodik arbeitet sich aus allen tradition i?ilen, bloss historischen
Formen heraus. Es handelt sich nicht mehr um das System mit
seinen Theorien in allen Einzelheiten, das als etwas Fremdes
neben die spezial wissenschaftliche Arbeit tritt Sondern die Grund-
gedanken Kants erscheinen als der Ausdruck der tiefinnerlichsteu
gemeinsamen Überzeugung in der wissenschaftlichen Arbeit der
^|rschiedenen Wissensgebiete selber, wobei dann der Gegensatz
^pd die entschiedene Bekämpfung der einzelnen Positionen des
Systems sehr wohl möglich bleiben. Kant soll wieder einmal und
auf neue Weise der Zeit seinen Dienst erweisen als der Punkt
der Orientierung für alle die auseinandergehenden Tendenzen des
Tag;es. So gilt uns seine Jubiläumsfeier noch mehr als diejenige
Herders nicht als ein Gedächtnistag, sondern als eine Sache für
t Leben.
Mit wenigen Andeutungen möchten wir bei dieser Fügung
yerweilen, die die beiden Männer, die sich so nahe gestanden
und schliesslich soweit von einander rückten, hundert Jalire nach
ihrem Tode noch einmal zusammenbringt und zu Nachbarn macht.
Nicht nur für jene Zeit sind sie uns zwei typische Richtungen
des Geistes und der Wissenschaft. Auch in dem Ringen unserer
Tage um eine Weltanschauung klingt es oft, als setzten die beiden
grossen Gtdster ihre Zwiesprache fort. Für den Reichtum der
^ktschen Bildung ist nichts so charakteristisch, als dass sie das
^^stige Leben beider in sich aufnehmen konnte. Vielleicht tritt
in keiner anderen Betrachtung so deutlich hervor, wie sehr die
Todestage dieser Männer feiern heisst der Gegenwart dienen.
^m Hf^der ist der Mann der grossen schauenden, mitfühlenden
Iftd mitlebenden Phantasie. Ihm hat die Natur die Gabe ver-
làehêo, sich hinein zu versetzen in dàë Lebensgefühl eines Dickters
L
248
K. K ü h n e m H n n î
oder eines Volkes, wie es etwa iu den wahrhaft empfiii
Liedern zu ihm spriclit. Daher der starke Zug seiner Seele zu
der aus orsprünglichem Gefiihl hervorbrechenden, lebendigren, inner-
lich w^ahren Dichtang, weil er heinah der erste ist, der sie in
ihrer ganzen Bedeutung als menschliches Zeugnis versteht, indem
er die Tiefen seelischen Lebens herausliest, die sich in ihr offeo-
baren. Ks ist dasselbe nienschheitliche Leben, das da überall
hervortritt, in den nordischen Urvölkern wie in den reichen Kul-
turen des Südens, iu uralter Zeit wie in den grossen Geschichts-
epochen und in der Gegenwart, In allen den tausend so ver-
schiedenen Klängen erkennt er die eine Stimme der Menschheit.
Den Begriff der Menschheit hat er mit eigentümlichem Leben er-
füllt. Auf diesem Wege wird er der grosse Kündiger des mensch-
lichen ^Seelenlebens in der Geschichte, da er zugleich, iu einer
und derselben Kraft, besitzt den Sinn für die Mannigfaltigkeit der
Völker und für die Kinheit des Menschengeschlechts, Er versteht*
ein jedes in seiner Art und in allen zusammen Erscheinungsformen
derselben raenschheitlichen Anlagen, Aus diesen Gedanken bestehl
die Herdersche Geschichtsphilosoi*hie. Wie sie aber im wahrstett
Sinne des Wortes für ihn erlebte Gedanken sind, — denn sie sind
nur der Ausdruck der mit ihm geboreneu Art zu sehen, zu ver-
stehen, zu erfahren —, so ist ihm diese ganze B'orschiing, dieses
Finden der Menschheit in ihrem K eich tum von Lust und Freudi
erfüllt. Und dies ist der eigentliche Inhalt der Herderschea
Menschenliebe, seiner inbrünstigen Liebe der Humanität, Sie i
nichts anderes als die Freude am lebendigen Eeichtuni di
Menschheit.
Das Charakteristische hei Herder aber liegt in der allge-
meinen Weltanschauung, die sich bei ihm im Gefolge der erlebten
Gedanken herausbildet. Diese Weltanschauung findet üire völlige
Krklärung darin, dass er der Philosoph des Lebens und zunächst
des seelischen Lebens ist. Die Menschheit begreift er als eine
einheitliche Kraft, die sich in so vielen Erscheinungen, in jeder
aber ganz und ungeteilt offenbart. Die Menschheit selber aber
ist eine der unendlich vielen Formen des Lebens in der Natui*.
tlberall in der Welt entfaltet sich das Leben in den i'ormen, wi
sie nach den jeweiligen Bedingungen möglich sind, — in allen
unendlich verschiedenen Formen also dieselbe zahlloser Wand-
lungen fähige, doch immer gleiche Lebendigkeit. Und so erhebt
er sich zu der letzten Anschauung der unendlichen Gotteskrafi
a
Herder und Kant*
249
tlio sich in Natur iinil Meosnliheit ibr*^ Formen schuf, iu unetid-
licheu Kräften auf iiiieiulliclü^ Weisen /Aim Austlnick konmU. IHi>
zaUloseo Wesen alle drückeü iü ilirer Selbstäüdigkeit die Ur- und
Allkraft, aus. In der Organisation eines jeden hat die Gottheit
sich selbst nach ewigen (resetzeo beschrankt. Jedes beruht und
hat seinen Bestand in einem gewissen Gesetz des Masses und der
Proportion, das überall die Welt regiert. Die innere Notwendig-
keit Jer göttlichen Natur erscheint in der inneren Notwendigkeit
aller der zahllosen Wes^'U im Universum.
Die ganze Weltauffassung Herders durchdringt sich /Jigieicb
*i[iit Naturinnigkeit und Gottseligkeit. Die Einheit des unendlichen
Xiébens in der Vielheit der Dinge erfüllt ihn mit dem Gefühl un-
endlicher Schöne, Der Reichtum Gottes und der Natur, wde er
^iberall Leben schafft und überall dasjenige lieben, das sich bier
'lîDd so entwickeln konnte, erscheint ihm als weiseste Güte, Darum
ist ihm die höchste Mat^ht die weiseste, eine nach inneren ewigen
Gesetzen geordnete unendliche Güte. Jedes Geschöpf hat eine
ihm wesentliche Wahrheit, Harmonie und Schönheit» auf die seine
Existenz mit so innerlicher Notwendigkeit gegründet ist, als auf
welcher unbedingt und ewig das Dasein Gottes ruht. Die ganze
Welt ist eine grosse Predigt und Erziehung zur Harmonie. Sie
entdeckt sich in jedem Gedanken Herders zugleich als Erkenntnis,
als Kunstwerk, als Gottesdienst und als Schule. AUe diese Ein-
sichteu al»er fühlt er ausdrücklich als einen (-Jewinn seiner um die
Tiefen der Dinge bemühten Wissenschaft, die sich nicht an Wort-
Schemen berauscht. Ein bescheidener Naturforscher will er sein,
— nichts w^eiter. Die Physik^ die sich schlicht um die innere
Natur der Dinge bekümmert, führt uns hinein in dieses Reich der
'Weisesten Notwendigkeit, einer in sich selbst festen Güte und
Schönheit.
Es ist ilie Idee des Monismus, die in diesen Gedankengängen
einen eigenartigen Ausdruck gefunden hat. Natur und Menschheit
sind gedacht als Erschein ungsfoiTnen eines grossen, unendlichen,
einheitUcben Lebens. Es ist die gleiclie gi^osse Gesetzlichkeit» dii^
in beiden gesucht und anerkannt wird, die gleiche innere Not-
wendigkeit des Daseins. Diese gesetzlich wirkende Kraft, diese
innere Notw^eudigkeit des Daseins heiast Gott. Seine geistigen
Kräfte offenbai'en sich organisch in der Welt. Durch eine eigene
Wendung des Gedankens wird diese gesetzlich wirkende Gottes-
E. Klthnemann,
Mlar KUgleich der Inbegriff der höchsteo SchöDheit, Harmouif
«ml Giit^.
Dieser Monismus will durchaus für einen uaturwissenschaft-
üdien gehalten sein. Der ganze Stolz des Thatsachenwissens
uud der Naturerkenntnis spricht überall aus Herders Gedanken,
Thatsachen, Wirklichkeit, das Dasein selbst in seiner Gegebenheit,
Natnreinsicht, — nicht Wortschemeu, leere Begriffe» Illusion, tote
Tradition — dies ist der immer wieder betonte Gegensatz, der in
«Huor doppelten Richtung zum Ausdruck kommt. Einmal gegen
die Metaphysik mit ihren miissigen Spekulationen. Ihr gegen-
über haben wir das Wissen von der Natur. Andererseits gegen
dit^ überlieferte Religion der Dogniatik. Wir haben den in Natur
lind Welt sich bezeugenden lebendigen Gott.
Herders Weltansicbt ist der Monismus der modernen grossen
philosophischen Systeuie in der ganz eigentümlichen Brechiuig
durch das Medium des geschichtlichen Geistes^ wie er sich in
diesem ästhetisch auffassenden Üeuter des seelischen Lebens ent-
wickelt hat. Alle in der Biologie wurzelndeu monistischen Ver-
suche haben in Herder ihren Ausgangspunkt und ihren Typus» —
2,
Kant ist der Mann des logischen Gewissens. Ihm ist es
möglich, Begïîffe zu gebrauchen, die er nicht nach ihrer Not-
wendigkeit für das Gebiet der Erkenntnis, dem sie dienen, ab-
geleitet und begründet hat. Auf dieser seiner Eigentümlichkeit^
beruht seine revolutionierende Wirkung für die Wissenschaft.
Diese revohitionierende Wirkung kann in keinem anderen
Zusammenhange gimser herauskommen als in der Auseinander-
setzung mit Herder und seinem naturalistisch-reügiösen Monismus,
Die Gewissheit, die für Herder als die ei-ste, ganz unzweifelhafte
sich herausstellt, war die jenes letzten, in sich selber seligen Da-
seins, Gottes^ der in unendlichen Kräften auf unendliche Weisen
überall sich offenbart. Die Natur ist ihm ein imendliches, in
schöpferischer Fülle sich beweisendes, göttliches Wesen. Hier er-
hebt sich nun die Kantische Frage zum eisten Mal in ilirer
Schärfe. Welche Begriffe gehen als notwendige in den Naturge-
danken ein? Da finden sich dann wohl solche wie der Begriff
der Grösse, der Substanz, der Kausalität, der Kraft, der Wechsel-
wirkung. Aber es findet sich in keiner Form der Begriff der
Herder iind Kant.
Göttlichkeit, Höchstens liegt als Zielpimkt imserf^r Forscliungen
7or ans die Idee des Ganzen der NaliU' als eines imbedia^ten
Daseins. Aber auch dies ist im Grunde nur die Idee einer letzten
systematischen Einheit unserer Erkenntnisse. Darüber hinaus giebt
es keine Möglichkeit religiöser Behan[>tnngen in der theoretischen
Wissenschaft von der Natnr. Die Natur als Gegenstand der Wis-
senschaft kennt Gott nicht.
Das göttliche Dasein, das als letzte Gemssheit allen Ge-
danken Herders zu gründe liegt, ist ferner eine nnendüch weise
und nnendlich gütige Kraft. Alle Güte im Leben der Menschen
ist eine Nachahmung Gottes. Auch wir sollen das Gesetz des
Hasses, der Ordnung, der Proportion beobachten, auf das seine
Welt gegründet ist, und sollen uns nach seinem Vorbild halten in
gutiger, reicher, belebender Liebe. Die sittlichen Gesetze sind für
Herder eins mit den Weltgesetzen der göttlichen Natur. Aber
auch hier wiederholt sich die bescheidene Kantische Frage. Das
sittliche Urteil, die praktische \'ernunft, nach deren Vorschrift wir
unser Leben einrichten, ist eine ganz zweifellose Gewissheit.
Welche Begiiffe nun gehen mit Notwendigkeit ein in unsern Be-
griff der sittlichen Vernunft? Ist der Begriff Gottes darunter?
Kant verneint es. Das sittüche Gesetz gebietet als ein unbe-
dingtes, — als das Gesetz, durch welches eine Gemeinschaft der
Menschheit hergestellt und erst möglich wird, — als ein der
menschlichen Vernunft allein entspringendes Gesetz. Der Gedanke
der sittlichen Autonomie der Vernunft ist im Sinne der Kultur-
geschichte der stärkste und modernste Gedanke der Kantischen
Philosophie. Er stellt die menschliche Sittlichkeit auf ihren
eigenen Grund. Auch die Sittlichkeit in Uirem Ginnde kennt
Gott nicht.
Das Herdersche Reich Gottes und der Natur war endlich
nicht nur das Reich des unendlichen Lebens, der Weisheit und
Güte, sondern auch das Reich der Schönheit und Haimonie.
Wenn irgendwo, scheint hier jedes menschliche Gefühl den Herder-
schen Gedanken zu bezeugen. Denn was ist offenbarer als die
Hen'licbkeit und Schönheit der Natur? Die Physik führt uns
nach Herder in das Reich der weisesten Notwendigkeit, einer in
sich selbst festen Güte und Schönheit. Aber nach Kant enthält
der Gedanke der menschlichen Wissenschaft in sich so wenig
I âBthetische Elemente wie religiöse und etlüsche. Die Physik führt
in das Reich der Gesetze, aber nirgends darüber hinaus. Alle
2Ö2 E. Kühnemann,
jene anderen Züge der Weisheit, Güte und Schönheit sind nicht
in der Natnr als dem Gegenstände der Wissenschaft, sondern sie
sind allein in der menschlichen Betrachtungsweise. Wei? sie aber
in den Begriff der Natur, soweit der Verstand sie durch^fingen
will, aufnimmt, der verdirbt die Wissenschaft. —
3.
Ks wird schwor sein, einen Gegensatz auszufinden, der
grösser wäre als der zwischen diesen beiden Denkweisen. Greifen
wir sogleich den Punkt heraus, an dem der Nerv des Auseinander-
gehens zu erkennen ist Für Herder ist die letzte Gegebenheit
und der Ausgangspunkt aller Wissenschaft eine grosse, aas8e^
geistige, für sich bestehende Thatsache, die Thatsache des grossen,
auf ewigen Gesetzen beruhenden Naturdaseins, welches wir wiede^
spiegeln in unserem Geiste. Für Kant giebt es an keiner Stelle
eine Möglichkeit, hinauszukommen über die Grenzen unseres
Geistes, des Bewusstseins. Ausserhalb unserer Vorstellungen
kennen wir eben nichts. Vom Wesen der Dinge in der Herde^
sehen Weise und in der Weise der alten Metaphysik zu reden ist
uns versagt. Aber der Gedanke der Natur als der gemeinsamen
objektiven Wahrnohniungswelt der Menschen ist ganz gewiss eine
Aufgabe der Erkenntnis. Wir können feststellen, welche Begriffe
mit Notwendigkeit in den Naturgedanken eingehen. Diese sind
dann die konstituierenden Elemente der Natur. Das ewige Wesen
der Natur in sich selber entzieht sich unserem Können. Jene Be-
griffe dürfen freilich behauptet werden als der Natur notwendige.
Von der Natur zum Geiste führt der Weg nicht, wohl aber vom
Geiste zur Natur. Schiller hat dies in die kühne Prägung ge-
bracht: die Natur steht unter dem Verstandesgesetze. Es ist der
Gegensatz des Naturalismus und des Idealismus, der hier als der
Grundgegeusatz in den menschlichen Weltanschauungen sich
aufthut.
Nichts kann charakteristischer sein, als dass dieser Gegen-
satz zwischen Herder und Kant gerade am Problem der Geschichte
zur ersten P>örterung kam, — in jenem litterarischen Streit um
Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit*",
zunächst in den beiden Rezensionen Kants, die von Herder sofort
als der tötliche Stoss in das Innerste seines Lebens empfunden
und von ihm niemals verschmerzt worden sind. Das Problem der
Herder und Kant.
2Ô3
Geschichte — das ist das Problem des Menschen. Dobii der Mensch
fct eis Wesen, welches Geschichte hat. Es ist das log-isch feinste
Problem der menschlichen Wissenschaft, weil an ihm das Verhält-
nis zwischen Naturgesetzliehkeit und KulturgesetzUchkeit zur Ent-
scheidonç kommt. Zwei diirchschlag:ende Einwürfe richtet Kant
gegeo Herder. Einmal, dass bei ihm die Geschichte als eine Ein-
bit der Entwicklung garnicht begriffen werden kann. Denn wenn
jedes Volk auf seine Art und mit seinem Recht die Menschheit
darstellt, so gieht es keinen Massstab der Wertabschätzung für
ik Arbeit der Kultur Aber noch tiefer trifft der Einwurf gegen
den Herderschen Naturbegriff. Diese letzte gewisse That sache des
j§fötUichen Daseins mit seinen geistigen, sich überall offenbarenden
Kräften ist — — keineswegs eine zweifellose Thatsache, vielmehr
eine Erdichtung dogmatischer Metaphysik. Es ist eine metaphy-
sische Erdichtung, von der Gleichartigkeit des Lebens in vei'schie-
denen Erscheinungen zu schliessen auf die Einheit der bildenden
feistigen Kraft.
Kein Schlag konnte vernichtender, für Herder verblüffender
sein. Der grosse Entdecker der Geschichtsphilosophie hat keine
Handhabe zur Lösung des Geschichtsproblems. Uie gewisse^ selige
Thatsache, die er mit Inbrunst umklammert, ist — metaphysische
Erdichtung, Einbildung.
Jede Vei-ständigung war ausgeschlossen. Es ist der Gegen-
satz der beiden Richtungen des Geistes, zwischen denen die Ver-
stündigung überhaupt ausgeschlossen ist. Genau in dem Sinne
wie bei Herder und Kant stehen sie sich heute gegenüber. Herder
ist der grosse Forscher, der grosse Empiriker, der aus seinem
Kreise der Erfahrung sich die allgemeinen Weltliegriffe bildet, und
da sie für ihn nur der allgemeine Ausdruck sind für die vielen
Einzelerkeniitnisse, die ihn beglücken, so gelten sie ihm so gewiss
wie diese Erkenntnisse selbst. Kant ist der philosophische Kopf,
für den das alles beheiTSchende Interesse das eine ist an der
Gewissheit der Begriffe, die er gebraucht. Jenem der Empirie
entstammenden Naturalismus wird aber an dieser Stelle eine grosse
Lehre zu teil. Heute wie damals fühlt er sich als die von Natur-
wissen gesättigte Philosophie überlegen der naturfremden müssig
dichtenden Spekulation. Aber er ist selbst nicht^s anderes als dog-
matische Metaphysik. I>as ist jede Lehre, die das vermeintliche
Wesen des Wirklichen in seiner ewigen Gesetzlichkeit meint aus-
sprechen zu können. Heute wie damals nimmt der monistische
254
E. Kühn emann,
Naturalismus gern im Geg^ensatz zur traditionelleD Beligion
Forijï einer neuen frohen Botschaft an. Heute wie damals fällt'
die kritische Eatscheidung über ihn bei dem Problem der Ge-
schichte. Nur der kritische Idealismus, der keine audereo Begriffe
ansetzt als diejenigen, die für die unabweisbaren Aufgaben der
Vernunft, sich als notwendige erweisen, ist wirklich frei von aller
Metaphysik und jenseits von aller — auch religiösen — Dogmatit ,
Der Empiriker, der philosophiert, wird immer Dogmatiker sein, fl
So — darf man sagen — handelt es sich noch heute M
lien Lebensfragen der Wissenschaft und Weltanschauung um eins
Fortsetzung des Zwiegesprächs zwischen Herder und Kant.
Hier wie stets ist der brennende Punkt für die AuseiuaIlde^
Setzung der Lebens- und Weltanschauungen die Frage Gottes.
Das ganze Oegeusatzgefühl Herders gegen das Kautiscbe
Denken möchten wir in seiner Schärfe au diesem Punkt zum Aus-
druck bringen -- um so mehr, da auch heute noch die Einwand
hier am stärksten sein werden, — gerade hier also — in die»
Gnmd- und Hauptfrage des Lebens — jene Zwiesprache zwischei
Herder und Kant sich fortsetzt. Und nirgends tritt so sehi* he
vor, dass die Kantische That, scheinbar so paradox, widersinni|j
und zerstörend, thatsächtich befreiend ist und Leben aufbaut.
Wie musste Herder zu Mute sein bei den Darlegungen Kants 1
Für ihn, für Herder, ist Gott das erste, das allergewisseste, die
grosse Grundthatsache, ohne die keine andere Thatsache ist, der
Mittelpunkt der ungeheuren Kugel des Daseins. Es ist der Gott
des Reichtums, des Lebens, der Liehe und der Kraft. War es
ihm überhaupt möglich einzugehen auf die Gedanken Kants? Die
Natur kennt C^ott nicht. Die Sittlichkeit in ihrem (irunde kennt
Gott nicht. Die Natur als Gegenstand des Verstandes kennt keine
Schönheit War das nicht eine fi^evelhaft entgötterte Welt? Konnte
es eine lächerlichere Anraassung geben als die des kleinen mensch-
lichen Sonderlings, der vor die offenbaren Bezeugungen der un-
endlichen Gotteskraft in der Welt hintritt und mit seinem blinden
Auge erklärt: sie sind nicht da? Wir gehen noch einen Schritt
weiter. Giebt es etwas Dürftigeres und Verstiegeneres als dieses
ganze Unternehmen, aus der Vernunft heraus diese Welt zu ent^
wickeln, von den Begriffen aus zu den Dingen zu gehen, welche
Herder und Kant. 2ÔÔ
waren und wirkten, ehe eine Yemunft und ehe Begriffe waren?
So mochte die Sache für Herder stehen. Der heutige Mensch ist
vielleicht mehr gewöhnt an den idealistischen Ausgangspunkt der
Wissenschaft. An dieser Stelle wird es auch ihm schwer werden
mitzugehen. Wenn wir nach Kant nirgends hinauskommen können
über den Bereich unserer Vorstellungen zu einer aussergeistigen,
für sich seienden Wirklichkeit, — aber Gott soll doch mehr sein
als ein Gebilde des menschlichen Denkens. Wir wollen den leben-
digen Gott, der war und ist und sein wird und dessen Geschöpfe
wir sind.
Nirgends zeigt sich die Grösse in der Konsequenz des Kan-
tischen Denkens mächtiger als hier und nirgends grösser die be-
freiende Kraft seiner Philosophie für die Kultur. Er giebt den
Gedanken seiner Methode nicht auf. Auch bei der Frage Gottes
handelt es sich um ein Motiv des Bewusstseins und um nichts
anderes. Aber er weist nun auch das religiöse Motiv als ein in
allem menschlichen Leben enthaltenes, notwendiges nach und ent-
deckt damit die eigentliche treibende Kraft in allen religiösen
Bildungen des Menschen. Wie die Natur, so entdeckt sich Qott
bei ihm in seinem Grunde. Hier wenn irgendwo beweist sich
seine Philosophie als die Pfadfinderin auch in das historische
lieben des Menschen.
Den religiösen Bestandteil des Menschenlebens findet Kant
in dem Moment des Glaubens, ohne den menschliches Leben so
^enig zu denken ist wie ohne Verstand und sittlichen Willen, und
der — als mit dem menschlichen Vemunftleben notwendig ge-
geben — im Unterschied von allem historischen konfessionellen
Glauben Vemunftglaube heisst. Seine Wurzel hat er im sittlichen
^öin der Menschen. Wir leben allein durch den Glauben. Denn
*Ues sittliche Handeln ist auf das unendliche Ziel gerichtet, —
^^klich zu machen das Keich der vollendeten Menschheit, das
^^ich der Menschen, die sich dem Zwang der natürlichen Be-
gierden entrungen haben^ und die sich nun selbst bestimmen nach
^er Idee der Sittlichkeit. Alles sittliche Handeln steht unter dem
besetze einer anderen Menschheit, als die da ist, einer Mensch-
^^it, die sein soll. Diese andere Welt nun, der wir entgegenleben,
b^t niemand gesehen, und kein Verstand kann sie beweisen. Den-
noch ist sie uns so gewiss, dass wir ihr unser Leben unterwerfen.
^4t anderen Worten: wir glauben an sie. Denn eine Gewissheit,
^î^ nicht eine solche der Wahrnehmung und des Verstandes ist,
256 E. Kfihnemann,
und die durch sich unmittelbar und unzweifelhaft gilt, ist dne
Gewissheit des Glaubens.
In allem sittlichen Handeln lebt eine geglaubte, andere,
höhere Welt. Sie ist der Zielpunkt der Sittlichkeit selber. Das
sittliche Gesetz ist durch sich selbst gewiss. Nicht Grand, aber
Folge und Form der Sittlichkeit ist der Glaube. Inhalt und Aus-
druck des Glaubens ist die sittliche That. An seinem Glanbeo
erkennen wir die Intensität des menschheitlichen Lebens im
Menschen. Und dies ist der notwendige Bestandteil des Glaub^is
im Menschenleben, das in allem Leben notwendig enthaltene reli-
giöse Motiv.
Nun wird freilich zuerst der religiöse Mensch in aUem dem
das nicht erkennen, was er Gott nennt, und was ihm Religion ist
Wir wollen zu zeigen versuchen, dass er etwas anderes daront«
gamicht verstehen kann. —
Zunächst bestimmt sich hier der Sinn des Göttlichen im
Gegensatz zum bloss Natürlichen. Es ist ein höheres Dasein, was
in unserem Glauben lebt und in dem vom Glauben beseelten
Handeln wirklich wird, — die höhere Welt der Liebe, der Gute,
der Heiligkeit. Es ist der Inbegriff dessen, was wir unter dem
Göttlichen zusammenfassen. Im Laufe der Geschichte sind frei-
lich noch viele andere Vorstellungen mit dem Gottesgedanken
verknüpft worden, Vorstellungen theoretischer Art. Aber alle
diese werden von der fortschreitenden Entwickelung auflöst
Die sittlichen Momente allein bleiben.
Femer aber ist dieses Göttliche eine lebendige Kraft, und in
diesem Sinn sprechen wir vom lebendigen Gotte. Er lebt in un-
sereoi Glauben und Handeln als die Kraft, die die höhere Mensch-
heit herbeiführt trotz alles Widerstandes der Traditionen, trotz er-
starrender Formeln und der erstickenden Macht der Trägheit
Auf dem „Lebendigen" liegt der Akzent. Wo menschheitliches
Leben wächst, da ist Gott. Und wo das Leben erstarrt, da ist
er nicht, und würde sein Name tausendmal genannt. Je inten-
siver das Lichtwerden im Sinne der vollendeten Menschheit, um
so offenbarer die Kraft des Göttlichen. In diesem Sinne kann er
mächtig sein auch im Handeln des Atheisten. Er beweist sich
als eine praktische Gewalt auch in dem, der ihn leugnet.
Er ist die Erfahrung, die sich uns in jedem neuen Tage sitt-
licher Arbeit neu offenbart. Dies ist das dem religiösen Leben
wesentliche Wort. Ein Gott, der nicht erfahren wird, ist keiner.
Herder una Kant
257
Und was für eine Existenz wollen wir für ihn ausserhalb miserer
Erfahrung?
Oder will der religiöse Mensch doch noch mehr? Er will
ftir Gott ausser unserem Denken und Glauben die Wirklichkeit,
die Realität. Diese — scheiut ihm — fehlt in allem, was wir da
sa^en. Aber das ist ein blosses ifissverständnis im Begriff des
Realen. Das ist ganz gewiss eine Realität, was als die höchste
Gewalt alles Menschenleben beherrscht und lenkt. Nichts ist
ï^îaler als die Ideen, da unser Leben ihnen gehört. Kant hat da-
für den grossen Ausdruck geprägt; die Idee Gottes hat nicht
theoretische, sondern praktische ReaUtät, d. h. sie ist kein Gegen-
staod des theoretischen Wissens und Beweisens, aber in unserem
Handeln lebt sie als das Ziel unserer Arbeit, Die Kantische Re-
ügionspliilosophie ist die grossartige Begründung des Gedankens
ron den freien Kindern Gottes. Das Prinzip der sittlichen Be-
stimmung tragen wir in uns selbst, als freie Wesen. In diesen
Freien aber lebt imd ist dann Gott.
Endlich bekommt auch der Begriff der Offenbarung in diesem
Zusammenhang allein einen verständlichen 8inn. Die Gedanken
der Offenbarung wollen etwas anderes sein als die Einsichten
des Verstandes* Nun treten die rehgiösen Ideen hervor in den
prophetischen Genien als unmittelbare Gewissheiten^ über Sinn
und Verstand hinaus, als mächtige, den ganzen Menschen zwin-
gende Erfahrung. Dies ist aber, was wir Offenbarung nennen.
In den Gesichten des prophetischen Genius mrd das göttliche
Wesen offenbar, das bis dahin dunkel blieb. Der offenbare Gott
ist das Ziel der Geschichte.
Alle Begiiffe des religiösen Lebens werden durch Kant deut-
lich in ihrem Sinn. Wir erkennen sie nach ihrer Notwendigkeit
and nach ihrem Ort im Leben des menschlichen Bewusstseius. —
Wir haben dies in aller Kürze, aber auch in aller Schärfe
herausstellen wollen, um zu zeigen, wie füi' die Lebensfragen der
Gegenwart bei Kant der Boden der Verständigung gewonnen wild.
Die befreiende That tritt gerade im Gegensatz zu Herder hervor.
Wenn dieser von der Natui' als dem göttlichen, uneudUch weisen
und nnendhch gütigen Wesen sprichti so sind das ja Glaubens-
begriffe, Aber er trägt sie in das Gebiet des theoretischen Wissens
hinein genau so wie die künstlerischen Begiiffe. Und da gieht
es dann Verwirrung, Widerspruch, Streit. Der Protest darf nicht
ausbleiben.
Kantitudivn, iZ.
i7
268 E. Eühnemann,
Dagegen beschränkt Kant die Wissenschaft auf die ihr not-
wendigen Begriffe. Aber er begründet auch die Sittlichkeit unab-
hängig von Religion, — den Gedanken der rein weltlichen Sitt-
lichkeit, der die grosse Errungenschaft der modernen Geschichte
und das Erongut der modernen europäischen Völker ist. Endlich
sichert er den religiösen Begriffen ihren tie&ten Sinn und ihre
unverlierbare Stelle im Menschenleben. Aber jede Kollision mit
Wissenschaft und Sittlichkeit ist nun ausgeschlossen. Und in dieser
Zusammenordnung der Lebensmächte ist Kants Werk die Philo-
sophie und zugleich das Glaubensbekenntnis der modernen Kultnr,
des modernen Menschen.
Darum wirkt auch auf den in der Welt des Kantischen
Geistes Vertrauten so kläglich, arm und dürftig der Yerstandes-
stolz derer, die von den vermeintlichen Errungenschaften der Natur-
wissenschaft aus sich erhaben dünken über die Religionsgedanken,
— etwa mit dem Bekenntnis der Prachtphrase, dass jetzt die
Naturwissenschaft mit ihrer Helligkeit an die Stelle der früheren,
dunkeln, religiösen Begriffe getreten sei. Was diese Meinung
eigentlich will, ist bei Kant ja längst entschieden und ist für den,
der es verstanden hat, kein Gegenstand der Diskussion mehr: die
Wissenschaft von der Natur kennt Gott nicht. Dies ist der denk-
bar radikalste Ausdruck für den Gedanken jener sogenannten
„Freien". Jene Position ist daher nach Kant wirklich nur Un-
bildung, Rückständigkeit. Kant ist weit gründlicher revolutioniert
und viel freier als jene. Es ist die ïYeiheit der wahren Bildung,
die auch das Verständnis des Religiösen in seinem tiefeten Sinn
in sich aufgenommen hat.
Die Religion — in Kants Geiste verstanden — ist das G^e-
meinsame und Wesentliche in allen den verschiedenen und sich
befehdenden religiösen Richtungen. Nur hier ist der Boden der
Verständigung. Jeder Schritt darüber hinaus ist der Schritt ins
Dogma. Mit jedem solchen Schritt kommt Streit und unversöhn-
licher Gegensatz. Jene Grundauffassung enthält das Gemeinsame,
das wahrhaft Religiöse.
Schliesslich kann ja in allem Streit um den rechten Glauben
nur darum gestritten werden, wer denn nun Gott wahrhaft hat
Wahrhaft aber hat ihn der, in dem er lebt als die sein ganzes
Dasein durchdringende Kraft. Es kommt alles endlich hinaus auf
den schlichten Kantischen Begriff der praktischen Realität. Reli-
Herder und Kant.
269
giou ist im ThuB und Handeln, nicht aber in den Worten. Das
Bekenntnis Gottes ist die That.
Kants Religion ist die Religion des reinen Glaubens. Sie ist
ûîchts und enthält und behauptet nichts ausser dem Glauben, der
io unserem Handeln Sprache und Ausdruck hat.
In diesem Gedanken, das» das Wesen der Religion im Handeln
liegt, nicht aber in den Bekenntnisworten, den Lehrmeinungen und
Q-ebräuehen, ist der grosse Theologe und Prediger Herder völlig
eitiig mit dem Philosophen Kant. —
6.
Der Gegensatz, in dem sich Herder zu Kant fühlt€% ist jedoch
^tircb die Unverträglichkeit der geistigen Grundrichtung beider
ï^och nicht ganz zu Ende erklärt. Sehr wesentlich wirkte bei
Seiner Stimmung mit der Gegensatz garnicht so sehr gegen Kant
Wie gegen die Kantianer
Das Gebahren der unreifen Schiller war es, das ihn mit Ent-
rüstung und zugleich mit Sorge erfüllte. Junge Menschen, bei
denen die Kantischen Begriffe nun wirklich leicht zu blossen
Worten wurden, die das abschliessende Urteil zu besitzen glauben
über alle letzten Fragen der Kultur ohne die Begabung des Be-
rufenen, ohne den Tiefblick des iilrklichen Kenners — dabei mit
der ganzen Tendenz zur Klique — und jede Klique verleumdet,
lügt und heisst —, diese buchte er der neuen Philosophie ins
Sündenkonto. In dieser ihrer Folge meinte er üiren eigenen Un-
segen bestätigt und an den Tag gebracht. Gegen sie ging sein
steter Ruf: Sachen, nicht Worte! Geschäftsmänner sollt ihr werden,
nicht Wortmenschen. Es ist von einer anderen Seite, der unsere
ganze Sympathie gehört, der Gegensatz des Mannes, der mit einer
grossen FüUe durchgeistigter Thatsachen lebt, gegen die bloss
begrifflichen Köpfe, die, so oft sie ohne innere erlebte Vertrautheit
mit den Dingen reden, in Wahrheit der dürftigste Menschenschlags
vor allem aber für die Philosophie selber, der sie immer wieder
die alten abgeleierten Vorwürfe zuziehen, das grösste Unglück sind.
Im Grunde war es der Gegensatz des Menschen von reicher
älsthetisch-geschichtlicher Bildung gegen das aprioristische Gerede
der kunst- und Weltgeschichtsfremden Burschen , die mit ein wenig
Schulung in Kantischer Methode alle Weisheit besitzen, Ist doch
Herder der vollendete Ausdruck der ästhetisch-gerichteten deut-
17*
260 B. Etthnemann, Herder und Kant.
sehen Bildung der damaligen Zeit! Dies bringt nns zur Âner
kennong dessen, was an Herders Lebensleistang doch onyerUeibar
bleibt. Wir wünschen für unsere philosophische Bildung nicht nur
die begriffliche Klarheit über die Grundlagen des Wissens, sondern
auch das grosse universale Verstehen der Dichtungs-, Seelen- und
Völkerformen, das wir Herder verdanken.
Die Einheit des geschichtlich-ästhetischen Geistes mit dem
philosophischen ist das grosse Kennzeichen der deutschen Bildung
jener Epoche. Möchten wir sie als herrliches Erbe bewahren.
Unsere litterarische Büdung sollte von philosophischer Tiefe, unsere
philosophische von weltlitterarischem Geiste gesättigt sein. Die
Verbindung ist für uns Deutsche etwas Grosses gewesen, was
wir nicht verscherzen sollten. So giebt es denn doch eine Mög-
lichkeit der Zusammenfassung beider Männer, — auch bei so
grossem Unterschied der Richtungen. Wir dürfen sie beide mit
einander feiern und thun es am würdigsten, wenn sie in unserer
eigenen Arbeit beide lebendig sind.
Helmholtz in seinem Verhältnis zu Kant.
Von A. Rie hl.
Bei der Feier zu Kants Gedächtnis darf Helmholtz nicht ver-
gessen werden. Er war der Erste, der es aussprach, dass Kants
Ideen noch leben. Der Vortrag, in welchem diçse Worte sich
finden — er handelt über das Sehen des Menschen — stammt
aas dem Jahre 1855. Eine ältere Rede von Weisse (über die
Frage, in welchem Sinne die deutsche Philosophie wieder an Kant
sich zu orientieren habe,) konnte keinen Eindruck machen und der
Erfolg, den Schopenhauer hatte, der sich selbst zum Thronerben
Kants proklamierte, fällt ungefähr gleichzeitig mit dem Vortrage
von Helmholtz. Kant blieb eine Zeit lang der „Mann der Physio-
logen"; man brachte die Lehre von den apriorischen Formen der
Erfahrung in Verbindung mit den Fortechritten der Physiologie
der Sinne. Allein, nicht in dieser, durch Helmholtz begründeten
physiologischen Auffassung Kante, welche, wie wir heute erkennen,
den Gesichtepunkten der transscendentalen Methode unangemessen
ist, liegt für uns das eigentliche Verdienst des grossen Natur-
forschers; wir erblicken es vielmehr darin, dass Helmholtz über-
haupt auf Kant aufmerksam gemacht und so die durch die speku-
lativen Systeme von Schelling und Hegel unterbrochene Verbindung
zwischen Philosophie und Wissenschaft wieder angeknüpft hat.
,.Die prinzipielle Spaltung, welche jetzt Philosophie und Natur-
wissenschaften trennt, schreibt er 1855, bestand noch nicht zu
Kante Zeiten. Kant stand in Beziehung auf die Naturwissen-
schaften mit den Naturforschem auf genau denselben Grundlagen,
— wie am besten seine eigenen naturwissenschaftlichen Arbeiten
Zeigen**. Auch der physiologischen Auffassung der kritischen
Lehren soll übrigens ein bedingter Wert nicht abgesprochen wer-
ben, bildet sie doch für den Noch-Aussenstehenden den bequemsten
Sogang zu dem Werke Kante. Schopenhauer hat sie durch die
262 A. Biehl,
ihm eigene lichtvolle Darstellung populär gemacht und aach
Albert Lange in dem viel gelesenen Buche: die Geschichte des
Materialismus teilt ihren Standpunkt.
Das Interesse für erkenntnistheoretische Fragen hat Helm-
holtz durch sein ganzes wissenschaftliches Leben hindurch be-
gleitet. Wie frühe es ihm aber eingeprägt ward — schon im
Vaterhause —, und wie sehr es ihn beschäftigte, so dass er sogar
finden konnte, das viele Philosophieren mache zuletzt die Ge-
danken lax und vage und er müsse sie erst wieder einmal durdi
das Experiment und durch Mathematik disziplinieren, haben wir
erst aus dem biographischen Werke von Eoenigsberger, diesem
Denkmal bewundernder Freundschaft, erfahren. In brieflichen
Stellen und selbst grösseren, zusammenhängenden AufzeichnoDgen
bringt dieses Werk neues Material für das genauere Verständnis
der Beziehungen, die Helmholtz zur Philosophie hatte, und auch
die folgende Darstellung muss daraus schöpfen.
Die ersten philosophischen Anregungen empfing Helmholtz
von seinem Vater. Dieser hatte in Berlin Fichte gehört und wäre,
da er für die Philosophie ebenso starke Neigung wie entschiedene
Begabung besass, am liebsten selbst Philosoph geworden, musste
sich aber der Philologie zuwenden und wirkte als Lehrer an dem
Gymnasium in Potsdam. Er blieb Anhänger der Lehre Fichtes,
in ihrer zweiten, reiferen Gestalt, und der Sohn konnte ihn oft
mit Kollegen, die Hegel oder auch Kant vertraten, streiten hören.
Irre ich nicht, so haben wir es dem Eindruck dieser Debatten zu-
zuschreiben, dass Helmholtz von seinem Verwerfungsurteil gegen
die nachkantische Philosophie Fichte stets ausgenommen hat; er
fügt freilich hinzu, soweit er ihn verstanden habe. Fichtes Nicht-
Ich z. B. erschien ihm noch zuletzt als der „ganz zutreffende
negative Ausdruck für die Beobachtungsthatsache, dass der Kreis
der uns zur Zeit wahrnehmbaren Gegenstände nicht durch einen
bewiissten Akt unseres Vorstellens oder Willens gesetzt ist**. —
Fichte konnte in einen Gegensatz gegen die Naturwissenschaften
nicht geraten; aus dem einfachen Grunde, weil er sich gar nicht
mit ihnen berührte.
Das Studium Kants begann Helmholtz mit siebzehn Jahren,
als er Eleve des Friedrich- Wilhelms-Institutes geworden war; er
setzte es fort, als er, im zweiten Semester, bei Johannes Müller
Physiologie hörte, und aus dieser gleichzeitigen Beschäftigung mit
den Lehren des Philosophen und des Physiologen muss schon da-
18 EU Kant.
263
mais die Verbindimg heiTorgegangeu sein, die seiue Auffassung Kants
trauernd bestimmt hat, die Verbindung der Kantiscbeo Ptiilosophie
iiit der Physiologie der Sinne. Neben Kant tritt unmittelbar
J^obannes Müller. Wie dieser „in den Sinneswahmehmungen den
Eiiifluss der besonderen Thätigkeit der Organe nachwies", so habe
K^nt nachgewiesen j „was in unseren Vorstellungen von den be-
sonderen und eigentümlichen Gesetzen des denkenden Geistes her-
'^lirt**. Die Folgen dieser Auffassung haben wir noch za prüfen,
öie kritische Untersuchung der Erkenntnis» der Nachweis der Be-
Düngungen und der Grenzen ihrer objektiven Giltigkeit, verwandelt
Bich durch sie in eine nativistische Theorie des Ui'Sprnngs unserer
Vorstellungen, me dies in Beziehung auf die Raumvorstelhiug
darch J. Müller geschah; und je mehr Helmholtz selbst zu der
entgegengesetzten Seite neigte, je konsequenter und ausschliess-
licher er in der enipiristischen Richtung fortging, umso weiter
fçlaubte er sich damit allein schon von Kant entfenien zu müssen.
Sein Verhältnis zu Kant hat eine Entwickelung, die mit dieser
Abwendung vom Nativismus Schritt hält.
In Einem aber blieb er Anhänger Kants, in der Ablehnung
jeder traosscendenten Metaphysik und der damit in Zusammenhang
stehenden Begrenzung der Aufgabe der theoretischen Philosophie,
„Kant^ Philosophie, äussert er in dem Vortrag über das Sehen
des Menschen» beabsichtigte nicht, die Zahl unserer Kenntnisse
durch das reine Denken zu vermehren, denn ihr obei^ter Satz
war, dass alle Erkenntnis der Wirklichkeit aus der Erfahrung ge-
schöpft werden müsse; sondern sie beabsichtigte nur, die Quellen
unseres Wissens und den Grad seiner Berechtigung zu unter-
suchen, ein Geschäft, fügt Helmholtz mit Nachdruck hinzu, welches
(ur immer der Philosophie verbleiben wird und dem sich kein
Zeitalter ungestraft wird entziehen können." Beinahe wörtlich
damit übereinstimmend heisst es in der Rede von 1862; über das
Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissen-
schaften: „Kants kritische Philosophie ging nur darauf aus, die
ynellen und die Berechtigung unseres Wissens zu prüfen und den
einzelnen übrigen Wissenschaften gegenüber den Massstab für
Uire geistige Arbeit aufzustellen. Ein Satz, der a priori durch
reines Denken gefunden wai', konnte nach seiner Lehre immer nur
eine Regel für die Methode des Denkens sein, aber keinen posi-
tiven und realen Inhalt haben.** Wir werden an Aussprüche in
der Kritik der reinen Vernunft erinnert, die diesen Sätzen von
264
A. Riehl,
I
HeliDlioltz zur Bestätigung dienten Diögen. ^In dem blossen Be-
griff eines Dinges, erklärt Kmi, kaüu gar kein Charakter seines
Daseins angetroffen werden. Denn dass der Begriff vor der
Wahruehninng vorhergeht, bedeutet dessen blosse Möglichkeit, die
Wahrnehmung aber, die den Stoff zum Begriffe hergiebt, ist der
einzige Charakter dei' Wirklichkeit. Fangeu wir nicht von der m
Erfahrung an, oder gehen wir nieht nach Gesetzen des empiri- "
sehen Zusammenhanges der Erscheinungen fort, so machen wir
uns vergeblich Staat, das Dasein irgend eines Dinges erraten oder
erforschen zu wollen." — Erst die „Identitätsphüosophie*" Schel-
lings und Hegels hat den „gesunden Standi*tinkt von Kant** ver-
lassen p und es ist von Interesse das Urt^^il zu vernehmen, das
Helmholtz in der genannten Schrift gegen sie richtet. Diese Phi-
losophie^ welche jeden, nicht aus dem Geiste stammenden Inhalt
der Erkenntnis leugnete, „ging von der Hj^pothese aus, dass auch
die wirkliche Welt, die Natur und das Menschenleben, das Resul-
tat des Denkens eines schöpferischen Geistes sei, welcher Geist
seinem Wesen nach als dem menschlichen gleichartig betrachtet
wurde**. So musste sie darauf ausgehen, die wesentlichen Resol-
tatve der übrigen Wissenschaften a priori zu konstruieren, — „neue
aber konnte sie nicht ableiten". Mit Recht sieht nun HelrahoUz
das entscheidende Prüfungsmittel für die Richtigkeit jener Hypo-
these nicht in der mehr oder weniger gelungenen Konstniktion der
Hauptergebnissse der ü eist eswisseuschaf ten, in Gebieten also, wo
wir mit Thätigkeit^äusserungen des menschlichen Geistes zu thun
haben, sondern in den Thatsachen der äusseren Natur. Ist die
Natui' das Resultat eines Denkprozesses, so mussten sich mindestens
ihre einfacheren Formen und Vorgänge dem Systeme einordnen
lassen. „Aber hier gerade scheiterten die Anstrengungen der
IdentitÄtsphilosophie". Und damit schien die Philosophie selbst ge-
scheitert zu sein, „Sie hatte Alles in Anspruch nehmen wollen,
jetzt war raan kaum noch geneigt, ihr einzuräumen, w^as ihr w^ohl
mit Recht zukommen möchte", das Misstrauen gegen ihre jüngsten
Systeme wurde auf die ganze Wissenschaft übertragen. Helmhnltz
aber warnte die Naturforscher davor, mit den ungerechtfertigten
Ansprüchen, welche die Identitätsphilosophie erhob, nicht auch die
berechtigten Ansprüche der Philosophie überhaupt über Bord zu
werfen, die Ansprüche nämlich, wie er wiederholt, die Kritik der
Erkenntnisqnellen auszuüben und den Massstab der geistigen Arbeit
festzustellen.
Helmholt« in seinem Verhältnis zu Kant. 265
Die Auffassung: der Philosophie „als Lehre voü den Wissens-
HUellen**, wie sie in einem Schreiben aus dem Jahre 1856 g^enannt
wird, kehrt, in den Schriften von Helmholtz immer wieder, ebenso
die Unterscheidung der Philosophie von der Metaphysik. Nichts
schien ihm der Philosophie so verbän^isvoll geworden zu sein,
als ihre immer wiederholte Verwechslung mit der Metaphysik; wir
werden ihm hierin Recht geben müssen; denn er beschränkt den
Nanien der Metaphysik auf „diejenige vermeintliche Wissenschaft,
dereu Zweck es ist, durch reines Denken Aufschlüsse über die
letzten Prinzipien des Zusanimenhauges der Welt zu gewinnen".
Ber Prozess gegen diese Metaphysik ist ausgetragen und die Akten
desselben sind in der Kritik der reinen Vernunft niedergelegt —
ffSni Verhütung künftiger Iixnngen ähnlicher Ait", Es giebt eine
Metaphysik auch in der Naturwissenschaft. Helmholtz aber war
^'eit eutfi'rnt, materialistisehen Anschauungen zu huldigen; er redet
gelegentlich, in einem Briefe an seinen Vater, „von den triirialen
Tiraden von Vogt und Moleschott" und tadelt, bei einem anderou
^Uliiss, wenn Naturforecher, „die sich am meisten in der Auf-
•fcJ^ng vorgeschritten zu sein dünken*', aus den überlieferten
*^f)nnen der Begriffe der Materie, der Kraft, der Atome „neue
•Metaphysische Stichworte** machen. Was wir erreichen können,
*«^iitet ein Satz von ihm, ist die Kenntnis der gesetzlichen Ord-
nung im Reiche des Wirklichen, — dargestellt in dem Zeicheu-
^jsteme unserer Sinneseindrücke.
In der grössten Annähening an Kant troffen wir Helmholtz
In einem Entwurf, der der Abhandlung „über die Erhaltung der
Kraft** voranging und die Umrisse seiner friihesten Philosophie
Ijringt. Sogar der Ausdruck ^ reine Naturwissenschaft** wird hier
gebraucht, jedoch in der Mehrzahl, weil Helmholtz auch Zeitlehre
nod (jeometrie zu den „allgemeinen oder reinen Naturwissen-
schaften" zählt. Es wird eiue doppelte Aufgabe der Naturforschung
unterschieden: die geordnete Übersicht des Empirischen — Natur-
beschreibung — und die wissenschaftliche Physik, welche die Be-
griffe sucht, aus denen sich die einzelnen bestimmten Walir-
nehmungen ableiten lassen, also das Wirkliche zu verstehen hat.
Von den allgemeinen Naturbegriffen aber, die allein aus dem Fak-
tum, dass es fiherhanpt bestimmte, nicht durch unsere Selhstthätig-
keit herv^iirgebrachte Wahrnehmungen giebt, erschlossen sind, wird
erklärt, dass sie und ihre Folgerungen aller Naturanschannng zum
l Grunde liegen und ohne sie keine gedacht werden kann, dass sie
266
A. Riehl,
1
also die „allgoiiioiiie und notwendige Form" der Natiiraüschauiit]
sind, daher auch die Gewisslieit ihrer Sätze abvSolut ist — W
Sätze sind, wie mau sieht, Kants Grundsätze der Erfahrung.
Jene Begriffe, fährt, Helndioltz foil, dürfen ferner nicht die Affif«'
lichkeit irgend einer empirischen KonibiTiatiou der Wahmehmun^PB
lïéschriinken, d. h, es daH aus ihnen durchaus kein empirisches
Faktum oder Gesetz ableitbar sein, sondern sie können uns dut
eine Norm für unsere Erklärungen geben. Wir glauben in dem
ersten Teile dieses Zusatzes schon den Keim der späteren Be-
denken gegen die Notwendigkeit der geometrischen Axiome zu
sehen. — Ihrem wesentlichen Inhalte nach sind diese allgeraein-
wissenschaftlichen Anschauungen in die Einleitung zu der Schrift
über die Erhaltung der Kraft übergegangen, der Schrift, die den
26 Jährigen Forscher iu die erste Reihe der mathematischen Physikfiij
stellte. Als Aufgabe der experimentellen Teile der ph3^sikaliscln
Wissenschaften erscheint hier die Aufsuchung der allgemein
Regeln für die einzelnen Vorgänge in der Natur, der GattUBgs-
begriffe des Geschehens. „Der theoretische Teil derselben sucht
dagegen die unbekannten Ursachen der Vorgänge aus ihren sicht-
baren Wirkungen zu finden: er sucht dieselben zu begreifen nach
dem Gesetze der Kausalität." Dazu bemerkt Helmholtz später
(1881), die philosopliischen Erörterungen der Einleitung seien durch
Kants ei^kenntnistheoretische Ansicbtea stärker beeinflusst, als er
es jetzt noch für richtig halte. Er habe sich ei^t später klar
gemacht, dass das Prinzip der Kausalität in der That nichts
anderes ist, als die Voraussetzung der Gesetzlichkeit der Natur-
erscheinungen, Dies aber ist genau die Ansicht Kants. Helmholtz
muss also unter „unbekannten Ursachen*' früher noch etwas Pm-
tiveres, W\^senhafteres verstanden haben, als die Kritik unter Ur-
sache zu verstehen erlaubt. Dennoch besteht zwischen seiner
früheren Philosophie und der si>äteren ein Gegensatz, namentlich
in Beziehung auf das Kausalprinzip, und die erkeuntnistheoretischeu
Anschauungen, zu denen Helmholtz schliesslich gelangte, zeigen
mehr Verwandtschaft mit Hume und Mill, als mit Kant. Wir
haben den Gnind für diese veränderte Stellung zu Kant iu der
physiologischen Auffassung der kritischen Philosophie zu suchen.
Den leitenden Gesichtspunkt für diese Auffassung bildet bei
Helmholtz die Analogie der Formen des Anscliaueus und des
Denkens mit den „spezifischen Energien" der Sinne» „Es war,
heisst es im Vortrag über das Sehen des Mensehen, der ausser-
Helmholte in seinem Verhältnis zu Kant. 267
ordentlichste Fortschritt, den die Philosophie durch Kant machte,
dass er das angeführte Gesetz (der Kansalität) und die übrigen
Formen der Anschauung und Gesetze des Denkens aufsuchte und
als solche nachwies, und damit für die Lehre von den Vorstellungen
dasselbe leistete, was in einem engeren Kreise für die unmittel-
baren sinnlichen Wahrnehmungen auf empirischem Wege die Physio-
logie durch Johannes Müller leistete/ Und in der physiologischen
Optik nennt Helmholtz das MüUersche Gesetz „in gewissem Sinne
die empirische Ausführung der theoretischen Darstellung Kants
von der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens." Bei dieser
Art, die „EMtik" zu betrachten, musste alles Gewicht auf den
subjektiven Ursprung der Erkenntnisse a priori fallen, Kants Vor-
haben dagegen ist der Beweis der objektiven Giltigkeit dieser
Erkenntnisse, obgleich sie a priori sind. „Es ist in der Kritik
die Aufgabe zu zeigen, welche Gesetze die objektiv giltigen sind
and wodurch man berechtigt ist, sie, als von der Natur der Dinge
geltend, anzunehmen, d. i. wie sie synthetisch und doch a priori
möglich sind." (Kant an C. L. Reinhold.) Erkenntnisse sind femer
nicht deshalb a priori, weil sie aus dem Subjekte stammen, oder
„die besonderen und eigentümlichen Gesetze des denkenden Sub-
jektes" ausdrücken. Es kann manches seinen Ursprung im Sub-
jekte haben, z. B. der Zweckbegriff, ohne darum schon a priori
zu sein. Die Merkmale der Apriorität: wahre Allgememheit und
strenge Notwendigkeit sind innere Merkmale gewisser Erkenntnisse
selbst, nicht blosse Folgen ihrer Entstehung aus dem Subjekte.
A priori im Sinne Kants bedeutet kein zeitliches, sondern ein be-
griffliches Verhältnis zur Erfahrung. Und die Giltigkeit von Er-
kenntnissen a priori auch über den blossen Bereich der Beziehungen
der Begriffe hinaus zu beweisen und die Grenzen dieses ihres ob-
jektiv-giltigen Gebrauches festzustellen: dazu ist die „transscen-
dentaie" Methode bestimmt. Zwar müssen wohl Erkenntnisse, die
nicht aus der Erfahrung abzuleiten sind, weil sie mehr behaupten,
als reine Erfahrung lehren kann, auf irgend eine Art dem denken-
den Subjekte entstammen, also, wenn man so will, subjektiv
a priori sein. Die Berufung aber auf ihren Ursprung aus der
Organisation unseres Geistes ergäbe immer nur eine subjektive
Notwendigkeit: weil wir so eingerichtet sind, können wir nur so,
nicht anders vorstellen. Dieses Unvermögen kann aber kein Argu-
ment der Wahrheit irgend einer Vorstellung sein. Auch würde
es an solchen nicht fehlen, „die jene subjektive Notwendigkeit,
268
A. Riehl,
der«
it"
die gefühlt werden nuiss, von sidi nicht gestehen würden; zum
wenigsten könnte man mit Niemandem über dasjenige hadern, was
hlös auf der Art beruht, wie sein Subjekt organisiert ist
Kants Frage ist nicht: wie kommt der Mensch zu Elrfahning und
Wissenschaft, kraft welcher Organisation seines Geistes, obsch<
was er gelegeotlich auch zu dieser ».subjektiven Deduktion" 4
Erfahrung beibringt, tiefes psychologisches Verständnis verrät
Seine Frage ist: wie ist Erkenntnis überhaupt möglich und unter
welchen Voraussetzungen ist Erfahrung Erkenntnis. Durch Schlüsse
aus Beobachtungen, auf dem Wege der Physiologie und Psycho-^
logie alsoj gelatigt man wohl zu einer Analyse der Prozesse des:"
Bewusstseins und damit zu einer P'olgerung über die thatsächlidie
Organisation des menschlichen Geistes, die sieh der Emiiirist oirht
einfach genug denken kann; aber, um beurteilen zu können; ob
und innerhalb welcher Grenzen unsere geistige Organisation ziir_
Erkenntnis ausreiche, das Vermögen unseres Geistes also wirklic
ein Erkenntnisvermögen ist, müssen wir zuvor wissen, was
kenntnis ist und was ihr Begriff vorschreibt.
In der Auffassung von Helraholtz fliessen beständig «lie Be*^
griffe: a priori, dem Subjekte eigentümlich und transscendental in
einander über. Der ganze transscendentale Beweis fällt damit ans,
und er ist auch in der That für die Physiologie und Psychologie
des Erkennens nicht vorhanden, noch mit den Mitt-eln ilirer Methode
zu führen.
„Kurz vor dem Beginn des neuen Jahrhunderts, schreibt
Helmholtz in der physiologischen Optik, hatte Kant die Lehre von
den vor aller Erfahrung gegebenen oder, wie er sie deshalb (!)
nannte, transscendentalen Formen des Anschauens und des Denkens
ausgeliüdet, in welche aller Inhalt unseres Vorstellens notwendig
aufgenommen werden muss, wenn er zur VomteUnng werden soll.
Für die Qualitäten der Empfindung hatte schon Locke den Anteil
geltend gemacht, den unsere körperliche und geistige Organisation
an der Art hat, wie die Dinge erscheinen. In dieser Richtnug
nun haben die Untersuchungen über die Physiologie der Sinne,
welche namentlich Johannes Müller vervollständigte und dann
in das tTesetz der spezifischen Sinneseuergieu zusanimenfasste, die
vollste Bestätigung, man könnte fast sagen, in einem unerwaTteteii
i^rade gegeben und dadurch zugleich das Wesen und die Bedeutung
einer solchen von vornherein gegebenen subjektiven Form des Em-
pfindens in einer sehr einschneidenden und greifbaren Weise zur Au-
Helmholtz in seitiem Verhältnis zu Kant.
269
scUauung gebracht. — Die Qualitäten der Empfiudiing erkennt
also auch die Physiologie als blosse Form der Anschaimng aii.
tÜbereiostiEiraeiid in dem Vortraof über Goethe 1892: „Solche
Formen der Anschauung, wie sie Kaut für deu gauzen Umfang
ttß&eres Vorstelluugsgebietes nachzuweisen sucht, giebt es auch
für die Wahniehmiingen der einzelnen Sinne".) Kant aber ging
Weiter, auch Zeit und Raum spricht er als gegeben durch die
Eigentümlichkeiten unseres Ansclmuuugsveruiugens aus. Er be-
zeichnete die Zeit als die gegebene uod notwendige, trausscenden-
Ule Form der inneren^ den Raum als die ents[irechen(le der
äossereu Anschauung. Selbst hier wii'd die naturwissenschaftliche
Betrachtung bis zu einer gewissen Grenze mitgehen köniien'', —
Es genügt, Kants eigene Erklärung damit zu vergleichen: ,, weder
ti^r Raum, noch irgend eine geometrische Bestimmung desselben
^ Jiriori ist eine transscendentale Vorstellung, sondej'n nur die Er-
'tennlnis, dass diese Vorstellungen gar nicht empirischen Ursprungs
^eien und die Möglichkeit, wie sie sich gleichwohl a priori auf
Üegenstiüide beziehen können, kann transsceudental heissen"*.
(Kr, d. r. V* B. 8L) Man denke nicht, es sei dies ein Streit nur
Um ein Wort, das Wort transscendental ; es ist ein Streit um die
Sache, das heisst hier die Methode. Anschauungsformen und Arten
des Empfindens ferner werden von Kant nicht gleich gesetzt,
sondern untei'schiedeo. Und gewiss mit Recht; deun wir gelangen
ziir Kenntnis jener Formen eben dadurch, dass wir von den Em-
pfißdungen abstrahieren. Was bei einer solchen Abstraktion Gegen-
stand unseres Bewusstseins bleibt, was wir dann noch vorstellen
iät ausser dem Begriff eines Dinges die Form seiner Anschauung,
z. B. die Gestalt eines Körpers, abgesehen von seiner Härte, Farbe
tt. dgl- Die Vorstelking des absoluten Raumes aber (und analog
die der absoluten Zeit) bezeichnet Kant als reine Anschauung^ um
sie von einem reinen Verstandesbegriff zu unterscheiden; ihr ent-
spricht nach seiner Lehre kein wirklicher Gegenstand, noch ein
an sich reales Verhältnis der Dinge selbst, sondern die allgemeine
Form, oder wie Kant auch sagt, das Gesetz unseres Anschauens.
Die Absicht von Helmholtz ist klar. Er will die „theo-
retische" Darstellung Kants, soweit sie ihm richtig erscheint, durch
sinnesphysiologische Ausführungen sicher stellen, — und sie er-
scheint ihm richtig, soweit sie sich durch solche Ansführiingeu er-
läutern lässt. Damit hat er sie aber nur mit niemals völlig
idchereu empirischen Anschauungen in Verbindung gebracht. Das
A. Hiehl,
MUlloi-sclie Gesetz, das ihr zur Stütze und Bestätigung dienen
iollte, ist nicht unbestiitten geblieben, und gerade Helniholtz selbst
hat es in eiuer Weise fortgebildet» die beinahe seiner Aufhebiii]
^Uiielikommt Man kann nicht die ^Modalität" eines Sinnes
Htisscliliesslich subjektiv erklären und zugleich jede einzelne Quali-
tät als auch von der Form des äusseren Reizes abhängig denken.
Denn die Modalität ist ein AbstraktuoK Es giebt kein Sehen
überhaupt, sondern nur das Sehen dieser oder jener bestimmten
Helligkeit, dieser oder jeuer bestimmten Farbe, — kein Hören,!
das nicht das Hören eines bestiuiniteu Geräusches, oder eines Tones
von bestimmter Höhe wäre. Sind also die Qualitäten durch die
Beschaffenheit des Reizes mitbedingt., so muss es auch ihre
Summe: die Modalität sein.
Auch von dem allgemeinen Kausalsatz giebt Helmholtz (in
dem Vortrag über das Sehen des Menschen) eiuen Beweis aus
physiologischen Gesichtspunkten, Der Beweis geht von dem Satze
aus: „Was wir wahrnehmen, sind Wirkungen der OegenstäQde
auf unsere Nervenapparate "*, — was gewiss richtig ist von dem
Standpunkte der wissenscliaftlicheu Erfahrung des Pliysiologen aus
und ebenso gewiss nicht richtig, soll damit eine ursprüngliche
Thatsache des Bewusstseins ausgedrückt sein. In diesem letzteren
Sinne aber muss Helmholtz den Satz genommen haben, weil er die
Frage daran anknüpft: „auf welche Weise sind wir denn zuerst
aus der Welt der Empfindungen unserer Nerven Mnübergelangt in
die Welt der Wirklichkeit?** — In Wahrheit gelangen wir über
die Welt unserer Empfindungen überhaupt nicht hinaus, sondern
nur innerhalb dieser Welt zu immer genauerem Verständnis der
gegebenen Empfindungskomplexe, zu denen auch die Wahrnehmung
Ton Nerven gehört, und zur Beziehung dieser Komplexe auf Objekte,
welche aber nicht mehr Inhalt unseres Wahruehmens, sondern
Gegenstand unseres Denkens sind. Von dieser Beziehung ist bei
Helmholtz nicht die Rede, seine Frage zielt vielmehr auf die
Umwandlung der, nach seiner Annahme, ursprünglich als Nen^en-
erregungen gegebenen Empfindungen in Bestandteile der Siunes-
wahrnehmungen. Und seine Autwort lautet: dies geschieht „offen-
bar durch eiuen Schluss, wir müssen die Gegenwart äusserer
Objekte als der Ursachen unserer Nerven erregung voraussetzen^
denn es kann keine Wirkung ohne Ursache sein". „Woher wissen
wir, fährt Helmholtz fort^ dass dem so sei? Ist das ein Erfahruugs-
satz? Man hat ihn dafür ausgeben wollen, aber wir sehen hier»
A
Heimholt« in seinem Verhftltiüa zu Kant.
271
wir braucheo den Satz, ehe wir uoch irgeiitl eine Kenntnis von
den Dingen der Ausseowelt haben. Wir brauchen ihn» um über-
kapt zü der Erkenntnis zu kommen, dass es Objekte im Räume
fleht, zwisehen denen ein Verhältnis von Ursache und Wirkung
vortomnven kann. Die Untersuchung der Sinneswahrnehmungen»
so schliesst Heimholtz in sehi' bezeichnender Weise seine Ausführung,
fökt uns also auch necli zu dei' schon vun Kant gefundenen Er-
kenntnis, dass der Satz: keine Wirkung ohne Ui*sache ein vor
ftUer Erfahrung gegebenes Gesetz unseres Deukens sei,**
Auf den Priorttätsslreit, der sich um diesen Beweis erhoben
hat, brauchen wir uns nicht einzulassen. Schopenhauer beschukligte
durch einen seiner Schüler Heimholtz des Plagiates^ und die Be-
schuldigung niusSj wie aus Briefen von Heimholtz hervorgeht,
einiges Aufsehen gemacht haben. Hie ist jedoch gegenstandslos,
da sich die Beweise» genauer butrachlet, gar nicht decken. Während
nämlich Schopenhauer, von seiner idealistischen Gmndansicht aus
das Objekt, das zuvor noch gar nicht vorhanden sein soll, durch
einen Kausalitäts-Schluss erschaffen werden lässt, lässt es Heimholtz
durch einen solchen Sclduss nur zu unserer Kenntnis gelangen.
Beide Denker übersahen aber bei ihren Beweisen, dass sich das
Gesetz der Kausalität nur auf Veränderungen bezieht, nicht auf
Objekte. Nach diesem Gesetze lässt sich also wohl von einer
Veränderung im Subjekte, die nicht aus diesem stammt, auf eine
vorangegangene Veränderung eines Objektes schliessen ; das Objekt
selbst aber wird dabei nicht erschlossen, es ist vielmehr dem
Schlüsse notwendig vorausgesetzt, Miisste ferner nicht ein unbe-
wusster Schluss auf das Objekt, wie Heimholtz ihn annimmt,
physiologisch betrachtet eigentlich ein Fehlschluss sein, da er uns
zwingen würde, aus der Wirkung die Ursache zu maclien? Die
Physiologie belehrt uns, dass die Emi>findung Blau z. B, ein Er-
regungszustand unseres Sehnei-ven ist, jener Schluss aber macht
daraus ein blaues Ding. ^ Unser Wissen von den äusseren
Erschemungen {nicht das Wissen, dass es Erscheinungen sind) ist
anmittelhar und das, was wir Empfindungen nennen, sind seine
Elemente.
Kants wesentlich anders gerichteter Beweis des Prinzipes
der KausaUtät kann hier nur zur Vergleichung herangezogen,
nicht analysiert werden. Vor allem: das Ziel des Beweises ist
nicht, die Apriorität des Kausalsatzes zu zeigen, diese steht für
Kant bereits fest durch die „metaphysische'' Deduktion des Satzes
272
A. Biehl,
aus lier Foriii des hypothetischen Urteils, dem Verhältnis vo
(Ti'imd und Folge. Das Ziel ist, die objektive Gütigkeit des Satzes m
erweisen, ob g 1 e ic h er a priori ist. Das Pi inzip der Kausalität wendet
deu wSatz vom Grunde auf die zeitliche Abfolge der VeräiideniDgen äu, ^
es behauptet die Notwendigkeit lu dieser Abfolge, Wir urteilei
nach diesem Prinzip a priori über eiu Verhältnis der Dinge. Nud ist
es nicht möglich, über Dinge uumittelbar a priori zu urteilen
Wenn sich aber zeigen iässt, dass hrgend ein Grundsatz a priori,
der etwas von deu Dingen behauptet (in Kants Sprache synthétisa
ist), notwendig von der Erfahrung der Dinge gilt, so ist auch
gezeigt, dass er mittelbar vou den Diugen selbst gelten muss;
soweit sie nämlich Dinge der Erfahrung, d, i, soweit sie Bf^l
scheiuungen der Dinge sind. Und aus diesem allgemeinen Gesichts-
punkte der „transscendeutalen" Deduktion wird auch der Beweis
des Kausalsatzes geführt. Wie es sich eigentlich von selber vei
steht, tritt dieser Satz erst in Funktion, weniî und so oft eine
Veränderung eintritt. Denn dass Veränderungen etwas Wirkliches
siud, leugnet Kant so wenig, als er die Wirklichkeit der Körper be-
zweifelt. Was einer Veräudenmg vorangeht, zeigt, wie diese selbst,
die Wahrnehmung durch ihren gegebeneu, rein empirischen InhalV
dass in dem Vorangehenden der Grund füi* das Folgende ent-
halten sein muss, die Veränderung also notwendig eintritt, ist die Vor-
aussetzung, unter welcher allein jener empn^ische Inhalt zur
Erfahrung wird. Der Kausalsatz ist das Prinzip der Möglichkeit
der Erfahrung von Veränderungen im Unterschiede vou ihrer
blossen Wahrnehmung. Dieses Prinzip begründet nicht etwa nur
die Wissenschaft vom Geschehen in der Natur, es begründet deu
Gegenstand der Wissenschaft, die Erfahrung selbst. Aus der be-
ständigen und objektiven Folge unserer Wahrnehmungen lässt sich
der Kausalsatz nicht, wie Hume wollte, ableiten; denn wir brauchen
diesen Satz, um zu erkennen, welche Folge überhaupt objektiv ist
Die besonderen Verknüpfuugeu der Vorgänge in ihrer zeitlichen
Folge müssen und können nur aus der Wahrnehmmig geschöpft
werden, nur die allgemeine Foini dieser Verknüpfung: die Kau-
salität ist a priori zu erkennen, und sie ist objektiv giltig, weü
sie eine der Formen ist, durch Wahrnehmungen ein Objekt zu be-
stimmen, eine der Formen der Eiiahrung als solcher.
Hehuholtz war im Rechte, zu sagen, das Denken a pru
kann nur formal richtige und notwendige Sätze ergeben, die
niemals irgend eine Folgeriuig über Thatsac heu einer möglichen
j
Hei mho) tz in seinem Verhältpi» zu Kant.
273
Erfahrung zulassen können; nur hätte er hinzufügen müssen:
aos^enomiiien die Folgerung über die Mtiglichkeit der Erfahrung
selbst.
Auf seinen Beweis des Kausalsatzes ist Helmholtz später
uicht wieder /jinickgekoninien; er jnuss ihn selbst nicht mehr für
zwingend betrachtet haben. Auch hat er seine Auffassung des
Prijizipes in der Folge geändert, und den Anstoss dazu galieu ihm
Studien über erkeimtnistheoretische und psychologische Fragen,
bald nach dem Vortrag von 1855, über deren Gegenstände wir
darch eine briefliche Aufzeichnnng aus dem Jahre IH57 unterrichtet
sind. Es handelte sieh für ihn ^,nni eine speziellere Durcharbeitung
gewisser Fragen, die ganz auf dem von Kant in seinen Umrissen
erforschten Felde der a priorischeu Begriffe liegen, so die Ab-
leitung der geometrischen und niechanischen Grundsätze, den Grund,
wanim wir das Keale in zwei Abstraktionen, Materie und Ki'aft,
logisch auflösen müssen, — dann wieder um die Gesetze der
unbewussten Analogieschlüsse, durch welche wir von den sinnlichen
Empfindungen zu den Wahrnehmungen gelangen/* Es ist das
Programm seiner ferneren Thäligkeit, so weit sie sich den allge-
meia wissenschaftlichen Fragen zuwandte, und uamentlich die
zuletzt genannte Frage führte ihu zu seiner neuen Fassung des
Kausalproblems. „Der erste Schritt in der Erfahrung, heisst es
in der phj^siolugischeu Optik, ist uicht möglich ohne luduktions-
fichlüsse/ Da solche Schlüsse auf der Wiederholung ähnlicher
Dinge und Vorgänge aufgebaut werden, so erscheint der Kausal-
satz uicht länger mehr als das Prinzip, woraus die Existenz der
Dinge gefolgert werden raüsste, er wird zum regulativen Prinzip,
zum Obersatz der Induktionen. Die frühesten Induktionsschlüsse»
die den ersten Schritt in der Erfahrung leiten, müssen unbewusst
erfolgen, nur ihr Resultat, die sinnliche Wahrnehmung, tritt ins
Bewusstsein ein. Daraus folgt, dass die Regel der luduktions-
schlüsse überhaupt nur den Ausdruck eiues dem Bewusstsein
ursprüughcheu, ihm eigentümlichen Verfahrens bilden kann, das
uns bestimmt, das Gesetzliche in den Thatsachen aufzusuchen.
Unbewusste Induktionsschlüsse sind unbewusstc Kausalitätsschlüsse.
Noch immer aber glaubt Helmholtz in wesentlicher Übereinstimmung
mit Kant zu stehen. Das Kausalitätsgesetz, erklärt er noch iu der
physiologischen Optik, ist „wirklich ein a priori gegebenes (und,
was für ihn dasselbe bedeutet) ein transsceudentales Gesetz**.
Von einer weiteren Wendung in seiner Auffassung des Prinzipes,
274 ^ A. Eiehl,
die uns erst ein Blatt aus deio Nachlasse zeigte, hat noch kau
die Rede zu sein.
Auch die natar wissenschaftliche Betrachtniig, hatte Helmholtz
erklärt, könne mit Kants Raumlehre bis zu einer gewissen Grenze
mitgehen. Die Lehre von den a priori gegebenen Formen der An*
schauung sei „ein sehr glücklicher und klarer Atisdruck des Sach-
verhältnisses", Diese Formen aber miissteo „inhaltsleer und frei gt*-
uug sem, um jeden Inhalt, der überhaupt in die betreffende Form I
der Anschauung eintreten kann, aufzunehmen. I>iè Axiome der
Oeometrie aber bescliränken die Ansehauungsform des Raumes, so
dass nicht mehr jeder denkbare Inhalt darin aufgenommen werden
kann. Lassen wir sie fallen, so ist die Lehre von der „Transsceu-^J
dentalität** (gemeint ist der A Priorität) der Anschauung des Raumetl
ohne Austüss." „Der Raum kann transscendental sein, ohne dassfl
es die Axiome sind/' Kant aber habe auch die Axiome für trans-
scendental gehalten; er habe sie, und zwar wie Helmhol tz meint,
um einen Ausweg für die Metaphysik offen zu lassen, als a priori
vor aller Erfahrung gegebene iSätze angesehen, gegeben durch
„transscendentale*^' Anschauung. Seitdem sie die reine Anschauung
der Ankerplatz der Metaphysiker geworden. „Sie ist noch be-
quemer als das reine Denken," — Augenscheinlich hat Helmholtz
die reine Anschauung Kants mit der intellektuellen Schelliugs und
der metaphysischen Naturphüosophen verwechselt; er hätte sonst
nicht jener nachgesagt, was nur von dieser gesagt, werden kann,
dass sie bequemer sei als das reine Denken. Kants reine An-
schauung bezieht sich ausschliesslich auf die reine Mathematik,
und auch in dieser nur auf die Grundbegriffe, nicht auf das Ver-
fahren des Beweises. Dieses Verfahren ist nach Kant Konstniktion
der Begriffe: Begriffe konstruieren aber heisst nach ihm, siM
auf solche Objekte (Grössen, Lagen, Verhältnisse) beziehen, die in
der Anschauung möglich sind. Diese Beziehung ihrer Begriffe
auf mögliche Anschauung unterscheidet die reine Mathematik von
der Logik. Auch der Geometer, der Kants prinzipielle Auffassung
von dem Wesen des Raumes teilt, ist also genötigt, ^sich in
Schlussketten hineinzubegeben." In die Metaphysik aber führt die
reine Anschauung so wenig hinein , dass sie viehmehr das Mittel
ist, jede theoretische Erkenntnis des Metaphysischen abzuschneiden
und zu zeigen, ,,dass alle Erkenntnis aus reinem Vei-stande, oder
reiner Vernunft lauter Schein ist, und Wahrheit nur in der Er-
fahrung.'' „Kant, erfahren wir endlich von Helmholtz, hatte Raum
L
Heimholte in seinem Verhältnis äu Kant.
275
und Zeit kurzweg (!) als gegebene Formen der Anschauung hinge-
stellt, ohne weiter zu uutei'ïjuchen, wie viel in der näheren
Ausbildung der einzelnen räumlichen und zeitlichen Anschamiugen
aus der Erfahrung hergeleitet sein könnte. Diese Untersuchung
lajs: auch ausserhalb seines Weges. ^ Sie konnte auf seinem Wege
mcht liegen, weil sie Aufgabe empirischer Wissenschaften ist, der
Physiologie und der Psychologie. Diese haben die Bedingungen
und Wege zu ermitteln, welche zur Erwerbung der besonderen
räuiitlichen Anschauungen führen und zur Anpassung der Eindrücke
und Thätigkeiten der betreffenden iSinneswerkzeuge an empirisch
gegebene Dinge und Verhältnisse. Kant dagegen sucht die tiefer
liegpeodeu Voraussetzungen zu zeigen, unter denen Dinge und deren
Verhältnisse zu empirischen werden. Kür die Naturwissenschaften
siod die Erscheinungen die Dinge selbst; ihr Gebiet ist die Sinnen-
^'elt. Das allgemeine Verhältnis der Sinnenweit zu einem Sinnen-
Wesen zu betrachten» ist dagegen Aufgabe der Philosophie.
Wenn ich die Auffassung von Helmholtz in wesentlichen
» ï^unkten zu berichtigen suche, so mochte ich damit an meinem
.J'^'eiie verhindern, da,ss unter seiner grossen Autorität Anschauungen
penimgegeben werden, die dem thatsächlicheu Bestände der Lehre
•îants widerstreiten. So hat erst jüngst ein namhafter Geometer
whauptet, es sei Kants Meinung, dass dem Geist* eine „fertige
Rind exakte Anschauung" innewohne. Er kann dabei nur an
Uelmholtz' „vor aller Erfahrung gegebene Sätze, gegeben durch
feransscendent4Üe Anschauung**, gedacht haben; in Kants Schriften
■^'ürde er vergeblich nach einem Beleg für seine Behauptung
teuchen, wohl aber Beweise für das Gegenteil derselben finden
;^ônnen. Zwar werden die Sätze der Geometrie unabhängig von
der Erfahnuig demonstriert, ihre Begriffe aber sind erst auf An-
lass der Erfahiiing entwickelt, was auch von ihrem ttrundbegriffe
gilt, der reinen Anschauung des Raumes selbst. Auch diese An-
schauung ist nicht „vor aller Erfahrung gegeben", sie wird in
Verbindung mit Walu'uehmungen dem Gesetze des Anschauens
gemäss erworben. „Die Zeit — erklärt Kant, und entsprechendes
gilt auch vom Räume — geht zwar als formale Bedingung der
: Veränderungen vor diesen objektiv (dem Ik^griffe nach) vorher,
aber subjektiv und in der Wirklichkeit des Bewusstseins
list diese Vorstellung, sowie jede andere, durch Veranlassung
der Wahrnehmungen gegeben." Kant wusste, er hebt es selbst
hervor, dass der wissenschaftUchen Geometrie lange Zeit (bei den
18'
276
A. EiehL
EgypterD) eine rein empirische voranging, ehe der Erste» der ^den
gleichscheukeligen Triangel demonstrierte", eine RcvolutioD
der Denkart hervorrief und dem „Herunitaiipen*' in der Erfahrung
ein Ende machte. Wie sollte er also die Sätze der Geometrie nxt^m
„fertige und exakte** Anscliannug zurückgeführt, oder die AriomdH
als „vor aller Erfahrung gegebene Sätxe** angesehen haben. Wohl
aber unterscheidet sich die CTeonietrie, und überhaupt die reine
Mathematik, darin von jeder induktiven Wissenschaft, dass bei i!
die einzelnen anschaulichen Fälle nur zur Exemplifikation der Gi
setze dieneu, nicht zu deren Beweis. Dies v^'Ül jedoch nur sagen:
ihre Begriffe und Sätze gehen in der Ordnung der Methode deo
besonderen räumlichen Wahrnehmungen voran, ein zeitliches Voran-
gehen auch bei dor Entwicklung der geometrischen Kenntnisse soll
daraus nicht gefolgert werden. Sogar die erste Kenntnis de^H
Unterschiedes der Ürnndrichtungen iiu Riiume führt Kant auf ß^B
obachtungen an empirisch gegebenen Objekten zurück. Jenes me-
thodische Vorangehen der geometrischen Begriffe aber hat Helm
holtz selbst so präcis und klar wie möglich mit den Worten a
gesprochen : „dass wir darüber, ob ein Korper fest, ob seine Flächi
eben» seine Kanten gerade sind, erst mittelst derselben gi
metrischen Sätze entscheiden, deren thatsächliche Richtigkeit wir
prüfen woollen." Und damit ist Alles eingeräumt, was Kant mi
der Apriorität der Geometrie wirklich behauptet hat.
Es sind hauptsächlich zwei Einwendungen, die Helraholl
gegen die Raumlehre Kants gerichtet hat, — eine von prinzipieller
Natur und eine zweite thatsächlicher Art. Von der ei-sten wirf
Kants Lehre nicht getroffen, durch die zweite nicht widerlegt.
Dass die Axiome, welche die Vorstellung des Raumes bestimmen,
keine „Denknotwendigkeiten" sind, ist völlig im Sinne Kants; anders
hat auch er nie gelehrt, war er doch der Erste, der die mathe-
matischen Uiteile von rein begrifflichen Sätzen unterschied. Auch
der Folgerung, die sich daraus ergiebt, dass „andere S3^steme der
Rauramessung", als das durch die Axiome unserer Geometrie cha-
rakterisierte, „logisch denkbar seien", würde er nicht wider*
sprochen haben, Er hat sie auf gewisse Weise selbst gezogen.
In seiner Erstlingsschrift („von der wahren Schätzung der leben-
digen Kräfte") beschäftigte ihn der Gedanke einer „höchsten Geo-
metrie von allen möglichen Raumesarten", und noch in der „Krittt^
nachdem er inzwischen die Konsequenzen der Newtonschen Theorie
des absoluten Raumes (und der absoluten Zeit) entwickelt hatt^
^hefl
trîf "
Helmholtz in seinem Verhältnis zu Kant. 277
wird die Möglichkeit anderer Formen der äusseren Anschauung
als die in unserer sinnlichen Vorstellungsart begründete, ausdrück-
lich zugestanden. „Wir können nur ans dem Standpunkt eines
Menschen vom Räume reden, — es mag sein, dass alle endlichen,
denkenden Wesen hierin mit dem Menschen übereinkommen müssen,
wiewohl wir dieses nicht entscheiden können.*" Auch nach Kant
ist die Geometrie auf Grundthatsachen aufgebaut, wie sie die selbst
thatsächliche Form unserer äusseren Anschauung vorschreibt. So
weit also besteht kein Gegensatz zwischen seiner Lehre und den
Untersuchungen von Helmholtz über „die Thatsachen, die der Geo-
metrie zu Grunde liegen". Die analytische Betrachtung der alge-
braisch möglichen Formen einer „Mannigfaltigkeit", der möglichen
Systeme der Gruppenbildung gleichzeitig gegebener Elemente, Iftsst
sogar das spezifische Wesen des Raumes und den Ursprung seiner
Axiome aus der Anschauung auf das deutlichste hervortreten; sie
gestattet überdies die Tragweite jedes einzelnen Axiomes für sich
zu bestimmen. Helmholtz, und vor ihm Riemann, leitete aus ihr
auch noch die Möglichkeit eines Krümmungsmasses des „Raumes^'
ab, das von dem Werte Null verechieden sein kann. Gegen die
Berechtigung dieses Schlusses lässt sich jedoch ein logisches Be-
denken nicht unterdrücken, und die Gesetze der Logik stehen noch
über den Gesetzen der Mathematik. Dem Gauss'schen Mass der
Flächenkrümmung (dargestellt durch den reciproken Wert des Pro-
duktes der beiden Hauptkrümmungsradien) entspricht nur in dem
einzigen Falle, von dem es hergenommen ist, eben der Fläche,
eine mögliche Anschauung. Als Ausdruck für die Krümmung des
Ranmes dagegen verliert es jeden anschaulichen Sinn und wird zu
einer analytischen Bezeichnung eines gleichfalls nur analytischen
Verhältnisses innerhalb einer „Mannigfaltigkeit". Aus rein Ana-
lytischem aber kann nur wieder Analytisches, es darf daraus
nichts spezifisch Geometrisches gefolgert werden.
Die thatsächliche Form unserer äusseren Anschauung ist zu-
gleich die notwendige Form der angeschauten Dinge. Denn „man
kann a priori wissen, wie und unter welcher Form die Gegen-
stände der Sinne werden angeschaut werden: nämlich so, wie es
die subjektive Form der Sinnlichkeit, d. i. der Empfänglichkeit des
Subjekts für die Anschauung jener Objekte, mit sich bringt". Ist
also der Raum die gegebene Form unserer äusseren Anschauung,
so kann nichts zur Anschauung kommen, was dieser Form wider-
spricht, so moss alles, was wir anschauen oder anschauen können.
A. Hiehl»
TIB
dieser Form völli/^ gemäss sein, deuu iiiir durch sie prscheiût,
was überhaupt üeceusiaud unserer äusseren Ansdiauim^ ist, oder
sein kaon. ,,Es wird allemal, sclu-rdbt Kaot, — und seiue Wort«
sind iDZT^ischen wieder zeitgemäss gewordeu, — ein bemerkungs- j
würdiges Pliäuomeu bleiben, dass es eine Zeit gegeben hat, dt
selbst Mathematiker, die zugleich Philosophen waren» zwar nicht j
an der Richtigkeit ihrer geometrischen .Sätze» sofern sie blos den
Raum betrafen» aber an der objektiven Gültigkeit und Aowendniig
dieses Begriffes und aller geometrischen Bestimmungen desselben
auf Natur zu zweifeln anfiiigeiL Hie erkannten nicht, dass dieser
Raum in Gedanken den physischen selbst möglich ma':he/' — Und
damit sind wir zu dem zweiten Punkt der Einwendungen von
Helmholtz gelangt.
„Dass ilie Axiome unserer Geometrie in der gegebenen Form
unseres Anschauiingsvei-mögens begründet wären, oder mit eine
solchen irgendwie zusammenhiugen'\ will Helmholtz nicht zugeben
Sie gelten ihm für Anschauungsgewohnheiten, die aus der Er
fahniug stammen und möglicherweise durch anderartige Erfalu*ungeS^
widerlegt und überwunden werden könnten. Zum Beweis dafür
lässt uns Helmholtz in Gedauken in einen „pseudosphärischen
Raum" blicken (eigentlich nur durch eine Schicht con vexer Flächen)
nnd zeichnet mit anschaulicher Phantasie den Eindruck, den dl^fl
Gestalt der Dinge in einem solchen Räume auf uns machen müsste.
Er schliesst daraus, „wir können uns den Anblick einer pseudo-
sphärischen Welt ebenso gut nach allen Richtungen ausmalen, wie
wir ihren Begriff entwickeln köunen"". Der Raum, den die Geo-
metrie zum Grunde legt, wäre demnach nicht die notwendige Form h
unserer äusseren Auschauungj weü sie nicht die einzige wäre;9
ausser ihr gäbe es noch einen Raum an sich und von diesem eine
„physische*" Geometrie, die mit der reinen nicht übereinzustimmen
brauchte, da wir sie ja als von dieser verschieden vorstellen können. —
Können wir dies wirklich? Die Visierlinien mindestens, längs
welcher allein wir in jenen imaginierten Raum hineinblicken könnten,
müssten gerade sein; also ist es nicht möglich, uns den Anldick
einer pseudosphärischen Welt nach allen Richtungen auszumalen,
eben die Richtung, die unser anschauendes Subjekt selbst zu
jener Welt einnimmt, bliebe davon ausgenommen. Wir wollten
den ^ebenen" Raum umgehen und es zeigt sich, dass wir ilin
brauchen, um einen „gekriimmten" vorzustellen: auch vermögen
wir von diesem anderen Raum genau so viel, nicht mel
Helmholiz in seinem Verhältnis su Kant.
279
scJiaulich vorzustellen, als sich von ihm in dem ^euklidischen"
liiime abbilden, oder populär zu reden, in ihn hineinerstrecken
^ünli*. Bedarf es norh eines weiteren Beweises, dass der Kaum
unserer Geometrie die unuui^äugiiche Fonn unserer äusseren An-
schaunner zum Ausdruck brin$:t? Statt zur Widerlegung der Lehre
Kms 7Äi führen, dient ihr das Argument von Helmholtz vielmehr
«nr Bestätigung.
Dass kein System von Flächen konstant negativer Krümmung
dt!M Riium vollständig erfüllen kann, ist anschaulich gewiss. Durch
dje neuesten Untersuchungen von Hilhert scheint es überdies
"fraglich geworden zu sein, ob sich auch nur der Begriff eines
tiseudosphärischen Raumes anal}lisch entmckeln lässt. Es giebt
nach diesen Unten^uchnngen keine singularitätenfreie und überall
^•eguläre analytische Fläche von negativer konstanter Krümmung,
jälso ist die Frage: ob sich auf die Beltramisclie Weise, oiul diese
wollte eben Helmholtz veranschaulichen» die ganze Lobatschefs-
kysche Geometrie verwirklichen lasse, zu verneinen. (Unter Singu-
larität einer Fläche ist eine Linie zu verstehen, über die liiuaus
eine stetige Fortsetzung mit stetiger Änderung der Tangentialebene
nicht möglich ist.) — Wer im eigentlichen Sinne des Wortes von
Kigenschaften des Raumes redet, muss dem Raum eine Existenz
au sich znschreiben, also den absoluten Raum Newtons für vor-
handen auch ausser unserer Vorstellung und abgesehen von der-
selben annehmen. Und wer überdies diesem Newtonschen Räume
andere Eigenschaften zusckreibt als diejenigen, des *, euklidischen**,
k&Du ihm nur physikalische Eigenschaften zuschreiben. Er muss
den Raum als widerste.bendos Mittel denken, oder Kräftig von ihm
ausgehen lassen, denn nur so wäre es begreiflich, dass dasGalileische
B**harrungsprinzip sieh in ihm nicht verwirklichen könnte, der be-
wegte Punkt \ielmehr gezwungen wäre, statt der Geraden „geradeste**
Bahnen einzuschlagen. Dann aber würde er nicht länger vom
^Raume" reden, sondern von einer Realität, die ihn erfüllt; und
um diese Realität vorstellen zu können, braucht er wieder den
euklidischen Raum. Kurz er kann über diesen Raum nicht hinaus,
er muss immer wieder, so lange er anschaulich vorstellt, auf ihn
aurückgreifen. Wie will er also bezw^eifeln, dass der Raum über-
haupt „blos die Form der äusseren Anschauung ist, aber kein
wirklicher Gegenstand, der äusserlich angeschaut wird**?
.\üch Helmholtz tässt den „enklidisehen'' Raum in der Er-
fahrung gelten; nur bestreitet er, dass er iu der Erfahrung gelten
A. Rîehl,
I
musSi weil er von ihr gilt. Er beruft sich auf astronomischf
Messungen ihn* Winkel geradliniger ebener Dreicke; diese Messiiii^**ii
haben (bisher, wie wir hinzufügeu müssen) deu Wert des
„Krilmmuügsjtiasses des Raumes** gleich Null, d. h. die Winkel-
summe gleich zwei Rechten ergeben. Dies sind aber keine
Messungen des Raumes, sondern solche von Abständen von Dingen
im Räume. Auch wird in der Geometrie die Winkelsumme nicht
gemessen, sondern demonstriert. Die Geometrie ist die Wissen-
schaft nicht der Ramnmessung, sondern der Gesetze der Messung
räumlicher Dinge, Die geonietrisdie Messung beniht daher nicht»
wie die physische, ^auf der Voraussetzung, dass unsere Messwerk-
zeuge wirklich Körj>er von unveränderlicher Forïii sind**. Da es
solche Korper thatsächlich nicht giebl, so wäre eine geometrische
Messung iiberhau[»t nicht möglich und die Genmetrie bliebe in der
ägyptischen tlusternis „des Herumtappens" in der PMahrnng ein-
geschlossen.
Kants kritische Lehre, nach welcher der Rauo] überhaupt:
der absolute Raum Newt^ins und der Geometrie, die Form unserer
äusseren Anschauung ist, sichert die objektive Gültigkeit der Geo*
metrie und macht sie zugleich begreiflich.
Die fernere Entwickelung der erkenntnistheoretischen An-
schauungen von Helmholtz lernen wir aus der Rede: „die That-
Sachen in der Wahrnehmung*' und den damit übereinstitnmendeo
Stellen in der zweiten Bearbeitung der physiologischen Optik kennen,
die letzte Phase ihrer Entwickelung aus einem Blatte des Nachlasses. ^1
In seiner Ansicht über den Ursprung des Wissens schränkt
Helmholtz den Nativismus, die Annahme angeborner Fähigkeiten
des Geistes» so weit ein, als es mit den Thatsachen vereinbar ist,
vielleicht noch über diese Grenze hinaus. Als Wirkungen ange-
borner Organisation lässt er beim Menschen nur noch Reflex-
bewegungen und Triebe gelten, letztere die Gegensätze des
Wohlgefallens an einzelnen Eindrücken, des Missfallens gegen
andere umschliessend. Der Satz der Kausalität beruht also jetzt
nicht mehr auf einer Eigentümhchkeit des Subjektes, er ist kein
a priori gegebenes Gesetz des Denkens mehr, wie Helmholtz ihn
zuerst aufgefasst hatte; denn Niemand wird ihn unter den ange-
bornen Reflexbewegungen suchen wollen. Auch Prinzip der In-
duktion kann er, vom Anfang an wenigstens, nicht sein; da die
Induktionsschlüsse, von denen Helmholtz sagt^ dass sie bei Bildung
von Anschauungen eine hervorragende Rolle spielen, durch ^unbe-
I
Helmholtz in seinem Verhältnis zu Kant. 281
wusste Arbeit des Gedächtnisses" gewonnen sein sollen. Wird er
dennoch anch weiterhin als das regulative Prinzip der Erfahrungs-
schlüsse betrachtet, so kann er diese Bedeutung erst nachträglich
und in Folge vorangegangener unbewusst erworbener Erfahrungen
erhalten haben. Denn „der Urquell alles Wissens ist, wie Helmholtz
jetzt erklärt, die Übertragung des bisher Erfahrenen in das künftig
zu Erfahrende". Ob freilich die empiristischen Annahmen von
Helmholtz ausreichen, alle ,.im Vorstellungskreise der Erwachsenen
überhaupt vorkommende Kenntnisse^ daraus herzuleiten, erscheint
zweifelhaft. Der empiristische Denker vergisst, dass „der Intellekt
in gewissem Sinne sich selbst angeboren ist" und Einheit in der
Verknüpfung der Sinneseindrücke und Vorstellungen bewirkt. Und
aus dieser Urquelle werden im letzten Grunde jene Einheitsbe-
griffe a priori herstammen müssen, die in der Erfahrung nicht
gegeben sind.
Bei der Frage nach „der Art der Übereinstimmung zwischen
den Vorstellungen und ihrem Objekte", der Hauptfrage der Er-
kenntnistheorie, legt Helmholtz alles Gewicht auf den Begriff der
Gesetzlichkeit. „Das Auge kann nichts sehen, was ihm nicht als
Licht und Farbe erscheint, ebenso kann der Geist nichts begreifen,
in dem er kein Gesetz findet". „Was wir unzweideutig und als
Thatsache, ohne hypothetische Unterschiebung finden können, ist
das Gesetzliche, zunächst die gesetzliche Verbindung zwischen
unseren Bewegungen und den dabei auftretenden Empfindungen."
Und wiederum: „was wir direkt wahrnehmen, ist nur das Gesetz:
das gleichbleibende Verhältnis zwischen veränderlichen Grössen".
Schillers Wort von dem „ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht"
war ein Lieblings wort von Helmholtz. Und wenn es ferner heisst:
„das Gesetzmässige ist die wesentliche Voraussetzung für den
Charakter des Wirklichen", so ist dies völlig im Sinne der kritischen
Philosophie. Ebenso auch der Satz: „die besondere Art einer
ursächlichen Verbindung wird immer nur in hypothetischer Weise
gefunden werden können". Auch nach der Lehre der „Kritik"
beruht jedes inhaltlich bestimmte Kausalverhältnis nur auf Er-
fahrung und diese kann niemals mehr als „komparative" AUge-
meingiltigkeit lehren.
Auch die Begriffe Ursache, Kraft führt Helmholtz auf den
Begriff des Gesetzlichen zuriick. „Sofern wir das Gesetzliche als
ein unabhängig von unserem Vorstellen bestehendes anerkennen,
nennen wir es Ursache; wir nennen es Kraft, insofern wir es als
282
A. Riehl,
das ,
ûmM
eine unserem Willen gleichwertige Macht anerkennen*'. Der Be-
ginff der Substanz dagegen bleibt nach Helmholtz „immer proble-
matisch'', sofern bei der Anwendung desselben „weitere Prüfung
vorbehalten bleibt". Auch der allgeiueine Kausalsatz endlich wird
in die engste Verbindung mit der Aufgabe gesetzt, die Erscheinungen
zu begreifen, d, h. ihre Gesetze aufzusuche.n. ^Setzen wir voraas.
dass das Begreifen zu vollenden sein werde, so nennen wir das
regulative Prinzip unseres Denkens, was uns dazu treibt, das_
Kansalgesetz",
Schliesslich (in dem Nacblass) ist das Kausalgesetz, o<
„die vorausgesetzte Gesetzmässigkeit der Natur"* uinr noch eii
^Hypothese", Helmholtz wiederholt das Argument llumes; „Keiue
bisherige Gesetzmässigkeit kann künftige Gesetzmässigkeit be-
weisen*^. Der einzige Beweis aller Hypothese aber sei immer:
,4)rüfe, ob es so ist und du wirst es finden*'. Allerdings habe das
Kausalgesetz den übrigen Hypothesen, welche besondere Nattu>
gesetze aussagen, gegenüber eine AusnahmestelUmg, da es die
Voraussetzung der Giltigkeit aller anderen sei und die einzig
Möglichkeit für uns gebe, überhaupt etwas nicht Beobachtetes zo
wissen. Ausserdem bilde es die notw^eudige Grundlage für ab-
sichtliches Handeln und endlich: wir werden darauf hiogetriebeu
durch die natürliche Mechanik unserer VorstellungsverbindungeD,
d, h. es ist subjektiv notwendig. „Denken heisst, die Gesetz-
mässigkeit suchen, urteilen heisst, sie gefunden haben. Ühue
Kausalgesetz also kein Denken. Kein Denken ohne Anerkennung
des Kausalgesetzes ist also enie 'l'autologie; es fragt sich, ob wir
zum Dijuken berechtigt sind"". Dies eben war die Frage der Kritik d<
reinen Vernunft Das Kausalgesetz, dies steht nach Humes Unt
suchungen zweifellos fest, ist kein Denkgesetz, kein anal3^1sch(
Satz; denn es behauptet etwas von den Objekten des Denkens
und es behauptet dies a priori; HeJniholtz selbst hatte früher zn*j
gegeben: ,*das Strebeu, alle Erkenntnis auf Empirie zu giiiudei
endete hei Hume in der Leugnung aller Möglichkeit von objektir^
P^rkenntuis".
Von der Gesetzlichkeit im Sinne eines allgemeinen Inhali
der Erfahrung ist zu nnteiscbeiden die Gesetzlichkeit der Erfah-
rung als solcher, die Gesetzlichkeit ihrer Form: diese letztei
allein, nicht die erste sagt der Kausalsatz a priori aus. EÎJ
Verändernng bleibt gesetzlich, d. i. mit einer vorangehenden Vei
änderung notwendig verknüpft, auch wenn sie sich nicht wieder
Helmholtz in seinem Verhältnis zx% Kant.
283
holt, d. h. wf'Hii ihre Ursache nicht wieder eiu tritt, und deshalb
gehölt sie zar Eriahnmg", kann sie Objekt eines allgeiiieiiigiltigeii
Yorstellens werden. Dass es gleiche l^rsacheu in der Natur giebt,
folglich auch die Wirkungen gleich sind, ist eine durch die Er-
fiihrong in sehr weitem Umfange bestätigte Thatsache, die zur
H)T)othese wird, wenn sie auf alle künftige Erfahruug übertragen
winl Streng genommen machen wir selbst erst die Ursachen so
weit als möglich gleich dnrch Abstraktion und durch das Experi-
ment Dass aber jede Veränderung, sie mag eine einmalige sein,
oder sich wiederholen, von einer ihr vorangegangenen Yerändening,
Wflchc immer es sei, abhängig seni muss, ist keine Hypothese,
sondern eine Bedingung der Erfahrung, ohne welche es unserem
Erkennen an einem Objekte fehlen würde. Gewiss bleibt es
immer denkbar, dass die bisherige Gleichförmigkeit in der Natur,
die empirische Gesetzmässigkeit in ihr, künftig eine Veränderung
erleide, nnd wir haben dies bereits zugegeben; ausgeschlossen
inrdi das Kausalprinzip ist aber, dass eine solche Veränderung
ohne Ui^acbe erfolgen könne, denn damit fiele sie aus den Grenzen
i^ überhaupt Erfahrbaren heraus, sie würde aufhören, ein mög-
''chfif Gegenstand des Erkennens zu sein.
Wie von Hume zeigen sich die philosophischen Anschauungen
^ou Helmholtz in ihrer letzten Gestalt auch diuxb MÎ11 beeinflussl.
|pie Lehre von den „ Konnotationen "* ist in die Einleitung zu den
r^Orlesungen über theoretische Physik aufgenommen worden, ebenso
Mills Alignment gegen den Syllogismus, und in einer Aufzeichnung
^tes Nachlasses erscheint auch der Begriff der „permanenteo Mög-
''«^hkeiten". ,.Uer Begriff eines daseienden Dinges, heisst es
^mUch, enthält die Zuversicht ausgesprochen, dass ich bei geeig-
*^teu Bedingungen der Beobachtung stets wieder dieselben Sinnes-
^ùidriicke empfangen würde'', — vorausgesetzt, fügen wir hinzu,
5 das Ding selbst sich nicht inzwischen geändert habe. Was
'^gen diese Anschauung zu erinnern ist, soll hier nicht wiederholt
erden; sicher ist, dass das blosse Wiederkehren gleicher Eni-
induugen einen Schfuss auf die Konstanz des Objektes nicht
chtfertigen, die „permanente Möglichkeit** mithin den Begriff
ilies Dinges nicht erschöpfen kann. —
„Deduktion der Grundbegriffe, die aus der Natur des Be-
reifeüs und der vorausgesetzten Möglichkeit vollständiger Lösung
lt?r Aufgabe heifhessen**, — so hat Helmholtz die Aufgabe der
l^hilosophie für die Naturwissenschaften bestimmt, und damit ist
j
m
284
A. Riehl,
dem Interesse» das der Naturforscher als solcher au philosophisclw
Untprsiichiiiig:eii zu nehmen hat, auch wirklich genügt. Werdi
aus der Aufgaho der Naturforschuug» die. Erscheiimugen zu \\^
greifen, die Bediugungen, noter denen sie hegreiflich sind, her-
geleitet, 80 gelangt man zu Postulaten des Erkeiineus, und ein
Fehler kauu bei diesem Verfahren nicht unterlaufen, sofern diese
Postulate imr innerhalb der Erfahrung gebraucht werden. Das
I Uteresse der Iiiiloso|diie fiihi't weiter. Sie sucht aus dem Begriff
der Erkenntnis die Bedingungen abzuleiten, unter denen die Er-
scheinungen selbst, die Objekte des Natnrerkennens, gegebeo
werden, und gelangt auf ihrem Wege zu Grundsätzen der Er-
fahrung; sie beweist, dass es Dinge geben müsse, die mit den
Postulaten des Krkeunens notwendig übereinstimmen, eben die
(Objekte der Erfahrung* Diese Aufgabe hat erst Kant der theore-
tischen Philosophie gestellt, der Philosophie der Wissenschaft» iiud
darum eröffnete sein Werk eine neue Epoche in der Geschichte
der Philosophie.
Es war ein ausserordentliches Verdienst von Helmholtz zur
Zeit der Hegemonie, oder dürfen wir vielleicht im Rückblick aaf
die sechziger und siebziger Jahre sagen; Tyrannis der Natur-
wissen Schäften, auf die Berechtigung der Philosophie und ihre Be-
deutung auch für die naturwissenschaftliche Forschung selbst
nachdrücklich und mit dem Gewichte seiner Autorität hingewieseo
zu haben. Ihm schien es selbstvei-stäudlich, „dass das Interesse
an den berechtigten Aufgaben der Plüiosophie in der Menschheit
nie dauernd erlöschen kann", und er empfand die Befriediguog,
die nur dem philosophisch gesinnten Naturfoi-scher zu Teil wird,
„den nugeheuren Reichtum derNatui" als ein gesetzmässig geordnetes
Ganze, als ein Spiegelbild des gesetz massigen Denkens tinsere.^
eigenen Geistes zu überschauen". Durch seine eigenen erkenntßis-
theoretischen Arbeiten trat er überdies in ein unmittelbares Ver-
hältnis zur Philosojihie. Ihm kam es darauf an, das Instminenl
genau kenuen zu lernen, womit der Naturforscher arbeitet. Und
wenn ei^ Kants „Kritik'' mit dem Auge des Physiologen las, so
ist es der nachfolgenden philosophischen Forschung nicht schwer
geworden, seine Auffassung zu berichtigen. In der allgemeineD
Richtung aber, die er ihr gezeigt, bewegen sich auch heute noch
ihre Bestrebungen. Auch wir verfolgen das Ziel, Philosophie und
positive Wissenschaft, Kntik inid Forschung, in fruchtbare gegen-
seitige Verbindung und Wechselwirkung zu bringen* Die erkenntnis-
Heimholte in seinem Verhältnis zu Kant. 28Ö
theoretischen Probleme aber erschöpfen den Beruf und die Aufgabe
der Philosophie nicht. Auch Helmholtz hat es stets anerkannt,
„dass die Geisteswissenschaften sich ganz direkt mit den teuersten
Interessen des menschlichen Geistes befassen". Ausser ihrem Ver-
h<nis zu den exakten Wissenschaften der Natur hat die Philo-
sophie ein nicht minder wesentliches Verhältnis und eine analoge
Angabe in Beziehung auf die Wissenschaften der geistigen Insti-
tutionen und des menschlichen Handelns. Wie sie die methodischen
Begriffe der Erfahrung und Wissenschaft aufsucht, so prüft sie
auch die Gesetze und Normen des Handelns. Aus beiden Aufgaben
zumal erwächst ihr in immer klarerer und bestimmterer Gestalt
das Bild der Welt und des Lebens: die philosophische Weltan-
schauung, welche nicht ihren Gegenstand bildet, wohl aber das
Ziel, dem sie zustrebt.
Zum hundertjährigen Todestage Kants.')
VoTi Fr. Paulsen.
Ein Jahrhundert ist da!iiug<?j2:angeo, seitdem Kant die helleOi
Augen, die so lauge strahlend mn geistigen Himmel des deutschec
Volkes gestanden hatten, im Tode schloss. Die tiefen Wirkungean
die von seinem Leben ausgegangen sind, dauern bis auf diesen
Tag; na€h vorübergehender Verdunkelung ist seine Gestalt
letzten Menschenalter wieder beherrschend her\T>rgetreteD.
Fragen wir, was ihm die überragende Bedeutung giebt, so
wird die Antwort keine andere sein können als die, worauf Schüler
nicht lange vor seinem Tode in einem Brief an W. v. Humboldt
hindeutet: ^Die spekulative Philosophie, wenn sie mich je gehabt
hat, liat mich durch ihre hohlen Formeln verscheucht, ich habe^
auf diesem kahlen Gefilde keine lebendige (Quelle und keine Nah-
rung für mich gefunden; aber die tiefen Grundideen der Ideal-
philosophie bleiben ein ewiger Schatz, und schon allein um ihrel--
willen muss man sich glückUch preisen, in dieser Zeit gelebt zu.
haben." — — — - ,,Ani Ende sind wir doch beide Idealisten und
würden uns schämen, uns nachsagen zu lassen, dass die DiogaÄ
uns formten und nicht wir die Dingo." Kant ist es, der dies<^^
„Idealphilosophie" liegründet hat, Kant der Begründer des Idea-
lismus in der Gestalt, in der er ein unverlierbares Ingrediens des
deutschen Geisteslebens geworden ist.
Drei Momente sind darin gesetzt:
I. Der praktische Idealismus: Die Gewissheit, dass
praktische Ideen, Ideen von dem, w^as sein soll, das Leben zu be-
stimmen berufen sind. Kaut gehört zu den Vertretern des for-
dernden Idealismus, nicht des schönfärbenden und quietistiscbeo.
Die Aufgabe des Lebens ist: Ideen zu verwirklich eu, im Einzel- ■
Ï) Zugleich als Vorwort zur vierten Auflage meines „T. Kant, sein
Lehen und seine Lehre '^; Stuttgart 1904,
Zum hundertjährigen Todestage Kante.
287
3beD und im Gesamtleben: im Staat die Idee der Gerechtigkeit,
iletzt eines vollendeteû Rechtszustatides der Menschheit auf
Irden; in der Kirche die Idee einer vollendeten ethischen Gemeiii-
thaft, worin jeder als Glied eines Gottesreiches sein Leben zu
lestalten und für das Ganze thätig zu wirken vermag.
2. Der erkeuntnis theo retische Idealismus: Die Ge-
fissheit, dass Erkenntnis nicht von aussen in den Geist hinein-
umrat, sondern von innen lieraus dnrch die schöpferischen Kräfte
H Geistes erzengt wird. In Kants Sprache: Sinnlichkeit und
erstand enthalten Prinzipien a priori, wodurch überhaupt ei^t
rfahrong und Wissenschaft möglich wird. Und die letzte vorwärts-
"Äugende und Richtung gebende Triebki'aft für die wissenschaft-
'be Arbeit ist wieder eine Idee, die Idee eines vollendeten
eltsysteins, zuletzt eines Systems, das die ganze Wirklichkeit
» V'erwirklichaug einer alhimiassendeii Idee darstellt, Damit ist
Ion das dritte gegeben:
3. Der metaphysisch^^ Idealismus: Die Gewissheit, dass
*eii nicht bloss im Handeln und Erkennen des Menschen, des
krokosmos, sondern auch in der grossen Wirklichkeit Bedeutung
ben, oder dass Ideen die scböpferischeii Prinzipien der Wirklieh-
t selbst sind. FreiUch die gOttlich-kosmischen Ideen Hegen
M, wie der alte theologische und philosophische Dogniatismus
scbljch annahm, im Gebiet unserer wissenscliaftlichen Erkeuntnis;
i sinnlich beschränkte Erkenntnisvermögen des Mensclieii vermag
i Umkreis der Erscbeinungswell nicht zu übersteigen. Doch
iinmern die Ideen durch die Erscheinungen hindurch, besonders
der Welt der Lebewesen und zuhöchst in der geschichtlichen
ilt, so dass auch die spekulative Vernunft nicht umhin kann,
' Aiiffassuog jener Gebiete Ideen zu Gnuide zu legen. Und die
tktische Vernunft, die uns Ideen zu verwirklichen verbindlich
cht, für die in der Krscheinungswelt nicht Baum ist, giebt der
wissbeit der Idealwelt die letzte und zuverlässigste Gmndlage
praktisch-religiösen Glauben, der nicht auf erfahrungsmässigem
issen oder logischem Vernünfteln ruht, sondern im tiefsten
ßseii des Menschen, in seinem vernünftigen Willen verankert ist.
Dies sind die gi^ossen und dauernden Gedanken, womit Kant
m geistigen Leben des deutschen Volks, und nicht bloss des
ntschen, sich unauslöschlich eingeprägt hat Seine Philosophie
H in diesem Sinne als die letzte und tiefste Lösuug des letzten
d tiefsten aller Probleme bezeichnet werden; die Notwendigkeit
Fr. Paulseiif
m
in der Wirklichkeit als eine vernünftige Notwendigkeit za
begreifen.
Als <lie vorige Auflage meines Bnches erschien, war dî(»
Kritik noch kaum z» Worü^ gekommen. Inzwischen hat sie mit
ihm sich oft und eingehend beschäftigt Neben Zustimmung und
Anerkennung ist auch Zweifel und Widerspruch laut geworden
richtet sicli hauptsächlich gegen die Darstellung der Kantisch«
Metaphysik: die kritiscln* Philosophie sei allzu nahe an Platö_
und Leibniz herangerückt, so naiie» dass ihr der Rang eini
originalen Philosophie dal)ei eigentlich verloren gehe.
Für eine eingehendere Erörterung dieser Fragen ist hii
nicht der Raum: ich darf auf eine Abhandlung verweisen, woi
ich meine Auffassung ein wenig näher bestimmt und begründet
habe: „Kants Verhältnis zur Metaphysik" (Kantstudien, IV, 413.
bis 447, auch als Sonderdruck). ^ Hier mochte ich nur mit
paar Sätzen meine Auffassung jenen Einwendungen gegenüber
bezeichnen,
Kants Metaphysik ruht in zwei Angeln:
L Die Gruudstrnktur unserer sinnlichen Anschauung uud
unseres Vei'standes bildet das Grundsehenui der Wirklichkeit,
sie für uns ist; dadiwch ist Metaphysik als „reine NaturuisseB-
Schaft", gegenüber der empirischen Physik, möglich.
2. Die Grundstruktur unserer Vernunft, der denkenden,
zwecksetzenden, Ideen verwirklichenden Vernunft, giebt das Grund-
schema der Wirklichkeit, wie sie als an sich seiende von uns
zwar nicht wissenschaftlich erkannt, wohl aber notwendig
gedacht und im praktischen Glauben aJs wirklich voraus-
gesetzt wird. Dadurch ist Metaphysik als Erfassung der inteUi
giblen Welt möglich.
Ich denke, der Abst-and der Kantiscben Metaphysik von der
Platonischen und Leibnizischen, der reinen Verstandeserkennlnis
der übersinnlichen Welt^ ist in beiden Bedeutungen sichtbar genug.
Andererseits ist freilich nicht minder sichtbar, dass Kant, was die
Sumoie seiner Weltanschauung anlangt, sich auf die Seite dflfl
Piatonismus stellt, nicht auf die Seite des alle Metaphysik leuj^*
nenden und bloss die Physik anerkennenden Naturalismus, nicht auf
die Seite Epikurs: mögen dessen Voraussetzungen für die Physik
ausreichend sein, für die Weltanschauung sind sie es nicht. Und
ebenso ist einleuchtend, dass Kaut in der Erkenntnistheorie, in
der Bestimmung des Ui'spruugs und der Methode der Erkenntnis,
-lU
Zum hundertjährigreD Todestage Kants.
289
sieh Dicht den ,. Empiristen**, nicht Huriit% sondern den „Noologisten**
aureiht, als deren Haiiptvertret^r in der modernen Philosophie üur
Leibniz gilt.
Was die Metapliysik angeht, so bezeichnet Kant als die
Summe seiner Bemühungen: die wahre Methode der Meta-
hpysik, ihre wissenschaftliche Begründung zu finden. Ohne alles
Schwanien kehrt diese Bestimmung dtirch alle Schriften wieder,
VüD jenen Briefen an Lambert und Mendelssohn aus den Jahren
1765 und 66 bis zu den Rückblicken aus den 90 er Jahren, die
dujth die akademische Preisfrage nach den Fortschritten der Me-
taphysik veranlasst wurden. Die Durchfahrt vom mundus seusi-
Ijilis zum mnndus intelligibilis zu entdecken, darauf ist sein 8inn
gerichtet. Und wenn er in der kritischen Philosophie nur noch
für ihe praktische Vernunft die völlig gesicherte Durchfahrt offen
fmdet, so fügt er gleich hinzu: darum gebührt der praktischen
Veniunft, welche uns über die Erscheinungswelt hinaus in die in-
teüigible Welt der Freiheit emporhebt, der Primat vor der spekula-
tivefi. Dass aber auch die spekulative Vernunft, trotz der Ana-
lytik und Dialektik, durch mehr als einen Spalt einen Schimmer
^'eöigsteus der intelligiblen Welt zu erhoffen weiss, ist niemand
Wûbekaont, d^r Kants Lehre von den Ideen und ihrem spekulativen
'Gebrauch eine etwas eindringendere Aufmerksamkeit gewidmet hat.
^^h einigen seiner Interpreten sollte er von der intelligiblen
^elt nichts sagen, als dass sie für uns x sei, ein in aller und
J^der Hinsicht unbekanntes x, und dies noch mit einem Vorbehalt
^Bgen des Seins, Aber Kant gestattet sich manches zu denken,
^^ ihm von den Kantianern zu denken nicht erlaubt wird. Seine
^^danken bewegen sich in seinen eigenen Bahnen; und das Zen-
^^O.m, um das sie kreisen, bleibt die Ideenwelt; seine Metaphysik
^öd seine Epistemologie, seine Ethik und seine Geschichtsphiloso-
phie, seine Natur- und seine Kuostphilosophie gravitieren gegen
diesen Mittelpunkt, w^ie ich in der genannten Abhandlung näher
PBsseigt habe. Und wie konnte er iu der Moraltheologie, in dem
Pi*Hktischen Glauben die Krönung des Werkes sehen, wenn nicht
''u.rch vernünftiges Denken das Objekt des Glaubens bestimmt
^ftre? Kann auch jemand an ein x, an ein irgend etwas, ich
^<Biss nicht was, glauben und in iliesem Glauben das Heil finden?
Was aber die Erkenntnistheorie anlaugt, so ist für Kant
'Ot allem charakteristisch: der Glaube an die Vernunft. Keine
m über die natürliche Schwäche und die engen (Trc^nzen des
llnUtodlttii IX, |a
290
ïfe Paulsen,
menschlicheû Erkeüotnisvermögens, wie bei Locke, keine aus
trauen gegen die Vernunft stammende Provokation an die
fahruog, wie bei Hume, keine Flucht in eine mystische Gläubigkei
wie bei Hamann oder Jacobi, sondern überall die Zuversicht, d;
die Vernnnft im Staude sei, aus sich selbst heraus das Lebe»
die Weltanschauung nach festen Prinzipien zu bestimmen. Ntir
Eineji kann sie nicht: allein ans sieh selbst heraus wissenschaftlichi'
Erkenntnis hervorbringen; dazu gehört beim Menschen auch Au*
schauung. Aber das, was die Wissenschaft zur Wissenschaft
macht, ist nicht der ans der „Erfahrung^ stammende Anteil, sunderri
der apriorische Faktor ist in letzter Absicht die Vernunft. Seit
Plato hat wohl nicht leicht ein Philosoph, es sei denn SpiuozÄ,
geringischätziger von dem „Pöbel der Erfahrung" gesprochen
Kant.
Warum wird es Vielen so schwer, dies zu sehen? Ich meiße,
ein subjektives Moment ist dabei im Spiel: sie kommen mit Vi
Stellungen ans der dogmatis<rhen Metaphysik, sei es der Metaphysik
der Kircheulehre oder der „Kraft- und Stoff" -Bücher, an Kant
heran. Der erste starke Eindruck, den sie von der Kritik empfaiigeu,
ist die Vernichtung dieser Vorstellungen. Kant, ob sie nun dafür
ihm als Zerstörer fluchen, oder ihn als Befreier segnen, der Zerstörter
der Metaphysik! 80 war der erste Eindruck, den seine Zeitge-
nossen empfingen: die lieibniz- Wolffische Metaphj^sik liegt
trümmert am Boden. vSo war wieder der Eindruck, als man in
den 6yer Jahren, die Hegelsehe Philosophie noch in frischer Ei-
innening, zum Studium Kants zurückkehrte: Kant der Warner vor
überfliegender Spekulation, der die Grenzsteine der mensehüciieii
Erkenntnis unverrückbar aufgerichtet hat, gegen Hegel wie gegm
Buchner, Es war auch der erste Eindrack, den ich empfing, als
ich vor vielen Jahren die Kritik zum ersten mal las.
Und natürlich, er ist nicht überhaupt falsch; die Ne^atioa
und Destruktion ist auch darin. Auch bleibt es jedem unbenonmieü,
das, was ihm Kant leistet, für das Wesentliche und Wichtige aii
ihm zu erklären. Nur, es ist nicht der ganze Kant, nicht Kant
selbst, sonderu ein selbstgemachter Kant. Der wirkliche, historisch«j
Kant ist ein anderer, für ihn war die „Grenzbestimmung'* blos eiifl
Moment und nicht das Wichtigste. Und erst, seit ich dies sah,
seit ich begann, die Kritik der reinen Vernunft historisch, d. h. im
Zusammenhang mit deu vorkritischen Schriften, im Zusammenhang
der Eütwickeluugsgeschidite Kants, im Zusammenhaug mit Hume
4
Zum hundertjährigen Todestage Kants. 291
ZU studieren, wurde sie mir als Ganzes verständlich, verschwand
Yor allem jener Eindruck seltsamer Umständlichkeit, den sie auf
jeden machen muss, der als ihr grosses Ergebnis die Einschränkung
der menschlichen Erkenntnis auf Erfahrung ansieht. Vom Ge-
danken des mundus intelligibilis aus, den die Vernunft notwendig
denkt, kann man auch die „Grenzbestimmung" verstehen, nicht aber
von der Grenzbestimmung aus den mundus intelligibilis.
19*
Emerson und Kant
Von Profeseor D. Dr. Geo Runsse.
Erstaunlich und beschämend nicht nur für die Freunde, son-
dern auch für die sachkundigen Gegner der Philosophie Kants ist
die Tliatsache, dass ein Denker und Litterat von der BedeutuDg
Ralph Waldo Eniersous, der für so manche geistige Grössen der
deutschen Kultnrwelt volles Verständnis zeigt und dessen uuiver
seile Belesenheit ausser Frage steht, an der Persönlichkeit Kanti
und seiner Lehre stumm vorübergeht, Luther, Jakob Boehme,
Goethe Bind ihm vertraute Geister, unter den Pliilosophen Eng-
lands und Frankreichs kennt und nennt er nicht bloss die führen-
den, sondern auch sehr sekundäre Autoren, und nichts entgeht
ihm, was auf die intellektuelle und raoraUsc.he Kultur der Neuzeit
irgend hahnbrechend eingewirkt hat: über Kant schweigt er
sich aus.
Als Kant am 12. Februar 1804 seine irdische Laufbahn
schloss, hatte Emerson (geb. am 25. Mai 1803) das erste Lebens-
jahr noch nicht vollendet. Er ist ein Sohn des 19. Jahrhunderts,
ein typischer Vertreter der Neuen Welt, des jugendfrisch aufstre-
benden amerikanischen Bürgertums, — freilich einer der wenigen,
denen es am Herzen lag, die produktiven Kräfte, welche sein
grosses und mächtiges Heimatland in originellen Köpfen zu ent-
fesseln vermag, mit den vielseitigen Anregungen zu bereichern und
zu verschmelzen, die aus der langsameren aber methodischeren
Kulturentwickeluug der Alten Welt stammen. Aber gerade darum,
sollte man meinen, musste er dem Genius eines Kaut gerecht
werden. Als Emerson am 27. April 1882 starb, hatte doch die
in Deutschland durch den jüngeren Fichte, Carl Fortlage und be-
sonders durch Schopenhauer eingeleitete, in Liebmanns Arbeit
über „Kant und die Epigonen" und in Friedrich Albert Langes
„Geschichte des Materialismus'* zum Durchbruch gekommene eedj
nente Wertschätzung Kants als des „Einzigen", vor dem nuomehr
Emenon und Kant. 293
Fichte, Schelling und Hegel verblassen, selbst in Frankreich und
England bereits ihr Echo gefunden; auf französischen Gymnasien
wurde schon vor 1870 allgemein Kantische Philosophie im Umriss
doziert. Und die philosophische Schulbildung in den Vereinigten
Staaten hatte doch weder mit einem nationalen Gegensatz, wie
er zwischen Frankreich und Deutschland besteht, noch mit einer
litterarischen Vergangenheit, wie sie die Geschichte der englischen
Philosophie aufzuweisen hatte, zu rechnen! Wie erklärt sich die
völlig negative Haltung des philosophischen Essayisten gegenüber
einer epochemachenden Weltanschauung, die noch dazu manche
Berührungspunkte mit den in jenen Essays erörterten Grundge-
danken hat? Man wird leicht ausreichende Erklärungsgründe da-
für entdecken. Einfache Unwissenheit, — dass etwa Emerson der
grossen Wertschätzung, welche Kant seitens der Grossesten genoss,
unkundig gewesen sei, — ist nicht anzunehmen. Aber er wird
den deutschen Denker entweder nicht verstanden haben oder nichts
Neues, von dem er sich wesentlichen Zuwachs zu seinen eigenen
Ideen versprochen hätte, in ihm gefunden haben. Für beide
Fälle giebt es Analogien. Oft gehen zwei Denker oder Dichter
in gegenseitigem Ignorieren neben einander her, weil sie innerlich
einander fremd, des Verständnisses für einander bar und unfähig
sind. Wer wird sich wundem, dass Schopenhauer von seinem
Lehrer Fichte, dem er doch seinen Grundgedanken „Kein Objekt
ohne Subjekt, kein Subjekt ohne Objekt^ entlehnt haben könnte,
nichts wissen will; — dass Hegel und Herbart einander kühl und
gleichgiltig aus dem Wege gehen, dass Friedrich der Grosse für
die deutsche Poesie und Philosophie seiner Zeit so wenig Ver-
ständnis hatte? Merkwürdig aber und weniger leicht erklärlich
sind die zahlreichen Beispiele für das Gegenteil, dass innerlich nah
verwandte Geister sich gegenseitig ignorieren. Haben Laotse und
der Eönigssohn von Eapilavattu, haben Micha und Jesaja, Demo-
krit und Sokrates irgend merklich auf ehiander Bezug genommen?
Wie ängstlich gehen sich manche christliche und neuplatonische
Denker, wiewohl Zeitgenossen, aus dem Wege! Schelling geht
wie Baader, und durch ihn veranlasst, auf Jakob Boehme zurück,
aber er berücksichtigt die ihm kongeniale Theosophie des älteren
Zeitgenossen kaum. Schleiermacher und Hegel, beide Romantiker,
beide Zierden der Berliner Hochschule, führen keinen offenen
Kampf mit einander, aber durch beredtes Schweigen gräbt einer
dem andern den Boden ab, obwohl — oder vielleicht weil — die
294
G. Rnnze,
Verwandtschaft zwischen ihueu grösser ist, als die beiderseitigem
Schalen es zugestehen. Lessing starb leider In dem Jahre, als
Kants Kritik erschien; ob er das Werk seines Geistesvenv^andtem
mehr geschätzt hätte als jene Erstlingsschrift über die lebendigen
Kräfte, die ihm das bekannte witzige Epigramm entlockte? Wie
scheinen uns heute Schiller und Schleiermacher als ethische
Fackelträger und praktische Idealisten kongenial, und wie ab-
sprechend hat der philosophische Dichterfürst die bahnbrechenden
„Reden über die Religion'', diese in Poesie und Philosophie ge-
tauchte Ausgeburt edelster Begeisterung, beurteilt! Man braucht
nicht daran zu erinnern, das« auch in grossen Geistern niedere
Motive — Eifersucht, Neid, Herrschsucht, Médisance — gleichsam
unter der Asche glimmen: es genügt die Thatsache, dass, w^ähreiidi
die Gegensätze sich anziehen, gleichgerichtete Bestrebungen oft H
gerade die kraftvollen Kapazitäten kalt lassen, dass — als Er-
gänzung des Gauss'schen Gesetzes vom geringsten Widerstände
und des Mach-Avenarius'schen {denkökonomischen) Prinzips des
kleinsten Kraftmasses — die grösstmögliche Erhaltung der
geistigen Kraft zwei ähnliclien Intelligenzen oder Charaktereü
oft zu gebieten scheint, durch Ignorierung der Verwandtschaft sich
selbst zu behaupten; sie haben einander nichts zu sagen.
Man hat Nietzsche, Tolstoi und Maeterlinck mit Emerson
verglichen, Nietzsche zitiert öfters Emersons Essays und ist
zweifellos positiv von ihm beeinflusst; Maeterlinck hat Emerson
in seinem Trésor des Humbles (31. Aufl. 8. 129— 1Ô3) einen
Aufsatz gewidmet, der von innerlichstem Verständnis zeugt, und
schon der Stil des ganzen Buches verrät Eraersonschen Geist in
französischem Idiom. Aber kulturell steht Emersou höher als die
drei Genannten; er ist frei von jeglichem Symptom der Decadence,
Äeine Mahnung zur Gesundheit ist nicht wie bei jenen durch den
Verdacht getrübt, dass der Arzt selbst von der Seuche infiziert
sei. Er verkennt nicht die Mängel und Leiden der Menschheit,
die Tiefen der Bosheit und die sittlichen Lirefahren des Kultur-
lebens der Gegenwart; aber die lebensfreudige Weltansicht siegt
über jeglichen Pessimismus, ohne dass er zu geistigen Narkotika
greifen müsste wie Nietzsche und Tolstoi. Darin gleicht er viel-
mehr dem nüchternen Philosophen des schlichten Pflichtgedankens,
Kant, den Nietzsche seinerseits als zopfigen Chinesen charakterisiert
hat. Eduard von Hartmann hat versucht, auch in Kants Philo-
sophie eine pessimistische ünterströmung nachzuweisen, aber Kants
Emenon und Kant. 295
tiefe Einsicht in das radikale Böse, in die Unlauterkeit und Ver-
derbtheit des empirischen Willens, sowie seine Ablehnung der
Leibnizschen Begründung des Optimismus, wird mehr als wett-
gemacht durch das Bekenntnis der unfehlbar fröhlichen Stimmung,
wie sie den unter allen Umständen möglichen Akt der Befolgung
des Pflichtgebotes notwendig begleite. Emerson aber ist positiver
Optimist: jeder Pessimismus scheint ihm auf Schwäche des Willens
und Mangel an Gedankenkraft zu deuten; der gesunde Charakter
„lässt sich gar nicht herab, etwas ernst und schwer zu nehmen"; —
und Nietzsches Empfehlung der „tanzenden Weisheit", seine Mahnung
zur weltfrohen Gesundheit, knüpft an dieses Motiv unmittelbar an,
aber es gelingt ihm nicht, jenen schmerzlichen Grundzug seines
Schönheitskultus, der seinen gegenteiligen Anspruch Lügen straft,
zu verleugnen. Emersons Optimismus dringt verklärend durch alle
Poren auch der ästhetischen Weltbetrachtung. Wenn JohnRuskin
klagt über das prosaische Netz der Schienenwege, das selbst in
die Waldeseinsamkeit den Rauch und Lärm des Verkehrslebens
trage, so sieht Emerson auch in der Technik „Kunst"; er preist
die Poesie „der Fabrikstädte und der Eisenbahnen" und weiss,
dass der wahre Dichter auch darin ewige Natur schaut, indem er
liebevoll „den glattgleitenden Zug auf dem Schienengeleise" in die
grosse Ordnung der Dinge einreiht.
Sollte nun nicht zwischen Kant und Emerson eine conspiratio
ingeniorum zu entdecken sein, die als Schlüssel zur Beantwortung
unserer obigen Frage dienen möchte? Die Verschiedenheiten treten
freilich zunächst mehr hervor. Dort ein schwerfälliger^ pedantischer
Stil, ein mühsam durch die Klippen der Sprache sich windender
Gedankenfluss, — hier der breite, kraftvoll und klar dahingleitende
Strom reicher und schöner Ideen. Dort der Mittelzweck: Ge-
nauigkeit, Sorgfalt, schneidende Schärfe, die dann freilich öfters
^schartig macht", — das Ziel: Erkenntnis der Wahrheit in den
höchsten und letzten Problemen des Menschengeistes, und Stärkung
des Glaubens an die ewigen sittlichen Grundlagen der Vemunft-
ordnung. Hier hingegen das Mittel: vielseitige Unterhaltung,
Häufung der rednerischen Bilder, Überschüttnng des Lesers mit
mannigfaltigem Wechsel von naturwissenschaftlichen, historischen,
psychologischen Details; und — was das Ziel anbelangt: niemals
verweüt der Autor beharrlich bei einer der grossen, tiefgreifenden
Fragen, wiewohl er sie kennt; — er streift sie, verliert sich in
Nebendinge, kommt wieder auf sie zurück und eutlässt uns dann
act
1
I
r
296 ^^^^^ G. H«nz
freilich am Schluss in einer Stimmung, die ähnlich erhebend und
befriedigend nachwirkt» wie weüu wir ein streng philosophivschi
Buch gelesen hätten.
Aber dies eben ist der Hauptpunkt; Emerson ist wirkli<
nicht blos Dichter, soudern auch Philosoph. Ja, er ist in der Regi
nur Dichter, weil er Denker ist; der Ernst seines Gedankenleben!
steht ausser Frage. Und es Terlohnt sich wohl, ihn au Kaut zo
messen.
Zunächst einzelnes. Was au Kants Philosophie am deut
liebsten in die Augen fällt, ist seine Unterscheidung der theoretischeü
und der praktiscln-^n Vernunft, der Sinnen weit, die jene, und der
sittlichen, die diese zum Üegenslande hat. Emei-son nimmt, als
Dicliter, scheinbar seinen Standpunkt über jener Zweiheit; die
grossen Erscheinungen in der Menschenwelt, die Heroen der Macht
und des Gedankeus, stehen ihm jenseits von Gut und Böse. „Ich
bewundere die grossen Männer jeder Art, die des Gedankens wie
die der That, die rauhen und die sanften, die Gottesgeissehi und
die Wohlthäter und Lieblinge der Menschheit" — Cäsar, Karl V.
und Karl XTI, Richard HL und Bonaparte, — So in der EinleitUD^
seiner Essays über „Typische Vertreter der Menschheit" (on repre-
sentative men). Das klingt ethisch neutral, und scheint den Geist
zu atmen, aus dem Nietzsches Heroenkult geboren ward. Auch
Nietzsches Ausspruch von der „fernsten Liebe**, die er an Stelle
der „Nächstenliebe^ empfiehlt, hat -- nicht der Form, aber der
Stimmung nach - in Emersons satirischem Apercu sein direktes
Vorbild: ^Deine Liebe in der Ferne ist Bosheit in der Nähe**.
Aber nie hat Emerson die sittlichen Tugenden den Kraftattributeu
nachgesetzt; er rügt an Napoleon, dass dieses „glänzende Gemälde"
seine dunklen Nachtseiten hat; es ist ihm „die unerquickliche Er-
scheinung bei jedem Streben nach Macht, dass es auch eine düstere
Seite hat und mit einer Unterdrückung oder doch Erschlaffung
des feineren sittlichen Gefühls verbunden ist". Und von dieser
Doppelart sind im letzten Grunde alle Menschen. „Gemeine und
niedrige Menschen" — in dem Nietzsche*schen Sinne — „giebt es
überhaupt nicht**, sagt er in den einleitenden Uses of great men.
Der Übermensch der Zukunft, der „Riesengeisf*, den die Welt
hoffen dürft« dereinst zu gebären, müsste jene leuchtenden
Tugenden in sich vereinigen, welche die Bestimmung des Menschen
ausdrücken: das Chaos zu zähmen, die Saat der Erkenntnis und
der Poesie auszustreuen, die Keime der Liebe und des Wohlthuns
J
Emerson und Kant. 297
zu vervielfältigen und mit der Veredlung der Menschheit auch die
niedere Natur zu verklären und ihre Härten zu mildern. Aber
nicht von einem Einzelnen soll man das Höchste erwarten. Auch
die Grössten sind nur dazu da, die noch Grösseren vorzubereiten,
damit die Welt sittlich vervollkommnet werde. In dem Essay über
Montaigne stellt er Sinnenwelt und sittliche Welt in einen Gegen-
satz, der nur dadurch auf eine Einheit zurückführbar wird, dass
wir als unbefangene Zuschauer — mit ästhetischer und teleo-
logischer Urteilskraft — allenthalben sowohl die eine wie die andere
Welt anerkennen müssen, sodass weder von den Aufgaben der
Moral noch von den Objekten der Naturerkenntnis irgend etwas
ausgeschlossen sei. „Jedes Objekt hat einerseits zur Sinnenwelt,
andererseits zur sittlichen Sphäre innere Beziehungen; wo wir
eine der beiden Möglichkeiten antreffen, da gilt es, durch Nach-
denken die andere zu finden^. Das Leben gleicht einer Münze,
die, auf die Erde geworfen, entweder auf die Kopf- oder auf die
Wappenseite zu liegen kommt. „Dieses Spiels werden wir nie
müde, weil uns bei dem Innewerden des Kontrastes stets ein
leichter Schauer der Überraschung überkommt".
Einerseits giebt es nichts im ganzen Umkreis des geistigen
Lebens, was nicht den sinnenden, wägenden, rechnenden Intellekt
beschäftigte; keine erscheinende Wirkung ohne reale Ursache, „die
wahre Bedeutung des Geistigen ist das Wirkliche".^) Wir sollen
alle Vorurteüe durch strengen Realismus ersetzen und es wagen,
den Schleier zu lüften von den einfachen und doch so gewaltigen
Naturgesetzen, die, „sichtbar oder unsichtbar, alles durchdringen und
beherrschen". Wenn Kant sagte, die freien Handlungen des
Menschen würden, bei vollkommener Durchschauung der Trieb-
federn des Seelenlebens, ebenso sicher vorher zu berechnen sein,
wie dem Astronomen eine Mondfinsternis, so entspricht dem genau
der Determinismus Emersons. Selbst das Innerlichste im Charakter
des Genius erfüllt erst dann seine wahrhafte Bestimmung, wenn
es nicht etwa bloss als Fähigkeit eine neue Kausalreihe anzu-
fangen, sondern als „Exponent eines höheren Geistes und Willens"
wirksam wird. Das Dunkel wird durchsichtig, wenn das Licht
absoluter Erkenntnis darauf fällt.
Aber andererseits wird Emerson nicht müde, den ergänzenden
Gedanken zu betonen, dass erst in der sittlichen Welt die physische
1) Essays I, Übersetzung von Schölermann, S. 180.
G, Rtinze,
sich vollendet, dass, so sehr os die Weisheit and Zweckinässic:keil
der Weltoinrichtuiïg keorizcichuet, wenn wir aUeuthalben beobachten,
dass s^rrade der Kj^oismus und das Konkutrenzstrebei) zur Ver-
vollkonnnmiug der Kultur beiträgt (ein tTedanke, den Kant mehr-
mals ausfiîhrlich erörtert,') — doch nichts in der Welt wahrhaft
gilt ist als allein der gute Wille des Veruunftweseîis, nnd dass in
allen Vorgängen des sozialen und des individuellen Lebens eiue
innere Oercchtigkeit waltet^ eine sittliche Weltordnnng, die in
ihrer Weise so sicher funktioniert wie die Gesetze der physikalisch-
mathematischen Sphäre. In diesen Thesen stimmt er ganz rait
Kaut iiberein. Er streift auch die Kantische Idee, wonach schliess-
lich die Aufgabe des Welterkennens dahin geht, die letzten Zwecke
des veniiinftigen E>aReins zu ermitteln (Teleologia rationis hunianae)
nnd durch eine Kritik der theoretischen Vernunft die Grenzen
ihrer Leistungsfähigkeit festzustellen, durch die Kritik der Ver-
nunft überhaupt aber den so freige worden en und vom eiDgebildetea
Wissen gesäuberten Platz nunmehr für den Glauben zu rekla-
mieren und seine Tragfähigkeit als Stütze für die sittlichen Werte
zu prüfen. Dass die iTlaubenssätze der Religion an der Moral
ihren Jlassstab haben, dass das bloss statutarisch-cerimonielle
Reiigionswesen wertlos ist, falls es nicht den sittlichen Zwecken
(und den sonstigen geistigen Idealen) dient, hebt Emerson aas-
driicklich hervor. Gunsthuhlerei bei Gott, Flehen um besondere
individuelie Vergünstigungen erscheint ihm wie niedriger Diebstahl.
Die Mitarbeit an der Ausrottung veralteter römischer Kircheß-
dogmen soll in weltfrohem, zukunftsgewissem Sinne gescheh
fröhlich wie der Gesang des Kanarienvogels, — ein Ausfkiss nicW
bloss der Wahrhaftigkeit, sondern echter Frömmigkeit. Selbst di
Dogmen der Unitarischen Kirche, deren theologischer Spredu^
Emerson bis zu seinem 29. Jahre gewesen w^ar, sind diesel
Prediger der ewigen Weltharmonie und der unerschöpflicheiiJIl
vollkommuungsfähigkeit. noch zn eng. Ja, „die ganze Lit|^^
soll noch geschrieben werden, die Poesie hat kaum ihr erstes Um
gesungen. Die unausgesetzte Mahnung der Natnr h' ^
Welt ist neu, unaufgedeckt; glaubt der -
Ohne im Hinblick auf die sittliche V« ^M
etwa nach einer ewigen Fortdan ^1
geradeswegs als „ein Bekenntnis ^Ê
1) Atithropiilogie (VII, 647 ^H
d. Gesch. in Weltbürger 1, Aba ^B
' EmersoD and Kant. 299
Mensch stellt solche Fragen; in dem Fluten der Liebe, in der
demütigen Verehrung giebt es kein Fragen nach solcher Unsterb-
lichkeit." Wo Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe walten, da ist
mit ihnen wesentlich verbunden die immanente Unvergänglichkeit.
Die echte Seele bleibt sich selbst getreu, und der Mensch, in
dessen Wesen die Kraft der Allseele sich ergiesst, „kann nicht
von einer Gegenwart, die endlich ist, in eine Zukunft fortschreiten,
die endlich wäre**. „Jesus, indem er in diesen Anschauungen
lebte, unbekümmert um irdisches Glück, machte nie den Versuch,
den Gedanken der Fortdauer von dem Wesen der sittlichen Eigen-
schaften zu trennen." — Schon aus diesen Zeilen wird ersichtlich,
wie auch Emerson dem Kantischen Gedanken der Autonomie hul-
digt; freilich in einem vorwiegend pantheistischen Sinne, worin
seine Weltansicht mehr der Fichte-Schellingschen Romantik sich
annähert. Dass Freiheit und Notwendigkeit im letzten Grunde
eins sind, dass nur der wahrhaft frei ist, der sich in Gott ge-
bunden weiss, und das höchste Gebot des ewigen Sittengesetzes
dahin zielt, uns innerlich frei zu machen, ist ein Gedanke, den
Emerson in Piaton findet und aus vollem Herzen selber bekennt. 0
Sein Glaube an das All-Ich, die oversoul, deckt sich viel mehr mit
Giordano Brunos und J. G. Fichtes Idee der Gottheit, als mit dem
Zarathustraideal, dessen Name „Übermensch" nur als positivistische
Verflachung der Emersonschen „Überseele" anmutet. Dem Yankee-
philosophen ist es, ähnlich wie Hermann Lotze, gelungen, den
Mikrokosmosgedanken der Leibnizischen Philosophie mit der Innig-
keit and Poesie eines religiös gestimmten Monismus zu verschmelzen:
eine ästhetisch-metaphysische Parallele zu dem nur mehr ethisch
gedachten und erkenntniskritisch durchdachten Fundament der
praktischen Vernunftlehre Kants, dessen „Autonomie" doch auch
ebenso dem persönlichsten Individualismus wie dem Universalismus
des Glaubens an eine AUvemunft gerecht wird, so dass selbst
Hermann Cohen, einstmals mit voller Zustimmung aner-
1) In der Jubiläumsnammer der New-Yorker Zeitschrift fftr ethische
Koltur „The Ethical Record" (Juli 1903) erklärt Prof. Eduard Dowden
diesen Gedanken ffir das Leitmotiv des Emersonschen Denkens. Das Un-
persönliche, Göttliche im Individuell-Menschlichen, das Sittengesetz im
Inneren der Seele, ist das wahre Centrum unseres Seins. Im Gewissen
oder dem sittlichen Selbstbewusstsein ist das Bindeglied zwischen dem
universellen Gesetz und der individuellen Willensfreiheit gegeben: das sei
der wahre und bleibende Gedanke, der in Emerson sein Organ ge-
funden hat
G. Bunze,
kaniit hat. dass in jen^pr Lehre die rhristliche Idee de
„Mensfliwnrdung (TOttes'' .sicl^ wiederspiegelt Und gerade solch
Ausführungen, wif tiie obeu erwähnten, lassen weiterhin erkennen,
dass auch Koiersoiis religiös- nieiaphysische AnschamiDgen in einer.
wenn auch nur andeutungsweise hinge worfenen, doeh nnverkemifl
bar idealistisrhen P'rkenutnisthenrie wurzeln, die der Kanl^
Fichtescheu verwandter ist als beispielsweise der von Locke iiüd
Hume. Es klingt gewiss nicht Ivanlisch, wenn Emerson sagt:
rtOffeuharung ist die Erschliessung der Seele, das Einfliessen des
göttlichen iteistes in unseren Geist, ein Ebben des kleinen Stronies,
persönlichen Lebens vor der Flutwelle des Alllebens, Jedes Heran*^
nahen dieser Kraft weckt in uns Ehrfurcht und Entzücken." Eher
schon die weitere Bemerkung: ^Für die Seele gieht es noch etwas i
anderes als Ausgleichung, nämüch ihr eigenes Wesen. Die (üiJ
der Tiefe der Seele wurzelnde) Liehe verwandelt die berghoheii|
Ungleichheiten zwischen den Individuen). Wer liebt, macht drt5,j
was er liebt, zn seinem Eigentum. Jesus und Shakespeare sind^
Teile der Allseele, und durch Liehe erobere ich sie gleichsam für
meinen eigenen geistigen Besitz. Ihr Geist wäre kein Geist, wemj
er nicht der meinige werden könnte/
In derartigen Ideen klingt bereits der Grundgedanke de
transscendentalen Idealismus leise an: die Stammformen des
vernünftigen menschlichen Wesens geben der ganzen Aiisseo-
welt ihren HtempeL Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht
aus der Natur der Dinge» sondern schreibt sie dieser vor. Die
eigentümliche Wendung aber, die Emerson diesem Gedanken,
woher auch immer er ihn haben möge, giebt, ist etwa dieselbe,
wie die, welche Schelling dem Kant- Ficht eschen Idealismus gegeben
hatte: in der Natur selbst liegt Verwandtschaft mit der Vernunft;
sie ist nicht bloss ein Erzeugnis des schaffenden Vernunft-Ich,
sondern die ihr immanenten Gesetze erzeugen als ihre reichste,
Blüte und reifste Fnicht das vernünftige Leben des Geistes,
menschlichen Geistesleben kommt der schlummernde Rieseng
der Natur zum Selbstbewusstsoin, und auf den höchsten Stufeff^
seiner Entwickking lässt der wollend-denkende Menschengeist das
wirkliche Werden der Natur, gleichsani nachschaffend ihre Elemente
Krnfte und Gesetze, nun noch einmal — in voller Klarheit und
Wahrheit — aus dem unbewussten Ursein und blinden Urwilleu
stufenweise entstehen, regressiv-analytisch vorarbeitend durch den
Verstand, progressiv-synthetisch gestaltend durch die künstlerische
ichsto—
igeM
Emerson und Kant,
3Ô1
TbÄtigkeit der Einbiidiingskraft. Diese Achtung vor den gewal-
tigen Urkräften des Willeos in der Natur, diese Versenkung' iu
das Eigeolebeu jener schaffetideo objektiven Mächte, die schon un-
abiiängig von dem vemünftehiden Ich da siod und wirken, —
also der Grundgedanke der Schellingscheu Philosophie, der ebenso
ID Schopenhauers Willenslehre wie in üarmns Descendenz- und
Selektionstheorie weiter ausgebaut ist und — wohl durch Coleridges
Vennittelung — auch auf Herbeil Spencer eingewirkt hat: er
fiüdet in Eniei-sons Anschauung von Natur und Geist eine eigen-
tümliche Ausprägung. Was ScheUiug die „Odyssee des Geistes"
i Jiaunt^, das Sichselbstbesinnen der Vernunft auf ihre wahre Heimat
Jm Zurücksehnen und -streben in jene traussceutlentale Einheit,
4lie nur durch intuitive Totalfassung erreicht w^erden könne, dann
nber unter Anwendung des reflektierenden Bewusstseins das Eine
iTlicht in der Mannigfaltigkeit farbenprächtigen Glanzes erstrahlen
lässt und die Entwicklung der Einen Urkraft in den reichen
Formen wirklichen Werdens ausgebreitet darhagt: solche liebevolle
Hingabe an das Erkennen der Geschichte der ganzen Natur und
au das Verstehen der ganzen Geschichte des Meuschengeistes
Atmet Jeder Eniersonsche Essay, ob er nun „Lebensführung" oder
^Heldentum", Gegenwart oder Vergangenheit, Ideal oder Wirklich-
ieit zun» Vorwurf hat. Die ewige Natur, im Kosmos wie in den
Geschicken der Menschheit, ist ihm gleicherweise die Mutter, Lehr-
tete^in und Erzieherin des Geistes, und ehrfürchtig bewundernd
ft er sich der Allmacht ihrer Gesetze. Aber das hindert ihn
nicht — abweichend von Schopenhauer und von Herbert Spencer,
die in der menschlichen Psyche einen mehr passiven Tummelplatz
der Vorstellungen, Motive, Empfindungen sehen — » die sittliche
Energie des vernünftigen WoUeus und die intellektuelle Freiheit
des Denkens zu betonen. In der Liebe zur Wahrheit bethätigt
sich nicht nur die Lauterkeit und Aufrichtigkeit der Gesinnung,
sondern die edelste Schaffenski'aft des Willens. Der Intellekt
schreibt seine Gesetze der Natur vor. Ohne die aktive synthetische
Funktion des Verstandes würde das Weltbild io undeutlichen
Scheinvorstellungen verschwimmen. „War nicht das Auge sonnen-
baft, die Sonne könnt' es nicht erblicken", gesteht er mit Platon
nnd Goethe; aber er kennt auch den ergänzenden Gedanken, dass
„des Gottes eigne Kraft ^*, die uns zur Bewunderung des Göttlichen
befähigt, durch unsere mitschaffende Denk- und Willensautonomie
gelbst erst zu vor stellbar er Objektivität geformt wird. Kein Ob-
302
6. Bunze,
P
jekt ohne Subjekt; würde nicht die Sonoe durch unser Aoj^e aaj
liaft, ja mehr, würde nicht das äussere Hinnesorgan durch die
Energie der thätigen Psyche seelenhaft, so wäre jene nirbt
die Sonne, uüd dieses nicht Auge, Und damit siud wir im Zentrum i
des kautischen, kritischen, transscendentaleu Idealismus. ■
In allen Natufwesen, im Ganzen wie im Kiuzelnen, liegte
mehr oder weniger verborgen oder verhüllt, nur dem Geiste sich
enthüllend, etwas Geistiges. „Die Fähigkeit, die Natur eines
Dinges zu erkennen und zu erklären, beruht auf der seelischeo
Verw^andtschaft des Erklärers mit dem zu erklärenden Gegenstande.
Jedes materielle Ding hat auch eine geistige Seite und lässt sich,
durch menschliches Zutun, in eine Sphäre des Geistigen und Noi
wendigen erheben, wo es dann eine ebenso uuvergäDgliche Rolle
spielt wie irgend ein anderes. Und auf diesen ihren Endzwed
streben alle Dinge beharrlich zu. Die Gase strömen am festen
Firmament zusammen, der chemische Klumpen gelangt in die
Pflanze und wächst mit ihr; er gelangt in das Tier und bewegt sicli
mit ihm; er gelangt endlich auch in den Menschen — und denkt/')
„Jedes Ding in der Natui' sehnt sich so lange nach seiner Kenntßis-
nahnie durch den Menschen, bis es endlich seineu Wunsch erfüllt
sieht und von der Menschheit in ihren Dienst genommen wird."
^Es bedeutet einen erheblichen Fortschritt für die Arithmetik,
Anatomie» Architektur und Astronomie, wenn sie, durch Intellekt
und Willen begünstigt, in das praktische Leben emportanchen und
in der Unterhaltung, im Charakter und in der Politik zum Aus*
druck gelangen.^ ^Ê
An dieser praktischen Nutzanwendung, als greifbarer Konse-
quenz des (so zu sagen) transscendentaleu Idealismus, erkennt m&n^
den Amerikaner, den modernen Denker überhaupt. Eraereon 6^1
gänzt aber den Grundgedanken noch durch eine andere Betrachtuug,
welche dem Realismus der Entwickelungslehre entspricht und jener
berechtigten Kritik an Kant, wie sie Friedr, Alb. Lange, Huxley,
Spencer, du Prel geltend gemacht haben, gerecht wird: dass die
Konstruktion des Menschengebirnes und der Sinnesorgane, A
unsere gegenwärtigen Verstandes- und Anschauungsfonmeu ent
sprechen, selbst ein allmählich erst im Lauf der Jahrtausende ge>
wordenes Produkt der Natur ist, sowie dass, auch heute noch,
nicht alle Menschen gleich denken und anschauen, dass vielmehr,
1) Ich zitiere nach der Übersetjsiing von Oskar Dähnert.
Emer:äoti und Kant.
aoB
wenn anch vielleicht nicht io die allgempioen Gesetze der Logik,
fto doch sicherlich in die besonderoa Ausprägungen der psychischen
Vorst-ellungsbildung und der ethisrheu Weiinrteile das Recht der
Individualität eiufliesst. Ein weiteres Morueut endlich, das Emersons
Auffassung charakterisiert, ist eine gewisse Mystik» wie er sie in
den Beziehungen zwischen Natur und Menschengeist voraussetzt
und in deren Deutung er dem von ihm, wenn auch keineswegs Icritik-
los, bewniuierlen „Geistei'seher*' Swedeub*»rg beipflichtet. Kr hat
Immannet Swedenborg einen besonderen Essay gewidmet und zitiert
ihn oft; dass er auch bei solchen Gelegenheiten an dem Königs-
berger Innnanuel, deu die ^.Träume eines Geistersehers** freilich
zeitweise in Verlegenheit gesetzt haben mögen, ohne Seitenblick
vorübergeht, muss wiederum unsere Verwunderung erregen,
„Jeder Mensch," sagt Emerson, ^ist durch eine geheime
Sympathie tuit einer bestimmten Gattung der Naturdinge verwandt,
deren Vertreter und Ausleger er zu sein bestimmt ist, so Linné
fur die Pflanzen, Hnber für die Bienen, Fries für die Flechten,
Van Mons für die Birnen, Daltou für die Atomfornien, EukUd für
die Planimetrie und Newton für die Differenzialrechnung. — Jeder
rseh stellt ein Centrum in der Natur dar, von der aus Strahlen
Verknüpfung und Verwandtschaft nach einem jeden, festen
©der flüssigen, sichtbaren oder unsichtbaren Dinge hinleiteu. Da-
durch, dass die Erde eine Drehnug vollführt, gelangt jedes Stück
Erde und jeder Stein an deu Meridian. In gleicher Weise steht
auch jedes Organ, jede Fraktion, jede Säure, jedes Krystall» jedes
Staubkorn iu verwandtschaftUcher Beziehung zum menschhchen
Gehirn. Vielleicht müssen sie alle lange wailen, aber einmal
kommt auch an sie die Reihe. Wie jede Pflanze ihren Parasiten^
so hat auch jedes erschaffene Ding seinen Bewunderer und Ver-
herrlicher. Der Dampf ist schon zu seinem Recht gekommen,
ebenso das Eisen, das Holz, die Kohle, der Laststein, das Jod, das
Korn und die Baum wo Ue, aber wie viele andere Stoffe harreu
noch der Ausbeutung und zweckvollen Verarbeitung! Die unge-
heure Masse des Erschaffenen und die Unzahl der Kräfte ruhen
in ihrer Mehrzahl noch unerschlosseu und hari-en des Tages der
Erweckung. Jedes von ihnen scheint gleich der verzauberten
Märcheuprinzessin auf den ihm bestimmten Befreier in Menschen-
gestalt zu warten. Ein jedes Ding iu der Natur muss in dieser
Weise eine Entzauberung erfahren und in der Gestalt eines
Menschen an den Tag treten. Wenn wir die Geschichte der Ent-
304
G. Runse,
deckîingen durchgehen, so will es uns bediinken, als ob die reife,
aber noch verborgene Wahrheit sich selbst ein Menschenhira zu
ihrer Verkündigung schaffe. Der Magnet muss Gestalt und Leih
gewinnen in einem Gilbert, Swedenborg oder Oei-stedt: erst da-
diircli erlangt die Allgemeinheit die Verfügung über die ihm inne-
wohnenden Kräfte.** — „An jenen herrlichen Tagen, da Himmel
und Erde einander zu küssen und zu schmücken scheinen, dünken
wir uns arm, weil wir alle diese Herrlichkeit nur einmal genies^fl
dürfen, wünschen uns tausend Köpfe und Leiber, um all diesêi
Schönheiten auf verschiedene Weise und an verschiedenen Orten ^
bewundern zu können. Und — thatsächlich lassen sich unsere
Kräfte durch Benutzung von „Vertretern" vervielfältigen; leicht i
und gern eignen wir uns die Früchte des Fleisses dieser Vertreter
und Vorarbeiter an. Jedes nach Amerika segelnde Schiff verdankt
seine Schiffskarte dem Entdecker Amerikas, und jeder Roman
macht eine Anleihe bei Homer. — So ist der Boden überall um-
schlungen von einem wahren Gürtel vou Erfindungen, der Bei-
steuer von Männern, die dereinst in dem Bestreben, durch ihres
Geistes Licht unsere Unwissenheit aufzuhellen, den Tod nicht ge-
scheut haben . . , All diese Pfadfinder bereichern uns."
Aber wie von solchen Höhepujikten der geistigen EapazitHl
belebende Kraft und offenbarendes Licht auf die Mitwelt aus-
strömt, so sind sie selbst, die Entdecker und Erfinder, die Denker
und Propheten, jene „typischen Repräsentanten des Menschenge-j
schlecht^**, eine Wirkung, ja ein Teil jenes grossen Kosmos de^
Natur, die den Geist latent schon tu sich barg und deren auf-
steigende Kräftereihe im Menschen ihren relativen Abschlass fand.
^Die Komponenten bestimmen auch das Denken und Thun ihrer
Resultante, Uires Vertrnters. Er vertritt jene nicht nui\ er ist auch
ein Teil von ihnen. Gleiches kann nur durch Gleiches erkannt
werden*". Ist jemand mit dem Wesen der Dinge vertraut, so
kommt dies daher» weil er selbst ein Stück von ihnen» aus einem
dem ihrigen gleichen Stoff gebildet ist ^Belebtes Chlor weistfl
von der Existenz und dem Wesen des Chlors; belebtes Zink von
der Existenz und dem Wesen des Zinks"". „Der Mensch, a
irdischem Staub gefügt, vermag seinen Ui-spning nicht zu v<
leugnen, und so wird alles^ was jetzt noch nnbeseelt raht, einnii
Sprache und Denkfähigkeit erlangen. Dann wird die Natur, soweit
sie bisher noch nicht gesprochen hat, ihre sämtlichen Geheimnisse
offenbart haben''.
?
Emerson und Kant.
Man wird Heimann Grimm und Maurice Maeterlinck Recht
geben dürfen, wenn der eiiie, dem in Deiitscliland um die Er-
weckuBg des Verständnisses für die Emerson-Litteratur das Haupt-
verdienst gebührt, den weltfrohen, lebensfreudigfen Amerikaner den
rtmodeiiisten aller Scbriftsteller** nannte, und wenn der andere von
ihm sagt: „Er steht unserem gewohnten Leben so nah wie
niemand sonst; er ist der Weise des Alltags**. Aber sobald man
sich bemüht, die psychologischen und historischen Wurzeln seiner
Denk- und Urteilsweise aufzudecken, so stösst man auf eine Reihe
von Nat m^beobach tern, Dichtern und Denkern, deren geistiger
Mittelpunkt und zum Teil anregender Ausgangsputïkt Kant ge-
wesen ist. Als Emerson sein erstes Werk „Nature" veröffentlichte
(1836), waren in Deutschland Hegels und Schleiermachers Ideen
schon in die Metamorphose der Umbildung durch die Schale der
Anhänger eingetreten. Schelling lebte noch, aber seine Glanzzeit
war vorüber, während die uaturphilüsophischen Ideen seiner an
Kant und Hchte anknüpfenden Identitätslehre durch Burdach,
Okeo, Cams, Victor Cousin, Coleridge bei^eits angefangen hatten,
ein xri]juct êç aV/, ein dauerndes Element der gebildeten Weltbe-
trachtung zu w^erden. Und selbst Schopenhauer gesteht gelegent-
lich verschämt ein, dass ein Grundgedanke seiner Philosophie, wie
ihn seine (von Fortlage schon 1840 gerühmte) Schrift „Über den
Willen in der Natur" enthält, deren eiiste Auflage in jenem selben
Jahre 1836 erschienen war, auch in Schellings Philosophie zum
Ausdruek komme. Dass Emerson damals von Schopenhauer keine
Ahnung hatte, ist zweifellos; ebenso abei* auch, dass die Grund-
gedanken der Schellingschen Naturphilosophie, die in gerader Linie
auf Kant zurückführen, damals längst Gemeingut der Dichter- und
Deukerwelt geworden wai'en. Einem direkten Einflüsse muss er
daroni noch nicht zugänglich gewesen sein; es ist vielleicht be-
züglieb Schellings anzunehmeu, dass er einer indirekten sich be-
misst w^ar. War ihm doch wenigstens Goethes Weltanschauung
vollkommen geläufig, dessen Vei-ständnis für das Weben und
Walten der Natur und für den harmonischen Einklang zwischen
Idee und Wirklichkeit er dem seinigen kongenial empfinden musste.
Aber vor allem war er ja Angelsachse und Amerikaner; was sollte
für ihn jene auf deutschem Boden im Zeitalter vor der Revolution
entstandene, der Form nach pedantisch-scholastische, dem Gegen-
stande nach einseitig auf die höchsten Probleme beschränkte, jeder
farbreichen, vielseitigen Füllung, jeder poetisch verklärten Ab-
K»olatadi«D IX. 20
306
G, Runzei Emerson und Eant,
rundung eatbehrende Philosophie Kants für einen Reiz habea?
Deren Ideen waren längst durchgesickert bis in die entlegensten
Schichten der Wissenschaft und des Lebens, auch in Emersons
Wehbild sind ihre Züge zu entdecken; aber ihm selbst versage
vielleicht ein gesunder psychischer Instinkt, gerade ans dieser
Quelle zu trinken: unter seinen „typischen Bepräsentanten der
Menschheit", von Piaton bis Goethe, finden Montaigne, der Skep-
tiker, und Swedenborg, der Träumer, ihre eingehende Analyst»;
Kant, den Alles zermalmenden, hat dem Auge des schönheitä-
trunkenen „Weisen von Old Manse" sein poetischer Genius wie
mit einem Schleier verhüllt. Eniei^sons Essays sind Dichtung mid
Wahrheit; Kants Kritik wollte Wahrheit allein. Die Lektüre
Emersons ist Erbauung für das Gemüt, Anregung für die Phan*
tasie, Unterhaltung für den Geist; der Verstand, der in deu
Baluien schulgerecht^r Methodik wandeln muss, um zum Ziele zu
gelangen, kommt nicht zu seinem Recht. Man wird auch \m
Emerson manchen reizvollen Gedanken, manch überraschendes
Problem aufbUtzen sehen, das die Verstandeskräfte zum Nach-
denken lockt; aber jene ernste Vertiefung in die Grundprobkme
der Metaphysik, jene radikale Kritik des Erkenntnisvermögens, ai
die jedes philosophische Denken anknüpfen muss, wofern es auf
erfolgreiche Mitarbeit am wissenschaftlichen Erkenntnisprozess
Anspruch erheben will, lag ausserhalb der Bahn, die ihm sein
Genius wies. Lehnt er doch jede geistige Abhängigkeit ab, aucli
von denjenigen Denkern, die ihm, den obigen Darle-guugen gemäss,
vielleicht am sympathischsten waren: Leibniz und Schelling. Ein*
gehender gewürdigt hat er von den deutschen Geistesgrössen
nur wenige, aber dann solchc\ die nicht in erster Linie methodiscb
forschende Denker wareni so Martin Luther, den philosophas
teutonicus Jakob Boehme, vor aUem den Dichterheros von Weimar;
sie zählen ihm zu den originalsten Tj^en der Menschheit. Aber
gelegentlich verrät er, in wem unter den Philosophen er allen-
falls seine eigene Gedankenwelt wiedererkennen würde, wenn er
sagt: „Es giebt einen besseren Weg, als dieses gedankenarme
Aneignen fremder Arbeit. Lasst mich in Ruh; zwingt mich
nicht, aus Leibniz und Schelling zu lernen; ich will das
alles schon selber herausfinden/
Kant im Spiegel seiner Briefe.
Von Friedrich Alfred Seh mid in Freiburg i. Br.
Wahre öHisse unmittelbar zu fühlen nnû anzuerkennen, wo
sie hervortritt, ist jedem mit offenen Sinnen Begabten, natürlicli.
Aber eben diese Grösse in ihren Tiefen und Wurzeln, in dem ge-
heimnisvollen Zusamuienfluss elementarer Kräfte und launischer
ZiifäLligkeiten zu verstehen und von innen heraus nachzuerleben,
ist sehr schwer.
Denn gewaltige Persönlichkeiten haben wohl ohne Ausnahme
die Eigentümlichkeit» nach aussen die wuchtigen und einfachen
Ltioien zu zeigen, in denen sich das Werk ihres Lebens darstellt,
während die eigensten, intimen Äusserungen, Erlebnisse und Wir-
kungen ihrer Daseinsintensität eine Fülle schillernder Gegensätze,
ein verwirrendes Spiel sich suchender und fliehender Charakter-
mächte ven-aten, durch das alleiu der feinste und verständnisvollste
Beobachter sich annähernd hiudurchzufinden vermag. Und auf
Schritt und Tritt muss dieser Beobachter seinem Gegenstaude
folgen können^ wenn er nicht tausend Spuren verlieren und nicht
in jedem Augenblick einen abgeiissenen Faden in den Hrinden
halten will. In jedem Tag, in jeder Stunde müsste ihm das Leben
seines Helden zugänglich sein.
In diesem Sinne ist aus, angesichts der riesengross aus der
Niederung aufsteigendeu Gestalt Kants, das „fruchtbare ßa^oc der
Erfahrung**, die sicherste Basis zu einer, Zug um Zug getreuen
Wiederaufrichtung seines (Charakterbildes verloren.
Der Kant, den wir kennen, zeigt ein zweifaches Angesicht.
Das eine trägt die grossen Züge seiner unsterblichen Werke, das
andere ist die gut gemeinte, aber herzlich stümperhafte, oft aus
Unfähigkeit in die Karrikatur verfallende Zeichnung einiger Bieder-
männer, die das Glück genossen hatten, dem alternden Kant per-
20*
808
F. A, Schmid,
etur
sönlich nahe gestanden zu haben. Diese Borowski, Jach mann nni
Wasianski waren wohl von der Art, zu fühlen, dass ihnen in
Kant ein unfassbar Grosses die kleinen Pfade ki-euzte, aber ihr<
instinktive Bewunderung dieser Grösse vermochte sich am innigstej
doch nur in der andächtig genossenen und weiter gegebeneiL
Anekdote Luft zu machen.
Und zwischen dein Charakterbild seiner Werke uud dei
seiner Freunde klafft eine Lücke, die mau meist mit Wunderlich —
keiteu und Paradoxieen zu überbrücken liebte. Als ob eine Per^
sönlichkeit von der ehernen Geschlossenheit, wie sie in Kant vo^»-
uns steht, sich aus Kleinlichkeiten uud Beschränktheiten ihre Fua^
damente erbaueu konnte. ^!
Eine einzige Art seiner Wirkungen kann den eigenartigen
Menschen auch nach seinem Tode noch in unmittelbarer Lebendig^-
keit wiederspiegeln: Das ist nicht die Spur seines Wesens in
seinem Werk. Denn vor seinen Büchern verschüesst sich der
persönliche Geist zur möglichsten, fremden Objektivität. Das sind
\ielmehr die augenblicklich uud ohne Reflexion auf die üffeot
iichkeit und die Zukunft liiugeworfenen Äusserungen, die Regungen
lebendiger Stimmung und Laune, der Charakter in seinem nnbe-
lauschten sich Haben und Geben» wie er sich zwischen den Zeilen
seiner flüchtigen oder beschaulicheu Briefe bewegt.
öerade diese, nächst der persönlichen Bekanntschaft mit dem
Leben des Helden wichtigste Quelle, floss bisher der Kant-
forschung, soweit sie sich auf den Menschen Kant bezog, am
spärlichsten. Und die heute, nach hundert Jahren, berufensten
Darsteller seines Lebens litten sichtbar unter diesem Mangel, der
sie zw^aug, häufig genug den grossen Gegenstand itn^er Darstellung
durch geistvolle, aber nichts desto weniger manchmal gewagte
Konstruktionen plastisch zu machen. M
Das ist seit dem Erscheinen des Briefwechsels Kants in der
Ausgabe der preussischen Akademie durch das arbeitsreiche Be-
mühen Rudolf Reickes um vieles besser geworden, Kuno Fischern
zählt in der Jubiläumsausgabe seines „Kant** ungefähr 80 — ^ItK)
bekannte Briefe von Kant Der erste der drei Bände, welche in
der königl. preussischen Akademieausgabe den Briefwechsel Kants
bringen, zählt allein schon mehr. Im ganzen ist die Zahl der
Kantbriefe mehr als verdreifacht, und dazu kommen die Briefe an
Kaut, in denen sich oft genug am un verhülltesten die eigenartige
Wirkung der Kautischen Persönlichkeit auf seine Umgebung
I
Kant im Spiegel seiner Briefe. 309
kennen und sich ein leichter und sicherer Schluss auf diese zu-
rückziehen lässt: Ein Verfahren, welches das bisher so knapp
und kalt umrissene Bild des flössen Mannes mit den nötigen
Halbtönen und individuellen Lichtern und Schatten reichlich ver-
sieht. Es kann mir nun keineswegs beikommen, mit dieser Skizze
nur annähernd das leisten zu wollen, was das neu erschlossene
Quellenmaterial dem Kenner an eigenartigen Aufschlüssen ver-
spricht und wozu der ganze Reichtum dieser drei Briefbände auf-
fordert. Es muss an dieser Stelle bei der Absicht bleiben, in
kurzen Andeutungen einige von den vielen Farbentöuen aufleuchten
zu lassen, die uns das Bild Kants nur zu beleben geeignet istJ)
Wie auch aus seinen Briefen dem nachdenklichen Beschauer der
Mensch, der Denker und der Heros Kant vor die Augen tritt und
zu einsamer Grösse emporwächst, dies mehr zu behaupten, als
auszuführen, ist die Aufgabe der folgenden Blätter.
2.
Kant hat niemals jene innere Befreiung erlebt, die demjenigen
zu begegnen pflegt, der mit einem Mal aus den vertrauten Umgebungen
seiner Jugendzeit herausgerissen, sich seinem eigensten Wesen allein
gegenübergestellt sieht, darauf angewiesen, mit sich und einer fremden
Welt fertig zu werden. Aus sehr bescheidenen und beschränkten
Verhältnissen heraus trat der Studiosus Kant in eine kaum ver-
änderte Atmosphäre von Beschränktheit und Bescheidenheit, in
welcher preussische Professoren und Prediger des achtzehnten
Jahrhunderts die ersten Bollen inne hatten. Zur Schlichtheit er-
zogen als Pietist und als Kandidat der Theologie, jeder lästigen
Beunruhigung seines stark zur Kontemplation neigenden Gemütes
abhold, niemals energisch zur Betonung seiner Persönlichkeit durch
^) In dieser Absicht spricht sich wohl anch klar genug ans, was
diesen Aufsatz prinzipiell von der Aufgabe trennt, die sich die gleich-
falls an diesem Orte veröffentlichte Abhandlung von Bruno Bauch: „Die
Persönlichkeit Kants^, gestellt hat. Es kann mir nicht darauf ankommen,
das CharakterbUd Kants, wie es in seiner Totalität für die Geschichte fest-
steht^ zu wiederholen. Ich muss vielmehr die Kenntnis der Persönlichkeit
Kants, und somit gewissermassen jene Abhandlung voraussetzen, um einen
Teü meines Zweckes zu erreichen.
Anch muss ich mir inzwischen die weitere Bearbeitung meines be-
«»onderen Themas, in ausführlicherer Darstellung, für eine andere Gelegen-
heit vorbehalten.
310
F. A. Schmid.
das Schicksal auf g^ef ordert, so entwickelte sich allmählich dio be-
kannte Bescheidenheit des Herrschers im Reiche der Spekulation,
dem doch das eigentlich wesentliche Moment der Bescheidenheil
fremd war: die Neigung, den Wert seines Daseins fremden \^Vrtf^n
hint anzusetzen.
Es ist diarakteristisch genug:, dass Kant hrieflich im Alter |
von fiinfuudzwauzig Jahren selhstbewusster \^on seinen LeistunjEren
zu reden wagte, als es der Verfasser der drei Kritiken gemeinhin
zu tun pflegte. Es waren noch viele andere Keime in dem jungen
Manne lebendig, die in der Einförmigkeit seines Lebens zurück-
traten, sich kümnjerlich anpassten oder ganz zu Grunde giugeöi
auf Kosten derjenigen Züge, die in das Kult Urbild der alten Uni-
vei-sitas Regioniontana besser sich zu schicken schienen. Und eiaj
Zug, dem durch das friedliche Provinzlertum zu Königsberg aller
Voi'schulF geschîih, steckte tief in Kants Natur und wuchs deshalb
unverhältnismässig in die Breite: Das war seine bis zur Ängstlich- j
keit gesteigerte Furcht vor der persönlichen Öffentlichkeit, die
empfindliche Unlust, in seinen geschlossenen Zirkeln durch laut«
Anerkennung, durch einen persönlichen Lebenslauf grossen Stils I
irgendwie gestört zu werden. Es ist ihm peinlich, wenn mafl
seinen Namen neben dem Lessings nennt, so, als oh darin für ihn
eine Art von Verpflichtung läge, sich von nun ab auch „denigemäss
zu betragen,** Es ist ihui lästig, dass man eine Medaille auf ihn
schlagen will [und es ist ihm dabei, als ob der Prägehamraer auf
ihn selber fiele und er müsse nun einen hellen Klang von sich
gehen]. Und es ist ihm, höchst bezeichnend, ein Gräuel, denkeo
zu müssen, dass man seine Intimitäten, seine Briefe oder die DateaJ
seines Lebens dem Publikum auf irgend welche Weise preisgebe.!
Mit den Jahren heftet sich diese Scheu vor dem lauten Ton desf
Marktes mit Hartnäckigkeit auch an das Kleinste. Im Jahre 1792
schreibt Kant z, B. an seinen Verleger F. Th. de la Garde: ,.Was^
die Benennung auf dem Titel (der Kritik der Urteilskraft), vp^^
besserte Auflage betrifft, so hat das im Grunde wenig zu be-
deuten .... wenn es mir gleich ein wenig prahlend zu seiilfl
scheint." "
Die Diminutiva, mit denen Kant schliesslich aus einer Art
von Gewohnheit seine Leistungen zu belegen pflegt, stehen all-
mählich in einem offenen Kontrast zu der uIp zweifelhaften
Selbstklarheit> Kants über die Tragweite und den absoluten Wert
seiner Mission und seiner Leistungen. Ich berühre damit einen
I
Kant im Spiegel seiner Briefe.
311
PtmU in dem l'harakterbilde Kants, ilt-n zu übf*rseheii oder partei-
JSt'h zu Kants Gunsten auszulegen man gerne bereit ist. Kant
K'ar bei aller natürlidien Oeradiieit seines Wesens und kategorischen
Sittliehkeit seiner Maxiineij gelegeutlidi jeuer eigentüni liehen,
-Spitzfindigen Neigung, mit den Begriffen von Recht und Pflicht
^^^g^isch zu Spieleu, nicht abliokl Es hat manchen gesunden, sîtt-
^<^lieû Instinkt in der Foigezeit verletzt,^) was Kant von der
^'Qicht, die Wahrheit zu sagen, zu bekennen für gut befand, der-
*^lbe Kant, welcher theoretisch und iiraktisch die Notlüge so sehr
^^rfemte, Dieser Zug erscheint unverkennbar als ein cha-
**^kt erologischer Akt der Notwehr seines schliesslich bis zur Hy-
pochondrie und Verzärtelung ausgebildeten Euhebedürfnisses,
Seine Wurzeln hingegen hat dieser Zug iu eiuem der am meisteu
Verkümmerten Talente Kants, nämlich in seiner offenbaren Be-
g'abung zum Weltmann, zum kühl durchs(!hanendent geistesgegen-
Wärtigeu und scharfsinnigen Diplomaten. Eleganz der Rede und
des Benehmens, Menschenkenntnis, Ironie und selbst Glätte und
Menschengeriugschätzung standen seiner Natur reichlich zu Gebote
und Hessen es leicht begreiflich erscheinen, wie ihn stets eine
heimliche Verwandtschaft des Geistes mit Hume und Leibniz an
den vernaclilässigten Weseusteil seines Charakters mahnte. Die
Art zum Beispiel, wie er den eitlen Crichton seinen Absichten
gefügig zu machen weiss,*) macht seiner Gewandtheit alle Ehre
und köstlich liest sich das Wort der bittersten Ironie aus seiner
Feder: „Denn, die, so ihren Bej^faU verweigern, so lange sie nur
die zw^ejrte Stimme haben, werden gemeiniglich ihre Sprache ändereu,
wenn sie das erste und grosse Wort führen können.** — Folglich
gestattet Kant dem ('richton das grosse W'ort mit einer höchst
1 schmeichelhaften Wendung,
I Aber wie bei Kant alle einmal erkämpft^en Entscheidungen
l sich zu Maximen zu verhärten geneigt sind, so nimmt er daher
f tuch in der Folge keinen Austand, bei passenden Gelegenheiten
sein Wort von der reservatio mentalis beim Verschweigen von
Wahrheiten zur Nachahmung angelegentlich weiterzuempfehleu.
^) Es ist nicht uninteressßnt , zu hören, was ein Grübler, wie
Friedricli Hebbel im Jahre 1848 aussprach: , . . „So meinte damals auch
Kant> er werde über gewisse Dinge nie etwas Falsches sngon, aber manches
Wahre zurückbehalteTi. Da die Wahrheit kein Privateigentum
ist, sn kann die Richtigkeit dieses Prinzips bestritten werden."
(Kritisehe Arbeiten. „Schillers Briefwechsel mit Kömer**.) v
■) P. Akad. Ausgahe der Briefe, Bd. I, S. 217 ff.
¥, A. Schmid.
Es ist ihm schliesslich in allen schwierigen Leheaslageo, iu
beisst überall dort, wo er seine, oder die bequeme Musse seiner
Freunde gestört, sieht, wie eine erlösende ZauberformeL So in
seinem Briefe an IL Herberts) Ebenso an Fichte,*) Wo man sich
dnrch Reden UnjsreleiGrenheiten zuzuziehen Gefahr läuft — schweif
man besser. Kant verliert zuerst an sich, dann bald auch für
Andere den Massstab, mit dem man den Wert des Wahrheits-
känipfers, im empirischen Wortsinn, zu messen pflegt, Kant,
Tou Hans ans keineswegs ungeoi^et, den harten Bekennermîit
eines Luther zu bethätiieren, versank in dem ruhigen Abfluss seines
Lebens, viel zu lange unbehelligt vom feindlichen und daher auf-
rüttelnden Schicksal, in einen stillen Quietismus gegenüber den
äusseren Mächten des Lebens, der ihn auf der eijien Seite ebenso-
sehr das Bewusstsein einer wirklichen KleiuLeit empfinden liess^
wie er auf der anderen Seite bewirkte, dass die zum Machtvollen
geborene Herrschernatur in ihm andere Wege zu ihrer Entfaltmig
suchte und diese schliesslich in der strengen Geschlossenheit der
wissenschaftlichen und empirischen Lebeusökonomie fand. Man
hat diese einzigartige Konsequenz der Kantischen Lebenskunst
weidlich beTinindert. Ihre besondere Grosse anzuziveifeln, kannte
Keinem einfallen. Aber sollte auch noch Keinem der tiefe Zug
der Resignation, der darin beschlossen ruht, ins Bewusstsein ge-
tretnen sein? „Wenn die Starken in der Welt im Zustande eines
Rausches sind, * , , so ist einem Pygmäen, dem seine Haut lieb >
ist, zu rathen, dass er sich ja nicht in ihren Streit mische, soUtêiB
es auch durch die gelindesten und ehrfurcht vollsten Zureden g«*
schehen," schreibt Kaiît im März 179S an Carl Spener.
Es ist in diesen Worten eine wehmütige Mischung von
letzten Resten eines untergegangenen, und von erstarrten Maximea
eines müde gewordenen Kant.
Es zuckt etwas von dem ironischen Diplomat^nlächeln un'
die Lippen des gewaltigen, „in ganz Eui-opa berühmten*' Deuker-
fursten, der sich — unter die Pj^gmäen rechnet. Wenn Kant au
einer anderen Stelle schreibt, dass er sofort seine Professur nieder*
gelegt hätte, wenn ihn Wollner zum ausdrücklichen Widermf
hätt« zwingen ivollen, so ist ihm das aufs Wort zu glauben. Aber
das beweist gerade, dass der alte Kant das Zeug zu einem stand-
hafteu Märthyrer wohl behalten hatte, dass er aber, um den Preis
») Vgl. a. a, O. Bd. n. S. 819.
«) Ebenda. S, 309 f.
I
Kant im Spiegel seiner Briefe. 313
seiner persönlichen öeschütztheit vor jedem rauheren Luftzug der
Öffentlichkeit, gänzlich das Gefühl dafür verloren hatte, etwa prak-
tisch für die Durchsetzung seiner als heilsam erkannten Über-
zeugungen eintreten zu müssen. Lieber mochte sich Kant, der
genau wusste, welche Macht, vernichtende Blitze und nieder-
werfende Donnerkeile unter seine Zeitgenossen zu schleudern,
in seine Hände unwiederbringlich gelegt war, einen Pygmäen
nennen und den allgemein verachteten und verhassten Wöllner zu
„den Grossen dieser Erde" zählen, als dass er auch nur daran
gedacht hätte, von seiner gewaltigen Macht den geringsten Ge-
brauch zu machen.^)
In diesem Verhalten liegt keine Bescheidenheit; ebensowenig
weitschauender, weiser Patriotismus. Man darf nie vergessen,
dass Kant seiner Erziehung nach Rationalist, seinem politischen
Glauben nach also noch viel mehr Kosmopolit, als Nationalist war,
oder dass er doch, bei allem erwachenden Verständnis für das
Wesen der historischen Bildungen, mindestens in der bestehenden,
preussischen Verfassung, im Absolutismus, keineswegs sein Staats-
ideal erblickte. Alle diese Erwägungen hätten ihn bei seinem an
sich übermenschlichen Gestaltungsdrang schliesslich ebensowenig
an der praktisch kämpfenden Arbeit verhindern können, wie Luthers
Frommheit an der Verletzung ursprünglich noch in Ehrfurcht ge-
achteter Formen und Überlieferungen Anstoss nahm.
Sondern was allein die Triebfeder zu allen diesen kasuisti-
schen Reservationen im tiefsten Grunde war und blieb, das war
der rücksichtslose, kühle und offene Drang des Genies, nun
einmal nichts anderes sehen noch hören zu wollen, als was seiner
Entwickelung und Reifung, mehr oder minder instinktiv, zusagte.
Dieser Drang trifft gemeinhin nicht irgend\^ie die Sache,
sondern immer nur die Idee und steht ganz im Dienste der Idee.
Deshalb wäre es sicher falsch, ihn mit Notwendigkeit so das
Leben Kants heraufführen zu lassen, wie es sich wirklich ge-
staltete. Nur das Was entscheidet dieses Streben mit unerbitt-
licher Konsequenz. Das Wie überlässt es dem Schicksal. Als
daher Kant von seinem Schicksal einmal dahin geführt war, unter
^) An direkten Aufforderungen hiezu, von verschiedenen Seiten und
in den verschiedensten Formen, hat es nicht gefehlt. Aber entweder weiss
Kant sich mit seinem hohen Alter zu entschuldigen, oder er schweigt die
Notschreie, die aus bedrücktem Gewissen und beleidigtem Freiheitsinn ihm
zu Gtehör kommen, gänzlich tot. Vgl. a. a. O. Bd. III, S. 11 u. s. w.
i, Scbmid,
Verzicht auf eine reiche Fülle grossziig'iger Kraftbethätigungej
im breikren Strom <!es Lebeus, in eügstem Kreise zu beha
aus der Stille und F^insamkeit heraus seine Grösse aufzutünntüi,
da tnusste dieser Drang, gewissermassen eiu Egoismus des Geni
sich uaturgemäss gegen jede Störung der einmal festgelegten Baal
mit allen Mittein sträuben. Das Fnndameut vei-schobeu, erweitert
oder verzerrt, und das ganze Lebensgebaude des Denkers war in
Gefahr, Auf diese Weise konnte es geschehen, dass das Syi^tm]
einer gronseu Philosophie den unerschütterlichen Bestand eifli
Sj^stems des Daseins gebieterisch forderte.
Und aus dieser Einsicht heraus fällt eine bemerkensweite
Beleuchtung auf eine Fülle von Einzelziigen. die mit einem ilale
alles Paradoxe verlieren und sich achtungsgebietend in den ganz<^n,
unentrinnbaren Schieksalsbau eines grossen Daseinszweckes, der
sich aus innerem Zwange selber vollenden muss, einfügen» selbst
auf die Gefahr hin, dass die schöne Seele der gewaltigen Aufgabi?,
wenigstens teilweise, zum Opfer fällt.
In diesem Lichte erscheinen alle die scheinbaren Züge roo
Nüchternheit, (Temütsarnmt, Pedanterie, Misstraueu, Kechthaberei
uud hagestolzmässigen Sonderbarkeiten plötzlich verflogen, iiiu-—
gewandelt oder unwahr. Uud wieder die Beleuchtung gewechselte^
verbinden sie sich leise zu einem tief nachdenklichen Bilde Toll
ungenannter Schmeraen und geheimer Tragik. Doch davon nachher
Kant hat wahrscheinlich die Liebe nie gekannt, das ist wahr.
Aber seine Kindheit war hart, sein Studium anstreugeud Qnd
äusserlich armselig, sein Hauslehrertum immerhin für seinen inner-
lich durchaus betonten Stolz drückend und seine LebeusanssichteD
trüb. Gewissenhaft, wie er war, hatte er, zudem bei seinPT
Kränklichkeit, wohl keine Zeit noch Lust, ausführlichen Liebes-
gedanken nachzuhängen. Übrigens wissen wir hierüber so gut
me nichts, und jeder Vermutung bleibt Thnr und Thor offeu.
Was wii* aber wissen uud aus mehr, als nur einer Stelle seiner
Briefe herauslesen können, das ist die Tb at sache» dass Kaut Ins
iüs hohe Alter hinein eine Sehnsucht nach pei^sönlichem Verständnis,
nach hingebeodor Neigung empfand, die in ihrer kaum 3ng^-
deuteten Zartheit, in ihrem nie ausgesprochenen und zum eigenen
Bewusst-sein gebrachten Gestand ïiis ganz sonderbar rührend an-
mutet. Und wenn Kant das eine und anderemal für diese ha!b-
bewusste, leise aufzitterude Sehusucht einen Namen finden muss
und dabei auf das Wort Freundschaft verfällt, so ist der intinifn
Kant im Spiegel seiner Briefe. 315
Psychologie dieses verschleierten Qui pro quo allzu leicht nach-
sugehen, als dass ich es an diesem begrenzten Oite thun müsste.
Dass übrigens Kant, der jugendliche Weltmann, Spötter und
tfenschenkenner auch Weiberkenner genug war, um gelegentlich
iie graziösesten Briefe an Damen zu schreiben und ebenso graziös
brieflich übei'sandte Grüsse entgegenzunehmen, ist hinreichend aus
seinen Briefen aus früherer Zeit nachweisbar, wenn dem Einwand
begegnet werden sollte, dass Kant sich dem weiblichen Geschlechte
gegenüber prinzipiell ablehnend verhalten hätte. In der Jugend
Fehlte ihm die Gelegenheit, später nahm ihn seine höhere Be-
stimmung gefangen. Was übrig blieb, war die leise und allmählich
Etusklingende Sehnsucht, die sich wohl gerne am Ende selber nicht
mehr verstanden haben mag und sich allen Ernstes auf einen
Reinhold oder auf noch unbedeutendere und unwürdigere Freunde
zu beziehen glaubte. Und durchaus ebenso ging es mit jener
Gabe, das Leben lebendig anzusehen, selbst. Die Lebenslust und
Erfahrenheit des Weltmannes trat in den Dienst der alles ver-
zehrenden Selbstheit der grossen Zwecke. Klugheit wurde zur
Vorsicht und Ängstlichkeit, welche letztere Eigenschaft bei Kant
nur zu deutlich das Gepräge einer gewissen Verzärtelung, die sich
mit seiner angeblichen Bescheidenheit verband, und keineswegs
den Stempel einer moralischen Schwäche trug. Die skeptisch-
ironische Weltbetrachtung des Diplomaten trat in den dunkleren
Schatten von gelegentlicher Menschenverachtung und von Misstrauen,
welches eine zunehmende Verschlossenheit unmittelbar im Gefolge
hatte. Und es konnte ja auch nicht ausbleiben: jemehr Kant
selber ins Riesenhafte über seine Umgebung hinauswuchs, umso-
weniger hatte ihm diese auch im Grunde, trotz aller brieflicher
Geschäftigkeit, zu sagen oder abzufragen: Das kühle Schauern
der geistigen Einsamkeit hat Kant oft genug auch rein mensch-
lich erfahren, davon reden seine Briefe nicht selten eine klagende
Sprache. Wie alle grossen Männer, so trieb auch ihn manchmal
seine Bestimmung widerwillig zu seiner Grösse empor. Die
Beaktion auf solche namenlosen, inneren Erlebnisse konnte bei
seiner von Grund aus zum Herrschen geborenen, offenen, geist-
reichen und zur Klarheit drängenden Natur kaum anders ausfallen:
Sie musste sich auslösen in einem stoischen Sichzurückziehen auf
den Schwerpunkt der eigenen Persönlichkeit, in einem Sinkenlassen
der zu seiner Höhe nicht berufenen menschlichen Beziehungen und
menschlichen Interessengemeinschaften« Extrem, wie überall, streifte
F. A. Scîiïnîd,
auch iu ihm das Daimonioii des genialen Berufes die Grenze
mensehlichen Goftiblshediirfnissp und der grossp Abstand machö
den Blick vuu oben herab geueiçt, den Abstand noch grösser li
sehen, als er Yielleicht war. So lenien wir verstehen, wie Kaut(
der feinsinnig^e Ethiker, aSeine Beziehungen zu seinen nächste
Verwandten, in den Briefen an diese, kaum anders zu seheu v^r-'
mochte, als noter dem Gesicht spun kt seiner posthumen Alimentations-
lifücht. Es drän^ sich dem Gefühl des Beschauei's dieser That-
sache fast nnwillkülich die Parallelo jener Worte anf, die jeder
nachdenkliche Mensch zuerst auch einmal mit einem leisen Er-
schrecken au sich hat vorbeigehen lassen müssen, ehe er sie
recht verstand: ,,Wer ist meine Mutter? Und wer sind meioe
Brüder? Und recket e die Hand aus über seine Jünger, imd
sprach: „Siehe da, das ist meine Mutter und meine Brader.** Es
klingt so einfach und birgt doch sicher einen ganzen Friedhof
durchgekämpfter Lockungen und in der Stille begrabener Neigungen,
wenn man von einem grossen Manne sagt.: Er ist seinem hoch-
gesteckten Ziele in jedem Augenblick gerecht geworden. — Uüd
über Kant lässt sich dieser Ausspruch, wie Ober wenige Andere, thnn
Kant hat seinem Lebenswerk, bewusst oder unbewusst, ûî-û
ganzen, möglichen Reichtum seines Lebens geopfert. Es war «or
billig, dass ihm dafür seine Göttin Wissenschaft auch jenen glück-
lichen Optimismus verlieh, der iu der Jugend die Zukunft geiÄ*iss
und im Alter den Geist jugendlich erhält. Die pessimistische
Klagen seiner l?Veunde über die bösen Zeitläufe nach dem Tode
des grossen Friedrich prallen stets an seiner Zuveracht auf deo
unherambaren Fortschritt der Welt, an seinem Glauben ao die
Unzerstörbiirkeit seines eigenen Werkes ab. Sind die mit der Zeit
gealterten Zeitgenossen nicht mehr stark genug, um dem Ansturm
der Reaktion standzuhalten, so w*endet sich die Zukunftsfrendigkeit
Kants an die Jugend. Im Jahre 1786 schreibt Kant in diese»
Sinne an Jacob: „Ich hoffe, es solle Sie künftig nicht renen»
diese Partey ergiiffen zu haben. . . . Denn es liegt in der Natur
der Menschen, sich solange als möghch bey einem Wahne, in dem
sie alt geworden, zu vertheidigeu und man kan nur von jungen
kraftvollen Männern erwarten, dass sie sich davon los zu macheu
Denkungsfreyheit uud Herzhaftigkeit genug haben werden."
Sein Briefwechsel bestätigt es, in wie ununterbrochenem Verkehr
er bis zu seinem Ende mit der Jugend bleibt. Noch in den
letzten Lebensjahren nehmen die Briefe von jungen Studenten
Kant im Spiegel seiner Briefe. 317
und an solche einen breiten Raum ein. Und diese frische Jugend-
lichkeit bewahrt sich Kant auch in seinem wissenschaftlichen
Arbeiten bis zuletzt. Das schöne Zeugnis, das ihm Schiller darüber
aasstellte, als er un September 1797 den Traktat „zum ewigen
Frieden** gelesen hatte, lautet: „Es ist in diesem alten Herrn
noch etwas so wahrhaft jugendliches, das man beinah ästhetisch
nennen möchte. . . ."0 Und Goethe, der Ewigjunge, fühlte sich
angesichts der jugendlichen Energie, mit der Kant gelegentlich
seine Gegner durch wuchtigen Ernst und vernichtende Satire in
Grund und Boden zu kritisieren imstande war, zu der bewundernden
Anerkennung hingerissen: „Es gefällt mir an dem alten Manne,
dass er seine Grundsätze immer wiederholen und bei jeder Ge-
legenheit auf denselben Fleck schlagen mag. . . . Der ältere,
theoretische (Mensch) muss niemanden (seiner Gegner) ein unge-
schicktes Wort passieren lassen. Wir wollen es künftig auch so
halten.**«)
Frisch, nach „Neuigkeiten** aller Art bis zuletzt bei seinen
auswärtigen Freunden anzufragen unermüdlich, von kindlichem
Optimismus, bei aller weltweisen Resignation, bis zum Tode, eine
merkwürdige Mischung von Menschenyerächter und Menschenfreund,
beides aus tiefer Menschenkenntnis heraus — so blieb sich Kant
zeitlebens selber treu auf seine Art, indem noch am letzten Tage
seines Lebens galt, was er im Jahre 1767 seinem Schüler
J. J. Haberkant ins Stammbuch schrieb:
Homo sum, nihil humani a me alienum puto.
3.
Die Fülle des Materials zu einer genauen Analyse des Kan-
tischen Grundwesens auf grund der Briefe ist überreich. Nirgends
hat Kant so sehr, direkt und indirekt, seine innersten Meinungen,
seine Hoffnungen und Abneigungen so unmittelbar verraten, wie
in diesen Briefen, deren anscheinende, kühle Ruhe dem tieferen
Blick sehr rasch ganz andere, warme, ia leidenschaftliche Seelen-
bilder gewährt. Diese Briefe sind ebenso persönlich in ihrer ge-
legentlichen, merkwürdig glatten Unpersönlichkeit, wie sie an
charakteristischen Stellen den Ausbruch einer allzustark einge-
dämmten Menschlichkeit, oft plötzlich und unerwartet, mit sich
1) Schiller an Goethe, Jena d. 22. Sept. 1797.
s; Goethe an Schiller, Weimar d. 28. Juli 1798.
318
F. Â. Schmidt
führeo. Das j»i^<ff^ dya%* lag wohl tief m der innersten Nati
Kants; aber die eigentliche Resignation auf die geistigen und
zialen Zusammenhänge mit einer grösseren Welt, als sie die nie
veiiasseiie Heimat darstellte, wai* für Kant doch sein Leben lang
ungleich mehr ein Moment des inneren Kampfes als das eines im-
gemessenen Bedürfnisses,
Hier und zum Schlüsse möchte ich die Betrachtung, die sicL
au diesen Umstand knüpft, noch einmal aufnehmen. Kantjs Brief-
wechsel spann sich, rein geographisch genommen, über eine scharf
begi*euzte Fläche. Königsberg, Ostpreusseii und die baltischen
Proriuzen iiu Norden, Gottîngen und Marburg im Süden und
Westen, Leipzig und Schlesien im Süden und Osten — damit ist
der Kreis geschlosseu. Seiten genug, dass ihn einmal ein verein-
zeltes Schreiben aus Wiirzburg, Zürich, Leyden oder 8t, Peters- \
bürg durebbricht Der Briefwechsel Kants wird von solchen i
Ausserordentlichkeiten nicht biTÜhrt. Und die Männer, uiit deoeo
Kaut korrespondieit? Kaut selbst hat einmal in einem seiner
Briefe seiue Zeit eine Zeit der l*'äulnis, der vallkommensten Selbst-
auflösung genannt, in der Witzlinge, die ermüdende Schwatzhaflig-
keit der itzigen Skribenten und ein geschmackloser Ton das Rejari-
ment führen, welche im Begriff ist, in „läppischen Spielwerkea^J
zu ersterben. Freilich redet Kant hier nur von den „falsche^B
Philosophen** seiner Zeit, Aber anderen Uuigang, als den mit
(belehrten einerseits und mit guten Bürgern ohne alle Prätensioa
andererseits» hat er uie gekannt. Üb nie gesucht? — Das w^i
ich nicht, zu behaupten.
Kaut, den so viele Briefe erreichten, in denen er von seiner
europäischen Berühmtheit lesen konnte, hat seinen Verkehr auf
den geographischen Umkreis des östlichen Preussens nahezu be-
schränkt. Kant, der Zeitgenosse Schillers und Goethes, hat mit
Lambert j GaiTe, Reiuhold und Anderen eine Zeitlang als mit
Ebenbürtigen verkehrt, denn mit Herder hatte er sich bald gernif
wissenschaftlich entzweit. Kant, dem Goethe noch in seinein
Alter das gewichtige Zeugnis gab, dass er auch in direkt küust-
ierischen Fragen ästhetischen Feinsinn zu beweisen vermöge,')
hat zeitlebens als Paradigmata poetischer Vollendung uicbts
Anderes, als die Werke Popes und î^ontenelles in steter Bereit-
schaft gehabt.
1) Gespräche mit Eckermann aus dem Jahre 1827.
Kant im Spiegel seiner Briefe. 319
Wenn man dies alles recht betrachtet, so drängt sich aufs
neue der deutliche und bittere Zug von einer tiefen, tragischen
Ironie, der durch das ganze Leben Kants geht, unwidersprechlich
auf. Die Grossen, mit denen der alternde Kant etwa hätte leben
mögen, Hume und Leibniz, waren tot. Der ihm unter den Dich-
tem am nächsten verwandte Lessing gleichfalls. Die Blüte Weimars
hat den einsamen Philosophen in Königsberg, der nur durch die
„Kanäle^ höchst belangloser Köpfe eine nähere Kunde von dem
Leben in der weiten Welt etwas vernahm, niemals berührt. Die
in Deutschland zur Zeit seiner Jugend mächtige Aufklärung mit
ihren Vorzügen, aber auch mit all ihren seichten Schwächen war
längst dem Zeitalter des Klassizismus gewichen, der Klassizismus
wieder von den Anfängen der Romantik überwuchert«) — : in
Königsberg kamen und gingen die Briefe stets in dem gleichen,
altvaterischen Tone eben jener Aufklärerzeit, deren Todesurteil
Kant selbst doch mit so scharfen Worten gesprochen hatte, als er
das Zeitulter der Witzlinge und schwatzhaften Skribenten ver-
achten lernte. Das Schicksal Friedrichs des Grossen wiederholt
sich auf eine besondere Weise an Kant. Während er in Deutsch-
land nichts, als ästhetische Unfähigkeit erblickt, gehen Schiller
und Goethe schon ihren höchsten Zielen entgegen.
Die Ironie wird noch bitterer, wenn der Leser der Briefe
Kants die Namen der Männer überdenkt, denen Kant in ehrlichem
Anerkennen und Bewundern die Unsterblichkeit prophezeit, währeud
er selber von seinen „geringen Bemühungen'' spricht, mit denen
er sich stereotyp „schmeichelt", etwas „nicht ganz Belangloses im
Felde der spekulativen Wissenschaft" geleistet zu haben. Wer
weiss heute noch etwas von Christian Heinrich Wolke? Von
Ludwig Heinrich Jakob, und Anderen mehr? — Als ihn aber die
kongeniale Grösse seiner Zeit streifte, und Schiller den flüchtigen
Versuch machte, mit dem alten Olympier in Königsberg in Fühlung
za treten, da war es schon zu spät und Kant konnte für Schiller
keine andere Anrede mehr finden, als diese: „Die Bekanndtschaft
^) Dass dem alten Kant gar die Romantik, wo sie ihm von ferne
zu begegnen schien, eine gänzlich unverständliche Sache geworden war,
darf ihm wohl am wenigsten verübelt werden. Sein ehrlicher WiderwiUe,
der sich in Ausdrücken wie „Gaukeley** und „Genieseuche'' Luft machte,
ist ihm übrigens von der Romantik mit Zinsen vergolten worden.
Friedrich v. Hardenberg fand dafür die Formel von „Kants Advokaten-
geist*^ (vgl Materialien zur Encjklopädie.)
lehn id, Kant im Spiegel aemer Briefe.
,,, mit einem Gelehrteo und talentvollen Mann, me Sie ...zu
ciiUiviren kann mir nicht aiidei-s als sehr erwünscht seyn,** —
Nicht einmal die Höflichkeit des Tones darf in Anschlag ^
bracht werden. Denn höflich war Kant in seinen Briefen immer.
Es ist unnütz, zu fragen, wie sich Kant entwickelt hätte» wenn
ihm das Schicksal den g:eheimsten Wnnsch erfüllt hätte, dessen
Erfüllung, ihm unbekannt, vorübergehend so nahe lag, und wenn es ihn
in eine lebendige Beinahrung mit der ^ neuen Zeit** in Deutschland
gebracht hätte. Eüimal, als Kant den dringenden Ruf nach Halle
bekam, stand er dieser Erfüllung vermutlich sehr nahe. Er schlug
den Ruf aus. Der Grund war auch hier das schon mächtig ge-
steigerte Ruhebedürfnis. Das Insichselbstvei^enken seines Genies
schlüss ihm das Thor zu einer Welt, nach der sich der jimgt*re
Kant und der Mensch auch im alternden Kant sehnte und wies
ihn auf sein Seihst zurück, — üb ihn eine Freundschaft mit
Schiller oder mit Goethe aus seiner Bahn gedrängt hätte, als er
selber noch jung, elegant und weltfroh war?
Jedenfalls hat ihn sein Genie so geführt, dass er durch Eia-
samkeit, Unvei-staudenheit und Selbstbeschränkung gezwungeu
war, in die eigenen Tiefen zu steigen. Mit einer wunderbarea
Gefasstheit schickte sich der Mensch Kant in den Drang seinet;
Schicksals, in dem ihm nicht Goethes sonnig verklärte Spruch-
Weisheit, sondern ein scholastischer, gymnasialer Extemporahéo-
Dichter aus der römisclien Zeit das Motto leihen nuisste, uul^r"
dem er sich selber, den Sinn seines Daseins und seine eigenas
Grösse verstand;
Quüd petis in te est — Ne te quaesiveris exti-a,
(Persius.)
I
4
(
Knuts Wfihiihsius in Krxiigsberg.
^it ^«»«hmifranf tod J. J. Weber in L«ipai|r.
KAntttudlea Bd, IX.
Die Neue Kant-Ausgabe und ihr erster Bani
Von Dr Ernst v. Aster in Berlin,
Nachdem ein von Nicolovins, dem Verleger Kants in seinen letzten
Irebensjahren^ geplantes Unternehmen nicht zitr Ausführung gekommen
War, erschien die erste Ausgabe der gesammelten Werke Kants^ die erste
Hartenstein sehe Ausgabe, im Jahre 1838; ihr folgte fast uninittelbar die
Zweite Gesamtausgabe, in Königsberg von Rosenkranz und Schubert ver-
Anstaltet^ die noch in demselben Jahr 183Ö begonnen, 4 Jahre später zum
Abschluâs gelangte. Beide Ausgaben beschränken sich im Wesentlichen
auf die gedruckten Schriften. Von einer Verwertung des handschriftlichen
Nftehlasses kann^ von dem Wenigen abgesehen, das Schubert dem Druck
zugänglich machte, noch keine Rede sein; von den mit abgedruckten
Briefen war der Brief«^echsel mit Lambert schon fräher herausgegeben
TTorden, während die Veröffentlichung der Briefe an Marcus Herz ein
Verdienst der Künigsherger Ausgabe ist, im tïhrigen ist auch Mer die
Ausbeute gering. Aber auch die Wiedergabe der gedruckten Schriften ist
keine absolut vollstÄrtdige, Auf die Herstellung des Textes ist zweifellos
sehr viel mehr Mühe verwendet, als in den oft mit geringer Grtlndlichkeit
hergestellten Außgaben der kleineren Schriften Kants, deren in den voranf-
gehenden Jahren eine ganze Reihe erschienen war, aber das Resultat ist
keineswegs einwandfrei. Endlich fehlt bei beiden die historische Anord-
nimg der Schriften -- wohl ein Zeichen dafür, dass es nicht in erster
Linie das historische Interesse, das Interesse an der Entwicklungsgeschichte
der kritischen Philosophie seibat war, das die Herausgeber mit Kant ver-
knüpfte.
Ein wesenthch andres Bild zeigt dann die schon aus der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderte, ans den Jahren 1867/68, stammende zweite
Hartensteinsche Ausgabe. Inhaltlich ist die Ausgabe zwar nur in Bezug
auf die Sammlung der Schriften selbst bereichert worden ^ ich erinnere
an die erste Abhandlimg über das Erdbeben von Lissabon —, wälirend
weder die Mitteilungen aus dem Nachlass, noch die Briefe von Hartenstein
vermehrt worden sind* Aber vor allen Dingen ist der Text der einzelnen
Schriften sorgfältiger behandelt und zunächst mit Rücksicht auf die Ori-
ginaldmcke festgestellt. Dazu ist zum ersten Mal eine streng chronologische
Ordnung aller Schriften durchgeführt.
Kaatat«<Un IX. 21
322
E. V. Aster,
rd-
Nach dem Âbschluss der HartensteînBchen Gesamtausgabe, die all
solche zweifellos vorderhand den ersten Platz behauptete ^ hat dann
dem Wachsen des historischen Interesses an der Kautischen Philosophil
und ihrer Entwicklung die Hinterlassenschaft Kants immer lebhafter
Philosophie der Gegenwart beschîiftigt. Abgesehen von den verschiede:
liehen Sondereditionen einzelner Schriften und der durch sie bedingten
nenten Textrevisionen %vnrde naraentlich der ungedmckte Nachlass in An-'
griff genommen. I'm nur die wichtigsten Ergehnisse dieser Arbeit zu
nennen, erinnere ich an die Heranjsgabe der .Reflexionen** durch B. Erd
mann 1882, der ,Josen Blätter" durch Reicke 18^9 und 9ô, des Briefwecb(
mit Beck durch Reicke (Ô5) und Dilthey (89) ; an die Bearbeitung der V(
lesungen durch Heiiize und an die teilweise VerilffentLichung des bekannt
Manuskripts^ das die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenachj
bis zum Anscliluss an die empirische Physik vervolktändigen sollte.
So hat sich die Arbeit an der Sichtung und Sammlung, an der exakten
Herstellung dea Kantischen Lebenswerks schliesslich über ein volles Jah^
hundert erstreckt. Und je tiefer die einzelnen Arbeiten drangen, je mekr
ate vor allen Dingen über das Material der gt^druckten Schriften hinaus-
gingen, desto mehr musst« sich die Notwendigkeit einer einheitlichen end-
gütigen Überarbeit ung^ einer Zusammenfassung des bisher Erarbeiteten in
quantitativer und qualitativer Beziehung, kurz die Notwendigkeit einer
Gesamtausgabe im umfassenden uivd abschliessenden Sinn des Wortes
geltend machen. Dass die bisherigen Gesamtausgaben sich von diescia
Ideal sehr weit entfernten, ist ohne Weiteres klar — ebenso aber auch,
dass ein solches die Arbeit eines Jahrhundert« umfassendes and zum Ab-,
schluss bringendes Werk überhaupt nicht die Aufgabe eines EinEelnen S(
konnte. Um so erfreulicher ist es, dass der Plan dieser Ge^umtausgabe
dem Kopfe eines Mannes entstand, der zugleich imstande war, seine Ai
filhrung in dem notwendigen Massstabe zu sichern. Durch seinen Nanii
und sein perstinliches Eintreten hat W. Dilthey die wissenschaftli(
dadnrch dass er es verstand, die Berliner Akademie der Wissenschafl
für den Pku zu interessieren, die materielle Durchführung des Unternehme
ermöglicht.
So stehen wir denn heute, 100 Jahre nach dem Tode Kants, mil
in den Arbeiten an der neuen Ausgabe der „gesammelten Schriften Kani
von der wir angesichts des Stils, in dem sie betrieben wird und der Mit
die ihr zu Gebote stehen, in der That erwarten dürfen, dass sie die kantpl
lologifiche Arbeit im engern Sinn zum Absclüuss bringt. Denn der Zw*
der Ausgabe ist die „chronologisch geordnete und vollständi
Darbietung* des ganzen Materials kantischer Gedankenarbeit
die Verwandlung seines Lebenswerks in ein unzerstörbares geial
Kapital.
Dass eine solche Aufgabe in misrer Zeit mit Aussicht auf Erfolg
gestellt und in diesem MassstAbe in Angriff genommen werden konnte, ist
von vom herein nur dadnrch möglich gewesen, dass die philosopliiscbe Be-
wegung nnsrer Tage in vielfacher Beziehung im Zeichen der Kantischen
Gedanken steht, dass die Frage nach dem Sinn, dem Wesen, der Wahrheit
dieser Gedanken einem Interesse von so staunenswerter Allgemeinheit und
É
Die Neue Kant-Ausgabe und ihr erster Band. 323
Intensität begegnen. Es ist ja kein Zweifel, dass diese ganze neue kan-
tische Bewegung — das Wort im weitesten Sinn genommen — aus der
Behandlung sachlicher, nicht historischer Probleme entstanden ist, ent-
standen ist aus dem Bedürfnis, gegenüber materialistischem Dogmatismus,
metaphysischer Unklarheit und utilitarischer Pseudoraoral einen Führer
zu kritischer Klarheit und Tiefe zu gewinnen. Aber die sachlichen Prob-
leme führten hinüber zu den Fragen der Interpretation Kantischer Lehren
and diese wiederum weckten das Bedürfnis nach einer exakten Feststellung
und Sicherung des zu Grunde liegenden Textes. So musste der Plan dieser
neuen Gesamtausgabe allenthalben Teilnahme wecken und Mitarbeiter
heranziehen. Indem aber diese neukantische Forschung sich und den ihr
zu Gebote stehenden wissenschaftlichen Apparat in den Dienst jenes Unter-
nehmens stellte, hat sie schliesslich sehr viel mehr geschaffen, als einen
blossen Ausgangspunkt, eine objektive Grundlage für die Interpretations-
fragen und -Streitigkeiten der Gegenwart, nämlich einen wichtigen Beitrag
zur Geschichte des deutschen Geisteslebens überhaupt, der als solcher
Wert und Bedeutung behalten wird auf unabsehbare Zeiten hinaus.
Dass die Zeit für das Unternehmen eine günstig gewählte war,
zeigen Zahl und Namen der Herausgeber. Sehen wir von den weiter unten
von uns aufgezählten Mitgliedern der eigentlichen Kant-Kommission der
Akademie der Wissenschaften ab, so werden unter den Herausgebern der
einzelnen Schriften 16 Namen aufgeführt, unter ihnen eine ganze Anzahl
solcher, die in der philosophisch-historischen Wissenschaft mit grosser
Achtung genannt werden. Nicht zuletzt gehören zu ihnen auch Männer,
wie Rudolf Beicke, für die die Beschäftigung mit Kant Lebensarbeit und
Lebensaufgabe geworden ist. Aber die Genannten sind nicht die Einzigen
gewesen, die dem Unternehmen ihre Unterstützung gewährt haben: Die
Herausgeber waren in hohem Masse angewiesen auf die Hilfe von Privat-
personen und Bibliotheken, von Besitzern von Briefen Kants, von Hand-
schriften, Originaldrucken und Vorlesungsheften und dergl. Auch hier
würde ohne die Zauberkraft des Kantischen Namens das Werk nicht das
dankenswerte allgemeine Entgegenkommen gefunden haben.
Aber die Zeit war nicht nur günstig, es war auch dringend not-
wendig, sie zu benutzen, wenn man hoffen wollte, das noch vorhandene
Material einigermassen vollständig zusammenzubringen und zu verwerten.
Denn gerade bei Kant begegnet der Herausgeber in dieser Hinsicht
Schwierigkeiten, wie bei wenigen deutschen Schriftstellern. Ich eitlere
das gleich zu erwähnende Diltheysche Vorwort: „Über seinem Nachlass
waltete ein unglückliches Schicksal. Mit welcher Pietät ist der von Goethe
und von Leibniz erhalten worden und wie unvollständig sind dagegen
Kants Handschriften auf uns gekommen! Als er starb, waren wahr-
scheinlich die seinen Schülern übergebenen Papiere nicht wieder in seiner
Hand. Und auch was nach seinem Tode sich in seinem Nachlass befand,
ist allmählich immer mehr zerstreut worden. So ist das von seinen Hand-
schriften noch Erhaltene in verschiedenem Besitz, und einzelne der losen
Blfttter und der Briefe treten bald hier bald dort auf, so dass trotz sorgfäl-
tigster Nachforschung auch die|gegenwärtige Ausgabe nicht hoffen kann, das
Ehrhaltene vollständig zu bieten. Diese Thatsachen sprechen deutlich genug
21*
324
E. V. Aster,
Sie erweisen f wie notwendig eine Gesamt^nsgabe Kants war — und fu-
gleich lassen sie die aussergewöhnlichen Schwierigkeiten gewahren, welche
eine ausreichende Lösung dieser Aufgabe so lange verzögert haben.* Mui
wird sagen dürfen, dasa bei diesen Schwierigkeiten tmd Hindernissen der
Erfolg » soweit er in den 3 Bänden des Briefwechsels schon vorliegt, eijj
sehr gtnstiger ist* Unsere Kenntnis ist um wichtige und intéressante Stücke
vermehrt worden ujid der Veröffentlichung des handschriftlichen Nach-
lasses durch Adickes dürfen wir wohl mit denselben Erw^artongen ent-
gegensehen, m
Was nun die Umstände angeht, denen wir trotz aller Schwierigkeiteir'
das Zustandekommen des Werkes schliesslich zu verdanken haben, so habe
ich auf die günstigen Zeitverhältnisae schon hingewiesen. Die Einsicht
in die gilnstige Lage dieser Umstände nicht minder wie ihre nutzbringende
Verwertung aber verdanken wir Dilthey, ohne dessen Initiative die Aqb-
gäbe in der That nicht zu Stande gekommen wäre. Dass der Plan dtt^
ganzen Unternehmens von ihm stammt, habe ich schon erwähnt. Sein
Ausführung zu beschleunigen wurde er, \\ie er selbst mitteilt, ver
durch die Erfahrungen, die er in der Beschäftigung mit den Handschriftö
deutscher Schriftsteller gesammelt hatte^ und der dadurch gewonnenen
Einsicht in die Leichtigkeit, mit der ein solches ungeordnetes Material
der Zerstörung oder gänzlichen Zerstreuung unterliegt. Die Arbeit wurde
dalier auf seine Veranlassung hin begonnen mit einer Enquete, durch die
zunächst festgestellt werden sollte, was überhaupt an verwertbarem Mate-
rial, an Handschriften, Vorlesungsheften und dergl, vorhanden war. Indem
aber dieses Material in der Hand der Kommission vereinigt wurde, sollte
es zugleich benutzt werden, um aus den „Veränderungen der Handschrift,
aus andern äussern Merkmalen, wie aus inhaltlichen Übereinstimmung
und Unterschieden die chronologische Bestimmung derselben berbeizufüb
und die inneren Beziehungen zwischen Werken, Handschriften und
lesuügen aufzuklären"*
Der äussere Entwickelungsgang der Angelegenheiten ist bekannt
Im Jahre 1893 legte Düthey der Akademie und dem Unterrichtsministeriu
den Plan mit der zugehörigen Begründung vor; 1Ô94 wurde auf Antr
von Zeller und DÜthey von der Akademie der Beschluss gefasst, die Ausgabe
zu veranstalten und zugleich die Kommission eingesetzt, die die Leitung
in die Hand nehmen sollte, Vorsitzender wurde Düthey, ihre Mitglieder
dnd jetzt, nach dem Ausscheiden von ZeEer, Mommsen und Weinhold noch
Diels, Heinze, Erich Schmidt, Stumpf und Vahlen, als Sekretär fungiert
Menzer. Der Fortgang der Arbeiten wurde durch regelmässige Berichte
seitens der Kommission bekannt gegeben, die auch den Lesern der „Kanfe
Studien" jeweils zur Kenntnis gebracht worden sind.
Von der Ausgabe ist in den Jahren 1900 und 1902 der von Rcic
herausgegebene Briefweclisel Kants, Band X bis XII füllend, volkt
erschienen. Er hat im V., VI. und VIII. Bande der ^ Kantstudien'* eine"
ausführliche Würdigung erfahren» Heute liegt, der 1. Band der Ausgabe
vor. Er enthält sachlich den 1. Teil der vorkritischen Schriften
(1740—1756); ausserdem aber ein Vorwort zu dem ganzen Werk aus
Feder Diltheys, eine allgemein orientierende „Einleitung in die AI
Die Nene Kant-Ausgabe and ihr erster Band. 325
teilnng der Werke^, endlich die Anmerkungen der einzelnen Her-
ausgeber zu den Schriften dieses 1 . Bandes und die nötigen Bemerkungen
über ihre Eigenart in philologischer Beziehung, verfasst von dem germa-
nistischen Mitarbeiter der Kommission, Dr. Frey. Durch das Vorwort
Diltheys und die erwähnte Einleitung erhalten wir genauer, als es bisher
möglich war, einen Überblick über die Anlage und die Ziele des Ganzen,
durch die Anmerkungen (Band XIII, der die Anmerkungen Reickes zu den
Briefen bringen soll, steht noch aus) und die philologischen Berichte einen
Einblick in die Arbeitsweise und den Weg, den die Herausgeber einge-
schlagen haben. Über Beides wird an dieser Stelle Einiges zu sagen sein,
wenn auch das Wichtigste schon von Vaihinger anlässlich des Erscheinens
des 1. Bandes vom Briefwechsel hervorgehoben und besprochen worden
ist. (Kantstudien, V, 73 ff.)
Die Ausgabe, deren Umfang auf 22 bis 25 Bände geschätzt ist, glie-
dert sich bekanntlich in 4 Abteilungen. Die erste derselben soll die
Werke Kants enthalten, die Band I bis IX füllen werden. Leiter dieser
Abteilung ist Dilthey, als Mitarbeiter werden genannt: Erich Adickes,
Benno Erdmann, Paul Gedan, Max Heinze, Alois Höfler, Karl Kehrbach,
Oswald Külpe, Kurd Lasswitz, Heinrich Maier, Paul Menzer, Paul Natorp,
Johannes Bahts, Rudolf Stammler, Wilhelm Windelband. — Die zweite
Abteilung wird vom Briefwechsel eingenommen, welchen Reicke be-
sorgt, die dritte umfasst den von Adickes herausgegebenen hand-
schriftlichen Nachlass. Die vierte endlich soll den aus erhaltenen
Nachschriften hergestellten Text der Vorlesungen Kants bringen. Ihr
Leiter ist Heinze, Mitarbeiter sind Gedan, Heinze, Külpe, Menzer und
Stammler.
Bezüglich der Abgrenzung der Abteilungen gegen einander sind be-
stimmte Grundsätze befolgt worden, die Dilthey in seinem Vorwort mit-
teilt. In die Abteilung der Werke, die uns hier vor allem beschäftigt,
sind alle wissenschaftlichen Arbeiten Kants aufgenommen, „von den
kleinsten Joumalartikeln und den Beiträgen zu Schriften Anderer bis zu
den grossen Werken^, die von ihm selbst oder in seinem ausdrücklichen
Auftrag zum Druck befördert sind. Ausgeschlossen bleiben nach diesem
Princip einmal Veröffentlichungen Kants nichtwissenschaftlichen Inhalts,
also öffentliche Erklärungen und dergl. Sie findet der Leser, soweit sie
überhaupt aufgenommen sind, im Schlussband des Briefwechsels, dem schon
erschienenen Band XH der Ausgabe. Zweitens finden in die Abteilung
der Werke keine Aufnahme Aufsätze wissenschaftlichen Inhalts, die nicht
▼on Kant ausdrücklich zur Veröffentlichung bestimmt worden sind. Was
an solchen gefunden wurde, ist alles der Abteilung des schriftlichen Nach-
lasses überwiesen worden. Von den hierher gehörigen Arbeiten Kants
werden von Dilthey namentlich die Vorreden zur „Religion innerhalb der
Grenzen der reinen Vernunft' und die Einleitung zur Kritik der Urteils-
kraft, deren Manuscript vor einigen Jahren in Rostock aufgefunden ist,
genannt. So nahe diese Arbeiten formell und inhaltlich den Werken stehen,
so sind sie doch aus diesem Zusammenhang weggelassen worden, weil
ihnen die letzte Entschliessung Kants mangelt, sie zum Druck zu
bringen.
E. V. Aster,
Vor die schwierigste Aufgabe ist die Leitung der Aufgabe in ge-
wisser Weise mit der 4. Abteilung gestallt worden. Kant hatte sich be-
kanntlich noch selbst entschlossen, einzelne seiner Vorlesan^eu heraaszn-
geben. Die Anthropologie hat er 1798 noch selbst veröffentlic!it, die Vor-
lesungen über Logik, physische Geographie und Pädagogik aber seiDea
Schülern Jââche and Rink zur Bearbeitung übergeben. Sie erschieotjn
noch zu Kants Lebzeiten, in den Jahren 1800 bis 1803. Da diese Vor-
lesungen in KantÄ ausdrücklichem Auftrag veröffentlicht sind, so sind sie
gemäss dem obigen Priucip in die Abteikiug der Werke übeniomniei»
worden, wie sie auch in allen bisherigen Gesamtausgaben enthaltet*-
waren; mit der 4. Abteilung haben sie also nichts zn tun. Wa« hier ge— -
boten wird, ist das Ergebnis einer zusammenfassenden Über-
arbeitung von Nachschriften aus den Vorlesungen Kants^
die erfreulicherweise in grösserer Anzahl in die Hände der Kommission-
gelangt sind. Dabei erstreckt sich die Arbeit der Herau.sgeber auf alle er-
reichbaren Vorlesungen^ auch auf diejenigen Disciplinen, die schon in dej
Bearbeitung von Jftsche und Rink vorliegen»
NatfirUch liegt die Frage nahe, ob ein so erarbeitetes Bild dei
Vorlesungen denn noch als ein integrierender Bestandteil der Schriften
Kants ange-«ehen werden kann. Die Veröffentlichung seiner Vorlesungen
lag ja zweifellos in der Absicht Kants, er musste sie wtinschen, schon
den systematischen Abschluss und Zusammenhang seiner Gedanken w^eiterei
Kreisen zugänglich zu machen. Das zu seinen Lebzeiten Herausgekommeni
aber konnte dieser Absiclit nicht genügen, da Jäsche und Rink ihrer Aufgab
nicht gewachsen waren. Insofern kann die Herausgabe der 4. Abt^ilunj
in der That^ wie Dilthey es ausdrückt, dazu dienen, ^eine Intention Kantj
vollständiger zu verwirklichen, als ea unter den Umständen seiner letztei
Leben^ahre möglich gewesen ist," Indexen liegen die Schwierigkeiten
die dieser Verwirklichnug heute entgegenstehen, auf der Hand, Einma
ist das gesprochene Wort Kants von vom herein für uns nur in eineiBc:
Form vorhanden, die ihm die Auffassung Anderer gegeben hat Unc^
zweitens ist das Ergebnis des Ganzen, wie es in den letzten Bänden de^^c"
Anagabe niedergelegt sein soü, notwendigerweise sehr viel mehr von dent:^*^
persönlichen Urteil und der Auffassung der Herausgeber abhängig, als iw.m.
einer der früheren Abteilungen* Aus den verschiedenen Kollegheften solJ
etwa mit Zuhilfenalime handschriftlicher Notizen Kants natürlich ein m&^ —
liehst einheitliches Bild des Inhalts jener Vorlesungen entworfen werde» —
Dabei muss auf jeden Fall unter dem Gegebenen eine Auswald getroffeim ^
das dem Geiste Kants nicht Entsrprechende möglichst ausge8chi«?den werdeim -
Wie weit sonstige Verändenmgen sich als nötig erweisen, lässt sich vo«3
vom herein nicht tibersehen. Bei alledem aber wird es unmöglich sein»
den Fragen nach dem Sinn, dem Inhalt, kurz der Interpretation der Kant^
ischen Philosophie gegenüber eine so neutrale Stellung einzunehmen, wie
es die Herausgeber der Werke oder des Briefwechsels thun können. Die
Schwierigkeiten werden durch den ITmstand vermehrt, dass die Vorlesungen
Kants sich fast über den eranzen Zeitraum seiner wisse nschaftli eben Thätig^
keit erstrecken und daher alle Wandlungen seines Standpunkts mehr
Die Neue Kant-Ausgabe und ihr erster Band. 327
oder minder wiederspiegeln. Eine genaue Zeitbestimmung der aufgefun-
denen Nachschriften wird dadurch notwendig.
Trotz solcher MissstHnde und Bedenken hat man sich entschlossen,
die schwierige Aufgabe zu unternehmen und das Ergebnis der Kantaus-
gabe einzuverleiben. Der Grund mag zum Teil die Überlegung gewesen
sein, dass eine so günstige Gelegenheit, eine grössere Anzahl von Nach-
schriften zusammenzubringen, kaum einmal wiederkehrt. Ausschlaggebend
aber ist nach den Ausführungen Diltheys jedenfalls die Bücksicht auf den
sehr bedeutenden Wert gewesen, den die Kenntnis der Vorlesungen in
jedem Fall für das volle Verständnis der Lebensarbeit Kants besitzen
muss. Abgesehen davon, dass uns die Persönlichkeit des Philosophen durch
den Einblick in seine Lehrtliätigkeit in grössere Nähe gerückt wird, macht
Dilthey hier auf zwei Punkte aufmerksam. Einmal gewinnt das Studium
der Entwickelungsgeschichte Kants durch die Vorlesungen eine
breitere Grundlage — inwiefern, das brauche ich nach dem oben Gesagten
nicht näher auszuführen. Dabei ist natürlich der Umstand in Rechnung
zu setzen, dass der Standpunkt einer solchen Vorlesung nicht notwendig
mit dem gleichzeitig in innerer Gedankenarbeit erreichten zusammenfallen
muss. Und zweitens sollen die Vorlesungen dienen, „die Druckschriften
Kants zum Zusammenhang seines Systems zu ergänzen.^ Was
diesen letzten wichtigsten Punkt angeht, so scheint aus Diltheys Worten
hervorzugehen, dass hier die Arbeit der Herausgeber in der That nicht
vergeblich gewesen ist. — In Bezug auf das Vorgehen der Herausgeber
der Vorlesungen im Einzelnen und die bei der Überarbeitung der Hefte
im Allgemeinen befolgten Grundsätze und Gesichtspunkte wird eine „Ein-
leitung^ von dem Leiter der 4. Abteilung, Heinze, in Aussicht gestellt.
Ich gehe über zur Einrichtung der Abteilung der Werke, die uns
ja hier, da sie durch den 1, Band eröffnet wird, im Besondren beschäftigen
muss. Wie die erwähnte Einleitung am Schluss des Bandes erkennen lässt,
sind die einzelnen Schriften auf die angesetzten 9 Bände in folgender
Weise verteilt:
Bd. L Vorkritische Schriften I. 1747—1766.
Bd. n. Vorkritische Schriften II. 1767—1777.
Bd. ni. Kritik der reinen Vernunft 1787. (2. Aufl.)
Bd. IV. Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. bis: Von den Paralogismen
der reinen Vernunft incl.) 1781.
Prolegomena 1783.
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 1785.
Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenscliaft. 1786.
Bd. V. Kritik der praktischen Vernunft. 1788.
Kritik der Urteilskraft. 1790.
Bd. VI. Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft. 1793.
Die Metaphysik der Sitten. 1797.
Bd. VU Der Streit der Fakultäten. 1798.
Anthropologie in progmatischer Hinsicht. 1798.
Bd. VUL Abhandlungen nach 1781.
E. T. Aster,
Bd. IX. Vorlesiingen über Logik. 1800.
Physisebe Geographie. 1802.
Fidago^k. 1803.
Wie man sieht, ist — mit einer Aufnahme — die chronologiack
Eeihenfolge der Schriften beibehalten. Da dieselbe aocb für die Anord-
nung der vorkritischen Schriften in den beiden ersten Banden massgebend
ist, so wird die Ausgabe nicht umhin können, acu einigen noch immer nicht
ganz erledigten Streitfragen Stellung zu nehmen — ich denke «pecieU in
die Reihenfolge der kleinen Schriften Kants aus den Jahren 1763 64^ Es
ist kaum zu bezweifeln, dass wir auch in dieser Hinsicht von dem Er-
scheinen des n. Bandes endgiltige Klarheit erhoffen dürfen. Aujs prak-
tischen Granden ist man von der chronologischen Anordnung insofern ab-
gewichen, als die kleineren Abhandlungen Kants, die nach der I. Auflage
der Kritik der reinen Vernunft erschienen sind, von den kritischen Haupt-
werken getrennt und in einem besondren Band^ dem achten der Ausgabe-
vereinigt sind. In Bezug auf eben diesen Band ist zu bemerken, dass di&
beiden wenige Seiten umfassenden Aufsätze, die unter dem Titel „Über die
Schwärmerei und die Mittel dagegen** und ^Zu Sömmering. Über da»
Organ der Seele" in den bisherigen Gesamtausgaben zu den Werken ge-
stellt wurden, ihrem Ursprung gemäss unter die Briefe aufgenommen sind*
(Vergl. im XI, Band der Ausgabe S, 138 ff. den Brief an Borowski und.
Band XII, S. 31 ff. den Brief an Sömmering, bezw. die ^Beilage*^ desselben,>
Ganz fortgeblieben ist die Abhandlung von Beck „Über Philosophie Über-
haupt**, Diese Abhandlung war bekanntlich von Rosenkranz und Hartenstein^
aufgenommen worden, weil sie ein von Beck hergestellter Anazug aus
einem Kantischen Manuscript war. Da dieses Manuscript, die schon erwähnte
Einleitung zur Kritik der Urteilskraft, inzwischen in Rostock auigefunderm
ist und daher im handschriftlichen Nachlass erscheinen wird, war di^^
Becksche Schrift überflClssig. — Sehr erfreulich ist es endlich, dass mar^
dch entschloftsen hat, die beiden Auflagen der Kritik der reinen Vemunf 'Ä^
im Zusammenhang wiederzugeben. Die bisherige Methode, eine der Au^ —
lagen zu Grunde zu legen und die Abweichungen der andern unter ode:^
g&r im Text durch andern Druck kenntlich gemacht) hinzuzufügen, iat fd.:K'
den Leser äusserst verwirrend und macht den Vergleich der beiden Au^'-
lagen im Ganzen fast zur Unmöglichkeit, Im Interesse dieses Vergleicbs
ist es auch zu begrüssen, dass die beiden AuOagen auf verschiedene Band«
verteilt sind.
Von den Schwierigkeiten mannigfacher Art, mit denen die Heraus-
geber des Briefwechsels und des handschriftlichen Nachlasses in der Samm-
lung und Ordnung ihres Materials zu k&mpfen haben, ist schon gesprochen
worden. Aber auch die Abteilung der Werke ist von solchen Schwierig-
keiten nicht frei, insofern es sich um die Gewinnung eines einwandfreien
Textes handelt. Mit welch geringer Sorgfalt Kant selbst den Text seiner
Schriften behandelt hat* ist bekannt. Die Korrektur seiner grösseren
Schriften ist wahrscheinlich gar nicht von ihm selbst besorgt worden. Die
späteren Auflagen seiner Schriften sind zumeist unveränderte Abdrucke
der früheren, nicht selten nur durch neue Druckfehler von ihnen unter-
schieden. Vor nicht langer iSeit erst ist dies Verhältnis von B, Eid-
Die Neue Kant-Aus^be und ihr erster Band.
329
mann ffir die 3. imd 4, im Vergleich zur 2. Auflajere der Kritik
der reinen Vernunft festgestellt worden. Dadiirch werden dann die
i&hlreichen Kontroversen verständlich» die sidi namentlich um den
Teit der kritischen Hauptwerke entspönnen haben und deren Diskussion
kcineiweg» auf Fachleute beschränkt ^ebheben ist, die sicli mit der Her-
•OBf^be dieser oder jener Schrift beschäftigten — man denke an die
Kon-ekturen Schopenhauers znr Kritik der reinen Vernunft, Die Werke
der kritischen Periode sind in dieser Hinsicht bevorzugt worden, weil hei
ilinen die Fragen natürlich am brennendsten waren , aber an Unsicherheit
des Textes werden sie , wie man sich leicht denken kann , durch die vtir*
kritischen Schriften noch erheblich übertroffen. Ihr Dnick ist überhaupt
ßor einmal unter seiner Aufsicht vorgenommen worden, was später an
Sammlungen erschien, war zumeist unberechtigter Nachdruck, und an der
mit seiner Erlaubnis hergestellten ^ächten und vollständigen Ausgabe**
Kines Schülers Tieft run k hat Kant aller Wahrscheinlichkeit keinen direkten
AüteÜ genommen, zumal er von einer Neuauflage der vor 1770 erschienenen
Schriften eigentlich überhaupt nichts wissen wollte» Das Maximum der
Unsicherheit dilrftent ebenfalls leicht verständlich, die im 1. Band ent-
haltenen lateinischen Dissertationen erreichen.
Um in der Ermittlung eines authentischen Textes möglichst sicher zu
g^hen, sind die Heransgeber der Berliner Kantjiuggabe zunächst überall
^wUckgegangen auf die Originaldrucke (bezw, auf die ersten DnickCi
*enn es sich um Artikel in Zeitschriften oder in Werken Andrer handelte).
^Up far die Schrift „Gedanken bei dem frühzeitigen Ahleben des Herrn
•'öh. Fr. V. Funk» 1760 ist der Originaldruek nicht mehr auffindbar gewesen,
"^i den Schriften, die in mehreren Auflagen ei*schienen sind, hat man sich
^f^^h der letzten gerichtet, in der Änderungen enthalten sind, „die mit
°*<iberheit oder mindestens mit grosser Wahrscheinlichkeit auf Kant äu-
^^kgeführt werden können," Daher ist auch die 2, Auflage der Kritik
*^r reinen Vernunft vollstitndig und vor der 1, Auflage wiedergegeben.
Erwies sich eine Stelle des Textes als zweifellos komimpiert, so
JtlMte natürlich zu einer sinngemässen Verbesserung geschritten werden.
^C»e wurde vorgenommen ^auf önind einer Vergleichung der Lesarten etwa
^Oirhandener anderer Originaldrucke unter Hinzuziehung sachlicher Gesichts-
^*lnkt4î und mit der erforderlichen Berücksichtigung der für die Verbesserung
l^s Textes wertvollen neueren Ausgaben oder sonst veröffentlichter Erneu-
te tions vorschlage.** Die berücksichtigten Ausgaben werden in dem Nachwort,
las der Herausgeber der von ihm bearbeiteten Schrift hinzugefügt, ausdrücküch
genannt; für alle Schriften kommt die Rosenkranzsche und die 2, Ausgabe
t>n Hartenstein in Betracht. Eben diesem Nachwort ist dann ein Abschnitt
n^efügt, „Lesarten" überschrieben, in dem jede Abweichung des veröffent-
lebten Textes von dem tiberlieferten verzeichnet ist mit dem Namen ihres
Irheberg und wenn nötig, den Gründen, die den Anlass der Veränderung
lÜdeten. Auch findet der Leser hier die von andrer Seite gemachten
ferftBdernngsvorschläge angegeben, die die Akademie-Ausgabe nicht be-
blgt bat, ev. ebenfalls mit der entsprechenden Begründung. Interessant
»t die Beobnchtungr, dass die Ausß-ahe an verschiedenen Stellen gegenüber
Verändenmgen Hartensteins den nrsprÜugUchen K an tischen Text
E. V. Aster,
Haederhergestellt hat, — Mit welcher Sorgfalt die Heransgeber hier m\
Einzelnen zu Werke gpegangen sind, davon erliÄlt der Leser am b^skü
einen Befj-riff, wenn er sieb die erwÄhnten, in gedrängtester Kürze ^1
gebenen Referate über die verschiedenen Lesarten der im L Band e!»-|
schienenen Schriften näher ansieht. Namentlich die Anmerkungen vt«
Lflsswitz können in dieser Hinsicht als Muster dienen. Man kann wo!
annehmen^ dass luich für diese Anfff^be, die Herstellung eines möglichil"*
den Gedanken des Verfassers entsprechenden Textes, es sehr förderlich ge-
wesen inl, dass die Herausgeher eine dem Gegenstand der ihnen lug«-
wiesenen vSchriften entsprechende f a clnnlinnische Schulung hentzcn.
Im Besondren gilt das für die n a t ti r w i a s en s c li a f 1 1 i c h e n und n a tu r -
philosophischen Schriften, die den l.Band ja fast durchweg füllen. Die
Herausgeber sind hier Lasswitz und Eahts und zwar hat letz trer die
Schriften rein naturwissenscliaftlichcn Inhalts, LEtsswitz diejenigen meh^H
oder minder naturphiloROphijschen Inhalts übernommen, eine Verteilung, <l^^l
in jeder Beziehung erfreulich Lst. Nach den Mitteilungen der Einleitun^T
wix'd dasselbe Prinzip auch für die späteren Bände fe^'tgehalten werden ^
Einen besondren Abschnitt verlaugt die Behandlung der Sprach^s»
und dessen, was dazugehört, kurz, die philologische Redaktion der Werk^^
im engeren 8inn. Hier vor allen Dingen ist mit einer Gründlichkeit uncÄ
Umsicht gearbeitet worden^ die die Akademie-Ausgabe weit über «U^^
früheren Kantausgaben erhebt.
Die Aufgabe, vor die sich die Herausgeber in dieser Hinsicht
stellt sahen, war keineswegs eine leichte. Zunächst lässt sich leicht zeigei
dass ein blosser^ roher und tm korrigierter Abdruck des Originals mit allen
lauthchen und orthographischen Eigentümlichkeiten und dersehrwecliseindeit
Interpunktion eine viUlige Sinnlosigkeit wäre und dem Leser ganz unnütze
und störende Schwierigkeiten bereiten wftrde. Das ist auch von Rosen-
kränz» wie von Hartenstein in den Vorreden zu ihren Ausgaben ausdrud
lieh anerkannt worden. Vor allen Dingen würde eine solche „historisd
Treue* bei dem Mangel an einer sicheren Schreibweise zu jener Zeit, bei
der Willkür^ mit der jeder Verlag seine eigene Orthographie zu benutzen
pflegte und bei dem Fehlen grosser Kantischer Eeinschriften eine grosse
Anzahl von Inkorrektheiten erhalten, die rein zufällig sind und auf Kotitoj
des jeweiligen Setzers fallen. Damm hat sich auch keine Ausgabe :
moderner Zeit mit einem solchen blossen Abdnick begnügt, sondern ;
hat sich stets bemüht, hier zu glätten und auszugleichen^ um dem
allzugrosse Unbequemlichkeiten zu ersparen» Aber diese Veräudenin^n
von Rosenkranz und Hartenstein sind rein prinziplos und willkürlich vor-
genommen worden und der Erfolg war eine wnssenschaftlieh nicht ï^
rechtfertigende, nur nach einem vagen Gefühl für den Augenblick j^-
schaffene und melir oder minder weitgehende Modernisierung, Demgej^en-
über hat sich nun die Akademie- Ausgabe zum ersten Mal die Aufgab*
gestellt, in der Behandiung der Sprache nach einem bestimmten und
senschaftUch haltbaren Prinzip vorzugehen.
Vor allen Dingen wird im Gegensatz zu Hartenstein und seinen"
VorgÄngern und Nachfolgern derGnindsatz aufgestellt: ^Wir dürfen nicht
nach jeweiligem Gutdünken ein paar Störungen wegschaffen oder dem
,bei~
taen
grosse
beaaS
n inüfl
Die Neue Kant- Ausgabe und ihr erster Band. 331
yergänglichen Durchschnitt der Gegenwart anpassen, so dass Kants Werke
Yon Zeit zu Zeit umgeschrieben (ja übersetzt) würden, sondern sie müssen
. . . als Denkmäler eines Schriftstellers des 18. Jahrhunderts
volle Rücksicht auf seinen eigenen Brauch und die Gewohn-
heiten jener sprachlich erst halbvergangenen Zeit erfahren"
(S. 512). Das angestrebt« Ziel ist damit ein doppeltes. Einmal sollen die
Schriften Kants als solche des 18. Jahrhunderts kenntlich und charakte-
ristisch sein — jede Modernisierung, die nicht auf dieses Ziel Rücksicht
nimmt, ist verwerflich — und zweitens soll uns in ihnen der Schriftsteller
Kant als eine scharf umrissene und markierte Persönlichkeit entgegen-
treten. Mit Rücksicht auf diesen letzten und wichtigsten Zweck hätte
man auf den Gedanken kommen können, noch weiter zu gehen und je
nach der Abfassungszeit der einzelnen Schriften eine verschiedene Redak-
tion anzuwenden, um so einzelne Perioden in der Formbehandlung hervor-
treten zu lassen. Man hat dies unterlassen, wesentlich, weil die Über-
lieferung für die Unterscheidung solcher Perioden keinen sicheren Anhalt
gewährte. Dadurch ist zugleich eine einheitliche Redaktion ermöglicht
und der einheitliche Charakter des ganzen Werkes gewahrt worden, ein
Umstand, der auch im Interesse des philosophischen Lesers zu be-
grflssen ist.
Von solchen Gesichtspunkten geleitet, bezeichnen die Herausgeber
als £ndziel ihres Werkes eine Ausgabe der Kantischen Schriften in der
Form, wie sie etwa der Philosoph selbst in den 90er Jahren, also nach
Massgabe des Sprachgebrauchs, der sich damals nach dem Erscheinen der
kritischen Hauptwerke für ihn herausgebildet hatte, veranstaltet haben
würde. Die genaue philologische Durchforschung der Schriften und „losen
Blätter" aus jener Zeit hat gezeigt, dass hier „die Schwankungen verhält-
nismässig gering bleiben und eine wesentliche Annäherung oder Überein-
stinminng hervortritt, wenn wir sie mit dem heutigen Brauch vergleichen".
Es ist, wie man sieht, ein klar und sicher bezeichnetes Ziel, das den Her-
ausgebern vorschwebt und zwar ein Ziel, das im weitesten Mass den
philologisch-historischen Ansprüchen gerecht wird, ohne die philologische
Seite der Sache allzusehr in den Vordergrund treten zu lassen.
Die genannten Prinzipien sind vor allen Dingen streng durchgeführt
worden in Bezug auf die Behandlung der sprachlichen Formen; in dem
rein orthographischen und in der Festsetzung der Interpunktion, also in
den Punkten, die die Natur des Lautes unberührt lassen, ist man liberaler
vorgegangen, zumal sich in diesen Dingen ein fester Brauch der Kan-
tischen Schreibweise nur in wenigen Fällen herausgebildet hat. Die philo-
logische Revision der deutschen Schriften wird in diesem Sinn von Dr.
Ewald Frey in Berlin geleitet, der sich auf diese Thätigkeit durch um-
faaaende vergleichende Studien vorbereitet hat. Den Erläuterungen zu
den einzelnen Schriften pflegt Dr. Frey einen Abschnitt über Orthogra-
phie, Interpunktion und Sprache hinzuzufügen, der über die wichtigsten
Abweichungen vom Originaldruck berichtet und eine kurze Charakteristik
der Schrift nach der philologischen Seite giebt. Die Revision der latei-
nischen Schriften leitet Dr. Emil Thomas in Berlin.
Icîi erwähiite schon, das» am ScUuss jedes Bandes für die in ihm
verÖffenHichten Scliriften Kr I Un te run gen pregeben werden. Ab^-sebö
von dem Bericht des philologisehen Revisors enthalten diese ErlÄu te rang
3 Abschnitte ans der Feder des betreffenden Herausgebers: Eine Ein-
leitung, die den Leser kurz über Abfassungszeit und Schicksale der
Schrift, orientiert, das schon erwähnte Verzeichnis der Lesarten uûdt
zwischen beiden die eigenthch .sachlichen Erläuterungen**. Naclm
der Angabe der „Einleitung in die Abteihing der Werke^ sollen diete^
sachlichen Erläuierungen in erster Linie litterarisehe Nachweise bieterk,
wo Kaut Personen oder Schriften erwähnt. Doch fehlen auch sachhcli^i
Benierkujigen im engeren Sinn nicht. Die letzteren bilden in dem vc^H
liegenden Band eine schätzenswerte Beigabe, iusofern sie, ^ von NatnflB
Wissenschaftlern vom Fach verfasst —, über die von Kant verwandtÄrn
naturwissensehaftliclien Begriff e» den physikalischen Sinn und dieflerkoiLft
seiner Behauptungen in Kürze Auskunft geben.
Mit dem zuletzt Gesagten habe ich mich schon dem speziellea hv
halt des L Bandes genähert, dem nun noch im Zusammenhang eine kurw
Besprechung gewidmet sein soll Dabei muss ich natürlich darauf ver-
ziehten, die Arbeit der Herausgeher in BeKUg auf die Textrevision der
Schriften hier im Einzelnen zu würdigen. Dasselbe gilt von den voi^,
nommenen sprachlich-orthographischen Änderungen, Auch auf die genauei
philologisch© Charakteristik in den Berichten des germanistischen Mitjff'
beiters gehe ich hier nicht ein; wer sich aus germanistischem Interesse hier-
über zu unterrichten wünscht, wird doch die Auagabe selbst zur Hand
nehmen müssen.
Der Band enthält die Schriften von 1747—66, in derselben Reikn
folge, wie der L Band der Hartensteinschen Ausgabe. Den Anfang macU
natürlich die von Kurd Lasswitz herausgegebene Erstlingsschrift^
^Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte'
— Aus der Lasswitzscheii „Einleitung** zu der Schrift ist hervorzuheben
die genaue und sorgfältig zusammengestellte Geschiclite ihrer Abfassung.
Danach ist die Schrift im Jahre 1746 dem Dekan der philosophischen Fa-
kultât zur Zensur eingereicht und der Druck begouÄen worden, 1747 sind
ausser der Widmung an BohUus und der Vorrede die §§ 107 — 113a imd
151—156 (die Kritik des erst zur Ostermesse 1747 erschienenen Buches von
Musschenbroek „Grundlehren der Naturwissenschaft** enthaltend) einjare-
schoben worden und erst 1749 ist die Ausgabe des Buchen» erfolgt, {harten'
stein begnügt sich gerade mit Rücksicht auf das erwähnte Musschenbroek-
sche Buch damit, das Jahr 1747 als das des Erscheinens anzugeben*)
Die eigentlicli sachlichen Erläuterungen werden von Lasswitz aach
in den anderen von ihm herausgegebenen Schriften verliältnismäs^ig kmx
gehalten. Über die Herkunft des Problems und den Inhalt der in Betracht
kommenden Schriften von Descartes und Leibniz orientiert eine Anmerkung
S. 522, Was im Allgemeinen über den Wert der Schrift vom Standpunkt
der heutigen Naturwissenschaft aus zu sagen ist, wird gelegentlich — au-
lässlich der »,zu versichtlichen Voraussage* Kant«, dass der Streit um das
Die Keüe Kant-- Ausgabe and ihr erster Band.
Enftmasa durch sein Eintreten in die Kontroverse endgültig entschieden
werde, — in einer kurzen Notiz ausjareführt : Pilr die Mechanik sei der
Streit insofern gegenstandslos, als der Begriff der Kraft durch einen ana-
lytischen Ansdmck definiert werden miiss und es daher Sache der Benen-
tmiif ist, ob man die „Kraft** durch das Produkt m v oder m v* bemisst. Lass-
mtz fügt hinzu, für die Entscheidung der Frage werde eine sachliche
Grundlage gewonnen, wenn man über die analytische Mechanik hinaus-
^hend die Frage stelle, WT^lche von den so definierten Grössen in der
Natm- als Ganzem betrachtet sich erhalt« (bezw. in anderen Gebieten der
Physik sich äquivalent wiederfinde) und demnach für die Berufung der
Nsttinrorgänge als Ausgangspunkt dienen könne. Nennt man diese Grötse
.Kraft", so ist natürlich rav^ vorzuziehen. Kant selbst liegt natürlich im
Jahre 1747 eine solche Überlegung völlig fern, das ist jedenfalls aucb Lass-
witz' Meinung; am nächsten wttrde ihr vielleicht noch Leibniz kommen.
Es liegt der Einwand nahe, dass Anmerkungen solcher Art, zumal
iû der Kürze, mit der sie notwendiger Weise gegeben werden müssen,
^m der Physik Unkundigen scliwerlich viel Klarheit bringen werden,
Während sie dem Physiker nichts Neues sagen. Dennoch würde ich sie
iingem vermissen: Sie können dem Leser, speziell dem Laien, der einiges
physikalische Verständnis besitzt, viel Arbeit ersparen, wenn sie ihn, wie
es hier geschieht, ohne ihn mit Thatsachen überschütten zu wollen, in
knapper und korrekter Form auf den Standpunkt hinweisen, den der mo-
derne Physiker Kontroversen dieser Art gegenüber einnehmen muss.
Von den zahlreichen Anmerkungen, die Persönlichkeiten oder
Schriften betreffen, sei hingewiesen auf die Über Hamberger (S. Ô24)i die
auf die Entstehungsgeschichte der Kantischen Ansichten ein Streiflicht
wirft, und auf diejenige, die sich mit der Polemik gegen Hermann be-
schäftigt (S. 529). An der hier angezogenen Stelle hat Lasswitz einen
«innentsteilenden Druckfehler entfernt^ der im Original und in den früheren
Ausgaben enthalten war. Kant reproduziert (am Ende des § 129 im Hl.
Hauptfittick) den Gedankengang Hermanns, nach dem die lebendige Kraft,
die ein Körper besitzt, der die Zeit dt hindurch frei gefallen ist, gleich
denn Produkt seiner Masse M, der ihm innewohnenden Geschwindigkeit \i
und der im Zeitelement d t gewonnenen Geschwindigkeit g d t sei. Ais
Resultat der Überlegung ist von Kant die Formel d V = g M d t angegeben,
während es natürlich g M u d t heissen muas ; Hermann war es gerade da-
rum zu thun, dass die vorhandene Geschwindigkeit u. auch mit in Rech*
nun g gezogen werde.
Im §97 (IL Hauptstück), Seite 106 der Ausgabe, ist eine der Stellen
an denen Lasswitz zweifellos mit Recht einer Hartenstein seh en VerUnder-
ung gegenüber den uraprünghchen Kantischen Text wiederhergestellt hat.
Es handelt sich um die Beweisfilhnmg, durch die Leibniz in einem kon-
kreten Fall das Descartessche Kraftmass ad absurdum führen i^ill. Ein
Körper übtTtrage seine ganze durch den Fall ans bestimmter Höhe ge-
wonnene Kraft auf einen zweiten Körper von kleinerer Masse; ersetzt
man die ganze Übergehende Kraft durch die Grösse mv, wie Descartes es
will, so ist, wie Leibniz zeigt, die Vorrichtung als perpetimni mobile zu
verwenden. Kant sieht von seinem Standpunkt den springenden Punkt
334
E. V. A§ter,
der Widerlegung darin, dass eine immen^'Rhrende Bewegung, die dureh
eine bestimmte endliche Kraft erzengt ist, dem Grundsatz, dass die Wir-
kung der Ursaclie nicht an Energie tiberlegen sein darf^ widersprechen
würde. Er suclit daher xn zeigen, da8a die erzeugte unendliche Bewegung
nicht aus der endlichen Kraft des ersten Körpers allein, stmdem auch aus
der nnendliclien Kraft der Schwere herrührt, so dass jener Grundsatz nicht
in Anwendung kommen kann: „Es wird in Ansehung ihrer (der schein-
bar ohne entsprechende Ursache gewonnenen Kraft, d. Ref.) also das
grosse Gesetz der Mechanik effectus quilihet aequipollet viribus causae
plenae ohne Giltigkeit sein^ Der Satz ist durcliaus klar. Die Fassang
Hartensteins: „Es wird . . . das Gesetz der Mechanik , . . nicht ohne
Giltigkeit sein'*, besagt ja sachlich dasselbe, nur von einem andern Ge*
Sichtspunkt aus: Kant würde sich in ihr dagegen verwahren» dass das Ge-
setz in dem hetreffenden F^ll verletzt sei, während er in der authen*
tischen Fassung die Anwendbarkeit des Gesetzes verneint; aber die
Veränderung ist vi^llig unnötig. Ich habe den Fall hier angeführt, weil er
für die bisweilen mit erstaun hcher Willkür vorgenommenen Textander-
ungen selbst in der besten der vorliandenen Kantausgaben charakteristisch
ist. Ähnliches findet sich in derselben Schrift Seite M, Zeile 23 und 1S3,
M: der Akademieausgabe.
Die von Kant der Schrift mitgegebenen Figuren sind am Schluss
des Bandes auf zwei Tafeln vereinigt. Zur Erläuterung des von MuÄschen-
broek zum Zweck der Bestätigung der Leibniz'schen Ansichten ersonnenen
Expenmenta, das Kant im § 152 bespricht^ ist aus dem schon erwähnten
Buch Musschenbroeks eine Hgur den Kantischen Zeichnungen beigefügt
worden.
Auf die Erstlingsschrift folgen die beiden Aufsîlty.e in den ,,Kj>nig9-
b ergis eben Fi'ag- und Anzeigungsnachrichten'* aus dem Jahre 1764: „Unter-
suchung derFrage, ob die Erde in ihrer Umdreluing einige Ver»
änderung erlitten liabe^ und „Die Frage, ob die Erde veralte,
physikalisch erwogen.** Herausgeber ist Johannes Hahts»
Die von Rahts veranstalteten Ausgaben unterscheiden sich fast diu'ch-
weg von den Lasswitz'schen durch ein stärkeres Hervortreten der im eng-
sten Sinn sachlichen Anmerkungen. Djis hat zweifellos znm grossen Teil
in der Natur der Schriften selbst seinen Grund: Die von Rahts heraus-
gegebenen Schriften dürfen noch heute erheblich mehr rein sachliches
Interesse beanspruchen. Das wird auch von Rahts betont^ der an ver*
schiedeneii Stellen warm für die Bedeutung von Kants naturvvissenschaft-
lichcn Untersuchungen eintritt. Die meisten haben ja in Folge widriger
Umstände — man denke an die ^Allgemeine Naturgeschichte und Theorie
des Himmels** — lange nicht die ilmen zukommende Beachtung gefunden;
es wäre noch jetzt erfreuhcb, wenn die Akadeuiie-Ausgabe ihnen ein all-
gemeineres Interesse zuführen wurde. Das gilt nicht zuletzt auch von der
hier zuerst genannten Schrift, deren Verdienste von Rahts unter Hinweisen
auf einschlägige neuere Untersuchungen nachdrücklich hervorgehoben
werden.
Was die sachlichen Erläuterung:en im Einzelnen anlangt, so hat sich
Raht^ namentlich bestrebt, die Kantischen Rechnungen in Bezxig anf ihre
Die Neue Kant- Ausgabe und ihr erster Band,
33&
Hichtigkeit und ihre Voraussetzungen nachsmpritfen, Ansserdem aber kon-
frontiert er verschiefl entlich dus Gesaß-te mit modernen Anschauungen»
weist gegen Kant gerichtete Einwände, die auf ein allgemeines Interesse
Anspruch haben, zurück und sucht endlich an Stellen, die durch ihre Kürze
oder aus anderen Gründen Schwierigkeiten bieten, dem Verständnis des
lesers zu Hülfe zu kommen, Zu der ^Untersuchung, oh die Erde" n. s.w.
[findet sich eine längere Anmerkung dieser Art: Am Anfang der Arbeit
rgiebt Kant ohne weiteren Beweis an, die Kraft, mit der das Meer die
entg'egenstehenden Küsten drückt, sei {unt-er der Voraussetzung, das« die
Geschwindigkeit des Meeres 1 Fnss betrügt, als entgegenstehende Küste
aber die Ostküste von Amerika bis zu den beiden Polen verlängert angesetzt
iwerde) gleich dem Gewicht eines Wasserkörpers von der gleichen Fläche,
^\^rie sie die Küsten dem Meer bieten, und der Höhe — Fuss, R^hts hat
sich dadurch am den Leser ein schätzenswertes Verdienst erworben, dass
^r ftlr diese Bestimmung eine Ableitung auf elementar-malliematitichem
"WTeg-e gegeben hat, mit Hülfe des — Kant zweifelloK bekannten — Torri-
«sellischen Satzes ül>er die Aiiëflnssgesclnvindigkeiten von Flüssigkeiten
(v = «/2gh) - Bei dieser Gelegenheit ist ein Druck- oder Sehreihfehler
i^ der massgebenden Formel zu Tage getreten, der aus dem Originaldriiek
in alle späteren Ausgaben Übergegangen ist: An der betreffenden Stelle
Awird die Höhe des gedachten Wasserkörpers zu ^^^ Fuss angegeben»
ai
224
1
ftttrend sich aus Kants eigenen Prftmissen die Zahl J— ergiebt^ die auch,
124
^wie Habt« zeigt, den aus dem Prinzip weiterhin abgeleiteten Daten zu
Orunde gelegt ist. — Führt mau ferner die Rechnung durch, mit der Kant
clie Zeit bestimmt, in der die hemmende Wirkung der Flut die ganze
Krdbewegung aufheben würde, so stellt sich ein recht bedeutender Rechen-
fehler heraus — die Zeit beträgt bei der Berechnung auf Kantischer
Grundlage 200 Miilionen, nicht, wie er augiebt, 2 Millionen Jahre.
Kant hat sich bekanntlich der Frage nach den etwaigen Verände-
Tungen der Erdumdrehung zugewandt mit Rücksicht auf die von der
Berliner Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1764 gestallte Preis-
aufgübe. Auf diesen Punkt bezieht sich eine Stelle der Rahts'schen „Ein-
leitung**, deren Begründung ich nicht recht einzusçhen vermag. Es handelt
sich zunächst um eine Stelle der (im Anfang des nächsten Jahres 1755
erschienenen) ^Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels/'
^H Kant beschäftigt sich hier mit derselben Frage, ob es eine Ursache gebe,
^^V die die Umdrehung der Himmelskörper um ihre Axe zu vermindern ge-
W eignet sei, und fährt dann fort: „Ich verspare diese Auflösung zu einer
I anderen Gelegenheit, weil sie eine notwendige Verbindung mit derjenigen
L Aufgabe hat, die die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin
^^K mal das 1754. Jahr zum Preise aufgestellt hatte,** „ Hie m ach,** meint Rah tfi,
^^m ^heint Kant die Absicht gehabt zu haben, sich später noch eingehender
W mit der von der Akademie gestellten Präge zu beschäftigen. Ob Kant
1 diese Absicht ausgeführt hat, ist aus den uns erhaltenen Schriften nicht
L zu ersehen.*' Rahtä bezieht also Kants Worte auf eine für später geplante
E. V. Aster,
Schrift über dasselbe Thema. Ich sehe indessen nicht eiHr warum man
nicht mit diesem Aufsätze von 1764 in Verbindung bringen soll. Denn
die allgemeine Natorgeschichte ist zwar erst 175ô, also ein Jahr nach der
Preisschrift erschienen, darum braucht aber ihre Abfassung nicht so «^i
angesetzt zu werden. Im Gegenteil zeigt auch der Schluassatx der Schrift
von 1754: „Ich habe diesem Vorwurfe eine lange Reihe Betrachtungen
gewidmet und sie in einem System verbunden, welches unt«r dem Titel;
Kosmogonie , , . in kurzem öffentlich erscheinen wird," deutlich daraui*
hin, dass die allgemeine Naturgeschiclite im Manuskript schon fertig vor-
gelegen hat, als Kant seine Bemerkungen über die Preisfrage von !7W
niederschrieb. Er kann fth*o sehr wohl sich in dem später erschienenen
Werk auf die kurze Abhandlung als eine erst geplante beziehen. Neben-
bei gesagt zeigt eine Bemerkung in seinem „Kant'* (S. 132), das» Kono
Fischer Kants Äusserungen in diesem Sinn verstanden hat. Ich mu» |fr
stehen, dass mir diese Auffassung am natürlichsten erscheint.
Die nächste Schrift ist die ^,Allgemeine Naturgeschichte uad
Theorie des Himmels*', d ie einen sehr ausführlichen K o mmentar e^
halten hat. (Herausgeber: Rahts.)
Auch diese umfassendste naturwissenschaftiicbe Schrift ist bekannt-
lich nur in einer von Kant selbst besorgten Ausgabe erschienen^ deren
unerfreuliche Schicksale bekannt sind; sie werden auch in der „Einleiti
von Rahts kurz geschildert. Djigegen hat später der Magister Job. Friedf.
Gens ich en einen Auszug hergestellt und mit Kants Genehmigimg 1791
veröffentlicht. Das Manuskript zu diesem Auszug nun existiert noch und
ist von dem Besitzer (Geheimrat Hagen) für die Akademie-Ausgabe lur
Verfügung gesteOt, Wertvoll ist dasselbe vor allen Dingen, weil Kant,
dem Gensichen das Manuskript zur Durchsicht gegeben hatte, eigenhändig
Änderungen vorgenommen hat. Diese Bemerkungen Kants sind an der
betreffenden Stelle in den „Erläuterungen'' abgedruckt, ebenso wie aUe
Abweichungen des Auszugs vom Original, die Gensichen ausdrücklich aul
Kant selbst zurückführt. Ein grosser Teil dieser Änderungen ist dadorcii
besonders interessant, dass er auf die spätere Entwickelung von Kaatii
naturwissenschaftlichen Ansichten ein Licht wirfL In manchen Punkti
ist ein Wechsel in seinen kosmogonischen Anschauungen vorgeganj
Wie Rahts an einer Stelle bemerkt, ist es nicht u i wahrscheinlich,
dieser Wechsel durch das Bekanntwerden der im Jahr 1781 durch WilliAW
Herschel erfolgten Entdeckung des Planeten Uranus bedingt ist. So findet
sich am Ende des L Teüs im Original von 1755 die Vermutung aui^
sprochen^ es möchten sich zwischen Planeten und Kometen unseres Sonnen-
systems allmähliche Übergänge finden, so dass die Bahn der Planeten, j«
weiter ihr Abstand vom Zentndkörper ist, eine immer grössere Excentrii
tat zeigen würde. In der Handschrift zu dem Gensichenschen A'
findet sich eine ganz entsprechende Bemerkung, die jedoch in dem
druckten Auszug selbst, zweifellos auf Kants Initiative, gestrichen ist.
der That musste eine solche Vermutung rektifiziert werden^ nachdem sich
für den äuas ersten der damals bekannten Planeten eine der Krei&forni
näher stehende Bahn ergeben hatte. Dazu kommt eine zweite Ändemu^?
die sich auf die Entstehung des Satuniringes bezieht, Kant war 1775 auch
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Die Neue Eant'Ausgafae und ihr erster Band.
337
Mer von der angeblich früher kometischen Natur des Saturn ausgegangen
und hatte angenoramen, es sei die Bildung der Dünste, die seiner Theorie
zufolge den Satnmring darateUeo, während der nrsprtlüglicb kometenähn-
lich selir excentrischen Bewegung des Himmelskörpers durch die Wärme
Äur Zeit der grössten Sonnenhöhe erfolgt. Anstatt dessen heisst es bei
Oensichen, die Dunstentwickelung sei eingeleitet durch die im Innern des
Planeten selbst — in chemischen Vorgängen — erzeugte Wärme, mit der
ausdrücklichen Bemerkung des Verfassers, Kant habe in diesem Punkte
seine früheren Ansichten verlassen.
Im Gegensatz zu diesem Wechsel der Ansichten in einzelnen Punkten
I)e»chäftigen sich andere Zusätze Gensicheus mit Bestätigungen, die Kant«
Theorie durch spätere Beobachtungen und Berechnungen in manchen Dingen
gefunden hat. Von ihnen ist der wichtigste schon von Hartenstein in der
Kinleitung zum 1. Band seiner 2, Ausgabe abgedruckt worden. Endlich
bringt der Auszug „auf ausdrücklichen Wunsch Kants'* einige polemische
Bemerkungen gegen die später erschienenen Kosmogonien Anderer, be-
sonders Lamberts, hetont an einzelnen Stellen den Gegensatz, an anderen
die Priorität der Kaotischen Ansichten.
Mit grosser Gewissenhaftigkeit sind von Raht« die von Kant ge-
gebenen Rechnungen und Zahlen nachgeprüft und mit den später festge-
stellten Daten verglichen worden (Berechnung der Zeit, die der nächste
Fixstern zu einem Umlauf um die Sonne brauchen würde — des Verhält-
nisses der Erdmasse zur Gesamtmasse der Planeten — der Rotationszeit
des Satnm und seiner Ringe). Wo sich in der Rechnung Fehler heraua-
steOten, sind an den Zahlen im Text selbst natürlich nur dann Veränderungen
vorgenommen worden^ wenn nachweislich ein blosses Verschreiben oder ein
Druckfehler vorlag, bczw. mit grosser Wahrsclieinlichkeit zu vermuten
war. Auch der Frage nach der Herkunft der von Kant seinen Rechnungen
£U Grunde gelegten Daten ist Rahts näher getreten. So weist er nach,
dam Kant in seiner Berechnung der Umdrehungszeit des Saturn aller
Wfthrscheinlîchkeit nach auf den Angaben von Huygens in seinem „Kos-
motheoros*' fusst. In Bezug auf diesen Punkt hatte seinerzeit schon Gen-
sichen bemerkt, er habe sich vergeblich Mühe gegeben, den Ursprung der
betreffenden Zahlen in Erfahrung zu bringen.
Außfiihrlicliere sacMiche Anmerkungen finden sich endlich noch an
3 Stellen. In der ersten handelt es sich um den Ausgangspunkt für die
Entwicklung unseres Sonnensystems: Kant scheint im 1. Hauptstück des
2. Teils eine ruhende Masse als solchen anzusehen, was mechanisch nicht
möglich wäre, insofern die Summe der gleichförmigen Bewegungen nnserea
Planetensystems von vorn herein als im S3'^stem gegeben betrachtet werden
muss. Die Stelle, die von diesem Gesichtspunkt aus oft angegriffen worden
i«ît, wird von Rahts nicht auf unser Sonnensystem, sondern auf ein allge-
meines Massensjstem bezogen, von dem unsre Sonne mit iliren Planeten
nur als ein Teil zu denken wäre. Allerdings wäre auch in diesem Fall
die Äusserung zweideutig und miss verständlich. — Die zweite Anmerkung
betrifft die Frage: Wie kommt es, dass die Bewegung der Monde um die
Planeten in demselben Sinn erfolgt, w*ie der Umlauf der Planeten selbst?
Kant beantwortet die Frage (IL Teil, i. Hauptfitück) durch eine Theorie,
K««lrtiidl»D Dt, St
8S8
E. V. Aster,
die durch ihre knappe Fassung VerstÄndlichkeit und Klarheit vemiisseD
lässt. Daher ist die — 2 Seiten lange — anschauliche und mathematische
Erläuterung von Rahts hier sehr dankenswert. Die Zurtlckweifiung der
gegen Kaut gerichteten Einwände von Zöllner, Faye, Poincaré ist freilich
sehr kurz und für den, der die betreffenden Schriften nicht kennt, kaum
veretändliclh — Die dritte Anmerkung verteidigt Kant« Berechnung der
Entfernung de^ Saturnringes von seinem Planeten (bezw. da die Rechnung
allgemein gehalten ist^ eines beliebigen planetarischen Rings^ der nach den
von Kant entwickelten Prinzipien entstanden gedacht wird — D. Teil,
6. Hauptstück). Die von Kant benutzte Formel» die eine Beziehung
zwischen der gesuchten Entfernung einerseits^ dem Radius des betreffenden
Planeten, der IntensitÄt der Schwere an seiner Oberfläche und der Zentri-
fugalkraft an seinem Äquator enthält, wird von Ralits mathematisch be-
griindet (speziell mit Rücksicht auf die Einwände in der Ausgabe von
Oettingen (Ostwalds Klassiker)).
An 0. und 6. Steile folgt der lateinische Text der Doktordissertation
Über das Feuer (Meditationum quarundam de igne suceincta de-
li neat io, i765) und der Habilitationsschrift: Principioram primorum
cognitionis metaphysicae nova dilucidatio aus demselben Jahr.
Herausgeber beider Schriften ist Lasswitz. In der „Einleitung*^ werden die
entsprechenden Vermerke der Königsberger Fakultätsakten mitgeteilt,
aus denen der Termin der betreffenden feierlichen Handlungen hervorgeht
— des examen rigorosum am 17. April, der öffentlichen Dissertation zur
Aufnahme in die Fakultät am 27. September 1755. In den Anmerkungen
zu der ersten Schrift wird in sachlicher Beziehung nur kura auf das An-
fechtbare der den naturwissenschaftlich gebildeten Leser teilweis recht
sonderbar anmutenden mathematisch-mechanischen Ableitungen hingewiesen
und die Kontroverse zwischen Kant und Descartes in der Auffassung der
Flüssigkeiten den irreführenden Bemerkungen Kant« gegenüber richtig
gestellt; zahhreich sind die Nachweise von Personen und Schriften. Die
liguren sind, wie es in der von Kant selbst besorgten Ausgabe geschehen
war^ in den Text gedruckt, nichts wie bei Hartenstein, auf einer besonderen
Tafel am Schluss des Bandes vereinigt. Aus den Anmerkungen «a der
zweiten Schrift sei hingewiesen auf digenige über Orusius mit genauer
Angabe der in Betracht kommenden Stellen seiner Werke.
Es folgen die drei Schriften über das Erdbeben von Lissabon aus
dem Jahre 1756: Der Aufsatz in den „Koenigsbergischen Frag- und An-
zeigimgsnach richten" Von den Ursachen der Erderschütterungen
bei Gelegenheit des Unglücks, welches die westlichen Länder
von Europa gegen das Ende des vorigen Jahres betroffen hat,
die selbständige Schrift Geschichte und Naturbeschreibung der
merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens u. s. w. imd die Fort-
gesetzten Betrachtungen derseiteinigerZeitwahrgenommenen
Erderschütterungen, wiederum in den ^rag- und Anzeigungsnach-
richten**. In der „Einleitung** der 2, Schrift hebt der Herausgeber, Bahts,
hervor, dass Kant als erster die heut« allgemein als richtig anerkannte
Behauptung aufgestellt habe, die grosse Verbreitung des Erdbebens sei
doieh die Fortpflanzung der Erschütterungen im Meer bedingt worden.
I
I
I
Die Neue Kant-Ausgabe nnd ihr erster Band. 3SS
I Übrigen müsse man in Bezug auf diese Abhandlungen bedenken, dasa
! „vor Begründung einer wissenschaftlichen Geologie geschrieben worden
id**. Die Anmerkungen geben im Wesentlichen Schriften und Lebens-
ten der genannten Autoren.
Die Schrift Metaphysicae cum geometria iuuctae uaus in
lilosophia naturalis cuius specimen L continet monadologiam
lysicam , durch die sich Kant 1756 um den Lehrstuhl Knutzens bewarb,
von Lasswitz herausgegeben. Die nütabgedruckt^ Stelle der Fakultät«-
ten besagt, dass die Sclirift am 23, März dem Dekan zur Zensur einge-
cht worden ist und dass die Disputation^ der sie zu Grunde gelegt
irde, am 10. April stattfand.
Den Beschluss machen die Neuen Anmerkungen zur Erläute-
ng der Theorie der Winde 1756 (Herausgeber Rahts). Die Schrift
b5rt zu denen, deren natun^^issenschaftitche Bedeutung von Rahts be-
ider« hervorgehoben wird, einmal mit Bezug auf die Theorie der Passate
à Moussons, namentlich aber in Rücksicht au! die Erklärung des sog.
veschen Drehungsgesetzes der Winde, nach dem sich ein auf der nörd-
ben Halbkugel entstehender Nordwind über Ost nach Säden und Westen
;ht, durch die Erddrehung — eine Erklärung, die erst 80 Jahre später,
sie unabhängig von Kant durch Dove wiederholt wurde, zu allgemeiner
nntnis und Anerkennung 'gelangte. In diesem Zusammenhang sei auf
! Entfemang eines sinnentstellenden Druckfehlers durch den Heraus-
t>er hingewiesen: Da die Drehung der Erde von West nach Ost erfolgt,
I» ein vom Äquator zum Südpol wehender Wind zum Nordwestwindi
ht wie es im Original jedenfalls durch ein Versehen heisst und in die
Lteren Ausgaben übergegangen ist, zum Nordostwind werden. (Die betr.
?lle findet sich in dem zur V. Anmerkung gehörigen „Bestätigung durch
I Erfahrung" überschriebenen Abschnitt*)
Was die nicht ganz zu Übergehenden Äusserlichkeiten anlangt, so
bemerkt, dass der Band 585 Seiten umfasst, von denen B03 auf den
Huschen Text entfallen. Nicht verschwiegen soll es werden, dass die
rwendong deutscher Typen für den Druck vielfach etwas Befremden
egt hat. Die Anwendung der Antiqua-Lettern hätte wohl auch die
rbreitung der Ausgabe im Ausland erleichtert. Im Übrigen wird Nie-
nd bestreiten, dass die Ausstattung eine würdige und sweckent^
«chende ist.
Dass die neue Kantausgabe in der Beantwortung aller der Fragen,
1 den Text der Kantischen Schriften betreffen, im Wesentlichen das
Ete und entscheidende Wort zu sprechen hat, kann m. E. keinem
'eifel unterliegen. Da liegt denn die Frage nahe, ob etwas Ahnüchea
die Interpretation dieses Textes zutreffen wird. Die Fülle der Streit-
g^n und der Gegensatz der Meinungen ist bekannt. Wird die Ausgabe
ïh in diesem Punkte Wandel schaffen können? Dilthey drückt sich in
Der Vorrede sehr vorsichtig aus: „Der Streit, der heute unter den
ntforschem besteht und der sich von der Gesamtauffassung bis auf die
erpretation der Hauptbegriffe erstreckt, wird doch eingeschränkt, der
klang von sicherer geschieh tlicher Erkenntnis erweitert werden können,
22r
340
E. V. Aster,
wenn das Material wohlgeordnet und nach Möglichkeit chronologisch be-
stimmt vorliegt/
In der That ist es ja fraglos, dass die Herstellung eine« nach Mög^
lichkeit einwandfreien Textes für jede Kantinterpretation ein bedeutender
Vorteil und eine unerlässliche Vorbedingung sein muss. Aber es wird atidi
gut sein, sich auf der andern Seite vor Augen zu halten, das« die B^
nutzung eines so umfassenden Materials, wie es in den ganzen 25 Bänden
vorliegen wird, gewisse Schwierigkeiten und Gefahren für den Interpret-en
in sich schliessen muss. Vor allen Dingen durch die Ungleichmässigkeit
des Materials: Neben Gedanken^ deren Form und Ausdruck nach jeder
Richtung hin erwogen und gegen Missverständnisse sicher gestellt ist>
stehen Dinge — man denke an den handschriftlichen Nachlas» — deren
Formulierung vielleicht rein provisorisch und für den Augenblick herecbnet
ist. Solches Material kann m M. n, nur von dem nutzbringend verwertet
werden, der sich bereits in den Sinn der grundlegenden Probleme der
kritischen Philosophie in besondrem Maasse eingelebt hat. Nur das Vef>
stÄndnis der Probleme kann den Leitfaden in einer Masse solcher
Äusserungen und Bemerkungen abgeben, die unter allen Umständen an
Vieldeutigkeit leiten müssen. Sonst liegt die Gefahr nahe, dass die kri-
tischen Hauptwerke selbst für den Interpreten unter der Hand zu euier
Sammlung loser Blätter und die kritische Philosophie zu einem Mctsaik
un zusammenhängender Sätze würde anstatt eines durch bestimmt« Probleuie
geeinten Werkes. Mit alledem will ich nichts weiter sagen» als dass die
Benutzung eines solchen Materials an den Kantforscher eine gewaltigt
Aufgabe stellt. Und «-war eine Aufgabe, die gewiss nicht durch histo-
rischen Spürsinn allein zu lösen ist.
Aber gerade in diesem Zusammenhang liegt mir daran, wie zu Ad*
fang noch einmal darauf hinzuweisen, dass in der Gewinnung einer festen
Grundlage für die Kantinterpretation nicht das einzige und vielleicht nicht
das Hanptverdienst der Ausgabe liegt: Es wird nns eine Fülle von Mate-
rial für eine tiefgreifende Biographie Kants, für ein Verständnis seiner Persön-
lichkeit gegeben, sehr viel mehr, als dies von den bisherigen Ausgaben gesagt
werden kann. Und im Grunde giebt uns die Ausgabe anch mehr, als ein
blosses totes Material in dieser Hinsicht : In den Werken und Briefen IM
die PersiVnlichkeit Kants — zu der ja auch nicht zuletzt der Schriftsteller
Kant gehört — so klar und sicher herausgearbeitet, dass tlie Ausgabe
selbst biographischen Wert beanspruchen kann.
Der biographisch-historische Zusammenhang wird durch die Kant-
ausgabe geklärt. Aber eben dieser Zusammenhang ist nun wiedenmi für
ein tieferes philosophisches Verständnis die Vorbedingung. Ich meine
jetzt nicht dasjenige Verständnis, von dem ich vorhin sprach, das seine
Aufgabe darin sieht, das philosophische System als geschlossenen Begrtin-
dungszusammenhang wiedererstehen zu lassen, sondern da^emgCj das die
Lebensarbeit des Philosophen in ihrer Abhängigkeit von seiner Persönlich-
keit und der gesamten geschichthchen Lage begreifen wiU. Ich meine
das Verständnis, auf das Dilthey das bekannte Kantische Wort anwendet
von der Aufgabe, einen Autor besser zu verstehen, als er sich selber ver-
stand. Die Lösung dieser Aufgabe werden wir freilich einer späteren Zu-
i
Die Nene Kant-Ausgabe und ihr erster Band. 341
kunft überlassen mtlsseu. Der Gegenwart aber liegt es ob, für die Arbeit
dieser Zukunft die Bedingungen zu schaffen.
Dass die Berliner Eantausgabe in diesem Sinn ihre Früchte tragen
wird, dass die mühsame Arbeit mehrerer Jahre nicht vergeblich sein wird,
dflrfen wir mit Sicherheit erwarten. Diese Arbeit selbst ist freilich zum
Teil eine unterirdische, sie macht sich dem Leser wenig bemerkbar. Um
so mehr ist es Aufgabe des Referenten hervorzuheben, dass in dem Werk
das Ergebnis einer Arbeit steckt, die unsere ganze Hochachtung und
Dankbarkeit verdient.
Erklärung der vier Beilagen.
Von H. Vaihinger.
1. Gegenüber dem Titelblatt: Schatteuriss von Kant auf
einem Albumblatt. Diese kostbare Reliquie ist im Besitze des Herrn
Geh. Kirchenrates Professor D. Dr. Georg Heinrici an der Universit&t
Leipzig. Auf der Rückseite findet sich folgende handschriftliche Notis:
^Geschenk Kants an Pfarrer Stein in Juditt^n, dessen Sohn, Oberförster
Stein, durch das Blatt Konsistorialrat Heinrici in Gumbinnen erfreute."
Dessen Sohn, der obengenannte Professor Heinrici in Leipzig, hat uns
gütigst die Erlaubnis gegeben, das schöne Blatt bei dieser Gelegenheit
reproduzieren zu dürfen. Der Schatteuriss stammt aus Slants bester Zeit,
aus dem Jahre 1788, und giebt die charakteristischen Züge Kants in
wunderbarer Prägnanz wieder. Wie aus dem Schattenreich kehrt zu diesem
Tage, seinem hundertjährigen Todestage, Kants Schatten zu uns zurück,
in erhabener Grösse in die lebendige Wirklichkeit hineinragend. Ebenso
charakteristisch sind für Kant die öfters von ihm wiederholten Worte:
Quod petifi, in te est — ne te quaesiveris extra. In diesen Worten spricht
sich concentriert Kants ganze theoretische und praktische Weltanschauung
aus. Es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, dass die Abhandlung Ton
F. A. Schmid, „Kant im Spiegel seiner Briefe", welche einen Teil unseres
Festheftes bildet, gerade dieselben Lieblingsworte Kants heranzieht, um
seine Persönlichkeit zu kennzeichnen (vgl. oben S. 320). Aber die
Worte enthalten mehr: sie sind zugleich der tiefste Inhalt seiner Lehre.
Kein Wunder, dass Kant dieselben so oft wiederholt hat: aus der neuen
Kantausgabe der Berliner Akademie (Bd. XU, S. 440) erfahren wir, dass
der Spruch bis jetzt nicht weniger als achtmal als Eintrag in Stammbücher
nachgewiesen ist, zwischen den Jahren 1777 und 1792. Dazu tritt nun
dies bis jetzt unbekannt gebliebene Stammbuchblatt als neunter Fall
Der Kopf Kants auf diesem Stammbuchblatt ist so bedeutend,
dass wir denselben ohne das Beiwerk in vergrösserter Form einem der
nächsten Hefte beigeben werden, um seine monumentale Wirkung ganz
zur Geltung zu bringen.
Übrigens stammt der lateinische Spruch in dieser Form nicht un-
mittelbar aus Persius, sondern ist, wie mir Herr Professor Dr. Wissowa
hier mitteilt, eine willkürliche, prosodisch nicht formgerechte, und zugleich
den Inhalt etwas verändernde Zusammensetzung einer Persiusstelle mit
einer Horazstelle. Bei Horaz, Epist. I, 11, V. 29 Leisst es im Gegensatz
zu demjenigen, welche das Glück immer auswärts suchen : Quod petis, kic
Erklärung der vier Beilagen. 343
est. Und bei Persius, Satira I, V. 7 heisst es im Anschluss an die
avtâçxaa des Stoischen Weisen : nee te qiuiesiveris extra So ist also der
Spruch, wie er jetzt bei Kant selbst vorliegt, mehr als blosses Zitat ; er ist
zu einer eigenen Schöpfung des Philosophen selbst geworden.
2. Zwischen S. 208 und 209. Brustbild Kants, Original im
Städtischen Museum zu Königsberg. Über dieses merkwürdige Bild haben
schon K. Lubowski und G. Diestel in den „Kantstudien" im Band III,
S. 160-167 berichtet, nebst Nachtrag dazu im Band VI, S. 113 f. Das
Bild ist in Dresden aufgefunden worden, im Jahre 1896, und ist dann nach
schwierigen Verhandlungen von der Stadt Königsberg angekauft worden.
Über die Echtheit des Bildes ist jetzt kein Zweifel mehr. Walirscheinlich
ist das Bild von Elisabeth v. Stägemann gemalt („Kantstudien", III, 255,
vgl. mit VI, S. 113 , einer Königsbergerin, und persönlichen Verehrerin
Kants; das Bild ist in der Manier Anton Graffs gemalt, dessen Schülerin
die Malerin wohl gewesen ist. Unter den Kennern der Kantischen Bild-
nisse ist nur Eine Stimme über dieses Bild: es ist das geistvollste Bild
des grossen Philosophen, das geistig bedeutendste und eindrucksvollste.
Die „Kantstudien" brachten einen Abdruck des Bildes schon im III. Bande.
Da aber unterdessen Verleger und Abonnenten der „Kantstudien" ge-
wechselt haben, und auch vielfach der Wunsch laut geworden ist, das
Bild nochmals zu besitzen, so ist das Bild diesem Pestheft beigeheftet
worden. Einzeldrucke können durch die Verlagsbuchhandlung Reuther
& Reichard bezogen werden (à 1 Mk.).
3. Zwischen S. 320 und S. 321. Kants Wohnhaus, zugleich sein
Sterbehaus. Das kleine schmucklose und in seiner Einfachheit um so
mehr Eindruck machende Häuschen ist leider im Jahre 1893 dem Wachs-
tum der Grossstadt zum Opfer gebracht worden.
4. Die Beilage: Kant und Friedrich der Grosse am Schluss
des Heftes verdanken wir der Güte des Herrn John A. Leber in Berlin.
Herr Leber hat zu Kants hunderijährigem Todestage durch den Bildhauer
A. Heinrich eine Plakette herstellen lassen, durch welche er den Gedanken
plastisch verkörpern wollte, dass Kant und Friedrich der Grosse äusserlich
und innerlich zusammengehören. Herr Leber hat über dieses Thema auch
am 24. November 1900 einen Vortrag in der Philosophischen Gesellschaft
in Berlin gehalten, über den wir Bd. VI, H. 1, S. 114 berichtet haben.
Er hat auf der Plakette den schönen und treffenden Ausspruch von Kuno
Fischer anbringen lassen: „Seine Laufbahn als philosophischer
Schriftsteller und Lehrer von den ersten Anfängen bis zu den
Höhen seiner welterleuchtenden Werke gehört in die Zeit des
grossen Königs und bildet in dem Charakter derselben einen
der erhabensten und glorreichsten ZiXge^, Die Original-Plakette
hat die Masse 24^/g cm breit und 20 cm hoch; sie ist in Bronze gegossen
in der Bildgiesserei von H. Gladenbeck & Sohn in Friedrichshagen bei Berlin.
Liebhaber können Reproduktionen der Plakette in Bronze von letztge-
nannter Firma beziehen (zum Preise von 60 M.).
An die Freunde der Kantischen Philosophie.
Bericht über die Begründung einer ^Kantgcaellschaft*' und
die Errichtung einer ^Kantstiflung^
zum hundertjährigen Todestag des Philosophen.
Es lag nahe, den hundertjährigen Todestag des Philosophen nicht vor-
übergehen zu lassen, ohne ein dauerndes Andenken an denselben zu hinter-
lassen. Der Gedanke daran bewegte mich schon seit längerer Zeit, nahm aber
erst nach mancherlei Überlegungen und Verhandlungen mit Freunden und mit
massgebenden Persönlichkeiten in den letzten Wochen eine brauchbare Gestalt
an, d. h. eine solche Form, wie sie für den vorliegenden Fall die passendste
und geeignetste erscheinen musste.
Und so verfasste ich denn den folgenden Aufruf, den ich in seiner letzten
Redaktion hier zunächst reprodudere.
Aufruf.
Am 12. Februar 1904 werden es hundert Jahre, dass Kant, der
Begründer einer neuen Ära in der Philosophie, sein Leben voll-
endet hat. Zur Erinnerung an diesen Tag werden Bücher und
Festartikel in Hülle und Fülle erscheinen, werden akademische
Festreden gehalten werden, und auch die „Kantstudien* be-
reiten ein eigenes grösseres Festheft vor mit Beiträgen hervor-
ragender Autoren (Liebmann, Windelband, Riehl, Paulsen, Kühne-
mann u. A.).
Aber es wäre wünschenswert, dass dieser Tag nicht vorüber-
ginge, ohne ein dauerndes Andenken zu hinterlassen, das Zeugnis
ablegt von der Dankbarkeit, die wir dem grossen Genius der
Philosophie zollen.
Die „Kantstudien", die mit dem nächsten Heft, dem oben-
genannten Festheft, ihren 9. Band beginnen, haben an ihrem
Teil dazu beigetragen, diese dankbare Erinnerung an Kant lebendig
zu erhalten. Es kann ja an sich keine bessere Ehrung eines
An die Freunde der Eantischen Philosophie. 345
lilosophen gedacht werden, als dass eine eigene Zeitschrift aus-
iliesslich dazu dient, seine Ideen zu verbreiten, seine Lehren
diskutieren, seine Gedanken weiterzubilden.
Die , Kantstudien ** haben demgemäss auch in Deutschland
d im Ausland sich viele Freunde erworben. Aber die Zahl
r Abonnenten hat doch nicht dazu hingereicht, um sämtliche
>sten ganz zu decken, und so haben, speziell zur Ermög-
rliung der Heranziehung tüchtiger und hervorragender
itarbeiter, wohlhabende Freunde der „Kantstudien" schon
îhrfach namhafte Beiträge zu diesem Zweck gespendet. Spe-
îll haben sich die „Kantstudien" drei Jahre lang der Unter-
itzung des Professor Dr. Walter Simon, Stadtrat in Königsberg,
erfreuen gehabt.
Allein es ist wünschenswert, dass die Existenz der Zeitschrift
"ht auf solche günstige Zufälle gestellt bleibe, die nur persön-
hen Beziehungen des jetzigen Herausgebers verdankt werden,
n fester Fonds sollte vorhanden sein, der die Zeitschrift auf
hre hinaus sichert, auch ganz unabhängig von der Person des
erausgebers. In England und Amerika sind mehrfach gerade
lilosophische Zeitschriften in solcher Weise sicher fundiert
)rden.
Der Zuschuss, den die „Kantstudien" erfordern, betrug in
ri letzten Jahren durchschnittlich pro Jahr 500 — 600 Mark. Um
:sen Zuschuss für eine Reihe von Jahren hinaus zu sichern,
ilägt der unterzeichnete Herausgeber der „Kantstudien"
:h eingehender Beratung mit gleichgesinnten Freunden die
findung einer Kantgesellschaft vor, nach Analogie der
nd-Association (Gesellschaft zur Erhaltung der philosophischen
Itschrift „Mind") und ähnlicher Gesellschaften in Deutschland.
Die Gesellschaft wird gegründet zunächst zum Zweck der
Haltung und Förderung der „Kantstudien", und zwar, um die
iranziehung hervorragender Autoren und überhaupt die Be-
haff ung geeigneter Beiträge (z. B. auch die Reproduktion von
ntbildem) zu ermöglichen, sodann um auch sonstige das Stu-
im der Kantischen Philosophie überhaupt fördernde Zwecke zu
ilisieren, z. B. Veranstaltung von Preisausschreiben, Unterstützung
ssenschaftlicher Publikationen (speciell auch von Dissertationen),
rleihung von Ehrengaben an verdiente Kantforscher, speziell
ch von Stipendien an jüngere Gelehrte (Privatdozenten) Kan-
cher Richtung u. dgl.
846 H. Vaihinger,
Der Titel der «Kantstudien* erhält demgemass den Zusatz:
«mit Unterstätzung der Kantgesellschaft herausgegeben*.
Die Beiträge teilen sich in einmalige und in jahrliche.
Jährliche Beiträge: Wer regelmässig pro Jahr 20 Maik
zur Verfügung stellt, erhält die „Kantstudien" gratis und franko
zugesandt. Die Namen der Einsender dieser Jahresbeitilge
(Jahresmitglieder) werden in jedem Jahre in einer Liste
vereinigt und in den «Kantstudien" veröffentlicht
Einmalige Beiträge: Der durch diese Beitrage ent-
stehende Fonds erhält den Namen «Kantstiftung". Die
Spender solcher einmaligen Beiträge — Mindestbeitrag 25 Mark—
werden dadurch für immer Mitglieder der Gesellschaft (Daner-
. mitglieder). Wenn der einmalige Beitrag 400 Mark and
darüber beträgt, so erhält der Spender die «Kantstudien'
auf Lebenszeit gratis und franko zugesandt Die Namen
der Spender einmaliger Beiträge werden ebenfalls in den
«Kantstudien" regelmässig veröffentlicht Beiträge unter 25 Mirk
werden als Geschenke zur Kantstiftung betrachtet, ohne dass
deren Geber Stimmrecht in den Generalversammlungen haben.
Der durch diese einmaligen Beiträge entstehende Fonds
(«Kantstiftung*) soll zinsbar angelegt werden. Die Zinsen sollen
zu den obengenannten Zwecken Verwendung finden; das Kapital
selbst ist unangreifbar und dieses Stiftungskapital wird dem
Curator der Universität Halle zur Verwahrung und Ver-
waltung übergeben.
Beide Formen des Beitrittes sind auch vereinbar, indem
eine und dieselbe Person neben einem einmaligen Beitrag zu-
gleich regelmässige Jahresbeiträge leisten kann.
Die Verwendung der Beiträge resp. Erträge ist Aufgabe der
Redaktion der „ Kantstudien **; die Redaktion untersteht in dieser
Hinsicht der Aufsicht eines aus 3 Mitgliedern bestehenden Ver-
waltungsausschusses ; ständiges Mitglied dieses Ausschusses ist der
Curator der Universität Halle; die beiden anderen Mitglieder
des Ausschusses werden von der Generalversammlung gewählt,
welche jedes Jahre am 12. Februar, dem Todestage Kants, in
Halle zusammentritt. Die erstmalige Generalversammlung findet
in diesem Jahr am Freitag, den 22. April (Kants Geburtstag),
Abends 6 Uhr, Reichardtstrasse 15» statt. .
An die Freunde der Kantischen Philosophie. 347
Eine Obersicht der Einnahmen und Ausgaben wird einmal
jährlich in den „Kantstudien" abgedruckt.
Sollten die „Kantstudien" eingehen, so wird die „Kantstiftung**
Eigentum der Universität Königsberg mit der Bestimmung,
^^ss das Kapital erhalten bleibt und dessen Zinsen zur
'Förderung des Studiums der Kantischen Philosophie verwendet
^^rden.
Beiträge werden entweder an den Unterzeichneten oder an
^as Bankhaus H. F. Lehmann in Halle a. S. erbeten.*)
samtliche Beiträge, sowohl die jährlichen als die einmaligen,
^Verden in dem zum 12. Februar 1904 erscheinenden Festheft
namentlich veröffentlicht. Diese Liste, nebst einem in demselben
F'estheft zum erstenmal mitgeteilten Kantbildnis (mit Facsimile
Kants) wird den Zeichnern von Beiträgen zugesendet werden.
Von dem umfangreichen Festheft selbst wird eine grössere An-
zahl von Separatabdrücken in besonderer Ausstattung hergestellt
v^erden, so dass dasselbe voraussichtlich allen Zeichnern eines
einmaligen grösseren Beitrages zur „Kantstiftung" überreicht
'werden kann.
Der Unterzeichnete, welcher selbstverständlich seine Zeit und
Kraft der Zeitschrift, für die er selbst schon namhafte pecuniäre
Opfer gebracht hat, ohne jede Entschädigung widmet und widmen
wird, eröffnet die Sammlung, indem er selbst einen einmaligen
Beitrag von 300 Mark zeichnet.
Obgleich dieser Aufnif erst ziemlich spät verschickt werden konnte und
obgleich diese Versendung wegen schwerer körperlicher Indisposition des Ver-
fassers des Aufrufes bis jetzt nur ganz unsystematisch geschehen konnte, so
hat der Aufm! doch einen ausgezeichneten Erfolg gehabt. Bis heute (27. Jan.)
sind folgende Personen der Gesellschaft beigetreten (die Aufzählung erfolgt nach
der chronologischen Reihenfolge der Beitrittserklärung):
*) Beiträge aus den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika werden erbeten
an die Adresse des amerikanischen Mitherausgebers der .Kantstudien', Professor
J. E. Creighton, Ithaca, N. Y.
348
dvreli ell
H. Vaihinger,
A. BMienttitglleder
ifUigen Beitrag rar »»KMiteUilVBg^.
New
York
Professor Dr. H. Vaihinger, Halle
Oeh. Reg. Rath Gottfried Meyer, Curator der Univeisitit Halle
Professor Dr. Walter Simon, Stadtrat in Königsberg i. Pr.
Professor Dr. Fr. Paulsen, Berlin ....
Oeh. Rath Professor Dr. Heinze, Leipzig
Geh. Reg. Rath Professor Dr. Dilthey, Berlin .
Oeh. Hoirath Professor Dr. O. Liebmann, Jena
Geh. Reg. Rath Professor Dr. Bergmann, Marburg
Hofrath Professor Dr. A. Rie hi, f&le
Professor Dr. Alfred Weber, Strassburg .
Professor Dr. K. Groos, Giessen
Bibliotheksdirektor Dr. Gerhard, Halle
Privatdozent Dr. Max Scheler, Jena
Privatdozent Dr. Bauch, Halle .
Ungenannt S
Reuther & Reichard, Verlag der .Kantstudien', Berlin
Advocat J. A. Levy, Amsterdam
Ungenannter Hallenser ....
Geh. Kommerzienrath R. Riedel, Halle .
Geh. Kommerzienrath H. Lehmann, Halle
Geh. Kommerzienrath A. Dehne, Halle
Fabrikbesitzer Ernst Weise, Halle .
J. G. Schurman, Präsident der Cornell University, Ithaca,
Rentier H. Vorländer, Dresden . . , .
Rentier John A. Leber, Berlin ....
M. Fessel, Rédacteur, Halberstadt ....
W. Do eile, Buchdruckereibesitzer, Halberstadt
Fräulein B. Grabe, Freiburg i. B. .
Professor Dr. R. Friedberg, Mitgl. d. Preuss. Landtages, Halle-Berlin
Dr. phil. h. c. E rn s t V o 11 e r t, Mitinh. d. Weidmann'schen Buchhdlg., Berlin
Baumeister F. Kuhnt, Fabrikbesitzer, Halle
Dr. Arthur Pfungst, Frankfurt a. M.
Professor Dr. Simmel, Berlin
Rektor Dr. Rausch, Mitdirektor der Franckeschen Stiftungen, Halle
Privatdozent Dr. Fritz Medicus, Halle
Professor D. Dr. Baumgarten, z. Z. Rektor der Universität Kiel .
Professor Dr. Götz Martius, Kiel
Ethical Society. New York (Professor Dr. F. Adler) .
Verlagsbuchhändler August Scher], Berlin
Ungenannt M
Privatdozent Dr. Raoul Richter, Leipzig
Professor Dr. E. v. Lippmann, Direktor der Zuckerraffbierie, Halle
Professor Dr. Güttier, München
Professor Dr. E Kühnemann, Rektor der K. Akademie, Posen
M. Rödiger, Direktor der Halleschen Maschinenfabrik
Dr. Friedrich Alfred Schmid, Freiburg i. B.-Berlin .
Konsul B. Brons jr., Emden
Verlagsbuchhändler Herniann Schroedel, Halle . . .
M 300
50
1000
400
100
100
100
100
120
100
100
60
00
300
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100
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100
500
500
500
100
00
100
30
30
25
200
400
1000
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30
25
25
50
400
400
100
30
100
100
100
50
25
30
400
50
Hierzu Geschenk von Banquier S. Hirschmann, Arnstadt
Summa M. 9175
. . 10
Gesamtsumma M. 9185
An die Freunde der Eantischen Philosophie. 349
B. Jaliretiiiltglleder.
Professor Dr. A. Lasson, Berlin-Friedenau.
Professor Dr. P. Deussen, Kiel.
Professor Dr. Dessoir, Berlin.
Professor Dr. Theobald Ziegler, Strassburg i. E.
Professor Dr. Clemens Bäumker, Strassburg i. E.
Dr. Hugo Renner, Berlin.
Dr. W. Reinecke, Magdeburg.
Dr. Br. Christiansen, Freiburg i. B.
Amtsrichter Arthur Warda, Schippenbeil i. Ostpr.
Pastor prim. Dr. Katzer, Löbau i. S.
Dr. med. Iwan Bloch, Berlin.
Stud. jur. et cam. G. A. E. Bogeng, Berlin.
Dr. med. Hermann Gutzmann, Berlin.
Schriftsteller Emil Lucka, Wien.
Hauptmann a. D. Franz Schraube, Halberstadt.
Dr. P. H. Ritter, Amsterdam.
Schriftsteller Karl Fr. Pfau, Verlagsbuchhändler, Leipzig.
Diakonus Drey er, Camburg a. S.
Stud. phil. Felix Kuberka, Halle a. S.
Paulusbibliothek in Worms (Direktor Prof. Dr. Weckerling).
Cand. phil. Jacob Herz, Wien.
Kommerzienrath Dr. jur. W. Simon, Berlin.
Walter B. Waterman, Roxbury (Mass.) U. S. A.
Dr. jur. J. Sa eke r, Odessa.
Verlajgsbuchhändler Johannes Fr. Dürr, Leipzig.
Lie. Dr. E. Vo wink el, Mettmann (Rheinl.)
Cand. phil. Georg Küspert, München.
Frau Direktor Julie Rödiger geb. Jaeger, Halle a. S.
Professor Dr. Levy -Brühl, Paris.
Stud. phiL Ferdinand Harnisch, Halle.
Geh. Kommerzienrath R. Riedel, Halle
Dr. phil. h. c. E. V 0 1 1 e r t , Veriagsbuchhändler, Beriin
Advokat J. A. Levy, Amsterdam
Professor Dr. E. v. Lippmann, Halle
Gleichzeitig
Dauer-
mitglieder.
Es ist möglich, dass der Jahresbeitrag (20 M.) für die folgenden Jahre
herabgesetzt werden kann, wenn die Kantstiftung, welche bis jetzt die ansehn-
liche Höhe von 9185 Mk. erreicht hat, weiterhin noch eine erhebliche Steigerung
findet Damit der Zweck der .Kantstiftung" — dauernde finanzielle Fundierung
der .Kantstudien' — in vollem Masse für alle Zeiten erreicht werden kann,
sollte dieselbe mindestens verdoppelt, d. h. auf eine Höhe von 15—20,000 Mk.
gebracht werden.
Es können dann auch die anderen Zwecke, welche sich die Gesellschaft
gestellt hat — Stellung von Preisaufgaben, Unterstützung anderer wissenschaft-
licher Unternehmungen, Ehrengaben an verdiente Kantforscher, Stipendien an
jüngere Gelehrte und Privatdozenten, u. A. — um so eher aus den laufenden
Beiträgen der Jahresmitglieder realisiert werden, je höher die .Kantstiftung"
dotiert ist, sodass sie allein schon zur finanziellen Fundierung der .Kantstudien'
genügt
Alle Freunde der Kantischen Philosophie sollten zusammenwirken, um
dies verhältnismässig leicht realisierbare Ziel zu erreichen. Denn es giebt, wie
die Liste der einmaligen Beiträge zeigt, Personen genug, welche sich eine Ehre
350 H. Vaihinger, An die Freunde der Kantiscben Philosophie.
und Freude daraus machen, ein ideales wissenschaftliches Unternehmen zu
stützen. Allen obenaufgezählten Teilnehmern — Dauer- und Jahresmitgliedem
— spreche ich im Namen dar Sache, um die es sich handelt, den wännsten
Dank aus, und bitte Alle, weitere Dauer- und Jahresmitglieder zu werben und
dahin zu wirken, dass bis zum 22. April (Kants Geburtstag), an dem die kon-
stituierende Versammlung abgehalten werden soll, das obengenannte Ziel er-
reicht wird.
Halle a. S., 27. Januar 1904.
BtlohardtitrMM 15.
Professor Dr. H. Vaihingen
rftfhi«Mra»ktr«S CA.SM—«e^O».HalUtPi
â
i
Luther und Kant.
Von Bruno Bauch.
Motto: nWer kann aftgen, wie aich die religiÖM
Organisation Dentschlaada gestaltet hitte,
wenn ihm damala (d. b. im Zeitalter der Re-
formation) dat Sohiciual ein pbiloaopblaohe«
Oexüe wirkUob bescbeert bitte ?<"
Windelband.
Einleitung.
„Ein Philosoph vermag die Mittel aufzutreiben, um die Dogmen
der griechischen Kirche tiefsinnig und weise zu finden ; kein Philo-
soph aber ist im Stande, dem Glauben Luthers irgend welchen
Geschmack abzugewinnen." Kein Geringerer als Harnack ist es,
von dem dieser Ausspruch stammt.^) Und doch wird ihm vielleicht
kein Pliilosoph uneingeschränkt hierin beistimmen. Unsere eigene
Untersuchung ist zum grossen Teil in letzter Linie — bald expli-
zite, bald implizite — nichts anderes, als eine Betrachtung des
Glaubens Luthers unter philosophischem Gesichtspunkte. Und für
diesen erweist er sich doch nicht von der Art, dass man an ihm
gar keinen Geschmack finden könnte. Gewiss, dieser oder jener
Glaubenssatz wird den Philosophen geschmacklos, ja unvernünftig,
nicht bloss unphilosophisch erscheinen. Wenn Harnack das so
meinte, wäre ihm nicht zu widersprechen. Wenn man aber auf
die Totalität, die Idee von Luthers Glauben sieht, mit ihrer ganzen
Fülle und Tragweite, so wird doch auch dem Philosophen eine ge-
wisse Bedeutsamkeit nicht verborgen bleiben.
Unsere Untersuchung ist also sowohl eine einseitige, insofern
wir Luthers Glauben mit seiner Bedeutung und Tragweite nur
Vom philosophischen Standpunkte betrachten; als auch ist sie eine
vielseitige, weil es uns auf kein einzelnes Glaubensstück, keinen
bestimmten Glauoenssatz, sondern auf die Totalität, die Idee des
Glaubens ankouimt.
Î) Dogmengescbicht« III. Bd. S. 787.
Kaatatodien IX. 23
352 B. Banch,
Ganz davon abgesehen, dass man Luther biographisch, od»
vom theologischen, auch politischen G^chtspunkte zu betrachten
vermöchte, könnten sich schliesslich für jede dieser übergeordneten
Betrachtungsweisen noch weitere untergeordnete Gesichtspunkte
ergeben. Wir haben hier nur einen Gesichtspunkt vor. Das ist
der des philosophischen Wertes von Luthers Glauben und dessen
Tragweite. Für Harnack ist der übergeordnete Gesichtspunkt
fraglos der theologische. Und doch spaltet er sich für den Theo-
logen nach drei historischen Momenten, und so stellt er schliesslich
die drei Betrachtungsweisen dar : „Das Christentum Luthers**, ,.die
Kritik Luthers an der herrschenden kirchlichen Oberlieferung nnd
am Dogma^ und „die von Luther neben und in seinem Christen-
tume festgehaltenen katholischen Elemente''.^)
Schliesslich lässt sich aber auch unsere philosophische Frage-
stellung historisch wenden. Wir können sie nämlich auch dahin
formulieren : Was dürfen wir heute noch, ja allezeit, an phUoso-
phischem Massstabe gemessen, von Luthers Glaubensweise for
wertvoll halten? und so zeigt sich, dass der hier vorliegrade
Versuch nichts weiter sein will, als gleichsam eine philosophische
Ergänzung zu Hamacks drei Gesichtspunkten. Dabei kann àA
auch kein prinzipieller Gegensatz zu dem Führer der modernen
Theologie ergeben, weil unsere Betrachtungsweise auf einem an-
deren Boden und in anderer Richtung verläuft. Sie macht nicht
den Anspruch, theologisch von Bedeutung zu sein, wenn sie auch
für den Theologen nicht ganz ohne Interesse sein dürfte, indem
sie aus dem theologisch- Wesentlichen, das z. B. gerade die drei
erwähnten Gesichtspunkte Hamacks bieten, das lediglich phüoso-
phisch-W^esentliche herausschält. Dieses wird sich zwar innerhalb
der Fülle der Gesamtauschauung Luthers als Antithese zu dem
dritten Gesichtspunkte Harnacks auffassen lassen, und doch keinen
Widerspruch dagegen bedeuten, dass dessen drei Betrachtungs-
weisen überhaupt zu Recht bestehen.
Damit sind unserem Probleme von vornherein gewisse Grenzen
gesetzt. Wir machen keineswegs den Anspruch, die historische
Lutherforschuug auch nur im mindesten zu bereichern, sondern
suchen nur aus dem bereits mehr oder minder Bekannten das phi-
losophisch Bedeutsame herauszuarbeiten. Und wenn wir daTon,
in einer historischen Wendung, als dem heute noch Giltigen
1) a. a. O. S. 736-807.
Luther und Kant. 353
sprachen, so legten wir eben doch nicht einen rein historischen,
sondern zugleich auch philosophischen, nur historisch gewandten
Wertgesichtspunkt an. Dass wir das philosophisch Bedeutsame
in seinem Werte, trotzdem wir Luther nicht zum Philosophen
stempeln wollen, nicht gering anschlagen, das mag daraus hervor-
gehen, dass wir sagen, man könnte ihn als Vorläufer Kants be-
trachten. Dazu aber müssen wir auch noch kurz skizzieren,
erstens in welchem Sinne wir überhaupt den Begriff der Vor-
läuferschaft brauchen, und zweitens, in welchem Umfange wir
Luther als Vorläufer Kants gelten lassen.
Wie sehr Kant überall originell ist und auf eigenen Füssen
steht, weiss jeder, dem die Geschichte der Philosophie nicht ganz
fremd ist. Und gerade die historische Forschung hat von dem
Wenigen, von dem man anfänglich die Kantische Lehre beeinflusst
glaubte, noch das Meiste in Abzug gebracht. Man hat fast nach
jeder Richtung hin Kantische Vorläuferschaften abgelehnt, und
heute glaubt man eigentlich nur noch au die von Kant selbst so
sehr betonte Abhängigkeit von Hume. Selbst der lang gehegte
Glaube, dass Lambert ein Vorläufer Kants gewesen, ist durch die
scharfsinnigen Untersuchungen von Otto Baensch ^) jüngst zerstört
worden. Um so bedenklicher scheint es, hier Luther, von dem
man weiss, wie sehr er die Philosophie gescholten, als einen neuen
Vorläufer Kants hinzustellen. Nun in dem Sinne, in dem man
Home als Vorläufer Kants fassen muss und Lambert lange Zeit
gefasst hat, nehmen wir in diesem Falle den Begriff auch nicht.
Wir meinen gar nicht, dass Luther unmittelbar oder mittelbar
einen bestimmenden, Richtung gebenden Einfluss auf Kant ausge-
übt habe. Daher braucht auch erst Niemand gegen uns nachzu-
weisen, Luther liesse sich — so ungeheuer bedeutsam sein Er-
scheinen für die Geschichte der Menschheit überhaupt auch sei —
ioch aus dem engeren Rahmen der Geschichte der kritischen Phi-
losophie wegdenken, ohne dass deren Entwickelung auch nur im
mindesten alteriert würde. 2)
^) Jobann Heinrich Lamberts Phüosophie und seine Stellung zu Kant.
Von Dr. Otto Baensch. Tübingen und Leipzig.
^ Dass man damit nun doch gegen die allgemein -historischen
Zusammenhänge etwas rücksichtslos verführe, wird andererseits wohl
Niemand leugnen. Aber wir woUen die Geschichte hier nicht einmal
rekonstruieren.
23*
354
B. Baach,
Will man also unter dem Vorläufer eines Denkers nur den-
jenigen verstehen, der auf ihn einen tiefgi^ifendeu Einfhiss gehabt,
seine Wissenschaft liciien Anschaiuingt^ii in dieser oder jener Rich-
tung nachdiiicksvoll biistinnni hat, dann dürfen wir Luther keinen
Vorläufer Kants ueiineiK
Es giebt aber noch ein Verhaltids zwischen historischen Per-
sunlichkeiten, das diese Benennung rechtfertigen dürfte. In der
Geschichte des menschlichen Geistes konnnt es vor, dass Ideeu
keimhaft zur Änsseruüg gelangen, die Jahrhnnd^'rte nachher ihre ^^^
scharfe, kritische Pnignng erhalten und volleruls begrifflich syste — -^ag
nmtisch ausgestaltet werden, ohne nachweisbare Verbindung beider^Ä"^;^
historiseht>r Pole. So hat auch Luther Wahrheiten ausgesprochen^ m^mu
die Kantische Ideen (entweder kciiidiaft enthalten, oder solche sogaML-^äsaJ
mit zleudicher Dentlichkeit darstellen. Nur sind sie auch im zweiter»^ -fqbi
Falle nicht systematisch entwickelt und verarbeitet, oder gar wirk ^^Ä'-k
lieh in ein vollendetes System gebracht. In diesem sozusagen po<z^'«3€
sitivistischen Siinie, in dem es uns gleichviel gilt, oh Kant nach^ J^^b
weishch unter I^uthers Einfluss gestanden und Anregungen voi:<::^"0l
ihm, unmittelbar oder mittelbar, empfangen hat, oder nicht, woller-^^-e
wir ihn als Vorläufer Kants verstehen. Will man ein Aoalogor <::»'T<ï
ans dem Gebiete der Geistesgeschichte sonst^ so scheint mir di î M^
Geschichte der Astronomie das passendste zu liefern. Man denk:3rf äI
an Aristarch und Kopernikus. So, glaube ich, wird man uns nichrJ.:SBl
missvei'stehen ; eher wird man sagen, dass wir zu wenig als zu vi(^ ir^
Einfluss statuieren, da nun doch die historische Kontinuität zwische^^^ ^<ä
Luther und Kant eine innigere ist, wie die zwischen Aristarch uujr^-«ii
Kopernikus. Wir wollen also nm- behaupten, dass man in deia^^ öi
Sinne und mindestens mit demselben Recht wird Luther eine^^^«^e
Vorläufer Kants nennen dürfen, wie etwa den Aristarch einen Vor<i»'oi
lauf er des Kopernikus.^)
Nun haben wir noch den Umfang, in dem man den Begri m^^^it
des Vorläufers auf Luther im Verhältnis zu Kant anwenden kanr M^tïn,
Ï) Wenn Riehl von .bewusster Anleliinmiç'^ des Kopeniikus „an seil«: Sue
antiken Vorgänger* redet, ao widerspriclit dies uns keineswegs. D ^T^er
„kühne Gedanke" ist es, der von Koperiiikiis er/Efriffen wird^ nachdera il^f^M
hiii^e Jahrhunderte vor ihm die pjtliagtireische Philosophie gefasst, ii^^Kd
iiisiïfera küiinte man von hewnsster Anleiiiuing immerhin sprechen, oh^^»e
eine innigen; Beziehunjsf /wischen Aristarch und Ktjpemikns st^ituieren ^^a
woUen^ als wie zwischen Luther und Kant. Denn bei K(i(jeniikus erhfCi^
die Idee erst ihre priii/ipielle Be^rinidan^. V^l. Hielil : „Zur Einführuwije"
in die Philosoplne lîtr tiegc-uwari**. S. ^ô L
r
Luther und Kant. 3ÔÔ
zu bestimmen. Auch das können die letzten Bemerkungen wenig-
stens nahelegen.
«
Dass die Totalität der gewaltigen Wirksamkeit Luthers eben-
sowenig wie seine Pei-sou und seine Lebensschicksale Gegenstand
dieser Untersuchung sind, war von vornherein klar, weil wir nur
cias philosophisch-Bedeutsame an ihm, seine Vorlauf erschaft zu
Kant behandeln wollen. Aber auch schon aus dem Sinne, in dem
wir diesen Begriff verwandten, geht die relative p]nge des Um-
f ang-es hervor, in dem wir ihn gebraucht wissen wollen: Wir
erwarten kein philosophisches System. Die logischen und erkennt-
nistheoretischen Untersuchungen, die Subtilitäten der Metaphysik
liegeil Luther so fern, wie sie dem impulsiven Drange eines Re-
formators, dem feurigen, leidenschaftlich-fromm-bewegten Herzen
eines religiösen Genies nur fern liegen können. Sittlich-religiöser
ISatur nur können eben des religiösen Genies Intuitionen sein.
AVie Luther für die Geschichte vor allem der Moral und Religion
l^edeutsam geworden ist, so können wir auch seine Vorbedeutung
für Kant allein auf den Gebieten der Ethik und Religionsphiloso-
phie erwarten.
Und auch hier können wir uns, wenn wir zugleich zurück-
denken an den Sinn, in dem wir ihn als Kants Vorläufer fassen,
im voraus sagen: viel mehr genial hingeworfen, als in einen streng
logisch-systematischen Zusammenhang gebracht, treten seine Ideen
zu Tage. Nicht immer, ja oft überhaupt nicht, ist er sich ihrer
Tragweite ganz bewusst. Manches werden wir im Verhältnis zu
den Anschauungen Kants viel mehr als blossen, wenn auch in
deren Richtung durchaus veranlagten Keim, denn als mit ihnen
absolut identisch und für sie vollkommen vorbildlich ansehen dürfen.
Was er im dunklen Drange seines religiösen Gemüts mehr ahnt
und fühlt, als begreift, das werden wir bei Kant in das Licht be-
H'usster Klarheit durch die philosophisch-begriffliche Reflexion er-
hoben und dann in seinen ganzen Konsequenzen verfolgt sehen.
Ja, unvereinbare Gegensätze in den Ideen und Zielen Luthers
Werden wir nicht verkennen dürfen, es sind die Gegensätze des
Alten und Neuen, des Überkommenen und des Eigenen, Selbst-
f^eschaffenen, die Luther zu vereinen sucht, die sich aber schlecht-
hin nicht vereinigen lassen, sodass durch seine Gedankenwelt ein
Riss geht, der für die ganze Folgezeit bedeutsam werden musste.
£s ist der Riss der unvollendet gebliebenen Konsequenz, der, wie
S86
B Baneb^
Oitstav Kroytag iK»ni*^rlt1,») in der Person lichkeit Luthers zn etwas
Tragmium fiiliri. Die ^Beschränk theitcD seiner Nnttir nnd Biidnng*'
werden wir gegenübertreten sehen „seinem prrossen Herzen*",
AJ»er wir w^erden mit Freytag auch sagen können: „Alle Be-
s^'liränktlieiteii «einer Xatur und Bildung versehwindco gegen die
Fülle vnn Segen, w^elcher aus seinem grossen Herzen in das Leheu
seiner Nation eingestr^mit ist."* Denn auch das, was in philoso — ^^
|diisch<*r I5ezit4iung bedeutsaii! ist, eiilspringt nicht aus der Ke- ^=^
flexiofi seines Vei*staudes, es (luilll vielmehr hervor aus dem tiefeis:^
(i^HTihl si'iiir*r religiösen Eigenart, Die begriffliche Klärung un^ .«^j
kritische l>urchbildiuig dessen, was aus dieser HerzeusinUiilio»^ ^zdi
bereits geflossen, blieb der Philosüpliie vorbehalten, der Philosoitlu<3^^e;
tlie zwfM JalirbniMhilf* imcli liUtber, der grösste, schaffensge wältig:^ jjjt
ste Pbilesopli unserer Nation, darstelh^ii sollte. i
So werden wir verstehen, dass Kant, trotzdem oder gera*IT.»'-di
wiil er mit Luther im Ideenfiindament übereinstimmte, im Aufl)f»-^ ail
inid Ansbati s<'iri«^s Systf-ms IjiUhers Gegensätze liberwiiiden musst ^Ä^te,
dass für ihn nuinches, ja vieles in Wegfall kommen musste, wä. ^vaa
in d(*s Reformators Fühlen nnd Wolbni ein unveräusserlicher B-^^3©-
stand buchen sollte; verstehen, wie das, was au Lutliers Idei^-^-^ii
ewig ist, und was schon eine Jabrhnnderte alte Mission hinter si»^ ^Sicl
hat, als Kant in die lùitwicklnng' der iMeiischheit eingreift, in d .t^ei
Philosoplien Genius sich hindurchringt xu widerspruchsloser Klifcs- ^bx^
heit, zu dem Anspruch auf kritische Anerkennung und kritiscIÄ^ h«
tîeltnng, sodass ei^t dadurch seine mvige iieltnng fest gegrüuÄl^^del
ist. In dieser Weise werden wir Luther als Vorläufer Kauts a^^s^n-
zusehen haben und wollen ihn angesehen wissen*
I>ass uiati überhaupt einmal versucht, Luther und Kant vi
gleicheiul gegeniibenîwstellen, düi^fte nichts weiter l'berraschendL^iJcs
sein. Diese Problemstellung ist gar nicht besonders originell.
//;
der philosophie-historischeii Forschung sind bereiLs maunigfai-^^^^/if'
Hinweise darauf gegeben. Daher erscheint es mii- als Pûi^::^}l
und Schuldigkeit, wenigstens in allei* Kürze den Stand des Problem wis
zu skizzieren.
Am frühesten -) und bei weitem am besten hat wohl Dilth ^J
in seineu feinsinuigen und gehaltvollen Untersuchungen im Arch-iv
1) Bilder aus der deutschen Vergangenheit. IIL S. lâÔ f*
*) Wenn wir von Lommatzsth absehen. Dieser hat allerdings scb«>«^
eher m seinem Werk über ^Lutbeis Lehre vom ethisch*religiö8en StaiK^^^
punkte aas*, etc. ohne aber auch nor im geringsten den Kern zu ireîf^^*^
Luther und Kant.
367
für ileschiditi* ûw f^tnlosoplne auch unser Probloni berührt* Er
stellt hier dar sowohl tiie „Auffassung uiid Analyse des Menschen
im 1Ô. und 1*>. Jahrhundert", als auch das ,,natrn!i<"Ue System der
tti»i8t«'S\vissHiischafttii im t7. Jahrliuiideil/', und da innss er natnr-
lich auch unter den historischen Richtungen auf den Lutherischen
Üostanclteii tr(*ibrM!dt^r Kraft hinweisen. Kurz und iil»eraus treffend
betont er, dass Luther, liei allem Festhalten am I*oj!>'matisunis,
docli durch die Zuriicknahnn* des Do^nienp^laubens in die indivi-
tluelle Seele, zur Uuabhäno;ip^keit der Person gelangt.*) l^wd sehr
hedtnitsam ei*Kcheint mir die Ansicht Dütheys, die er dahin fonnu-
lieft :^) ,Jch leugne durcliaus, dass *ler Kern der reformatoriselnni
Keligiosität in dt^r Erneuerung der Paulinischen Rechtfertigung
durch den Ulauhen enthalten ist.^) Diese Lehre ist von Augustinus,
dem heiligen Bernhard, Tauler und der deutschen Theologie iui
Wesentlichen besessen worden, ohne dass eine neue Epoche
der christlichen Religiosität daraus hervorgegangen wäre. Ich
muss sonach auch in Abrede stellen, dass der Zurückgang auf die
Schrift als die zureichende ^.^nelle fiii- den christlichen Lehenspro-
zess der Kern des reforniatorischen Glaubens sei. Diese Einsicht
ist auch vor Luther von den Theologen*) ausgesprochen und neben
ihm hat Erasmus sie geltend gemacht, ohne zur Reformation iiher-
zittreten. Ich finde vielmelii-, dass die refornuitorische Religiosität
über das auf allen früheren Stufen des i Christentums Gegebene
hinausgegangen ist . , . Luther ist über Alles, was von christlicher
ßrligiosität uns vor ihm überliefert ist, hinausgegangen. Er hat
mit einer Polemik gegen Kant \S, H9 L)* die um Ziele vorbeig^ehl, das
Verhältnis kurz lyeîîit reift. Aber doch mit so wenig GlUck, dass wir von
den hier erwähnten Stellen eigeiitlidi absehen könnten. Anch brijig^t er
(S. 1751 Lniher imd Kant in einen GegetiNjitz, der, wir wir sehen werden,
«udschen beiden nicht henteht. Wenn Kant die »bsobite Innerlichkeit be-
tont, ohne mich dem wirkenden äusseren Krfolg zu scliielen» so werden
wir gerade darin eine Verwantltschaft, nnd zwar die Hanpt^^er^^andtschaft
Uli t Luther, aher keinen (te^^enHiitz, gar hald erkennen kOnnen. Der Gegen-
satz zwischen Lnther nnd Kant ist allein der, der in Luther seihst i>esteht
und den dt?r Reformator für nich und in seiner Persnii nicht zu Überwinden
vemiockte, insofern er ebert nie den theüreti,sehen Di*^inatLsmus überwand*
^) Archiv für Geschichte der Philosophie. V. Band, S. 357.
■^ 8) a. a. O. VL S. 377.
^^f ^) Hamack .Dü^meuKescIiichte 111, 8.767) widerspriclït darin Düthey.
r Wir kommen darauf zurück,
I *) Düthey zitiert Dun^ Skotus in übr« sent, Proi. quaest. IIJ, 14.
I sacra scriptura biifficienter coiitinet doctrinam neceseariam viatori.
368 B. Bauch,
ein neues Zeitalter der Beligiositftt des Abendlandes herangeführt
Dieser Fortschritt stand in einem notwendigen Znsammadumge
mit der ganzen Entwickelung der germanischen Gesellschaft . . .
Die Person fühlte sich jetzt in der abgeschlossenen Eigenheit ihres
Gehaltes. Jedem Verbände gegenüber fühlte sie ihren Selbstwert
und die ihr innewohnende Eraft^
Nichts Geringeres also als die Übertragung des auf deo ye^
schiedenen Eulturgebieten der germanischen Gesellschaft sich mäch-
tig regenden und wirksam werdenden „Bewusstseins des Wertes and
der Autonomie der Person^ auf das religiöse Gebiet ist oadi
Dilthey die That Luthers.
Dass er den Begriff der Autonomie, >) den man gewöhnlich
nur mit dem Begriff der Eantiscben Ethik verbindet, schon Luther
zuweist, scheint mir selbst ein bedeutsamer Hinweis auf Kant xn
sein, und wenn DUthey für seinen Zusammenhang auch nicht ans-
drücklich auf Kant eingehen kann, so glaube ich doch, dass er
sich der Geistesverwandtschaft Luthers und Kants sehr wohl be-
wusst ist. Das geht für mich auch noch besonders darans
hervor, dass er in anderem Zusammenhange Kant ausdrücklich
in die Reihe der Transscendentaltheologen stellt Unter der
transscendentalen Theologie versteht Dilthey nEmlich die zor
transscendentalen Philosophie iu Analogie stehenden Richtungen,
„welche hinter die gegebenen Formeln, Historien, Dogmen zu-
rückzugehen streben auf ein immer und überall wirkendes
menschlich Göttliches in der Seele, das alle diese Gestalten des
religiösen Lebens hervorbringt. Dieser Richtung haben Täufer
und Mystiker, Historiker und Philosophen ohne Zahl angehört.
Sie findet sich bei Denck und Franck, bei Valentin Weigel und
Jakob Boehme, bei Kant und Goethe, bei Schleiermacher, Carlyle
und Hegel. Sie hat ihren Mittelpunkt ausserhalb der Theologie,
nämlich in dem grossen Bewusstsein von der schöpferischen und
mit dem Unsichtbaren verknüpften Meuschenuatur, welche sich in
der Kunst, Religion und Moral, wie in der Spekulation manifestiert
^) Wir müssen für unseren Zusammenhang zwar bei Luther den Be-
griff der Autonomie vermeiden, um ihn für Kant vorzubehalten. Aber wir
selbst werden zeigen, wie bei Luther alles auf den Sinn der Autonomie
hindrängt. WoUt-en wir also gegen Diltheys Gebrauch des Wortes ,Auto-
nomie* polemisieren, so wäre es in der That nur ein Streit ums Wort.
Denn wir selbst sind der Überzeugung, dass die Hervorkehrung der Auto-
nomie dem Sinne nach in Wahrheit Luthers That ist
/
Luther und Kant. 3Ö9
Die ganze Geschichte ist ihr Reich." ^) Und darin kann ich auch
andererseits einen grossartigen Hinweis auf Luther sehen, selbst
wenn Dilthey meint, gerade im Reformationszeitalter seien diese
Richtungen nicht recht aufgekommen und zur Geltung gelangt.
Es verlohnte sich wohl, diese unseren Gegenstand berührenden
Äusserungen Diltheys so ausführlich und möglichst vollständig
^nederzugeben. Denn wenn er nach der Fassung seines Problems
a.uch keine Parallele zwischen Luther und Kant ziehen kann, wenn
er auch den philosophischen Gnindzug der Lutherischen Religiosi-
tät nicht durch eine spezielle Analyse der Anschauungen des Re-
formators selbst, sondern durch eine allgemeine Analyse der histo-
nscheu Triebkräfte und Richtungen der in Frage stehenden Zeit
nur herausstellt, so scheint mir doch der springende Punkt für das
philosophische Verständnis der Anschauungen Luthers, von dem
^us man weiter gehen und auch die Parallele zu Kant gewinnen
muss, und den wir selbst aus Luthers Gesamtanschauung analy-
sieren werden, mit solcher Klarheit erkannt, dass ich in den
kurzen Äusserungen Diltheys den bisher höchsten Stand meines
Problems sehe.
Ehe ich mich aber ausführlicher darüber verbreite, wie meine
eigene Untersuchung sich nun zu der Ansicht Diltheys verhält
— angedeutet wenigstens ist es ja auch jetzt schon —, möchte
ich noch ein Paar für mich, und speziell mein Problem nicht
so belangreiche Arbeiten, erwähnen. Mögen sie auch mir nicht
belangreich erscheinen, ich meine : mit meiner Arbeit sich nirgends
innerlich berühren, so erforderte doch die historische Gewissen-
haftigkeit, ihrer Erwähnung zu thun, weil sie ja doch sich auch
auf mein Problem beziehen, d. h. entweder wenigstens darauf hin-
weisen oder es sogar zum Gegenstande haben.
Einen solchen Hinweis sehe ich in Paulsens Aufsatz:
„Kant, der Philosoph des Protestantismus".^ Man mag an dieser
t^ormulierung Anstoss nehmen, wenn man glaubt, Paulsen habe in
ïCant dem heiligen Thomas einen konfessionellen Antipoden stellen
Atollen. Es ist gewiss, dass Kant diese Rolle ablehnen würde.
1) a. a. O. VI. S. 61 f.
^ Kantstudien IV. S. 1—31. Übrigens ist unter demselben Titel so-
eben eine Rede von Kaftan (.gehalten bei der vom Berliner Zweipverein
des evangehschen Bundes veranstalteten Gedächtnisfeier am 12. Februar
1904*") erschienen, die für mein Thema aUerdings gar nicht von Belang,
auch überhaupt nicht von philosophischen Interesse ist.
360 B. Bauch,
Aber ebenso gewiss ist es, meiner Meinanfii: nach, dass Panlsen
diese Rolle dem Philosophen grar nicht anweisen will. Richtet sich
doch seine philosophia militans gerade auch gegen die Übergriffe
konfessioneller Beschränktheit, die die Wissenschaft unter das Joch
der Partei zu zwängen sucht. Man mag ferner mit Troeltsch/)
dem ich selbst darin beistimme, die Konstruktion Paulsens für za
optimistisch halten und nur an eine kleine Gemeinde Ton Ver-
schwörern für die Zukunft glauben, d. h. man mag die protestan-
tische Kirche von Kant durch Kluften, ja Welten getrennt sehen,
— die von Luther iu die Welt geworfene protestantische Idee
treibt hin zu Kant. (Freilich könnte einer dann, was Kant selbst
betont, Protestant sein, ohne gerade zum Protestautismus als
kirchlicher Anstalt zu gehön;n.) Wenn Luther auch nur beilänfig
erwähnt wird, so geschieht dies, wenn auch nicht mit Diltheys
Schäiie und Nachdruck, doch mit sehr richtigem Takt gerade da,
wo Paulsen von der durch Kant vollzogenen autonomen Vereelb-
stÄudiguug der Persönlichkeit (S. 10) und seiner Betonung des
guten Willens (S. 11) spricht, die er auch als die protestantische
Prinzipien hinstellt. Auch rechnet Paulsen in dem Schema, das
er von den überhaupt möglichen religiösen Standpunkten entwirft,
Luther und Kant ausdrücklich gemeinsam unter die Kategorie des
„Irrationalismus". (8. 5.) Man mag auch darüber streiten
können, so ist doch auch das ein Hinweis auf das innere, geistes-
verwandtschaftliche Verhältnis Luthers zu Kants, ohne es zwar
genauer zu präcisiereu.»)
Endlich muss ich noch einer Arbeit Erwähnung thun, obwohl
sie für mich absolut belanglos ist. Nur scheint sie sich ihrem
Titel nach sehr innig mit der meinigen zu berühren; ja sie stellt
sich eigentlich dasselbe Problem, nur in geringerem Umfange.
Und da ich trotzdem auf sie iu meiner ganzen Abhandlung nicht
eingehe, so dürfte es leicht scheinen, ich habe sie ignorieren
wollen. In Wirklichkeit wollte ich nur in meiner Schrift nicht
») Deutsche Litteraturzeitung 1900 No. II.
2) Freilicli kann icli mich leider eines Bedenkens nicht erwehren:
Ich glaube nämlich, wenn Paulsen etwa das ganze. Verhältnis Luthers zi
Kant ausgeführt hätte, so würde er vom Standpunkt seiner Ethik aus der
Bedeutung der Lutherschen Moral doch nicht leicht gerecht geworden
sein. Denn Luther steht zu Paulsen in genau demselben Gegensatze, wie
Kaut, der gerade nach Paulsen in der Entwickelung der Ethik eigentlich
nur eine grosse Störung bedeutet.
Luther und Kaut.
S61
me ständige Polemik gegen Hueu kurzen Vortrag HiibäufeiL Uw
rPäre abtT uölig g^weseu, sobald ii-li \m± rib("ihaui»t auf diesn
krbeit fjugf»!assen baftt% und das sehitui riiir ehpu einem kurzen
''ortrage gegenüber niebt aii*r<*l>i"adit- Ick halte es darum ïnr
esser, auch zu ihm î^rhou hier meiue Stollnug kurz ilarzu-
Es handelt sirh uui den Vortrag von Titins; ^Lnlhers
tnuidansrbanung vom SittHeben, verglichen mit der Kanti.seJien",')
H znm Ziele den Nachweis haben soll, dass Luthers sittlirhe
Fnindanschauung mit der Kautischen ,Jm Innersti^n^' znsainuien-
tinmien
Man muss sieh von vornbereiu gegenwärtig halten, sowohl
lass wir es nur mit i*ineni \'(*rtrage zu thun haben, dessen Kiirzf*
chou ein tieferes Kins:ehen nicht eruKïglichte, als auch dass Titins
licht die Grundaiisrhannugen, sondern nur die Gruntlanscbannug,
iras wohl soviel hoissen soll als den obersten Gnujdsatz, nud auch
la nur die Gniudanschaunng vom ^Sittlichen Ijei Kant und Lolber
sum Gegenstaude hat. Das Thema ist also von vornherein noch
)egreiizter als das ujisrige. Man wird Titins also daraus keinen
l^orwnrf machen kfnmen, dass er auf das Verhältnis von Achtung
lud Nächstenliebe, von Freiheit nnd Selbständigkeit der Person zu
1er ^Allwirksanikeit** (Luther) und ,,Allgeungsamkeit** (Kant)
Lrottes, von Person und Werk, Gesinnung und Erfolg, auf die
Idee der Kirche etc. sich nicht einlässt, weil das schf)n alles eine
IVeitereut Wickelung der „Grundanschauung'^ erfordert und vom
îittlîcheu aufs Religiöse geführt hätte.
^ Aber selbst in dem was Titins von der „Gnindanschauung'*
1^, stehe ich zu ihm in Widerspruch:
Wenn wir schon nicht erfahren, w^as das Sitteugesetz Kants
ledeutet, dessen Aufstellnng Titius doch zu wiederholten Malen
S. 8. 9 u, a.) als das grosse Verdienst Kants anerkennt, so muss
»s um so mebï' befrenuleu, dass das Formale der Kautischeo Ethik
o hart angelassen wird (S. 21). Denn der so gescholtene „For-
nalismus** gehört analytisch zum Wesen des in seiner Bedeutung
^ anerkannten Sittengesetzes und zu Kants „Grnndanschauung'\
^ Noch weniger erfindNch ist es, wie Titius seine Bebaui^tung:
LiUthers ^Clrundanschanung'* stinmie ^im Innersten* mit der
H 1) In den .A^ortdigen der theologischen Konferenz zu Kiel". Heft I.
R— 21. Bei MarqiiardseTL Kiel 1899. Vgl. dazu Kantstudien, Bd, VI,
5- ?3— 77: ^Luther und Kant".
362 a Bavck.
\
Kmdv^ zn-^wm^fi. siaabt ffthknen zn k^niieiL wemi er neint, bei
Lntfaer trete der «î^^dauke d*-r , Autonomie* «fast roUstândî? zn
ruck* 'S. 14». [►a*^.« irb e>/«-fL>o. wie Inhhey die wehbeweeendf^?»^^
That Lairi'-rjï ir^ra/i- in dem Hervorkehren dessen, was man s^iBl^n
Kaot uijt^r .Autonomi*-* v<-rsleht, sehe, davon will ich jetzt rie —I
weniger re^l^-ii. hU dav«ii. das* die Antinomie der Kern der sitt ^»-
liehen <:FnindansrbaaoQsr Kant-s i>t. and dass jeder, der Kant g« — e=^
lesen hat. w^-iss: für den Pbilos^ijthen ist die Autonomie der Perj^Kr-
sonlichkeit geradezu die .«.'hjektive L»arstellone des Sitten-^n-
geselze«?' ond ^oberstes Prinzip der Sittlichkeit*. Un-^ .«md
da mass 'wh d'^^-b fragen: Wie kann Kant^ i^rnudanschaniing mw" ^it
der Lotbers zusamnienstimnjen. wenn bei Lnther die Kantisch^[=iie
Gnindauscbaaang .fast vollständig zurücktritt ". also so gat ^iSr ie
nicht vorbanden i>t? .\ach diesen Widerspruch hebt Titins nir Mi-
gends auf und wohl zu allerletzt dadurch, dass er die AutonomKi ^e
einmal geradezu mit der auf der Autonomie erst gegründeten AcÄ' Füh-
lung, also die sittliche Si>ontaneität mit der sittlichen Ifegenstân» .End-
lichkeit vemechselt. (S. 13.)
Auch was eigentlich Luthers sittliche Gnmdanschaaung sc:^» ^ei,
tritt nirgends scharf und klar hervor. Darauf beruht es wo-^UDhl
auch, dass Titius gar nicht darauf verfällt, wie gerade das, ws-^was
er als .Formalismus'' an Kant getadelt hat, und was notwend ^^^i%
durch die von ihm selbst anerkannte Kautische GmndanschauuiHi^MDg
des Sittengesetzes bedingt ist, eine sehr naheliegende Parallele r zu
Luthers Gesinnungsglauben und der damit verbundenen AblehnuiK:jKmS
der Werkgerecbtigkeit i allerdings weist ja Titius auch auf die^^e«
nicht hin) bietet.
Ja, worin sieht denn dann Titius eigentlich die ÜbereÄ: ^Ein-
stimmung? «ird man schon fragen. Ich habe mir aus der LW ho-
griffli<b n*cbt unklaren Darstellung doch zum Schluss die d«: Mrci
VergIeich.S2resichtsi»uukte klar gemacht- Erstens: es sei ja ind^bt
die allgemein meiisrblicbe Vernunft, sondern die christlich b^Bbe-
stimmte Vernunft, deren Inhalt Kant bestimme (S. 18) und so
liegt die Üb(»reinstimmung mit Luther wohl im Christlichen. Da»--^o
ist zu bemerken: Gewiss weiss sieb Kant mit der Idee Ä<?s
Cbristeutuins einig, aber nicht weil sein Vernunf thegrï/f
«ehristiich bestimmt'' ist, sondern weil nach seine/*
Auffassung das Christentum ursprünglich durch seinei:»
..erhabenen Stifter** moralisch, d. h. überhaupt ver-
nünftig bestimmt ist. Und ich sehe die Grösse der KantischeiB.
Luther und Kant, 363
Ethik g^erade in ihrer allgemeinen Anwendbarkeit und glaube: es
bedeutet für Kants Überzeugung geradezu einen Schlag ins Ge-
sicht, dass der (-hrist eine andere Vernunft haben sollte, als an-
dere Menschen.
Zweitens: Es soll nach Titius „die Vernunft erst durch
Offenbarung, d. h. im geschichtlichen Zusammenhange mit der
Person Jesu Christi, wie Kunde, so auch Kraft" erhalten. (S. 19.)
Das stimmt für Luther, aber nicht für Kant, der seine Achtung,
wie seine Verehrung für Jesus und seine That ebensowenig ioi
Zweifel gelassen hat, wie seine Meinung über den Wert der
Offenbarung.
Drittens : In der Idee des höchsten Gutes und der Ablehnung
des selbstsüchtigen Lohn- und Verdienstglaubens sollen Luther
und Kant übereinstimmen. In dieser Erkenntnis stimme ich mit
Titius selbst überein. Nur finde ich den Berülirungspunkt zwischen
Kant und Luther nicht aus der Tiefe, eben weil nicht aus der
„Grundanschauung" erfasst. Allerdings lässt mich fast das hohe
Lob, das Titius der Idee des höchsten Gutes spendet, vermuten,
er sehe darin die „Grundanschauung" Kants und setze sie mit
dem als hochbedeutsam anerkannten Moralgesetz in Eins. Er
meint (S. 17) nämlich, in dieser Idee liege die „Grösse Kants
und seiner sittlichen Anschauung**. Nun ich meine: Wenn man es
nicht selbst erkannt hat, so könnte einem doch die unwidei'steh-
liche Kritik, die Schopenhauer und Kuno Fischer an diesem Be-
griff geübt haben, zeigen, dass darin gerade die Schwäche der
Kantischen Ethik liege.
Wenn ich die Summe ziehe, so kann ich sagen: In zwei
Stücken stimme ich Titius rückhaltlos bei : erstens darin, dass
Luthers Grundanschauung mit der Kantischen zusammenstimme —
meine ganze Arbeit ist auf diesen Nachweis gerichtet, wenn sie
die Übereinstimmung auch nicht als restlos erweisen wird — und
zweitens darin, dass Luther, wie Kant die Selbstsucht und das
Verdienst der Lohndienerei aus der Moral verweisen — ich selbst
handle davon eigens in einem besonderen Abschnitt.
Nur muss ich bekennen: ich finde bei Titius nirgends eine
klare und begrifflich scharfe Darstellung der „Grundanschau-
ung" Luthers und Kants, noch auch einen Beweis ihres Zusam-
menstimmens; da ich eben in der Idee des höchsten Gutes und in
der Ablehnung von Glück und Verdienst noch nicht die wirkliche
„Grundanschauung" selber sehe, sondern nur eine Folge davon.
â64 B. Banch,
Wenn ich also nicht bloss anf die bisher aufgestellten Problem-
formeln, sondern auf die sachliche und wirkliche Klämng sehe, so
inuss ich wiederholen, was ich vorhin bereits sagte: Das Bedeu-
tendste ist darin von Dilthey geleistet. So korz er sich seiner
Aufgabe gemäss auch äussern musste, so hat er ans der ^Auf-
fassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert*'
und aus dem „ natürlichen System der Geistes Wissenschaften im
17. Jahrhundert'' doch mit unmissvei*ständlicher Klarheit unter
den herrschenden historischen Richtungen auch als lutherische
Bestahdteile herausgestellt: Die Zurücknahme des dogmatischen
Glaubens in die individuelle Menschenseele und die damit ye^
bundene, über das Paulinische Christentum weit hinausragende
Verselbständigung der Person, wofür er geradezu den Begriff d»
Autonomie auf religiösem Gebiete setzt, ein Begriff, der anf Kant
direkt hinweist, wie DUthey ja den Philosophen seinerseits auch
in die transscendentaltheologische Richtung einordnet
Wenn wir nun unsere Stellung dazu präcisieren, müssen wir
sagen: Wir gehen erstens einen Schritt hinter Dilthey zurück,
denn wir gewinnen, was er richtig durch eine Analsrse der histo-
rischen Zusammenhänge herausstellt, dadurch, dass wir nun die
Glaubensidee Luthers selbst analysieren. Unsere Analyse ist also
keine allgemein-historische, sondern eine monographische. Wir
betrachten (Kap. I) die Glaubensidee Luthers. Und da zeigt sich,
dass eine zweifache Betrachtung notwendig \^ird, um die Idee
moral- und religions-philosoi)hisch würdigen zu können. Wir
stellen die inhaltliche (§ 1) und die formal-praktische Seite (§ 2)
der Lutherischen Glaubensidee dar, um dann zu sehen, wie beide
sich zu einander verhalten (§ 3). Der Glaube nach der einen
Seite ist der dogmatische Glaube, auf der aneern ist er Glaubens-
priuzip. In dieser Weise gehen wir über Dilthey zurück, indem
wir als Resultat der Glaubensaualyse, in dem Verhältnis von in-
haltlichem Glauben und Glaubensprinzip eigentlich das erkennen,
was Dilthey die Übertragung der Autonomie auf das religiöse Ge-
biet nennt. Nun gehen wir aber gleich weiter und über DUthey
hinaus, indem wir das Resultat nach allen Seiten in seine Folgen
entwickeln.
Was nämlich für Luther Glaubensprinzip ist, das ist für ihn
auch Prinzip der sittlich-religiösen Bethätigung des Menschen,
seines Wirkens im Kreise seines Daseins, und so stellen wir
(Kap. n) den Glauben und die Werke einander gegenüber. Cm
Luther und Kant.
3Ô5
niM auch hier das prinzipiell Neue mit voller Klarheit hervor-
ti^eten zu lassen, gehen wir von dem historischen Kontrast aus.
r>ss heisst: Wir o^ehen (^ 4) von einem Blick auf die geschieht-
^icîhe Lage des Begriffs vom „gnten Werk** aus, seli»?n dann (§ b),
^^^i^^lche lie^rif fliehen Unterscheid uiio^en man überhaupt logisch
^'■^Ä ^chen muss, um deo manni.effaehen Sinn dieses Begriffs zu ver-
^^t.ehen, untersuchen dann (SB), inwieweit Luther faktisch diese
^^^iiterscheidnng macht, indem er den Sinn, in ilem er das Wort
xaucht, den anderen Bedeutungen gegeuüherhält; verdeutlichen
US (§ 7) daran tien tTegeiisatz des Alten und Neuen, um nun
^§ S) das eig-'^ntiich Nene vollkommen für sich abziisonderiu Und
"^ziier springt die gatize Bedeutsamkeit uoeh einmal mit augen-
scheinlicher Gewalt hervor.
Nachdem wir so das tilanhensprinzip für den Kitizelnen haben
zum sittlich-reiigiiisen Bethätigungsprinzip werden sehen, nnlnr-
^suchen wir, wie nach leather sich dieses Prinzip auswirken muss,
gagen wen es der Einzelne zu bethätigen hat. Wir fragen also
nach (lern Vei-hältnis der PersönLichkeit zur sitthch-religiosen (Tê-
uieinschaft (Kap. Ill), der gegenüber des Einzelnen lilaube That
werden soll. Zu dem Zweck ist aber erst die — zu der kri-
tischen Betrachtung von Glaube uud Werk überhaupt
analoge — sozusagen genetische') Frage zn erledigen, wie
Luther sich im Einzelnen das Verhältnis von Thäter und That
denkt (§ 9), um die unendliche Fülle der sittlich-religiösen Be-
thätigungsmoglichkeit im Leben zu verstehen (^ lU), in dem der
Eiuzebie zum Nächsten in Beziehung tritt (§ 11), nm mit ihm
eine sittlich-religiuse (Tennunschaft zu bilden (^ 12).
In dieser Weise stellen sich uns Luthers sittlich-religiöse
Ideen dar. in denen wir eine l^araïlele zu denen Kants gewinnen
^^^olleo. Ehe wir aber zn dieser Parallele selbst gelangen, nuissen
ïvir uns im zweiten 'l'eile dieser Arbeit über die Prinzipien der
Ethik uud Religionsphilosophie Kants selbst orientieren.
Wir betrachten nach einem kurzen Rückblick (§ KV) zuerst
Üas Moralpriuzip Kants {Kap. IV), sehen erstens zu (§ 14), wie
es nach Kant nicht bcstinnnt werden darf, und zweitens (§ 15),
Wie es allein hestinniit werden kauTi und bestinnnt werden soll
Um nun seine Realisierung begrifflich zu ermöglichen, führt uns
Kant zu den sogenannten Postulat en der reinen praktischen Ver-
) Im religitis-iuetaphyäijscheu Sinne.
â66 B. Banch,
nunft and der Idee des höchsten Gntes (§ 16) sowie za der Idee
der lutelligibilit&t der Persönlichkeit (§ 17), von der er weiter ad
die Idee der Achtung vor der Person (§ 18) gelangt
Wir sind aber damit bereits unvermittelt schon in religions^
philosophische Probleme gelangt, die wir im Gnmdriss erst in
Kap. V behandeln. Hier stellen wir Kants Beligionsprinzip selber
fest (§ 19) und fragen dann nach den Mitteln, die von diesem
Prinzip gestellte Aufgabe zu verwirklichen (§ 20)«
Nun erst kommen wir zur Parallele zwischen Luther und
Kant (Kap. VI). Wir stellen zuerst den bedeutsamsten ünte^
schied heraus, der einerseits in dem Gegensatz vom Dogmatismos
Luthers und Vemunftglauben Kants liegt (§ 21) und andererseits
in ihrer Methode (§ 22).
Der letzte Gegensatz ist bereits ein beschrftnkter, denn von
ihm aus führt gerade von Luther schon die Brücke zu Kant
(§ 23). Nun ziehen wir die Parallele Schlag auf Schlag. Wrt
sehen die Übereinstimmung (§ 24) zuerst in den Prinzipien, oder,
wenn mau will, in den Grundanschauungen (Verinnerlichung and
Autonomie) ; verfolgen diese in ihre Konsequenzen, wo uns non
die Ablehnung von Glück und Verdienst (als ethisch-wertlos) be-
gegnet (§ 25); und in der Weiterentwickelung der Grundanschan-
ungon gelangen wir sogar auf eine religions-metaphysische Über-
einstimmung (§ 26) mit Rücksicht auf die Freiheitslehre beider,
woraus wieder eine Analogie der Begriffe von Achtung und
Nächstenliebe folgt (§ 27) ; und mit der Idee der Kirche schliesseu
wir unsere eigentliche Untersuchung ab (§ 28).
Eine kurze Betrachtung, die von den Gedanken Kants über
die historische Verwirklichung seines Ideales handelt, bildet das
Ende der ganzen Arbeit.
J. Teil.
Die sittlich-religiösen Anschauungen Luthers.
Kapitel I.
Die Idee des Glaubens bei Luther.
Der Begriff des Glaubens ist eine religiöse Idee und zwar
ursprünglich eine reiii-dogmatisch-religiöse Idee. Er fasst nicht
den Glauben an und für sich, sondcni involviert immer die Rela-
Luther und Kant. 367
tion eines Glaubensinhaltes oder GlaubensgegeiistÄiides, eines Et-
was, an das geglaubt wird. Dieser Inhalt ist zugleich immer das
Charakteristische, das unterscheidende Kriterium der Glaubensan-
hängerschaft oder Glaubensgemeinschaft. Auf ihm beruht die
Unterscheidung der „Gläubigen" von allen ihrem Glaubensinhalte
nicht Anhangenden und wenigstens meistenteils deren Charakteri-
sierung als „Ungläubiger"; darauf schliesslich weiter die in jeder
Crlaubensgemeinschaft herrschende, einer gewissen Konsequenz
sieber nicht ermangelnde Vorstellung der alleinseligmachenden
Kraft gerade ihres Glaubens. Eine Vorstellung, die keineswegs
etwa für die römische Kirche allein bezeichnend ist, wenn sie
auch von ihr am schärfsten und unduldsamsten ausgeprägt worden
ist. Im übrigen aber ist sie ein gemeinsames Merkmal der
Olaubensgemeinschaft überhaupt, sobald sie ein offizielles Kirchen-
tum darstellt, sodass, was Kant einmal über den offiziell kirch-
lichen Protestantismus und die „katholischen Protestanten" sagt,
auch heute noch zu Recht besteht.
Wohl scheint, auch nach Kant, das Christentum berufen zu
sein, dieses Kirchentum zu überwinden. Allein von diesem erhabe-
nen Ziele war es durch seine historische Gestaltung selbst abge-
führt worden und hatte von ihm den weitesten Abstand eireicht
— die Christenheit hatte sich am weitesten von der Idee des
^Christentums entfernt — , gerade in jenem Moment, in dem die
gewaltige Persönlichkeit in die geschichtliche Entwickelung ein-
seift, ohne welche diese, in sittlicher und religiöser Rücksicht,
'^icht zu verstehen sein würde, Luther. Er musste also selbst bis
^ö einem gewissen Grade die dogmatische Leere und Starrheit
^'•echen, um einem lebensvollen Glauben die Wege zu bahnen.
-^War überwand er jene nicht ganz, seine grosse That musste noch
^aiige, lange ihrer Vollendung harren und muss in ihrer letzten
*^^>iisequenz auch heute noch ihrer Vollendung harren; aber er
^^Hchte doch ein neues Evangelium des Glaubens. Das Unabge-
^^blossene dieser seiner Mission, die zur Vollendung die kommen-
^^ii Geschlechter weitergetrieben, und noch weitertreibt und weiter-
^**^^iben wird, das liegt in nichts Anderem, als in seiner
^l aubensidee. Er gab der Idee des Glaubens zu dem alten
eitlen neuen Inhalt. Aber er gab diesen eben zu dem alt^n. Das
*^^isst: er blieb auch befangen, durchaus befangen in dem histo-
^** Heben Dogmengehalte seinerzeit. Und wohl über keinen grossen
^le^nschen hatte die historische Kontinuitüt solche Macht, wie ge-
KantiiadUn IX. 24
;^6ft
B. Bauch,
rade über îlm. Doch es wai' kein Unglück,
schichte ebenso wenijsr Sprünge machen kann,
da ja aach die
wie die Natur,
rief zur Fnnhett auf imd brar.hte Krcilioit, alter er legte sie ü«
Menschheit weder in den Schoss, uoch brachte er sie ihr gam^
Und darin liegt vielleicht gt^rade die GrossartSgkeit seiner Gal^^,
Er hinterliess der Menschheit ein Erbe, aber ein Erbe, das ^fe
täglich und stündlieh erobern mnss, um es zu besitzen und
reicln^rem Masse, als er es selbst l»esL*ssen hat.
una mm
§ i.
Der inhaltliche Glaube.
Wer eine vergleichende Gegenüberstellung zweier sowohl
durch die rein äussere Zeitdistanz der Geschichte als auch durch
deu allgemein bekannten Gegensatz ihrer Anschauungen getrmnitcii
Geistei' wahrniunut, der kanu sich, wenn nun gerade durch <li«'se
Gegenüberstelkiug auch eine Übereiustimmung der Anschauuug«^u
nachgewiesen werden soll, zumc'ist des Ai'gwohus nicht erwehren,
dass eben diesen Anschauungen Gewalt angethan werde, um sie
mit einander in Einstimmung zu bringen. Man übersieht eben
tlann leicht, in eigenem Vorurteil, über dem allgemein bekannten
(gegensätzlichen das w^euiger bekannte Zusaininenstinimeude, Man
denkt nicht daran, dass so sehr im grossen Ganzen die Welten-
st'hauungen aus einander liegen, dorh im Einzelnen zum mindesten
Berührungspunkte stattfinden können, ja man ist sich dessen niclil
bewusst, dass selbst ein grosser Abstand im Einzelnen möglielrer-
weise von hochbedeutsameu Berührungspunkten geradezu bedingt
sein kann. Denn der grosse Foitschritt^ der den Abstand aiis-
di'ückt, ist möglicherweise nichts anderes als eine konsequente
Entwickelmig des Gemeinsamen und (njereinstimmendcu
Um also erst gar nicht den Schein aufkommen zu lasscöi
als zwängten wir Luthers Glauhensidee in ein Konstruktioiis*
sehenni, um sie für Kants Anscliaunngen gleichsam zu pnifoi-
mieren, wollen wir sie erst nach einer Richtung hin betracliteo,
nach der sie mit ihnen nicht nur nichts gemeinsam hat, soudmi
ihnen eigentlieh stracks entgegen ist ; nach einer Richtunir hii^
nach der Luther durchaus stehen geblieben ist auf detn dogm-
tisi:h-, heute würden wir sagen: konfessionell-beschränkten Staml-
punktc der alleinseiigmachenden Kirche, trotzdem er diesen in an-
derer Uinsirht übei'winih'n hi^lfen, ja seine l'iierwindung sclkt
anbalinen sollte. Wir nirincn eben jent^ji schon orwiihuten naiven
i
Luther und Kant,
360
kirchlichen StaDdpiinkt, der in der Relation doy Glaubens zu dem
I woran mau glaubt, also zum (Tlaubeiisinhalte, liegt, und der io der
! Stan'heit des Dogmeubekenueus zum Ausdrack kommt ; kurz, mo-
deru gesprochen, den Staudpunkt des Dogmatismus und Orthodoxis-
anus. Das wollen wir hier also, um nicht Luthers Verdienste in
^•gend einer Beziehung scheinbar zu ühei*schätzen, mit allem Nach-
tirrick betonen, dass er seinem Glaubens in halt nach durchaus
^M:bodûx-dûgmatis€h-glaubig war, vom« Standpunkte unserer Welt-
i-uschauung aus betrachtet, also sozusagen rückständig, immer
^oeh mittelalterlinh dachte. Luthers Glaube ist seinem Inhalte
^iich durchaus der dogmatische Kirclienglauhe der ( ■hristenheit,
^ie ihn etwa 1). Fr. Strauss als im Wesen des Christentums
Itirchaus analytisch enthalten ansieht, um, weil wir heute diesea
t^ciginenglauben nicht mehr haben, beweisen zu können, dass wir
nkeiue ('hristeu mehr" sind.*) Ein Glaube, der nach dieser
Petitio principii von Strauss und aller derer, die etwa die moderne
l^heologie als „ Psendochristentum** verdächtigen, zwar „christlich**
Ist, der aber natiirUch nicht Kants Glaube war. Uagegeu ganz
irn Sinne dieses kindlichen Dogmenglanheus gilt Luther die
t-ßihel**, das „heilige Evangelium", das „Gotteswort'* als das Fun-
tiament all seines Denkens, all seiner Überzengung. Es ist darum
Sicht einen Augenblick zu bestreiten, oder auch nur zu bezweifeln,
ass Luther in der seiner Überzeugung gemäss zwar von Menschen
Jg^eschriebenen, aber in ihrem Inhalte von Gott selbst gegebenen
iliid eingegebeneu Schrift die Basis seiner Weltanschauung hatte,
\Vir sagen : Weltanschauung und nehmen dabei das W^ort in nn'*g-
lichst weitem Verstände, sowohl in theoretischer, wie in prak-
tischer Bedeutung.
I Sein theoretisches Weltbild, sofern man bei ihm überhaupt
t3avon reden darf, unterscheidet sich wohl in Nichts von dem,
f^^elcbes die Bibel entwiiit. Wir geben das ohne weiteres zu^ und
twar um so eher, als ein giinzlicher Mangel theoretisch-philoso-
E bischer Erkenntnis, ja sogar an blossem Verständnis, Interesse
nd Neigung dazu, sich in Luthers durchaus aufs Praktische ge-
ichteten Wesen nicht vei'ktniueu lässt. Vielmelir tritt seine Ah-
tieigung dagegen und sicher auch ein gewisser Mangel an Bildung
seihst für seine Zeit offen zu Tage. Es ist ihm voller Ernst da-
1) VcrgL Fitrauss:
Der nlte und der neue Glaube, S. 8—62.
24*
370
B. Bauch,
mit, wenn er sai^: ^Cicero übertrifft Aristotelem weit in Phi
Sophie uud Lehren." *) Der Wissenschaft hätte Lather sicherücL^i
keinerlei Einfluss auf den Inhalt seiner nach den rhristlidie^n
Dngnieii sieh richtenden Weltansicht ge^stattet, um sie irgendwie
zu modifizieren, seihst wenn ihm an der (Tescblossenheit autl
Widerspmchslosigkeit einer Weltanschauung üherhaiipt mehr g^s,
legen gewesen wäre, als ihm in Wirkh'ehkeit daran gelegen Wair,
und wenn ihm überhaupt j»* der Gedanke an eine rmgi^staltunrs^-
hediirftigkeit und Verbeiiseningsnotwendigkeit der biblischen jiidiwl^-
christlichen Anschauunfrsweise in thei^retisrher Beziehung gekommen
wäre. Aher er dachte ei-st gar nicht daran. Nicht bloss g^ 1 1
ihm Aristiitelcs überhaupt als ^['ngi-beuer"» ^Lügner und Bube"**
als der ^elende Mensch**, der ,, verdammte, hochmütige Heide^ im
Vergleich 7Ai «lem „ein Töpfrr îuehr Kunst hat von natiirlidit*i3
Dnigen, denn in denen Biichern steiit**,^) sondern er verabscht^iit e
ihn vor allem deswegen, wril die „Schriff* und Aristoteles doeli
iiiclit einerlei Lelu'e waren, sich nicht zu der Deckung briogt^n
Hessen, w^elche die Scholastiker durch aUerlei Kniffe des Ver-
tusch ens und Spintisierens versuchten. Luther sagte kurz uuti
biuidig: „Der heilige Geist ist grösser, wie Aristoteles/^) oder: i
wii" werden ,jn der heiligen Schrift überreichlich belehrt, von
allcu hingen, davon Aristoteles nicht den kleinsten Gemch je m-
l*fuTulen hat.** ^) Das bedeutet aber fiii^ Luther nichts Anderes,
als: nicht Idoss Aristoteles, sondern die ganze pbilosopliisdn'
Wissenschaft — beide wurden ja zu seiner Zeit und uuu auch von
iliiii seihst identifiziert — , ist gar nichts, ist wertlos; niclit sif
hat unsere Anschauung zu bestimmen, sondern das allein kaim ami
darf dii? Schi'ift. Die einzige lu'ilsame M'isseuschaft wäre iîbt*^
hauiit die Kenntnis der heiligen Sclirift. Alle ändert* WisscMSi'linfl
ist verd(*rblich, schädlich nml gefährlich. Ausdiiicktich sagt v\''
*) Tbcb^espradie: Erlfin^er Aiis/arabe LXIIl. S. :u\. Wir /iiierfii
im bdtjeiulpji im in er uach der Krlano:er Ausgabe. Nur die Schrift J^"
captivitntL' Babylonien wird imeJi Kawcravis Übersetzung^ (^Vulksaui^ab«^
b Bd.) zitiert.
-) Sendscli reihen au den cîiriseîiclicn Adel deutscher Nation: Von'
des clirisrbrlien Shuules BeKseriiU)y:. XXI. S. M^i. Dazu liesseu sich auf^'
uorli viele Bi'le^e aus audereu Sdirifteu erlniu^cu, z. Fi. „fiber die h«b)l.
Gefau^eiföebaft'% Scbreibeu nucl Erwiderung ,uuf des Bockjs zu Leipw|^
Antwort" (XXV1Ï) etc,
^ Von der Babyloniscben Gefan^jensubaft der Kircbe. S. 40^.
*) Sendäcbreibeu an den ebriütüebeu Adel. S. ;i46-
Luther uud Kant. 371
„Die hohen Schulen sind grosse Pforten der Hölle, so sie nicht
emsiglich die heilige vSchrift üben und treiben ins junge Volk."^)
Auch hätte TiUther sich mit der Vorstellung des Teufels nicht so
viel zu schaffen machen müssen, wie er es in Wirklichkeit that,
damit man nicht überzeugt wäre, dass seine Weltansicht mit der
mythisch-biblisclnui ül)(3reinstimmte. Kr hätte nicht mit solcher
Energie, wie t»r es that, die Gottheit der Persönlichkeit Jesu in
den Mittelpunkt seiner ganzen Denkait rücken dürfen, sollten
wir seine christliche Dogmengläubigkeit auch nur einen Augenblick
in Frage ziehen können.
Nicht minder zweifelhaft ist es, dass für Luther die Schrift
ebenso wie die Inhalte der theoretischen Weltanschauung als
Wahrheitsinhalte von Sein und Geschehen auch die Inhalte der
praktischen Lebensanschauung, die Inhalte des Sollens und der
Pflicht lieferte. Und wenn wir hier auch den Nachdruck nicht
auf den Begriff praktisch, sondern auf die Inhalte legen müssen,
so dürfen wir doch auch sagen: diese Inhalte lieferte die Schrift
zunächst ausschliesslich. Mag er auch dieser Ansicht selbst allen
*) a. a. O. S. 8Ô1. Wenn Luther im Gegensatz dazu an anderen
Stellen, wie namentlich auch in seinem Sermon an die Ratsherrn, auf hu-
manistische, ja so^ar aristotelische Studien dringt, so tluit er es notge-
drungen, unter Melanchthons Einfluss, um fttr die neue Glaubensorganisa-
tion eine einigermassen philosophische Begründung zu liaben. Aber sie
mussten doch immer der heiligen Schrift angepasst werden und sich
manche Korrektur gefallen lassen Es kommt für Luther in Rücksicht
auf die ^Künste und vSprachen" immer nur darauf an, dass sie lehren .die
heilige Schrift zu verstehen und weltlich Regiment zu führen," er sieht
dabei ängstlich darauf, dass sie auch „ohne Schaden" sind, und betont,
„lasst uns gesagt sein, dass wir das Evangelium nicht wohl werden er-
halten ohne die Sprachen." Die Wissenschaft um ilirerselbst willen, nament-
lich die Philosophie, die sich selbständig eine Weltanschauung gründen
wiU, ist ilim auch hier nur „des Teufels Dreck".
Der „heiligen Schrift und guttun Büchern" wird ausdrücklich wieder
„Aristoteles mit imzähligen schädlichen Büchern, die uns nur immer weiter
von der Bibel führten", entgegengestellt; und wenn er bei „Poeten und
Oratores" nicht darauf sieht, „ob sie Heiden oder Christen wären, grie-
chisch oder lateinisch-, so will das nichts besagen, er hält sich nur an sie,
^weil man aus solchen Büchern die Grammatik lernen muss". Die Philo-
sophie findet in seiner „Librarei" prinzipiell keinen Platz. (Vgl. dazu die
vorzügliche Lutherbiographie von Lenz: Martin Luther, Festschrift der
Stadt Berlin zum 10. November 1883. Von Dr. Max Lenz, Professor der
Geschichte an der Universität Berlin. Gärtners Verlagsbuchhandlung,
Berlin 1897. in. Aufl., besonders S. 179 und 180.)
372 B. Baach,
Boden entzogen haben — wir werden das selbst noch sehen -
er hat ihr doch gehuldigt. „Nicht ketzerische und nnchristlicbe
Gesetze" können unser Thun bestimmen. „Wo das wftre, woza
wftre die heilige Schrift not oder nutze ?*' Die bindende Normbe-
stimmung der Schrift als des Inbegriffs sittlicher Inhalte, der An-
weisung unserer einzelnen Pflichten, der Richtschnur fOr's ftûr
tische Leben ist für Luther so selbstverständlich, die inhaltliche
Abgeschlossenheit und Vollkommenheit so klar, dass es irgend
welcher (besetze ausser ihr für*s Handeln nicht bedarf.^)
Wenn es also zum Wesen des Christentums, wie Strauss
meint, *) gehören sollte, dass der Christ sage : „Wissenschaft hin,
Wissenschaft her, so steht es einmal in der Bibel, und die Bibel
ist Gottes Wort,** dass er die Person Jesu von Nazareth als
Gottheit glaube, die Schrift „als Richtschnur für Glauben und
Leben ansehe^; kurz, selbst dann, wenn das, was man heute
Dogmatismus und Orthodoxismus nennt, wirklich im Wesen des
Christentums uuabtrennlich liegen sollte, also auch nach Straoss
wäre Luther ein Christ gewesen. Ein Christ in durchaus dogma-
tischem Sinne des Wortes. Er hat das Dogma mit der Betonung
des Schriftglaubens nicht überwunden ; er hat es sogar eben da-
durch erneuert. Man wird nicht glauben dürfen, dass es zuviel
gesagt sei, wenn Haruack ihn den „Restaurator des alten Dog-
mas** nennt.8) Ja, er geht in diesem Dogmatismus so weit, dass
er jede Behauptung, wie jede Widerlegung aus der Schrift nehmen
zu sollen glaubt. Nicht bloss gilt ihm in dieser „ein Spruch mehr
als alle Bücher der Welt**,*) sie gilt ihm als der Begriff der
Wahrheit überhaupt in theoretischer, wie in praktischer Beziehung.
„Du musst dich gründen auf einen hellen, klaren, starken Spruch
der Schrift, dadurch du dann bestehen magst, denn wenn du
1) a. a. O. S. 286.
2) Strauss a. a. O. S. 11 f.
**) Karnack a. a. O. 111. Bd. S. 731 betont ganz besonders auch die
Verlebcndigung des Doginas von der Gottheit Christi: „Es hat,** sagt er
(ebenda), „keinen Theologen nach Atlianasius gegeben, der die Lehre von
der Gottheit Christi für den Glauben so lebendig gemacht hat, wie
Luther.**
^) An die Herren deutschen Ordens, dass sie falsche Keuschheit
meiden und zur echten ehrlichen Keuschheit greifen, ErmahnoDg.
XXIX. S. 21.
Luther und Kant
373
eiuim strichen Sinorli nicht hast, so ists nicht möglich, ilass du
bestehrn könt)trst/*Vf
Wenn wir dies«' Aiiffassnnir Luthers können lernen, iiber-
koinnit lins Neueren unwillkürlich eiin* Art srhinrr/iichor B*'freui-
cliitij^. Wir fiihlen uns ah^estossen, wie von dem starren. kalten,
t4:i(en Gesetzes]Q:lauben der Juden, der <[er Perstuilichkeit alles
lieben uiul dem Leben allen Sinn zu nehmen dnrht. Vt-rniuift
iiiiil vernünftiofes Wollen scheint aiis/^eschaltet diii'ch iUe Eio-
schränktheit des dogiualischen Glaubens, und wir fragen: Ist das
*ler Luther, von dessen Erscheinen wir in der tiesehichte eine
^^-ne Zeitepoche datieren?
So liaben wir uns kurz über de« Inhalt von Luthers (ilaubens-
*dec orientiert uinl pfesehen, dass der grosse Keforniator in der
T*hut nichts Anderes dazu liat, als was, wie wir vorhin sagten,
^lilerium einer tTlaubi^nsgenn^inschaft im kiiehliehen Sinne des
Wortes ist, in unserem FaHe der christlich-kireblichen Glanbens-
S^^nneinschaft: der dogiTiatische Glaube und die Überzeugung seiner
Hneinseligmar-hiMulen Kraft, Das ,,Wort Gottes" sieht er als für
Ulli» biiMb'ud an nnd ausser der durch dieses Wort begriijuh^ien
Kirche giebt es auch für ihn keine „Seligkeit'*.'-) Dadurch winl
znr (neniige klar gewor(hm sein, dass wir uns des ganzen Lufhe-
risehen Dogmatisuins bewusst Ideiben, dass wir weit davon enl-
ftrut sind, seim^ Anschauungen mit denen Kants nach jeder Kich-
tnng hin in f^hereinstimmung bringen zu wollen, oder sie gar mit
ihnen zu identifizieren. Vielmehr deuken wir hier rücksichtlich
(Ii's Dogmatismus Lulln^rs frenan, wie Harnack, der da sagt:»)
„Kr staud nicht im Bunde mit hellen Geistern, welche die Theo-
logie berichUgf^n ujui damit eine zutreffende Erkenntnis der Welt
Und ihrer Ursarh(^n heranfführen wollten. In ihm lebte übeihaupl
nicht der nnwidei^tehüche Lhang des Denkers, der nach theore-
tischer Klarheit strebt, ja er hatte einen instinktiven Widerwillen
und ein eingeborenes Misstrautii gegen jeden Geist, der lediglich
von der Flrkenntnis geleitel, Irrtümer kühn berichtigt. Wer auch
hier für den »ganzen Luther* heute meint eintreten zu können, der
kennt ihn entwedt*r nicht, oder setzt sich seiher dem V<'rdachte
auSy dass ihm die Walirheit der Erkenntnis eine geriïigfugige
Ï) Drittf Kasteiiiireili^rr vom Jahre ir>2:J. XXVIII. S. 223, v^L anch
die erste Faste npredi^^t XXVI IL 8. 206.
«) KirchenposüUe X, 8, 162, vgl. Harnack a. a. 0. 111. S. 745.
»^ Harnack a. a. 0, lU. S. 732 f.
374 B. Baueh,
Sache isf Und doch wird man auch weiter mit Hamack sagen
können: „Luther hat uns für diesen Ausfall nicht nur dadurch
entschädigt, dass er religiöser Reformator war, sondern auch durch
den unerschöpflichen Reichtum seiner Persönlichkeit. Welch eine
Fülle umschloss diese Persönlichkeit/ Aus dieser ihrer Fülle trieb
Luthers Persönlichkeit auch das hervor, was nicht bloss theolo-
gische und kirchliche, sondern allgemeine Bedeutung gehabt bat,
so eng es mit dem reformatorischen Prinzip, der reförmatoriscben
Kraft Luthers verknüpft, ja mit ihr eines und dasselbe ist, nur
von anderer iSeite gesehen; und diese allgemeine Bedeutung wird
es auch behaupten. Eben darin werden wir auch Berühmogs-
punkte und zwar tiefliegende Berührungspunkte mit Kant antreffen,
ohne etwa des einen Anschauungen mit denen des anderen gleich-
zusetzen.
§2.
Der formal-praktische Glaube.
In Rücksicht auf den Inhalt des Lutherschen UUnbens
können wir also nichts eigentlich Neues, keine eigentliche Nen-
schöpf uug gegenüber der alten Kirche feststellen. Selbst der Umstand,
dass er die Persönlichkeit Jesu als Gottheit glaubte und ihre Er
löserkraft im Kreuzestode in den Mittelpunkt des religiösen luter-
osses stellte, das wäre nichts prinzipiell Neues im Verhältnis zum
alten Dogmatismus, für den ja Jesus auch Gottsohn und wahrhaf-
tiger Gott gewesen und sein Tod die condicio sine qua non der
Erlösung aus den Ketten der Sünde und des Verderbens bedeutet
hatte. Luther selbst war zwar der (Überzeugung, und zwar oft,
wenn auch nicht immer, der richtigen Überzeugung, dass iu dor
alten Kirche auch aller inhaltlicher, dogmatischer Glaube verloren
gegangen sei. Vom „Papst und den Seinigen", oder wie er lieber
will, vom „Antichrist und seiner Rotte" sagt er: „Denn weil sie
des Glaubens sind, dass kein Gott, keine Hölle, kein Leben nach
diesem Leben sei, sondern leben und sterben, wie eine Kühe, San
und ander Vieh, 2, Petr. 2, 12, so ists ihnen gar lächerlich, dass
sie sollton Siegel und Briefe oder eine Reformation halten/')
Und dem gegenüber will er in der That nur das Dogma, wie es
1) Wider das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet. XXVI. S. l26f.
In dieser Schrift kelirt er eigentlich gerade den dogmatischen Standpunkt
wider die „Papisten" hervor.
Luther und Kant. 375
lie ^Schrift" für ihn bietet, mit besonderem Nachdruck hervor-
œtiren. Mau mag ihn darum, wie Harnack, mit Recht, als* den
, Restaurator des alten Dogmas" ansehen; hätte er aber nur auf
lie Erneuerung des dogmatischen Schriftglaubens gedrungen, und
väre seine Wirksamkeit damit beschlossen, wie D. Fr. Strauss 0
neint, so würden wir ihm heute geringen Dank wissen, und was
i¥eit mehr ist, seine historische Bedeusamkeit würde absolut un-
?^erständlich sein. Dass Luther am Kulte manches, ja vieles ver-
einfacht und abgeschafft hat, könnte man als etwas Neues ansehen
»vollen. Aber man würde doch sehr irren, wollte man dem an
and für sich etwelche historische Bedeutung beimessen, wenn
aben diese Abschaffung nicht ihren Grund in höheren Prinzipien
tiätte. Damit eine Persönlichkeit überhaupt geschichtlich bedeut-
sam werde, das Kulturgeschick der Menschheit in grossartiger
Weise bestimme und ihm Richtung gebe, dafür ist es nicht mit
Verneinen und Abschaffen genug; und insbesondere ist es damit
uicht genug für die Geschichte der Religion. Nur verneinende,
wenn auch schwärmerische Geister hinterlassen keine Spur von
ihren Erdentagen auf dem Schicksalswege der Geschlechter. Oder
sehen wir heute noch Bildersturm und Bilderwut auf die Ge-
schichte grossartig weiterwirkenden Einfluss ausüben, den der
Historiker auch nur des Fixiereus für wert hielte? Nein! zur
geschichtlichen Bedeutsamkeit gehört mehr: ein Ausserordentliches,
Exemplarisches. Und dies ist immer etwas Positives, eine eigen-
irtig neue Schöpfung. Nicht destruktiv, sondern konstruktiv,
[licht bloss zerstörend, sondern schaffend muss das Wirken einer
Persönlichkeit sein, die für die Geschichte Wert und Bedeutung
haben soll. Und erst aus dem, was sie positiv schafft, was sie
(1er Menschheit Neues bringt, müssen wir verstehen können, warum
sie alte überlebte Seinsformen aufzuheben trachten muss. Der
f»minenten Wirksamkeit Luthers muss darum auch ein in der That
neues, in der Geschichte der Menschheit einzigartiges Moment
entsprechen, aus dem heraus wir auch verstehen, wie er manches
vereinfachen und abschaffen konnte, was ihm bedeutungslos und
unwesentlich, ja verderblich erschien, ohne dass wir darum diese
Abschaffung an sich selbst für etwas Historisch-Wesentliches
halten dürften. Es fragt sich nur: Was ist das Historisch-Be-
deutsame an Luther? Das Neue, das er bringt, schliesst sich un-
^ a. a. O. S. 21.
376 B. Bsaoh,
mittelbar an das Alte an, das er überkommt, so verschieden es
auch von ihm ist. Es schliesst sich an die Hauptdogmen an,
welche die junge Kirche — in ihrem ursprünglich fast überkon-
fessionellen Drange, den sie von der Mystik empfangen, sich selbst
hemmend, — später um so eifriger festhalten musste, je mehr sie
in ihrem Bestände von der alten gefährdet ward. Aber Lnther
selbst hatte es schon mit der ganzen Kraft seiner im Innersten
dogmatisch angelegten Natur festgehalten. Und doch gab er
seiner Glaubensidee zu dem alten einen neuen Inhalt, einen ganz
anderen Inhalt, als ihn der alte Glaube gehabt, und wie er io
dessen Wesen nicht aualjtisch liegt.
Ein Inhalt im bisherigen Sinne ist das allerdings nicht. Es
ist sozusagen kein materialer, inhaltlicher Inhalt, der Dogmen und
inhaltliche Lebenssatzungeu betrifft, sondern ein formaler Glanbe,
ein Glaubensprinzip.
Man hat seine historische Bedeutung von jeher in der B^
touung der allein-rechtfertigenden Kraft des Glaubens gesehen.
Wir könnten nichts dagegen haben, wenn mau sich nur immer
bowusst wäre, dass damit seine Bedeutung nicht erschöpft ist,
dass seine reformatorische Kraft zwar in dieser Betonung ihren
Angriffspunkt findet, aber von hier aus unendlich weitergreift.
Und selbst in der Betonung des alleinrechtfertigenden Glaubens
liogt eine neue Wendung, auf die man nicht immer Eücksicht
nimmt. Nur mit dieser haben wir uns, solange wir seine Glaubens-
idee an und für sich betrachten, zu beschäftigen, noch nicht
aber damit, wieweit diese Wendung hochbedeutsame Folgen nach
sich führt. Bleiben wir also zunächst bei der Frage nach der
alleinrechtfertigeudeu Kraft des Glaubens stehen, und sehen wir
zu, wie Luther sie versteht. Gewöhnlich glaubt man diesen
Rt'griff damit zu erschöpfen, dass man sagt, Luther habe gelehrt:
(1er Mensch vermöge durch eigene gute Werke nichts, sondern iu
ihm wirke allein der Glaube alles, und zwar der Glaube an die
Erlösungsthat Christi: diese gebe ihm, indem er fest daran glaubo,
auch die KcM'litfertiguiig, zu der er sen)er nichts hinzuthun könnt'-
l)ies(' Auffassung von der liUtherischen Glaubensidee ist richtig
und unrichtig zugleich. Das heisst: sie ist nicht erschöpfend, sie
ist zu eng. Gewiss war das Erlöslingsbedürfnis in Luther be-
sonders lebendig und für seine Religiosität und seinen Glanben
bestimmend. Aus eigener Kraft, das war allerdings seine Über-
zeugung, kann der Mensch des 8ündenelends nicht ledig werden,
Luther und Kant. 377
larum bedarf er jener Erlösuugsthat. Und auch dieser kann er
ius eigener Kraft — das ist ebenfalls ganz richtig im Sinne
Luthers gedeutet — nichts hinzuthuu. Insoweit hat die erwähnte
Deutung des Begriffs vom alleinrechtfertigenden Glauben bei
Luther Recht. Wenn sie damit aber dessen Wesen erschöpft zu
tiaben meint, ist sie im Unrecht. Denn ei-steus liegt in der Be-
tonung des passiven „Nichts-Hinzu-Thun-Könnens" wiederum nichts
eigentlich Neues, es ist im Begriff der „Erlösung" analytisch ent-
halten. Was sollte denn der Mensch dieser hinzuthuu können,
wenn er ihrer als Wirkung der göttlichen Erlösuugsthat teilhaftig
wird, er also keiner Eigenerlösuug mehr bedarf? Mag Luther
darum auch das Erlösungsdogma besonders und viel schärfer be-
tont haben, wie es vor ihm geschah, so könnte man darin, wenig-
itens im Prinzip nichts Neues, nichts Historisch-Einzigartiges
eben, das die Grösse seiner Wirksamkeit und seine Bedeutung
ach für uns Neueren erklärt; es wäre eben nur eine neue, be-
onders scharfe Betonung des alten Dogmas. Zweitens:
lUthers Ansicht lediglich so gef asst, liesse sich viel weniger als Be-
auptung des alleinrechtfertigenden Glaubens, denn als solche der
Qeiorechtfertigenden Erlösung verstehen, wie auch vorher alle,
ie gerade auf die That Jesu ihr religiöses Interesse koncentrierten,
rotz der Übereinstimmung im Wort (sola fide) mit Luther, in
Virklichkeit das Verhältnis fassten. In der Art aber, wie Luther
en Glauben betont, liegt eine Wendung zur sittlichen Aktivität,
inbeschadet der religiösen Passivität des „Nichts-Hinzuthun-
^önnens". Zu diesem passiven Moment tritt für Luther ein sub-
ektives aktives, die Glaubensthat der Persönlichkeit tritt in den
Vordergrund der sittlich-religiösen Wertsetzung. Von jedem gilt:
,Da steht jeder Einzelne für sich allein, sein Glaube wird ver-
angt." 0 Und das ist das absolut Neue und p]inzigartige in
Liuthers Wirken : die Verinnerlichung des Glaubens durch die that-
sroU-lebendige sittliche Gesinnung.*)
1) Von der Babyl. Gefangenschaft der Kirche. S. 414.
2, Mag selbst Pauhis dem Wort die Kraft und die That gegenüber-
jtellen, worin Luther ihn aufnimmt, so hat doch für den Apost«! Kraft
ind That viel eher eine mehr contemplative Bedeutung, und ich glaube,
Üe Übereinstimmung des Apostels mit dem Reformator im Prinzip ist
nehr eine wörtliche als eine wirkliche. Das Hei'vorkehren des Spontanen,
Persönlichen ist und bleibt Luthers Verdienst. Unsere späteren Aus-
ftthmngen werden das noch deutlicher nahe legen.
378 B. Baach,
Zuerst soll der theoretisch-extemalisierte inhaltliche Glaube
zurückgenommen werden in das menschliche Herz, er soll vcr-
innerlicht werden, indem der Mensch nicht bloss ihm nachlebt and
in ihm lebt, sondern ihn lebt. Nur diese Verinnerlichung giebt
jenem Glaubensinhalt, der an sich nichts Anderes ist, ^s eine
theoretische Funktion, Weil, weil er dadurch erst zum erlebten,
religiösen Glauben, einer Funktion des religiösen Gemütes wird.
Jenen Dogmenglauben haben seinem theoretischen Inhalte nach
auch die Teufel, die da „glauben und zittem"; aber er ist nicht
ihr Herzenseigentum, in dem, und nach dem sie leben, und das
sie leben. Das aber soll der Mensch, weil und nur darum weil
es Gott gefällig ist.
Hier schon sehen wir deutlich, wie die beiden Bedeutungen
des Glaubens bei Luther sich vereinigen und zusammentreten
müssen, die wir darum doch begrifflich immer streng von einander
zu unterscheiden haben, um nicht dieselben Fehler und Missver
Stündnisse zu begehen, welchen beschränkte Gegner Luthers
immer anheimfallen, die aber selbst kritische Geister von der
Schärfe und Bedeutung eines Strauss oft nicht vermeiden.
Dem inhaltlichen Glauben tritt hier also ein formaler Glanbe^
dorn Glaubonsinhalt ein Glaubensprinzip gegenüber. Das Glaubens-
I)rinzip ist die Übci'zeugnng, die da glaubt aus Liebe zu Gott.
Ks ist (hîr Glaube», es sei Pflicht zu glauben an den Inhalt der
Schrift und danach zu loben, nicht bloss weil dieser wahr sei,
noch weniger, um damit ^Gottes Huld zu erringen,"*) um von Gott
etwas zu ,. verdienen",') sondern lediglich Gott zu Liebe uud
Gott zur Khre. Dieser Glaube allein hat Sinn, Wert und Br-
d(Mitung vor Gott, weil in ihm die Liebe zum Ausdruck kommt,
und weil er ohne Liebe nicht sein kann, während der inhaltliche
(ilaube wohl ohne die Lie]»e sein kann und meist auch ohne die
Liebe ist. Darum kann sich Luther s) auf Paulus berufen: „Wonu
icii mit Menschen- und Kn^elzungen redete und hätte der Liebe
nicht, SU wäre ich ein tönend Krz oder eine klingende Schelle.
Und wenn ich wcissag-eu könnte und wüsste alle Geheimnisse und
') V^l. den Sermon von den ^iiten Werken XX. S. 20f>
2) V>1. die 4. KHstenpredi^t vom Jahre 1523. XXVlll. S. 2H\ ff.
•'*) Zu wiederholten Malen, besonders im ,,Sermon von den jfrutf"
Werken", in der .Freiheit eine« Christenmensclien" und in einigen Fasten-
predigten vom Jahre 152B.
Luther und Kant. 379
hätte allen Glauben, also dass ich Berge versetzte, und hätte
Jer Liebe nicht, so wäre ich nichts."
Nun verstehen wir, wie Luther sagen kann, der Glaube allein
rechtfertige, und doch auch wieder mit Paulus: Hätte ich „allen
Glauben", hätte aber ,,der Liebe nicht", so wäre ich nichts. Er
redet da eben von zweierlei Glauben; im letzten Falle vom dog-
matisch-inhaltlichen, im ei-sten von dem formalen praktischen
Glauben, dem Glaubensprinzip, das ihm eins ist mit der guten,
gottgefälligen Gesinnung; und zwar für ihn deswegen eines ist
mit der guten Gesinnung, weil es eines ist mit dem rein persön-
lichen Streben, das „nicht seine Sache sucht, sondern allein das
Wohlgefallen Gottes." So versteht es sich für Luther, ,.dass
solche Zuversicht und Glaube Liebe und Hoffnung mit sich
bringt. Ja, wenn wirs recht ansehen, so ist die Liebe das erste
und geradezu gleich mit dem Glauben." Darum meint Luther
auch: Zu reden wüssten sie wohl „von der Lehre, die auch ge-
predigt wird, als vom Glauben" . . . aber dieser Glaube ist nichts
wert. . . . „Gottes Reich steht nicht in den Worten, sondern in
der Kraft und in der That." ^) Das bedeutet aber für Luther
nichts Geringeres, als: Der Glaube an Worte, selbst an die der
Schrift, kui-z an allen Glaubensinhalt, ohne die gute Gesinnung,
ohne die (Überzeugung der Gottgefälligkeit, kurz „ohne die Liebe
ist nichts wert; ja er ist nicht ein Glaube, sondern ein Schein
des Glaubens, gleichwie ein Angesicht im Spiegel gesehen, nicht
f*in wahrhaftiges Angesicht ist, sondern ein Schein des Ange-
sichts." ^
Dieser praktische Glaube unterscheidet Luther also von der
ilten Kirche, stellt ihn hoch über diese, und in die Nähe der Mystiker.
\ber auch von der Mystik ist er zu trennen, von der spekulativen
Eckhailschen, weil er die Verinnerlichung durchaus ins Praktische,
flicht in die Metaphysik verlegte; von der „praktischen Mystik"
lus einem anderen hochbedeutsamen Grunde. Zwar hatte auch
Jiese das Religiöse in die Verinnerlichung des reinen Heraens-
nicht theoretischen Glaubens gelegt. Aber in der Selbstversenkung
des Individuums in die Gottheit, des Endlichen ins Unendliche
hatte die praktische Mystik einerseits eine Selbstentäusserung der
Persönlichkeit, ein Auflieben des Individuums, anderseits einen Zu-
1) Erste Fastenpredigt (vom Jahre 1523) XXVIII. S. 208 ff.
^) Ebenda,
380 B. Bauch,
Stand der Beglückung und Befriedigung gesetzt Dadurch stehen
sie Luther entgegen. Denn dieser sucht im Glauben „nicht seine
Sache ""y sondern nur das Wohlgefallen Gottes; und er sucht eben
darum das Wohlgefallen Gottes nie und nirgends um seines
Glückes und seiner Befriedigung willen, sondern nur um seiner,
d. h. des göttlichen Wohlgefallens selbst willen. Er will von
Gottes Huld nichts „verdienen^, sondern alles „umsonst^ thnn und
alles „umsonst" ^) von Gott erhalten. Und endlich unterscheidet &
sich von der Mystik dadurch, dass die Persönlichkeit im Glauben zwar
auf der einen Seite aber nur rücksichtlich ihres Glückstrebens sich
ihrer selbst entäussert, auf der andern Seite aber eigentlich dadurch
erst ganz auf sich selbst gestellt wird und zu herrlicher Freiheit
und Selbständigkeit gelangt. Auch liier bildet die Aktivität des
Glaubens das unterscheidende Moment. Wir werden bald sehen,
wie dieser aktive, persönliche, rechte, fromme Glaube, der da
glaubt Gott zu lieb und zu Gefallen, nach Luther den Menschoi
auf eine eigene Art frei und selbständig macht; wie er dem dn-
zelnen Frommen den „rechten Verstand*' und die „Macht, za
schmecken und zu urteilen, was da recht oder unrecht im Glauben
wäre,^>) giebt, nämlich in dem inhaltlichen, dogmatisch-Üieore-
tischen.
So treten inhaltlich-dogmatischer und formal-praktischer
Glaube in eine ganz bestimmte Wechselbeziehung, die wir noch
näher zu betrachten haben. Dadurch wird auch die Bedeutung
jedes einzelneu der in Wechselwirkung tretenden Faktoren noch
besonders klar werden.
§3.
Das Verhältnis von inhaltlichem und formal-praktischem
Glauben.
Wir deuteten soeben darauf hin, dass ein eigentümliches
Wechselverhältnis zwischen inhaltlichem und formalem Glauben bei
Luther bestehe. Und dieses ist um so enger, als Luther selbst
beide Begi-iffe in der Reflexion und Abstraktion nie aus-
drücklich getrennt hat, wiewohl er sie praktisch unterscheidet,
und zwar sie unterscheidet, um sie auch mit einander wieder in
1) Vgl. Freilieit eines Cliristenmenschen XXVII. S. 191. Später wird
uns diese Liitherisclie Glaubensauffassiing in ilirer ganzen Trag^veite be-
gegnen.
2) Sendschreiben an den christlichen Adel. XXI. S. 288.
Luther und Kant. 381
Eins setzen zu können. Wir wollen das hier an die Spitze der
Untersuchung über das Wechselverhältnis beider Begriffe stellen,
weil es die Quelle unzähliger Missverständuisse gewesen ist.
Sehen wir uns nun diese Wechselbeziehung näher an, so
kommt hier schon ein eigentümliches Schwanken zum Ausdruck,
das sich bald als die Schwebe zwischen dem Konfessionellen und
dem Überkonfessionellen in Luthers Glaubensauffassung offenbart.
Wir haben ja bereits des längereu ausgeführt, inwiefern der Re-
formator noch durchaus befangen geblieben ist in dem, was man
das Kirchentum am Christentum nennen kann, in den Dogmen,
den zeitlichen Glaubenssatzungen, denen er zeitlose Geltung aner-
kennt. Uud doch ist auch hier schon ein gewaltiger Fortschritt
zum Überkonfessionellen gegenüber der alten Kirche za konsta-
tieren. Dieser liegt eben darin, dass selbst der Schriftglaube
nicht als Alleingut uud ausschliesslicher Besitz einer sichtbaren
Religionsgemeinschaft gedacht wird, sondern als wertvoll auch
ausser ihr gilt, wenn ihn die Person nur in ihr Herz aufnimmt.
„Lass fahren Sakrament, Altar, Pf äff und Kirche; denn das gött-
lich Wort ... ist mehr denn alle Dinge, welches die Seele nicht
mag entbehren, so wird dich der rechte Bischof Christus selber
speissen mit demselben Sakrament." *) Hier wird vollkommen
deutlich, was wir vorhin bereits über die Verinnerlichung des
Dogmenglaubens sagten; dass er nicht als theoretische Funktion
exterualisiert, sondern in das menschliche Herz, in die Persönlich-
keit, die ihn nachlebt und lebt, selbst zurückgenommen werden
sollen, damit er vor Gott Wert habe. Die äusseren Zeichen soll
man i,fahren lassen" und innerlich und „geistlich" auch den
Dogmenglauben, den Glauben an „Schrift" und „göttliches Wort"
üben. Durch diese Forderung erhält das Wesen der Verinner-
lichung seine gewaltige Tragweite, die wir später in ihrer ganzen
Bedeutung verfolgen werden.
Damit haben wir aber bereits das erste Wechselverhältnis
zwischen inhaltlichem und praktischem Glauben erfasst. Denn
eben diese Verinnerlichung ist eine Funktion des praktischen
Glaubens, sie ist nur möglich durch diesen, durch die Liebe, die
da, „wenn wirs recht ansehen, . . . geradezu gleich mit den
1) Ein Unterricht der Beichtkinder über die verbotenen Bücher Dr.
Martin Luthers. XXIV. S. 205 f. Zu vergleichen wäre auch der Sermon
vom Bann und der Sermon vom Hochw. Sakrament. Auf die eigentliche
Stellungnahme Luthers zurKirclie kummeu wir noch ausführlicher zurück.
382 B. Bauch,
Glauben" ist. Und der Schriftglaube wird davon dnrdians ab-
hängig gemacht, da er ohne den praktischen Glauben eben selbst
„kein Glaube, sondern nur ein Schein des Glaubens" ist.
Aber an den Schriftglauben überhaupt bleibt der Mensch
nach Luther gebunden. Und so wird das Abhängigkeitsverhältnis
von inhaltlichem und praktischem Glauben nun direkt umgekehrt.
Denn dieser soll selbst nur dem möglich sein, der den inhaltlichen
Glauben — sei es nun innerhalb, sei es ausserhalb der kirchlichen
Gemeinschaft — besitzt; weil der Glaube, dass man „Gott wohl
gefalle, nur einem Christen mit Gnaden erleuchtet und befestigt,
möglich ist."" Alles andere Gute kann „ein Heide, Jude, Türke,
Sünder auch thun ; aber fest trauen, dass er Gott gefalle, ist . . .
nur einem Christen . . . möglich.**')
Der praktische Glaube ist ja eines mit der Liebe und Zu-
versicht in seinem Thun Gott zu gefallen, weil das Thun nur um
dieser Cjottgefälligkeit und Liebe \iillen geschieht. Nun soll aber
diese Zuversicht und Glauben nur einem „Christen, mit Gnaden
erleuchtet und befestigt**, möglich sein. Also wird schliesslich
wieder die Möglichkeit der um der Gottgefälligkeit lebensvoll
thätigen Gesinnung abhängig gemacht von dem inhaltlichen
Glauben, weil nur, wer dessen inne ist, sich auch zu jener soll
aufschwingen können.
Aufgegeben hat Luther die Starrheit seines inhaltlichen
Glaubens zwar niemals ganz; man mag darum bedauern, dass er
den letzten, gewaltigsten Schritt der Konsequenz nicht that.
Allein wer historisch denkt, der wird sich zugleich doch sagen
müsseiK dass mit ihm sich Luther möglicherweise seine historische —
Wirksamkeit zertreten hätte.* Aber, wie dem auch sei, er ist es -^
diH*h auch wit*der sell>st, der wenigstens die Ansätze, jene StaiT-
heit zu überwinden, geschaffen hat.
Denn nicht allein, dass er den Werl des inhaltlichen Glaubens^^
vv»n vvrnherein diH'h uK^rhaupt vom praktischen besUmnit sein-^K3
lit^ss, kehrt sich selbst das zweite Abhängigkeitsverhältnis noch^*=i
einmal um, und zwar ganz in der Richtung des ersten. L'nd sokttd
sry'winnen wir eine dritte Ansicht üln-r die Wechselbeziehung xov^^-i
Inhalt liohrm und fonnalem Glaulvn: ^Die Schriff*, das „göttlich^^^
• S<^mioii \or. deii initen Werken, \X. S. lÄjL
^^ Womii wir iiioht die l'Kçx^rx^imib.eiî âiisvgespnx'hen haben woUei^B- .
.'il> h.^T!e l.uihtr dit^^jer ar<*N^"Jii*'ii*iH*hen Wirksam^keit we^n den Dogmei^-
i^ÎAwWi. NO >vhÄrf Intont uiui die Kv.i*« ^jiui;! liicli ^xctgt'U.
i
Luther und Kant. 383
// W^ort** bindet uns überhaupt. Deren Inhalt ist sowohl theore-
tisch wahr, wie praktisch giltig; wir sind durch ihn „gehalten".
Aber um seiner im Besonderen inne zu werden, um den ein-
zelnen Inhalt der Schrift zu verstehen, den Schriftglauben zu
erfahren, bedarf es von unserer Seite wieder sozusagen eines
Organs. Luther sieht dies in dem, was er den „rechten Ver-
stand" nennt. Dieser „rechte Verstand" aber hat nichts zu thun
etiva mit unserem reflektierenden Erkenntnisvermögen. — Man
^^reiss, wie geringschätzig Luther allenthalben von der „armen
Teufelshure" Vernunft redet. — Vielmehr ist er wieder nichts
als der „reine Herzensglaube", ein frommes, demütiges, aus der
Liebe zu Gott fliessendes Glauben-Wollen, das also dem inhalt-
lichen Glauben doch vorhergehen muss. Das heisst: Er ist eben
'^eder der rein persönliche praktische Glaube, der, ohne Ansehen
Jsr Person allein durch „Gutheit" des Herzens gewährleistet wird
nSo jemand etwas Besseres offenbart wird, ob er schon sitzt und
dem zuhört in Gottes Wort, so soll der erste, der da redet,
stillschweigen und weichen. Was wäre dieses Gebot nutze, so
allein dem zu glauben wäre, der da redet und obenan sitzt? Auch
Christus sagt Joh. 6, 45, dass alle Christen von Gott gelehrt
"^^erden sollen. So mag es wohl geschehen, dass der Papst und
die Seinen böse sind und nicht rechte Christen, noch von Gott
ß'elehrt, rechten Verstand haben, wiederum ein geringer Mensch
den rechten Verstand habe; warum sollte man ihm nicht glauben?"
'Jod dieser rechte Verstand lässt uns „auch Macht haben, zu
^^^hmecken und zu urteilen, was da recht oder unrecht im Glauben
^ôre." Darum können und sollen wir „mutig und frei werden
^ï^d den Geist der Freiheit (wie Paulus ihn nennt) nicht mit er-
dichteten Worten der Päpste abschrecken lassen, sondern frisch
'hindurch alles, was sie thun oder lassen, nach unserem gläubigen
^erstand richten und sie zwingen, dem Besseren zu folgen und
^icht ihrem eigenen Verstand." i)
Dieser „Zwang" durch den „Besseren" ist aber kein ge-
^^altsamer, im Gegenteil macht er frei von der gewaltsamen Be-
drängnis der Autorität, indem eben der „Bessere", der Gesinnungs-
^^chtige in sich selber seinen Grund und Halt findet. Der Auto-
^*^tät aber hält Luther gegenüber: „Niemand soll zum Glauben
^> Sendschreiben an den christlichen Adel deutscher Nation. XXI.
^. 287 ff.
Kantatadira IX. 25
3Ô4 B. BaQeh,
gezwungen werden** ^) und: „Ich will es nit leiden, dass Menschen
neue Artikel des Glaubens setzen.** *) „Denn was mir Gk>tt nicht
verbeut und ichs frei habe zu thun oder zu lassen, da soll ndr
kein Mensch, ja kein Teufel noch Engel ein Gebot darans machen,
und sollte es auch Leib und Leben kosten.** ^ So wird mit dei
Forderungen, man solle „Gewissen nicht treiben und martern** oder
„darum hüte dich und lass kein Ding so gross sein auf Elrden —
ob es auch Engel vom Himmel wären, — das dich wider deii
Gewissen treibe von der Lehre, die du göttlich erkennst und ach-
test,*''^) dem Gewissen nicht nur Freiheit gegenfiber aller mensA-
lichen Autorität, sondern eben damit auch implizite — nicht zwar
der Schrift überhaupt, aber doch — dem Schriftverstftndnis gegea-
über gegeben, sodass auch zur Frage nach deren Autorität nir
ein, wenn auch gewaltiger, Schritt war, den Luther aUerdings
nicht vollzog.
Man wird sich über die logischen Mängel und Widersprödie
in Luthers Glaubenslehre nicht einen Augenblick zu täuschn
brauchen, und doch deren Bedeutsamkeit und Tragweite wohl wfi^
digen können. Wir selber haben die Widersprüche deutlich gmg
hervortreten lassen, wenn wir ihnen auch keine aosdrücklidie
Kritik nachschickten; wir wissen femer, dass selbst die letite
Wendung zur Freiheit von der Autorität, ja auch schliesslich keine
absolute Befreiung von der Schrift bedeutet, und wie sehr „Wort
und Meinung Christi" für Luther in der Schrift selbst Autoritft
ist. Es ist ja auch so leicht, ohne Widerspruch zu bleibefi.
Wieviele Menschen ersparen sich im Leben grosse Widerspräche,
weil sie sich Gedanken ersparen ! Und auf die Logik Luthers
kam es uns, wie gleich gesagt, nicht an. Das Sittlich-Beligi^
steht im Vordergründe des Interesses für jeden, für den Luther
selbst von Interesse ist. Und in Rücksicht darauf haben wir,
glaube ich, doch aus seiner Glaubensidee das Prinzip der lauteren,
gottgefälligen, selbsteigenen Gesinnung der Persönlichkeit analy-
sieren können. Wir werden kaum noch einer besonderen Zurück-
weisung solcher Vorwürfe bedürfen, wie sie Strauss gegen Luther
erhebt, wenn er sagt: „Hätte er den an sich gleichgUtigen
1) Unterricht der Beichtkinder. XXIV. S. 205.
2) Vom Papsttum zu Rom wider den berühmten Romanisten »
Leipzig. XXVII. S. 136.
3) Vierte? Fastenpredigt (vom Jalire 1623). XXVII. S. 233.
*) Unterricht der Beiclitkinder. XXIV. S. 207 f.
Luther und Kant. 385
Äusserlichkeiten gegenüber die sittliche Oesinnuug als dasjenige,
worauf es ankommt, betont, und von Gott gesagt, dass er auf
den ernstlich gut^n Willen sehe, da, von jenen Äusserlichkeiten
gar nicht zu reden, auch die Ausführung des sittlich Gewollten
beim Menschen immer unvollkommen bleibe: so müsste ihm, der
katholischen Kirche gegenüber, die feinere und tiefere Auffassung
dieses Verhältnisses zugestanden werden. Aber seine Lehre vom
rechtfertigenden Glauben, neben dem selbst die gute Gesinnung
Nebensache sein soll, war einerseits überspannt, und andererseits
für die Sittlichkeit äusserst gefährlich." 0
Solche Sätze aus der Feder eines der scharfsinnigsten Theo-
logen nehmen sich merkwürdig aus. Luther bedeutet, scheint es
danach, nicht nur keinen Fortschritt über die alte Kirche, son-
dern eine „für die Sittlichkeit äusserst gefährliche" Erscheinung,
da neben seiner Glaubensidee „selbst die gute Gesinnung Neben-
sache sein soll." Hamack sagt einmal, Luther habe den „Dua-
lismus von dogmatischem Christentum und praktisch-christlicher
Selbstbeurteilung und Lebensführung aufgehoben." 2) Man wird
das zugeben dürfen, insofern Luther in der That den dogmatischen
Glauben und den praktischen Glauben innig, wenn auch nicht
ohne Widerspruch, mit einander vereinigte. Dass aber eben
beide Bestandteile in seiner Glaubensidee beschlossen liegen,
wird man sich darüber immer gegenwärtig halten müssen. Und
dass dieser praktische Glaube, der „reine Herzensglaube", wie er
ihn noch nennt, die lautere Gesinnung selber darstellt, und nicht
neben dem Glauben eine Nebensache, sondern in seiner Glaubens-
idee mit dem dogmatischen Glauben zusammen die beiden Haupt-
faktoren, also selbst eine Hauptsache bedeutet — mag sein Ver-
hältnis zum dogmatischen Glauben auch widerspruchsvoll sein — ,
das wollten wir bisher nur darstellen. Welche eminente Be-
deutung aber dieser Gesiunungsglaube sonst noch hat, werden wir
im weiteren sehen.
Kapitel II.
Der Glaube und die Werke.
Wir haben bisher die Gruudzüge der Glaubenslehre Luthers
kennen gelernt und gesehen, wie man in seiner Glaubensidee zwei
Bestandteile unterscheiden muss. Von besonderer Bedeutung er-
1) a. a. O. S. 20
«) a. a. O. m. S. 776.
25*
386 B. Bauch,
schien ans der praktische Glaube, dessen weitreichenden Wert wir
aber noch lange nicht genugsam klargestellt haben. Wir betonten
nur das Thathafte, das in seinem Wesen liegt, und die Persön-
lichkeit allein auf sich und auf ihren Gott stellt, unabhängig yon
aller menschlichen Autorität. Dieses Prinzip des eigensten that-
vollen Glaubens entwickelt nun seine bedeutsamsten Folgen fBr
das Leben und das sittliche Wirken des Menschen überfaai^l
Denn auch hier ist es der höchste bestimmende f^aktor, indem
lediglich des Einzelnen Eigeuthat unter dem Gesichtspunkte des
Wohlgefallens Gottes betrachtet wird. Mit der Glaubenslehn
Luthers verschmilzt so aufs innigste seine Sittenlehre. NatSrlkh
kann es sich hier ebenso wenig um ein ausgeführtes System der
Sittenlehre handeln, wie wir vorhin ein System der Glaubenslehre
Luthers darstellen wollten. • Es kommt uns auch hier nur auf die
grossartigen Prinzipien, auf die Grundgesichtspunkte, unter denen
Luther das praktische Wirken, das Handeln des Menschen als
That werdenden Glauben fasst.
Diese Hauptgesichtspunkte werden aber am schärfsten nnd
klarsten hervortreten, wenn wir zuerst einen Blick auf die histo-
rische Lage werfen, zusehen, was vor Luther und zu seiner Zat
selbst als das sittlich-religiös Wertvolle im Leben und Wiiten
des Menschen in erster Linie augesehen wurde, und was dem Be-
forniator aus seiner Glaubensidee heraus nun eigentlich mit unab-
weislicher Gewalt seine Sittenlehre abnötigen musste.
§4.
Das gute Werk im Sinne der alten Kirche.
Man pflegt zwecks des historischen Verständnisses der Re-
formation durch Luther in erster Linie immer den Ablasskram und
Ablasshaiidel zu betonen. Es ist wahr, dass der Unfug, der da-
mit getrieben wurde, Luther aufs äusserste empören musste und
zu seinem reformatorischen Auftreten den ersten äusseren Anlass
gab. Denn er sah deutlich, wie die im Namen der Kirche, ja der
Religion selbst gehende Einrichtung nichts Anderes war, als ein
Geschäft, das die Kassen und Schätze des Papstes füllen sollte,
das aber auf der anderen Seite die Menschen vollkommen demo-
ralisieren imisste. Konnten diese doch nicht anders, deim glauben,
alle Selbstverantwortung sei von ihnen genommen, durch Geld yer-
möchttMi sie ihrer Sünden ledig zu werden, um in derselben Aussicht
nachher wieder lustig und frisch darauf los sündigen zu können.
Luther und Kant. 387
Und so war es weniger der äussere Ablassschacher als solcher,
als vielmehr die ganze innere Verkehrung und Verdrehung, die das
Pfaffenregiment mit dem Wesen der „Gutheit" vollzog, was Luthers
religiöses Denken und Fühlen verletzte. Es ward überhaupt für
gat and heilsam nur das gehalten, was der pfäffischen Sucht
nach Gefallen war: Gebote und Pflichten wurden hinfällig, sobald
man sich von ihnen mit Geld loskaufen konnte, das in die römi-
schen Kassen floss; für Geld fiel der Bann, für Geld wurden
Ehedispense erteilt. Jubiläumsjahre galten für gut, weil sie Geld
nach Koni brachten, und je mehr sie dahin trugen, desto häufiger
wurden sie angesetzt. Ihre ursprüngliche Zahl ward verdoppelt,
ja verdrei- und vervierfacht Kirchenwürden wurden verkauft.
Der aufs Äusserliche und den äusseren Gewinn gerichtete selbsti-
sche Sinn der Geistlichen bewirkte, dass die „Messen so jämmer-
lich geschlappert werden, noch gelesen, noch gebetet; und ob sie
schon gebetet würden, doch nicht um Gottes willen aus freier
Liebe, sondern um Geldes willen und verpflichteter Schuld voll-
bracht werden," wo „es doch nicht möglich ist, dass Gott ein
Werk gefalle, oder etwas bei ihm erlange, das nicht aus freier
Liebe geschieht." Und an den „heiligen Tagen" selber machte
sich breit das Laster: „Der Missbrauch mit Saufen, Spielen,
Müssiggang und allerlei Sünde." ^) Kurz, nicht nur ward das
„Geistliche" verweltlicht; nein, dem menschlichen Handeln ward
aller Sinn und Wert genommen. Gut sollte sein, was der Pfaffcn-
willkür nach Gefallen war, und böse, was sich ihr nicht fügte.
Ob das Recht nicht bloss recht, sondern auch gerecht war, danach
ward nicht gefragt. Wo die Gewalt war, da war das Recht, und
daram war die Kirche ja auch keine Stätte der Religion, sondern
längst eine solche der Gewalt und Politik geworden. Auf das
Gewissen des Einzelnen ward keine Rücksicht genommen, es ward
in Blindheit und Knechtschaft gehalten. Ob es für oder gegen
eine Handlung sprach, oder ob es überhaupt nicht sprach, das
galt gleichviel. Wenn nur Handlungen geschahen, die irgendwie
pfäffischen Satzungen entsprachen, so war es gut, und sie waren
die wahren „guten Werke'* im Sinne der alten Kirche. Dieser
Sinn aber musste jedem wahrhaft religiösen Sinne Hohn sprechen
and darum mit absoluter Notwendigkeit zu der Umgestaltung
führen, die Luther vollzog.
^) Sendschreiben an den christlichen Adel deutscher Nation. XXI.
S. 327.
388 B. Bauch,
§5.
Xotwendige logische Disjunktion des Begriffs vom
„guten Werk".
Gegen die guten Werke in dem jetzt besprochenen Siüne
sagten wir soeben, musste sich Luthers freies und grosses Her
wenden, und er bekämpft« sie mit dem ganzen Nachdruck seine — r
starken Persönlichkeit. Dabei war er sich, wie schon oft hen'oi — =*-
gehoben,^) der Gefahr einer Missdeutung seiner hier in Red^ -le
stehenden Lehre gar wohl bewusst, sintemal man ihm bereit:-^^^
nachredete, er „verböte gute Werke". Ja diese Missdeutunge»: -n
haben angehoben an den Tagen, da Luther seine neue Lehr* e
verkündete und sich fortgepflanzt bis auf unsere Zeit. Man verz^cr-
stand das ,, Verbieten'' der guten Werke durch Luther so, als er ^b
er nun das „gute Werk** überhaupt ablehne und verdamme^»^.
Es ist doch eigentümlich und schwer begreiflich, wie die in de^s^^r
formalen Logik förmlich aufgewachsenen und mit ihren RegeL n
gedrillten zeitgenössischen Theologen den Mann mit seiner trot ^
aller Gewalt einfachen und ungekünstelten Rede so missverstehe u
konnten, wie sie ihn missverstanden haben. Oder sollten sie de — ^r
scharfen, unmittelbar klaren und deutlichen Unterscheidung, die (5 — 't
mit seinem natürlichen Verstände, ohne die Formehi des Schu J-
drills rücksichtlich des Begriffs des „guten Werkes" vollzo^^,
wahrhaftig nicht fähig gewesen sein? Klingt es doch, als (^ "b
selbst Spener anfangs sehr verwundert darüber gewesen sei, da^SK
Luther ^an verschiedenen irrten, absonderlich in der Kirchecr»-
postille auf Mittwoch nach Ostern, so ernstlich das gottseli^^
Leben treibe, als einer nur thun kann."-» Sollten auch die, d. Se
ihm vorwarfen, seiner Lehi-e gemäss hätte man nichts Besser^BS
zu thun, als sich aufs Nichtsthun zurückzuziehen, nicht empfund^^n
haben, wie eine solche Lehre seiner thatenfrohen und wirkungr^-
HMohon Natur den allerei-sten und empfindlichsten Schlag verset 3t
haben wünle, ja dass er niemals \iiirde seine Wirkung hal> ^n
entfalten können, wenn das wirklich seine Lehre gewesen wär^3?
.\ber violloioht sieht man das und weiss dem auch eine hübstrle
*^ 8o auch von Kwald Schneider in seiner Heransgebenrorrede &'«JID
„Sennou von don piton Werken*"; in der Volksausgabe.
•^ V^l. ila/u „die Kthik Luthers in ihren Gnmdzügen*. Dargest-^üt
\on l>r. i'hr. Knu^t l.uthanit, Homherr, Konsistorialrat und Professor der
Thoolo^ie. Lei|aii^. U. Aufl. 1875.
Luther und Kant. 389
IrkläruBg zu geben. Man wird uns daran erinnern, dass wir
über ja selbst schon auf Widersprüche in Luthers Lehre hinge-
lesen haben. Damit wird man dann dem Reformator und uns
îlber jetzt „auf die Sprünge helfen" wollen. Da habt ihr nun,
ird man sagen, abermals solche Widersprüche, und eben ganz
nglaublich harte, viel schlimmere als die ersten: Widersprüche
wischen Lehre und Leben, zwischen Anschauung und Charakter,
wischen Theorie und Praxis. Nun wir sind des Glaubens, auch
er ärgste Gegner dürfte uns der Unaufrichtigkeit und Unehrlich-
eit etwelcher Bemäntelung und Verschleierung von Widersprüchen
icht zeihen. Wir hätten auf die wirklichen vorhin und die ver-
leintlichen jetzt nicht mit der Deutlichkeit hinweisen dürfen,
dt der wir es thun, wollten wir überhaupt vertuschen und be-
länteln. Darum sagen wir den Einwendungen gegenüber : Gemach !
Irstens sind die ,.guten Werke" der Kirche noch nicht die
Uten Werke überhaupt; wenn jene abgelehnt werden, sind da-
lit auch noch nicht diese abgelehnt. Und zweitens brauchen die
bgelehnten, weil sie nicht wertvoll und gut sind, noch nicht
ertfeindlich und böse zu sein, wenn sie auch wertlos sind. Wie
eschen den guten Werken der Kirche und den guten
'^erken überhaupt ein Unterschied ist, so ist auch ein Unter-
hied zwischen nichtguten Werken und bösen Werken,
tischen Wertlosigket und Wertfeindschaft. Dieser Unter-
hied ist so einfach und einleuchtend, das? ihn nicht bloss in
infalt ein kindlich Gemüt, sondern auch wirklich der Verstand
sr Verständigen sehen muss.
Nun wollen wir untersuchen, wie er sich in Luthers Wertungs-
eise selber ausprägt in seiner Auffassung von den guten Werken,
abei wollen wir ausgehen von den in seinem Sinne nicht-guten
futen Werken", um dann zu erkennen, wie er das gute Werk
îFSteht, damit es wirklich gut sei.
§6.
Luthers faktische Unterscheidung von Wertfeindschaft und
Wertiudifferenz des „guten Werkes" im alten Sinne.
Alles, was nicht gut ist, ist entweder böse oder weder gut
och höre, d. h. in Bezug auf seinen Wertgehalt indifferent. So
aben wir die Sphäre des Xicht-Guten eingeteilt, und zwar eigent-
ch schon im vorigen Paragraph. Und genau so teilt auch
iUther praktisch, wenn auch nicht in unserer theoreüsch-begriff-
390
B Bauch.
licheu Zuspitzung, ein. Dem entspricht auch genau sein Ableh
nungsverhalteu. Er lehnt die „guten Werke**, die nicht in seinom
Sinne gut sind, ab. Aber seine Ablehnung ist, ganz davon abge-
sehen, dass er nicht die guten Werke überhaupt verbietet,
selbst rücksichtlich der abgelehnten nicht durchaus eine Verdam-
mtiug und Verurteilung, Ganz deutlich spricht er von dem
Zweck des Werkes und vom „Werke an ihm selbst**; und
erkennt dieses als solches für wertlos.») Und ausdrücklich heisst.^
es: „Damm verwerfen wir die guten Werke nit um ihrentwilleu.^^
sondern um des bösen Zusatzes und falscher, verkehrter Meinnu;
willen."*) „Die \\"erke sind nit um ihrentwillen Gott augenehm,"* -*■)
darum sind sie aber auch noch nicht um ihretwillen Gott unangei^a^
nehm. Wer die von der Kirche vorgeschriebenen Werke vor ^.
bringt, gedankenlos etwa, der vollbringt damit weder etwas Gut^^ss
noch etwas Böses, seine Handlung ist in Bezug auf ilireu Wec^zit
oder Unwert gleichgiltig, indifferent. Aber ganz anders steht ^^ss
schon um die. welche die Vorschrift erliessen, und für ihre Aii^ s-
führung gebieterisch sorgen. Denn gedankenlos haben die «^s
nicht gethan. Wii* hörten vorhin, wie Luther sich beklagt, da:^ss
die „Messen so jämmerlich geschlappert werden, noch gelese j»,
«nrh gebetet; und nb sie schon gebetet würdeu, doch nicht a^ m
(toües willen aus freier Liebe, sondern um Geldes willen und vc^x*
pflicliteter Schulfl voltbracht werden." Machen wir uns an dies€5^ m
Beispiele die vorige Unterscheidung klar. Luther lehnt die in d ^^r
Messe zum Ausdruck kommende Werkgerechtigkeit ab. Nur kacui
sie ganz verschieden bei dieser Ablehnung noch beurteilt werde mj
Der „Laie", ja selbst der Priester, der damit ein ^Lippenwerlt"
vollbringt, sie thun damit nichts Gute~s. Aber sie brauchen damit
nodi nichts Böses zu thun. Es ist nur wertlos, ein „Werk «m
Ihm selbst**, das sie ausführen. Ganz anders steht es aber mil
denen, die die Messe ^jämmerlich schlappem** etwa „um Geld^
willen**. Hier ist ein böser Bestimmungsgrund de^ Herzeus, c^io
Kchlecht(*s Motiv der Seele zu erkennen: der „böse Zusatz'' äwI
tue Jals(*he, verkehrte Meinung**.
Olme subtile Begriff sspalterei, laienhaft einfacJi und klar ixni
»tmolul (vvident tret<?u diese Auschauungeu zu Tage: Das ^Werk
)} Strmon von den guten Werkeji. XX, S. 250.
•) Frfîhpit eines l'hristennaenschen, XXVTI. S. 194.
*) Hflnnon von den guten Werken. XX- S. 199.
Luther iiml Kant.
391
au ihm selbst** ist wetllos, uiir der „böse Zusatz", die „falsrhc,
verkehrte Meinung** macht es böse und verwerflich. M
§ 7.
Das cute Werk iu Luthers Siduo im Gegeusatz zur
alten Auffassung,
I^er vorige Paragraph hat bereits die quaestio juris der in ihui
aufgewiesenen Uriferscheiduug, weun auch nicht ausdrücklich ge-
stellt, so doch implicite angedeutet, und zwar sogar auch schon
in ihrer Lösung augedeutet. Damit hat er uns auch unmittelbar
vor die Frage nach dein Wesen des guten Werkes in Luthers
Sioiie geführt^ deren Beantwortung selbst schon durch die Aus-
fühnmgen unseres ganzen ersten Kapitels nahe gelegt, ist.
Stellen wir nun die quaestio juris wirklich und deuten ihre
Antwort nicht bloss an, sond<:*rn geben sie auch, so können wir
mît einem Schlage sowohl den Grund angeben für die Unter-
scheidung der wirklich guten Werke im Sinne Luthei^ und der
vermeintlich guten Werke, iu Wahrheit aber nicht-guten Werke»
als auch darauf wieder die weitere Unterscheidung von bösen und
iüclifferent^n Werken basieren.
Ganz allgemein sind die „guten Werke** im Sinne der alten
Kirche nicht auch wirklich gut^ weil sie ohne den Glauben ge-
schehen; sie sind „ausserhalb des Glaubens, darum sind
sie nichts^/-) Wie wir nun leicht innerhalb der nicht-guten
„guten Werke'* den Unterschied rechtlich begriindeu können, indem
zwar beide wertlos, weil „ausserhalb des Glaubens", die einen aber
einfach wertindifferent, weil ohne den Glauben, die anderen wert-
feindlich, weil gegen den Glauben sind, so können wir nun die
guten Werke im Sinne Luthers naher begrifflich bestimmen, indem
wir sie einfach der Gesamt bestimmuug jener beiden anderen Kate-
gorif^i antithetisch gegenüberhalten: Der Glaube bleibt für ihn
das Wert- und Unwert-Bestimmende. Sind nun die guten Werke
im alten Sinne alle nur deswegen nicht auch in Wahrheit gut,
weil sie ^ausserhalb des Glaubens** sind, imd sind sie mit
1) Eine treffliche lUiistnition könnte mau übrigens in einem (in den
„Gedanken nnd Erinnening-en** mit^eteiUenj Gespräch zwischen Bismarck
und dem Bischof von Ketteier finden. Mag Bismarck auch im Î5cherz ge-
sprochen ha hen, der Scherz entbehrt doch eines lieferen Ernstes nicht. —
Auch Paulsen weist a. a, 0. darauf hin.
^) Sermon von den guten Werken, XX. S. 197 t
392
B. Banch^
den guten Werken tibcrbanpt noch nicht identisch, sodass deren
bepriffliche Sphäre logisch weitergreift^ so müssen die wahrhaft
guten Werke die sein, die, \iir können sagen, innerhalb des
Glaubens sind, ^im Glaabpu gehen und geschehen". So-
mit haben mr den Begriff des guten Werkes im Sinne Luthers
gewonnen- Er ist aber zunächst noch recht aügemeiu und vag
bestimmt. Wir müssen seineu Inhalt darum noch etwas weiter
auseinanderlegen und erläutern.
Während die alte KiiThe nur darauf sah, dass überhaupt ge-
wisse statutarische Vorschriften g»^schehen und so etwas als ^ gutes
Werk" bezeichnete, was im günstigsten Falle aber nur «Werk an
sich'* ist, im schümmst-en aber auf einer „falschen, verkehrten
Meinung** beruht und, indem es geboten wird, den Widerspruch
des Gewissens der Persönlichkeit herausfordert, so erhält bei
Luther das gnt^.* Werk überhaupt nui" Wert, indem es einerseits
aufhört, „Werk an siclr zu sein und andererseits durch rechte,
gute Meinung bestimnit wird. Durch sie aber wird es bestimmt,
wenn es auf den Willen Gottes und dessen Wohlgefallen als auf
seinen hochsteu Zweck bezogen wird. Denu ihm nmss „Wahrheit
und alles Gute zugeschrieben werden, wie er denn wahrlich ist.
l>as thnn aber keine guten Werke, sondern allein der Glaube de&s
Herzens**. >)
Hier wird nun von neuem klar, wie notwendig die im erstei
Ka|iiti4 inni^rhalb des Glaubensbefrriffes gemachte Tnlerscheiduni
zwischen praktischem und inhaltlichem Glauben war. Denn war«
Luthers Glanbensidee, wie Strauss meint, in dem dogmatische]
Srhriftglaubeu beschlossen, so hätte Luther in der That nicht da?=~3>
gute Werk in seinem Sinne der alten Auffassung gegenübei-stellerrzni
krmnen, da diese sich gar wohl mit eini^m lediglich und rein dog~ — -
matisclien Glaulif^n vorträgt, in Wahrheit sogar auf ihn gegründe ^-ss^t
ist. Und gerade weil in der Glaubeiisidee des RL^formators de -^-^r
praktische Glaube, oder, wie er ihn hier selbst nennt, der ^Glaub e
des Herzens***) ein integrierender Faktor ist, kann rr den Wen^rt
des Werkes von der „Meinung** der Persönlichkeit abhängL g
macheu. I>ass darum die Gesinnung für ihn nicht Nebensacl*i»e
sein kann, wird wohl auch unl^ir diesem Betracht schon wiedt-^^r
*) Freilteit eines Chris ten menschen. XXVIL S. 183.
*) Eine Benennung, die es wohi klar und deutlich rechtfertig, da
wir diesen Glauben selbst als praktischen Glauben charakterisiert baten.
I
Lather und Kant. 393
klarer; und wird immer mehr einleuchten, je mehr wir den Glauben
— den wir zuerst nur sozusagen rein immanent betrachteten
und analysierten — in Verbindung mit den Werken treten sehen.
Denn dieser Glaube, „in dem die Werke gehen und ge-
schehen" müssen, das ist der „Glaube des Herzens", durch unser
Handeln und in ihm „Gott wohlgefällig" zu sein, und nur um
dieser Gottwohlgefälligkeit willen zu handeln, also aus keinem
anderen Grunde, denn um Gott zu gefallen. Kurz unser Handeln
muss, damit es Wert habe vor Gott, auf jenem Glauben basiert
sein, von dem Luther, wie wir gehört haben, sagt, dass er „Liebe
und Hoffnung mit sich bringt. Ja, wenn wirs recht ansehen, so
ist die Liebe das erste oder geradezu gleich mit dem Glauben".*)
Es ist ein zwar transscendent bestimmter, aber rein sittlicher
Glaube, von dem wir schon aus unseren ersten Ausführungen er-
kennen konnten, dass er allein in den Tiefen der individuellen
Seele seinen Halt findet. Das wurde hier noch deutUcher, da er
einerseits dem „Werk an ihm selbst" gegenübergestellt und darum
auch als dessen Wert erst bestimmend erkannt wurde. Und nun
-werden wir zu ersehen haben, wie dieser Glaube der Persönlich-
keit von Luther als das einzig wertvolle Motiv ausdrücklich klar
herausgestellt und ausser ihm keines als wertvoll anerkannt wird,
sodass das gottgefällige Handeln um der Gottwohlgefälligkeit selbst
willen, als der einzige und höchste Zweck des sittlichen Menschen
erscheint.
§«•
Der persönliche Glaube als einziges Wertmass
für das gute Werk.
Wir sind, scheint es, zu der Auffassung geführt, Luther habe
den Wert des guten Werks ganz und gar, ja ausschliesslich ab-
hängig gemacht von dem, was er den „Glauben des Herzens"
nennt, allein also von der Überzeugung des autoritätsfreien per-
sönlichen Gewissens und dessen Ausspruch, dass die Handlung
Gott wohlgefällig sei, weil sie nur um dieses Wohlgefallens willen
und aus keinem Grunde sonst vollbracht werde : und dieses sei das
eigentlich und wahrhaft gute Werk im Sinne Luthers.
Wir scheinen zunächst vorsichtig gewesen zu sein, indem wir
sagten, wir scheinen durch das Vorhergehende zu dieser Über-
1) Vgl. oben § 2.
394 B. Bftuch,
zGUgnng geführt. In Wahrheit scheint es aber nicht bloss so,
sondern ist es auch wirklich der Fall. Nur wollten wir andcmten,
dass wir es noch an der Hand Luthers näher zu begränd^i
haben, dass es auch seine ausdrückliche und klar ausgesprochene
Auffassung gewesen sei. Und das wollen wii jetzt zeigen.
Gäbe es ausser diesem rein persönlichen Glauben der Gott-
wohlgefälligkeit, dem reinen Gesinnungsglauben (als welchen wir
dieses Lutherische Prinzip auch vom philosophischen Gesichts-
punkte noch werden anerkennen müssen) noch andere Bestimmungs-
giiinde, die als Motive zum „guten Werk* in Frage kommen
könnten, so müsste Luther sie, wenn wir jenen praktischen Glauben
als die einzige von ihm als wertvoll anerkannte Motivation sollten
hinstellen dürfen, alle abgelehnt, d. h. zum mindesten eben nicht
als sittlich wertvoll anerkannt haben.
Um diese aufdecken zu können und dann zu sehen, welche
Stellung Luther zu ihnen nimmt, wollen wir uns noch einmal knn
vergegenwärtigen, welche Bestimmung der Begriff dieses prak-
tischen Glaubens implizite in sich enthält So gliedert sich die
Untersuchung dieses Paragraphen nach drei Gesichtspunkten:
erstens fragen wir noch einmal kurz nach dem Wesen des persön-
lichen Glaubens selbst, zweitens nach den ausser diesem mög-
licherweise fürs „gute Werk" in Betracht kommenden Bestimmungs-
gründen, und drittens nach Luthers Stellungnahme zu diesen.
Dinse letzte Frage ist also nicht sowohl bloss auf die logische
Koüseciueuz gerichtet, ob Luther sie seiner Glaubensauffassung
zufolge habe ablehnen müssen — denn logisch erweise müsste
das sowieso folgen — sondern vielmehr ob er nun die Konsequenz
auch faktisch gezogen und jene Bestimmungsgründe wirklich
abgelehnt hat.
Erstens: Soll ein Werk im Sinne Luthers auch ein gutes
Werk s(ûn, so muss die Persönlichkeit es thun wollen, weil sie
überzeugt ist, dass sie damit etwas Gottwohlgefälliges vollbringe,
und mir um dieser Gottwohlgefälligkeit willen hat sie es zu voll-
bringen. Sie rauss in der Vollendung ihrer That selbst Gottes
Willen erkennen und ihren eigenen Willen Eins wissen mit
dem göttlichen Willen. Ihr solbsteigener Wille, der sich also
durch kinnen anderen Willen vertreten und ersetzen lassen kann,
wie er ja selbst keinen anderen Willen zu vertreten und za er-
setzen vermag, gehört darum notwendig zu der Beziehung auf den
göttlichen Willen, damit ihr die That überhaupt augerechnet
Luther und Kant. 39Ô
werde, und ihr selbsteigener Wille mit der gewissenhaften Über-
zeugung, Eins zu sein mit dem göttlichen Willen, wird erfordert,
damit ihr die Handlung als gut angerechnet werde.
Zweitens: Es ist nun leicht, die etwa in Frage kommenden
anderen Bestimmungsgründe aufzudecken. In der notwendigen Be-
tonung des selbsteigenen Willens liegt implizite eine Entgegen-
setzung zu anderem Willen. Der göttliche Wille kann dabei nicht
in Frage kommen, da mit diesem ja nicht Entgegensetzung, son-
dern gerade Ineinssetzung stattfinden soll, und wenn diese statt-
findet, so bewegen wir uns ja innerhalb der soeben noch einmal
herausgearbeiteten Kategorie. Es kann sich also nur um eine
Entgegensetzung zu anderem menschlichen Willen handeln, sei es
class dieser in einzelnen Geboten oder allgemeinen statutarischen
Satzungen zuqi Ausdruck kommt. Sie müssteu unserer Bethätigung
einen Inhalt zu geben versuchen, der nicht schlechthin Inhalt un-
seres eigenen überzeugungstreuen WoUens ist; den wir aber in
unseren Willen aufnehmen, nicht weil wir darin Gottes Willen er-
kennen, auch nicht, weil vnr selber ihn seinerselbst wegen
^wollen, sondern lediglich jener Satzungen des fremden Menschen-
willens wegen, in Rücksicht auf den daraus fliessenden Erfolg,
etwa auf Lohn und Strafe. Das ist das Fine, Auf den gött-
lichen Willen hätte eine solche That entweder gar keine oder nur
eine entgegengesetzte Beziehung.
Fragen wir nun, welche Beziehungsmöglichkeiten in Rück-
sicht auf den göttlichen Willen überhaupt stattfinden können, so
zeigt sich, dass zunächst einmal in Wirkliclikeit gar keine Beziehung
stattzufinden braucht, mögen wir, im Hinblick auf die vorangehende
Bemerkung, nun lediglich um fremder Menschensatzungen etwas
wollen, weil wir an den für uns daraus erwachsenden Ei*folg
denken, oder mögen wir etwas aus eigenem Antrieb wollen. In
jedem Falle müsste es ein „Werk an ihm selbst* bleiben, also
moralisch wertlos sein. Es kann aber dann auch wirklich eine
Beziehung auf die Gott wohlgefälligkeit stattfinden, und sie kann
in der That unserem Handeln als Ziel gesetzt sein. Da ist nun
wieder zu unterscheiden, ob sie um ihrerselbstwillen als Ziel und
damit als letzter und höchster Zweck gesetzt ist, oder um eines
über ihr hinausliegenden und nur vermittels ihrer erreichbaren
anderen Zweckes willen. Im letzten Falle würden wir, wie in den
früheren, doch auch auf irgend eine Weise nur unsere Sache
suchen, in Wahrheit also gar nicht um der Gottwohlgefälligkeit
396 B. Banoh,
wegen selbst handelD. Wenn unser Handeln nicht gar sBndhatt
wäre, so konnte es im günstigsten Falle anch nur ein fiWesA an
ihm selbst** sein, und Iconsequenterweise müsste Luther alle diese
Bestimmungsgründe, mit Ausnahme des einen, der die GottwoU-
gefälligkeit als Selbstzweck hat, ablehnen.
Drittens: Fragen wir nun, ob Luther faktisch und aus-
drücklich die Konsequenz gezogen hat Zum Teil geben nos
schon die früheren Ausführungen die Antwort darauf: Dass abso-
lute Beziehungslosigkeit zu dem göttlichen Willen immer wertlos
ist, besagte ja l&ngst jene Luthersche Formulierung, dass die
guten Werke im Geiste der alten Kirche „ausserhalb des Olaubois
und darum Nichts** wären. Denn ausserhalb des Glaubens und
ohne Beziehung auf göttliches Wohlgefallen sein ist Eines und
dasselbe, das heisst: „Nichts**. So fällt die völlig beziehungslose
That aus der Kategorie des guten Werkes im Sinne Luthers so-
fort heraus. Mag es immerhin der eigene Wille sein, der sich anf
einen bestimmten Inhalt richtet, sein Streben ist in sittlich-reli-
giöser Beziehung wertlos, wenn es nur „das Seine sucht** und
nicht das Wohlgefallen Gottes.
Aber auch wenn dem Menschen ein bestimmter Wollensinhalt
als solcher nicht zusagt, und er ihn um gewisser statutarischer
Gebote der Menschen überhaupt, wie der Willkür der Einzelnen
wegen — dass in letzter Linie doch auch hier immer nur das
Seine gesucht wird, weil eben Furcht oder Hoffnung die letzten
Bestimmungsgründe sind, und sich die Selbstsucht über die ungern
gewählten Inhalte hinaus auf gern gewählte richtet, das betont
Luther nicht ausdrücklich — erstrebt, vollbringt er kein wahrhaft gutes
Werk. „Darum hüte dich und lass kein Ding so gross sein, ob
es auch Engel vom Himmel wären, dass dich wider dein Gewissen
treibe", haben wir ihn ja auch schon i) ausdrücklich mahnen hören.
Die Befolgung keines noch so gewaltigen Gebotes und Macht-
spruchs der Autorität, bloss weil es Gebot, Machtspruch und Au-
torität ist, ist also gut. Wie könnte darum, das ist Luthers
Lehre, dem Menschen etwas anderes, als sein eigenes gottgefäUiges
Wollen für gut angerechnet werden, wenn ihm nicht Furcht vor
Strafe und Streben nach Lohn selbst für wertvoll, oder wenn ihm
nicht gar fremder Wille als eigener Wille angerechnet werden
sollte? Oder wie könnte sein eigenes Wollen anderen angerechnet
') Vgl. § 3.
Luther und Kant. 397
werden? E& kommt auf jedes Einzelnen Wollen an, ,und eigenes
Wollen ist ebensowenig fremdes Wollen, wie fremdes Wollen
eigenes Woollen ist. Auf sein Gewissen und sich selbst
bleibt jeder Einzelne gestellt. Darjim kann der Mensch für keinen
anderen wertvoll wollen, wie das auch für ihn kein anderer ver-
mag. Wenn deshalb fremde Gebote unser Wollen zu bestimmen
trachten, uns aber wider unser Gewissen und eigenen guten Willen
treiben, dann sollen wir sie eben „nicht gross sein lassen"", ihnen
keine Macht über unser Thun und Lassen einräumen, genau wie
wir selbst des Nächsten „Gewissen nicht treiben noch
martern" sollen.^)
Auf der einen Seite also heisst es ausdrücklich: „Was mir
Oott nicht verbeut und ichs frei habe zu thun und zu
lassen, da soll mir kein Mensch, ja kein Teufel, noch
kein Engel ein Gebot daraus machen, und sollte es
auch Leib und Leben kosten".') Und ebenso kann ich auf
cler anderen Seite für keinen Anderen einstehen, kein gutes Werk
für ihn vollbringen und ihm zuwenden. Denn das kann „Nie-
mand nützen. Niemand zugewendet werden,») für Nie-
mand bei Gott eintreten. Niemand mitgeteilt werden,
denn allein dem, der mit eigenem Glauben glaubt."*). So
ist die Beziehung der Persönlichkeit auf das göttliche Wohlgefallen
nur möglich vermittels des eigenen Willens. Dieses ist für jenes
Ziel die condicio sine qua non; für das wahrhaft gute Werk, für
die wirklich wertvolle Handlung also eine unerlässliche Voraus-
setzung. Nicht zwar ist eine Handlung schon gut, wenn in ihr
ein eigener Wille zum Ausdruck kommt, der sie ergreift und sich
unmittelbar auf sie richtet; und insofern ist dieser von der Gut-
heit noch wohl zu unterscheiden, da er eben möglicherweise nur
„das Seine sucht". Aber damit eine Handlung gut sei, muss der
persönliche selbsteigene Wille sie aus sich hervortreibeu, da nur
1) Ein Unterricht der Beichtkinder. XXIV. S. 209.
») Vierte Fastenpredigt (vom Jahre 1523). XXVIH. S. 233.
8) Solche Zuwendungen waren in der alten Kirche etwas sehr Ge-
bräuchliches und sind bis auf den heutigen Tag üblich. So wendet z. B.
der Priester, wenn er dafür bezahlt wird, dem Laien eine Messe zu auf
irj^nd .eine gute Meinung", wie Gesundwerden, Gelingen eines Geschäfts,
Ertrag der Ernte etc. Sie Beide, der bezahlte Priester und der bezahlende
Laie, denken sich auch als Zuwender der Messe für „eine arme Seele im
Fegefeuer" u. a. m.
^) Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche. S. 414.
398
B, Bauch,
er fur sich — und durch keinm anderen vermittelt — auf den g(>tt-
lichen Willen sich unmittelbar beziehen kann. Innerhalb der guten
Handlung: also sind „<jntbeit'' oder Gottwohl^s^ofälligkeit einerseits
und eigener persönlicher Wille anderei-seite uurnoch iu der Abstrakt ion
ufïd Keflexioü, nicht aber an sich zu trennen und zu unterscheiden.
Denn es kann eben nichts gut sein, als allein der Wille der han-
dtîlnden Persönlidikeit. ,J>a steht jeder Einzelne für sich
allein, sein Glaube wird verlangt, jeder soll für sich Kecbeu-
Schaft geben und seine Last tragen/',») Und wir „bedürfen keines
Lehrers gutei- Werke"*, ^) der uns autoritativ dies oder jenes ge-
böte, da doch nur der eigene Gkube entscheiden kann. So haben ^
wir gesehen, wie keine Handhmg gut ist, die gar keine Beziehung ^3
auf deu göttlicheu Willen hat, weil in ihr der Wille nur das .^^
Seine sucht, l'ud das gilt, gleich viel ob er es unmittelbar dariu
sncht, ohne Beziehung auf autoritative Satzungen und Gebote.
oder mittelbar, wenn er sich durch Autorität schrecken lässt, und
Furcht voi' Strafe uud die Aussicht auf Lohn nur zum Handehi
bewegen, ^j
Nun bleibt uns, um unserer eingangs aufgestellten ßehaup— ^|
tung noch die letzte Begründung und zugleich Verdeutlichung
geben, unserer Disjunktion gemäss, uur noch etwas über die wirk
lieh zum Ziel gesetzte Bezielnnig auf das grvttliche Wohlgefaliei
zu sagen, also, durch die Beantwoitung der letzten Fragi
unserer Behaujitung die letzte Bestätigung von Luther selbe
geben zu lassen, indem wir fragen : Lehnt Luther nun auch jeu^^
Handlung als sittlich wertlos ah, in der zwar die Gott wohlgefällige -
keit als Ziel gesetzt ist, aber nicht um ihretwillen als Selbstzweck^,
sondern um eines anderen Zweckes willen, zu dessen Erreiehuii ^
sii* nur als Mittel dienen soll; entspricht also der logischen Kol^m-
suqnenz bei Luther auch die faktische? in der That, so ist e^^.
Denn ITorahwürdigung des göttlichen Willens zum blossen Mitt^^J
für andere ausser ihm liegende Ziele menschlicher Absichten ka^ äi
im „guten Werk* der alten Kirche ja mindestens ebenso oft zii. Jii
Ausdruck, wie die absolute T;upersönlichkeit und vor allem ciie
lefligli*di autoritative und statutarische Willensbestimmnng il es
Kin/<»hH'n. Ja manche sind geneigt, zur ('bariikterisieruug aies
l/nim Werks, auf Kosten der Betonung des Persönlichen, in jener
*) li. II. O. eheuda.
•) Mcrmuii von den guten Werken, XX« S. 199.
Luther und Kant. 399
Herabwürdigung den eigentlich bestimmenden Faktor im Wesen
des kirchlichen guten Werks, ja das kirchliche gute Werk xàv*
i^oxfiv' zu sehen. Jedenfalls richtet sich nun Luther faktisch da-
gegen, mit seiner ganzen ehrlichen Gewalt. Wo die Gottwohl-
gefälligkeit nur um Huld- und Gunst-Erlangung und nicht um
ihrerselbstwillen erstrebt wird, da erkennt er eine Beleidigung,
eine Herabwürdigung Gottes. Von Gottwohlgefälligkeit aber kann
dann natürlich keine Rede mehr sein, und so erkennt Luther
■echt deutlich die Eitelkeit und Nichtigkeit dieses Strebens, das
ich selbst aufhebt. Das ist darum die „echte Abgötterei**, wenn
iner „ein gutes Werk gethan, damit er etwas von Gott verdiene".
rnd „,die falschen Propheten, die zu euch in Schafskleidern
ommenS das sind alle, die durch gute Werke, wie sie sagen,
ich Gott wohlgefällig machen wollen und Gott seine Huld ab-
aufen, gleich als wäre er ein Trödler oder Tagelöhner, der seine
(nade nicht umsonst geben wollte." 0 Die wirklich Frommen
acheu — im Gegensatz zu den „Geniesssüchtigen", die nur „sich
nd nicht Gott suchen" — nur „Gott und nicht sich in allen
tiren Werken, Thun und Lassen". Ihr „Glaube des Herzens*
agt: „Ich will nicht das deine: ich will dich selbst haben.
)u bist mir nicht lieber, wenn mir übel ist. Es ist billig und
*echt, dass du wider mich bist, denn du hast Recht über mich
md zu mir und nicht ich über dich."«) Diese Frommen dienen
jiott „allein um seinetwillen und nicht um des Himmels
willen, noch um kein zeitliches Ding. Und wenn sie
schon wüssten, dass kein Himmel, noch keine Hölle,
noch keine Belohnung wäre, dennoch wollten sie Gott
dienen um seinetwillen."») Jene „Geniesssüchtigen", jene
selbstischen Menschen aber „lehren sie ihre Werke thun,
dass sie der Hölle entgehen und selig werden". Das aber
„ist Gott nicht lauter, sondern aus Eigennutz ge-
1) a. a. 0. S. 203 ff.
«) Von zweierlei Menschen, wie sie sich in dem Glauben halten, und
was der Glaube sei. XXII. S. 132 ff. Diese kurze, aber überhaupt sehr
wichtige Abhandlung ist für uns von besonderem Interesse, weil in ihr
das Einteilungsprinzip der „zweierlei Menschen" gerade unter dem Zweck-
gesichtspunkte der Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit der Zweckbeziehung
des göttlichen Wohlgefallens gewonnen ist ; sodass, wenn auch die begriff-
Uche Formulierung nicht so scharf bei Luther heraustritt, der Sinn der
Unterscheidung gar nicht mehr in Frage stehen kann.
^ a. a. O. S. 134.
KAoUtadioa IX. 26
400 B. Baaoh,
sncht^.O »Aber die frommen Christen sollen sich mitFleisi
hüten vor solchen altvetelischen Sophisten M&rlein^
sondern sollen ^ohne Lohn oder Geniess Gott suchen, m
seiner blossen Güte willen, nichts begehren, denn sein
Wohlgefallen''.«) Die jedoch Gott anf solche Weise sodun,
denen wird trotzdem, ja gerade weil sie ihn nicht begehrt, der
Lohn nicht ausbleiben. „Der Lohn wird sich selbst finden, dafür
nicht sorgend und ohne unser Gesuch folgen. Denn wiewohl ei
nicht möglich ist, dass der Lohn nicht folge, so wir Gott lauter
aus reinem Geiste, ohne allen Lohn oder G^ess suchen; so wiU
Gott dieselbigen Menschen, die sich selbst und nicht Gott suchen,
nicht haben, wird auch selbigen nimmer keinen Lohn geben.* ^
Da haben wir es wahrlich deutlich genug: Im wahiAaft
guten Werke dürfen wir eben nicht die Gottwohlgefftlligkeit um
unseres selbstischen Vorteils willen im Diesseits oder Jenseits
suchen, denn Gott ist kein „TrOdler*", mit dem man handeln und
dingen darf. Ein solches Streben hebt sich, wie gesagt, seibit
auf. Wir erreichen ja schon das Mittel nicht, weil sich die Gott-
wohlgefälligkeit eben nicht als blosses Mittel betrachten lissL
Im Prinzip und Wert unterscheidet sich also dieses Streben nidit
im Mindesten von jenem, das von vornherein auf eigenen persön-
lichen Gewinn gerichtet ist, sobdem ist mit ihm Eines und Das-
selbe. Denn wir haben im guten Werk eben alles „umsonst*
zu thun, wie Gott uns seine Gnade und Huld selbst „umsonst*
und ohne Verdienst giebt. Aber das ist in keinem Falle ein gutes
Werk, in dem „ein Jeglicher nur das Seine sucht**.*)
Es ist — um hier gleich die Konsequenz zu entwickeln —
mit dieser Betonung der Gottwohlgefälligkeit zugleich klar, dass
sie nicht nur das Ei'ste ist, was der Mensch erstreben kann, son-
dem auch das einzig Gute, auf das sein Wille sich richten kann.
Denn ausser der absoluten Weilindifferenz, dem „Werk an üim
selbst", bleibt eben für die in Aktion tretende Gesinnung nur die
eine Wert alternative: goltwohlgefällig und gut oder gottmissfäUig
und br)se zu sein. Was Gott wohlgefällig ist, sollen wir also
1) a. a. O. S. 188.
^) a. a. O. S. 180. Darauf ist auch von Luthardt zur Charakteri-
sierung des Gegensaty.es von lutherischer und römischer Anffaasmig ve^
wiesen.
3) Ebenda.
*) Freiheit eines Christtjnraeuschen. XXVII., besonders S. 191 u. !%•
Luther und Kant. 401
üo, was ihm missfällt, sollen wir lassen. Wenn wir hier den
îgriff der Pflicht einführen, können wir sagen : Pflichtmässig oder
lichtwidrig, anders kann der Mensch nicht handeln, sofern die Hand-
ng überhaupt einer Wertung fähig und nicht indifferent ist. In
twendiger Konsequenz dazu kann es also keine Handlung geben,
e zu vollbringen etwa nicht unsere Pflicht wäre, die aber doch
)tt wohlgefällig wäre, und wir sie sozusagen nicht aus blosser
licht und Schuldigkeit, sondern vielmehr aus überfliessender,
»er die Pflicht hinausgehender Gefälligkeit, Liebenswürdigkeit,
itherzigkeit vollbrächten, oder wie man es sonst nennen mag.
ann was wir nach Luther als gottwohlgefällig erkennen, das
lien wir eben thun, das ist unsere Pflicht, und von einer darüber
nausgehendeu, überfliessenden, über die Pflicht erhabenen „Gutheit"
id Höherwertigkeit kann konsequenterweise keine Kode sein. Die
aicht ist selbst das Erhabenste : Einheit des persönlichen Willens mit
>m göttlichen sowieso und von vornherein. Demnach müsste Luther
>nsequenterweise den Begriff des Verdienstes, das eben eine über
e Pflicht erhabene Handlung sein soll, ablehnen. Und auch
ese Eonsequenz hat er gezogen. Implizite liegt sie ja schon
ir Ablehnung des altkirchlichen guten Werkes mit zu Grunde,
ber auch ausdrücklich sagt er: „nuUus sanctorum in hac vita
ifficienter implevit mandata Dei, ergo nihil prorsus fecerunt su-
îrabundans."»)
Wir haben damit das „gute Werk" im Sinne Luthers nicht
oss dem der alten Kirche gegenübergestellt, sondern es für sich
Ibst in seinem Wesen erfasst. Und das nicht bloss, wie es sich
u eine Konsequenz zu Luthers neuer Glaubensidee und seiner
»gensetzung zu den „Romanisten" und „Papisten", sondern wie
sich in seiner selbsteigens ausgesprocheneu Anschauung dar-
ßllt. Danach können wir sagen: Ein gutes Werk im Sinne
nthers ist diejenige Handlung, welche der selbsteigene
ille der Persönlichkeit, allein dem Ausspruch seines
eien Gewissens folgend, d. h. in Rücksicht auf den als
ölbstzweck gesetzten göttlichen Willen vollbringt, ohne
uf menschliche Satzung, auf Menschenfurcht und
enschenlohn, ohne auf eigenen Vorteil und Gewinn
edacht zu nehmen, und ohne den Anspruch auf Ver-
^) Vgl. Luthardt, a. a. O. S. 69. Hier ist auch verwiesen auf Löscher,
.eformationsakten 2, 27ß und Lämmer: Die vortrident. kathol. Theologie
es Reformationszeitalters.
26*
B. Bauch»
dienst zu niaclieii. So bricht er das Gesetz der Autorität, um
sich frei und selbständig jenem göttlichen Gesetze unterznorÜDen,
dessen er Inno wird in der eigenen Bnist, in dein persönlichen
Gewissen.
Hiermit haben wir drn tiefsten Kern jeuer gewaltigen, be-
freienden That Lutlieï's in Wahrheit enthüllt, die in der Geschieht!
der Metischheit nicht nur Epoche machte, sondern faktische Teilung'
bedingte. Es war niclit nur die Befreiung von jener alles tiefen
religiöse sowohl, wie sittliche und ästhetische Gefühl verletzeüdew
Vorstellung» die das ^tei-siniliclie Verhältnis zu Gott eben nai" als
eine Art von Austausch und Handelsbeziehung dachte, wie sit*
charakteristisch fürs Judentum ^) ist. Es w^ar auch die Befreiung
1) Vereinzelt bncht sich auch hier hei einigen „Propheten** schon
eine Vergeistig^iiig des reli^irmen Verhältnisses Bahn. Und man Itikinte
manches, weis diesen Lutherischen Anschauungen verwandt ist, anflilin
Sil Hosea, derJehova sa^en lïlsst: „Frömmigkeit liebe ich und nicht Opf«
und Gotteserkenneii mehr als Brandopfer.'* Aber das ist eben verein
geblieben und niclit zur Weiterbildung gelangt; charakteriÄÜÄch bleiW
eben fürs Judentum duch der (Jesetzesglanbe, der in seiner Eigenart
Werk- und Üpfer-Glaube ist. und niemals vor Lufher ist in der Ge-
schichte der Menschheit die Wendung zur sittlichen Verselbstândigun^
mit der Schärfe hervorgetreten, wie gerade beim deutschen Reforniator
Man wird sie ruhig mit Dil they als Autmiomie ansprechen können,
uhne dem Sinn der Lutlieriscben Glaubensidee Zwang anzethun. Aber
gerade darum wird man Diltbey Recht geben müssen, wenn er leü^e^
„dass der Kern der reformat oris eben ReÜgiositilt in der paulinischen Recht,
tv*rtigiingslehre enthalt-en ist." (Vgl. unsere Einleitung.) Ich kann mir
nicht helfen : trotz Hamack erscheint mir Paulus dem Lutherischen AutiJ-
nouïie-Bewiîsstsein gegenüber als ein reiner Jude^ und im Verhältnis ïh
der aus dem Autonomiebewusstsein füessenden Thatenfreudigkeit geradeïu
contemplativ. Harnack sagt ja selbt {Sk. a. 0. Ill, 757), „dass es sich nicht
um eine Repristination der nrchristjichen, paulinischen Stufe handelt,
gondern um ein Hinausschreiten über sie zu einer Organisation und
einer Betlifltignng des innerlich Erlebten in der menschlichen Gesellsdmft
und deren Ordnung, wie sie das Ivrchristentum nicht gekannt hat.* hso-
fem glaubt er, mit Dilthey zu einer „Verständigung** gelangen zu können;
befiauptet aber mit Hinweis auf Rom, 8 und Gal 5, ö— 6, 10, da^ »geradp
dir entscheidendsten Momente, die Dilthey an der höheren Religiosité
Lullicrs als eine Stufe der Ktit Wickelung preist» doch auch schon bei Pan*
luK — freilieh nicht in der Ent Wickelung ihrer Konseqnenzen — gegeben'
MiutL Darum scheint mir Hamack doch Luther nicht ganz gerecht iu
werden und auch Dilthey nicht zu widerlegen. Ich will nicht davon
reden, diws es in der Geschicht^ii der Menschheit gfar sehr auf die Ent-
wnktdung der Konsequenzen nn kommt, sondern davon, dass in der Tliüt
Luther und Kant. 403
on eitler Menschenforcht, die uns die Lehre, dass wir keines
iChrers guter Werke bedürfen, brachte, wenn wir nur Gottesfurcht
aben. Aber die Grösse der Leistung ist nicht bloss die Ab-
reisung menschlicher Autorität und menschlicher Satzung. In
inigster Wechselbeziehung dazu steht jene grosse positive
leistung: „Wir haben wieder den Mut, mit festen Füssen auf
lottes Erde zu stehen und uns in unserer gottbegnadeten Men-
chennatur zu fühlen." So sieht Goethe die That Luthers an,*)
Bd mit Recht. Denn seine grosse positive Leistung ist: das
''erweisen des Einzelnen auf seine eigene Brust; der Persönlich-
:eit ihre sittliche Eigenkraft und Eigenbestimmung zum Bewusst-
ein gebracht zu haben, ihr zum Bewusstsein gebracht zu haben,
ass sie, um mit Schopenhauer zu reden, der Thäter ihrer Thaten
3t, dass darum nicht ihm die Thaten, sondern er seinen Thaten
en Wert bestimme durch seine Gesinnung, den „Glauben des
lerzens." Ebenso schön, wie klar und deutlich verkünden uns
lese Freiheit des Geistes jene vom Geiste der Freiheit selbst
ingegebenen Worte ^ Luthers: „Darum sind die zwei Sprüche
irahr: Gute fromme Werke machen nimmermehr einen guten
rommen Mann, sondern ein guter frommer Mann macht gute
romme Werke. Böse Werke machen nimmermehr einen bösen
lann, sondern ein böser Mann macht böse Werke. Also dass
Ilewege die Person zuvor gut und fromm sein rauss vor allen
^uten Werken und gute Werke folgen und ausgehen von der
rommen guten Person."
Kapitel III.
Die Persönlichkeit und die sittlich-religiöse
Geraeinschaft.
Wir haben bisher lediglich die Persönlichkeit für sich und
a ihrer eigensten B(j?iehung auf Gott vermittels der im guten
las prossartig Neue, das uns Luther mit der sittlichen VerselbstÄndiguug
1er Persönlichkeit, der Autonomie, wieDilthey geradezu sagt, gegeben hat,
loch nicht bloss als eine paulinische Konseiiuenz gewonnen ist. Hier liegt
twas prinzipiell Neues, etwas absolut OrigineUes vor, eine der originellsten
Ichöpfungen der Mensclienseele überhaupt, die selbst die von Hamack
lerangezogeneu SteUen von Paulus in ihrem Originalwerte nicht beein-
rftchtigen können.
1) Gespräche mit £ckennann (Bartheische Ausgabe II. Bd. S. 604).
') Freiheit eines Christeumenschen. XXVIL S. 191.
4U4
B Bauch,
Werk (im Lutherischeu .Sinne) zun» Ausilrnck g'elançeDdea Gesin-
niing" kennen ^elernL Nun ist aber die Persönlichkeit hiaeinp»-
boren iu eine Mannigfaltigkeit rler irdischen Welt, in Beziehuii^pu
zu Menschen und Dingt^i, mit diesen verwachsen durch tausend
unldsbare I^^äden nud innig vereint. Ihr Thun und Wirken greift also
selber ein in diesen Zusammen bang. Wie soll sie dabei nun jenes
gestalten? Wie soll sie sich, ihrer höchsten und obersten Be-
stimmung gemäss, nach der sie all ihr Wollen auf den göttlichen
Willen zu beziehen hat, zu dieser irdischen Welt und all üiren
Relationen, mit denen doch ihr Wille in Wechselbeziehung tritt,
vor allem aber wie zu iliren Mitmenschen, allen anderen Pers^iü-
lichkeiten, unter denen und mit denen sie selber lebt, verhaltei]?
Man hat gesagt: Wenn Luther von den guten Werken der Kirche
nichts wissen will, und alles bei ihm der Glaube sei, da braucht
man ja eigentlich nur zu glauben unt! nichts zu thun. Ein solcher
fauler Glaube fiihi-e mit absoluter Konsequenz zum Nichtsthe,
thateuloscr Gemächlichkeit und energielosem Quietismus, ein Ein-
wand, den wir gelegentlich schon berührten, von dem wir iiber
nur andeuteten, wie gegen ihn die Persönlichkeit Luthers selbst
am besten zeuge. Er ist ja auch nach den letzten Ausführungen
längst hinfällig geworden, denn wir sahen, es ist ein Untei-schieil
zwischen „Werken" und ^Werken'' und vor allem: der Glaube
Luthers ist eben nicht bloss ein toter Dogmenglaube, sondern ein 1
lebendiger Herzensglaulie, ein sittlicher Gesiunungsglaube, der
auch dem Nichtsthun Wert und Unwert bestimmen miisste, wovon
wir noch ausführlicher handeln werden. Wie Luther aber, dieser
soeben angedeuteten Konsequenz seiner Glaubenslehre gemäss, zur
menschlichen Bethätigung in der Welt der Dinge und Personh*ch-
keilen Stellung nimmt, oder ob und wieweit er die Konsequenz
gezttgen hat» das bedarf noch einer besonderen Untersuchang-
Um diese aber zu einem klaren Ziele zu führen, müssen wir zn*
orst noch einmal an die letzten Bemerkungen anknüpfen und das
Vorhältnis der Persönlichkeit zu ihrem Thun darlegen, um daoji
zu KoheUi wie der Einzelne sich zum Einzelnen in der sittlictien
Wr'fliHelwirknng bestimmt, und endlich, wie er danach einj^reifl
In den Zusammenhang der Allgemeinheit, in der er sich bethätigt.
Luther und Kant. 40Ö
§9.
Thäter und That.
Es ist bereits oft genug darauf hingewiesen worden,^) dass
Luthers Anschauungen über das Verhältnis des Einzelnen zu Gott
nicht bloss „in dem religiösen Interesse des Reformators, . . .
sondern auch in einer philosophischen Ansicht über das Verhältnis
Gottes zur Welt" begründet seien. Und das ist selbst dann rich-
tig, wenn man auch die religiösen Interessen als die erst zur
philosophischen Ansicht hintreibende Kraft erkennt. Wie wenig-
stens Partieen anderer Schriften, so tendiert die Abhandlung ,de
servo arbitrio* („dass der freie Wille nichts sei") sogar ganz in
dieser Richtung. Wir wollen und können zum Zweck unserer
Untersuchung die ganze metaphysische Vorstellungsweise Luthers
hier nicht bis ins Einzelne darstellen, nicht etwa bloss weil da
noch vieles strittig wäre, sondern vor allem weil eine ausführliche
Erörterung des Problems ^er Willensfreiheit uns über den Rahmen
unserer möglichst immanenten Untersuchung allzuweit hinausführen
müsste. Ganz umgehen können wir aber Luthers metaphysische
Ansicht über das Verhältnis von Gott und Mensch nicht, wo wir
von der Beziehung zwischen Mensch und Handlung sprechen.
Und selbst wenn schon auf den ersten Blick Luthers Metaphysik
und seine sittliche Anschauung in einem gewissen Gegensatze er-
scheinen und auch niemals voll ausgeglichen und in dem antino-
mischen Verhältnis haraionisch aufgelöst worden sind, so kann,
von der Möglichkeit dieses Ausgleichs noch ganz abgesehen, ge-
rade diese gewisse Gegensätzlichkeit zur Verständigung dienen.
Von Einzelheiten, selbst den Beziehungen zu Augustins Prädesti-
nationsmetaphysik, mit der Luthers Anschauung zum Teil innige
Berührung hat, müssen wir hier ganz absehen. Nur allgemein
können wir das centralste metaphysische Interesse berühren.
Dieses aber spiegelt sich wider in seinem Gottesbegriff. Dem
Reformator kommt es in philosophischer Beziehung — wollten
*) Recht nachdrucksvoll besonders von Kattenbusch; vgl. Luthers
Lehre vom unfreien Willen und von der Prädestination nach ihren Ent-
stehungsgründen unt<»r8uclit zur Erlangung der theol Licentiatenwürde an
der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen von Ferdinand Kattenbusch.
Gftttingen 1875. Siehe besonders S. 5 ff. Hier ist auch auf Dieckhoff,
und mit Einschränkung auf Lütkens und Ritschi verwiesen. Allerdings
sind auch hier andere anderer Meinung. So Luthardt in seinem Buch
über ^Die Lehre vom freien Willen". S. 123 f.
406
B. Baiicli,
wir ihu lediglich als Theolugeii oder als Religiöseu hier betrachten,
so niiisston wir natürlich ilie Gnade in den Vordergriuid stellen —
vor allem auf die Grösse und Allmacht Gottes an, in der zugleich
die absolute Güte, wenn aucli dem schwachen Menschenverstände
ewig gelieimiiisv(*ll, lieschlossen liegt. Nnn aber fordert gerade
das Prädikat der Allmacht : alles ïhnn nud Geschehen in Goli
als das allmächtige, all wirkliche und all wirkende Wesen — ebei
um seiner Allmacht willen, — zurückzunehmen. M ^Der Wel»"^^^
Lauf", das ganze irdische Sein ist nur ^Gottes Mun*merei^ darunteo^^
er sich verbirgt und in der Welt so wunderlich regiert und ru^^^.
mort.***) Damit sinkt ihm bald das Einzelne, Wirkliche ztUHMr
blossen „Larve*' herab, hinter ûvr eigentlich Gott alles thut un _d
wirkt. ,, Wiewohl ers doch duiTh uns thut, und wir nur seim^c
Larven sind, unter welchen er sich verbirgt und alles in alle]
wirkL^^) 80 scheint hier jenes meta]>hysiscUe Funtlamentalproblei
wieweit die Wurzeln der Persönlichkeit eben ins Metaphysisct:=3e
reichen, seine Lösung durch den Gottesbegriff erfahren zu solle
indem Gott ja „alles in allem wirkt/* Aber es scheint aui
sofort äusserst schwierig, wie damit — nicht, wie Erasmus g^^
meint hatte, das Oute, sondern — das Böse in der Welt zu ve^
eiubaren sei, im Sinne eiw^a des Problems der Theodicee. A.
der einen Seite hätte Luther ja einigerma^ssen der voluntaristisctie
Augustinismus, — den mit aller Energie auch der dem Reformat -or
albmiings wenig genehme Duns Skotus gegenüber dem intellektuEa-
listischeii Aristotelismus und ïhomismus vertrat*) — über die
S<diwieî'igkeit hiuw'egheifen können. Denn teils hatte Luther da.zu
leicht die Uuerforschlichkeit der göttlichen Ratschlüsse, teils it^JP«?
Wertpriorität vor aller Gegenständlichkeit benutzen können, «.m
'ai
'^ So scheitit auch Leiiz a. a, ü. S. 159 im Gottesbegriff Lutti.
fho K*irderuii^^ der Willensunfreiheit angelegt tn sehen; ähnlich wollt a
K at (induise h a. a, O, 8. 5.
«) Ausleiîuns: de« 127. Psalms. XLl. S. 144.
•) Vorrede xur Weissagung Joïiann Li cht en bergers. LXUL S, t^
Vgl dir/Ji Lnthardt „Kihik Luthers" S. 101, awch ^die Lehre vom fi
Wllhni'* S, ÎIH; er iirrint hier mit Kecht diese Vorsteîltnif^weise „die
MeltMiiMfiif vrm (lt*r sehlechthiTiniisren Bedingtheit der Kreatur in ihrem
ftfiMKl find Lf^hon durch die allzeit- wirksame Immanenz Gottes in
KrKMfiir*
*) Vtfl. Wimlelhand, Geschichte der Philosophie S. 259 ff. und.
Kidi), n(t( Lidin- von Primat des Willens hei Augustinus, Dnns Skotus
«R
rnnÙL
M
leü
An-
I
Luther und Kant 407
uuschwer weiterzukommen. Das waren ja in der That schon
Argumente, die er gegen Erasmus ins Feld führte. Er stützte
sich auf den wunderbaren, uns unbegreiflichen, allmächtigen, gött-
lichen Willen, der nicht an Gut oder Böse derart gebunden ist,
dass er das eine thun, das andere lassen müsste, als äussere, über
ihm stehende Bestimmungen, der vielmehr Gut und Böse selbst
erst bestimmt. Aber von der philosophischen Ausnutzung dieser
Lehre, um dadurch auch mit dem Bösen in der Welt fertig zu
werden, war Luther soweit entfernt, dass er lieber auf der Idee
des Teufels und seiner Mitbestimmung des Menschen fusste, wo-
durch er aber unvermeidlich Gefahr lief, die Macht Gottes selbst
zu beschränken, und seine Allmacht eigentlich aufzuheben. Allein
für unseren Zweck interessanter ist die Frage, ob und wie er
trotz der absoluten, ausserpersönlichen Bestimmtheit des Menschen
die Persönlichkeit für ihre That noch verantwortlich machen zu
können glaubte, wie er die „Gutheit" der Person, die doch der
„Gutheit" des Werkes allewege vorangehen und überhaupt statt-
finden muss, damit man noch von sittlich-religiösen Werten zu reden
yennag, meinte aufrecht erhalten zu können.
Es kommt uns dabei gar nicht darauf an, ob Luther hier
mit sich selbst in durchgängiger Übereinstimmung geblieben ist,
wenn wir gleich hier schon betonen möchten, dass es grundfalsch
wäre, absoluten Determinismus und die Verantwortlichkeitsidee
für unvereinbare Gegensätze auszugeben. Im Gegenteil würde
eine systematische Untersuchung diese Synthese für den einzig
möglichen ethisch-metaphysischen Standpunkt erhärten können.
Um das so kurz, wie möglich anzudeuten, können wir nämlich
sagen: Wie in Gott, der „alles in allem wirkt", die Totalität des
Handelns und Geschehens beschlossen liegt, so muss im We^en
der Einzelpersönlichkeit eine gewisse Sphäre des Handelns als be-
schlossen liegend gedacht werden. Denn jede Persönlichkeit
handelt in der Reaktion und Relation zur Welt der Dinge ausser
ihr nach einer ihrer bestimmten Eigenart bestimmt ent-
sprechenden Weise. Und gerade durch diese Bestimmtheit ist
auf der einen Seite der absolute Determinismus, eventuell sogar,
im Sinne Luthers, mit der göttlichen Allmacht gewahrt, auf der
anderen Seite aber auch die vollständige Verantwortlichkeit, indem
eben die Totalität der Persönlichkeit in ihrer Eigenart als ein be-
stimmtes Wirklichkeitsmoment lediglich eine Wertbeurteilung er-
fährt, und zwar nach der Richtung, in der sie selbst angelegt,
408
B. Bauch«
determiniert ist. So wäre es gerade ihre absolute Wesensbe^timnit- ,
heit, über welche das Werturteil gefällt wird, und, ganz im Sinne-^
Luthers, bi-stiiiimtu diese Weseiisbestinimthdt notwendig die au^^
ihr füllenden „Werke". Das an dieser Stelle nur angedeutete»^
Problem wollen w\y hier we<ler zu Ende führen, noch es als i^^j
ebeudieser Schärfe von Luther herausgearbeitet und zu Ende g^^^
führt hinstellen. Ks sollte ja nur die Verträgliehkeit beider Bt^^
trachtungsweisen, dei" deterministischen und der der wertbeiL^r-
teilendeu Verantwortmig andeuten. Die Synthese beider bedeutet
auch bei Luther, so unvollkommen sie in pliilosophischer Beziehm^g
vollzogen sein mag, zugleich eine gewaltige moralische Vertief iii:^^
und eine Krhölmng des Wertes der Persönlichkeit, nicht abcîr
deren Erniedrigung. Denn gerade darum kann er anstatt in düs
Äussere des ,,\\\^rkes" den sittlich-religiösen Wert in das Innere,
den Charakter des Menschen znrnrkiiehmeu. Nicht weil dieser so
oder so nach Aussen liantlelt, ist er gnt oder böse, sondern wc?il
er so oder so ist (bestimmt ist). Und nur weil er so oder so
ist, handelt er auch so oder so.
Wir haben damit schon gleichsam über Lntlier hinansgewies<3ii*
Aber min w^erden wir ihn selbst um so leichter und besser v^^r-
stehen. Er selber hat ja, wie wir längst eikannt haben, d«n
Wert der Handlniig von dieser in das Wesen der Persönlichkeit
zurückgenommen, indem er ihn abhängig niacht, lediglich von cl«r
Gesinnung und dem linieren festen Glauben, dass er „Gott gefallen/
Damit hat er implizite, nur nicht ausdrücklich, und ohne es ^^'
strakt-begrifflich auszusprechen, jene von uns augedeutete doi^pclte
Betrachtungsweise schon praktisch angewandt. Nun brauchen ^vir
ja auch schliesslich nicht mehr besoudetH?n Weil darauf zu leg«"*«*
wie er sich die Determiniennig im Einzelnen denkt, wie eiw^.
dass Gott nur zum iiuten bestimme, und dass diese Det-erini'
nierung und die durch sie bestimmten Menschen gut seien; dH^^
„Satan" zum Bösen bestiunne, und die von ihm bestimmten Mäu-
schen böse; oder, um auch hier noch die Allmacht Gottes zt^^
(lettnng zu bringen, dass diese zweite Deterniinieriuig von Goü
erst müssi» nicht bloss zugelassen, sondern selbst angeordnet sein,
sie also mit Rücksicht auf den allgiUigen Gott, der ja nicht vou
Gut und Böse bestimmt wird, sondern t4nt und Böse selbst
stimmt, gut mit Rücksicht auf die deterinniierten Wesen böse sei
^ Lat]ïardt wendet in seiner ^Lehre vom freien Wülen** S. 127 ^
diese lutherischen Gedanken die bekannte^ geriide in der letzten Eiicksici**
Luther und Kant. 409
Allein diesem rein implizite gemachten Unterschiede der Be-
trachtungsweise können wir jetzt doch noch etwas an die Seite
stellen, das den Eindnick einer Unterscheidung explizite nicht
verfehlen kann. Wir hatten ja gesehen, wie sehr Luther immer
betont, dass ^die Person das Erste und das Werk das Zweite sei."*)
„Wir suchen", sagt er, „hier den, der nicht gethan wird, wie
die Werke, sondern den Selbstthäter und Werkmeister, der
Gott ehrt und die Werke thut."«) Wichtig ist es, „dass allerwege
die Person zuvor gut und fromm sein muss und gute
Werke folgen und ausgehen von der frommen und guten
Person."») So wird der ('harakter mit aller Schärfe nicht bloss
als eine Wirklichkeitseinheit, sondern auch als der Faktor der
sittlichen Weltordnung gefasst, der aus sich das Handeln hervor-
treibt mit ureigenster Bestimmtheit. Und zugleich ist er selbst
in einen übersinnlichen Urgrund zurückgenommen, in dem seine
tiefsten Wurzeln ruhen. Denn „ein jeglicher Christenmensch ist
zweierlei Natur, geistlicher und leiblicher."*)
Diese Unterscheidung von zweierlei Natur ist ja leider nicht
genügend fruchtbar und für die Freiheitslehre nutzbar gemacht
worden. Dazu hätte eben Luther mehr Philosoph sein müssen,
als er es war. Dass er die Unterscheidung aber überhaupt trifft,
und die Art und Weise, wie er sie zu der Wertbetrachtungsweise
in Beziehung bringt, ist doch nicht so belanglos. Es lässt sich
darüber kurz folgendes sagen. Er sieht im Menschen, und zwar
für seine Anschauung ganz charakteristischer Weise nur im
Christenmenschen*) die Vereinigung von zweierlei Natur: der
äusserst glückliche Wendung an: „Nicht Böse, aber Böses thut
Gott*'; da in ihn, wie aUes Thun und Geschehen, so auch das Böse
zurückgenommen werden müsse.
Ï) „Er wird nicht müde, diesen Satz in immer neuen Wendungen
zu wiederholen", sagt Luthardt, vgl. .Ethik Luthers" S. 23.
«) Freiheit eines Christenmenschen. XXVII. S. 184.
^ a. a. O. S. 191.
*) a. a. O. S. 176.
^) Diese Einschränkung beruht natürlich wieder auf der dogmatischen
Beschränktheit Luthers, wie sie sich aus unserem ersten Kapitel (§1) von
selbst versteht. Dass auch in der zu erwähnenden Gnadenlehre dieselbe
Beschränktheit eine grosse Rolle spielt, woUen wir hier gleich mitbetonen,
um nicht noch einmal darauf hinweisen zu müssen, zumal es uns ja viel
weniger auf solche Beschränktheiten als auf das Bedeutsame und Wert-
volle in Luthers Anschauung ankommt.
410
B. Baacb,
„leiblir.luMrS iL h. sionlichen luid tier „g^eistlicheu**, il. h, üher-
sintilicheu. Xun kano aber alles „Leibliche", so g:njss mitl so viel
r*s auch sei, nie für das „Geistlit*lie" g^enfmnneii werden. Seiner
„Oiii^e reichl keines bis an die Seele** J) Nur nach der „Seele",
(li*ni .,]B:eistiielieii" Wesen des Menschen bestimmt sich aber seines
Handelns Wert. I»amm kann dieses auch nur als vom ^geist- —
liehen" Wesen Iiervor^etriebon angesehen werden, sobald wir über ^-^
s(»intîn W(*r( oder Cnweil urteilen. Die Eigenart der Persönlich^
keit, wie sie in der Gesinnung zum Ausdmck kommt, iu jenen
l»rHktisclien Ghiuben der GottwohlgefälUgkeit, giebt die Direktive
für alle WertbeurtdUing. So bleibt trotz des Determinismus für
die Wertbetraehtung immerhin ein durchaus autogenes Verhältnii=
— wir wählen diesen Ausdruck mit Absicht — zwischen Person
lichkeit ujid Handlung, zwischen Thäter und That. Mag letztlict
alles Thun in tiott zurückgenommen werden, mag darum auch iw^mi
letzter Instanz die Persfhiliclikeit in diesem allwirksamen Urgrun«^^
wurzeln, so wird doch jetzt auch in deren übersinnliche, ^geisteMI-
liehe" Natur die einzelne Thal zurückgenommen, um sie aus dere n
eigenster Weseusbestimmtheit heiTorgehen zu lassen,*) Denn d^He
Person trägt ja, nach ihrem eigenen Wert oder Unwert, auch de-^ii
ihrer That in sich und bestimmt ihn selbst. I*as trotz des Dete^^-
minismus.
Wie sehr es Luther trotz allem Determinismus um die sit— ^B
liehe Kigenkraft der Pei-son zu thun ist, das zeigt besonders seiche
Gnadeiüehre:
Wie vorhin alles Thun und Geschehen in Gott, der „allies
in allen wirkt," zunickgenommen und die Unfreiheit der Kreat^Lir
überhaupt gelehrt wurde, so wird jetzt vornehmlich alles Gu
in Gott, der ja selbst absolut gut ist, zurückgenommen und
besonderen das Unvermögen des Menschen zum Guten h^e-
hauptet. Nur die Anlage zum Guten ist in ihm vorhandt^^u.
') Freiheit eine* Christennieiiselien, XXV 11. S, 177,
^) Diese eigentümliche Wendunji^ bedeutet enUchieden eine g]
TtH^S^H
Verriefun^f gegenüber allen früheren DeterminKtiniisïehreii. M«^ im e^^^-"
zvlneu W'\ Luther die Dursten un fi; oft noch so unklar, wirr und krwns s€?^ »J^
nnd nm^ er seine Anschauung Kiich nie auf ihre kritische Möglichkeit "*nifl
frepnift haben, die Anschauung selbst bedeutet entschieden eine V^«r-
tiefung. I>enn trotz der Abhiln^iirkeit des Menschen als Kreatur -^^on
Gott, bleibt ihm die sittliche Unubhängigkeit von aller anderen Krem^tm
gewahrt.
Luther und Kant. 411
Qod auch die hat Gott gewirkt. Aber der Mensch ist nicht
einmal aus sich heraus fähig, diese Anlage zu entwickeln, und so
fst er überhaupt nicht zum Guten fähig. Diese Fähigkeit ist ihm
verloren gegangen dui*ch die Erbsünde, und so hat das Böse
Macht über ihn gewonnen. 0 Soll er sich aufschwingen können,
30 muss er nämlich völlig neu wiedergeboren werden. Dazu be-
dlarf er aber der göttlichen Gnade, durch welche die Determi-
nierung durch Satan zum Bösen wieder aufgehoben wird.
Was aber nun für Luthers Bemühen um die Verselbstän-
digung der Person sehr bezeichnend ist, das ist die Forderung,
dass die Person sich für die Gnade empfänglich machen, ihr ent-
gegenkommen solle.«) Und so wird auch hier ihre selbständige
Aktivität wieder statuiert.
So hat Luther auf der einen Seite den Menschen absolut
abhängig gemacht von der Gottheit und gerade dadurch ihn aller
anderen Kreatur gegenüber verselbständigt, auf der anderen Seite
ihm sogar eine gewisse Selbständigkeit der göttlichen Gnade gegen-
über zu wahren gesucht.
§ 10.
Die unendliche Wirkungssphäre des Einzehien im Leben.
Die That des Einzelnen bleibt diesem allein sittlich anrechen-
bar, und er ist vermöge der „Geistlichkeit", nicht der „Leiblichkeit"
seiner Natur, infolge seines Charakters dafür verantwortlich. Ihr
Wert und Unwert richtet sich nach der Gesinnung des Thäters.
An der ethischen Wertung wird durch die religionsphilosophische
Deutung nichts geändert: Mag dem Religiösen auch Alles, in
Sonderheit das Gute ableitbar erscheinen aus dem allwirksamen
und allgütigen Gotte, so bleibt trotz der Erkenntnis dieser höchsten
Ursache doch des Einzelnen sittlicher Wert gewahrt. Und überall
wo er sich bethätigt, kann er sich wertvoll bethätigen, und er
kann sich überall bethätigen.
^) Darum gilt, wie Kattenbusch a. a. 0. S. 10 sagt, vom Menschen
immer nur: „entweder— oder ; ist er nicht Gott dienstbar, so dem Teufel
und umgekehrt." Es ist hier sehr richtig auf de servo arbitrio S. 199
(Lutheri opera varii argumenti ad Reformationis historiam imprimis per-
tinentia) verwiesen, mit der charakteristischen SteUe: ,Si Dens in nobis
est, Satan abest, et non nisi velle bonum adest ; si Dens abest, Satan adest,
et non nisi velle malum in nobis est"; u. a. m.
2) Vgl. dazu auch Luthardt: Die Lehre vom freien Willen. S. 100.
412 B. Banoh,
Indes ist diese Behaaptang, dass er sieb flberall bethlügei
könne, nicht zn gewagt? Wenn schon der metaphysischen Ab-
hängigkeit keine ethische Unselbständigkeit entsprechen sou, na
dann nicht wenigstens einer reinen Gesinnungsethik änsMn
Passivität, TeiUiahmsIosigkeit dem lebendigen Leben gegenGber
entsprechen ?
Das ist der alte, anch in unserer Untersuchung längst be-
rührte Vorwurf, der sogar heute noch nicht verstommt ist Luther
selbst war sich dessen wohl bewusst, wie wenig ihn d^ Vorwurf
treffe, „dass wir müssig gehn oder übel thun^ müssten,^) sdner
Lehre gemäss, weil ja selbst der „Müssiggang in deis GUuibem
Übung und Werk geschehen müsste.*'^) Wieder setzt er hi^ mit
seiner zweifachen Natur des Menschen ein und betont: Der Weit
alles Handelns und Thuns liegt nicht in eben diesem Handeln und
Thun selbst, sondern im Glauben, d. h. in der Gesinnung des
Menschen, aus der Handeln und Thun fliesst. Wenn darum audi
nur die geistliche Natur des Menschen der Wertbeurteilnng fthig
ist, so heisst das aber nicht, dass .der Leib nun faul und massig'
bleiben dürfe. Im Gegenteil lehrt Luther ausdrücklich: da der
Mensch auch leiblich sei, „da heben nun die Werke an^.*) ^Denn
der Mensch lebt nicht allein in seinem Leibe, sondern auch
unter Menschen auf Erden," denen er „diene und nütze sei*.*)
TJnd überhaupt „weil der Mensch lebt und seiner Glieder mächtig
ist, so muss er ja auch etwas thun und kann so wenig ohoe
Werke sein, so wenig er ohne stetigen Odem und Regung des
Herzens leben kann."*) Und „weU denn das menschliche Wesen
und Natur keinen Augenblick sein mag ohne Thun oder Lassen,
Leiden oder Fliehen (denn das Leben ruht nimmer, wie wir sehen)
wohlau, so hebe an wer fromm sein will und voll guter Werke
werden, und übe sich selbst in allen Leben und Werken zu allen
Zeiten an diesem Glauben ; lerne stetiglich Alles in solcher Zuve^
siebt thun und lassen, so wird er finden, wieviel er zu schaffen
hat und nimmer müssig werden darf, weil der Müssiggang auch
in des Glaubens Übung und Werk geschehen muss."«) Das aber
1) Freiheit eines Christenmenschen. XXVII. S. 181 ff.
«) Sermon von den guten Werken. XX. S. 206 f.
8) a. a. O. S. 189.
*) a. a. O. S. 195.
6) Kirchenpostille I. S. 162.
«) Sermon von den guten Werken. XX. S. 206 f.
Luther und Kant. 413
heisst: der Mensch steht inmitten einer Welt von Dingen, auf die
er handeln soll. Vor allem aber steht er inmitten einer Welt von
Menschen, die geistig-leiblicher Natur sind, wie er, auf die in
erster Linie sein Handeln sich erstrecken soll, nur so, dass er
den „innerlichen" Menschen am „äusserlichen" zum Ausdruck und
zur Geltung bringe, damit der „äusserliche" Mensch „dem inner-
lichen Menschen gehorsam und gleichförmig werde**. ^) Mag da-
durch der äusserliche Mensch nicht etwa selbst gut werden mit
seinen Werken, sondern gut allein sein und bleiben der innerliche
Mensch, der Wille, der die Werke wirkt „aus freier Liebe, Gott
zu gefallen," 2) so ist damit doch der äusserliche Mensch ein
Werkzeug des innerlichen, und damit Gottes selbst, und erhält mit
seinen Werken einen Wert durch Übertragung.
Dem einstigen Mönche hat sein Klosterleben den Sinn für
das lebendige Leben keineswegs verkümmern können oder gar zu
zerstören vermocht. Denn scheint der Reformator nicht gerade
und ausschliesslich dadurch, dass er den Menschen zu befreien
sucht von dem äusseren Zwang einzelner statutarischer Gebote
der Autorität, dass er ihn ganz und gar auf sein Inneres, seinen
ureigenen „Glauben des Herzens" verweist, ihm die ganze Welt
für seine sittliche Bethätigung erobern zu helfen? Je weniger
der Einzelne durch Autorität äusserlich gezwungen und gehalten
ist, dieses oder jenes einzelne Bestimmte zu thun, desto eher kann
er alles zum Gegenstande seiner sittlichen Bethätigung macheu,
kann er alles, um mit Luther selbst zu reden, durch seinen leben-
digen Glauben, seinen persönlichen, sittlichen Willen auf den gött-
lichen Willen beziehen. Die ganze Welt erhält dadurch ein
höheres Leben, eine höhere Weihe, sie wird belebt und geweiht
durch den sittlichen Willen der Persönlichkeit, die sie ergreift, um
in ihr und auf sie zu wirken. Das Kleinste, wie das Grösste in
der Welt erlangt dadurch eine ganz neue Bedeutung, dass es der
Gute auf den göttlichen Willen beziehen kann, indem er es zum
Inhalte seines eigenen guten Wollens macht. Denn eben dadurch
macht er es, wie sich selbst, zum Werkzeug in Gottes Hand, wie
wir vorhin sagten.
Das ist in der That die befreiende Wirkung des reinen,
nicht durch äussere Autorität bestimmten, Gesinnungsglaubens,
1) Freiheit eines Christenmenschen. XXVII. S. 189 f.
<) Ebenda.
414
B. Bau cil«
UDd Luthier »I sich der TeriebendigeodeD Wirkung des H
flaitbeiia auf die Wirklichkeit gar wohl bewusst: Es kann
jegUcber selbst merken UDd fühlen, waun er gutes tmd oicht gni
tbni: findet er sein Herz in der Zuversicht, dass es Gott gefall
80 ist das Werk gnt, wenn es auch so gering wäre, wie einea
StrohhalEDen aufheben« Ist diese Zuversicht nicht da, oder zweifelt
er daran, so ist das W erk nicht gut, ob es schon alle Toten auf-
erwecke und der Mensch sich verbrennen liesse»** ») Indem aller
äussere Erfolg und Schein schwindet, und aller moralische Wert
ins Innere des „Herzens" verlegt wird, geht auch aller äussere
Wertunterschied des Werkes verloren, und der Mensch kann sich
überall, wo es auch sei, in den Üienst des Guten stellen. „In
diesem Glauben werden alle Werke gleich und ist eins wie das
andere; es fällt ab aller Unterschied der Werke, sie seien gross
oder klein, kurz, lang, viel oder wenig. Die Werke sind niclit
um ihrentwillen, sondern um des Glaubens willen angenehm/^
So eröffnet Luther der sittlichen BeUüitigung ein uneririt-is^
liches Feld.
Wie er seinen Widersachern auch heute noch auf ihren Eio-
wand, der Glaube ohne die Werke sei tot, entgegenhalten kmintf,
ditss sie ihn gitr nicht treffen, da er ja selbst den lein-tbooré-
tischen inbaltlicheu Glauben ohne den i>raktischen Glauben für
welllos und nur „einen Schein des Glaubens" halte, dem erst aus
dem Herzen Leben fliessen müsse, so konnte er nun ihnen sagen:
alle ihre guten Werke seien tot, ohne den lebendigen „Glaubeû
dt's HerÄens", Und nur von ihm fliesse die reichste Fülle d(
Iii4»ens auch auf die Werke. Anstatt, dass er lliaten verbtel
iidt'r auch nur die sittliche Thätigkeit beschränke, rufe er sie
hervor. Er sei das lebendigste, am meisten lebenweckende Ele-
ment in der Seele des Menschen, ja das Prinzip alles sittliciieo
Li^bens. Und wörtlich sagt er: „Es ist ein lebendig, schäftig,«
tliätig, niächtig Ding um den Glauben, dass unmöglich ist, dass ar|
nicht ohne Unterlass sollte Gutes wirken. Er fragt auch nicht,
4»b gute Werke zu tbun sind, sondern ehe man fraget, hat er sie
gi4liaii und ist immerfort im Tliun.** ^^)
liamit ist in der That nicht bloss ein Prinzip des sîttlicht^n
Lrln-ris überhaupt, sondern auch des sittlichen Fortschritts im
Î) Sermon von den giüeu Werken* XX, S. 198.
») a* a. 0. S. 199 f. Vgl, uucli oben § ß und § 7.
») \'t>rrede auf die Epist«! St. Pauli a» die lUmer. LXllI S. 126.
m
Luther und Kant. 415
Leben gewonnen, mag das Luther auch wieder nicht mit begriff-
licher Bündigkeit ausgesprochen haben. Es liegt indes analytisch
schon in der schroffen Gegenüberstellung von Glaube und Werk,
denn das ist dieselbe Unterscheidung, wie jene, die dem Willen
den Willensinhalt gegenüberstellt. Luther ist darum in gewissem
Betracht längst hinaus über jene ethischen Theorieen, die auf den
Willensinhalten meinen ihre Systeme basieren zu können. Auch
tritt in seiner Anschauung das mehr historische Verständnis be-
reits ausdrücklich hervor, dass die Willensinhalte, die „Werke an
sich" direkt unsittlich werden können, also einer über ihnen
stehenden Instanz bedürfen, die über ihren Wert und Unwert erst
selbst entscheidet. Wir meinen nicht bloss, dass dieser Rela-
tivismus, wie wü* heute sagen würden, die Überzeugung von
der Relativität der sittlichen Inhalte implizite in seiner Grund-
anschanung liege und aus ihr sich ableiten lasse. Das versteht
sich von selbst. Nein! ausdrücklich finden \^ir, wenn auch nicht
abstrakt und nur gelegentlich, von ihm ausgesprochen, dass Sitten
und Bräuche zu bestimmten Zeiten gut gewesen sein mögen, ohne
es aber für alle Zeiten zu bleiben und zu sein, sodass der ge-
schichtlich-sittliche Fortschritt über sie rücksichtslos hinweggeht.
Und das Recht dazu kann er doch nur aus dem praktischen
Glauben, der über seinen Inhalten steht, abnehmen. So sagt
Luther z. B. gelegentlich seiner Meinungsäusserung über das
„Heiligenerheben": „Ob schon Heiligenerheben vor Zeiten gut
gewesen wäre, so ist es doch jetzt nimmer gut, gleichwie viele
Dinge vor Zeiten gut gewesen sind und doch nun ärgerlich und
schädlich, als da sind Feiertage, Kirchenschatz und Zierden." -)
Hier ist doch die Relativität der Gutheitsinhalte (sit venia verbo)
in Rücksicht auf Sitten und Bräuche der Kirche schon mit un-
missverständlicher Deutlichkeit ausgesprochen. Und dann ist die
Reformation selbst nicht der beste Beweis durch die That für diese
Anschauung Luthers?
Welche gewaltige Wirkung diese Anschauung haben musste,
ist klar: Dem Menschen ward es zum Bewusstsein gebracht, dass
er, immer und überall, wann und wo es auch sei, Gott dienen
könne. Er musste darauf geführt werden, dass das wirkliche
Leben in seiner ganzen Fülle Bethätigungsgebiete in sich befasse,
^) Sendschreiben an den christlichen Adel deutscher Nation. XXI.
S. 333 f.
KftatatodiMi IX. 27
416 B. Bauch,
für die er selbst |2feeigneter wäre, als andere Menschen, und die
für ihn wiederum auch geeigneter wären, als andere Bethätigongs-
gebiete, dass manches Alte überlebt und neues Leben auf neaem
Boden erstehen müsse.
Wie sehr Luther das an sich und seiner eigenen Entwicke-
lung erlebt hat, ist genugsam bekannt. Seine Stellung znm
Ordenswesen zeigt es deutlich. Nicht etwa, weil es ihm bloss
nicht behagt hätte, erklärt er es für wertlos. Wer wüsste nicht»
welche Seelenkämpfe er zu bestehen hatte, wie wenig die Fragen
nach blossem Behagen oder Unbehagen hier mitzureden hatten,
sondern allein der Wert oder Unwert der Sache vor dem Bicht-
mass seines Gewissens! Und nur unter dem Gesichtspunkt dés
sittlichen Wirkens im lebendigen Leben erhebt sich vor ihm das
Problem des Berufs, der, wenn er wohl verstanden wird, ja nichts
anderes, als das sittliche Auswirken der persönlichen Eigenart
bedeutet. Der Reformator nimmt zu diesem Problem eingehend
Stellung; und zwar mit bedeutsamer Unabhängigkeit von seinen
rein-theologischen VorsteUungen und vom Evangelium sieht er in
ihm mehr eine natürliche Verknüpfung des Gottesreichs mit im
Weltreich, durch die „die Welt voll Gottesdienst** sein kann,^
indem jede Persönlichkeit unablässig, nach Gottes Wohlgefallen,
und mit sich selbst in Übereinstimmung wh^ken kann.
So führt der reine Herzensglaube bei Luther zu einer wahr-
haft sittlichen Thatenfreudigkeit der Persönlichkeit in der rechten
Erkenntnis der Lebensfülle des wirklichen Daseins, bei allem
Wandel und Wechsel seiner Inhalte, die selbst eine überzeitliche
Dauer erhalten durch die in einem pflichtvoll erfassten Berufe
wirkende sittliche Gesinnung.
§ 11-
Der Einzelne und der Nächste.
Wir sind mit den letzten Fragestellungen bereits einer neuen
Frage nahegekommen. Wir sahen: unser Wirken in der Welt
richtet sich ja nicht auf eine tote Wirklichkeit und ist auch
nicht allein bestimmt von dem schaffenden Willen des einzelnen
thätigen Menschen, sondern greift ein in das lebendige Leben der
Menschheit selbst, in das geschichtliche Werden und Wirken der
Gesellschaft. Darum tritt der Einzelne immer in den grossen ge-
1) Vgl. dazu Luthardt „Die Ethik Luthers". S. 92.
Luther und Kant. 41 7
schichtlichen Zusammenhang seines Geschlechts. Wird ihm also
die Bethätigung überhaupt angemutet, so ist er damit zugleich in
den Dienst der menschlichen Gesellschaft gestellt, bestimmt, seinem
Mitmenschen, seinem Nächsten zu dienen. Und so können wir
hier nun weiter fragen: denkt sich Luther diesen Nächstendienst
durch ein bestimmtes Prinzip begründet und geregelt, und durch
welches?
Nur auf diese ganz allgemeingestellte Frage wollen wir eine
Antwort geben. Da wir ja nicht seine Sittenlehre im Einzelnen
darzustellen suchen, sondern nur die prinzipiellsten seiner Anschau-
ungen kennen lernen wollen, so mag auch hier diese allgemeinste
und prinzipiellste Betrachtung genügen, obwohl der Reformator
sich hier in der That bis ins Einzelnste Rechenschaft zu geben
versucht und in manchem durch eine glänzende Wandelschaffung
— denken wir nur an seine Ideen von Staat und Familie —
historisch bedeutsam geworden ist.
Das Prinzipielle, auf das es uns hier ankommt, um seine
Anschauungen über das Verhältnis von Mensch zu Mensch zu
verstehen, ist die christliche Grundforderung, die er an jeden
stellt, um alle mit einander zu einen. Es ist die Forderung der
Liebe, in der er das einigende Band von Mensch zu Mensch, vom
Einzelnen zum Nächsten sieht. Aber es ist doch etwas ganz An-
deres um die Forderung dieser Liebe bestellt, als man gemeinig-
lich glaubt, und als mancher Frömmler sich träumen lässt, dessen
Bemühen um diese missverstandene Tugend ihn zu einer traurig-
lächerlichen Figur macht.
Die Forderung ist nicht neu: „du sollst deinen Nächsten
lieben als dich selbst." Jesus hatte sie der Welt verkündet.
In Worten hatte sie die alte Kirche festgehalten. Aber Luther
ist wohl der Erste, der sich darüber klar wird, was Jesu Gebot
von der Liebe bedeutet, und wie himmelweit sie von der Liebe
verschieden ist, die wir schlechthin mit diesem Namen bezeich-
nen; eben dadurch verschieden, dass sie eine gebotene, geforderte
Liebe ist.
Es würde uns höchst thöricht und ungereimt vorkommen,
wenn an uns der erste Beste herantrete und uns aufforderte:
liebe mich; wir würden ihn wahrscheinlich für nicht ganz zu-
rechnungsfähig ob dieser Forderung halten; und genau ebenso,
wenn er verlangte, nicht etwa, dass wir ihn, sondern dass wir
irgend einen anderen, den oder jenen, auf den er gerade aufmerk-
418
B. Bauch,
i
Ham wird und uns aufmerksam macht, lieben. Wir sagen: eineß
solchen Menschen würden wir für niclit ganz zurechimngsfähig
auseheti, wenn wir das Woit „Lieben** in dem Sinne nehmen, iu
dem wir es gewöhnlich brauchen, in dem es bedeutet: einer Per-
sönlichkeit um ihrer Eigenart willen, weil sie gerade so ist, wie
sie ist, uns durch Neigung verbunden fühlen.
In diesem Sinne wäre das Gebot: Liebe deinen Näclisteii
eine Absurdität; deun diese Liebe lässt sich nicht fordera, sie
Iftsst sich sozusagen nicht koniniandieren. Wir können nichts für
diese Liebe, wir können sie in uns nicht erregen und erzeugen
sondern müssen warten, bis jemand ausser uns sie erweckt. Aber
nicht jeder ausser uns kann sie erwecken; wir müssen da, sozu-
sagen, wiederum warten, bis der E echte kommt, der sie in ms
wach ruft. Der Zustand des in dieser Weise Liebenden hat also
seinen (Irund yicl weniger in seiner eigenen Aktivität, als er viel-
melir an der Person des Geliebten haftet, durchaus bedingt ist
durch die Individualität des Anderen. Allerdings muss dafür h
dem Liebenden mw gewisse Prädisposition vorhanden sein. Nur
ist das Charakteristische, dass diese Prädisposition eben nicht im
jedem für jeden angelegt ist, sondern nur für gerade iu bestiimuter
Weise geartete Persönlichkeiten, gewisse Individualitäten, die der
Liebende gegenüber der Sunnue aller übrigen Persönlichkeitea
auswählend bevomugt. Diese Bevorzugung gerade des Einzehien,
gegenüber der Totalität aller übrigen imter dem Begriff des
„Nächsten'* doch mitbefassten Menschen, ist das unmittelbarste
Charakteristikon der Liebe im gewöhnUchea Sinne des Wortes*
Diese erstreckt sich niclit auf den „Nächsten** schlechthin, sondern
fliesst von einer besonderen Individualität aitf den Liebenden ein.
Darum muss das Cliristentum, wenn es nicht etwas Sinnloses bat
behaupten und gebieten wollen, den Begriff der Liebe in einer
anderen Bedeutung gefasst haben, und diese Bedeutung hat Luther
in klarer, unmissverstandlicher Weise herausgearbeitet, so dass
das christliche C4rundgebot nicht bloss einen guten Sinn bekommt.
sondern eine wahrhaft zeitlose Geltung erhält ^
Denn Lutlier ist sieh des Gegensatzes jener gebotenen Liebe»
(îiniTHeiLs und der natürlichen Liebe anderei-seits wohl beuiisst.. —
Kr fordeil ausdrücklich die Individualitätslosigkeit der Liebe, diess;
piU*M ujit dem Gebote des Christentums decken soll, im Gegensatz*
m JeïM^r ganz und gar individuellen, an die Individualität ge —
lirnidenen liMn*, Die Nächstenliebe im Shme Luthers kann aiir^
Lnther und Kant. 419
uns nicht überfliessen von einer Person ausser uns infolge deren
Einzigartigkeit. Wir sollen den Nächsten in jener „christlichen**
Liebe nicht um seiner individuellen Besonderheit willen lieben,
sondern wir müssen diese Liebe aus uns hervortreiben mit selb-
ständiger Eigenkraft, wie jede uns anrechenbare Handlung. Diese
Liebe, die gut und geboten ist, muss vollkommen — wir brauchen
hier wiederum das Wort ! — autogen sein. In der Predigt von
der Summe des christlichen Lebens heisst es: „Ein Christ soll
seine Liebe nicht schöpfen von der Person, wie die Weltliebe
thut**. Hier wird die christliche Liebe ausdrücklich der Weltliebe
entgegen gesetzt, und weiterhin wird sie als eine „quellende
Liebe** bezeichnet, die „von inwendig aus dem Herzen geflossen
sein** muss.^)
Wir können nun nicht mehr im geringsten darüber im
Zweifel sein, dass diese „Liebe** mit Liebe im Sinne persönlicher
Zuneigung nichts als den Namen gemein hat, in ihrem Wesen
aber etwas ganz Anderes, nichts Sinnliches, sondern etwas Sitt-
liches ist. Es ist Luthers tiefste, religiöse Überzeugung, dass der
Mensch infolge seiner geistlichen Natur einen Wert darstelle, dem
wir dienstbar zu sein haben, das heisst, philosophisch gesprochen,
den wir als Gegenstand der Pflicht zu behandeln haben. In der
„Freiheit eines Christenmenschen** vereinigt er ja die beiden Be-
stimmungen, dass ein „Christenmensch** „ein freier Herr über alle
Dinge und Niemand unterthan**, und doch andererseits „ein dienst-
barer Knecht'* aller Dinge und Jedermann unterthan sei durch
den Hinweis auf die „zweierlei Natur" des Menschen, die „geist-
liche" und die „leibliche". Der freie „geistliche** Mensch macht
sich freiwillig dienstbar seinen Mitmenschen, und eben weil jeder
frei und „geistlich" ist, hat sich auch jeder jedem frei und
„geistlich" dienstbar zu machen.^)
^) Summa des christlichen Lebens. XIX. S. 307. Vgl. Luthardt,
a. a. O. S. 57, wo es heisst : „Das ist das Charakteristische der christlichen
Liebe, dass sie sich nicht von der Person des Anderen bestimmen lässt,
sondern von der eigenen Liebe im Herzen." Diese in positiver Beziehung
nicht ganz klare Wendung Luthardts wird deutlicher durch die negative
Bestimmung der Liebe im Sinne Luthers : Für sie ist „sowohl die na-
türliche Individualität, als auch die sittliche Beschaffenheit des Anderen
kein Beweggrund."
^ Vgl. dazu auch den vorigen Paragraph.
420 B. Bauch,
§ 12.
Die Beli^ODSgemeinschaft
Das Leben, das den Menschen in die unendliche Fülle erléb-
barer Wirklichkeit hineinstellt, liefert ihm auch, sahen wir, m
unendliches Material der Pflichterfüllung, eröffnet ihm ein HIle^
messliches Feld, auf dem er Gk)tt dienen kann. Und der Nächste
stellt sich ihm dar als Gegenstand seiner sittlichen Behandlung,
gegen den er Pflichten zu erfüllen, dem er zu dienen hat^ an
damit zugleich Oott selbst zu dienen. Es hätte nun nahe gelegoi,
dass Luther dieser Auffassung gemäss die Vereinigung aller zu
solchem Gottesdienst bereitwilligen Menschen als eine grosse rdi-
giöse Gemeinschaft angesehen hätte. Aber so weit war Luther
doch noch nicht gelangt. Er blieb noch sehr am Überliefertal
hangen, und vor allem am Dogmatischen, und doch hat er der
Freiheit auch hier gar sehr die Wege geebnet. Er hatte, woranf
auch Lenz hinweist,^) am liebsten ohne alle „Oeberden and
Kleider^*) Gtott dienen wollen, d. h. ohne äussere, statutarische
Konventionen des Kirchenkults. „Aber er sah," fügt Lenz*)
treffend hinzu, „dass solche Ideale der Wirklicheit nicht ent-
sprächen und deshalb für bessere Zeiten zu verschieben und all-
mählich anzubahnen wären." Denn nur „um ,der ElinfUtigen and
des jungen Volkes* willen, müsse man überhaupt lesen, singen,
predigen, schreiben und dichten."
Die historische Zeitlage also machte den Gebärdendienst
nötig, d. h. den kirchlichen Kult, damit die junge Kirche sich
gegenüber der alten mächtig und nachdrucksvoll behaupten konnte.
Die „Einfältigen", das junge Volk vor allem, sie werden auch
immer des Äusserlichen und Sinnfälligen bedürfen; so etwas,
wie eine konfessionelle Anstalt, wie wir mit einem modernen
Worte sagen können, brauchen, und äussere Zeichen nötig haben,
um sich zusammenzufinden.
Zu diesen historischen Erwägungen, die Luthers Dogmati-
sierung und dogmatische Fixierung eines Glaubensinhaltes für die
1) a. a. O. S. 180.
«) Freiheit eines Christenraenschen. XXVII. S. 184.
3) Lenz ebenda. — Bei Luther im ^. Katechism. S. 401 heisst es:
„Ceterum, ut hinc christianura aliquem intellectum hauriamus pro simpli-
cibus, quidnam deus hoc in praecepto a nobis exigat, ita habe: Nos dies
festos celehrare non propter inteUigentes et eraditos christianos, hi enini
nihil opus habent ferüs. Vgl. Hamack, a. a. O. in. S. 746.
Luther und Kant. 421
junge Kirche verstehen lassen, eines Glaubensbekenntnisses, das
sich st^rk genug mit dem alten in Übereinstimmung befindet,
kommt noch ein mächtiger persönlicher Krklärungsgrimd : Luthers
dogmatische Persönlichkeit, sein ganz und gar dogmatisch ange-
legter Charakter selbst.^)
Wir haben ja bereits hervorgehoben, wie er das „Wort
Gottes", als für alle bindend ansieht, und wie es ausser der
durch dieses „W^ort" begründeten Kirche auch für ihn keine
„Seligkeit" giebt. So wiederholt sich historisch das Tragische,
das wir in der Persönlichkeit des Stifters der jungen Kirche an-
treffen, in dieser seiner Schöpfung selbst: Ursprünglich zur Frei-
heit bestimmt, wird sie durch geschichtliche Notwendigkeit und
durch persönliche Absichtlichkeit in dogmatische Bahnen gedrängt.
Und doch besteht ein grosser Unterschied zwischen dem neuen
und dem alten Dogmatismus.
Für den Reformator giebt es eigentlich nur ein Dogma,
wenn man so sagen darf, die allumfassende Schrift; mag es
immerhin gerade sie sein, die andere Dogmata involviert. Da
aber jeder nach seinem eigenen rechten Verstände die Schrift ver-
stehen kann, er also keiner Autorität für das Schriftverständnis
bedarf, so bleibt, bei aller Autorität der Schrift selbst, bei allem
an ihr haftenden Dogmatismus, doch wenigstens die Freiheit der
Auslegung gewahrt und damit dem Einzelnen auch innerhalb der
Kirche seine Selbständigkeit kirchlichen Autoritäten gegenüber
gesichert. Denn solche kirchliche Autoritäten fallen damit ein-
fach fort.
Aber noch weiter ringt sich in Luthers starker Persönlichkeit
der Drang nach Freiheit in religiösen Dingen durch: Ihm ist „an
der äusserlichen Ordnung nichts gelegen."*) Weit entfernt, dass
sie ihm irgendwelchen Selbstzweck habe, oder dass ihm die
kirchliche äussere Gemeinschaft, wie sie das nach der alten Auf-
fassung ist, als das Wesen der Religion selbst erscheine, hat sie ihm
nicht einmal religiösen Wert auch nur in übertragener Weise,
sondern lediglich erzieherische und nicht ewig bindende Bedeutung.
Sie ist ihm lediglich Mittel der Menschen, sich gegenseitig zur
Vervollkommnung — da ja keiner vollkommen ist — zu verhelfen,
und kann bei höherer menschlicher Vollkommenheit durch andere
1) V^l. oben S. 368 ff.
*) Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes zu Wittenberg
fOrgenommen 1526. XXTI. S. 228.
422
B. Bauch,
Ordimugeü ersetzt werdf^u. Wiederum iiicht bloss der grossartige
religiöse Freiblick, soüdeni auch der grosse historische Weitblick,
wie er kouseiiuetiterweise eben nur d<^ui Tuuglich ist, der sidi frei
gemacht hat von aller AuturitätsfiU'cht inhaltlicher Sitteukonvemenz^
und si(!h ganz und gar gestellt hat auf eiu freies gutes Gewiss^|
seiner eigenen freien PersöuLichkeit ! „Vor allen Dingen,** so
heisst es wörtlich bei ihm,») „will ich gar freundlich gebeten
haben, auch um Gottes willen, alle diejenigen» so diese
unsere Ordnung im Gottesdienste sehen oder nachfolgeü
wollen, dass sie ja kein nötig Gesetz daraus macheu
noch jemandes Gewissen damit verstricken oder faher,
sondern der christlichen ITreiheit nach ihres Gefallet«
brauchen, wie, wo, wann, und wie lange es die Sachan
schicken und fordern/'
Ein wunderbares, hochbedeutsames Wort! Hier liegt kkr
und deutlich ausgesprochen einerseits die zeitlich-historische Rela-
tivität der Geltung der statutarischeu Oitlnuug und dan?it dio
Freiheit der Persönlichkeit von irgend welcher Bindung durch diese
i)rduung. Ein neues Ideal der religiösen Gemeinschaft ist hier
wenigstens angedeutet. Der Kultus als integrierender Faktor der
religiösen Gemeinschaft ist gestürzt; es bleibt nur ein wahrer
Gottesdienst übrig: der der sittlichen Beth«^tigung des Hertens-
glaubens im Leben, Nur er hat Wert, an und für sich, mi
höchstens um den Menschen zu diesem einzig wlirdigen Gottesdieüsl
heranzubilden und zu eraieheu, also als blosses Mittel zu dem
höheren Zweck erscheint, hier Kult und Ordnung, Damit ist in
der Kirche jene unwürdige Unterscheidung von Volk und Priesteru
zerstört. Jedermann aus dem Volke ist zugleich Priester, der
Gott im Glauben dient. Der wahre Wert dieser Gemeinschaft
verlor an Sichtbarkeit, sobald er an Änsserlichkeit verlor, und da
das Äusserliche eben nicht mehr als wahrer Wert galt, konnte
als charakteristisches Merkmal der Kirche auch nicht mehr die
Sichtbarkeit gelten. Die wahre Kirche, oder wenigstens ihr zu
verwirklichendes Ideal kann nur etwas Unsichtbares, Inner-
liches sein.
Luthers Ausführungen über die zw^eierlei Kirchen, die „geist-
liche** und die „leibliche** Christenheit zeigen das deutlich.») Es
1) a. a. 0. S. 227. i
^) Vgl. Vom Papsttum zu Eom wider den hochberühmten Rom*-"
nisten zu Leipzig. XXVII S, 102 ff.
I
I
Luther und Kant. 423
ist hier nun von Bedeutung und Interesse, dass er nicht etwa die
neue Kirche für die allein-„geistliche" und die alte mit allen
anderen für bloss „leiblich** erklärt. Vielmehr ist er der Über-
zeugung, dass sowohl im „Romanismus**, wie in der neuen Ge-
meinschaft, ebenso gut „geistliche und innerliche**, wie „leibliche
und äusserliche** Glieder sein können. Denn die blosse äussere
Gemeinschaft, die sichtbare „Gemeinde** „macht nicht einen
wahren Christen**,') sondern nur der innere Glaube. Die
christliche Versammlung ist „einträchtiglich im Glauben, wiewohl
sie nach dem Leibe nicht an einem Ort mag versammelt werden.
Indes wird ein jeglicher Haufe an seinem Ort versammelt. Diese
Christenheit wird durchs Recht und durch die Prälaten regiert.
Hierzu gehören alle Päpste, Kardinäle, Bischöfe, Prälaten, Priester,
JlföDche, Nonnen und alle die im äusseren Wesen für Christen ge-
llalten werden, sie seien wahrhaftige Christen oder nicht.
Denn obwohl diese Gemeinde nicht einen wahren C'hristen macht,
^eil alle die genannten Stände ohne Glauben bestehen können,
so bleibt sie doch nimmer ohne etliche, die auch daneben wahr-
haftige Christen sind.** Diese bilden nun die wahrhafte „geist-
liche** Gemeinde, in der anderen „leiblichen** Gemeinde. „Die
aber ohne Glauben und ohne die erste Gemeinde in dieser
anderen Gemeinde sind, sind vor Gott tot, Gleissner, nur wie
hölzerne Bilder der echten Christenheit.**
Die „Gemeinde** äusserlich betrachtet, oder das, was wir
heute etwa Konfession nennen, entscheidet keineswegs also über
die „Christenheit** des Gemeindegliedes. Das kann und thut allein
der Glaube. Dieser Glaube muss nun wiederum der persönliche
„Glaube des Herzens** sein; und könnte recht betrachtet eigentlich
nicht der Dogmenglaube sein, da dieser ja das unterscheidende
Kriterium der „Gemeinde** ist, also nicht einigendes Band sein
kann. Das ist eine Konsequenz, die direkt über Luther hinaus-
weist. Aber nur von ihr eröffnen sich in der That bessere Aus-
sichten auf bessere Zeiten.
In Luthers Idee der Kirche begegnet uns, psychologisch sehr
begreiflich, dasselbe Widerspiel, wie in seinem Glaubensbegriff.
Er kommt, seinem praktischen Glauben gemäss, in seinen Bemüh-
ungen, den Begriff der Kirche klar zu legen, dem Ideale einer
überkonfessionellen Gemeinschaft sehr nahe. Auf der anderen
1) a. a. O. ebenda.
424
B« Banchf
Seite ventiag' er sich infolge seines Dogmatismns nicht vom kin'h-
liehen Kotifessioimlismus zu befreien, eben weil er den Schrift^Iaiiben
zur „Seligkeit" notwemlig eraelitete und darum den „Juden, Heiilt^ii,^
Türken, Sünder'* nicht konnte .Jest trauen'* lassen» «dass er(
gefalle/
Sich von dieser Beschranktlieit zu befreien, bätle er nr
verirn»dit. wenn er seine Forderung: „Kein Jlensch soll ziun J
Glaiilien gezwungen werden", nicht bloss auf die Schrütauslepng,B
sondern auf die ganze Bedeutung der Schrift überhaupt augewaadt
hätte; weiui er diese lediglich einmal auch nur aLs Inhalt — da
ja der inhaltliche (ilauben tloeh selber ein lliun ist, — des prak- i
tischen (ilanhens angesehen hätte. Es fehlte ja uui* ein ScbrittM
zu der Überlegung, dass vielleicht gerade der Mensch, der den b- "
haltlichen dogmatischen Glauben aiifgiebt, dies doch tuit der imer-
schütterlichen Überzeoguug der Gottw^ohlgeialligkeit mit dem lau-
t-ei*sten Glanben des Herzens thun könnte. Aber das wai' ebi«!
ein gar grosser Sehritt. Denn er hätte die Erkenntnis erfordert» '
dass Glaubenszwang in jedem Falle, auch dem Schrift glaub«^u
an und für sich, nicht bloss seiner Deutung gegenüber,
sinnlos ist; dass gerade der reijie Herzensglaube durch solchen
ZwaTig unoiöglich gemacht werden kann, und er es darum frei
liat)en muss, den Sehriftglauben anzunehmen oder abzulehnen, f
Nur so wäre auch Luthers Ideal der „geistlichen** Gemeinde
logisch möglich. Niu* insofern er auf dieses Ideal hinweist, weist
er auch auf die Roinigiujg vom Doguiatisnnis hin. Aln*r um atieh
diese zu vollziehen, dazu war eine absolut neue, kritische Betrach-
tung erfordert, die Luther nicht leisten konnte. Auf ihr allein
lassen sich seine Hoffnungen giünden, mit denen er von bessereUj
Zeiten bessere Aussichten für die Kirche erwartet.
;«
§ 13.
Rückblick.
Wir sind am Ende der Darstellung von Luthers sittlich-rd
giösen Ideen, soweit sie für uns von Bedeutung und Interessl
sind. Del* Kefurniator selbst hat sie in keinem systematisebeE'
Zustimmenhange dargelegt. Sow^eit sie in nuserer Behandlim^
systematisch anfgetuuit erîicheinen, ist dieser Aufbau nuser Ver-
such. Kr wird indes getûgnet gewesen sein, zu zeigen, dass die
einmal gegebenen Gedanken Luthers in gewisser Weise doch eiüer_
systematischen Formung fähig sind.
Luther und Kant, 425
Fassen wir noch einmal knapp in wenig Sätzen alles zu-
sammen, als möglichst einheitliches Resultat, was wir aus den
vorangehenden Untersuchungen entnehmen können, so dürfen wir
kurz sagen:
Das Bedeutsame an Luthers That liegt in seiner Glaubens-
dee, die ausser dem theoretischen Fürwahrhalten dogmatischer
$ätze die rein-praktische Bestimmungsfunktion des persönlichen
äerzensglaubens, der guten Gesinnung in sich schliesst. In diesem
st sowohl ein Glaubensprinzip gewonnen, insofern von ihm auch
1er theoretische inhaltliche Glaube seinen Wert erhält (mag
^derspruchsvoller Weise auch das Wertabhängigkeitsverhältuis
^eder umgekehrt werden); als auch ist in ihm ein sittliches Prin-
rip des Handelns gegeben, insofern von der guten Gesinnung dem
Blauben allein, und nicht vom äusseren Werk und Erfolg der
Wert der Handlung abhängig gedacht wird. Dieses sittliche Prin-
âp entrückt auf der einen Seite die Persönlichkeit der Autorität
and stellt sie, trotz der auch in ihr thätigen göttlichen Allwirk-
samkeit, frei und selbständig auf sich selbst und ihre sittliche
Eigenkraft. Auf der anderen Seite entrückt sie aber den Wert
der Handlung aller individuellen Willkühr. Denn sittliche Selb-
ständigkeit der Persönlichkeit ist noch lange nicht persönliche
Willkühr. Wertvoll wird nämlich die Handlung erst durch eine
überpersönliche Beziehung, welche die freie sittliche Persönlich-
keit selbst vollzieht; durch eine über diese hinausweisende Be-
ziehung auf eine höhere allgemeine Instanz. Diese Instanz ist
für Luther der göttliche Wille. Und die Selbständigkeit der Per-
sönlichkeit gründet sich darauf, dass sie den Entscheid darüber,
was dieser höheren Instanz des göttlichen Willens gemäss sei,
sich nicht durch äussere autoritative Bestimmungen geben lässt,
sondern in ihrem eigenen Innern durch den Ausspruch des Ge-
wissens empfängt.
Die Übereinstimmung des persönlichen Willens mit dem gött-
lichen Willen, und zwar um dessen selbst willen, und aus keinem
Grninde sonst, ist das höchste Ziel des menschlichen Handelns.
Damit werden abgewiesen als sittliche Bestimmungsmomente alle
Motive, die sich jene Einheit und Einstimmung nicht um ihrer-
äelbstwillen zum Ziele setzen, sei es, dass sie von vornherein
nichts anderes als die Befriedigung selbstischer Wünsche suchen,
dass von vornherein der Mensch nur „das Seine sucht**, sei es,
dass er es auf dem Umwege jener Übereinstimmung, durch die
426 B. Banch,
Vorstellnngen von Lohn ODd Strafe bewogen, begehrt, dassa
also das auf der Überemstiinmong seines Willens mit dem gfitlr
liehen Willen beruhende Wohlgefallen Gottes nicht in freier Lid)e
als seines Handelns höchsten und letzten Zweck, sondern als
blosses Mittel für seine eigenen selbstischen diesseitigen oder jen-
seitigen Absichten betrachtet. Ein Gebahren, das sich selbst auf-
hebt, da ihm die göttliche Wohlgefälligkeit versagt bleibt
Verwirklichen aber kann der Mensch seine wahre sittliche
Aufgabe immer und überall. Die Wirklichkeit und das Leben
bieten ihm ein unerschöpfliches Material, an dem sich sein prak-
tischer Herzensglaiibe bethätigen kann. Er kann es vor allem
durch seinen Beruf, der ihn mit der Menschheit ausser ihm yet-
bindet. So kann er dieser in neigungsloser Liebe dienen und da-
rin seinen wahren Gottesdienst erkennen und durch die VerbindnnK
mit dem Nächsten zum gleichen Zweck die grosse, göttliche, refr
giöse Gemeinschaft bilden.
Der Begriff der Religionsgemeinschaft hat bei Luther nodi
etwas sehr Schwankendes und Schimmerndes; er ist noch nicht
einheitlich gefügt und abgeschlossen. Es ringen in ihm Dogmar
tismus und persönlicher Freiheitsglaube noch in unausgeglichenem
Streite. Aber dieses Ringen ist gerade so bedeutungsvoll, und auf
ihm beruht die grossartige historische Wirkung Luthers. Der
Dogmatismus, der tief in Luthers Persönlichkeit wurzelt, ebenso
tief, wie sein heroischer Freiheitsglaube, ist noch mächtig. Aber
auch dieser heroische Freiheitsglaube ist mächtig. Er hat ent-
schieden etwas Überkonfessionelles in der Idee der Kirche ange-
bahnt. Nicht nur der Kult und die Ordnungen waren erkannt als
das, was sie sind: als historisch-bedingte und darum historisch
überwindbare, überlebbare Ausserungsformen des menschlichen, ge-
mütlichen Bedürfnisses. Es ist selbst eine Überwindung des
starren Dogmatismus — allerdings nur im Keime — angelegt, indem
auch die verschiedenen „Gemeinden", die sich nicht nur durch
Kult und „Ordnungen", sondern auch durch Dogmen unterscheiden,
selbst nicht mehr in schroffen Wertabgrenzungen gegen einander
gehalten und dem Ideal der einen „geistlichen" Gemeinde gegen-
übergestellt werden. Was sie aber, da es Dogmen nicht sind, nur
zu einen vermag, das kann in letzter Linie doch nur der reine
Hcrzensglaube sein, der sie in dienstbarer Liebe verbindet.
Trotz mancher, oft schroffer Widersprüche im iänzehien,
würden sich so Luthers Anschauungen, wenn der hier in den
Luther und Kant. 427
{oden der Menschheitsgeschichte gelegte Keim in Gemässheit
einer Anlage weiter entwickelt würde, doch als Ganzes einheit-
ich zusammenschliessen.
II. Teil.
Die ethischen und religionsphilosophischen Prinzipien
Kanis. — Der Vergleich.
Wir haben Luther einen Vorläufer Kants genannt. In
welchem Sinne und welchem Umfange wir ihn als solchen ver-
ïiehen, haben wir gleich eingangs dargelegt. Nun kennen wir
»eine Anschauungen. Es bleibt uns, unserer Aufgabe gemäss,
mnmehr noch übrig, die Ideen Kants zu entwickeln, soweit wir
ron ihnen sagen können, sie seien durch die Luthers historisch
vorgebildet, um dann durch einen Vergleich die Berechtigung zu
»rweisen, Luther die Vorläuferschaft Kants zuzueignen.
Kapitel IV.
Das Prinzip der MoraL
In der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft, mit der Kant
lein System vollendet, zusammenschliesst und krönt, vollzieht er
lie berühmt gewordene Einteilung der „drei Gemütsvermögen **
lerart, dass einem jeden derselben eine seiner drei Kritiken ent-
pricht. Dem praktischen Vermögen des Menschen, dem Willen,
ntspricht die Kritik der praktischen Vernunft. Diese Kritik nun
3t das Verfahren, das Prinzip der praktischen Vernunft aufzu-
ecken; sie ist Wissenschaft von der Moral. Nun ist das Ver-
ahren, das etwas finden soll, und das was gefunden werden soll
i. h. Wissenschaft und Gegenstand der Wissenschaft), nicht eines
nd dasselbe. Und femer ist zwar in der Konsequenz zur Kan-
ischen Lehre alles Wissen auch Thun, aber nicht ist alles Thun
ach Wissen. Deshalb ist auch das Wissen vom sittlichen Handeln
ait dem sittlichen Handebi selbst nicht einerlei, und das Prinzip
1er Moral nicht mit dem Prinzip des Wissens zu verwechseln.^)
1) Vgl. dazu die glänzende Entwickelung, die Euno Fischer (Kant,
IL Bd. S. 57 f.) vom „moralischen Sinn'' giebt.
428 B. Banch,
Dass Kant, dem Begründer der kritischen Philosophie, die in
ihren letzten und höchsten Instanzen in jeder Beziehung zoifick-
weist auf das Praktische, die Moralphilosophie als praktische Fbi-
losophie xar^ è^oxt^v galt, das hat seine tiefe Bedeutung. Danüt
ist das rein-Praktische absolut eindeutig gegen das Theoretische
abgegrenzt; und so auch das Prinzip des rein-Praktischen gegen
alle Prinzipien sonst.
Allgemeinheit liegt im Wesen des Prinzips überhaupt. Es
bezeichnet nie etwas Einzelnes, sondern ist immer der Ausdruck
eines Mannigfaltigen, und zwar eines zur Einheit geschlossenen
Mannigfaltigen, also einer Totalität. Was nun unter das PrinzQ
schlechthin fällt, von dem sagen wir: dass es (irgendwie) ist;
was aber unter das rein-praktische Prinzip fällt, von dem sagen
wir, dass es sein soll. Darum fasst es nicht eine Sphäre de8
Seins oder das Sein schlechthin unter sich, sondern das Sollen:
nicht was ist, noch was geschieht, sondern was geschehen soll;
mithin nicht die unbewusst und blind wirkende Natur, sondern den
planvoll wirkenden, vernünftigen WUlen und die aus ihm fliessen-
den Handlungen. Wir haben es mit keinem Seinsprinzip, sondern
mit einem Wertprinzip zu thun, das über den Wert oder Unwert
der menschlichen Handlungen entscheidet.
Wenn das ethische Prinzip die Kraft dieser Entscheidung
haben soll, und wenn an ihm Wert und Unwert unserer Handlungen
gemessen werden sollen, müssen wir an ihm eine sichere Bicbt-
schnür besitzen, und es muss sich selbst auf einen einfachen Aus-
druck bringen lassen.
Kant hat nun die beiden von vornherein nur denkbaren
Versuche, es zu bestimmen, erörtert. Der eine hat die Tendenz,
das Prinzip ans der Erfahrung zu bestimmen; er erweist sich als
absurd. Der andere will es aus der Vernunft ableiten. Er allein
ist möglich. An dem einen können wir lernen, wie das Moral-
prinzip nicht bestimmt werden kann. Der andere zeigt, wie allein
es bestimmt werden soll.
§ 14.
Die negative Bestimmung des Sittengesetzes.
Es scheint von vornherein denkbar, an der Hand der Er-
fahrung einen allgemeingiltigen Massstab für das sittliche Handeln
gewinnen zu wollen. Wenn mau aber näher zusieht und sich be-
Luther und Kant. 429
nisst bleibt, was man damit will und meint, so zeigt sich gleich
ie Unmöglichkeit des Beginnens.
Wir erinnern uns ja, dass das Prinzip der Moral nie ein
leiu und Geschehen, sondern lediglich ein Sollen zum Ausdruck
»ringen muss. Nun zeigt uns die Erfahrung aber immer nur was
3t und geschieht, nie jedoch, was sein und geschehen soll. Wir
:önnten im günstigsten Falle theoretisch ein Naturgesetz entdecken»
,nach welchem wir", wie Kant sagt, „handeln zu dürfen Hang
ind Neigung haben", aber kein praktisches Prinzip, „nach welchem
vir angewiesen wären zu handeln, wenngleich aller unser Hang,
S[eigung und Natureinrichtuug dawider wäre." ^) Wir würden uns
n der Betrachtungsweise der „empirischen Seelenlehre, welche den
zweiten Teil der Naturlehre ausmachen würde, wenn man sie als
Philosophie der Natur betrachtet, sofern sie auf empirischen Ge-
setzen gegründet ist", ^ halten, aber nicht zu praktischen „objek-
tiven Gesetzen" gelangen.
Die psychologisch-genetische Methode wird also streng von
ier ethisch-kritischen geschieden und für die Begründung eines
Moralprinzips für unzulänglich befunden. Wir könnten mit dieser
kurzen Bemerkung sofort unsere Untersuchung über das empirische
Verfahren einstellen, da wir wissen, dass Kant es abgelehnt hat.
Nur hat er selbst sich so nachdrucksvoll mit einer Spezies der
empirischen Betrachtung, und zwar der einzigen Spezies, zu der
diese Betrachtung führt, dem Eudaimonismus, aus einander gesetzt,
lass wir uns damit noch etwas eingehender zu beschäftigen haben.
Will das empirische Verfahren ein Gesetz finden, nach dem
mr erfahrungsgemäss handeln, so muss es auf das Subjekt in
feiner Wechselbeziehung zu den Objekten, den Gegenständen der
Erfahrung, unter denen es selber ja auch ein Erfahrungsgegen-
itand ist, achten. Und es lässt sich in der That leicht ein solches
îesetz ausfindig machen. Denn es zeigt sich : „Der Bestimmungs-
rrund der Willkühr ist alsdann die Vorstellung eines Objekts,
vodurch das Begehrungsvermögen zur Wirklichmachung desselben
gestimmt wird. Ein solches Verhältnis aber zum Subjekt heisst
lie Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes."^ Diese „Lust
1) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten S. 273 (im IV. Band der
2. Hartensteinschen Ausgabe, nach der ich Kant immer zitieren werde).
2) a. a. O. S. 275.
^ Kritik der praktischen Vernunft S. 21 f. (IV. Bd. der 2. Harten-
steinschen Ausgabe.)
430 B. Baaeh,
ans der VorsteUung der Existenz einer Sache*", deren Begehnmg
mit dem ^Bewnsstsein eines Temünftigen Wesens Ton der An-
nehmlichkeit des LebeDs"" einerlei ist, ist die „Glückseligkeit'' und
das „Prinzip, diese sich zum höchsten Bestimmongsgronde zu
machen, das Prinzip der Selbstliebe''. ^
Die natürliche Motivierong, um deren Aufdeckung es sich
für die empirische Betrachtung handelt, wäre die in dem Streben
nach Glückseligkeit sich äussernde Selbstliebe. Mit dieser Auf-
deckung aber ist gar nichts erreicht. Denn da das Glückselig-
keitsstreben Naturgesetz ist, so wäre ein Gebot, nach Glückseligkeit
zu streben — alle Moral involviert ein Gebot, also auch die Moral,
die die Glückseligkeit zu ihrem Prinzip macht, — überflüssig und
darum thöricht, weil, wie gleich gesagt, nicht geboten zu werden
braucht, was sowieso geschieht. „Fin Gebot, dass jedermann sich
glücklich zu machen suchen sollte, wäre thöricht, denn man ge-
bietet niemals jemandem das, was er schon unausbleiblich von
selbst will," sagt Kaut.«)
Nun könnte ein Vertreter des Glückseligkeitsprinzips ein-
wenden : für so plump solle man diese Theorie nicht halten. Frei-
lich sei es thöricht, Jemandem das, was er schon unausbleibUch
von selbst will," zu gebieten, und ihm darum zu raten, er solle^-=-
„sich glücklich zu machen suchen". Nein, es komme der Theories^
nicht bloss darauf an, dass einer sich glücklich zu machen suche^
sondern zu finden, was den Menschen glücklich mache. Da^
muss sich allerdings von selbst verstehen, da es ja in der Moraft^
immer auf die Verwirklichung des Prinzips ankommt.
Mau sieht: die Theorie will und kann nicht rechnen mit der —
Glückseligkeit überhaupt, als der motivierenden Wechselwirkung^^
zwischen Subjekt und Objekt, sondern mit individuellen Modifika —
tionen jenes Prinzips, d. h. mit konkreten einzelnen Wirklich —
keiten. Dann aber rechnet sie mit — irrationalen Grössen. »Ess»
kann von keiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welch^^
sie auch sei, a priori erkannt werden, ob sie mit Lust oder Un^ —
lust verbunden, oder indifferent sein werde."*) Das gilt für Kan^Ä
\
1) Ebenda.
>) n. a. 0. S. 39. Eine ausführlichere Darlegung von Kants Strllnn ^^
r.um Kudttimonismus findet man in meiner Schrift: Gltlckaeligkeit ui^^
IVwOnlichkeit in der kritischen Ethik (Stuttgart 1902 bei FrommanEmj
v^l. boNonders § 8.
») II. a. (). S. 22.
Luther und Kant. 481
auf der einen Seite von der Vorstellung irgend eines Objekts, und
es gilt deswegen, weil er vom Subjekt weiss: „Worin nämlich
jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein
besonderes Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in einem
und denselben Subjekt auf die Verschiedenheit der Bedürfnis, nach
der Abhänderung dieses Gefühls." ^)
So liegt gerade in der Verschiedenheit der Individualitäten,
die uns die erfahrbare Wirklichkeit bietet, mit Notwendigkeit die
Verschiedenheit der Lustmotive begründet. Der eine sucht, was
der andere flieht. Der liebt den Gegenstand, den sein Nachbar
hasst. Was den einen freut, schmerzt den anderen. So verschie-
den die Menschen von einander sind, so verschieden ist notwendig
ihr Begehrungsverhältnis zu den Gegenständen.
Entweder also gebietet die Glückseligkeitstheorie dem
Menschen etwas, das sie ihm nicht zu gebieten braucht, weil, was
sie ihm gebietet, in seiner Natur liegt und er schon deshalb
danach trachtet; oder sie gebietet ihm etwas, was sie ihm nimmer-
mehr gebieten kann, sobald sie sich aus dem Vagen und Allge-
meinen herausbegiebt, und glaubt spezifizieren zu können, was
sich nie spezifizieren lässt Am Individuellen findet diese Kunst
ihr Ende. Alle Kraft der Analyse und Konstruktion versagt, so-
bald es nicht bloss auf das Streben nach Glückseligkeit ankommen
soll, sondern auch auf deren Verwirklichung. Die Allgemeinheit
des Prinzips müsste scheitern an der Besonderheit des Einzelnen.
Und selbst in keinem einzigen besonderen Falle auch nur könnte
der Einzelne der wirklichen Durchsetzung seiner Selbstliebe sicher
sein. Denn er müsste ja nicht nur für den einzelnen Fall volle
Glücksgewähr haben, sondern, wenn ihm an der Verwirklichung
seines Prinzips etwas gelegen ist, zugleich alle möglichen, aus
dem einen Falle fliessenden Folgen mit übersehen, damit diese
ihm nicht eine viel grössere Unlust durchs ganze Leben eintrügen,
als die Grösse jener momentanen Lust ausmachte. Diese
Schwierigkeit erweist sich sofort als absolute Unmöglichkeit, wenn
man bedenkt, dass das Absehen der Folgen eines einzigen Be-
gebrens ins Unendliche führen muss und eigentlich die Kenntnis
aller Naturzusaramenhänge in ihrem Verhältnis von Ursache und
Wirkung, also den allgemeinen Wechselzusammenhang zwischen
dem Subjekt, dem begehrten Objekt und allen übrigen Dingen er-
1) a. a. O. S. 26.
KftoUtodton IX. 28
432 B. Baach,
fordert. „Was wahren daaerhaften Vorteil bringe, *" sagt dämm
Kant, ,,ist allemal, wenn dieser anf das ganze Dasein erstreckt
werden soll, in undurchdringliches Dunkel gehüllt" . . . weil es
„auf die Kräfte und das phj'sische Vermögen, einen begehrten
Gegenstand wirklich zu machen,*" ankommt.^)
Wie also die empirische Bestimmnngsweise der Glückselig-
keitsethik sich auch immer stelle, sie ist und bleibt absurd. Sie
hat nicht einmal zwischen den beiden Absurditäten, die überhaupt
einem Gebote anhaften können, die Wahl : entweder etwas zo ge-
bieten, das soT^ieso geschieht, oder etwas, was niemals geschehen
kann. Vielmehr haften ihr, wenn sie sich nur selbst versteht,
beide Absurditäten an.
§ 15.
Die positive Bestimmung des Sittengesetzes.
Die Erfahrung und die ganze Welt der Dinge und Objekte
ist nicht fähig, dem Subjekte ein Gebot zu liefern, das ihm sagte:
— nicht was da sei, denn das wäre kein Gebot, sondern eine
Thatsächlichkeitsangabe, sondern — was sein solle, was allge-
meiugiltig sei. Ausser uns finden wir diese Norm nicht; und da
von vornherein nur die beiden Möglichkeiten bestehen, dass das
sittliche Prinzip aus der Materie des Begehrens, d. i. aus d^
Gegenständen der Erfahrung und unserem llotivationsyerhältnis
zu ihnen, also empirisch gewonnen werde, oder dass die Vernunft
a priori einen .zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in
sich enthalten könne'';-) und die erste begriffliche Möglichkeit
sich als reale Unmöglichkeit erweist, so bleibt nur die zweite
übrig. Zugleich ist damit klar: ,,Wenn ein Temünfüges Wesen
sich seine Maximen als praktische allgemeine Gesetze denken soll,
so kann es sich dieselben nur als solche Prinzipien denken, die
nicht der Materie, sondern bloss der Form nach, den Bestimmungs-
grund dos Willens enthalten**.') Das ist deswegen klar, weil wir
material, d. i. aus den Gegenständen der Erfahrung kein allge-
inoingiltigi^s IMnzip zu finden vermochten. ^Nun bleibt von emem
iiesot/o. wenn man alle Materie, d. i. Jeden Gegenstand des
W'illons i^als Hostimmuugsgrund des WUlens) davon absondert,
h a. rt, O. S, 8»,
*») Kritik dor praktischen Vernunft S. 19.
»^ a a. O. S. :îS,
Luther und Kant. 433
nichts übrig, als die blosse Form einer allgemeinen Gesetzgebung.
Also kann ein vernünftiges Wesen sich seine subjektiv-praktischen
Prinzipien, d. i. Maximen, entweder gar nicht zugleich als allge-
meine Gesetze denken, oder es muss annehmen, dass die blosse
Form derselben, nach der jene sich zur allgemeinen Gesetzgebung
schicken, sie für sich allein zum praktischen Gesetz mache."»)
Was das nun positiv und nicht bloss in der negativen Ab-
grenzung gegen die materiale Bestimmung des Willens bedeutet:
die „blosse Form einer allgemeinen Gesetzgebung" müsse für sich
zur Willensbestimmung hinreichend sein, versteht sich schon wieder
aus der anderen Formulierung, dass „reine Vernunft einen prak-
tisch, d. i. zur Willensbestimmung hinreichenden Grund in sich
enthalten" müsse, wenn eine praktische Gesetzgebung überhaupt
möglich sein soll. Die Vernunft müsste demnach unabhängig von
aller Bestimmung durch Gegenstände rein für sich das Prinzip des
sittlichen Handelns liefern können ; das und nichts anderes bedeutet
die rein formale praktische Gesetzgebung. Wenn keine materiale
EIrfahrung mit allen ihren Gegenständen uns eine Idee und Vor-
stellung des sittlichen Prinzips geben kann, so folgt, „dass alle
sittlichen Begriffe völlig a priori in der Vernunft ihren Sitz und
Ursprung haben, und dieses zwar in der gemeinsten Menschenver-
nonft ebensowohl, als der im höchsten Masse spekulativen."^)
Dabei ist aber eine Voraussetzung implizite gemacht, näm-
lich die, dass es überhaupt solche „sittlichen Begriffe" giebt.
Aber das ist nach Kant eine absolut notwendige Voraussetzung,
die ihr volles Recht hat. Denn die „sittlichen Begriffe" sind ein-
fach etwas nicht wegzuvemünftelndes, sind „unleugbar" ^) und
jeder Versuch, sie hinwegzuvemünfteln, würde sie schon wieder
voraussetzen.
Es kann sich also nur noch darum handeln, sie auf einen
einfachen Ausdruck zu bringen, also das Prinzip zu formulieren.
Dieses kann, seiner formalen Bestimmungsweise nach, nichts
anderes besagen, als dass jedes vernünftige Wesen sein Handeln,
der Allgemeinheit des Prinzips gemäss, so einrichte, dass es auch
verdiene, von allen als sittlich wertvoll anerkannt zu werden.
Dass jeder sollte ebenso handeln wollen, wie wir, davon
also müssen wir unerschütterlich überzeugt sein, um unserem
1) Ebenda.
^ Grundlegung zur Metaphysik der Sitten S. 259 f.
8) Kritik der praktischen Vernunft S. 3.3.
28*
434
B. Baiïch,
HandelD selbst sittlidieü Wert beimessen zu köeiien. Aus
Überzeugung alleiti haiuleln, heisst um des Sittengesetzes mWm
harnîeln. So hesagt tlenii dieses „Grundgesetz der reinen i>rak-j
tischeo Vt^niunft^* nichts Anderes^ als: „Handle so, dass dlÄ
Maxime deines Willens [ederzeit zugleich als Prinzip einer hl\gd>
meinen Gesetzgebung gelten könne.** *) Dieser „kategorische Ini-
pei-ativ** — „kategurisrb" im Gegensatz zn der muralisch-iuixu--
reicbenden, nur bypüthetiselien Anrätigmachung des Glückselig"-
keitsstre!>eus und der Selbstliebe — bedeutest also, dass wir uw
um seiner sittlichen Bestimnnuig willen, deren wir inne wenieii,
und aus keinem anderen Grunde handeln sollen und haiièhi
dürfen, sofern wir für unser Thun und Lassen den Ansprach aui ,
Sittlichkeit erheben. H
Damit ist das Prinzip und das Gesetz gefunden, das übtr
allen unseren einzelnen Handlungen steht und ihnen üu-en Weit^
bestimmt, als „eine Regel, die diu*ch ein Sollen, welche die objel^J
rill '
len 1
dififl
r '
"' 1
Darin
tive Nötigung des Handelns ausdrückt, bezeiclmet wirtl*'-^)
liegt das „Kategorische**.
Aber wii' dürfeu damit nicht etwa das Moralgesetz selbst
deduziert und begründet zu haben meinen. Es ist selbst allfll
Gi'ünde Grund, und darum nicht auf Gründe ausser ihm zurwckz«-'
fuhren und aus ihnen zu deduzieren Wir haben es nur auf einea j
deutlichen Ausdruck zu bringen versucht, indem wir die in dfl^f
Vernunft ihren Sitz und Ursprung habenden Begriffe, die nacli"
Kant eben etwas schlechthin Unleugbares sind, in Einheit zu diesem
tresetze brachten. Dieses ist also nichts Anderes, wie die ^silt-
liclien Begriffe^ überhaupt, es ist nur ihr klarer, bestimmter Aîis-
<lruck, und darum, wie sie selbst, etwas Unleugbares. Es ist alsfl
„citj Faktum der reinen Vernunft", ») das schlechtweg „unleugbar',
nicht beweisbar, sondern hüchstens aufweisbar ist.^) Um akr
aHen Wissverständnissen vorzubeugen, muss man jedoch „wohl h^
iii4?rki?n: dass es kein empirisches, sondern das einzige FaktiiiBj
di^r reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursiuiinglich gest^tSB^
gelKMid (sie volo» sie jubeo) ankündigt."-*) Schon diese eine F«r-
I) tL n. O. S. 32.
«) II. tk, (). S. 20.
•> rt. It, c>, s. a^.
*l Um und die Unleiigbarkeit des SoJleiiB habe icji selbst in meiner
§*fWlïUulvu Hvhnît «tifgé wiesen, V|^L § 2.
"; krilik der pruktischen Vt^ruunft S. 33.
À
Luther und Kant. 435
malierung hätte Schopenhauer vor seinem recht groben Missver-
ständnis bewahren müssen, das wir an einem anderen Orte bereits
früher gerügt haben. ^) Hier zeigt sich deutlich, wie scharf Kant
das „Faktum der reinen Vernunft" vom „Faktischen" im Sinne
des „empirisch-Realen", womit Schopenhauer es verwechselt, unter-
schieden wissen will; dass es dem „Faktum der reinen Vernunft"
gar nicht beifällt, „substanzieller werden zu wollen", wie Schopen-
hauer sagt. Seine Faktizität besteht eben in seinem Gelten. Die
Âllgemeingiltigkeit des Moralgesetzes, und nur sie allein, ist nach
Kant das „unleugbare" und „unabweislich" sichere „Faktum der
reinen Vernunft".
Es ist „das moralische Gesetz gleichsam als ein Faktum der
reinen Vernunft, dessen Avir uns a priori bcwusst sind, und welches
apodiktisch gewiss ist, gegeben, gesetzt, dass man auch in der
Erfahrung kein Beispiel, da es genau befolgt wäre, auftreiben
könnte. Also kann die objektive Realität des moralischen Gesetzes
durch keine Deduktion, durch alle Anstrengung der theoretischen,
spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft bewiesen und
also, wenn man auch auf die apodiktische Gewissheit Verzicht
thuu wollte, durch Erfahrung bestätigt und so a posteriori be-
wiesen werden, und steht dennoch für sich selbst fest.**«)
Wenn wir uns nun weiter die Beziehungen des Einzelnen
zum allgemeinen Gesetz, der wirklichen Persönlichkeit zu ihrer
idealen sittlichen Aufgabe ansehen und fragen: was wird dem
Menschen durch seine moralische Bestimmung nun eigentlich zu
thuu auferlegt, so finden wir, dass wir darauf keine andere Ant-
wort mehr zu geben haben, als wir sie schon in den vorhergehen-
den Bemerkungen besitzen.
Denn einen Inhalt im gewöhnlichen Sinne des Wortes hat
das Moralgesetz nicht. Es sagt keinem: thue dies und lasse
jenes, wie das Staatsgesetz den Staatsbürgern, oder wie der
Lehrer seineu Schülern Gebote und Verbote giebt. Alles, was es
vom Einzelnen verlangt, ist: seine Maxime dem sittlichen Gebote
unterzuordnen. Was sittliches Gebot darum im einzelnen Falle
sei, das ist so verschieden, wie eben alle einzelnen Fälle der
Wirklichkeit selbst, und kann nur bestimmt werden durch den
1) Schopenhauer, Die Grundlage der Moral S. 144. (III. Bd. der
Grisebachschen Ausgabe); auch dazu vergleiche ^Glückseligkeit und Per-
sönüchkeit in der kritischen Ethik* S. 27 f.
^ Kritik der praktischen Vernunft S. 50.
4;{f) B. Baoch,
AnHHproch des Gewissens jedes einzelnen Vennurftwesens. Diese
ßestimmnng geht lediglich dahin, das Gute zu wollen, eben weil
m gut ist, und weil die Vernunft es ffir gut erkennt. Das Gute
jirt also der ^alleinige Gegenstand der reinen praktischen Vernunft,**)
der einzige, aber selbst nicht inhaltlich bestimmbare lohalt
den Sitten gesetzes, der Ausdruck dafür, dass das Vemunft-
Wf^m .aus Pflichf"') und aus keinem anderen Grande, als um
der I'flicht willen, lediglich um des Gesetzes willen, «ans Achtung
für« Gesetz*"^) handeln solle; eben jenes ungeschriebenen Gesetzes
willen, das da sagt: «ich soll niemals anders yerfahren, als so,
Aahh ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines
Gfîsetz werden."*) Die Maxime aber soll sein: zu handeln, wie
die Pflicht es gebeut. ,.Es kann daher nichts Anderes, als die
Vorstellung des Gesetzes an sich selbst, die freilich nur in ver-
nünftigen Wesen stattfindet, sofern sie, aber nicht die yerhoffte
Wirkung, der Bestimroungsgrund des Willens ist, das so vorzüg-
liche Gute, welches wir sittlich nennen, ausmachen, welches in dei*
Person selbst schon gegenwärtig ist, die darnach handelt, nichtL
aber allererst aus der Wirkung erwartet werden darf."*)
Und eben deshalb kommt es nicht an „auf die Handlungen ^^
die man sieht, sondern auf jene inneren Prinzipien derselben, di^^
man nicht sieht. ''^) Das heisst: Das vorzügliche Gute in de^c:
Person ist der Wille. „Der gute Wille ist nicht durch das, wa^s
er bewirkt und ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Ei
reichung irgend eines vorgesetzten Zwecks, sondern allein durcKn
das Wollen, d. i. an sich gut."^) Nicht der Erfolg, sondern allei»J
die Gesinnung entscheidet über den moralischen Wert; und dies^:x*
kommt allein dem guten Willen der Persönlichkeit zu. Er i^1
überhaupt das Einzige, das gut genannt zu werden verdient. „E^s
ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch ausser derselbe«^ 11
zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte ge-
halten werden, als allein ein guter Wille."»)
1) a. a. O. S. 61 f.
^ Grundlegung zur Metaphysik der Sitten S. 246.
3) a. a. O. S. 249.
4) a. a. O. S. 250.
») Ebenda.
^ a. a. O. S. 255.
7) a. a. O. S. 242.
») a. a. O. S. 241.
Lather und Kant. 437
Somit wird „der Wille als ein Vermögen gedacht, der Vor-
stellung gewisser Gesetze gemäss sich selbst zum Handeln zu be-
stimmen". *) Ein solcher Wille, der unabhängig von allen die
Selbstsucht und die Eigenliebe bestimmenden Objekten ist und
sich lediglich selbst bestimmt, um des Sittengesetzes willen, der
also, indem er Wollen und Sollen in Übereinstimmung bringt, und
zwar nicht zufällig, sondern mit Absicht und Bewusstsein in
Übereinstimmung bringt, also sich selbst das Gesetz giebt, heisst
ein autonomer Wille. Denn „Autonomie des Willens ist die Be-
schaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig
von aller Beschaffenheit der Gegenstände des WoUens) ein Gesetz
ist".*) Und sie ist darum „oberstes Prinzip der Sittlich-
keit".^ Zu ihr gehört selbständige bewusste Absicht, das Sollen
zu realisieren, damit die Handlung moralisch sei. Sonst ist die
Übereinstimmung der Handlung mit dem Sittengesetz — wenn sie
stattfindet — eine zufällige, in dem äusseren Effekt, auf den es
gar nicht ankommt, und nicht in der Maxime, auf die alles an-
kömmt, liegende. Die Handlung selbst wäre nicht moralisch, son-
dern „legal".*) Sie wäre ebensowenig moralisch, wie diejenige,
die das handelnde Subjekt in seiner Abhängigkeit von den Ob-
jekten durch Neigung und Willkühr vollbracht hätte. Denn nicht
„Autonomie", sondern „Heteronomie" käme darin eben wegen der
Abhängigkeit von Gegenständen zum Ausdruck.*) „Wenn der
Wille irgendwo anders als in der Tauglichkeit seiner Maximen zu
seiner eigenen allgemeinen Gesetzgebung, mithin wenn er, indem
er über sich selbst hinausgeht, in der Beschaffenheit irgend eines
seiner Objekte das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll, so
kommt jederzeit Heteronomie heraus. Der Wille giebt alsdann
nicht sich selbst, sondern das Objekt durch sein Verhältnis zum
Willen giebt diesem das Gesetz."«) Dagegen ist die autonome
Handlung über alle Bestimmung durch Objekte und damit über
alle Willkühr erhaben, sie ist entsprungen aus einem sich selbst
das Gesetz gebenden und sich diesem Gesetze unterordnenden
Willen, einem Willen also, der sich selbst zur Gesetzmässigkeit
1) a. a. O. S. 276.
«) a. a. O. S. 278.
3) a. a. O. S. 288.
*) a. a. O. S. 246 und Kritik der praktischen Vernunft S. 76 ff.
^) Kritik der praktischen Vernunft S. 36.
*) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten S. 288.
m
B, Ba
bostiinmt, Seine Handlung ist nicht Willkiihr, weil sie unter der
Vorstellung des Sittengesetzes erfolgt, und sie ist nicht sklavisch
nnd knechtisch, weil der verniniftip^e Will** sich selbst diis Gesetz
£Ciebt, weil der Wille sein eigener Gesetzgeber ist, frei von allem
Zwang der Objekte, „Freiheit und »*igene tresetzgebung des
Willens sind beides Aiiteuomie, mithin Wechselbegriffe/*) Dazu
werden wii- geführt, sobald wir nach einem wahrhaft zulangenden
Prinzip der Sittlichkeit fragen. So finden wir: „Die Autonomie
des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze
und der ihnen gemiissen Pflichten."*)
Da dieses Prinzip das einzig moralische ist, folgt, tlaiis es
zugleich auch das Höchste ist: So wenig wir also weniger thuu
dürfen, als ilieseni Prinzip gemäss, d. h. „aus Pflicht" und ,,ans
Achtung fürs (besetz'' zn handeln, um Anspruch auf Mnralität zu
haben, ebenso wenig können wir niehr tbuu, „weil das alles
lauter Gleissnorei ohne Bestand bewirken würde** ^) und es wäre
„stolze Einbildung, ül>er ihm Gedanken von Pflicht uns hinweg-
zusetzen, und, als vom Gebote unabhängig, bloss aus eigener Lust
das thun zu wollen, wozu für uns kein Gebot nötig wäre",*)
Da es unsere höchste Bestiminung ist, unsere Pflicht und Schuldig- —
keit zu thun, so wäre der „Wahn'*, dass wir, über die Pflicht — :
hinaus, mehr als unsere Schuldigkeit thun und „Verdienste" er
ringen könnten, „lauter moralische Schwärmerei und Steigernuj
des Eigeiulünkels",^) „Pflicht und Schuldigkeit sind die Beueu
nungeu, die wir allein unserem Verhältnisse zum moraüschen Ge-
setze geben müssen."*«)
§ lö.
Die Postulate der reinen praktischen Vernunft und die
Idee des höchsten Gutes.
Kant hat, wie wir sahen, den Wert alles Handelns nicht
die äusseren Thaten, „die man siehP*, nicht iu die Erfolge im^ A
die Erreichung etwelcher äusserer Zwecke, nicht in die eudaima^y^^
nistische Bestimmung der Selbstliebe und eigenen Glückseligke^^^^
») a, a. 0. S, 298.
^ Kritik der praktischen Vernunft S, 35.
3) a. a. O. S, 7tî t
*) a, a. O, S. 76 t
Û) a. a. O. S, 8D f.
«) a. a. 0, S. 86.
Luther und Kant. 439
yerlegt, sondern allein in Jene inneren Prinzipien, die man nicht
sieht", d. h. in jene tiefinnerste Gesinnung, die handelt in der
unerschütterlichen Übei-zeugung, dass sie ihre Pflicht thue und
nur handelt, um ihre Pflicht zu thun, ohne den „Wahn", über
diese hinaus sich noch besondere Verdienste erwerben zu können.
Er hat damit — und er giebt es nicht etwa ungern, sondern mit
einem gewissen Stolz zu^) — nur das gemeine und richtige Be-
wusstsein zur unumstösslicheu Gewissheit seiner Richtigkeit er-
hoben, dass eben gut und moralisch wertvoll nur die Handlung
sei, die das handelnde Subjekt in dem Glauben, dass sie das sei,
vollbringt; das Bewusstsein, dem in seiner durch keine falsche
Theorie verderbten Natürlichkeit, als die einzige Richtschnur der
Bewertung die Gesinnung gilt. Der Wille allein wird für sein
Handeln verantwortlich gemacht, seine Maxime, nicht der daraus
folgenäe Pîffekt, der kritischen Beurteilung unterzogen.
Nun aber fragt es sich: wie ein solcher selbstverantwortlicher,
autonomer Wille möglich sei. Und darauf giebt Kant die Ant-
wort, er sei nur möglich, wenn er auch frei sei. „Da die blosse
Form des Gesetzes lediglich von der Vernunft vorgestellt werden
kann, und mithin kein Gegenstand der Sinne ist, folglich auch
nicht unter die. Erscheinungen gehört; so ist die Vorstellung der-
selben als Bestimmungsgrund des Willens von allen Bestimmungs-
gründen der Begebenheiten in der Natur nach dem Gesetze der
Kausalität unterschieden, weil bei diesen die bestimmenden Gründe
selbst Erscheinungen sein müssen. Wenn aber auch kein anderer
Bestimmungsgrund des Willens für diesen zum Gesetze dienen
kann, als bloss jene allgemeine gesetzgebende Form; so muss ein
solcher Wille als gänzlich unabhängig von dem Naturgesetze der
Erscheinungen, nämlich dem Gesetze der Kausalität, beziehungs-
weise auf einander, gedacht werden. Eine solche Unabhängigkeit
aber heisst Freiheit im strengsten, d. i. transscendentalen Ver-
stände. Also ist ein Wille, dem die blosse, gesetzgebende Form
1) Mir scheinen darum die Versuche, Kants Ethik als „Moral der
kleinen Leute" lächerlich zu machen, nur das Gegenteü von ihrer Absicht
zu erreichen. Schon Schiller rühmt: „Dem Verfasser der Kritik gebührt
das Verdienst, die gemeine Vernunft aus der spekulativen wiederhergestellt
zu haben.*^ Die aUgemeine Anwendbarkeit der Kantischen Ethik ist ja
gerade das Grosse an ihr. Über politische und Salon-Fragen u. dgl. wollte
er in der Ethik keinen Aufschluss geben; er woUte herausstellen, was all-
gemeingiltig ist, und das muss auch für die .kleinen Leute' gelten.
440 B. Banch,
der Maxime allein znm Gesetze dienen kann, ein freier Wüle* . . .
^Freiheit und unbedingtes praktisches Qesetz weisen also wechsel-
weise auf einander hin.^'^) In dieser Idee der Freiheit liegra nun
zwei Momente, ein negatives: die Unabhängigkeit von dem NatQ^
gesetze, und ein positives: die eigene Gesetzgebung: „Jene Un-
abhängigkeit aber," sagt Kant, „ist Freiheit im negativen, diese
eigene Gesetzgebung aber der reinen und als solche praktisch»
Vernunft ist Freiheit im positiven Verstände.***)
So gelangt Kant zur Idee der Freiheit als dem ersten Postn-
late der reinen praktischen Vernunft. »Diese Postulate sind nicht
theoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen in notwendiger
praktischer Rücksicht, erweitem also zwar die spekulative Erkennt-
nis nicht, geben aber den Ideen der spekulativen Vernunft m
Allgemeinen 8) (vermittels ihrer Beziehung au& Praktische) objek-
tive Realität, und berechtigen sie zu Begriffen, deren MögBchkeit
auch nur zu behaupten sie sich sonst nicht anmassen könnte.'
Es ist für sie charakteristisch und von eminenter Bedeutsamkeit:
,Sie gehen alle vom Grundsatze der Moralität aus, der
kein Postulat, sondern ein Gesetz ist,^) durch welches
Vernunft unmittelbar den Willen bestimmt, welcher
Wille eben dadurch, dass er so bestimmt ist, als reiner
Wille, diese notwendigen Bedingungen der Befolgung
seiner Vorschrift fordert."*)
„Diese Postulate sind" — ausser dem eben besprochenen
der Freiheit — „die der Unsterblichkeit . . . und des Daseins
Gottes."«)
Zu dem zweiten Postulate gelangt Kant auf verhältnismässig
einfachem Wege: „Der Grundsatz der Moralität" verlangt die
„völlige Angemessenheit der Gesinnung zum moralischen
Gesetze". Diese Angemessenheit muss also möglich sein, da sie
notwendig ist. Nun ist ihrer aber „kein vernünftiges Wesen in
(1er Sinnenwelt" fähig. Folglich kann sie nur, da sie praktisch
gefordert wird, in einem über der Siunenwelt hinausliegenden
1) Kritik der praktischen Vernunft S. 30 f.
2) a. a. O. S. 36.
^) Vgl. besonders : Kritik der reinen Vernunft S. 248 ff., 267 ff-,
261 ff. u. a. m.
*) Das ist eben das „Faktum der reinen Vernunft".
^) Kritik der praktischen Vernunft S. 135.
^ Ebenda.
Luther und Kant. 441
Zustande verwirklicht werden. „Die völlige Angemessenheit des
Willens aber zum moralischen Gesetze," sagt Kant, „ist Heiligkeit,
eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen in der Sinnen-
weit, in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist. Da sie in-
dessen gleichwohl als praktisch notwendig gefordert wird, so kann
sie nur in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener
völligen Angemessenheit angetroffen werden, und es ist nach
Prinzipien der reinen praktischen Vernunft notwendig, eine solche
praktische Fortschreitung als das reale Objekt unseres Willens
anzunehmen. Dieser unendliche Progressus ist aber nur unter
Voraussetzung emer ins Unendliche fortdauernden Existenz und
Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welche man die
Unsterblichkeit der Seele nennt) möglich." . . . Also ist die Un-
sterblichkeit der Seele „als unzertrennlich mit dem moralischen
Gesetze verbunden, ein Postulat der reinen praktischen Ver-
nunft."»)
Auf diese Weise kann Kant das Postulat der Unsterblichkeit
sogar ohne die Heranziehung der Glückseligkeit aufstellen, obwohl
er eigentlich ,.die völlige Angemessenheit des Willens zum mora-
lischen Gesetze" nur als einen der beiden Faktoren betrachtet,
die in der Idee des höchsten Gutes vereinigt sein sollen, eine
Idee, die ihrerseits die Voraussetzung für das dritte Postulat,
nämlich das Postulat des Daseins Gottes bildet. Der andere Fak-
tor in dieser Idee ist nämlich die Glückseligkeit. Um das dritte
Postulat zu verstehen, müssen wir uns also zunächst über die
Idee des höchsten Gutes verständigen. Zu ihr gelangt die Ver-
nunft, sagt Kant, indem sie (was sie im Spekulativen vergeblich
gethan) vom Bedingten zum Unbedingten hinstrebt.^) Auf diesem
Wege wird sie zur Idee des höchsten Gutes geführt. Denn
Tugend ist zwar das „oberste Gut", aber sie ist noch nicht das
vollendete Gut. „Denn um das zu sein, wird auch Glückseligkeit
erfordert, und zwar nicht bloss in den parteiischen Augen der
Person, sondern selbst im Urteile einer unparteiischen Vernunft.
. . . Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, den-
noch derselben nicht teilhaftig sein, kann mit dem vollkommenen
Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich auch alle
Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuch
1) a. a. O. S. 128 f.
«) a. a. O. S. 112 f.
442
B, Bjiiîch,
doiikeu, frar nicht ziisammen bestehen/* 0 Wird also die Tugend
„als i\k Würdigkeit gliicklieh zu sein*" gedacht, und Kant sagt^fl
sie miisîie als das mit Vernunftnntweiidigkeît gedacht werden, so
nmss auch mit Veniuoftiiotweiidigkeit die Krfitllung gedacht
werden, sobald weiterliin die Tugeiul, d. h. die ^Angemessenheit
des Willens 5îum moralischeu Gesetze'' als erfüllt gesetzt wii'iJ
Dieses aber geschieht durch das Postulat der I^usterblichkeit,|
Jlitliiü wird daïiiit implizite Glückseligkeit postuiiert. 2)
1) a, a. O. 8. 115 f.
^) Auf die Schwäclien die,ser Argiiinentation ist schon so oft und
mit so scharfer und treffender Kritik, namentlich von Schopenhauer un<
Kuno Fischer aufmerksam gemacht worden, dass kaum noch eine ne
Kritik am Platte erscheint. Kant« Argumentation hat im Wesentlichen^
drei Fehler, Erstens: Der Progressns ins Unendliche ist ein Widei-^spmc:
Zweitens entbehrt die Behauptung, dass die GUkkseligkeit im höchste:
Gute vermin ftnot wendig mit der 'J*ugeiid vereint gedacht werden mtiss
selbst jedes Venmnftgrundes ; und drittens steht sie zur Kantischen Lehre
sonst im Widerspruch und ist aucli in sieli selbst widersprechend^ da das
Glückseligkeitsstreben eben nur in der Natur sinnlicher Wesen wurzeltj
und es nicht aiisdenkbar ist, wie es reinen Venamftwesen in einem
über der Sinnlichkeit und Sinnenwelt hinausliegenden Znstande ai
haften soll.
Die Weiterbildung der Kantischeu Lehre wird die lediglich regida-
tive Natur dieser Idee noch mehr hervorkehren und sie als eine rein-
raenschliebe, aber nicht für das Vernunft wesen überhaupt
notwendig stattfindende Vorstelluugswe ise ansehen müssen.
Kant hat ja dazu selbst sowold in der Kritik der praktischen Vernunft,
als auch namentlich in der Kritik der Urteilskraft mit seiner berühmten
Wendung de« „als ob" schon den Gnind gelegt. Und was er einmal in
der Religion innerhalb der Grenzen der bbjssen Venirinft sagt, das ist be-
sonders für die Idee des liöchsten Gutes von Bedeutung, Es kann vor
mannigfachem Miss brauch, der mit dieser Idee schon getrieben w^orden isi
bewahren. Hier heisst es S, 166: „Überhaupt, wenn wir statt der konsti
tutiven F^rinzipien der Erkenntnis übersinnlicher Objekte, deren Einsich
uns doch unmi>glich ist. unser Urteil auf die regidativen, sich an dem
möglichen praktischen Gebrauch derselben begnügenden Prinzipien ein-
schränkteni so würde es in manchen Stucken mit der menschlichen Weis-
heit besser stehen, und nicht vermeintliches Wissen de^ssen» wovon man
im Grunde nichts weiss, gnmdlose, ob zwar eine Zeit lang schimmenide
Vernünftelei zum endlich sich doch einmal daraus bervürbebenden Nachteil
der MfU'alität ausbrüten." Es ist uiclit genug, auf diese Regiilativitât
auch bei der Idee des liöcbsten Gutes hinzuweiseïi, man mnss vielmehr
noch ganz ausdrücklich ihre lediglich menschlich-psychologische Bedeutung
betonen, um ihr nicht, was Kants eigener Fehler war, einen objektiven
Wert beizumessen.
it
1
HS
iti^H
:ht-^
Luther und Kant. 443
Nun wissen wir aber längst,^) dass nie „die Begierde nach
Glückseligkeit die Bewegursache zui* Tugend" sein kann, weil die
„Maximen, die den Bestimmungsgrund des Willens in dem Ver-
langen nach seiner Glückseligkeit setzen, gar nicht moralisch sind
und keine Tugend gründen können.** Es kann aber auch nicht
„die Maxime der Tugend die wirkende Ursache der Glückseligkeit
sein" . . . weil der „Erfolg der Willensbestimmung sich nicht
nach moralischen Gesinnungen des Willens richtet."«) Noch viel
weniger sind Tugend und Glückseligkeit analytisch verbunden, so-
dass etwa nach der Meinung der Epikuräer „sich seiner auf
Glückseligkeit führenden Maxime bewusst sein, Tugend," oder
nach Ansicht der Stoiker, „sich seiner Tugend bewusst sein, Glück-
seligkeit" wäre.^ Ihre Verbindung kann also nur synthetisch
sein. Aber sie muss auch noch auf andere Weise synthetisch
sein, als wir es zuerst in Analogie zu der uns gegebenen sinnlichen
Wirklichkeit und ihres Kausalverhältnisses in Rechnung zogen.
Und das ist nur möglich, indem eine uns nicht sinnfällig erkenn-
bare Kausalbeziehung zwischen ihnen stattfindet; also nur da-
durch, „dass die Sittlichkeit der Gesinnung einen, wo nicht un-
mittelbaren, doch mittelbaren (vermittels eines intelligiblen
Urhebers der Natur) und zwar notwendigen Zusammenhang
. . . mit der Glückseligkeit" habe.*) „Also wird auch das Dasein
einer von der Natur unterschiedenen Ursache von der ge-
samten Natur, ^) welche den Grund dieses Zusammenhanges,
nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der
Sittlichkeit, enthalte, postuliert," . . . „d. i. Gott**.^
An dieser Lehre von den Postulaten der reinen praktischen
Vernunft mag von allgemeinerer Bedeutung besonders das erste
Postulat sein. Für unseren besonderen Problemzusammenhang ist
jedoch — von dem kritischen Gesichtspunkte ihres Wertes oder
Unweiles einmal ganz abgesehen — auch die Idee des höchsten
Gutes wichtig. Und vor allem bemerkenswert daran ist, dass die
Tugend eben um ihrerselbstwillen, nicht um der Glückseligkeit
willen erstrebt werden solle, und dass diese auch in postulativ-
*) Vgl. die beiden vorhergehenden Paragraphen.
^ Kritik der praktischen Vernunft S. 119.
») a. a. O. S. 117.
*) a. a. O. S. 121.
^) d. h. der sinnlichen und der sittlichen.
«) a. a. 0. S. 130 f.
444
B, Baiîch,
meUi^hysischer Hinsicht, g:anz în ÜbereinstimniiiDg mit der christ-
liehen Lehre, woraof Kant ja hinweist, nur eine synthetische!
Beiijabe vtm Seiten der Gottheit ist ; düss, wenü wir ivur unsere |
Pflicht und Schuldigkei» thiui, ons schon „das Übrige zugegeben*'
werden wird.
§ 17.
Die Intelligibilität der PeraUilichkeit,
Das Moralgesetz ist ein „Faktum der reiuen Vernunft** und]
„unleugbar". Danach niuss „die blosse gesetzgehende Form der
Maxime allein der zureichende Bestimniungsgrund eines Willens*'
sein könnend) Dieses ist aber nui* möglich, wenti der Wille ein
freier Wille ist So gelangte Kant zum eisten Postulat, und
eigentlich von diesem erst zu den übrigen. Nun bleibt für ihn
noch die schwierigste Frage zu lösen: wie ist aber selbst ein
fi-eier Wille möglich? |
Wir sehen, wie der Mensch hineingerissen wird in den vom
allgemeinen Kausalitätsgesetze beherrschten Strom des Geschehens
und dass seine Handlung, wie Kant sagt, mit absoluter „Ge-J
wissheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis" erfolge.") I
Wie dürfen wir da von Freiheit sprechen'^ Wie dürfen wir hoffen,
zur Freiheit zu gelangen und ihrer Idee Giltigkeit beizumessen;
wie kann jenes „unleugbare Faktum der reinen Vernunft'*, die
Geltung des Sittengeset^es bestehen, und wie kann F'flicht und
Sollen für uiiü stattfinden, da sie selbst eben nur durch Freiheit
möglich sind?
„Eine Auskunft bleibt uns noch übrig, nämlich zu suchen,
ob wir, wenn wir uns durch Freiheit als a priori wirkende Ur-
sachen denken, nicht einen anderen Standpunkt einnehmen, als
wenn wir uns selbst nach unseren H aiul hingen als Wirkungeü, die
wir vor unseren Augen sehen, vorstellen/'^)
In der That erhebt uns die Idee der Freiheit und Pfliclit
auf einen ganz anderen Standpunkt, „Pflicht! du erhabener]
^) a. a. 0. S. 103.
^} Kant sagt noch recht rationalistisch : ,jSich berechnen liesse**. Das i
Veratill» du Î s für das Irrationale des Historischen angfebahnt zu haben, ist
Mehtes Verdienst (vgl. Lask, .Fichtes Idealismns und die Geschichte*).
Zu einer vollkom m eueren Klttning ist es allerdings erst in unserer Zeit
durch Windelband und namentlich durch Rickerfc gekointnen,
^} Gnmdieguug zur Metaphysik der Sitten, S. 290.
Luther und Kant. 445
grosser Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei
sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch
auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte eiTegte
und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloss ein Ge-
setz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet, und
doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenngleich nicht immer
Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen, wenn
sie gleich insgeheim ihm entgegen wirken, welches ist der deiner
würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen
Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt,
und von welcher Wurzel abzustammen die unnachlassliche Bedingung
desjenigen Wertes ist, den sich Menschen allein selbst geben können?
Es kann nichts Minderes sein, als was den Menschen über
sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an
eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken
kann, die zugleich die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch-
bestimmte Dasein des Menschen in der Zeit und das Ganze aller
Zwecke (welches allein solchen unbedingten praktischen Gesetzen,
als das moralische, angemessen ist) unter sich hat. Es ist nichts
anderes als die Persönlichkeit, d. i. Freiheit und Unabhängigkeit
von dem Mechanismus der ganzen Natur, doch zugleich als ein
Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigentümlichen, näm-
lich von seiner eigenen Vernunft gegebenen reinen praktischen
Gesetzen die Person also, als zur Sinnen weit gehörig, ihrer
eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, sofern sie zugleich zur
intelligiblen Welt gehört." J)
Schopenhauer bewundert unter den unsterblichen Verdiensten
Kants die Lehre vom intelligiblen Charakter fast am meisten. Sie ist
es, die „sein unsterbliches Verdienst besonders herrlich zeigt". 2)
^) Kritik der praktischen Vernunft S. 90 f.
2) Schopenhauer, Welt als WiUe und VorsteUung (Grisebachschft
Ausgabe) Bd. I. S. 218. Die Art und Weise, wie Schopenhauer aUerdings
Kants Lehre vom intelligiblen Charakter auffasst, ist durchaus mystisch
und vom dogmatisch-realistischen Geiste der alten Metaphysik des Über-
sinnlichen getragen. Kant ist nicht ganz unschuldig an solchem Missver-
ständnis. Er selbst hat den noumenalen Charakter noch nicht mit der
Schärfe und Klarheit auf die transscendentale Basis erhoben, um seinen
Wert voll und ganz erkennen zu lassen. Indes eine Gleichsetzung des
Übersinnlichen mit dem Aussersinnlichen lässt schon Kants Kritizismus als
solcher nicht zu; die ist in der That nur für Schopenhauers psycholo-
gistische Willensmetaphysik mit ihrer poetischen Mystik möglich.
Aaf diese Lehre sind wir min grefiihrt. Durch sie verstehen wir,
wie trotz des strengen Mechanismns der Natnr die Freiheil der
rersüiiliebkeit bestehen kaiin, wie beide sieh mit einander ver-
eitiigeu lassen.
Wir bleiben tit eh en zunächst bei dem Naturmecbanismas, der
nnst»re l'ei-son in seine Zusammenhänge mit unabänderlicher Not-
wendigkeit veiilicht, sie fortreisst in seinem Getriebe mit zwin-
gt»nd<'r Gewalt und unsere Freiheit zu vernichten scheint. Ein
Dbjekl unter Objekten, über denen allen der Mechanismus der
Natur nach cberuen, ewigen Gesetzen herrscht, ist hier die Person ;
eine, wie die andere, dem gleichen Zwang unterw^orfen, gleicher
(iewalt anheimgegeben.
Was aber bedeutf4 dieser Zwang, die Gewalt, der ganze
Merbanismus der Natur und ihre Gesetze, denen die Person mit
luiterwoi-feu ist? Die Antwort auf diese Frage hat bereits die
transscendentale Analytik der Kritik der reinen Vernunft gegeben,
und mit ihr ist die Freiheit gerettet.
Wir sind es selbst, das hatte hier die Kritik der reinen
\'ernunft gezeigt, die wir der Natur ihre Gesetze vorschreiben.
Die selbstschöpferische Kraft des Subjekts, seine Spontaneität,
war die Grundlage nicht zwar für die ganze Welt der Ubjekte
als solche, wohl aber für deren Gegebenheit, Wir — natürlich
nicht selbst wieder als ein Objekt unter diesen Objekten,
die wir vor unseren Augen sehen, sondern wir als Subjekt,
sofern wir niemals Objekt sind: die Persönlichkeit, nicht dit>
Person, Eine Unterscheidung, die also sogar schon spekulativ
basiert ist. Mag unter der empirischen Ansicht die Person sicli
leidend und unfrei verhalten, bestimmt und beherrscht von der
Notwendigkeit und Gesetzmässigkeit der Natur und von den
Piinflüssen ihrer Gegenstände, so verhält sich, transscendental
betrachtet, die Persönlichkeit frei und thätig, selbst bestimmend
und beherrschend die Notwendigkeit, regelnd die W^echsel-
Iteziehungeii und -einflüsse der Dinge auf einander, denen sie
die Gesetze giebU Also auch hier weist die Persönlichkeit als
Subjekt schon vor oder über die Wirklichkeit — unsere Sprache ist
schwer fähig, das zu bezeichnen — ; die Kausalität, die die
Wirklichkeit beherrscht, ist selbst nui* Funktion der selbstschöpfe-
rischen Kraft des Bewusst^ieins, und ein Blick in eine ganz an-i
dere Wirklichkeit, oder besser: Wirksamkeit, in eine andere Kau-J
salität, thut sich da attf durch die Spontaneität des Verstandes J
Luther und Kaut,
447
In ihr begegnen wir zuerst dem, „was den Menschen über sich
selbst (als einen Teil der Sinnen weit) erhebt, was ihn an eine
Ordnung der Dinge knüpft, die our der Vei-stand denken kann,
die zugleich die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch-bestinimte
Dasein des Menschen in der Zeit . . . unter sich hat*".
Die spekulative Vernunft bleibt aber hier stehen, weil hier
dem Denken des Verstandes keine Anschauungen mehr entsprechen,
deren wir als erkennendes, reflexiv denkendes, nicht spontan schaf-
fendes Wesen» wie wir uns selbst gegeben sind, bedürfen, um
unser „Erkennen" auf das spontan Geschaffene zu beziehen. In
die Spontaneität selbst di^ingt das Erkennen nicht tiefer ein, nur
ihre Schöpfungen, nicht aber sie selbst als schaffende Kraft —
wenn man nur dieses Wort nicht missversteht und mit dem empi-
rischen Begriff, also das schaffende Prinzip mit dem, was selbst
bloss seine Funktion ist, nicht verwechselt —, sind sein Gegen-
stand. So könnte man sagen : Die Spontaneität sei zwar notwendige
Voraussetzung der Erkenntnis, weil durch sie erst Objekte zustande
kommen, aber sie selbst sei nicht Gegenstand der Erkenntnis im
eigentlichen Sinne des Wortes, Sie ist nicht erkennbar, sondern,
vielleicht dürfen wir so sagen, weil sie eben das Erkennen möglich
macht, und wir ihrer nur, soweit wir uns selbst erkennend ver-
halten, inne werden, erleb bar.
Sie bildet also die Brücke zur Freiheit, Sie verknüpft uns
als Glieder der Sinnenwelt mit den Grundlagen eben dieser Sinnen-
welt, weil wir diese Grundlagen in uns selbst finden, ja selber
diese Grundlagen sind. Diese vor- und übersinnliche Kraft (das
weder zeitlich noch realistisch verstanden, sondern eben nur im
Sinne des selbst unleugbaren, einfach aufweisbaren, ewig unbe-
greiflichen Vermögens der Spontaneität) bildet die Voraussetzung
für die Inteüigibilität der Persönlichkeit, ja ist diese IntelUgibili-
tät selbst.
An dieser Grenze der spekulativen Vernunft setzt nun er-
weiternd die praktische ein. Dass Freiheit möglich wäre, hatte
sie postuliert; wie sie möglich wäre, Hess die Spontaneität er-
kennen, und nun fragt es sich weiter, vne wir es uns praktisch
des Genaueren allein zu denken haben, dass sie der Persönhch-
keit eignet.
Wir gehen aus von uns als Person im Kantischen Sinne,
d. h. wie wir uns allein erkennbar und fasslich gegeben sind.
Nun ist es doch eigentlich gerade diese in die Erscheinung tre-
Ku&iittidtui IX. 29
L Bauch,
teode Person, die Yerantwortlich gemacht wird für Dar Tbun und
Lassen» die wir als gut oder böse bewerten, Weun wir von ihr
verlangen* sie sollte anders handeln, verlangen wir xiigleich auch,
dass sie anders sein sollte. Denn selbst noch einmal ganz in der
sinnlichen Redeweise gesprochen, könnten wij% sobald wir lediglich
das Verhältnis der Person zu den Dingen betrachu*u und zusehen,
wie sie auf diese reagiere, nur verlangen, dass sie auf diese anders
reagiere, als sie es in Whrklichkeit thut^ Das könnte aber nur
dann eintreten, wenn entweder die Dinge andere wären, als sie
sind; oder wenn die Person anders wäre^ als sie ist. Nun werden
ja nicht die Dinge bei der Beurteüung der Person, sondern diese
wird selbst bew^ertet. Das heisst: Sobald mau ihr Handeln billigt,
bilUgt man auch, dass sie so ist, wie sie ist ; sobald man verlangt,
sie sollte anders handeln als sie handelt, verlaugt man auch, dass
sie anders wäre, wie sie ist*
Wie kommen wir aber dazu, ein solches Verlangen und An-
sinnen an den Menschen zu stellen? Hat er sich denn selbst ge-
macht, auf dass er für seine Schöpfung verantwortlich gemacht
werden könnte. Allerdings, das bat er: ^Was der Mensch im
moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muss
er sich selbst gemacht haben. Beides rouss eine Wirkung seinei^
freien Willkühr sein, denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet*
werden,"*) Natürlich nicht der Mensch als Person, als Erschei-
nung hat sich selber zu dem gemacht, was er ist. Der ist lediglicb
etwas Gewordenes, Erschaffenes, aber nicht etwas Schaffendes. In-
dem er aber zur Verantwortung gezogen wird, wird er über sein
blosses Erschaffensein hinausgehoben, eben dadurch, dass man ihm
sein Handeln zurechnet. Das kann man nur, indem man ihn zu-
gleich als schaffend betrachtet. Thut ntan aber dies, so betrachtet
man ihn eben nicht bloss als Person, als Erscheinung, sondern
wiederum in seiner Intelligibilität, d h. als Persönlichkeit, sodass
„die Person also, als zur Sinnen weit gehörig, ihrer eigenen Persön-
lichkeit unterworfen ist, sofern sie zugleich zur intelHgiblen Welt
gehört*.-) Darum wird, w^enn wir die Pei^on verantwortlich zuj
machen scheinen, in Wahrheit die Persönlichkeit für die PersonJ
verantwortlich gemacht.
*) Die Religion innerhalb der GreuEen der hlossen Verounft S, IS
•) Vgl üben S. 4S6 f.
Luther und Kant. 449
Die bedeutsamsten Aufschlüsse fernerhin giebt uns nun Kants
Reiigionsphilosophie im engeren Sinne, i)
Wenn wir nämlich auf die in der Welt der Objekte handelnde
Person achten, so finden wir sie in einer gewissen Konstanz,
ihrer Eigenart entsprechend, auf die Dinge reagieren. So bietet
sie sich zunächst der rein empirischen Betrachtung dar. Man
kann die gewisse konstante eigenartige ßeaktionsweise eben unter
der „irdischen Ansicht** als den „subjektiven Grund der Möglich-
keit einer Neigung*" ansehen, den man „Hang*" (propensio) nennt.
Rückt man nun diesen „Hang"* unter den Gesichtspunkt der Wert-
kategorien von gut und böse, so zeigt sich, dass er als „Hang
zwar angeboren sein kann, aber doch nicht als solcher vorgestellt
werden darf, sondern auch (wenn er gut ist) als erworben, oder
(wenn er böse ist) als vom Menschen selbst sich zugezogen ge-
dacht werden kann."*)
Er ist „angeboren" und soll doch als durch freie Willkühr der
Persönlichkeit , erworben" und „zugezogen" gedacht werden. Wie ist
das möglich? In der räumlich-zeitlich bestimmten Welt der Dinge kann
er nicht , erworben" und „zugezogen" sein, denn unter der empirischen
Ansicht ist er schon als Grundlage eben jener Reaktionsweise der
Person da, und wird dieser als „angeboren" zugerechnet. Soll er
darum „erworben" und „zugezogen" sein — und er muss dafür
angesehen werden, damit Verantwortlichkeit und Bewertung mög-
lieh sei — , so kann er nur von der intelligiblen Persönlichkeit
„erworben" und „zugezogen" sein. £r weist also auf diese zurück
und ist eine raum-zeit-lose „intelligible That"«) der intelligiblen
Persönlichkeit. Die „intelligible That" verhält sich zur intelligiblen
Persönlichkeit wie die phänomenale That (factum phaenomenon)
zur empirischen Person. Wie im Empirischen die That als Aus-
fluss der empirischen Person (nach ihrer angeborenen Reaktions-
weise und Relation zu den Dingen), so wird die „intelligible That"
1) Die vorangehenden Bemerkungen fassen nicht bloss kurz das Be-
soltat der transscendentalen Analytik der Kritik der reinen Vemonft zn-
sammen, sondern lehnen sich an Kantische Gedankengänge auch der
Kritik der praktischen Vernunft, der Religion innerhalb der blossen Ver-
nunft und der Kritik der Urteilskraft (in der hierfür besonders das Ver-
hältnis von bestimmender und reflektierender Urteilskraft von Bedeutung
ist) an, die sämtlich nach dieser Richtung hin konvergieren.
*) Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft S. 122.
>) a. a. O. S. 125 f., wo diese Bestimmung mit Rücksicht auf den
,,Hang zum Bösen*' besonders klar getroffen wird.
29*
450
B. Bauch.
als Ausfluss freier Willkühr der intelligiblen Persönlichkeit ge-
dacht Aber wie im Empirischen der Hang als ^angeboren", die
That demtiadi durch die ^angeborene** Eigenart der Pei-son be-
stimnit erscheiDt, so nmss iimi weiter auch die intelligible Thal
als durch die Eigenart der ititelligiblen Persönlichkeit bestimmt
nicht angeboren j aber angelegt — erscheinen, damit sie als deren
Wesen gemäss ihr ztigerechnet werden kann. Die ^intelligible
That" erfordert somit eine „intelligible Anlage.**^)
Die „intelligible Anlage** bestimmt die „intelligible That**
und diese wiederuni weiter das, was wir so gewöhnlich Charakter
nennen, also den Hang, die gewisse Richtung in der Weit zu
wirken und zu handeln. Ja der Charakter ist nichts Anderes, als
die in die Erscheinung getretene „intelligible That" der intelU-
giblen Persönlichkeit selbst. Diese bestimmt somit selbst ihren
Charakter, ihre Person, und eben darum richtet sich alles Verant-
wortlichmachen für den Charakter an die die Person bestimmende
intelligible Persönlichkeit selbst und hat darin seinen Berechti-
gungsgrund. Und weil der Charakter so durch eine einheitliehe
intelligible That bestimmt wird, so hat auch in der Pei-son ^das
Hinnenleben in Ansehung des intelligiblen Bewusstseins seines Da-
seins (der Freiheit) absolute Einheit eines Phänomens, welches,
sofern es bloss Erscheinung von der Gesinnung, die das moralische
Gesetz angeht (von dem Charakter '^}) enthält, nicht nach der
Naturnotwendigkeit, die ihm als Erscheimuig zukommt, sondeni
nach der absoluten Spontaneität der Freiheit beurteilt wei
muss.**»)
Die „intelligible Anlage" zui' „intelligiblen That** una
„Charakter^ in der Persönlichkeit ist zugleich Anlage zur Persön-
lichkeit im letzten Grunde selbst. „Die Anlage für die Persön-
lichkeit,** sagt Kant aber weiter, „ist die Empfänglichkeit der
Achtung für das moralische Gesetz als einer für sich hinreichenden
Triebfeder der Willkühr,"*; Sie ist zugleich auch das Letzte, auf
das wir, selbst unter praktischem Betracht, zurückgeführt werden,
weil sie selbst auf „Gott als allgemeines Urwesen** zurückw^eist.
Nur in ihm können wir die Wurzel jener intelligiblen Anlage
ielbst suchen. Damit scheint sich aber gleich eine neue Schwierig-
I
») a. a. 0, S. 122.
*) Natftrlich dem intelligiblen Charakter.
•) Kritik der praktischen Vernunft S. 103.
*) Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft S. 121,
à
Luther und Kant,
451
keit aiitiûiitijun iinti rli<* brt^iheil al*ermals zu gefährden. „Wenn
man uns nämlich auch *'inmuniU fla.ss das intelligible Subjekt
in Ansehung einer gegi^beuen Handlung noch frei sein kann, ob-
gleich es als Subjekt, das auch zur Siunenwelt gehörig
in Ansehung derseliieu fiierhaniscli bedingt ist, so scheint es doch,
man müsse, sobald man annimmt, üott als allgemeines Urwesen
^i die Ui-sache auch der Existenz der Substanz inin Satz, der
niemals aufgegeben werden darf, ohne den Begriff von Gott als
Wesen alier Wesen, und hiermit seine AUgeuugsamkeit, auf die
alles in der Theologie ankommt, zugleich mit aufzugeben), auch
einräumen; die Handlungen des Menschen haben iu demjenigen
ihren Bestimmuugsgruud, was gänzlich ausser ihrer Gewalt ist,
Dämbch der Kausalität eines von ihm unterschiedenen höchsten
Wesens, von welchem das Dasein des erstereu und die ganze
Bestimmung seiner Kausalität ganz und gar abhängt.** *) Danach
würde der Mensch wieder aller Selbständigkeit beraubt, als könnte
er nichts aus eigener Kraft. Ähnlich wie iu der kirchlichen
Gnadenlehre wlirde all sein Thun „als Wirkung vom Einfluss
einer äusseren höheren wirkenden Ui^ache, in Ansehung deren
der Mensch sich bloss leidend verhielte, vorgestellt werden*** ')
Allein Kant hat eine Lösung dieser Schwierigkeit gefunden, ^Die
Auflösung obgedachter Schwierigkeit geschieht kurz und einleuch-
tend auf folgende Art; Wenn die Existenz in der Zeit eine bloss
sinnliche Vorstelhingsart der denkenden Wesen in der Welt ist,
folglich sie als Dinge an sich selbst nicht angeht, so ist die
Schöpfung dieser Wesen eine Schöpfung der Dinge an
sich selbst; weil der Begriff einer Schöpfung nicht zu der sinn-
lichen Vorstellungsart der Existenz und der Kausalität gehört,
sondern auf Noumenen bezogen werden kann. Folglich wenn ich
von Wesen in der Siunenwelt sage: sie sind ei'schaffen, so be-
trachte ich sie sofern als Noumenen, So wie es also ein
Widerspruch wäre, zu sagen, Gott sei ein Schöpfer von
Erscheinungen, so ist es auch ein Widerspruch, zu
sagen, er sei, als Schöpfer, Ursache der Handluageu iu
der Sinucnwelt, mithin als Erscheinungen, w^enn er
gleich die Ursache des Daseins der handelnden Wesen
(als Noumenen) ist . . , weil die Schöpfung ihre intelli-
i) Kritik der praktischen Vernunft S. 105.
^ Der Streit der Fakultäten S. 360.
462
B. Bauch,
gible, iiit'.ht sensible Existeuz betrifft/'») Man kaim
die „Anlage zur Persönlichkeit'' oder die „Empfängliffikeit der
Aehtimg" für das nioralisch«i (Tosetz als einer für sich hinreichenden
Triebfeder" als von (Toit in uns gewirkt ansehen, und doch die
Handhingen als von uns selbst gewirkt betrachten, die ans unserem
in die Erscheinung tretenden ('harakter fliessen.
Denken mr nnn zugleich zurück an di^^ früheren Ausfübrnngen
dieses Paragraphen, so köniu*n wir sagen : Das Dynamische der gott-
gewirkteu intelligiblen Anlage soll durch unsere eigene „intelligible
That" energetische Essenz erhalten^ die unseren rharakier be-
stimmt, wie in analoger Weise, unter zeitlicher Anschauung, die
Maxime unsere Handhnig. In theologischer Sprechweise konnte
man auch sagen: Jene Anlage sei Gnade, insofern wir sie nicht
selbst gewirkt haben, sie sei aber zugleich Natur, weil sie zum
Wesen der aus intelligibler Schöpfung hervorgegangenen intelli-
giblen Persönlichkeit gehöre, ja selbst zu dieser die Anlage sei.
Und Sache dieser intelligiblen Persönlichkeit sei es nnn, spontan
das Göttliche ilires Wesens auszuwirken und zu entfalten. Kant
sagt einmal ausdriiekUch, Gnade sei „nichts Anderes als Natur des
Menschen, sofern er durch sein eigenes inneres, aber übersinnliches
Prinzip (die Vorstellung seiner Pflicht) zu Handlungen bestimmt.
wird, welches, weil wir uns es erklären wollen, gleichwohl aber
weiter keinen Grund davon wissen, von uns als von der Gottheit
in uns gewirkter Antrieb zum Gwten, davon wir die Anlage in
uns selbst nicht gegründet haben, mitbin als Gnade vorgestellt
wird". Aber wir dürfen nicht „eine bloss passive Ergebung an
eine äussere in uns Heiligkeit wirkende Macht" contemplativ üben,
sondern „wir müssen au der Entwickelung jener moralischen An-
lage in nus selbst arbeiten, ob sie zwar selber eine Göttlichkeit
des Urspnings beweist, der höher ist, als alle Vernunft (in der
theoretischen Nachforschung der Ursache) und daher, sie besitzen
nicht Verdienst, sondern Gnade ist", auf dass die Persönlichkeit
ihrer intelhgiblen Bestimmung gemäss ein thätiges Werkzeug in
der Hand der Gottheit werde/^)
Kant hat damit die Freiheit und Selbstverantwortlichkeit der
Persönlichkeit gewahrt. Kr hat die Eigenbestimmung ihres Wertes
in sie selbst, vermittels ihrer IntelligibilitÄt, in ihre intelligible
i
1) Kritik der praktischen Vernunft S. i07*
») Streit der Fakultäten, ebenda.
Luther und Kant. 463
That verlegt. Wir erkennen dadurch, dass sie es in VVahiheit
selber ist, die über ihren Wert und Unwert entscheidet. Aber
eine Schwierigkeit bleibt bestehen und ist unauflösbar. Die
Wurzeln dos intelligiblen Wesens reichen zurück bis in die Gott-
heit. Aus der Gottheit entspringt die Anlage zur Persönlichkeit,
die Anlage, das Moralgesetz zur Triebfeder in uns werden zu
lassen. Ob wir es das werden lassen, ob wir die moralische An-
lage in uns entwickeln oder ni(!ht, ob wir das Moralgesetz in
unseren Willen aufnehmen und es verwirklichen wollen, oder ob
wir ihm widerstreben, das bleibt unserer Freiheit anheimgegeben.
Die Freiheit selbst ist damit gewahrt. Nun erhebt sich ein neues
Problem, das keine Lösung mehr findet. Warum wir dem Moral-
gesetze Wirklichkeit zu geben bestrebt sind, können wir verstehen,
denn, mit der unserer Anlage eingegebenen Achtung vor ihm, ist
der Keim, es zur Triebfeder werden zu lassen, mitbestimmt. Wa-
rum wir ihm aber auch widerstreben, warum wir uns seiner Trieb-
feder widersetzen, kurz woher das Böse in uns stammt, bleibt da-
mit immerhin unbegreiflich. In einer Triebfeder der Natur ist der
Grund dafür nicht zu suchen, sondern in der Maxime des Subjekts
allein. Aber dass das Subjekt sich zu dieser bestimmt hat, dass
es sich bestimmt hat, das Böse in seinen Willen aufzunehmen,
was in der „intelligiblen That" der Persönlichkeit selber liegen
muss, das ist, nach Kant, für unsere Vernunft immer unf asslich. *)
§ 18.
Die Person als Gegenstand der Achtung.
Die Person jedes Menschen ist nichts Anderes, sahen wir,
als die durch die Persönlichkeit bestimmte, in die p]rscheinung ge-
tretene intelligible That eben der Persönlichkeit. Mag sie ihre
intelligible Anlage immerhin nicht ausgeprägt haben, sie enthält
sie doch in sich als einen göttlichen Ursprung. So gemahnt uns
auch die Person an einen göttlichen Urspning. Und „auf diesen
^) Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft S. 114 ff.,
S. 133 ff., S. 152 ff. und S. 174 ff. Psychologisch verständlich ist es infolge
dieser Unbegreiflichkeit, wie der Kirchenglaube auf den Teuf elswahn fallen
konnte, indem er das Böse realistisch hypostasiert, und das Böse, anstatt
in der Maxime der Persönlichkeit, letztlich in einer realen Macht des
Teufels sucht. Dieser Wahn aber bedeutet eine Einschränkung der AU-
genugsamkeit der Gottheit, weshalb Kant die Frage des Irokesenknaben
an den ihn unterrichtenden Priester P. Charlevoix, warum Gott den Teufel
nicht tot schlage, ganz berechtigt findet (S. 174 d. Belg.).
454
B. Bauch,
Ui'spnmiR: griiodeii sich uiin mauche Aiisdrück<% welche den Wert
der Geprenstände nach moralischen Id«^eo bezelchiien. Das mora-
lische (tesetz ist heilig (iiovt^rletzlidi)* Der Mensch ist zwar uii-
\mV\g geaiig, aher die Menschheit in seiner Pei-sori niuss ihm i
Iveilig sein. In der ganzen Schöpfnng kann alles, was man i^ill, ■
mn\ worüber man etwas vermag, auch hk»SLS als Mittel gebraucht
wenlen; nnr der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf,
ist Zweck an sieh selbst."')
So stallt sich nns in der Person sichtbar die „Achtnng er-
weckende Idee der Pei'söiilichkeit'* dar, und die Person selbst ist
ein Gegenstand der Achtung. Sie ist aber zugleich in der ganzen
sichthareii Welt der einzige Gegenstand der Achtung, wxil sie das
©inrige „Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, ver-
möge der Antonomie seiner Freiheit**,*) Gegen sie allein haben
wir also» als in die Sinnenwelt selbst gestellte Wesen, die nur ^
sichtbar and auf sichtbare Gegenstände auch des Sittengeset^es ^
handeln können, PfUchteu. Und unsere Pflichten gegen den
Menschen gründen sich eben allein auf die Achtung vor seiner
moralischen Anlage, Die Aehtnug vor der Person ist zugleich
Achtung vor dem Moral gesetze, sie ist, weil dieses sich in uns fl
selber, der Anlage nach, darstellt, die auf uns selbst bezogene "
Achtung vor dem Moralgesetze. ^) j
Da wir nun bloss dann sittlich handeln, wenn wir aus ^
Pflicht und aus Achtung fürs Gesetz handeln« so können wir der
Person gegenüber, auf die sich unser pflichtvolles Handeln als auf
einen Gegenstand der sittlichen Behandlung allein erstrecken
kann, mir dann wahrhaft sittlich handeln, wenn wir uns aus Ach-
tung für die Person dazu bestimmea Denn das allein steht in
Eins mit dem Handeln aus Achtung fürs Gesetz, Mögen alle
anderen Bestiramungsgrnnde uns noch so gefällig erscheinen, sitt-
lich wertvoll sind sie darum noch nicht,
„Es ist sehr schön, aus IJebe zu Menschen und teilnehmen-
dem Wohlwollen ihnen Gutes zu thnn, oder aus Liebe zur Ordnung
gerecht zw sein, aber das ist noch nicht die echte moralische
Maxime unseres Verhaltens, die unserem Standpiiiikte, unter
n
4
*) Kritik der praktischen Vernunft S, $1 f.
•) Ebi'iuhi.
*) Vgl meine Schrift ^Glückseügkeit und Persönlichkeit'
Luther und Kant.
455
verniinftigeu Wesen/) als Meuscheii angemessen ist, wenn wir
iiüs anmasseD, gleichsam als VolontaiiT, uns mit stolzer EiiibildUDg
über den Gedanken von ï^flicht wegzusetzen^ und, als vom Gebote
unabhängig, bloss aus eigener Lust das thun zu wollen, wozu fiir
nns kein (^ebot notig wäre. Wir stehen unter einer Disziplin der
Vernunft, und müssen in allf^n nnsereu Maximen der Unterwürfige
keit nuter derselben nicht vergessen, ihr nichts zu entziehen, oder
dem Ansehen des Gesetzes (ob es gleich unsere eigene \^?rnuiift
giebt) durch eigenliebigen Wahn dadurch etwas abzukürzen, dass
wir den Bestimmungsgrund unseres Willens, wenngleich dem Ge-
setze gemäss, tloeh worin anders, als im Gesetze selbst, und in
der Achtung für dieses Gesetz setzten, Pfticht und Schuldigkeil
sind die Benennungen, die wir allein unserem Verhältnisse zum
moralischen Gesetze geben müssen. Wir sind zwar gesetzgebende
Glieder eines durch Freiheit möglichen, durch praktische Vernunft
QQs zur Achtung vorgestellten Reiches der Sitten, aber doch zu-
gleich Unterthanen, nicht das Oberhaupt desselben, und die Ver-
kennung unserer niederen Stufe als Geschöpfe, und Weigerung
des Eigendünkels gegen das Ansehen des heiligen Gesetzes, ist
schon eine Abtrünnigkeit, dem Geist© nach» wenngleich der Buch-
stabe desselben erfüllt würde."-)
Kant betont zu wiederholten Malen, dass er sich damit in
völliger Übereinstimmung mit dem christlichen Gebote der Gottes-
iind Nächstenliebe befinde. Unmittelbar nach der soeben zitierten
Stelle heisst es: „Hiemit stimmt aber die Möglichkeit eines
solchen Gebotes, als: Liebe Gott über alles und deinen Nächsten
als dich selbst, ganz wohl zusammen. Denn es fordert doch, als
Gebot, Achtung für ein Gesetz, das Liebe befiehlt, und überlässt
es nicht der beliebigen Wahi, sich diese zum Prinzip zu machen.
Aber Liebe zu Gott, als Neigung (pathologische Liebe), ist unmög-
lich; denn er ist kein Gegenstand der Sinne. Eben dieselbe gegen
Menschen ist zwar möglich, kann aber nicht geboten werden; denn
es steht in keines Menschen Vermögen, jemand bloss auf Befehl
zu lieben. Also ist es bloss die praktische Liebe, die iu jenem
Kern aller Gesetze verstanden wird." Unter dieser praktischen
*) Neigung und Liebe, sagt Kant, kann sich auch auf Tiere er-
strecken. Aber „Achtung geM jederzeit nur auf Perionen"» VgL Kritik
der praktischen Vernunft S. 80.
*) a. a. O, S. 86 f. Vgl oben g 15.
4ô6
B. Bttuch,
Ijjpbe versteht Kant, also die Krfnlliing aller seiner Pf lichteu gege
de« NäehstBii als ^öUlirher (4ebote,^)
Und an eiiuT aiidoreii Stelle heisst es in äliiiüehem Zusaii
menhaiigt?: „So sind olme Zweifel auch die Scliriftslellen zu ver
siehcti, darin efeboten wird, seinen Nächsten, seihst unseren Feind
/AI liehen. Denn Liehe als Nei^nug kann nicht geboten werden,
aber Wohltbnn ans Pflicht, seihst wenn dazn g^ar keine Neigrnug^
treibt, Ja sii^rar natüjiicbe und nnhezwin^^diche Alinei^nug widei
steht» ist praktische, nicht pathologische Liebe, die im Willen lie
und nicht irn Hanr^e der Enii)fin(lungen, in Grnndsätzen der Hand-
lung nnd nicht in schmelzender Teilnehmung; jene aber allein kann
geboten werden." ^j
Diese l'nierscheidntjg zwischen dem Hang der pjmpfiucUirigHü
nnd dem Willen, zwischen schmolzeinler Teilnehmung nnd deiai.
(irnmlsätzen ûer H ami lung riicksichtlich der Liebe, an der daruiiM
selbst pathologische nnd ju'aktische Liebe nuterschiedeu wird, ist.
sehr bedentsauL Wenn wir ans Liebe im gewöhnlichen Sinne de^H
Wortes (pathologischer Liehe) bandeln, so mag das, wie Kaol^
sagt, „sehr schön** sein, aber sittlich ist es nicht. Mit dem Ge-
bote der praktischen Liebe dagegen ist die spontane Willeosthat
gefordert, den Nächsten als einen (legenstaml der Pflicht zu be-
trachten, ihn als „Snhjekt des moralischen Ueaetxes", welches er_
in seiner Person darstellt, zu achten.
Kapitel V.
Vom Wesen der Religion.
tJosere vorhergehenden Untersuchungen haben uns, wi^
scheint, mit immanenter Notwendigkeit, auf religiöse Fragen un^
Probleme geführt. Die ethischen Gesichtspunkt^^ leiteten notwendig
zu religiösen hinüber. Kant selbst sagt, dass das notwendig so
sei. Die Moral „bedarf zwar keineswegs der Religion, sondern,
vermöge der reinen praktischen Vernunft, ist sie sich selbst ge-
nug".^) Doch .Jährt sie unumgänglich zur Religion**.*) Wir
haben das in den vorhergehenden Untersuchungen mit aller Deut-
') Ebenda.
2) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten S. 247.
3) Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen V
*) a. a. O. S. im.
.
Luther und Kant. 457
lichkeit gesehen. Die „sittlichen Begriffe"" stehen ganz und gar
für sich fest, und der Mensch „bedarf weder der Idee eines an-
deren Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer
anderen Triebfeder, als des Gesetzes selbst, um sie zu beob-
achten", 0 weil er „keines materialen Bestimmungsgrundes der
freien Willkühr" ^ bedarf. Man könnte also ohne die Idee Gottes,
und ohne diesen Namen zu kennen, durchaus moralisch handeln
und ein sittlich wertvoller Mensch sein — also den höchsten und,
nach Kant, einzigen Wert in sich darstellen, den der Mensch in
sich darzustellen vermag. Nur wenn wir nach der Möglichkeit
der Moralität in metAphysischer Absicht fragen, wobei aber diese
Art Metaphysik selbst keine theoretisch-konstitutive ist, sondern
lediglich eine praktisch-postulative bleibt, also nicht wenn es sich
darum handelt, moralisch zu sein, sondern die Möglichkeit der
Moralität uns, wenn auch nicht als theoretisch-begriffliche Einsicht,
sondern praktisch fasslich zu machen, kurz nicht durch Moralität,
sondern durch Moral ^) werden wir auf die Idee Gottes und damit
zur Religion geführt. Es ist damit aber noch gar nicht ausge-
macht, ob wir nun auch gleich auf einen prinzipiell von dem der
Moral verschiedenen Standpunkt gelangt sind, oder nicht, und was
der Standpunkt der Religion überhaupt bedeutet. Das können wir
erst entscheiden, wenn wir uns deren Prinzip selbst genauer an-
gesehen haben.
§ 19.
Das Prinzip der Religion.
Um das Prinzip der Religion und deren einzigen Gegenstand,
die Gottheit, handelt es sich. Wollen wir verstehen, wie wir zu
emem Prinzip der Religion gelangen können, so müssen wir uns
bewasst bleiben, wie wir überhaupt zur Idee der Gottheit gelangt
sind. Zu dieser kamen wir aber, das sahen wir in den vorigen
Aasführungen, durch die Idee der vollkommenen Angemessenheit
zum Moralgesetze. So setzt die Religion schon Moral voraus,
die erst zu ihr führt, indem die Moral selbst, wie Kant sagt, „aus
sich die Idee der Gottheit erzeugte". Wenn also auch Moral ohne
1) a. a. O. S. 97.
^ Ebenda.
*) Hier wird nun die Notwendigkeit jener Unterscheidung vom
Theoretischen und Praktischen, von der wir im zweiten Teil der Arbeit
ausgingen, ganz besonders evident.
468 B. Baach,
Religion möglich ist, so ist doch echte Religion nicht ohne Moni
möglich. Und alle morallose Religion ist Afterreligion, Sdiein-
religion. Das Prinzip der Religion ist nichts ohne das der Moral
Das Prinzip der Moral nnn ist die Autonomie, also ist anch dis
Prinzip der Religion nicht ohne Autonomie möglich.
Wie wir von diesem durch die Idee des höchsten Gutes mit
der in ihr enthaltenen Idee der vollkommenen Angemesseohrit
zam Moralgesetze erst zur Idee der Gottheit gelangten, und danü
zum Gegenstande der Religion, so konnten wir die Gottheit sdbsi
erst als die der Idee des höchsten Gutes korrespondierende Da^
Stellung dieser Idee ansehen. Die Moral „erweitert^ ^) sich also
zur Religion durch „die Idee eines machthabenden moralischen
Gesetzgebers ausser dem Menschen, in dessen Willen daifjenige
Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck
des Menschen sein kann und sein soU**.^
In diesem Willen wird die vom Moralgesetze an^^egebene
Vollkommenheit objektiv gedacht und darum können die vom Mo-
ralgesetze aufgegebenen Pflichten selbst als götüiche Gebote an-
gesehen werden. Religion ist darum selbst der Inbegriff »aller
unserer Pflichten als göttlicher Gebote**.^
Sie ist darum nicht zu verwechseln mit der Theologie, wie
es so oft geschieht. Denn oft werden schon gewisse Lehren, die
als göttliche Offenbarungen ausgegeben werden, und der Glaube
daran, für Religion gehalten, während das doch nur Theologie und
dann den Glauben an theologische Lehren bedeutete. Ein Glaube,
der „an sich kein Verdienst, und der Mangel desselben, ja sogar
der ihm entgegenstehende Zweifel an sich keine Verschuldung*
ist.^) Denn selbst dieser Glaube, sofern er inhaltlich bestimmt ist,
Hesse sich eben wieder nur als blosser Inhalt des Gesetzes, nicht
aber als die allein massgebende Form desselben ansehen. Er kann
darum niemals als für alle giltig geboten werden, weil sich Mein-
ungen überhaupt nicht gebieten lassen, und weil ein aufgezwun-
gener Glaube eben nie im Inneren der Person wurzelt. „Das
Glauben verstattet keinen Imperativ*, sagt Kant.^) Wenn es
aber geboten wird, so führt es zur Heuchelei und Unaufrichtigkeit,
1) Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft S. 100.
*) a. a. 0. ebenda.
3) Streit der Fakultäten S. 353.
*) a. a. 0. S. 35a
») a. a. O. S. 360.
Luther und Kant 459
eben weil ein Glauben auf Befehl ein Unding ist, und das wahre
Glauben die ureig^enste Funktion der Persünlichkeit sein muss.
Unter diest^m Betracht wird selbst fiir den gemeinen Verstand der
Glaube in seinem Wert immer abhängig gedacht vom dem wirk-
lichen, innerlichsten Erleben des Einzelnen. Er wird also selbst
vom gemeinen Bewusstsein unter dem W^ertmass des Sittlichen
beurteilt, d. Il für verwerflich erachtet, wenn er nur auf Befehl
angenommen wird. „Denn dieser Glaube ist so wahrhaftig ein
Thun, das durch Eurcht abgezwungen wird» dass ein aufrichtiger
Mensch eher jede andere Bedingung als diese eingehen mochte,
weil er bei allen anderen Frohndiensteu allenfalls nur etwas
Überflüssiges, hier aber etwas dem Gewissen in einer Deklaration,
von deren Wahrheit er nicht überzeugt ist. Widerstreitendes thun
würde/* ^) Man sieht also, wie die wahre Religion an einen in-
haltlichen, oder sagen wir, dogmatischen Glauben nie gebunden
sein kann, weil er dem Gewissen des Einzelnen zuwider sein
könnt*'. Daraus würde die Vernichtung aller Antonomie der Per-
sönlichkeit, mithin des Moralprinzips und aller Moralität, und da
diese die unerlässliche Voraussetzung zur Religion sind, auch die
"Vemichümg aller Religion folgen. Diese duldet keinen Zwang.
Es wäre darum nicht allein logisch verkehrt, sondern auch
für die Moral höchst gefährlich und verderblich, für unser Handeln
eine Weitbestimmung etwa „aus dem theologischen Begriff von
einem allervoUkommensten Wesen abzuleiten, nicht bloss deswegen,
weil wir seine Vollkommenheit doch nicht anschauen, sondern
sie von unseren Begriffen, unter denen der der Sittlich-
keit der vornehmste ist, allein ableiten können, sondern
weil, wenn wir dieses nicht thun (wie es denn, wenn es geschähe,
ein grober Zirkel im Erklären sein würde), der uns noch übrige
Begriff seines Willens aus den Eigenschaften der Ehr- und
Herrschbegierde, mit den furchtbaren Vorstellungen der Macht und
des Nacheifers verbunden, zu einem System der Sitten, welches
der Moralität gerade entgegengesetzt wäre, die Grundlagen machen
müsste."*)
1) Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft S.370f*
2) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten S. 29L Kant hat hier
die unwürdige Gottesidee hn Sinne, wie sie fürs Judentum charakteristisch
ist, und die auch das Christentum, das, nach Kaots Überzeugiingi selbst
noch zu viel Judentum in sich enthält, nicht genugsam geläutert bat. Wir
kommen darauf zurtlck.
460 B. Bauch,
So zeig^ sich dnrch die Gefirenüberstellimg von Theologie «nd
Religion zunächst negativ, dass sich aach rucksichtlidi der Eeli-
gion alles Gebieten etwelchen inhaltlichen Glaubens als ebeoBO
unmöglich erweist, wie rücksichtlich der Moral das Grebieteo et-
welchen inhaltlichen Thuns, eben weil das Glauben selbst ein
ThuD ist. Und der religiöse Glaube: seine Pflichten als göttlick
Gebote aufzufassen, und sie als solche zu erfüllen, ist selbst ledig-
lich Glaubensprinzip, das sich materialiter in keiner Weise too
Moralprinzip unterscheidet. Darum wird zugleich positiv klar: die
Religion ist nur dann wahrhaft Religion, wenn ihr Prinzip ran
moralisch ist, wenn wir ein wahrhaft „moralisches Prinzip der
Religion"* zu Grunde legen. ^) Durch dieses kann uns also nichts
Anderes geboten werden, als durch das Moralprinzip selbst, d. h.
allein ein guter Lebenswandel. Und „alles, was ausser dem gatai
Lebenswandel der Mensch noch thun zu können vermeint, am
Gott wohlgefällig zu werden, ist blosser Religionswahn und After
dienst (Sottes".«)
Also „nicht der Inbegriff gewisser Lehren als göttlicher
Offenbarungen (denn das heisst Theologie), sondern der aller uh
serer Pflichten, als göttlicher Gebote (und subjektiv der Maziine,
sie als solche zu befolgen) ist Religion''.«) Eä mag darum noeh
so viele Inbegriffe gewisser Lehren als göttlicher Offenbarungen
geben, d.h. noch so viele inhaltlich bestimmte Glaubensarten and
Theologieen; wie es nur eine Moral giebt, wie moralisch sein
nichts anderes heisst, als „aus Pflicht'' handeln, so giebt es auch
nur eine Religion, so heisst religiös sein nichts anderes, als seiner
Pflicht den Wert eines göttlichen Gebotes zuerkennen, und darum
um der Pflicht selbst willen handeln.
Diese erkennen wir aber lediglich durch die a priori geset^
gebende Vernunft, eben weil diese allein in der Form der Auto-
nomie der Persönlichkeit gesetzgebend ist und auch, indem sie
bestimmt, was Pflicht ist, zugleich bestimmt, was göttliches Gebot
ist. Pflicht und göttliches Gebot sind ein und dasselbe nur von
verschiedenen Seiten betrachtet. Also die Religion muss „übe^
haupt auf Vernunft gegründet und natürlich sein^, sagt Kant, und
sie „unterscheidet sich nicht der Materie, d. i. dem Objekte nach
^) Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft S. 270.
*) a. a. O. ebenda.
^ Streit der Fakultäten S. 363.
Luther nnd Kant. 461
in irgend einem Stücke von der Moral, denn sie geht auf Pflichten
überhaupt, sondern ihr Unterschied von dieser ist bloss formal,
d. i. eine Gesetzgebung der Vernunft, um der Moral
durch die aus dieser selbst erzeugte Idee von Gott auf
den menschlichen Willen zur Erfüllung aller seiner
Pflichten Einfluss zu geben". J)
Damit ist das Prinzip der Religion und das in ihrem Wesen
liegende Ziel festgestellt. Es ist die Aufgabe des guten Lebens-
wandels, der auf dem Bewusstsein der Pflicht und der ihm ent-
sprechenden Maxime sich aufbaut, also die Aufgabe, wie Kant
sagt, „Tugend in der Welt zu verbreiten".
§ 20.
Die Mittel zur Erfüllung der religiösen Aufgabe.
Das religiöse Prinzip, das nichts anderes ist, als das auf
Gott als den sittlichen Weltgrund bezogene Moralprinzip, stellt
also keine andere Aufgabe, wie eben das Moralprinzip selbst. Es
will diesem nur durch die Idee Gx)ttes Einfluss auf den mensch-
lichen Willen verschaffen. Damit ist das letzte und höchste Ziel
dasselbe geblieben. Es ist nur eine neue Aufgabe zur Er-
Teichuug dieses Zieles mitgestellt; eine Aufgabe, deren Erfüllung
aber keineswegs leicht ist. Denn dadurch, dass unser Wille als
das einzig Gute, das in der Welt, ja auch ausserhalb derselben
zu denken möglich ist, erkannt wird, dass in ihn und seine Maxime
alle Wertbeurteilang zurückverlegt ist und nicht in die äusserliche
That, den äusseren Erfolg gesetzt wird, lässt es, wie wir es von
Kant schon erfuhren, die sittliche religiöse Aufgabe nicht etwa bei
einer sogenannten guten Meinung bewenden, wonach der Mensch
sich in bloss passiver Ergebung leidend verhalten müsste. Viel-
mehr wird gerade dadurch, dass der Wille die letzte Instanz der
Wertentscheidung und zugleich das Vermögen der Spontaneität
ist, alles in die Mühe und „eigene Kraftaufwendung", denn nichts
anderes ist der gute Wille, gesetzt, 2) mag allerdings dabei heraus-
kommen, was es auch sei. Nur das redliche Bemühen, das Sitteu-
g;esetz zu verwirklichen, wird verlangt von der Moral und von
der Religion.
Aber selbst wenn man, wie Moral und Religion es wollen,
von dem Äusserlichen des Effekts absieht, und alles auf das red-
1) a. a. O. S. 262 f.
«) VgL § 16 und § 17.
402
B. B«
i
i
liehe Bemüheü der Person ankommen lässt, ergeben sich für dieses
«loch ganz gewaltige Schwierigkeiten, sich auch DUr als solches
auszuwirken. Wir erinnern nns, dass Kant*) von der Unhegti^if-
lichkeit des Bösen gesproclien hatte, das trotz der göttlich ge-
wirkten ursprünglichen Anlage zum Guten in uns mächtig sei and
unsere Maxime verkehre. Und dieses Böse in uns ist es attch,
was sich dem redlichen Bemühen der Person, das Gute zu ver-
wirklichen und in einem guten Lebenswandel darzustellen, wider-
setzt, oder es gar nicht aufkommen lasst. „In diesem gefalirvoUeû
Zustande ist der Mensch gleichwohl durch seine eigene Schuld;')
folglich ist er verbunden, soviel er vermag, wenigstens Kraft an-
zuwenden, um sich aus demselben herauszuarbeiten. Wie aber?
Das ist die Frage. - Wenn er sich nach den Ui'sachen und Um-
ständen umsieht, die ihm diese Gefahr zuziehen und ihn darin er*
halten, so kann er sich leicht überzeugen, dass sie ihm nicht so-
wohl von seiner eigenen rohen Natur, sofern er abgesondert da
ist, sondern von Menschen kommen, mit denen er in Verhältnis
oder Verbindung steht. Nicht durch die Anreize der erstereu
werden die eigeutUch so zu benennenden Leidenschaften in ihm
rege, welche so grosse Verheerungen in seiner ursprünglich gnten
Anlage anrichten. Seine Bedürfnisse sind nur klein, und sein öe^ J
mütszustaud in Besorgung derselben gemässigt und ruhig* Er isfl
nur arm (oder hält sich dafür) sofern er besorgt» dass ihn andere
Menschen dafür halten und darüber verachten möchten. Der
Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen
feindseligen Neigungen bestürmen seine an sich genügsame Natur,
wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal n^tig,
dass diese schon als im Bösen versunken und als verleitende Bei*
spiele vorausgesetzt werden; es ist genug, dass sie da sind,
dass sie ihn umgeben, und dass sie Menschen sind, um einander
wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sieb
einander böse zu machen;"^) Danach genügt es also, bloss ein
Mensch unter Menschen zu sein, um allen Gefahren der Bosheit
und Verderbnis preisgegeben zu sein; im anderen ,^durch emen
Zostaad der unaufhörücheu Befehduug", die Würde der Person
1) Vgl. ebenfalls § 17.
^ Hier denkt Kant an die „intelligible ThBt>* der Persönhclikeit,
während in den folgenden Bemerkungen der Schwerpunkt der Betrachtmig
auf dBi8 reale Verhältnis von Person asu Person verlegt wird.
*) Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft S. 169^
Luther und Kant. 463
nicht nur nicht zu achten, sondern sie zu zerstören und die An-
lage zum Guten zu verderben. Ein Zustand des Neides, der Hab-
sucht und Herrschsucht ist ein Zustand des Krieges aller gegen
alle, und zu ihm scheint uns das Böse in unserer Natur verur-
teilen zn wollen. Kant selbst weist auf Hobbes und seinen Be-
griff des bellum omnium in omnes hin. Nur möchte er für
»bellum* lieber »status belli' gesetzt wissen, um gleich anzudeuten,
dass, wenn auch wirklich nicht immer offenkundige Feindselig-
keiten herrschen, doch der Mensch immer eigener und fremder
Willkühr trotz aller moralischen Anlage anheimgegeben ist, so-
lange er nur als Mensch unter Menschen sich in einem ethischen
Naturzustande befindet. ^) So kann i, durch die Bestrebung der
einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit
allein"*) gar nichts ausgerichtet werden. Immer wieder wirf sie,
solange sie allein sich auch noch so redlich bemüht, von ihrem
Ziele durch die Widerwärtigkeiten des Lebens, durch unzählige
„Ursachen und Umstände**, die einfach das menschliche Zusammen-
sein mit sich bringt, von ihrem Ziele abgezogen und fortgerissen.
So erhebt sich eine Pflicht des Menschen, sich ledig zu machen
Yon jenen Widrigkeiten, die ihn von seiner sittlichen Bestimmung
abführen, eine Pflicht, sich ihrer Versuchung zu entheben. Aber
^as ist das für eine Pflicht; wie lässt sie sich näher bestimmen,
und wie ist ihre Verwirklichung selbst möglich?
Eine Pflicht ganz eigener Art ist es, die hier den Menschen
erwächst; eine Pflicht, nicht „der Menschen gegen Menschen, son-
dern des menschlichen Geschlechtes gegen sich selbst**.") Eben
weil die einzelne Person mit ihrem alleinigen Bemühen um mora-
lische Vollkommenheit nichts ausrichtet, diese aber ihre Aufgabe
ist und bleibt, also auch muss erfüllt werden können, so kann nur
die Gattung es sein, die, durch ihren Zusammenschluss sich aus
dem ethischen Naturstande erhebend, den sittlichen Zweck der
Menschheit überhaupt, mithin auch des Einzelnen erfülle. Das
sittliche Ziel ist also „nicht anders erreichbar, als durch Errich-
tung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen
und zum Behuf e derselben; eine Gesellschaft, die dem ganzen
Menschengeschlecht in ihrem Umfange, sie zu beschliessen, durch
1) a. a. O. S. 194.
^ a. a. 0. S. 196.
8) a. a. O. ebenda.
KABUtudlM iz. 30
461 B. Bauch,
die Vemanft zur Aufgabe und zur Pflicht gemacht wird. — Denn
so allein kann für das gute Prinzip über das Böse ein Sieg €^
hofft werden. Es ist von der moralisch-gesetzgebenden Vemonft
ausser den Gesetzen, die sie jedem Einzelnen vorschreibt, nodi
überdem eine Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt für alle,
die das Gute lieben, ausgesteckt, um sich darunter zu versammeln,
und so allererst über das sie rastlos anfechtende Böse die Obe^
hand zu bekommen**. ^) Wir sind also von der Vernunft selbst
angewiesen, uns zu einer „ethischen Gemeinschaft^ unter „blossen
Tugendgesetzeu'', zu einem „ethischen gemeinen Wesen*' zu Te^
binden, um wirklich „Tugend in der Welt zu verbreiten".«) Da-
durch wird der vorhin gekennzeichnete entgegengesetzte Zustand
wechselseitiger Befehdung, den man auch den „ethischen Natur-
zustand" nennen kann, in dem keine Ordnung und kein Gesetz
herrscht, in dem „ein jeder sich selbst das Gesetz giebt",^ nach
seiner Willkühr, sich keiner höheren Instanz unterwirft, fibe^
wunden. Im „ethisch-bürgerlichen" Gesellschaftszustande — so
genannt in Analogie zum politisch-bürgerlichen, weil unter Ge-
setzen stehenden Zustande — dagegen ist jeder einer allgemein-
giltigen Konstitution unterwoiien.
Daraus ergeben sich nun wiederum neue Schwierigkeiten:
Zunächst liegt eine, gleichsam antiuomisch, in der Idee des ethi-
schen Gemeinwesens selbst. Das Gute, das wir vollbringen können,
vermögen wir allein durch unseren eigenen Willen zu wirken, in-
dem wir uns selber das Gesetz geben. Nun soll aber, Kant sagt
es ausdrücklich, im ethischen Gemeinwesen nicht Jeder sich selbst
das Gesetz geben", sondern sich allgemeinen Tugendgesetzen und
einer von diesen bestimmten Konstitution unterordnen. Das scheint
ein Widerspruch zu sein; scheint es aber auch nur zu sein, und
sein Schein lässt sich leicht auflösen. Wenn wir nämlich sagen:
im ethischen Naturzustande giebt ein jeder sich selbst das Gesetz,
das er sich im ethisch-büi-gerlichen Zustande nicht mehr geben
darf; und wenn wir auf der anderen Seite sagen: wir können nur
Gutes durch den sich selbst das Gesetz gebenden Willen wirken,
so verstehen wir beidemal unter der Selbstgesetzgebung etwas
ganz Verschiedenes. Das erste Mal ist die Gesetzgebung durch
1) a. a. 0. S. 190.
*) a. a. 0. ebenda.
3) a. a. 0. S. 192.
Luther und Kant. 465
Neigung und Willkühr gemeint, die unter ethischem Betracht Ge-
setzlosigkeit bedeutet. Sagen wir aber: wir können nichts Gutes
wirken ausser durch den eigenen guten Willen, so ist das die Gesetz-
gebung durch Autonomie. Wir sind auch in diesem Falle unsere
eigenen Gesetzgeber, aber die Gesetzgeber nicht durch Willkühr,
sondern durch Freiheit. Wir hören ioi ethischen gemeinen Wesen
auf, unsere eigenen Gesetzgeber zu sein, wenn wir unter der
Gtesetzgebung die selbstische Bestimmung durch Neigung und
Willkühr verstehen; aber wir fangen erst an, selbsteigene Gesetz-
geber zu werden, wenn wir die Gesetzgebung durch Freiheit und
Autonomie meinen.
Die Tugendgesetze, denen wir uns in der „ethischen Gemein-
schaft** unterwerfen sollen, sind also Gesetze, die wir uns selbst
geben durch unsere Autonomie : Gesetze durch Freiheit. DasS wir
uns selbst durch Freiheit das Gesetz geben, das ist der Inbegriff
der Tugendgesetzgebung, und ihr oberstes Gesetz selbst. Der
Zusammeuschluss der Menschen durch Tugendgesetzgebung und
zur Tugendgesetzgebung bedeutet also den Zusammeuschluss zu
gemeinsamem sittlichen Wirken durch die Freiheit und Autonomie
der Persönlichkeit. Die Tugendgesetze sind also keine politischen
oder dogmatischen Gesetze durch Zwang. „Wehe dem Gesetz-
geber," sagt Kant, „der eine auf ethische Zwecke gerichtete Ver-
fassung durch Zwang begründen wollte." J) Ein solches Bemühen,
wie es etwa eine politische Gesetzgebung in einem thorheitsvoUen
Beginnen anstreben könnte, müsste gerade, weil es die Freiheit
aufzuheben trachtete, auch alle Moralität vernichten, alle sittliche
Verfassung unmöglich machen. Aber nicht bloss diese; es würde
„nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern
auch seine politische untergraben und unsicher machen.**«)
Die Konstitution der ethischen Gemeinschaft ist also keine
Konstitution des Zwanges, sondern selbst eine Konstitution der
Freiheit. Ihre Grundsätze müssen alle Grundsätze der Freiheit
sein, eines jeden Einzelnen sittliche Freiheit des Gewissens wahren,
und sie müssen sich darum selbst alle einigen in dem obersten
Grundsatz der Autonomie. Die in der Idee des „ethischen ge-
meinen Wesens" liegende Schwierigkeit ist also aufgelöst. Es er-
hebt sich aber gleich eine neue, wenn wir fragen, wie wir die
Idee verwirklichen können.
1) a. a. 0. S. 193.
^) a. a. O. ebenda.
30*
466 B. Baach,
„Die erhabene, nie völlig erreichbare Idee eines ethisch«!
gemeinen Wesens verkleinert sich sehr unter menschlichen Hinden,
nämlich zu einer Anstalt, die allenfalls nnr die Form derselben
rein vorzustellen vermögend, was aber die Mittel betrifft, ein
solches Ganze zu errichten, unter Bedingungen der sinnlichen
Menschennatur sehr eingeschränkt ist.** >) Denn wir können uns
dem Ziele nicht anders nähern, als unter der Form einer Kirche,
und diese muss leider immer von einem historischen Glauben aas-
gehen, der zu seiner Festlegung und Mitteilung einer Schrift be-
darf. Alle historischeu Glanbensarten, sagt Kant, die Parsis and
Muhammedaner, die Griechen und die Römer, die Juden und die
Christen haben ihre heiligen Bücher gehabt, und haben sie nodi.
Aber diese heiligen Bächer, — die heilige Schrift, wie man
auch sagt — so notwendig sie als „Vehikel'' der Mitteilung von
Vemuuftideen sein mögen, bergen doch eine grosse Gefahr in
sich. Als ob es unvermeidlich wäre, knüpft sich an den Gedanken
über den Ursprung der Schiift der „lUuminatismus'' oder „Adepten-
wahn'', d. h. der Glaube an „die gewähnte Verstandeserieuchtoog
in Ansehung des Überoatürlichen"*) und damit hängt analytisch
der Glaube an göttliche Gnadenwirkungen, den Kant auch den
„Wahnsinn der Schwärmerei" nennt, sowie der Wunderglaube, von
Kant auch „Blödsinn des Aberglaubens" genannt, zusammen. Und
diese beiden Arten des „Keligionswahns**, der Glaube an Gnaden-
wirkungen und der Wunderglaube vereinigen sich zur „Thaumatur-
gie". Diese ist nämlich der Wunderglaube, von Gott in Besitz der
Geheim- und Gnadenniittel selbst gesetzt zu sein. Alle diese
„Verirrungen einer über ihre Schranken hinausgehenden Vernunft"
haben ihre Wurzeln im Kirchenglauben. ^) Auf diesen Verirrungen
beruht aber gleich noch eine für die Moral und Religion verhäng-
nisvoll werdende andere. Gerade infolge des Wunder- und Gnaden-
mittel-Glaubens nehmen die Menschen die Schrift nicht von der Seite,
von der sie eine gute Bedeutung hätte, d. h. nicht als blosses „Vehikel**
zur sittlich-religiösen Vernunfterzieliung, sondern als etwas an sich
selbst Wertvolles und Verbindliches hin. Wenn ihnen nun der Schrift-
glaube (und fast jeder Schriftglaube tluit das) ausser dem guten
Lebenswandel noch statutarischen Gottesdienst auferlegt, durch
1) a. a. 0. S. 198.
2) Kant bezeiclniet damit also, was man sonpt Inspiration nennt.
') a. a. O. S. 147 f., S. 199 f., S. 213 f.
Luther nnd Kant. 467
gescliiiebeues , Beten, Kirchengehen, Sakramente'',^) „durch
•mein der Anrufung" und durch „Bekenntnisse einesLohnglaubens",
z den „ganzen Kram frommer auferlegter Observanzen",*) so
ten sie sich lieber an diese leichten, äusserlichen, vernunft-
m Gebote, als allein an den wahren, vernünftigen Gottesdienst
guten Lebenswandels. „Sie können sich ihie Verpflichtung
lit wohl anders, als zu irgend einem Dienst denken, den sie
X zu leisten haben; wo es nicht sowohl auf den inneren mora-
hen Wert der Handlungen, als vielmehr darauf ankommt, dass
Gott geleistet werden, um, so moralisch indifferent sie auch
sich selbst sein mögen (doch w^enigstens durch passiven Gehor-
i), dadurch Gott zu gefallen. Dass sie, wenn sie ihre Pflichten
;en Menschen (sich selbst und andere) erfüllen, eben dadurch
h göttliche Gebote ausrichten, mithin in allem ihren Thun und
5sen, sofern es Beziehung auf Sittlichkeit hat, beständig im
inste Gottes sind, und dass es auch schlechterdings unmöglich
(Jott auf andere Weise zu dienen (weil sie doch auf keine
leren, als bloss auf Weltwesen, nicht aber auf Gott wirken und
ifluss haben können), will ihnen nicht in den Kopf." 5)
So ist ihr Gottesdienst kein wahrer Gottesdienst, sondern
unwürdiger „Frohn- und Lohndienst", der Gott durch An-
ung zum „Idol" und „Fetisch" macht, also selbst „Idolatrie"
l „Fetischdienst" ist.*)
Und „die Verfassung einer Kirche, sofern in ihr î^etischdienst
iert", heisst „Pfaffentum"; gleichviel ob der „auferlegten Ob-
Fanzen" viel oder wenige, ob sie leicht oder schwer sind; „ge-
-, wenn sie für unbedingt notwendig erklärt werden, so ist das
ler ein Fetischglauben, durch den die Menge regiert und durch
Gehorsam unter einer Kirche (nicht der Religion) ihrer mora-
hen Freiheit beraubt wird."*)
Das Viel oder Wenig macht hier nichts aus, es kommt alles
s Prinzip an: „Ob der Andächtler seinen statutenmässigen
lg zur Kirche, oder ob er eine Wallfahrt nach den Heiligtümern
Loretto oder Palästina anstellt, ob er seine Gebetsformel mit
Lippen oder, wie der Tibetaner (welcher glaubt, dass diese
1) streit der Fakultäten S. 371.
^ Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft S. 278.
^ a. a. 0. S. 200.
*) a. a. 0. S. 147 f., S. 199 f., S. 284 f.
») a. a. O. S. 279.
468 B. Bauch,
Wünsche auch schriftlich aufgesetzt, wenn sie nur durch etwas,
z. B. auf Flaggen geschrieben, durch den Wind, oder in dne
Büchse eingeschlossen, als eine Schwungmaschine mit der Hand
bewegt werden, ihren Zweck ebenso gut erreichen), es durch ein
Gebetrad an die himmlische Behörde bringt, oder was für ein
Surrogat des moralischen Dienstes Gottes es auch immer sein mag,
das ist alles einerlei und von gleichem Wert.'^O Die Manier
macht nichts und das Prinzip macht alles. Mögen sich die
Menschen, denen die Hauptsache am Statutarischen liegt, in ihrer
Manier noch so sehr unterscheiden, so gehören sie dennoch „insge-
samt zu einer und derselben Klasse, derer nämlich, die in dem,
was an sich keinen besseren Menschen ausmacht (im Glauben ge-
wisser statutarischer Sätze, oder im Begehen gewisser willkäh^
lieber Observanzen), ihren Gottesdienst setzen, diejenigen aUein,
die ihn lediglich in der Gesinnung eines guten Lebenswandels zn
finden gemeint sind, unterscheiden sich von jenen durch den Übe^
schritt zu einem ganz anderen und über das erste weit erhabenen
Prinzip, demjenigen nämlich, wodurch sie sich zu einer (unsicht-
baren) Kirche bekennen, die alle Wohldenkenden in sich befasst,
und, ihrer wesentlichen Beschaffenheit nach, allein die wahre all-
gemeine sein kann".«)
Wir stosseu hier wieder auf eine Art von Antinomie : Die Ver-
nunft giebt uns einerseits selbst einen ethischen Zusammenschluss
auf, der nur möglich ist durch die Kirche mit einem historischen
Glauben, der auch Offenbarungsglaube heisst; und doch steht es
auf der anderen Seite unabweislich fest: „Die enge Pforte und
der schmale Weg, der zum Leben führt, ist der des guten Lebens-
wandels ; die weite Pforte und der breite Weg, den viele wandeln,
ist die Kirche. Nicht als ob es an ihr und ihren Satzungen liege,
dass Menschen verloren werden, sondern dass das Gehen in die-
selbe und Bekenntnis ihrer Statute oder Oelebrierung ihrer Ge-
bräuche für die Art genommen wird, durch die Gott eigentlich
gedient sein will." ^) Um relic^iös zu werden also bedürfen wir
dieses Zusammenschlusses, und doch fängt wahre Religiosität erst
da an, wo die Kirche aufhört.
Damit haben wir aber die Auflösung auch dieser Autonomie
bereits angedeutet. Die Konstitution des ethischen gemeinen
1) a. a. 0. S. 272.
2) a. a. 0. S. 276 f.
^ a. a. 0. S. 268.
Luther und Kant. 469
Wesens geht zwar aus von einem historischen Grlauben, ist histo-
risch also auf ihm basiert; aber doch nicht vemunftnotw^dig mit
ihm verknüpft oder gar rechtlich auf ihm gegründet. Unter dem
Gesichtspunkte der Vernunft und der wahren Vernunftreligion be-
trachtet, ist der historische Glaube „etwas an sich Gleichgiltiges,
mit dem man es halten kann, wie man will" ... er ist „tot an
ihm selber, d. i. für sich als Bekenntnis betrachtet, enthält er
nichts, führt auch auf nichts, was einen moralischen Wert für
uns hätte". *) Allein, wenn er auch keinen Wert an sich hat,
so hat er doch Wert als Mittel, als „Vehikel", bei der „Absicht,
einen Glauben zu introduzieren", in unserem Falle den Vemunft-
glauben zu introduzieren, da der Mensch „zu den höchsten Ver-
nnnftbegriffen und Gründen immer etwas Siunlich-Haltbares** zu
wünschen pflegt, wozu „irgend ein historischer Kirchenglaube, den
man auch gemeiniglich schon vor sich findet, benutzt werden
muss".') Dieser ist zu dem Zweck allein wertvoll. Und so
kommt alles darauf an, ihm nur ja keinen Wert an sich selbst
beizulegen, oder gar ihn höher zu stellen, als den in einem guten
Lebenswandel sich bethätigenden Gesinnungsglauben, vielmehr ist er
lediglich als ein Vehikel zur Mitteilung sittlicher Ideen,
um zum guten Lebenswandel die Menschen heranzu-
bilden, zu betrachten; und ohne ihm etwelchen zur
Heuchelei führenden Zwang auf unsere theoretischen
Überzeugungen zu verstatten. Nur so dürfen wir er-
warten, dass er einen Zweck erfüllen wird, und, dass wir werden
ihn „endlich entbehren können". 3)
Dann wird das „Pfaffentum" und der „Afterdienst Gottes"
ins Nichts zurücksinken. „Der erniedrigende Unterschied zwischen
Laien und Klerikern hört auf, und Gleichheit entspringt aus der
wahren Freiheit, jedoch ohne Anarchie, weil ein Jeder zwar dem
(nicht statutarischen) Gesetz gehorcht, das er sich selbst vor-
schreibt, das er aber zugleich als den ihm durch Vernunft geoffen-
barten Willen des Weltherrschers ansehen muss, der alle unter
einer gemeinschaftlichen Regierung unsichtbarer Weise in
einem Staate verbindet, welcher durch die sichtbare Kirche vor-
her dürftig vorgestellt und vorbereitet war."*) So wird das Wort
1) a. a. 0. S. 209.
2) a. a. 0. S. 207.
«) a. a. 0. S. 213.
*) a. a. O. S. 220.
470 B. Banch,
des Lukas «rfollt sein, der da sagt: „Das Reich Gottes kommt
nicht in sichtbarer Gestalt. Man wird auch nicht sagen: siehe,
hi&r oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig
in euch.'*^
Kapitel VI.
Der Vergleich.
Wir haben die moral- und religionsphilosophischen Ânschau-
ongen Kants, soweit sie für unseren Znsammenhang von Bedeutun;
und Interesse sind, dargestellt. Es bleibt uns nunmehr bloss uocQ
übrig, sie denen Luthers gegenüberzuhalten, sie dem gegenüber-
zustellen, was wir als Resultat unserer Untersuchungen über
Luthers ethisch-religiöses Denken ermittelt hatten. Es besteht
natürlich nicht bloss Übereinstimmung, sondern auch Gegensätz-
lichkeit zwischen Beiden. Aber der Gegensatz zwischen Luther
und Kant ist in Luther selbst schon derart angelegt, dass seioe
(''berwindung zur Übereinstimmung führt, wenn diese auch nicht
vollständige Deckung bedeutet.
Wir beginnen mit den Gegensätzen, und stellen dann die
übereinstimmenden Momente dar:
§ 21.
Der inhaltliche Gegensatz.
Wenn wir die Bemerkungen, in denen wir die Darstellung
dor Kantischen Gedanken beschlossen haben, mit denen vergleichen,
diinîh die wir die Darlegung der Lutherischen Ideen einleiteten,
i«o zeigt sich ein ungeheurer Abstand: Auf Seiten Luthers ein
utaner Dogmatismus, ein hartnäckiger Schrift- und Buchstaben-
IfUulio, auf Seiten Kants eine Überwindung des „an sich toten**
HrJiriftglaubens durch die Vernunft, eine entschiedene Ablehnung
d«Mi Orthodoxismus und Dogmatismus. Luther hält mit onnach-
tfloliigor Starrheit fest an dem Schriftglauben und misst ihm nicht
tilfftoM i^iiwn ungemein hohen, sondern einen absoluten Wert bei;
K^fit hält ihn im günstigsten Falle für ein Vehikel der Mitteilung
dor nlltliclHUi Ideen, von dem man hoffen muss, dass man es wird
h M H, O. s. 235; hier verweist Kant direkt auf die angeführte
Luther und Kant. 471
„endlich entbehren können**. Das ist der eine Gegensatz. Es
ist aber noch ein zweiter bemerkbar.
§ 22.
Der methodische Gegensatz.
Unsere Darstellung hat keinen Zweifel mehr darüber ge-
lassen, dass Kant die Religion allein auf Moral, also auf Vernunft
gründen will. Alles Frohlocken, das sich von Zeit zu Zeit hat
verlauten lassen, Kant habe die kalte Vernunft aus der Religion
gebannt, und diese ganz und gar dem warmen menschlichen
Herzen überlassen, hat Grund, sich vorsichtiger und behutsamer
zu äussern. Es hat zwar Recht, wenn es mit den „Rechten des
Herzens" den guten Willen meint, in den Kant alle Religiosität
gesetzt habe. Aber Unrecht hat es, wenn es meint. Kaut habe
damit das Gebiet der Religion von dem der Vernunft getrennt.
Er konnte ja die Religion allein in den guten Willen setzen, in-
dem er sie auf Vernunft gründete.
Dadurch unterscheidet er sich in der Methode von Luther.
Dieser kennt das Ausgehen vom Moralgesetz der Vernunft nicht,
sondern setzt einfach Sittlichkeit und Gottwohlgefälligkeit in Eins,
während der Philosoph erst vom Begriff der Pflicht und vom
Moralgesetze zur Idee der Gottheit gelangt, und so allerdings auch
Sittlichkeit und Gottwohlgefälligkeit, oder Pflicht und göttliches
Gebot in Eins setzen kann. Darum- ist dieser Gegensatz nur me-
thodisch, nicht inhaltlich, und hat nicht die sachliche Zuspitzung,
wie etwa die jetzt öfters beliebte Gegenüberstellung von theolo-
gischer und philosophischer Ethik, die eigentlich Luther, eben
weil er sie nicht kennt, schon hinter sich gelassen hat. Das
Werden wir erkennen, wenn wir nun die Übereinstimmung zwisch'^n
dem Reformator und dem Philosophen behandeln.
§ 23.
iMe von Luther angebahnte und von Kant vollzogene Überwindung
des Gegensatzes von theologischer und philosophischer Ethik.
Man hat in der philosophischen Ethik gerade wegen ihres
Ausgehens vom Moralgesetze und nicht von der Idee Gottes etwas
Selbstisches gesehen 0 und ihr, im scholastischen Nachklang,, eine
') So auch Tjuthardt in „die Ethik Luthers". Vgl. besonders die Ein-
leitung. £s versteht sich von selbst, dass nicht etwa die ganze Theologie
^;egen die Philosophie diesen Vorwurf erhebt.
472 B. Bauch,
zweite, das umgekehrte Verfahren einschlagende and darum sdbst-
loser sein sollende Ethik als ^^theologische Ethik** gegrafiber ge-
stellt. Mau hat darin nicht bloss einen methodischen, sondern,
wie die Form des Vorwurfs schon zeigt, einen prinzipiellen und
innerlichen Gegensatz zwischen theologischer und philosophischer
Ethik gesehen. Wie nnberechtigt aber der Vorwurf des Selbsti-
schen gegen die „philosophische Ethik"* ist, kann keinem auch nur
im mindesten zweifelhaft sein, der die Stellung der »philosophischen
Ethik** zu den „selbstischeu"* Triebfedern auch nur mit einigem
Verständnis erwogen hat; keinem, der mit etwas Überlegung die
Abweisung aller Selbstsucht aus der Moral durch Kant, seine Ab-
lehnung des Glückseligkeitsprinzips als Moralprinzip in Betracht
gezogen hat. Und da in der That die Notwendigkeit des Ean-
tischen Verfahrens, die Moral und weiterhin auch die Religion auf
Autonomie und nicht auf Heteronomie zn gründen, so evident ist,
wird man es Kant angesichts solcher Vorwürfe, in seinem Ve^
fahren liege etwas Selbstisches, nicht verübeln kOnnen, wenn er
von der Trennung der philosophischen nnd theologischen Ethik
nichts wissen will, ja wenn er nnwirrsch wird nnd meint: es
könnte im Ernst gar nicht die Meinung der Theologen sein, dass
ihr durchaus unhaltbares Verfahren, nicht nur logisch richtiger,
sondern auch sittlich-vornehmer (eben weil selbstloser) sei. Nicht
gerade liebenswürdig sagt er von der Widerlegung des theologischen
Verfahrens: „Sie ist so leicht, sie ist von denen, deren Amt es
erfordert, sich doch für eine dieser (seil, heteronom-theonomen)
Theorieen zu erklären (weil Zuhörer den Aufschub des Urteils
nicht wohl leiden mögen), selbst vermutlich so wohl eingesehen,
dass dadurch nur überflüssige Arbeit geschehen würde.** 0
Es ist ja in der That einem einigermassen zur Einsicht ge-
neigten guten Willen schwer möglich, in der philosophischen Be-
gründung der Autonomie, die alles Selbstische so energisch, wie
nur möglich, abweist, die eben nur handeln „aus Pflicht" und
„aus Achtung fürs Gesetz" — das eben, weil es Gesetz, zugleich
auch göttliches Gebot ist — als sittlich gelten lässt, etwas Selb-
stisches zu sehen. Denn jeder Einsichtige muss inné werden —
wir wiederholen hier nur, was wir schon gelegentlich derselböi
Vorwürfe gegen Luther sagten — , dass Freiheit nicht Willkühr,
1) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten S. 291. In Wahrheit ist
ja die theologische Argumentation durch die ganze autonome Etbik
widerlegt.
Luther und Kant. 473
dass die überindividuelle Gesetzgebung durch autonome Vernunft
nicht Zügellosigkeit, dass die freie und darum einzig wahre Ge-
wissenhaftigkeit nicht Gewissenlosigkeit ist.
Es wäre wahrscheinlich, dass Luther, obwohl gegen ihn ge-
nau derselbe Voi'wurf erhoben wurde, doch bei seiner Abneigung
gegen alle Philosophie, vor allem bei seiner direkten Beziehung
des persönlichen Willens auf den göttlichen Willen und bei seinem
Ausgehen von der Gottwohlgefälligkeit als dem höchsten sittlichen
Prinzip, denselben Gegensatz zur philosophischen Ethik darstellte.
Es scheint, als ob er selbst hier Kant diametral gegenüberstehe,
der ja in seiner „philosophischen Ethik" vom Moralgesetze aus-
geht und dessen Ableitung aus der Idee Gottes als einen Zirkel
im Erklären und aller wahren Moralität hinderlich nicht gelten
lässt, sondern erst von der Idee des Sittengesetzes zu der der
Gottheit gelangt.
Wenn wir uns aber nicht bei diesem ersten Schein beruhigen,
sondern etwas tiefer in die Gedanken beider eindringen, so sehen
wir, dass zwischen Luther und Kant dieser schroffe Gegensatz
nicht besteht, sondern selbst hier schon eine gewisse Einstimmung
herrscht.
Luther fühlt und denkt nämlich viel zu wenig scholastisch,^)
viel zu natürlich und ungekünstelt, um zwischen die Person und
die GottwohlgefäUigkeit noch als etwas spezifisch Verschie-
denes die Moralgesetzlichkeit einzuschieben, und so kommt es
ihm gar nicht in den Sinn, diese aus der Idee Gottes zu dedu-
zieren. Der gute Mensch ist für ihn eben auch der gottgefällige
Mensch, und der gottgefällige Mensch ist auch der gute Mensch.
Indem er die Moralität nicht auf der Idee Gottes zu gründen
sucht, setzt er Pflicht und Gottgefälligkeit in Eins. Und so
kommt Luther auch hier Kant schon viel näher, als jene Bich-
tangen, welche die Gewissensfreiheit konsequenterweise nicht
gelten lassen könnten, indem sie dem alle wahre Religion und
Moral vernichtenden heteronomen Moralprinzip durch den falschen
Schein grösserer Vornehmheit Knfluss zu verschaffen suchen.
In der Anlage ist also schon bei Luther die Überwindung des
^) Der ganze Gegensatz ist ja nur scholastische Nachgeburt, die
man je eher, desto besser abstossen soUte. Denu theoretisch ist er un-
haltbar, und praktisch führt er ganz unnötigerweise zu einer unfriedlichen
Spannung zwischen Theologie und Philosophie, wie ja aus mancherlei
gegenseitigen Vorwürfen erheUt.
474 B. Bauch,
künstlichen Gegensatzes von „theologischer^ und „philosophischer
Ethik'' enthalten, der leider nachträglich noch besonders schroff
ausgeprägt wurde. Aber anch nor der Anlage nach. Denn zur
vollendeten Überwindung hätte eben nicht bloss die luetische imd
praktische Ineinssetzung der scheinbar antithetischen Glieder ge-
hört, sondern die bewusste und kritisch-begriffliche. Dazu ab«r
lag ihm die eben begriffliche Einsicht Kants zu fem, dass es ver
fehlt und unvernünftig sei, die Sittlichkeit „aus dem Üieologischoi
Begriff von einem göttlichen allervollkommensten Willen atoD-
leiten, nicht bloss deswegen, weil wir seine Vollkommenheit dodi
nicht anschauen, sondern sie von unseren Begriffen, unter denen
der der Sittlichkeit der vornehmste ist, allein ableiten können,
sondern weil, wenn wir dieses nicht thun (wie es denn, wenn es
geschähe, ein grober Zirkel im Erklären sein würde), der uns
noch übrige Begriff seines Willens ans den Eigenschaften iet
Ehr- und Herrschbegierde, mit den furchtbaren Vorstellungen der
Macht und des Nacheifers verbunden, zu einem System der Sitten,
welches der Moralität gerade entgegengesetzt wäre, die Grundlage
machen müsste.** ^) Aber das Wertvolle an Luther ist hier schon,
dass er an die verkehrte Ableitung gar nicht denkt, geschweige
sie versucht. Seine Abneigung gegen die Philosophie ist hier ein
Verdienst um die Philosophie und die Moral, er hat sich den
Fehler der Scholastik erspart, den sittlichen Menschen in einen
erkünstelten Gegensatz zum religiösen Menschen zu bringen, wie
es doch durch die Gegenüberstellung von theologischer und phüo-
sophischer Ethik geschieht (jenem Nachklang der Lehre von der
zweierlei Wahrheit). Im tiefsten Grunde seiner freien Seele ist
ihm das Ziel der Gottgefälligkeit zunächst ein Faktum seines
sittlich-religiösen Gemütes, das er aber, eben weil er ihm selbst
allgemeiugiltigeu Wert zuerkennt, zum Faktum der Vernunft e^
hebt, wenn man unter vernünftig sein nichts Anderes, als all-
gemeingiltig sein versteht. Freilich der begriffliche Ausbau dessen,
was Luther fühlte und in seinem Fühlen der Menschheit offen-
barte, blieb Kant vorbehalten, der eben auch begrifflich auf dem
autonomen, nicht-theologischen Prinzip die Moral und Religion be-
gründete, der nicht nur innerlich, gemütlich den Gegensatz Ton
theologischer und philosophischer Ethik überwand, wie Luther;
sondern auch begrifflich-kritisch dieser Überwindung ihr Recht
1) a. a. 0. S. 291. Vgl. oben S. 469.
Luther und Kant. 476
sicherte and wahrte. Er zeigte, wie man allein von der Idee des
Moralgesetzes zu der der Gottheit gelangen könne, and wie man
dann, nar aaf jenem fassend, die Pflichten als göttliche Gebote zn
betrachten vermöge. So schwand aller Unterschied zwischen
Pflicht und göttlichem Gebot; der gute Lebenswandel erhielt seine
verdiente Würdigung auch de jure, die ihm Luther de facto ge-
geben hatte. Unter spekulativem Betracht stehen Luther und
Kant unendlich \)^eit aus einander. Praktisch aber sind sie ein-
stimmig, insofern Luther unbewusst, aus reinem, natürlichen, reli-
giösen Gefühl heraus Pflicht uud göttUches Gebot nicht schied,
und Kant mit Bewusstsein, auf Vernunftgründe gestützt, alle sonst
fälschlich unternommene Scheidung aufhob.
Das aber konnte jeder in seiner Art doch nur unter Voraus-
setzung gewisser Prinzipien, und so musste eben doch auch bereits
eine prinzipielle Einstimmung bestehen. Wir kennen diese Prin-
zipien. Schon durch die gesonderte Darstellung wird ihre Ver-
wandtschaft klar geworden sein. Durch eine kurze Gegenüber-
stellung wird sie nur noch deutlicher werden.
§ 24.
Die prinzipielle Verinnerlichung und die Autonomie.
Gerade durch den Verzicht auf die nicht bloss ethisch, son-
dern auch logisch verkehrte Scholastik, die auch noch in der
Gegenüberstellung von theologischer und philosophischer Ethik
zum Ausdruck kommt, sollte Luther so gross werden. Denn be-
sonders dadurch wurde seine Moral und Religion die Moral
und Religion der Verinnerlichung. An diesem Punkte
kommen Kant und Luther aufs innigste zusammen, und diese Be-
gegnung der Anschauungen ist eine durch und durch prinzipielle.
Wir hatten den Reformator im Schriftglauben stecken bleiben
sehen, wir hatten betont, wie er diesen nach Kant „an sich toten"
Schriftglauben nie völlig überwand und überwinden konnte.
Und doch überwand er ihn bis zu einem gewissen Grade,
Dämlich insofern er wirklich ein toter Glaube ist. Denn „an
sich" war dieser Buchstabenglaube auch für Luther „tot", und
er verlebendigte ihn durch die Gesinnung ; und besonders dadurch,
dass er das Gewissen des Einzelnen als die letzte und oberste
Instanz der Auslegung ansah. Keine menschliche Autorität, keine
vornehme, hohe Stellung, kein Amt, keine Würde, sondern allein
der „rechte Verstand" des guten und frommen, tugendhaften
476 B. Bauch, *
Menschen giebt den letzten und höchsten Bescheid in der Dentmig.O
Und damit ward in letzter Linie wenigstens die Aadegang dee
Scbriftglaubens der sittlichen Person und ihrem Qewissen anheim-
gestellt, und dadurch ward das Gewissen selber freigegeben, dem
Joche der heteronomen Autorität enthoben. Zweierlei Glanbai,
den inhaltlichen und den praktischen Glauben des freien Gewissens,
den „reinen Herzensglauben^, wie er ihn nennt, konnten wir bei
Lnther unterscheiden. Und dieser praktische, reine Herzensglaibe
der Persönlichkeit bildete nun das Fundament, anf dem er die
Verinnerlichung von Moral und Religion vollzog. In dies^
Glauben fand er die Direktive fürs Handeln, er bestimmte, was
Pflicht wäre, was göttliches Gebot wäre; denn dieser Glaube war
ja von vornherein Eins mit der Liebe, d. h. mit dem festen
Willen und der innerlichsten Gesinnung, seine Pflicht, d. i. Gottes
Gebot, zu erfüllen. Und eben weil dieser Glaube selbst des
Menschen Innerlichstes ist, in dem kein anderer für ihn einstehen,
ihn vertreten und ersetzen kann, kann er anch allein von der
Person selbst ausgehen ; nur sie vermag über ihr Thnn nnd Lassen,
über Pflicht, Gebot und Verbot zu entscheiden. „Da steht jeder
Einzelne für sich allein, sein Glaube wird verlangt,
jeder soll für sich Rechenschaft ablegen und seine Last
tragen.**^) „Keine guten Werke" also, sondern allein „der
Glaube des Herzens", in dem „alle Werke gehen und geschehen"
müssen, weil sie „an sich" nichts sind und erst durch den
Glauben Wert erlangen, entscheiden also über den Wert dar
Person. „Die Person muss zuvor gut sein, damit gute Werke ans-
gehen können von ihr", nicht aber kann das Werk auch nur das
Geringste bedeuten, den kleinsten Wert haben, wenn ihn nicht
zuvor die Person hat durch ihren guten Glauben, ihre Gesinnung.')
Damit hat Luther seinen Standpunkt aufs deutlichste gekenn-
zeichnet, von dem aus er voll hohen sittlichen Stolzes die äusse^
liehe Werkgerechtigkeit abwies, und allen Wert in den „frommen
guten Manu" selbst zurücknahm und in dessen Willen. Die sitt-
liche Eigenkraft und Eigenbethätigung muss das Handeln aus dem
Innersten des Menschen, wie wir sagten, autogen, hervortreiben.
Wenn wir nun zurückdenken an Kant, wie er von dem
Glauben der Persönlichkeit, dass jede andere in ihrer Lage sollte
1) Vgl. dazu § 2 und § 3.
^ Vgl. das zweit« Kapitel besonders § 7 und § 8.
») Vgl. ebenfaUs § 8.
Luther und Kant. 477
ebenso handeln wollen, wie sie selbst, den ganzen sittlichen Wert
der Handlung abhäng machte, wenn wir jetzt sein Wort: „Was
nicht in diesem Glauben geschieht, das ist Sünde", weil ,. sonst
der Mensch bei lauter guten Handlungen dennoch böse ist", ») in
Erwägung ziehen, wenn wir weiter in Erinnerung bringen, dass
ihm „überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch ausser der-
selben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnten
fehalten werden, als allein ein guter Wille", '-^ wie es ihm eben-
deshalb nicht ankommt auf „die Handlungen, die man sieht, son-
dern auf jene inneren Prinzipien derselben, die man nicht sieht", ^)
d. h. ganz altein auf die Maxime des guten Willens der autonomen
Persönlichkeit und wie darum auch für ihn das Gute „in der
Person selbst schon gegenwärtig ist, die darnach handelt,
nicht aber allererst aus der Wirkung erwartet werden
darf"; wenn wir uns alles dessen erinnern, so werden wir
keinen Augenblick anstehen, in diesem Grundzuge der Kantischen
Ethik auch den der ethischen Anschauungsweise Luthers wieder
zu erkennen. Den äusseren Erfolg, das Werk achten beide gering,
ja mit einer gewissen Verächtlichkeit sprechen sie davon. Aber alles
ist ihnen der innere Glaube der Person; der Glaube: im
Wirken und in der Bethätigung, folge was es auch sei, seine
Pflicht als göttliches Gebot zu erfüllen ; und zwar aus keinem an-
deren Grunde, als um der Pflicht, als um des göttlichen Gebotes
selbst willen. Denn auch das ist Luther und Kant in gleicher
Weise eigen, dass sie verlangen, Pflicht und göttliches Gebot als
Selbstzweck zu betrachten. Kant hat dafür die Formulierung mit
absoluter Deutlichkeit gegeben. Er sagt es ausdrücklich die:
Pflicht müsse als „Selbstzweck" angesehen werden; und implizite
liegt es in der Forderung: wir müssten „aus Pflicht" und „aus
Achtung fürs Gesetz" handeln, um sittlich zu sein. Nicht mit
dieser begrifflichen Deutlichkeit, und doch unverkennbar stellt
Luther die gleiche Forderung. Was der Reformator hier tief und
richtig gefühlt, und aus diesem Gefühle heraus gefordert hatte,
das hat der Philosoph in das helle Licht der Vernunft gerückt,
auf unabweisliche vernünftige Begriffe gebracht. In seinem ethi-
schen Prinzip hat er in der That das „Faktum der reinen Ver-
nunft" als das Moralgesetz mit absoluter Evidenz aufgewiesen
1) Die Religion imierhalb der Grenzen der blossen Venmnft 8.124 o. 125.
2; Gmndleinmg zur Metaphysik der Sitten S. 241; vgl. § 16.
s) Vgl. ebenfalls § 16.
478
B. Bauch,
eine™
und befestigt im Begriffe der Autonomie der sittlichen Persunlich-
keit Die Antonoiiiie ist, um mit Luther zu reden, das Einzig
das bis an die Seele reicht, weil es in der Seele selber seine
Wurzeln hat, und darnm ist das Prinzip der Autonomie zugleich
das Prinzip um- Verinnerlichung auf dem Boden der Vernunft,
Luthers Forderung des autogeuen Handelns ist durch den Begriff
der Gesetzgebung zur Idee des autouomeu Haudelns eutwickelt,
Der Begriff der Verinnerlich ung hat dadurch seinen besten, ver-
nünftigen Sinn erhalten; er hat nichts zu thnn mit dem, was
Kant ^schmelzende Schwärmerei'' oder den „angeuanfschlageudeu
kriechenden Religiünswahu" nenot, worin die „Andäehtler** das
Wesen der Verinnerlichung sähen. ^Ê
Aus dieser prinzi|deUen l^t»eniiislimraung wird noch einmar^
— um knrz auf den vorigen Paragraph zurückzublicken — gÄna^
klar, uicht bloss dass^ sondern auch warum zwischen Kant unlf
Luther nicht der schroffe Gegensatz von theologischer und philo-
sophischer Ethik bestehen kann, wie man auf den ersten Blick zu
glauben geneigt sein mag ; dass viehtiehr, genau, wie wir es vor-
bin bemerkten, durch Luther gefüblsmässig die Anbahnung und
durch Kant begrifflich die vollkommene Überwindung dieses Gegen-
Satzes — es versteht sich nach dieser Formulierung, dass wir di^^
Überwindung nicht historisch, sundeni kritisch fassen — vol^
zogen ward; eben durch ihre Prinzipien, das der sittlichen Ver-
innerlichung und das der sittlichen Awtononiie, die beide praktisi
auf Eins tendieren,
Aber nicht allein in diesem fundamentalen und centralen
Prinzip der Autonomie und der Verinnerlichung durch die Auf-
nahme der sittlichen Wertentscheid uug in deu Willeu, den Glauben,
die Gesinnung, kui*z in die Person allein, auch nicht bloss durch
die aus dem Prinzip folgende Ablehnung des Äusserlichen
Gleissenden^ des „Werkes", wie Luther, nnd des „Erfolges'',
Kaut sagt., treffen beide zusammen. Auch in der femeren Ai
bihluug und Weiterbildung^) ihres centralsteu Grundsatzes stimmen
sie nach mancher und zwar nach jeder wichtigen Hinsicht überein,
Dass, wie auch bisher immer schon betont, Luther viel mehr gfe
a^^
') Wir müSÄen natürlich die ZuaammenfasHung des Gemeinsarai
beider Lehren in ganz anderer Reilienfol|je beliandeln, als es in der aus-
führlichen DÄrstelJuiiir der einzelnen für sich stand, T>enn im Zusammeii-
htiniçi^ der einsselnen Anschauung hat es eben selbst beidemal eine and«
HWÀÏnng,
Luther und Kant. 479
fühlsmässig das erreicht, was er erreicht, Kant dagegen durch die
Schärfe und den Glanz des kritisch-klaren Gedankens zu seinem
Ziele gelangt, das thut der inhaltlichen Übereinstimmung keinen
Eintrag.
§ 25.
Die sittliche Irrelevanz von Glück und Verdienst.
Das Streben nach Pflichterfüllung, wie Kant sagt, nach
Gottwohlgefälligkeit in Luthers Sprache, oder um beides in Kan-
tischer Weise zu vereinigen, seine Pflicht als göttliches Gebot zu
erfüllen, ist für den Reformator, wie für den Philosophen die
höchste Aufgabe des sittlich-religiösen Menschen. Es ist aber, wie
die Pflicht selbst, nicht bloss höchster, sondern auch einziger
Zweck. Darum kann alles Streben, das nicht auf dieses Ziel ge-
richtet ist, schlechterdings nicht sittlich wertvoll sein. Das liegt
ohne weiteres auf der Hand. Ist sittlich und religiös wertvoll
nur, was aus Pflicht geschieht — ein auch dem gemeinen Ver-
stände einleuchtender Satz — so kann, was nicht aus dem Be-
wusstsein der Pflicht heraus geschieht, auch nicht sittlich sein.
Das ist ein analytisches Urteil.
Daraus wird nun klar, dass weder unter noch über, weder
diesseits noch jenseits der Sphäre der Pflicht ein Sphäre des Sitt-
lich-Wertvollen bestehen kann.
Unterhalb der Pflicht, kann man sagen, steht unsere Selbst-
sacht, das Verlangen, uns glücklich zu machen, unser Glück zu
sichern, kurz unser auf Pflicht nicht Rücksicht nehmendes Streben
nach Glückseligkeit. Es ist bis zu einem gewissen Grade merk-
würdig, wie diese sehr einfache Einsicht Kants, dass Tugend und
Qlück ohne weiteres auf einem ganz anderen Boden, sozusagen auf
einem ganz anderen Brett stehen, nichts mit einander zu thun
haben, soviel Schrecken anrichten konnte, da sie doch so nahe
lieg^. Bloss der unwiderlegliche Nachweis, dass die Glückseligkeit,
ohne etwa mit der Sittlichkeit in geradem Widerspruch zu stehen^
doch absolut irrelevant für die moralische Wertkategorie ist,
brachte unter einem behäbigen Moralphilisterium schon zu Zeiten
Kants jähen Schrecken hervor. Wohl nur deshalb, weil es sich eben
recht gemächlich an Tugend und Pflicht denken lässt, wenn man
nicht in ihr ernstes Antlitz schaut, sondern dabei Ueber nach dem
Lächeln des Glückes schielt. Aber merkwürdig bleibt es dennoch,
dass Kants so nahe liegende Erkenntnis gar so sehr überraschte,
Kantstadien IX. 31
480 B. Banck,
and fast noch merkwfirdi^r ist es, dass nicht aaeh schon Lather
der menschlichen Behäbigkeit and Gemächlichkeit denselben
»Schrecken eingejagt hat. Denn streng genommen ist er der erste,
der es antemahm, den alten, liebgewonnenen Tranm, dass Tagend
and Glück immer hübsch freandschaftlich und nnzertrennlich in
der Moral Hand in Hand gehen müssten, zn zerstören. Freilich
die scharfe Herausarbeitung des Problems, die streng begriffliche
Scheidung von Moralität und Glückseligkeit, die klare Reinigung
der Ideen ist Kants Verdienst. Aber faktisch und praktisch hat
Luther die Unterscheidung nicht minder gemacht, wie Kant, hat
er nicht minder, wie der Philosoph, alle Selbstsucht als sittUch
wert- und belanglos gekennzeichnet. Nicht wie Kant zwar ver-
mag er zu zeigen, dass die Selbstsucht oder das Glückseligkeits-
streben immer in materialen Bestimmungsgründen des Willens ge-
gründet sei, Objekte fordere und darum zu einem allgemeingiltigen
Moralprinzip nicht dienen könne. Aber die, welche das Wohl-
gefallen Gottes um eines Gewinnes und Nutzens willen suchen,
charakterisiert er als „Geniesssüchtige'' und lässt ihr selbstisches
Treiben nicht als wertvoll und gottgefällig gelten. Das ist eben
nur der, der nicht „das Seine sucht". Wahrhaft fromme und
gute Menschen werden ,.ohue Lohn oder Geniess Gott suchen,
um seiner blossen Güte willen, nichts begehren, denn sein Wohl-
gefallen". 0
Die Übereinstimmung mit Kant wird aber noch frappanter.
Wir erinnern uns, dass Kant, so sehr er, genau wie Luther, die
Selbstsucht oder das Glückseligkeitsstreben als sittlichen Bestim-
mungsgrund abwies, doch im Begriff des höchsten Gutes eine
Verbindung von Tugend und Glück konstruierte. Diese Verbindung^
sollte aber keine analytische sein. Das helsst: Die Glückseligkeit:^
durfte weder Bestimmungsgrund des Willens sein und als „Be—
Wegursache zu Maximen der Tugend" angesehen werden oder gar,
narJi epikurischer Auffassung, selbst schon als Tugend gelten,
mdi konnte, nach stoischer Auffassung, die Glückseligkeit „schon
im Bowusstsein seiner Tugend enthalten" sein. Ihre Verbindung
iHt', nach Kant, vielmehr eine synthetische, ,. vermittels eines in-
iMlÜKibleii Urhebers der Natur", durch welchen dem Tugendhaften
und (It^H (Glückes Würdigen, ohne dass er sich um diese kümmert,
di<* (ilücksoligkeit, wenn er nur nach Tugend strebt, schon zuge-
i) VkI. oben § 8.
Luther und Kant. 481
»en werden wird. 0 Genau so deukt Luther: die Guten dienen
t „allein um seinetwillen und nicht um des Himmels willen,
h um kein zeitlich Ding. Und wenn sie schon wüssten, dass
a Himmel, noch keine Hölle, noch keine Belohnung wäre, den-
h wollten sie Gott dienen um seinetwillen", während die „Ge-
jssüchtigen" und selbstischen Menschen sie ^lehren ihre Werke
n, dass sie der Hölle entgehen und selig werden". Das „aber
Gott nicht lauter, sondern aus Eigennutz gesucht". Die aber
um und gut sind, ohne Lohn und Seligkeit zu verlangen, denen
d Lohn und Seligkeit doch nicht ausbleiben. „Der Lohn wird
1 selbst finden, dafür nicht sorgend, und ohne unser Ge-
ih folgen. Denn wiewohl es nicht möglich ist, dass der Lohn
tit folge, so wir Gott lauter aus reinem Geiste, ohne allen
in und Geniess suchen, so will doch Gott dieselbigen Menschen,
sich selbst und nicht Gott suchen, nicht haben, wird auch
)igen nimmer keinen Lohn geben."*) — Eine herrliche Über-
idung des Lohndienstes!
So lehnen Kant und Luther in gleicher Weise als wertvollen
rtimmungsgrund ab, was unterhalb der Pflicht und Tugend
lt. Aber auch was über diesen stehen soll, lassen sie nicht
sittlich- und religiös-wertvoll gelten. Das aber heisst: Sie er-
nen beide übereinstimmend erst nicht an, dass es überhaupt
as gebe, das über Pflicht und Tugend stünde, das höher wäre,
diese. Und ganz notwendig müssen sie das leugnen, eben
1 Pflicht und Tugend das höchste Ziel ist, das wir erstreben
en. Darum kann es kein noch höheres gebeiï. Der Wahn
sittlich-religiösen Verdienstes ist mit logischer Notwendigkeit
geschlossen. Wir haben gesehen, wie beide, Luther und Kant,
auf hinweisen, dass alles, was wir im besten Falle thun
nen, nichts ist, als Pflicht und Schuldigkeit. Luther hatte
Gedanken in der Bekämpfung der ganzen Werkgerechtigkeit
ugsam ausgeprägt. Ja selbst hinter Pflicht und Schuldigkeit
ben wir oft genug zurück, geschweige denn, dass wir mehr
ten sollten, ein Anspruch, der zugleich ein Widerspruch in sich
►er wäre. Nicht einmal die Heiligen, so hatten wir Luther
drücklich sagen hören, hätten hinreichend die göttlichen Ge-
3 erfüllt, ,ergo nihil prorsus fecerunt superabundans*. Und als
A) Vgl. § 16.
^ Vgl. § 8.
3l*
4fl2
B. Bamch,
lauter ^Gleissnerei" hatte Kant den Wahn hezeîchnet,
mehr als Pflicht und Schuldigkeit thun konnten. »)
dasK
§ 26.
Die Lebendigkeit der sittlichen Bethätigung
und das Auswirken der go tt gewirkten Anlage zum Guten
in der Personh'chkeit.
Es ist gegen Kant suwohK wie gegen Luther schun eilige
wandt worden: Aus der Zurücknahme der Weitentscheiduug ans
deuï „Erfolg**, d*Mii ^\V**rk**, kurz den „Handlungen, die man siehl\
in das Innere der iS'rson ntid deriii ,. Prinzipien, die man nicht
sieht", folge notwendig Pasjsivität und Thaleniosigkeit. 'Sum
Luther hätte die Leute, die solche Einwände machen, eines ß^s-
seren belehren können. Wir habr*n ihn ja darauf liinweisen sehf^iit
dass das Leben .jiimnier ruht**, dass es uns ewig in das Dräugeii
und Wogen des Ueschehens hineinstellt.*-; Mag es darum zwar
ohne sittlichen Belartg ninl Wert sein, w^as für uns sichtbarlicb
daraus folge, so nötigt uns doch uns Leben Tag für Tag, Stunde
für Stunde, von Augi-nblick zu Augenblick, Stellung zu nehmen
zu seinem Treiben, und wir können gar nicht thateulos bleiten^
Diese Stellungnahuie aber haben wir nach bestem (Glauben und
Gewissen einzuriehteu. (Jb die Werke gross oder klein sind, da*
rauf kommt nichts an ; nur dass sie im tTlaubeu gehen und ge-
schehen, daran liegt alles. Alles ist die Pflicht, und das Verdienst
ist Nichts. Cberhauitt den <j<\siniinngsgkuhen zu bethätigeu, wann
und wo es sei, und bei welcher Gelegenheit auch immer, das ist
unsere Aufgabe. Für die Gelegenheit selbst sorgt das Leben.
Kant erreicht durch die Aldehnnug aller materialen Willensbestin}-
mung, aller Inhaltticbkeit des Moralgesetzes, d. Il durch die Rela-
tivität aller Moruliiihalte, die auch Luther deutlich genug er-
kennt,'*) dasselbe; und in (uancher Hinsicht noch viel klarer. Ef
brauchte solchen EinwenduTiiren bloss entgegeuzulmlteD: wie in
aller Welt man nur aus seinem rein formalen Prinzip plötzlich
den Inhalt des Nichtsthuns ~ denn das wäre doch auch ein
Moralinhalt glaube deduzieren zu können; und weiter, d«*s
i, 6, 7, 8 und für Kant §§ U, K% 16.
Î) Vgl. für Luther
t) V^L § 10.
>) Wir eriunern un», wie er sagt, dass ^ viele Dinge vor Zeiten ffo^
gt^wemn jiind, und doch nun ärgerlich und schädlich^ als da sind Feiertag*
Klf<di#?ri*chttf/ und Zierden". Vgl § 10 bes. S. 415.
^^ I
Luther und Kant. 483
selbst di(^ser Inhalt erst die Probe des kategorischen Imperativs,
des Gevviss(^nsj2:laubeus bestehen niüsste, oder wie» IjUther sagt,
„dass selbst der Müssiggang in des Glanbens Übung und Werk"
geschehen müsste**.») Kaut hätte viel weniger die knechtische Pas-
sivität des Quietisnms brandmarken, sich noch weniger gegen das
Missverständnis, als predige er passive Krgebung, verwahren
können, als er es gethan, so hätte der Kinsichtige doch immer
noch erkennen können, dass die lebendige Bethätigung der Grund-
zug seiner Ethik ist.
Aus einem anderen Grunde dürfte man Luther, wie Kant,
denselben Einwand glauben machen zu dürfen. Und hier stossen
wir, soweit der Reformator uud der Philosoph auch sonst im all-
gemeinen unter metaphysischem Betracht aus einander gehen, auf
eine gemeinsame Vorstellungsweise rücksichtlich ihrer Religions-
metaphysik. Mag Luther das für Kant unerklärbare Böse in un-
serer Natur auf Teufelswirkung zurückgeführt haben, mag Kant
über den Teufelsglauben als eine Art des „Wahnsinns der
Schwärmerei" gelächelt und dem Irokesenknaben des P. Charlevoix
nicht nur gegen eben diesen P. Charlevoix, sondern im Prinzip
auch gegen Luther Recht gegeben haben mit seiner Frage, warum
Gott den Teufel nicht totschlage, — rücksichtlich der Anlage zum
Guten in unserer Natur gehen Kant und Luther nicht bloss aus
einander, sondern auch in gewisser Hinsicht mit einander.
Luthers Prädestinationslehre, die, so wenig abgeklärt und
widerspruchslos sie auch sein mag, doch immerhin durch das ge-
waltige Fühlen, in dem sich für ihn die Idee gebiert, eine mäch-
tige Vertiefung gegenüber allen früheren Versuchen bedeutet, kann
in gewisser Rücksicht wirklich in Parallele gesetzt werden zu
Kants Idee der Intelligibilität. Nicht nur, dass beide die empi-
rische Willensfreiheit ablehnten, dass sich beiden die Persönlich-
keit unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten, als „leiblich** und
^.geistlich** dem Reformator, als Person und intelligible Persönlich-
keit dem Philosophen darstellte, gilt sie ihnen — so verschieden
sie in der Begründung und Ausführung dieser Anschauung auch
sein mögen — als in ihren tiefsten Wurzeln mit der Gottheit
verknüpft.
Aus der Güte und Allwirksamkeit Gottes hatte Luther das Gute
im Menschen abgeleitet, sowenig er im Stande war, damit vollkommen
1) Vgl. ebenfalls § 10; fttr Kant bes. §§ 15, 17 und 20.
widei-spriichslos das Böse in Ubereiiistiiimmng zu bringen. Alles
GnUi in der Welt, auch das, welches wir wirken, wirkt Gott in
uns und durcli uns. Luther hatte diese Idee nm* durch seinen
naiyou erkenntnistheoretischen Standpunkt und durch die kirchliche
Onadenlehre vcrdunkelu und verkümiueni lassen. Die Gnaden-
lehre fand \m Kant in ihrer dogmatischen Gestaltung natürlich
keinen Platz, Dafür aber hatte er mit dem Begriff der Persfm-
lichkeit, ohne der Idee Gottes Eintrag zu thun, ohne die Menschen-
würde' im Mindesten herabzusetzen, eine grandiose, tiefgründige
Anschauung über die Anlage zur Persönlichkeit als Anlage zur
Achtung fürs Gesetz offenbart, indem er auf Gott als das „allge-
nugsame Wesen** und den Schöpfer der intelligiblen Welt diese
intelligible Anlage selbst zurückleitete. Eine o:e waltige Vertiefung
des sittlich-religiösen Wesens war dadurch gewonnen, die über-
natürlichen, aber in die Erscheinnngswelt eingreifenden Gnaden-
wirkungen waren mit analytischei* Notwendigkeit eliminiert, ehen
weil Gott nicht Schöpfer von Erscheinungen, soudern des Intelli- ^
gibien ist. Und die Auswirkung des Guten durch die Persönlich- - — ,
keit, w^elche die Welt der Erscheinungen mit der intelligiblen ver-
bindet, indem sie in ihrer eigenen Intelligibilität jene dnrch_-ÄZ3
ihre Spontaneität schafft, und damit, wie Kant sagt,
die Persönlichkeit auch die Person bestimmt, war er-
möglicht.!)
Himmelweit verschieden siud Luther und Kant in der Aus -^s-
führung und Ausgestaltung der Idee, das Gute auf Gott als da*^" ^S
^allwirksame^j wie der Reformator, auf das „allgenugsanie** Weseu^^-3,
wie der Philosoph sagt, zurückzuführen ; so verschieden wie de: ^s^r
dogmatische Gnadenbegriff von dem der lutelligibilitÄt selbsti^Pt*
Und doch haben beide die Idee gemeinsam, ^Ê
Und w^eiter eignet ihnen, in gleicher Weise, das Ziel, de^^f
Persönlichkeit, trotzdem deren Anlage zum Guten göttliche c
Wirkung ist, die moralische Selbständigkeit zn wahren. Luth^=?r
versucht das — freilich nicht ohne logischen Zirkel ^, indem ^r
ein Sich-Empfänglich-Machen für die Gnade statuiert. Grossartmii'
und tief hat es Kant schon durch seine Unterscheidung von Per-
sönlichkeit und Person erreicht. Und in tieferer Übereinstimrauo^
fordern beide das Auswarken des Guten durch die Gesinnung und
den guten WiDen im lebendigen Leben. Blosse Passivität findet
bei keinem Platz.
*) y gl § l^
Luther und Kant. 486
Also nicht bloss in der Art, wie Luther und Kant das Gute
auf die Gottheit zurückführen, sondern auch darin, wie sie der
Persönlichkeit (und damit, nach Kant, auch der Person) die sitt-
liche Selbständigkeit sichern wollen, gehen sie weit aus einander.
Luther greift ein kirchliches Dogma auf, vertieft es zwar so, dass
seine neue Lehre auch hier mit der alten kaum noch etwas zu
thun hat. >) Aber er gerät dafür in einen seltsamen Zirkel, aus
dem er sich nicht befreien kann. Eine unvergleichlich tiefere und
grossartigere Ansicht eröffnet Kant; eine Idee von ungeheurer
Gewalt und Tragweite offenbart, er in seinem Begriff von der
Intelligibilität der Persönlichkeit. Und doch darin sind beide
einig: In letzter Linie weist alles auf Gott als das allwirksame
und allgenugsame Wesen zurück, in Sonderheit das Gute. Nichts-
destoweniger gilt es beiden als ein unerlässliches Erfordernis von
Religion und Moral, der Person ilire Selbständigkeit als ein Aus-
wirken ihrer sittlichen Eigenkraft zu wahren.
§ 27.
Nächstenliebe und Achtung vor der Person.
Nach Luther, wie nach Kant ist die sittliche Bethätigung,
die moralische Aktivität des Menschen im Leben dessen Aufgabe.
Die Thätigkeit folgt aus dem nimmer ruhenden Leben selbst, nach
Luther; aus der formalen Bestimmung des Moralprinzips und der
— mit Luthers Idee des nimmer ruhenden Lebens durchaus zu-
sammenstimmenden — Relativität aller Moralinhalte nach Kant;
sowie dem Erfordernis des aktiven Auswirkens der Person, nach
beiden. Die Moral* der That ist es, die wir pflegen sollen,
sei es im Berufe, sei es bei der unendlichen Fülle der Gelegen-
heiten sonst.
An der Gelegenheit selbst lässt es das Leben nicht fehlen.
Aber es bleibt noch eine Frage offen. Der Begriff der Pflicht
ist ja ein Relationsbegriff. Er verlangt nicht nur einen Träger,
der Pflichten hat, und der wir als handelndes Wesen selber sind,
nicht bloss ein Material der Pflichterfüllung, das uns das Leben
bietet. Es fragt sich vielmehr noch: gegen wen wir im thätigen
Leben Pflichten zu erfüllen haben. Und das ist nach Kant, wie
*) Mit Hamack stimmen wir hierin, wie bereits hervorgehoben,
durchaus überein. Es dürfte allerdings sonst noch sehr bestritten werden ;
vielleicht würde es Luther sogar selbst bestreiten.
480 B Baoch,
nach Lather, wiederum der Mensch, die Person; unsere Pflichtr
erfüUung gegen sie ist die wahre Erfüllung der göttlichen Gebote,
der göttlichen Pflichten, wodurch wir unser Leben mit wahrem
Gottesdienst anfüllen können.
Freilich besteht ein Unterschied darin, wie Beide diesen
Satz begründen. Luther giebt nirgends eine eigentliche Be-
gründung. Zwar verweist er hier auf die „geistliche'' Natur des
Menschen, und sieht wohl darin ganz richtig, dass diese deji
Grund dafür biete; inwiefern und warum sie aber diesen Grood
darstelle, tritt bei ihm nicht hervor. Bei Kant hatten w die
Deduktion dieser Forderung aus der Vernunft kennen gelernt:
der „göttliche Ursprung" der Anlage zum Guten in der Persön-
lichkeit, an den uns auch die Person gemahne, hatte dieser die
Würde eines „Zweckes an sich" gegeben. So war sie das „Sub-
jekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, ver-
möge der Autonomie seiner Freiheit". Füi* sich selbst
betrachtet ist der Mensch Subjekt des moralischen Gesetzes, und
eben darum für den anderen ,, vermöge der Autonomie seiner
Freiheit'* zugleich die „objektive Darstellung des Ge-
setzes", und darum ein Gegenstand der Achtung. Das aber
heisst zugleich auch: ein Gegenstand der Pflicht, in der Wedisel-
beziehung zu ihr die sittliche Würde heilig zu halten, worauf
sich alle besonderen Pflichten gründen.
Nun hatte Kaut betont, durch diesen moralischen Fnndamen-
talbegriff der Achtung vor der Pei-son sich in voller Übereinstim-
mung mit dem Christentum zu befinden. Und damit gelangen wir
auch auf seine weitere tibereinstimmung mit Luther, die abermals
geradezu überraschend wirkt.
Für den Reformator ist das Band der moralischen Wechsel-
beziehung von Mensch zu Mensch die Liebe, wie diese auch eine
Forderung des Christentums ist. Stimmt das nun auch für Kant?
Er baut die sittliche Wechselbeziehung auf den Begriff der Ach-
tung vor der Person und gründet auf diesem das Gebot, seine
Pflichten gegen den Nächsten zu erfüllen. Aber ausdrücklich sagfl
er — und das meint er mit seiner Übereinstimmung mit dem
Christentume —, dass sich damit das christliche Gebot der
Nächstenliebe gar wohl vereinige, indem er nämlich selbst nichts
Anderes darunter versteht, als das Gebot der PflichterfüUnng
gegen den Nächsten. ^
') Vgl § 17.
Luther und Kant. 487
So verstanden, könnte man sagen: in der Forderung der
ächstenliebe stinnneu Luther und Kaut thatsäcblich übereiu, wenn
an den Kantischen Begriff der auf der Achtung vor der Person
jruhenden Pflichterfüllung eben als Begriff der Nächstenliebe
îlten lässt. Nur ist noch die Frage, ob beide auch in dieser
uffassung der Liebe eins sind. Denn Kant, das ist offenbar,
ebt doch dem Begriff der Liebe einen ganz anderen 8iuii,
s man gewöhnlich damit verbindet. Allein wir wissen, dass
ich Luther das thut. Erinnern wir uns nur, dass er die Liebe,
e er als Pflicht, als göttliches Gebot fordert, von dem, was
an gewöhnlich unter Liebe versteht, und was er selbst „Welt-
Bbe" nennt, gar wohl unterscheidet. Er ist sich auch wohl be-
usst, dass diese „Weltliebe** sich eben nicht gebieten lässt, weil
5 bei ihr auf die individuelle Pereon ankommt, die man liebt,
icht aber auf den Nächsten überhaupt. Die gebotene christ-
che Liebe aber kann man „nicht schöpfen von der Person **,
mdern sie muss rVou inwendig aus dem Herzen geflossen sein**,
ie ist also eine spontane, wir konnten sagen, autogene Funktion
ttd bedeutet für Luther nichts Geringeres, als dem Nächsten
iienstbar" und „unterthan" zu sein. ') Dieser Nächstendienst
t ihm zugleich wahrer Gottesdienst.
Luthers Idee der Nächstenliebe steht also der Kantischen
ee der auf Achtung beruhenden Erfüllung der Nächstenpflicht
cht fern; ja sie ist mit der ganz besonders betonten Spontanei-
t ihres Wesens die aus der einen Person für die andere eigen-
äftig hervorgetriebene Achtung und Pflichterfüllung selbst. Das
rd noch deutlicher, wenn wir uns daran erinnern, dass Kant
3selbe Unterscheidung macht, dass er, wie Luther der „Welt-
be" die „Christenliebe**, so der „pathologischen" die „praktische
ebe" gegenüberstellt, und dass die „pathologische'* eben die
on der Person geschöpfte**, d. h. auf der Eigenart der Person
ruhende, mit der Zuneigung identische Liebe ist, während die
»Faktische" die moralisch gebotene Liebe bedeutet. In inniger
bereinstimmung mit Luther sagt er: die pathologische Liebe
[aan aber nicht geboten werden, denn es steht in keines
ansehen Vermögen, jemand bloss auf Befehl zu lieben. Also ist
; bloss die praktische Liebe, die in jenem Kern aller Gesetze
erstanden wird**. Der „Kern aller Gesetze** ist aber für Kant
•) VgL § 11.
Ki»;jj [omljETi^setz. Wenn nun die Person „Subjekt um mora-
h iesetzes isf*, dieses also durch ihre Autonomie unmittftl-
rial* aarst^ttt und darum Achtimg erfordert, wenn weiUtr der
Kc»ni dieses (lesetzes aber zugleich Liebe ist, so steheu iu leUler
Linie „Achtung? vor der Pörson*" uod „Nächsteuüebe^ in Eins.
So hat Luther den guten^ veniiinftigen 8iini des christlicbeii
Üruudgebotes der Nächstenliebe so klar uud deutlich ausgesproch^ii^
wie es oie zuvor geschehen ist; und Kant hat ebea dessen Ver-
nunft igkeit auf die höchsten sittlichen Ideen zum ersten Male
gegründet.
8 28.
Die Kirdie.
Wir hatten gleich im Anfang dieses Vergleichs auf einen
Osgensatz zwischen Luther und Kaut hingewiesen, auf deu Geg««-
satz zwischen dem Vernunftglaubfai Kants, wie er in seiner An-
schauung über die Kirche und deu OffeiibarUDgsglaubeD ztini
Ausdruck kommt und Tjuthers stan*em Festhalten au Schrift ucd
OffeubarungsglaubeiL Aber das ist ein Widerspruch, der, wie m
das selbst schon eingehend dargethan haben, in Lutheti^ Glaubeis-
idee selber angelegt ist, dessen Überwindung er oft erstaunlich
nahe kommt, und doch auf der andern Seite auch wieder erstauo-
iich fern bleibt; ein Widerspruch, der uns in seiner Auffassiui^
von der Kirche abermals begegnet. Das aber kommt daher»
,,dass*\ wie Harnack ^) treffend bemerkt, „die prinzipiellen Ansatiß
zur Bildung eines oeuen Lebensideals nicht mit kritischer
Kraft und Klarheit durchgebildet üind".
Wir hatten den Reformator mutig und frei den Werkglauben
und Verdienstwahn bekämpfen sehen; gesehen, wie er den Lohn-
glauben ablehnt, der von Gott, als ob dieser ein „Trödler" wäre,
etwas zu verdienen hofft ; gesehen, wie er anstatt dieses gemetaen
Lohndienstes den Menschen auf das Leben verweist, das er „mit
lauter Gottesdienst anfüllen" könne. Nur müsse er da seine
Pflicht thun; d. h. „nichts von Gott begehren, denn sein Wohl-
gefallen", ihm keinen Lohn abdingen wollen, wie ein Mietling,
sondern alles „umsonst" thun. In die freie Pflichterfüllung, die
allein in dem „Glauben des Herzens" geschieht, setzt er alles.
Auch den Wert des inhaltlichen Glaubens macht er abhängig vom
1) a. a. 0. m. S. 749.
Luther und Kant. 489
reinen Herzensglauben. Aber leider — historisch war es ja
durchaus gut und notwendig, aber unter kritischem Betracht
leider! — macht er auch den innerlichen Glauben der Gesinnung
selbst wieder von dem Schriftglauben abhängig, indem er jenen
nur dem zugesteht, der sich zu diesem bekennt. Er vermag sich
nicht zu erheben zu der konsequenten Anschauung, dass man
ebenso guten Gewissens den Dogmenglauben ablehnen, wie an-
nehmen könne, dass dieser nicht jedem Menschen angemutet
werden dürfe, dass solche Zumutung zur Heuchelei führen, der
dogmatische Schriftglaube den Gesinnungsglauben geradezu ver-
nichten könne. Die Schrift also wirklich bloss als möglichen In-
halt des praktischen Glaubens zu betrachten, ist er nicht im
Stande. Und dieses Widerspiel ist bestimmend auch für seine
Idee der Kirche.
Auf der einen Seite glaubt er durch das „Wort Gottes" die
Kirche nicht nur historisch, sondern normativ-ewig begründet, ge-
ordnet und gebunden; er erklärt fast mit papistischem Nachdruck,
dass ausser der durch das Wort begründeten Kirche keine „Selig-
keit" sei. >) Auf der anderen Seite aber überwindet er gerade
das Dogmatische wieder zu Gunsten des Praktischen, indem er
bei der Auslegung das Gewissen frei giebt. Damit ist aber die
Freiheit, zu der er sich trotz aller Gebundenheit an den Schrift-
Glauben überhaupt, in seiner Idee der Kirche erhebt, noch nicht
erschöpft. Er will — es ist eine Freude, das zu sehen! — das
Beten und Singen, den ganzen statutarischen Gottesdienst, nur
tun der Einfältigen und des jungen Volkes willen. Der Gebärden-
dienst gilt ihm als an sich wertlos. Ausdrücklich ermahnt er
^alle diejenigen, so diese Ordnung im Gottesdienst sehen oder
nachfolgen wollen, dass sie ja kein nötig Ding daraus machen,
noch jemandes Gewissen damit verstricken oder fahen, sondern
der christlichen Freiheit nach ihres Gefallens brauchen, wie, wo,
wann und wie lange es die Sachen schicken und fordern".*) Ein
neues Ideal der religiösen Gemeinschaft sehen wir hier in der
That emporwachsen, frei von dem Zwang der statutarischen Ord-
nung, erhaben über die zeitlichen und räumlichen Relationen, ein-
zig gegründet in dem Glauben des Herzens. Eine Gemeinschaft,
^) Vgl. § 12 und die daselbst erwähnte KirchenpostiUe I. S. 162, so-
wie Hamack a. a. 0. S. 745.
») Vgl § 12.
4no
B. Bancti,
til
die oicht sirhtharlich sich richtel imclï dipser kirrhlicheii Ortlmui^
iiili»r jener, dit- HiuTkrimt, dass nicht bloss in ihr gerade jetzig
sondern iüinier und überall, auch unter doin Paitst und unter den
Türken, ja iibi^rbaiii»t „in aller Welt** ^ito Christen gewesen
seien, kurz, eine Gemeinsrhaft, die nach Luthei^ eigeiieti Worten
nicht .Ji^ibiich", d. h. durch historische, statutarische Äusserlich-|
keiten zusammmsfehalien, sondern nur durch den inneren Hei^zeus-^
^lauhen „i.^eistlich'* geeint ist, die nicht sichtbar, s>onderu uusicht-
tiar ist. Uas eben danmu weil, wie Harnack sagt, für LiUhcr
„die Keligiou nichts Anderes ist, als Glaube, nicht besondere
Leistungen, aucli nicht ein iiesùodeies (ichiet. sei es nun der
üffeDtliche Kultus^ oder eine ausgewählte Lebensführung, oder dejS^
Keborsaui gegen kirclibche Ordnungen, seir-u sie auch heilsam, die
Sidiare sein können, in der ilie Kirche und tier Einzelne ihren
tilauben bewahren, sundern . , . der ('hrist in den natürlichen
Ordnungen des Lebens, weil sie allein nicht selbstgewählte, soti^|
dem ^gebotene* sind, also als tTotteserdnungen liingennnimen werden^
müssen, seineu t/ilauben in dieneinler Nächstenliebe zu l»ewähren
hat**.^) So kommt IjUther den Forderungen Kants überaus uahe|H
ja (*r stimmt mit Kant fast vv<"»rllich ül»r*rein : erstens in der Ab-
lehnung des „ganzen Krams auferlegter Observanzen'*, zweitens
in der Auffassung des ganzen „stÄtutarischeu Lohn- und Frobn-
dienstes", dem nicht mehr ein Sellistwert zugestanden wird, der
lediglich, wie auch von Kant, als Mittel i^ur sittlichen und reli-
giösen Erziehung angesehi'u wird; ferner in der I*ostulieruug des
güt-en Lebenswandels als des eigentlichen Gottesdienstes und end-
lich in der Idee der Kirche als ^geistlicher'*, nicht „leiblicher**
Gemeinde; mit Aufhebung des „erniedrigenden Unterschied
zwischen Laien und Klerikern".*)
l'nd thich klaffte in dem Ideale Luthers ein jäher Wide
Spruch, den Kant überwinden musste, um das Ideal rein hei-zU!
stellen. Gewiss hatte der willensgewaltige Reformator gar vi
„Blmlsinn des Aberglauhens und Wahnsinn der Schwärmerei**, ui
mit Kant zu reden, zerstnrt. Aber er hatte, nach der Philosophen
eigenem und ausdrücklichem IrteiK auch noch genug davon übrige"
behalten. Und da unter kritischem Betracht auf das Viel Oflet^
Wenig — so wichtig dieser Gesichtsiniukt auch historisch seiu.
1) a. a. 0. S. 743,
^ Vgh oben § 12 und § 20.
Luther und Kant, 491
mag — gar nichts ankommt, sondern alles aufs Prinzip, so musste
ein Geistesgewaltigerer der Menschheit erstehen, um allen Wahn
zu zermalmen. So lange der Schriftglaube sowohl erst Wert
durch den reinen „Glauben des Herzens" erhalten sollte, als auch
an sich Wert haben, ja den reinen Herzensglauben erst emiög-
Uchen sollt«, liess sich das neue Ideal der religiösen Gemeinschaft
nicht rein denken. Das Statutarische, die kirchliche Ordnung,
konnte nicht selbst als blosses Mittel zur sittlich-religiösen Er-
ziehung der Jugend und der Einfältigen widerspruchslos gedacht
werden, solange dor Schriftglaube nicht selbst bloss als solches
„Vehikel'* gedacht wurde. Das Pfaffeutum war solange nicht be-
siegt— auch das meinen wir kritisch, nicht historisch --, solange
nicht allen Ernstes und mit eiserner Konsequenz der Schriftglaube
dem reinen Herzonsglauben durch Vernunft untergeordnet war,
solange nicht mit aller Schärfe und Deutlichkeit erkannt und aus-
gesprochen war, dass der Offenbarungsglaube keinen Imperativ
verstattet, also unsere Denk- und Anschauungsweise nicht dogma-
tisch bestimmen darf, und dass ein solcher Imperativ, welch auto-
ritativer Zwang ihn auch inimer ausspricht, nimmermehr „einen
Gläubigen zu machen" im Stande ist, weil dieser „das, was er
heilig beteuert, nicht einmal versteht", dass er vielmehr zu einem
„Mangel der Aufrichtigkeit führt, der lauter innere Heuchler
macht". ^) So muss er gerade den Herzensglauben, alle Verinner-
lichung, die sittliche Eigenki'aft und Freiheit der Person und des
Gewissens gefährden und droht, allen Lohn- und ï'rohnglauben
wieder aufzurichten, die sichtbare Kirche festzuhalten, und die
unsichtbare zu bannen. Um die Ideale der Freiheit der Person
und des Gewissens und der unsichtbaren Kirche nicht bloss fest-
zuhalten, sondern auch zu sichern und festzugründen, um den
Lohndienst als „Frohn-" und „Fetischdienst" absolut abzuweisen
und den wahren Gottesdienst wirklich allein in den guten
Lebenswandel zu setzen, dazu war die Einsicht einer starken,
kritischen Vernunft nötig, die klar und scharf den Schriftglauben
als blosses „Vehikel" erkannte, das „endlich wird entbehrt werden"
können, das ihn darum als einen blossen Inhalt mit rela-
tiver Geltung schied von dem praktischen Glauben, als
dem Prinzip, das ewig gilt.
Aber damit war eben von vornherein die Aufgabe gestellt:
die von Luther gewiesenen Ideale auf Vernunft zu gründen, ohne
*; Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft S. 290,
492 B. Baneh, Lother nd Kant.
diese aber ihre Grenzen himuissdiweifen zu laaniL Eb mwaBXe
das religiöse Prinzip selbst als ein moralisehes, Temnftiges er-
kannt, reinlich Ton allen anderen Bestimmnngsgrûnden gesdiieden
wmlen; der Wert der Person non wirklich anf Vemonft nnd da-
rauf anch die Idee der ^ethischen Gemeinschaft' begründet weiden,
damit dem moralischen nnd religiösen Gefühl sein Sinn gesichert
ward. Es war eine Riesenanfgabe. Kant hat sie, wie wir ge-
sehen, vollbracht.
Nunmehr auf gutes Recht der Vernunft gestützt, kann er
für seine Idealkirche alles Statutarische, den „Lohn- und Frohn-
dienst** als „Fetischmachen" Ferschmähen, die Einzelpersönlichkeit
autonom und frei ihre Anlage zum Guten auswirken lassen in
einer „ethischen Gemeinschaft**, die nicht „sichtbar^, sondern „un-
sichtbar"', nicht „leiblich"^, sondern „geistlich'* ist. Darum könn»
wir sagen: In Kant ist Luthers sittlich-religiöses Fühlen
auf den Standpunkt der Vernunft gelangt.
Anmerkang: Vontehende Arbeit enthält den grOssten Teil meiner
Habilitationsschrift (mit Ausnahme des Schlnsskapitels), die gleichzeitig im
ursprünglichen Gesamtomfange separat erscheint.
Anfänge des Kritizismus. - Methodologisches aus Kant.
Von A. Riehl.
Kein P]reignis in der Geschichte der neueren Philosophie
lässt sich an Bedeutung mit der Begründung und Ausbildung des
Kritizismus vergleichen. Wir bezeichnen mit diesem Namen eine
philosophische Richtung, die sich im Gegensatz zur Metaphysik
weiss und doch zugleich der Philosophie ihre Selbständigkeit wählt.
Mit der Schöpfung der modernen Wissenschaft hatte der
Prozess der Auflösung der alten Philosophie begonnen. Diese
musste ein Gebiet ihrer Spekulation nach dem anderen der Me-
thode der exakten Forschung abtreten und ihi* völliges Aufgehen
in eine Reihe von Einzelwissenschaften, deren Zahl mit den
Fortschritten des Erkennens sich beständig vermehrte, schien nur
eine Frage der Zeit zu sein. Da war es das Verdienst des Kri-
tizismus, gezeigt zu haben, was Philosophie eigentlich sei und
"bedeute und welcher theoretische Beruf ihr auch im Zeitalter der
positiven Wissenschaften noch verblieben ist. Wohl hatten die
philosophischen Systeme des siebzehnten Jahrhunderts versucht,
den alten Anspruch der Philosophie, die Gesamtwissenschaft zu
sein, dadurch aufrecht zu erhalten, dass sie sich der mathematisch-
mechanischen Denkart der neuen Wissenschaft für ihre systema-
tischen Zwecke bemächtigten. Nach dem Muster der Mathematik
gestaltete Descartes die Methode für seine „Prinzipien der Philo-
sophie", d. i. sein System der Natur. Das Vorbild Galileis
schwebte Hobbes, auch für seine Untersuchung des politischen
„Körpers **, vor Augen. Spinoza führte den neu entdeckten Begriff
Anm. der Redaktion: Diese uns freundlichst von Herrn Prof.
Dr. A. Riehl zum ersten Druck übergebene Abhandlung bildet die Ein-
leitung zur zweiten, gegen Ende des Jahres erscheinenden Auflage seines
Hauptwerkes: Der philosophische Kritizismus etc.
494 A. Riehl,
der mathematischen Natnrgesetzlichkeit in den Kreis seiner neu-
platonischen Anschauungen ein und demonstrierte die „Ethik'' in
„geometrischer Ordnung''. Von der Dynamik und seiner Mathe-
matik des Uneudlichkleinen aus gelangte Leibniz zu seiner Meta-
physik der Monaden. Was diese Denker, den überlieferten (k-
wohuheiten der Philosophie folgend, suchten, war eine Universal-
wissenschaf t ; eine solche aber konnte im klassischen Zeitalter der
Mechanik, dem Zeitalter (ialileis, selbst nichts anderes sein als
universelle Mechanik. Damit war wohl das Verfahren der theo-
retischen Naturwissenschaft verallgemeinert und das Gebiet seiner
Anwendung, gleichviel mit welchem Rechte, über die Körperwelt
hinaus erweitert, — eine neue, der Philosophie als solcher eig^
tiimliche Aufgabe jedoch nicht ergriffen.
Diese hat erst Locke gestellt. Die Schrift, die den beschei-
denen Titel führt : „P^iu Versuch über den menschlichen Verstand""
eröffnet ein neues Zeitalter der Philosophie, mehr noch, eine ncoe
Philosophie nimmt mit ihr den Anfang: — die kritische Philosophie.
Zum ersten Male in diesem Buche wird die Untersuchung des ^^
Sprunges, der Gewissheit und des Umfanges der EIrkenntnis der
Untersuchung der Dinge selbst grundsätzhch vorangestellt Und
fortan hat das Problem der Erkenntnis als solcher, die Frage
nach den Grundlagen und den Grenzen des Wissens, als das an
sich philosophische Problem zu gelten. Die Philosophie ist nicht
die Gesamtwissenschaft, wofür sie das Altertum, das noch jede
theoretische Kenntnis zu ihr zählte, betrachtet hatte; wohl aber
ist sie die Allgemeinwissenschaft, oder die Wissenschaftslehre, die
sich als solche von den Einzelwissenschaften bestimmt unter-
scheidet, ohne doch aus dem Zusammenhange mit diesen heraus-
zutreten.
Spuren des Kritizismus, Ansätze dazu lassen sich zwar auch
schon im Altertume nachweisen. Den Anlass, die Frage nach der
Möglichkeit des Wissens aufzuwerfen, gab in der griechischen
Philosophie die Spekulation der Eleaten mit ihrer schroffen Ent-
gegensetzung des wahren reinen Seins, das durch das reine
Denken allein erfasst werde, und der trüglichen Vielheit und Ver-
änderiichkeit der Dinge, die den Sinnen sich zeigen. Aus dieser
Antinomie zwischen Wahrnehmen und Denken ging die Dialektik
hervor, die gemeinsame Quelle der Logik wie der Antilogik. Zu-
gleich mit der Festigkeit der Begriffe leugneten die Sophisten die
Beharrlichkeit des Seins; Protagoras lehrte den vieldeutigen Satz
Anfänge des Kritizismus. — Methodologisches ans Kant. 495
vom Menschen als dem Mass aller Dinge im Sinne eines Relativis-
mus, der wahre Erkenntnis ausschloss. Demokrit schränkte diesen
Satz auf die Eigenschaften in der Empfindung der Dinge ein und
nahm davon die „Atome und das Leere" aus, als die Objekte der
„echten Erkenntnisart". So wurde schon er zum Urheber einer
Lehre, die in der neueren Zeit, nachdem Galilei sie erneuert hatte,
unter dem Namen der Unterscheidung der „primären und sekun-
dären Qualitäten" zu grosser Verbreitung gelangte und sich bis
zu Johannes Müllers Satze von den spezifischen Sinnesenergien
verfolgen lässt. — Sokrates gab die Naturphilosophie als Wissen-
schaft preis, um dafür im Bewusstsein des Menschen nach festen
ethischen Normen zu forschen, und eines der gehaltvollsten Ge-
spräche Piatos endUch beschäftigte sich geradezu mit der Frage:
was Wissenschaft oder Erkenntnis sei. Plato bekämpft in diesem
Gespräche den Positivismus des Protagoras mit Gründen, die auch
dem Positivismus der Gegenwart gegenüber nichts von ihrer Kraft
verloren haben. Was aber die alten Denker dennoch gehindert
hat, das Problem des Wissens kritisch zu erfassen, war die Ver-
mengung desselben mit dem Problem des Seins, und schliesslich
verlief die antike Erkenntnisphilosophie in bodenlose Skepsis.
Gerade eine Vergleichung dieser Skepsis mit dem sogenannten
Skeptizismus Humes ist geeignet, den Abstand der Zeiten und
Denkweisen so recht ersichtlich zu machen. Dort haben wir einen
Aasflnss mehr noch der grossen Müdigkeit des Wollens, als der
Energie- und Mutlosigkeit des Denkens vor uns, eine Erscheinung
der Decadence. Um nicht aus der Ungeslörtheit des Gemütes, als
dem wünschenswertesten Zustande, herausgerissen zu werden, will
man sich jeder Entscheidung enthalten und weder bejahen noch
verneinen. Der sehr bedingte Skeptizismus Humes dagegen ent-
sprang einem starken Wirklichkeitssinne und darum machte Hume
das Leben zur Richtschnur selbst des Erkennens.
In der neueren Zeit hatte schon vor Locke Descartes in den
„Regeln zur Leitung des Verstandes", einer Schrift, die der
„Unterredung über die Methode** unmittelbar voranging, aber erst
fünfzig Jahre nach dem Tode des Philosophen bekannt wurde, die
Einsicht in die Natur und die Grenzen der menschlichen Erkennt-
nis als das wichtigste aller Probleme bezeichnet. Einmal in seinem
Leben, erklärt er, müsse diese Frage Jeder geprüft haben, der
nur die geringste Liebe zur Wahrheit besitze. „Nichts scheint
mir so ungereimt zu sein, fährt Descartes an einer anderen Stelle
KAnt«tadi«n DL 32
496 A. RiehU
der Schrift fort, als fiber die Geheimnisse der Natur, den Einflnss
der Gestirne, die verborgenen Dinge der Znknnft zn streiten, ohne
ein einziges Mal untersucht zn haben, ob der menschliche Geist
so weit reiche." Diese Worte hatte Locke entlehnt haben können,
wären sie ihm bekannt gewesen, so genau stimmen sie mit einer
Stelle seines Versuches über den menschlichen Verstand uberein,
und nur das kritische Erkenntnisproblem scheint damit gemeint
sein zu können Der Zusammenhang jedoch, in dem sie sich
finden, und noch unzweifelhafter Descartes' eigene Elrklämng: die
Untersuchung jener Frage begreife die ganze Methode der Erkennt^
nis in sich, beweisen, dass es sich bei ihnen nicht um eine Kritik
der Vernunft, sondern um Vemunftwissenschaft, um Methodenlehre
handeki sollte. Descartes dachte noch dogmatisch. Er sah in
der Klarheit und Deutlichkeit an sich schon den hinlänglichen Be-
weis för die Wahrheit einer Perception und die Wirklichkeit ihres
Gegenstandes; und wenn er auf das Subjekt zurückgreift, auf das
Sein des denkenden Ich, so geschieht es in der ausgesprochenen
Absicht, von dieser klarsten und deutlichsten Perception aus in
methodischem Fortschritt, an dem Faden einer lückenlosen Deduk-
tion, zu ebenso wahren und wirklichen Begriffen von den äusseren
Dingen zu gelangen. Sein Ziel ist, das Dasein der Âussenwelt
ausser Zweifel zu setzen und unter einem das Wesen der körper-
lichen Natur zu begreifen. — Zur Geschichte der kritischen Philo-
sophie gehören somit Descartes* Meditationen nicht und diese Ge-
schichte ist wh'klich nicht älter als das Buch Lockes.
Das Gemeinschaftliche der kritischen Lehren ist in ihrem
Gegensatz zur überlieferten Metaphysik zu suchen. — Mit der
Bekämpfung des Glaubens an angeborene Begriffe und Grundsätze^
griff Locke eins der Bollwerke der dogmatisch-metaphysischeu^
Denkart an. Er hatte „das Vorzügliche, rühmt von ihm Kant^
dass er auch die Begriffe des reinen Verstandes (die intellectualia,
wie Kant schreibt) nicht für angeboren erkannte und ihren ür-
Hpning suchte**. Die Beobachtung der Entstehung der Vorstel-
luuK^'U gal) ihm ein Mittel an die Hand, die naturgemäss erzeugten
M(*^riff(^ von willkürlich erdachten zu unterscheiden. Und noch
t lof or untergrub er der Metaphysik den Boden. Er hob die „Sub-
Ninn//' auf, in der Bedeutung eines Erkenntnisbegriffes für das
WoNtMi dor Uiuffo, und ersetzte ihren metaphysischen Begriff durch
itoii oinpIriNoluM) der Beständigkeit in der Verbindung bestimmter
^oifon^Ulinlllohor Klomoiite. Wie frei Locke auch persönlich von
Anfang des Kritizismus. Methodologisches aus Kant. 497
metaphysischen Neigungen war, lehren seine Worte von sokra-
tischem Geiste aus der Zeit der Abfassung des „Essay": „das
Wesen der Dinge zu ergründen, ihren ersten Ursprung, das Ge-
heimnis ihres Wirkens und die ganze Ausdehnung des körper-
lichen Seins übersteigt ebenso weit unsere Fähigkeiten als es ohne
Nutzen für uns ist. Alles, worum wir uns zu kümmern haben,
liegt nahe bei der Hand. Die Kräfte unseres Körpers und die
Vermögen unserer Seele sind der Lage genau angepasst, in der
wir uns befinden." Hume, „einer der Geographen der mensch-
lichen Vernunft", durchforschte den ganzen Vorrat unserer Er-
kenntnisse und unterwarf die Fähigkeiten des Geistes einer sorg-
fältigen Prüfung, zu dem Zwecke, auf solche W^eise „den ab-
strusesten und lästigsten Teil der Gelehrsamkeit", die hohle meta-
physische Weisheit, los zu werden. Die Untersuchung des Ver-
standes galt ihm als die „wahre" Metaphysik, die bestimmt sei,
an die Stelle der „unwahren und verfälschten" der Schulen zu
treten. Auch Kant bezeichnete gelegentlich sein Werk als
„Metaphj'sik der Metaphysik". Gründlicher aber in seinem Ver-
fahren als Hume drang Kant bis zu der Quelle der metaphy-
sischen Täuschungen vor, zu dem dialektischen Schein, den die
Vernunft sich selber schafft, wenn sie für Prinzipien der Dinge
selbst hält, was in Wahrheit nur Bedingungen der Erkenntnis der
Dinge sind. Zugleich konnte er auf seinem Wege den Erkennt-
niswert der Erfahrung sichern, der vom Standpunkt der „reinen
Erfahrung" aus, dem Standpunkt Humes, nicht zu retten war.
Der Kampf gegen das metaphysische Scheinwissen hatte
auch die Bedeutung des wirklichen Wissens und die Grenzen
seiner Berechtigung in immer helleres Lacht gerückt. Und so
greift der Kritizismus, der ursprünglich nur eine innere Ange-
legenheit der Philosophie gebildet hatte, durch seine Folgen über
den Bereich der reinen Philosophie hinaus. Die Erkenntniskritik
wird zur Erkenntnistheorie, zur Grundlegung der Wissenschaft.
Wie weit aber die kritische Strömung in der Philosophie trägt,
ist erst zu ermessen, wenn wir bedenken, dass die metaphysische
Denkart in einer Naturanlage des Menschen ihre Wurzel hat, in
seinem Ungenügen an dem Gegebenen, dem Trachten nach dem
Unbedingten. Die ideell unbeschränkte Erweiterung der Denk-
formen, ihre freie Kombinierung über die Grenzen des Wahrnehm-
baren hinaus, worauf die Macht des Verstandes beruht, sein Ver-
mögen, in die Thatsachen einzudringen, begünstigt zugleich, sie
32*
498 A. Riehl,
veranlasst sogar zum Teile den metaphysischen Trag und keine
Wissenschaft ist durch sich selbst geschützt, ihm zu verfallen.
Dies zeigt sich selbst an dem Beispiel der Naturwissenschaften.
Immer wieder werden deren Grundbegi-iffe in die Nebel metaphy-
sischer Zweideutigkeit eingehüllt und so lange es möglich bleibt,
aus einer objektiv messbaren Grösse, der Energie, ein metaphy-
sisches Wesen zu machen, hat auch der Kritizismus noch nichts
von seiner disziplinierenden Bedeutung für die positive Wissen-
schaft verloren. Zwar giebt es auch eine partielle Kritik, die
sich auf ein einzelnes Wissensgebiet erstreckt und beschränkt
Sie besteht in der Sonderung der Theorie dieses Gebietes von
den Thatsachen, in dem Bewusstsein, dass die Theorie zunächst
immer nur ein Instrument bedeute, den Kern des Wissens, die
Thatsachen, zu ergreifen und zu bearbeiten. Man fragt dann
nicht länger, was die Begriffe für ein Wesen bedeuten, man be-
trachtet und gebraucht sie als Regeln für die Vorstellung der Ob-
jekte; und schon damit tritt der Unterschied hervor zwischen dem-
jenigen Bestandteil des Erkennens, der aus der unumgängUchen
Form der Verstandesbethätigung als solcher herstammt, und dem
Stoffe des Wissens, der in den Eindrücken der Sinne gegeben
wird. Der feineren metaphysischen Täuschungen, die bereits die
Grundlagen unseres Erkennens umgeben, wird man aber auf diesem
Wege allein nicht Herr. Sie aufzulösen und zu zerstreuen bedarf
es einer selbständigen Kritik der Begriffe; es bedarf des philoso-
phischen Kritizismus und darum hat seine Begründung auch in der
Geschichte der Wissenschaft Epoche gemacht.
Die Eutwickelung der kritischen Philosophie vollzog sich in
drei Stufen. Sie begann mit einer psychologischen Reflexion über
den Ursprung und einer Analyse des Inhalts der Begriffe; es ist
die von Locke erreichte Stufe. In Humes Positivismus, ihrer
zweiten Stufe, prüfte sie den Begriff der Erfahrung, gelangte
aber unter Festhaltung des rein empirischen Ursprungs aller Er-
kenntnis zu skeptischen Ergebnissen, nicht nur in Hinsicht auf die
Vernunft, sondern auch in Hinsicht auf die Erfahrung selbst.
Auf ihrer dritten Stufe, in Kants Philosophie endlich, nahm sie
diese Prüfung von neuem auf und erbrachte den Beweis, dass
Erfahrung Erkenntnis, — aber auch, dass Erkenntnis nur in der
Ei-fahrung sei.
So führte von Locke über Hume zu Kant ein stetiger Fort-
gang in der Erfassung und Veitiefung dei* Probleme. Kein
Anfänge des Kritizismus. — Methodologisches aus Kant. 499
Schritt brauchte zurückgethan zu werden, - im völligen Gegen-
satz zur Philosophie, die auf Kant folgte und in raschem Wechsel
ein welterklärendes System nach dem anderen produzierte. Diese
Philosophie meinte, die Wissenschaft ersetzen zu können und als
hätte es noch keine exakte Forschung gegeben, so griff sie zur
Konstruktion aus Begriffen, der Methode der alten Denker zurück.
Ihre Urheber und Anhänger schrieben sich ein höheres Wissen
zu, als es durch blosse Wissenschaft zu erreichen sei. Auch Er-
kenntnisse, die schon in die strengste, den Verstand vollkommen
befriedigende Form gebracht waren, glaubte man noch verbessern
und gleichsam sanktionieren zu müssen. Hegels „Beweis des
Fallgesetzes aus dem Begriff der Sache" erschien dem Natur-
forscher, und nicht bloss diesem, völlig sinnlos, abgesehen davon,
dass er völlig überflüssig war. Was die forschende Wissenschaft
nur allmählich ermitteln zu können hofft, und mehr als dies, be-
hauptete diese diviuatorische im voraus zu wissen. In Wahrheit
vermochte sie nicht einen einzigen der späteren Fortschritte des
Erkennens vorauszusehen, liess sie doch selbst dem halb philoso-
phischen Satze von der Erhaltung der Energie gegenüber ihr
hellseherischer Geist im Stiche. Desto dreiser leugnete sie auch
die gesichertsten Thatsachen der Natur und d(^r Geschichte, sobald
sie sich ihrem Systeme widerspenstig zeigten.
Mit dem Zusammenbruch des letzten dieser spekulativen
Lehrgebäude und des kühnsten aller schien wieder einmal das
Ende der Philosophie gekommen zu sein; so sehr war man ge-
wohnt, diese selbst mit ihren Auswüchsen zu verwechseln. In
Wirklichkeit fand man sich nur auf den massvollen Standpunkt
Kants zurückversetzt und einer der ersten, die es aussprachen,
dass Kants Ideen noch leben, war bezeichnender Weise ein Natur-
forscher. Helmholtz hatte erkannt, dass die Spaltung, welche
Philosophie und Naturwissenschaften zu seiner Zeit trennte, zu
Kants Zeiten noch nicht bestanden habe; zum Beweis berief er
sich auf Kants eigene naturwissenschaftliche Arbeiten. Von der
Philosophie Kants aber heisst es in dem Vortrag „über das Sehen
des Menschen'': „sie beabsichtigte nicht, die Zahl unserer Kennt-
nisse durch das reine Denken zu vermehren, — sie beabsichtigte
nur, die Quellen unseres Wissens zu prüfen und den Grad seiner
Berechtigung zu untersuchen, ein Geschäft, fügt Helmholtz mit
Nachdruck hinzu, welches für immer der Philosophie verbleiben
wird und dem sich kein Zeitalter ungestraft wird entziehen
500 A. Riehl,
können''. Es war kein geringes Verdienst von Helmholtz, über-
haupt auf Kant aufmerksam gemacht zu haben, in einer Zeit,
deren wissenschaftliche Kreise der Philosophie nur noch mit Miss-
achtung begegneten. Dass seine Auffassung Kants zu ausschliess-
lich von physiologischen Gesichtspunkten geleitet war, um an das
Eigentümliche der Transscententalphilosophie heranreichen zu
können, fällt dagegen weniger ins Gewicht- Ist doch selbst in
philosophischen Kreisen eine verwandte Auffassung durch den Er-
folg, den Schopenhauer hatte, fast allgemein zur Herrschaft ge-
langt. Auch Albert Lange in dem vielgelesenen Buche: die Ge-
schichte des Materialismus teilte ihren Standpunkt. — Eine Zeit
lang blieb Kaut „der Mann der Physiologen"; man setzte seine
Lehi'e von den a priorischen Formen der Erfahrung mit den Fort-
schritten der Physiologie der Sinne in .Verbindung. Dann lenkte
auch die Philosophie, Kuno Fischer und Eduard Zeller voran, zu
Kant zurück und in den sechziger Jahren verbreitete sich immer
allgemeiner eine eifrige Erforschung seiner Werke, bis seine eigene
Vorhersagung aus dem Jahre 1 797 : in hundert Jahren werde man
seine Schriften ei-st recht verstehen und dann seine Bücher aufs
neue studieren und gelten lassen, wenigstens, was das Studieren
betraf, noch ehe die Zeit um war, in Erfüllung gegangen war.
Die Rückkehr zu Kant ist in Wahrheit einem Fortschritt -^
gleich zu achten. Die Fäden wurden wieder angeknüpft, welche -?^
Wissenschaft und Philosophie zu wechselseitigem Nutzen verbinde]
und nur zeitweilig von der Naturphilosophie durchschnitten wordei
waren. Auch sollte das Losungswort: Zurück zu Kant! keii
Stehenbleiben bei Kant bedeuten; denn auch die Wissenschaft:^*
seit Kant ist nicht stehen geblieben. Wohl hat uns der Gang deMB»
wissenschaftlichen Entwickelung seine Philosophie wieder so nah^^
gebracht, als trennte uns kein Jahrhundert von ihr; aber wijzrw
vergessen darüber nicht, was alles in ihr der Vergangenheit aiK. -
gehört und aus einer vielfach anderen Lage der Probleme hervoM*-
ging. Wir haben gelernt, das geschichtlich Bedingte und Be-
dingende seiner Lehre von dem, was in ihr bleibenden Wert hat,
zu unterscheiden ; wir erklären jenes und suchen dieses zu verein-
fachen und fortzubilden. Denn nicht bloss mathematische, aucA
philosophische Erkenntnisse bleiben, nachdem sie einmal entdeckt
sind, ein unverlierbarer Besitz der Wissenschaft.
/
\
Anfänge des Kritizismus. — Methodologisches aus Kant. Ô01
Die Entwickelang der kritischen Philosophie ist wesentlich
eine Entwickelung îhi-er Methoden; auf die Untersuchung der
Methoden hat daher unsere Darstellung den Nachdruck zu legen.
Namentlich aber für das Verständnis Kants gewinnt diese Aufgabe
noch eine besondere Bedeutung. Kant selbst nannte sein Werk
den „Traktat der Methode"; er wollte mit demselben der Philoso-
phie ein „neues Organ** geben, woran er den aufmerksamen Leser
schon durch das Citat aus Bacon auf dem Titelblatte seines Buches
erinnert. Nicht eine Darstellung der Philosophie war darin beab-
sichtigt, ihre künftige wissenschaftliche Darstellung sollte ermög-
licht und vorbereitet werden. Daher die Zusammenfassung der
wesentlichen Ergebnisse des Werkes in die Bezeichnung : „Prolego-
mena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft
wird auftreten können", womit auf das deutlichste der methodische
und proprädeutische Charakter der Kritik der reinen Vernunft
aasgedrückt ist.
Neu und eigenartig ist schon die Fragestellung der Kritik
und wohl durfte Kant sagen, was er in seinem Werke bearbeite,
sei eine ganz neue Wissenschaft, von der selbst die blosse Idee
unbekannt war: die Wissenschaft und Kritik der unabhängig von
der Erfahrung über Dinge urteilenden Vernunft ; denn dies bedeutet
reine Vernunft. Andere, bemerkt er in einem Schreiben an Garve,
haben zwar dieses Vermögen auch berührt, er nennt in diesem
Zusammenhange Locke sowohl als Leibniz, Niemand aber habe
sich auch nur in Gedanken kommen lassen, dass dies ein Objekt
einer förmlichen und notwendigen, ja sehr verbreiteten Wissen-
schaft sei. Selbst Hume, sein „scharfsinniger Vorgänger**, hatte
das Problem noch nicht in seinem ganzen Umfange erkannt und
scheiterte an seiner Lösung. — Nicht wie der Mensch zu Er-
fahrung und Wissenschaft gelange, durch welche Vermögen oder
Prozesse seines Geistes, — was Wissenschaft sei und Erfahrung
als solche enthalte, ist Gegenstand der Untersuchung Kants. Seine
Frage bezieht sich auf den Begriff der Erkenntnis und die Be-
dingungen, unter welchen Erfahrung Erkenntnis ist und darum
ist bei ihm nicht von dem Entstehen der Erfahrung die Rede,
sondern von dem, was in ihr liegt. „Das erstere gehört zur em-
pirischen Psychologie und würde selbst da ohne das zweite,
welches zur Kritik der Erkenntnis gehört, niemals gehörig ent-
wickelt werden können."
Ô02 A. Riehl,
Wesen und Richtung der Methode Kants sind schon durch
diese Frag^estellung bestimmt. Kaut betrachtet nicht anmittelbar
die Erkenntnisvermögen, er unterscheidet und prüft die Erkennt-
nisarten. Und wenn er sich zu Überschriften einzelner Abschnitte
seines Werkes der Namen für psychologische Vermögen bediente,
so folgte er damit nur einem Herkommen der Wolffechen Schnle,
das auf den eigentlichen Gang seiner Untersuchung keinen Eän-
fluss nimmt. Nicht von der ^.Sinnlichkeit'', als einem Vermögen
des Subjektes handelt die Kritik, sondern von den Begriffen des
Baumes und der Zeit als reinen Anschauungen; nicht von dem
Verstände oder der Vernunft, als Fähigkeiten des menschlichen
Geistes, sondern von den logischen Einheitsbegriffen, die durch
die Beziehung auf mögliche Anschauung zu Kategorien, d. L zn
reinen Verstandesbegriffen von Dingen überhaupt werden, nnd
von den Vernunftbegriffen oder „Ideen'', die sich aus den Formen
der Schlüsse ergeben und zu Objekten vermeintlicher Wissen-
schaften aus reiner Vernunft gemacht werden. Kant untersucht
die reinen Begriffe objektiv, so wie die Logik Begriffe untersucht,
die auch nicht darnach fragt, wie sie in uns erzengt werden,
sondern darnach, was sie sind und vorstellen. Und so nebensich-
lich für seinen Zweck erschien ihm die Frage nach ihrem psycho-
logischen Ursprung, dass er schreiben konnte: „diese Begriffe
mögen uns beiwohnen, woher sie wollen, (die Frage ist:)
woher nehmen wir die Verknüpfungen derselben? sind es Offen-
barungen, Vorurteile u. s. w.?" Noch bestimmter lautet eine Auf-
zeichnung aus der Zeit der Vollendung seines Hauptwerkes (nach
1777): „ich beschäftige mich nicht mit der Evolution der
Begriffe wie Tetens, den Handlungen, dadurch Begriffe erzeugt
werden, nicht mit der Analysis wie Lambert, sondern bloss mit
der objektiven Gültigkeit derselben." Kants kritische Phüo-
sophie kennt, was ihre Hauptfrage: die objektive Gültigkeit der
reinen Erkenntnis betrifft, keine Psychologie. Auch war diese
Frage psychologisch nicht zu lösen; denn sie liegt nicht auf dem
Wege der Psychologie. Die Kant eigentümliche methodische
Leistung ist, ein Verfahren gefunden, und in Anwendung gebracht
zu haben, welches gestattet, unabhängig von jeder näheren An-
nahme über die Entstehung der reinen Erkenntnis, die Be-
dingungen und Grenzen ihres gültigen Gebrauches zu zeigen.
Das Wort, das Leibniz für sein Verhältnis zu Locke ge-
brauchte, gilt auch für Kant. Auch für ihn handelte es sich
Anfänge des Kritizismus. -- Methodologisches aus Kant. 508
„nicht um die Geschichte der Entdeckungen, die bei verschiedenen
Menschen verschieden sein kann, sondern um die Verknüpfung
und natürliche Ordnung der Wahrheiten, welche immer die-
selbe ist".
So bestimmt als möglich unterscheidet Kant den Ursprung
der Vorstellungen in psychologischem Sinne von der Frage nach
dem Ursprünglichen im Sinne der Erkenntnistheorie: das der Zeit
nach in der Entwicklung des Bewusstseins Vorangehende, von
dem, was der Ordnung der Begriffe nach zur Begründung der Er-
kenntnis vorauszusetzen ist. „Der Ursprung, schreibt er in einer
Aufzeichnung, ist zweifach (d. h. die Frage darnach hat eine
doppelte Bedeutung), wie wir dazu gekommen sind: Psychologie,
und wie Erkenntnisse a priori möglich sind: Transscendentalphilo-
sophie." Weil man diese Unterscheidung nicht kannte, durfte
man mit einigen Anschein behaupten: wenigstens in der Frage
nach dem Ursprung der Vorstellungen bleibe die Erkenntnistheorie
abhängig von der Psychologie. Nur auf den Ursprung im zweiten,
von Kant entdeckten Sinne, der auch allein Gegenstand einer
„transscendentalen*" Kritik sein kann, bezieht sich der Ausdruck
a priori. Dieser Ausdruck bezeichnet niemals ein zeitliches,
sondern stets nur ein begriffliches Verhältnis unter den Erkennt-
nissen. Mit anderen Worten: a priori heissen bei Kant Erkennt-
nisse, nicht weil sie zeitlich der Erfahrung vorangengen, oder vor
aller Erfahrung gegeben wären, „der Zeit nach geht keine Er-
kenntnis in uns vor der Erfahrung vorher"; sie heissen a priori,
weil sie über die Erfahrung hinausgehen und mehr behaupten, als
reine Erfahrung lehren kann. Und die Gültigkeit solcher Erkennt-
nisse a priori, die nicht auf den Bereich blosser Beziehungen der
Begriffe beschränkt, oder in Kants Sprache: analytisch sind, zu
beweisen; dazu ist die ;,transscendentale" Methode bestimmt.
Die Apriorität ist das Problem Kants, der transscenden-
tale Beweis die Lösung des Problems. Er hat begreiflich
zu machen, wie Erkenntnisse objektiv gültig sein können und
müssen, obgleich sie a priori sind. „Es ist in der Kritik,
schreibt Kant an C. L. Reinhold, die Aufgabe zu zeigen, welche
Gesetze die objektiv gültigen sind, und wodurch man berechtigt
ist, sie als von der Natur der Dinge geltend anzunehmen,
d. i. wie sie synthetisch und doch a priori möglich sind, sonst
ist man in Gefahr, eine bloss subjektive Notwendigkeit aus Ge-
wohnheit oder Unvermögen, sich einen Gegenstand auf andere
501 A. Riehl,
Art fasslich zu machen, für objektiv za halten. ** und fiberein-
stimmend damit erklärt die „Eritik'': ^der Begriff der Ursadie
z. B. würde falsch sein, wenn er nur aaf einer ans ein-
gepflanzten Notwendigkeit beruhte. Ich würde nicht sagen
können, dass die Wirkung mit der Ursache im Objekte (d.i
notwendig) verbunden ist, sondern: ich bin nur so eingeriditet,
dass ich diese Voi-stcIIung, die Wirkung, nicht anders als so T6^
knüpft denken kann. Auch würde es nidit an Leuten fehlm, die
diese subjektive Notwendigkeit, die gefühlt werden moss, von
sich nicht gestehen würden; zum wenigsten kOnnte man mit Nie-
manden über dasjenige hadern, was bloss auf der Art beraht,
wie sein Subjekt organisiert ist^. — Fichte war also gua
im Bechte, zu sagen, eine Ableitung der Notwendigkeit ans des
„Gemüte*" mache diese. Notwendigkeit um nichts begreiflicher, als
ihre Ableitung von Dingen ausser uns; nicht im Bechte aber war
er, es gegen Kant zu sagen, der dies auch schon wnsste und aus-
gesprochen hatte. — Es heisst, den Schwerpunkt der Kritik yet-
schieben, wollten wir mit Helmholtz „den ausserordentlicbstai
Fortschritt, den die Philosophie mit Kant machte', darin erblicken,
dass „Kant das Gesetz der Kausalität und die übrigen Formée
der Anschauung und Gesetze des Denkens aufsuchte und als
solche nachwies". Die Merkmale der Apriorität: wahre Allge-
meinheit und strenge Notwendigkeit sind innere Merkmale gewisser
Erkenntnisse als solcher, keine blosse Folgen oder Kennzeichen
ihrer Entstehung aus dem Subjekte. Und eben dass das Gesetz
der Kausalität kein Denkgesetz ist, sondern ein Gesetz der Ver
knüpf ung der Dinge, und dennoch a priori, macht dieses Gesetz
und die übrigen Grundsätze der „reinen Naturwissenschaft* für
Kant zum Problem.
Wo immer Kant auf die Frage des psychischen Ursprungs
der Vorstellungen zu sprechen kommt, entscheidet er sich im
wesentlichen für die empiristische Theorie. Er kennt keinen rein
subjektiven Ursprung irgend welcher Vorstellungen, weder in Ge-
stalt „angeborener Ideen", noch in der Art, dass sie sich von
selbst und ohne Aulass der Erfahrung erzeugten. „Die Kritik er-
laubt schlechterdings keine auerschaffenen oder angeborenen Vor-
stellungen, alle insgesamt, sie mögen zur Anschauung oder zu
Verstandesbegriffen gehören, sieht sie als erworben an." Aus-
drücklich erklärte sich Kant für das System der „Epigenesis^, der
Entwicklung der Vorstellungen nach natürlichen Gesetzen, and
Ânf&nge des Kritizismus. — Methodologisches ans Kant. bOö
gegen das „Präformationssystem": die Behauptung von im voraus
fertigen Formen des Bewusstseins. Dies hat man sich gegenwärtig
zu halten, um bildliche und abgekürzte Ausdrücke wie: „im Ge-
müte bereit liegen" u. dgl. nicht misszuverstehen. Eindrücke der
Sinne müssen stets vorangehen, „um die ganze Erkenntniskmft
zu eröffnen"; Voi-stellungen entspringen aus dem Gemüte „nur in
Verbindung mit anderen Dingen". Wenn daher gesagt wird: ein
Begriff gehe vor der Wahrnehmung vorher, so bedeutet dies „die
blosse Möglichkeit des Begriffs". So geht z. B. die Zeit „zwar
als formale Bedingung der Möglichkeit der Veränderungen vor
diesen objektiv (d. i. dem Begriff nach) voran, allein subjektiv
und in der Wirklichkeit des Bewusstseins ist diese Vor-
stellung doch nur, so wie jede andere, durch Veranlassung der
Wahrnehmungen gegeben". Und ebenso: „wenn nicht ausgedehnte
Wesen wahrgenommen worden, so kann man sich keinen Raum
vorstellen". In der „subjektiven Deduktion" der ersten Auflage
der Kritik zeigt Kant, wie sich die Begriffe des reinen Verstandes
zugleich mit und an der Vorstellung der empirischen Objekte ent-
wickeln, Verstand und Erkenntnis eines Objektes also zugleich
entstehen. Durch Abstraktion von den empirischen Bedingungen
ihrer Entstehung lassen sich dann diese Begriffe „in ihrer Lauter-
keit darstellen" und für sich denken. Die Quelle der „reinen"
Begriffe ist sonach nichts als die Reflexion auf die Form der
Begriffe.
Apriorismus und Entwickelungslehre schliessen sich also
keineswegs gegenseitig aus, wie immer wieder behauptet wird, —
und gar die Meinung, Kant sei durch Darwin widerlegt, solIt<?,
ihres Unverstandes wegen, nicht länger ernst genommen werden.
Zur Methode Kants gehört auch sein „sogenannter" Idealis-
mus; denn „er ist lediglich dazu bestimmt, die Möglichkeit unserer
Erkenntnisse a priori von Gegenständen der Erfahrung zu be-
greifen", das heisst also dazu bestimmt, die Aufgabe der Kritik
aufzulösen. Als Bestandteil der transscendentalen Methode führt
er daher selbst den Namen des „transscendentalen" Idealismus.
Und aus diesem blossen Mittel der Methode haben Fichte und ihm
folgend Schopenhauer ein Ergebnis, ja das Hauptergebnis der
Kantischen Philosophie gemacht und damit das Verständnis der-
selben auf lange Zeit hinaus aufgehalten. Noch heute geht die
Sage um von Kants ,,Ultraidealismus" und findet Glauben bei
denen, die Kants Worte hören, aber ihren Sinn nicht kennen. In
(
t
Wahihi'il ist df^r ^transsi'^ndeotale" mler kritische Idealismus ^clas
(irjjTt'ïihMl iléH Ideallsnnis iü cli^r rccîi>ierten Bedenliing des Wortei»'*
ihhI KieliMrl dor Erfahruu^serkenntnis ihre Realität Er ist ein
Intiiialor, kmn materialer Idealismas, — ein Idealismns in An-
M'htHiflf nur der Form der Anschauung der Dinge, nicht der Dinge
si'IUhI, diu d<»ri Stoff zn unseren Anschanungen geben; er heisst
diilHi" auch besser die Lehre von der Idealitüt des Raumes und
ili I Zeit, welche Bezeichnung Kant selbst für ihn gebraucht bat
KiHil „räumt nicht bloss ein, er dringt, darauf^ dass unseren Vor-
slellniigeii äusserer Dinge i^irkliche Gegenstände äusserer Dinge
nnt.stirfichen", nur lehrt er, dass die Form ihrer Anschauung nicht
ilmeij selbst» sondern der sinnlichen Vorstellungsart des Subjektes
miliîifte. Die f^ehre, dass Raum und Zeit — und zwar der abso-
liitf' Kaum und die absolute Zeit, wie Newton sie verstand — Formen
des Anschauens der Dinge sind, begründet und erschöpft zugleich,
den „Idealismus" Kai»ts. I)i(^ Realität der Dinge, die diese:
Formen gemäss ei^seheirien, wird dadurch nicht augetastet; sie is^^
vielmehr für die Möglichkeit der empirischen Anschauung voraus — ^
gesetzt, richtiger: in dem Faktum dieser Anschauung mitgegebet*^,
— Kant scheidet aus der Wiiklirhki'it die ,, Undinge** eines füi^^r
sich bestehenden Raumes, einer an sich gegebenen Zeit aus, uktx
zu verhüten, dass nicht die eigrnitüciien Dinge, wenn man sie
von jenen l'ndingen abhängig denkt, in lauter Schein verwanden Jf
werden.
Methüdische Bedeutung kommt auch dem unmittelbar blxms
dieser Idealität^lehre gefolgerten Begriff der „Dinge an sich** mit
seinem Korrelate, dem Begriff der Erscheinungen, zu. Der Amk-
druck: Dinge au sich, eine Übersetzung von Lockes ,,thiu|^
theniHelvea (res ipsoe), bedeutet nirht Dinge, die ausser allen Ver-
liältni.'^Hini stünden, so wie iter x\Iet;iphysiker das „Absolute** denkt;
nr bndf^ite! die Ding*' abgesehen wm ihrem VVrhäUnis zur Ali-
Ächnunngmirt des Subjektes. Wir brauchen diesen Begriff, um
wuw/.ndrlb'ken, ilass die unmittelbaren ( »bjekte der sinnlichen An-
ncliHMiiiiK [M'M'heinungen der Dinge sind, und darum ist er eiu
melhofliscliei Begriff* Die Unterscheidung der Dinge selbst ?oii
Jltren (0«c|ii Iniingini gehört zur Kritik der sinnlichen Erkenntnis,
filne Vnriloppelnng der Objekte soll mit ihr nicht gemeint sein-
Vl*<1m^dir l'^tiii die „Kritik** ^das nämliche Objekt in zweierlei
(|^d>'MfM(Jif »M'linien*' eben als Erscheinung und als „Ding an siel
^^|l,^( hlti l'fHcheinung hat jederzeit zwei Seiten, die eiu^
Ânf&nge des Kritizismus. — Methodologisches aus Kant. f)07
da das Objekt an sich selbst betrachtet, die andere, da auf die
Form der Anschauung dieses Gegenstandes gesehen wird." Ob
es Dinge giebt, die den Sinnen nicht erscheinen, also keine
Gegenstände einer möglichen Erfahrung sind, „andere, mögliche
Dinge", lässt sich durch die theoretische Vernunft nicht ent-
scheiden und ist auch für die Begründung der Erfahrung ohne
Bedeutung. — Wir denken die Dinge an sich durch die Begriffe
des reinen Verstandes, wir erkennen sie durch empirische An-
schauung, also immer nur mittelbar, nämlich vermittelst ihrer Er-
scheinungen. Deshalb heisst das Ding an sich „ein seiner Be-
schaffenheit nach unbekannter, aber nichts desto weniger wirk-
licher Gegenstand". „Unsere Erfahrungen und auch unsere
Erkenntnisse a priori, so lautet die Summe von Kants hierher ge-
höriger Anschauung, gehen nicht unmittelbar auf Objekte, sondern
zunächst auf die subjektiven Bedingungen der Sinnlichkeit und
der Apperception und vermittelst dieser auf unbekannte Objekte,
die durch sie allein vorgestellt werden können." (Mitgeteilt in
Reicke „Lose Blätter".) Die Existenz der Dinge selbst als
„der bestimmenden Ursachen der Erscheinungen" steht für Kant
ausser Zweifel: „Dinge an sich geben den Stoff", Erscheinungen
der Dinge sind der Stoff „unserer empirischen Anschauungen".
Dass die Erscheinungen selbst Regeln haben, ist kein Bruch
in Kants Beweisgange, wie ein Ausleger Kants behauptet hat,
wohl aber fordert dieser unstreitig richtige Satz zum Bruche auf
mit der traditionellen, von Fichte ausgehenden subjektivistischen
Auffassung Kants. Die Existenz der Dinge mit ihren geglichenen
Verhältnissen, die in besonderen Naturgesetzen ihren Ausdruck
finden, ist die Voraussetzung der Kritik, ohne welche ihre ganze
Frage keinen Sinn hätte. Denn wenn alle Erkenntnisse a priori
wären — und sie müssten es sein, hätten nicht die Erscheinungen
selbst ihre Regeln — , so könnte auch die Frage nach der „Mög-
lichkeit" jener Erkenntnisse nicht entstehen. Mit der Aufhebung
der Dinge selbst und damit der empirisch gegebenen Verhältnisse
ihrer Erscheinungen lenkte die Philosophie nach Kant zum Dog-
matismus zurück. Und dieser neue Dogmatismus erwies sich sogar
noch bequemer als der alte, von Kant überwundene; brauchte er
sich doch für seine Möglichkeiten oder reinen Begriffe nicht erst
nach einer Ergänzung umzusehen, nach Wolffs berühmten „com-
plementum possibilitatis". Für ihn fielen Möglichkeit und Wirk-
lichkeit zusammen; der Begriff schafft sich selbst seine Objekte
608 A. Riehl,
nnd Denken nnd Sein sind ein nnd dasselbe. Es bleibt dagegen
bei dem schlichten Satze Kants: „bestimmte Regeln der Sjnthes»
müssen durch Erfahrung gegeben werden, nur die allgemeine
Form derselben ist a priori".
Alles, was nicht aus der reinen Form unserer Anschaming
stammt und über den blossen Begriff eines Gegenstandes hinaus»
geht, rührt nach Kants ausdrücklicher Lehre von den Dingen
selbst her: das Gegebensein einer bestimmten Empfindung und des
Grades ihres Eindruckes, die besonderen Grestalten und Verfatit-
uissc, in denen die Körper uns erscheinen und ebenso auch weldie
Erscheinung beharrt, mit einer anderen gleichzeitig ist, einer an-
deren vorangeht oder folgt: mit einem Worte aller Gehalt der
Erfahrung. „Das Physische, der Gehalt der Erscheinungen, kann
nie anders auf bestimmte Art, als empirisch gegeben werden*.
In diesem Sinne unterscheidet Kant die empirischen Naturgesetz
von den allgemeinen Gesetzen der Natur: die empirischen GeseUe
von den Gesetzen des Empirischen als solchen. Nur die letzteren
betrachtet er als a priori; denn „sie belehren uns von Erfahmng
überhaupt und dem, was als ein Gegenstand desselben erkannt
werden kann und lassen sich daher unabhängig von der Erfahrung,
wenn auch nicht ohne Beziehung auf sie erkennen^. Sie sind ebai
darum die allgemeinen Gesetze der Natur, weil sie die Gesetze
der Erfahrung der Natur sind. Empirische Naturgesetze da-
gegen setzen jederzeit besondere Wahrnehmungen voraus und
können daher nur durch Erfahrung bekannt werden. „Ohne Be-
lehrung der Erfahrung könnte ich weder aus der Wirkung die
Ursache, noch aus der Ursache die Wirkung bestimmt erkennen*;
ebenso „müssen Beobachtung und Beurteilung zeigen, welches die
Substanz ist". Denn „Naturerscheinungen sind Gegenstände, die
uns unabhängig von unseren Begriffen gegeben werden, zu denen
also der Schlüssel nicht in uns und unserem reinen Denken, son-
dern ausser uns liegt und eben darum in vielen Fällen nicht auf-
gefunden werden kann". Und was von den besonderen Regeln
der Erscheinungen gilt, gilt auch von den Formen der letzteren
selbst. Ihre „unermessliche Mannigfaltigkeit ist aus der reinen
Form der sinnlichen Anschauung allein nicht zu begreifen**.
Vielmehr: „Dinge als Erscheinungen bestimmen den Raum, d.i.
unter allen möglichen Prädikaten desselben (Grösse und Verhält-
nis) machen sie es, dass diese oder jene zur Wirklichkeit gehören".
— Die Rede von dem „rohen Stoff" der Erfahmng, dem Kant
Anfänge des Kritizismus. — Methodologisches aus Kant. 509
das Subjekt als allein formgebend gegenübergestellt habe, sollte
endlich verstummen. Jener Ausdruck kommt in der Kritik nur
einmal vor — leider am Eingang, weshalb er sich so leicht ein-
geprägt haben mag — und er bezieht sich an jener Stelle aus-
schliesslich auf die isoliert gedachten sinnlichen Eindrücke als
solche, auf Humes „Impressionen*", die dieser fälschlich schon für
Objekte nahm. Überall sonst zählt Kant auch die in der Wahr-
nehmung gegebenen Verhältnisse der Erscheinungen, ihre bestimmte
Mannigfaltigkeit, empirische Ordnung und Regelmässigkeit, zum
„Stoff" der Erfahrung.
So wenig hat sich Kant, wie man ihm vorgeworfen hat,
„gesträubt, das was uns sinnlich gegeben ist, irgendwie mass-
gebend werden zu lassen", dass er gerade im Gegenteile in der
Beziehung auf empirische, d. i. sinnlich gegebene Anschauungen
den einzigen Beweisgrund für die objektive Gültigkeit der reinen
Erkenntnis sah. „Selbst die mathematischen Begriffe, erklärt er,
sind für sich nicht Erkenntnisse, ausser sofern man voraussetzt,
dass es Dinge giebt, die sich nur der Form jener reinen An-
schauung gemäss uns darstellen lassen; Dinge im Räume und in
der Zeit werden aber nur gegeben, sofern sie Wahrnehmungen
sind, mithin durch empirische Vorstellung". Von der Geometrie
heisst es sogar: „sie würde die Beschäftigung mit einem blossen
Hirngespiunste sein, wäre der Raum nicht als Bedingung der Er-
scheinungen, welche den Stoff zur äusseren Erfahrung ausmachen,
anzusehen". „Der Raum und die Zeit, so rein diese Begriffe
auch von allem Empirischen sind, würden doch ohne objektive
Gültigkeit und ohne Sinn und Bedeutung sein, wenn ihr notwen-
diger Gebrauch an Gegenständen der Erfahrung nicht gezeigt
würde; ja ihre Vorstellung ist ein blosses Schema, das
sich immer auf die reproduktive Einbildungskraft be-
zieht, welche die Gegenstände der Erfahrung herbeiruft, ohne die
sie keine Bedeutung haben würden, — und so ist es mit allen
Begriffen ohne Unterschied." Auch „die reinen Verstandes-
begriffe verschaffen nur sofern Erkenntnis, als sie auf empirische
Anschauung augewandt werden können. — Nur daran, dass diese
Begriffe die Verhältnisse der Wahrnehmungen in jeder Erfahrung
a priori ausdrücken, erkennt man ihre objektive Realität". — Als
so massgebend zur Begründung der Erkenntnis betrachtete Kaut
das, was uns sinnlich gegeben ist.
510
A. Hiehl,
Es ist eine Folge der Begrenzung seiner Aufgabe, kei
Fehler seiner Metliode, wenn Kant diesem Ziisaninienhang der reinen
Erkenntnis mit der enipirischen nirgends ins Einzelne nachgeht
Für seinen Zweck genügte es, zu erklären, dass die Gegeusüind
der äusseren Erfahrang den Kegeln der Konstruktion des Räume
notwendig gemäss sein müssen, da die empirische Ansrhauunl
nur in der Form der reinen stattfinden kann, oder darauf hinziH
weisen, dans die empirisf^hen Gesetze der Natur unter jenen reinen
und ursprünglichen Gesetzen stehen, auf denen Natur überhaupt
beruht, Sein*^ Absicht war auf dir Kritik der reinen Vernunft
gerichtet, nirht auf eine Theorie der empirischen. Der Nachditirk
fällt daher bei ihm auf die negativ-kritische Seite seines Vei^|
fahrens. Die transsceiulental*^ Dialektik ist eigentlich die Kritik
der reinen Vernunft, von der das ganze Werk diesen Namen em-
pfing, Sie hob das Wissen von übersinnlichen Dingen auf und
damit die theoretisch-dogmatische Mi^taphysik. Die Grundlegung
der Ei'fahrung dagegen, worauf wir heute das Gewicht legeii^^
sollte für sie nur die Voraussetziuig bilden, das Mittel zum ZwecM^I
„Reine Mathematik und Naturwissenschaft, so heisst es ausdrück-
lich, hätten zum Behuf ihrer eigenen Sicherheit und Ge-
wissheit keine Deduktion (ihrer Grundbegriffe) bedurft"*. Die eine
ist 8chon durch ihre Evidenz hinlänglich gerechtfertigt, die zweite
durch die Bestätigung, welche die Erfahrung ihr giebt. Auch ist
es für den Gebrauch ihrer Prinzipien von Gegeuständeo der Er-
fahrung offenbar gleichgültig, ob man auüehmeu will, dass auch
diese Prinzipien selbst wieder aus der Erfahi-ung stammen, oder
weiss, dass sie die Erfahrung von Gegenständen überhaupt eist
erniöglicheu ; nur wird, was im eisten Falle als thatsächliche Be-
stätigung ei*scheint, im zweiten als notwendige erkannt. „la
allen Aufgaben, die im Felde der Erfahrung vorkommen mögen,
behandeln wir die Erscheinungen als Gegenstände selbst, ohne uns
um den ersten Grund ihrer Möglichkeit zu kümmern. Gehen wir
aber über die Grenzen der Erfahrung hinaus^ so wird der Begriff
eines transscendentalen Gegenstandes notwendig."
Kant hat die Erfahningsgruiidlage alles Wissens von Ob-
jekten nicht nui' anerkannt — wie hätte er auch sonst der Er-
kenntnis a priori die empirische gegenüberstellen können! — er i
hat ihre Bedeutung gi-undsätzlich auch richtig geschätzt ; aber, wie
es die Natur seiner Aufgabe mit sich brachte, eben nur giimd-
sätzlich, oder im allgemeinen. Und so allein wird es begieiflieh.
Aîifon^ des KritiÄisinim, — Metlmdoloerisches ans Kant. oll
bm Fichte, der nicht von den exakten Wissenschaften herkam,
noch mit ihren Methoden vertraut war, in dieser Anerkennung
und Wertschätzung des rein empirischen Faktors des Erkennens
durch Kaut einen Rest vôu ^Dûgmatismus*' erblicken nud nun
seinerseits darangehen konnte, auch den gesamten Inhalt und die
besonderen Formen der Erfahrung für a priori auszugeben. ^Dass
die Erscheinungen aus der Organisation der Vernunft ohne Rest
hervorgehen und darum erkennbar sind", ist nicht, wie Kuno
Fischer will, Kants Lehre, sondern im wesentlichen Fichtes Be-
hauptung, Nur die allgemeine Form der Erscheinung und Er-
fahrung ist nach Kant a priori zu erkennen, aber weder das Da-
sein der Ersclieinuugen, denn es beruht auf Affektion der Sinne
und ist daher immer nur empirisch zu erkennen, noch auch die
«unabsehbare Mannigfaltigkeit** ihrer besonderen Formen* Und
flicht darum sind die Begriffe jener allgemeinen Fonn Erkenntnis-
begriffe, d, i. objektiv gültig, weil sie aus der „Orgauisation der
Vernunft" hervorgehen, denn soweit könnten sie immer nur sub-
jektiv gültig sein; sie sind es, weil sie sich ungeachtet ihres teil-
weise subjektiven Ui^prungs als Formen der empirischen An-
schauung auf die Dinge selbst beziehen. Fichte erst hielt es für
möglich, den ganzen Gehalt der Erfahrung aus einer im Grunde
nicht eiumal wii'klicheu, sondern sein sollenden, sich selbst erst
setzenden „Thathandlung^ eines absoluten Subjektes hervorzu-
zaubern, aus einer mit Nichts und aus Nichts schaffenden
Form. Den Raum lässt er durch ,,Linieuziehen" erzeugt werden,
wähj-eud offenbar die Möglichkeit Linien zu ziehen den Rauni
voraussetzt; von dem Leibe aber und seiner Gliederung gab
er eine Deduktion, die nicht gerade Lust erregen wh-d, diese
Physiologie a priori gegen die empirische einzutauschen. Kants
Wort über die „Wissenschaftslehre'* ist treffend genug: „es sieht
aus wie eine Art von Gespenst, das, wenn man es gehascht zu haben
glaubt, man keinen Gegenstand, sondern immer nur sich selbst
Qud zwar hienron auch nur die Haud, die darnach hascht, vor
sich findet", — Dieser Sprung ins Leere von dem realistischen
Boden der Kantischen Philosophie weg, ist auch durch Hchellings
nur ideologische, daher auch nur scheinbare Wiedereinsetzung der
Natur nicht rückgäugig gemacht worden. Um zu verstehen, was
jene kühne Behauptung Fichtes eigentlich bedeute, brauchen wir
nui* zu erwägen, welch unverhältnismässiges Übergewicht in dem
Bestände unserer Erkenntnis der empirische Faktor des Wissens
612 A. Riehl,
Über den apriorischen, oder rein ideeUen thatsächlich besitzl
Während ans diesen nichts als die allgemeine Form der Erfahrung
hervorgeht, ihr mathematisches nnd logisches Schema, bringt jener
den gesamten Inhalt und die besonderen Formen der Erfahrongen
herbei. Von ihm allein bekommt jede Erkenntnis, die nicht aof
das logisch-mathematische Gebiet beschränkt bleibt, Bestimmtheit
nnd Gehalt, und wie sich reine Logik und Matiiematik za da
positiven Wissenschaften verhalten, zu Mechanik, Physik, Chemie,
Biologie u. s. w., so verhält sich der apriorische Teil unso^
Wissens, der jenen Formenwissenschaften zum Grunde liegt, n
den empirischen, der allererst den Stoff für sie liefert.
Kant wusste es selbst am besten, dass seine kritische Philo-
sophie noch einen „Übergang*" zu den positiven Wissenschaften
bedarf. In diesem Sinne gesteht er Reiuhold und zugleich den
anderen „hyperkatischen"" Anhängern, dass er es lieber sehen
würde, wenn die Kritik statt „aufwärts durch weitere Zerg^edemng
der Fundamente des Wissens*", vielmehr durch ,.die abwärts foit-
gesetzte Entwickelung ihrer Folgen*" fortgebildet werde. Und
noch mit sinkender Kraft seines Geistes beschäftigte er sich selbst
mit der Ausfüllung dieser Lücke seines Systems nach zwei Bifih-
tnngen: er suchte den „Übergang von den metaphsrsischen An-
fangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik** durch Einführong
einer geistvollen Hypothese und er bemühte sich, die Entstehung
auch der empirischen Anschauung zu zeigen. Denn hier eben
tritt das Recht einer Phänomenologie des Wissens ein, wäh-
rend eine solche zur Begründung der Erkenntnis nicht am Platze
wäre. Und von diesem Punkte aus hat die Prüfung sowohl als
die Fortbildung der Kantischen Lehre einzusetzen. — E^ ist der
Voi*zug der kritischen Philosophie und das Kennzeichen ihres
wissenschaftlichen Charakters, dass sie mit der fortschreitenden
positiven Wissenschaft selbst fortschreiten kann und muss. Die
Wissenschaften wachsen, und es mehil sich ihre Philosophie.
Äussere Schwierigkeiten des Verständnisses der „Kritik** be-
reitet dem Leser von heute schon die veraltete scholastische Fono
ihrer Darstellung. Uns erscheint das Werk schwerfällig, unnötig
weitschweifig, mit Wiederholungen überladen und eben darum
dunkel. Und Kant selbst musste gesteheu, dass die Form seines
Buches ganz vei*scbieden sei vom „Tone des Genies". Blättert
Anfänge des Kritizismus. — Methodologisches aus Kant. 513
man hin und her, bemerkt er, so kann nichts pedantischer
scheinen, ob es zwar zur Abschaffung alles Pedantischen in
Fragen, welche die Natur der Seele, die Zukunft und den Ur-
sprung aller Dinge betreffen, ganz eigentlich abgezielt ist. „Der
menschliche Verstand fehlt hier durch Subtilität, und muss da-
durch widerlegt werden." „Es ist wahr, dass einige Leser durch
Trockenheit abgeschreckt werden. — Aber der Schule muss zuerst
ihr Recht widerfahren."
Die Terminologie für sein Werk entlehnte Kant vornehmlich
den für ihre Zeit ganz vortrefflichen Lehrbüchern von Baumgarten,
(Baumgarten ist „der Autor", an welchen Kant ohne nähere
Namensnennung bei seinen Vorlesungen anknüpfte). Doch ge-
winnen selbst gebräuchliche Ausdrücke der Schule wie „a priori",
„transscendental" im Zusammenhange mit seiner Lehre einen
neuen, vertieften Sinn. — Von der Gewohnheit, der auch Baum-
garten folgte, unter psychologischen Titeln logische und metaphy-
sische Gegenstände abzuhandeln, war schon die Rede. Belehrender
noch ist an die Stelle zu erinnern, welche Baumgarten der Ästhe-
tik, die von ihm diesen Namen erhielt, in seinem Systeme einge-
räumt hatte. Da er das Schöne als Vollkommenheit der sinnlichen
Erkenntnis auffasste, machte er die Ästhetik zu einem Teile der
„Gnoseologie" oder Erkenntnislehre und wies ihr den Platz un-
mittelbar vor der Logik an. Kant behielt diesen Ort im System
und auch den Namen Ästhetik für seine kritische Lehre von
Raum und Zeit, als den Prinzipien a priori der sinnlichen Er-
kenntnis bei; dachte aber bei dem Worte Ästhetik, um dem
Sinne der Alten näher zu bleiben, an die Einteilung der Erkennt-
nis in ästhetische und noetische, während er für die Theorie des
Schönen die Bezeichnung „Kritik des Geschmackes" beibehalten
wissen wollte. Kant legte somit den Entwurf einer vollständigen,
nämlich durch die „Ästhetik" in seinem Sinne erweiterten Logik
dem Aufbau seines Werkes zum Grunde und gliedert es demnach
in Elementar- und Methodenlehre, deren erstere wieder Ästhetik
und Logik, mit ihren herkömmlichen Teilen: der Analytik und
Dialektik, umfasst. Nicht die Psychologie mit ihrer Unterscheidung
niederer und höherer Seelenvermögen, die Logik gab den Rahmen
her für die systematische* Form der Kritik der reinen Vernunft.
„Damit tritt die Logik in den Vordergrund des Kantischen Systems
und die Anknüpfung der kritischen Vemunftlehre an die Logik
wird entscheidend für das richtige Verständnis ihrer Methode". —
Ô14
A. Riehl,
Als ieb vor vielen Jahren diese Worte schrieb, konnte ich nicht
wissen, wie genan sie mit einer eigenen Anssening Kants in eîneq
Briefe au öanre (vom 7. Angust 1783) iîbï^reiiistiiuiuen. Diese
Brief ist erst später bekannt geworden. Nachdem Kant aaseio
andergesetzt hatte, dam f^s nicht Metaphysik sei^ was er in de
Kritik bearbeite, sondern eine ganz uene nnd bisher unversuchte
WisstMischaft, fährt er fort: „die Logik, die jener Wissen^H
Schaft noch am ähnlichsten sein würde, ist doch iu eineniH
Punkte unendlich weit unter ihr, denn sie kann nicht angeben«
anf welche Objekte nnd wie weit die Verstandeserkenntnis gehf^^l
— Der logischen Gliederung des Systems der Kritik geht eine^
sachliche parallel und dieser dienen die rationalen oder metaphy-
sischen Wissenschaften als Einteilungsgnind. In der transscea
dentalen Dialektik werden nacheinander die rationale Psychologie
Kimmologie und Theologie geprüft; an die Stelle der Untologil
aber tritt die Analjiik des reinen Verstandes oder die Grund —
legung der Krfahrung. In der Art, wie diese zweifache Gliederun^^
innerlich verbunden und die sachliche der logisch-formalen unter-
geordnet ist, nffenbait sich eine seltene Kunst wissenschaftlichet*
Systematik. H
>fau kennt die rückwirkende Kraft des Wortes auf den
Begriff, den mitbestimmenden Einfluss einer fest ausgeprägte»
Schulsprache anf die Gedanken, uud schon Locke machte auf die
Gefahr aufmerksam, die in der Verwechslung der Ausdrücke einer
gelehrten Sprache mit wirklichen Begriffen liege, uud empfahl zur
Probe auf ihren reellen Gehalt ihre Übei-setzung in Worte der
Umgangssprache. Den Tadel in dieser Bemerkung Lockes haben
Hamann und Herder gegen Kaut gerichtet; Herder hielt überdie
das Locke'sche Priifuiigsmittel Kant gegenüber für angezeigt. VVa
jedoch zu Gunsten einer schulgeniasseu Terminologie zu sagen ist^
hat bereits Kant selbst gesagt. In dem Aufsatz „von einem vor-
nehmen Ton in der Philosophie'* rechtfertigt er den formalen
Charakter der reinen Philosophie als den einzig für sie sachge-
mässen mit Berufung auf den scholastischen Satz, dass in ie^Ê
Form das Wesen tier Sache bestehe. Und in der Vorrede zu^^
Hecht sphilosophie verteidigt er das Ertordernis einer „scholastischen
Pünktlichkeit, wenn sie auch Peinlichkeit gescholten wüi'de, weil
dadurch allein die voreilige Vernunft dahin gebracht werden kann,
vor ihren dogmatischen Behauptungen (ehe sie sich auf solche ein-
lîisst) sich erst selbst zu vei-stehen/' Kants Terminologie mit
Anfänge des Kritizismus. — Methodologisches aus Kant. Ô1Ô
ihren sorgffältigen Distinktioiien ist auch in der Thai der Ge-
nauigkeit und Strenge der Gedanken in hohem Grade förderlich
und bildet dadurch ein vorzügliches Mittel der philosophischen
Schulung. Auch ist sie, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen,
in ihrer Anwendung von exemplarischer ( -onsequenz und unter-
scheidet sich hierin sehr zu ihrem Vorteile von der späteren philo-
sophischen Sprachverwirrung.
Schopenhauer, ein wirklicher Schriftsteller unter den deutschen
Philosophen, fand den Stil Kants als glänzende Trockenheit zu
charakterisieren. Es bleibe dahingestellt, ob Fülle und Anmut des
Ausdrucks der Exaktheit einer wissenschaftlichen Darlegung überall
günstig sind; Kant aber wählte mit Absicht den trockenen Ton.
In der Metaphysik, meinte er, müsse man subtil sein. Und hätte
er auch wie Hume alle Verschönerung in seiner Gewalt gehabt,
er würde doch Bedenken getragen haben, sich ihrer zu bedienen,
um keinen Verdacht übrig zu lassen, als wolle er den Leser ein-
nehmen und überreden. Dass ihm die P^ähigkeit einnehmender und
anschaulicher Rede keineswegs vei-sagt war, hat er nicht blos
durch die Schriften aus seiner früheren Zeit bewiesen, darunter
„die Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen",
die ihm den Namen des deutschen La Bruyère eintrugen. Auch
in der Kritik der reinen Ternunft finden sich Stellen (jeder Leser
kennt sie) von schriftstellerischem Reize, an denen die glücklichsten
Gleichnisse den Gedanken beleben. Sie muten uns aus ihrer Um-
gebung heraus an wie die melodischen Sätze, die die unendliche
Melodielosigkeit eines modernen Musikwerkes unterbrechen. Kant
besass die auszeichnende Gabe des überlegenen Geistes, durch den
Wechsel des Ausdruckes einen Gedanken von mehreren Seiten
zu erleuchten und gerade die von Schopenhauer gerügten mehr-
fachen Definitionen des „Verstandes" geben dafür ein Beispiel.
Und wenn Schopenhauer mit seltsamen Missgriff den Ausdruck:
„transscendentale synthetische Einheit der Apperception" als Beleg
für eine willkürliche Woitzusaramensetzung wählte und meinte:
es könnte dafür ebensogut „Vereinigung" gesagt werden, so übersah
er nur, dass es auch eine analytische Einheit des Bewusstseins
giebt und dass jedes Wort in jenem Ausdnicke seinen bestimmten
Sinn besitzt
Es soll übrigens nicht geleugnet werden, dass Kants Termi-
nologie in ihrer allzu üppigen Ausspinnung eine zu weit getriebene
Vorliebe für Symmetrie und das Äusserliche der Systematik verrät.
51(>
A. Riehl,
4
m
Der Gedanke wird dadureh öftei's vnu der o:eni(lcii Bahn abgelenkt
Das System wird zur Fessel, seine Rubriken stehen bereit uni
auf die gelungene Eiiioi'dnung eiues Uegeustaudes in das gegebene
Schema fällt gelegeiitüeh eitj zu grosses Gewirlit. Es kann voi
kommen, dass ein und dasselbe F^robleiu sieh zu verdoppeln scheint
nm* weil es an zwei verschiedenen Stellen behandelt werden kann.
Man weiss auch, wie gewaltsam Kant übeiall <1ie Topik seine
Kategorien durchsetzte, und dass er es wirklich fertig bracht
das ästhetische Urteil und den Begriff der llaterie unter eine
und denselben, viereiuigeu Gesichtspunkt zu nicken* Jede philo-
sophische Disziplin ferner, die Ästhetik (in unserem heutigen Sinne)
und die Teleologio so gut wie die Ethik wird nach dem Muster
eines logischen Lehrbuches abgehandelt; jede erhält daher eifie
Elementar- und eine Jlethodeulehre, eine Analytik und eine Dia-
lektik und es vei^teht sich, dass überall auch eine „Antinomie**
obligat ist und miisste eine solche, wie es am augenscheiulichst^u
von der Antinomie der teleologischen l^rteilskraft der Fall ist|
erst eigens erfunden werden.
Noch aus einem anderen Grunde, als des Einflusses wegen» de
die Systematik Kants auf Gang und Inhalt seiner Gedanken geoomme
hat, wird die sorgfältige Beachtung seines Sprachgebrauches zu einem"
Mittel des Vei-ständnisses seiner Lehre. * Kants Sprache in ihref^
feineren Bedeutung ist nämlich nicht mehr oline weiteres verstandlic
und erfordert wirklich ein wenig philologische Behandlung. Sind auch
viele von ihren Kunstansdriicken im pliilosophischen Sprachverkehre
gebheben, so haben sie doch inzwischen eine mehr oder minder
eingreifende ßedeutungsverschiebung erfahren, namentlich in Folge
des Wandels der philosophischen Anschauungen, und es erscheint
daher geboten, ihi'en urspriinghchen Siuïi auf historischem Wege
erst wieder herzustellen. Dass eine solche Bemühung nicht ganz
nebensächlich sei, zeigt sich besonders bei dem wichtigen Ausdruck:
Möglichkeit der Erfahrung. l>ie einseitig idealistische Auf-
fassung imd Fortbildung der Kantischen Philosophie hat es bewirkt,
dass dieser Ausdruck ganz allgemein in subjektivem Sinne ge-
nommen wurde. Man verstand und versteht darunter in der Regel
selbst heute noch das Vermögen des Subjektes zur Erfahnmg, die
Thätigkeiten der Sinne und Handlungen des Verstandes also, durch
welche Erfahrung zu Stande gebracht wird- Folglich halt man
auch ,,die Bedingungen zur Möglichkeit der Erfahrung** für gleich —
bedeutend mit jenen, auf Hervorbringung von Erfahrung zielendeiB.
teu
]
Anfänge des Kritizismus. — Methodologisches aas Kant. 517
Erkenütnisvermögen oder glaubt gar im Sinne Kants von vor aller
Erfahrung gegebenen reinen Anschauungen und Grundsätzen
reden zu dürfen. Kant aber gebrauchte jenen Ausdruck durchweg
iu objektivem Sinne. Dies wird schon durch die parallelen Be-
zeichnungen: „mögliche Erfahrung**, oder gar: „eine mögliche Er-
fahrung überhaupt" hinlänglich augedeutet, durch den feststehenden
Gebrauch aber des Wortes Möglichkeit für in der Wolff'schen Schule
Begriff ausser Zweifel gesetzt. Möglichkeit der Erfahrung bedeutet
demnach bei Kant das Wesen oder den Begriff der Erfahrung
and die Bedingungen einer möglichen Erfahrung sind den subjek-
tiven Erkenntnisquellen, aus denen Erfahrung entspringt, nicht
einfach gleich zu setzen.
So kann schon die unscheinbare Berichtigung des Sinnes eines
Ausdruckes für unsere Gesamtauffassung der Philosophie Kants
von entscheidenden Folgen sein. Man war gewohnt, die Kritik
der reinen Vernunft um des Namens Vernunft willen und mit
Verkennung der ihr eigentümlichen Methode für die Kritik eines
Erkenntnisvermögens des Menschen zu betrachten, sie also psycho-
logisch oder anthropologisch zu deuten; in Wahrheit ist sie eine
objektive Wissenschaft gleich ihrem Muster der Logik, ihr Gegen-
stand ist die reine Vernunft im Sinne der Erkenntnis aus reiner
Vernunft und zum Massstab der Prüfung dieser Erkenntnis nimmt
sie den Begriff der Erfahrung.
Reden
zur Feier der Wiederkehr von Kants 100. Todestage.
Vf>n Hu pro Renner-BerÜD.
Kants Todestag wurde auf fast sämtlichen deutschen T'ïiiver^i täten,
es sei offiKiell uder inoffiziell gefeiert.; und darilber hinau.s zog der Tag
seine Kreise. Er war ein Erinnemngsta^ der deutschen Nation. Er wird
ein Merktag in der Geschichte der Philosophie bleiben. Er hnt gezeigt,
dass in weit atisgedehnterem Mass, als man bislang annahm, auch solche
Gelehrte von Kant befruclitet sind, die man abseits der von Kant herlaufenden
Richtung zu ntellen gew^ohnt war. Vom metaphysischen Idealisten bis
zum psychologistischen Positivisten war eine Stimme der Bewiindeninp
und des Dankes; nicht für das ein© oder das andere seiner Philosophie,
sondern für den ganzen Philosophen, für das Wesen seiner Philosophie.
Der Aspekt ist ein verschiedener, damit auch das Wesen des Mannes
und seiner Philosophie und es mag auf seiner Darstellung beruhen, «nier
auf der Mannigfaltigkeit der Denkantriehe, die er verarbeitete, da ss soviel«
verschiedene Denksysteme sich auf ihn berufen. Vielleicht beruht es audi
darauf, dass der einzelne von seinem eigenen Standpimkt aus Kant sich
dentet und zurechtlegt. Der Gedankenreichtum des Philosophen scheint
es zu ermöglichen. Und doch ist es nicht die Mannigfaltigkeit, soadem
die eiaheitliche Verarbeitung, die ihre mächtige Wirkung hm auf die
Gegenwart erstreckt. Und wie die Philosophie, so der Mann^ innerli«
reich, aber ausgeglichen reich, also einfach und schlicht.
So denken denn alte mit warmer Zuneigung und Verehrung d<
Mannes, der uns ein Fülirer und Berater als Denker» ein Vorbild fün^
Leben war. Wenn ich im folgenden den Versuch mache, die Reden zur
Feier der hundertjährigen Wiederkehr von L Kants Tode zu skizzieretii
HO wird es mir nicht möglich sein^ auch den Gefulïlstan wiederzugeben i
der beredter ist als die Worte. Ich werde mich auf die Worte bi'-
schränken müssen, auch wird es nicht meine Aufgabe sein zu kritisiereß^
ich habe nur Bericht zn erstatten.
II
1) Anm. der Redaktion : Ein vollständiges Verzeichnis der zum lOO-
Todestage Kant« gehaltenen Reden und erschienenen Publikationen ^er»
schieben wir wegen Raummangels bis zum Erscheinen des nächstp^
Heftes,
Beden zur Feier der Wiederkehr von Kant« 100. Todestage. 519
WasKant den Studierenden sein kann, setzt Busse (1) auseinander;
er kann ihnen ein Lehrer im Ideal sein und darunter versteht Kant
„den Philosophen, der die übrigen Wissenschaften benutzt und ver-
wertet, um die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft zu
fördern, dessen Aufgabe es also ist, das Ideal aller Erkenntnis, die philo-
sophische Welterkenntnis zu erringen und mitzuteilen*^.
Die Universitftt ist keine blosse Fachschule, sie ist „eine universitas
litterarum, bestimmt, den sich ihrer Obhut anvertrauenden Jünglingen eine
ebenso gründliche wie umfassende, allseitige universelle Ausbildung zu
geben, die sie in den Stand setzt, an allen Kulturbestrebungen der Zeit
verständnisvollen Anteil zu nehmen**. Kant war gleichsam die Verkörper-
ung der Idee der Universität. Dem Ideal eines zugleich gründlichen und
umfassenden Wissens, einer Vollkommenheit der Vertrautheit mit den
Problemen aller Wissenschaften ist er „nahe gekommen, wie nur wenige
Menschen vor ihm und nach ihm. Eine Fülle des Wissens war ihm zu
eigen, die verschiedenartigsten Gebiete der Erkenntnis hat sein Qeist um-
spannt, in einer ganzen Beihe von Wissenschaften hat er sich als ein
Kenner und als ein Könner erwiesen**. Vielwisserei ist aber nicht sein
Zeichen. „Dieses weite und vielgestaltige Wissen hat Kant mit philo-
sophischem Geiste zu durchdringen, durch tiefe philosophische Einsichten
zu ergänzen und zu einer Weltanschauung auszugestalten verstanden, deren
Grundgedanken** — Ding an sich, Erscheinung, kategorischer Imperativ —
für alle Zeiten ihren Wert behalten werden.
Infolge dieser Universalität, „um dieser Verkörperung dieser Idee
willen, ist er wie nur je einer geeignet, ihnen (den Studierenden) den
Zweck und die Bedeutung des akademischen Studiums vor Augen zu
führen und ihnen als Vorbild für ihr akademisches Streben zu dienen**.
Hierzu tritt als zweiter vorbildlicher Zug sein nie versagender, un-
ermüdlicher Fleiss, seine Pflichttreue, die er als Schüler, als Student, in
der langen Wartezeit als Dozent und als Professor bewiesen, bis die
zitternden Glieder dem gebrechlichen Körper den Dienst versagten und
der altersschwache Kopf die Begriffe, die Vorstellungen nicht mehr fest-
zuhalten vermochte.
Und als drittes und letztes macht ihn zum Ideal eines Lehrers,
dass sein Streben von der unbedingten Achtung vor der wissenschaftlichen
Wahrheit geleitet wurde.
So ist denn Kant das Ideal eines Lehrers, wie er Lehrer im
Ideal war.
Als solchen schildert ihn Walter, der gegenwärtige Inhaber von
Kants Lehrstuhl. (2)
Kants Leben ist ausschliesslich von der Aufgabe in Anspruch ge-
nommen worden, die Denkweise, in der er seine Befriedigung fand, und
die man als Freiheitslehre charakterisieren kann, in wissenschaftlicher
Arbeit auszugestalten. „In dem geschichtlichen Bewusstsein Kants selbst
aber [hegt es begründet, dass er nie die Meinung hegte, die Menschheit
etwas ganz Neues, Überraschendes lehren zu können. Nur was die natür-
liche Überzeugung in ihrer Weise verbürgt, will er nun auch in der Ver-
nunft als wohlbegründet erweisen.** Walter will nur „wie aus weiter
620
H. Renner,
Ferno litr. ülier die vvis,setjschaftliche Arbeit sich Heraushebendes însÂUj^
fa»Kcii^; Wftlter will zoiiren, was Kant in der Philosopliic in ihrer allgre-
inein-wf'lfhürperlichen Bedeutung j^^eleistet, nicht was er für die Schul-
pliilosopliie ^ethan hat und er bedient sich hier/u der Kantischen Frajçen,
was kunn ich wissen, was soll ich thnn, was darf ich hoffen. Da* Wissen
ist mif die Hulijektiv bediiig-te Krfiîhrurit: eiTi^esdininkt; handeln soll ich
nnch dein kalr^ürischen luiiunjtiv, auf meine Befiflückiuv^ und auf Gott
diirf ich hoffen, nicht auf Grund von Venstondesüherle^anigen und lehr-
hHften Begriffen, sondern als ein Mensch, „der kein Mittel kennt, was in
dem letzten Aii^^enhlick des Lebens Stich hält^ ahs die reinste Aufrichtige
keit in Ansehung der verbtirgeiiston Gesinnang:en des Herzens^. <3)
Eine lihiilii'tie Aiifßrabe wie Walter but »ich Windelhand (4) gestellt,
die Lösung ist aber eine verschiedene.
Die „Wucht der historischen Wirkung entspringt überall nur ans.
dem intimsten «nd konzentriertesten Wesen der Persönlichkeit". „Un<
dies innerste Wesen ist bei <lem Pliilosoplien seine Weltanschauung, w
hïit er die Eigeimrt seiner Persihdidikeit auf die Wirklichkeit projiziert
Auch Kants tiberragende Stellung in der Cîescliichte beruht schlies^licli
darauf, Windelband betrachtet es daher als die würdigste Feier Kants,
dessen „Weltanschauung in den monumentalen Gnindzügen, wie er sie
in seinen Werken niedergelegt hat, aus den Formeln des Systems heraus-
zulösen "*.
Der Kernpunkt von Kants Weltanschauung wird bezeichnet durch
dessen neue und eigenartige Stellung zu dem fundamentalen Gegensätze
der sinnlichen und der Übersinnlichen Welt, «Die Verwischung der
GrensElinien zwischen den beiden Welten zu verhüten, erkannte er als die
eigentliche Aufgabe seine-s Nachdenkens, und das hat ihn zum kritischen
Philosophen gemachP*.
Dejîhalb ist es auch nur ein Element, ein notwendige« allerdings,
wenn die Erkenntnis der übersinnlichen Welt in der Wissenschaft keinen
Platz findet. Hat das Wissen hier kein Recht, so erreichen wir das Über-
sinnliche doch durch den Glauben, der ein System von Überzeugimgeii
ist^ ndie aus den innersten Notwendigkeiten des menschlichen Leben«
durch die philosophische l'berlegung herausgelöst und in ihrer allgemeinen
Geltung für die Vernunft erwicx'ien werden**. Das ist seine Bedeutung,
„da SS seine Metaphysik über die Theorie hinaus zu den grossen Wert-
iuhaUen des Lebens greift, um daraus das wesenhafte Bild des Ganzen
zu gestalten*'- Die VV^elt des Sinnlichen und des l'bersinnlichen stehen
znnüehst wohl im Gegensatz, sie stehen aWr doch ,,zunächst am Menschen^
in dem innigsten Zusammenliange, das Leben der einen ist sinnvoll durch
die andere bestimmt, und es fragt sich, welches ira einzelnen und im
giinzeu diese Beziehungen sind**.
Alle wissenschaftliche Erkenntnis ist im Bezirk des Sinnlichen um-
schrieben. Vom t übersinnlichen giebt e« keine Erkenntnis, wenn schon
in der EiTahrnng selber Motive stecken müssen, ,die wenigst ens zum
Denken des ('bersinnlichen mit Notwendigkeit führen. So verfehlt auch
alle vor knn tischen metaphysischen Versuche waren, so luum man docli
dttm metaphysischen Bedürfnis nicht nur in seiner psychologischen Not-
4
Reden zur Feier der Wiederkehr von Kants 100. Todestage. 521
wendigkeit, sondern auch wegen seiner vemunftnotwendigen Erforderlich-
keit nicht entgehen, und das rührt daher, dass der Verstand nach einer
geschlossenen Totalitat strebt, die die Sinnlichkeit in ihrer Grenzenlosig-
keit nicht gewährt. Hieraus entspringen die Ideen, Aufgaben, Unbe-
dingtes als abschliessende Totalität des Bedingten zu sehen; unsere Er-
kenntniskräfte erweisen sich für diese höchsten Aufgaben ihrem Wesen
nach als unzulänglich. „Wo das Wissen versagt, tritt das Gewissen ein.
Ist die theoretische Vernunft aus der höheren Sphäre des Übersinnlichen
ausgeschlossen, so ist die praktische darin heimisch.^ „Der Mensch ist
Ding an sich als Wille, aber als sittlicher Wille."
Die sittlichen Aufgaben des Menschen können nur in der Welt des
Sinnlichen realisiert werden. Damit hört die Erscheinung auf (nur vor-
gestellt) zu sein; unser Gewissen lehrt uns, dass darin eine Realität steckt,
die dem sittlichen Zweckgesetze widerstrebt und ihm unterworfen werden
soll. Alles wirkliche Menschenleben besteht in der Arbeit, sich in dem
widerstrebenden Reich der Sinnenwelt zu verwirklichen. Diese Arbeit ist
unendlich. Und so sind ebenso wie die Ideen für das Erkennen die Ideale
für das Leben „Aufgaben, die niemals völlig erffUlt werden können, die
aber trotzdem nicht nur vemunftnotwendige Bestimmungen enthalten,
sondern auch die Richtpunkte, nach denen wir allein das Wertmass des
empirisch Wirklichen zu fassen imstande sind".
Wenn man in der empirischen Wirklichkeit das als das Wesentliche
und Bedeutsame ansehen darf, dass sich in ihr, obschon nicht restlos, eine
übersinnliche Zweckgesetzgebung realisiert, „so läge darin eine freilich
über alle unsere wissenschaftliche Erkenntnis hinausgehende Deutung der
tiefsten Wesens- und Lebensgemeinschaft zwischen beiden Welten". In
seinem grössten Werke, der Kr. d. U. soll Kant diese Auffassung als eine
berechtigte durchgeführt haben. In diesem Werke gewinnt er „im allge-
meinen das Recht einer teleologischen Betrachtung der Sinnenwelt", und
„so darf sich diese ohne Verstoss gegen die Normen der wissenschaftlichen
Erkenntnis auch den einzelnen Erscheinungen der Natur zuwenden, die
den unmittelbaren Eindruck der Zweckmässigkeit machen: den Erschei-
nungen des Lebens"; so an den organischen Gebilden, so vor allem in der
Geschichte, deren Verständnis als „Verwirklichung der übersinnlichen
Zwecke in der Sinnenwelt" Kants Weltanschauung vollendet.
Die Kant eigentümliche Stellung zum Übersinnlichen hat Kaftan (5)
nach ihrer religiösen Seite in Betracht gezogen.
Philosophieren heisst ihm nach Gott fragen. Damit ist der Unter-
schied der Philosophie vom Glauben und von der Wissenschaft gegeben:
„Glauben heisst nicht nach Gott fragen, aber wohl Gottes gewiss und
froh sein, Wissenschaft aber heisst nach der Welt fragen". Suchen wir
die Lösung dieser Aufgabe der Philosophie und blicken wir uns in ihrer
Geschichte um, so sehen wir „drei Antworten, drei Wege, die Antwort
zu finden, drei führende Geister, deren einen wir uns anschliessen müssen*.
Plato, Aristoteles oder Kant.
Aristoteles hat den ungangbaren, dem gewöhnlichen Menschenver-
stand aber immer nächstliegenden Weg gewiesen, durch die Erkenntnis
der Welt zur Erkenntnis Gottes zu kommen.
522
H. Re
Plataw Weg ist die SelbstbenSinnun^ des Geistes» ein Weg, den auch ^
Kant ^inp. Aber wie Aristoteles suchte Plato Gott zu erkennen^ freilicil
nicht durcli die gewöhnliche Erfahniiigr und das was sie uns zeiget. ^Nein
durch ein Erkennen, dus aus der goitverwatidten Seele des Menschen enÊ
sprinß^t, ein Erkennen, das in der ause:egebenen Wirklichkeit das Bleibende
Kwiß-Pj Of>ttliche sucht''; Platci ist ^mit seinem Fragen und Verlaiig-en
der Welt hangen geblieben*'.
Den dritten Weg führt Kant. Nicht im Erkennen kommen wir
Gott, sondern nnr durch die sittliche Erfahrung,
So wie Plato den Geist der griechisch-kathoHschen^ Aristoteles den'
der römiscb-katholischcn Konfession dnirakterisiert, so ist Kant der Philo-
soph des Prott^stantismus. m
„Die PliiJosophie Kant« im tiefsten Kern ihrer Hauptgedanken ver^
standen, ist das Selbstbewnsst&ein des modernen Menschen"; das ist der
Kernpunkt der Ansfiihriingen Kühnenianns (fî)^ die viele Beruhrungî^punkte
mit denen Windelltands zeigen. »Die Natnrj welche die Wissenschaft ent-
deckt, ist Werk nnd Thai des Geistes." Der Stoff, den der Geist zu be-
arbeiten hat, ist beständig ein anderer bis in die Unendlichkeit, und so
ist auch die Aufgabe der Wissenschaft eine nnendliche. Auf das Jenseits
der wahrnehmbaren Dinge verzichtet der moderne Mensch îeicht> der
seine Kraft an lösbare Anfgabeu setzt
Auch in der Ethik erhebt Kant den Menschen und seine Kraft auf
das Ht\chste, Jndem er sie zugleich in seinen unverrilckbaren Grenzea.
siebt'*. ■
In seiner sittlichen Arbeit, in der ttigans fagein mit verönderten
Verhältnissen neue Aufgaben an den Menschen lienin treten, ist ihm du»
Reich des Unendlichen erschlossen.
Kants Ethik ist „in der Predigt der Pflicht die Botschaft der Frei-
heit. Nur dem Menschen ist es gegeben, das Leben zu stellen unter das
eigene Gesetz. Er vermag der Gesetzgeber des eigenen Daseins zu sein,
der Ausgang seiner Taten. Er bestimmt sich durch die Richtung seines
ßewuÄstseins den Wert selber **.
Hierin liegt der besondere Wert des Menschen, hier seine Heiligkeilj
Als sittliche Persönlichkeit gehört er einer höheren Welt an^ deshalb nnii
er uns Zweck an sich selbst sein, nie Mittel zum Zweck, ein Sat«, de
uns das Ziel wahrer sozialer Bethsltigung zeigt. Von dieser Seite des
Menschen her lernen wir die Religion begreifen, %'on hier aus verstehen
wir die Geschichte.
Auch der Kunst hat Kant die Freiheit erschlossen* ^Sie soll nicht
Wissenschaft sein, noch Moral, noch Religiou, sondern eben Kunst**, SIc^m
ist eine eigene Pro\nnz des Geislei*. H|
So hat Kant dies Bewusj^tsein des modernen Menschen umschrieben
und beschrieben. Und wie seine Philosophie war, so war auch der Mann.
Kant war ein Grosser in der Geschichte der Menschheit, einer, der
den Menschen ihren Weg zeigte, so feiert ihn Lipps (7). Und in seinen
Ausführungen bekennt sich der bekannte Psychologe und Philosoph viel
inniger zu Kant, zeigt er, dass er jenem Geisteshelden viel näher steht,
«ils man es bislang annahm. Er wirft die Frage auf, was es denn sei, dai
ines
ceil^l
dc^
Reden zur Feier der Wiederkehr von Kants 100. Todestag^e. 523
Kant entdeckt hat: ^Ganz allgemein gesagt: das a priori. Nicht auf
einem einzigen, sondern auf den verschiedenen Gebieten des menschlichen
Geisteslebens. Und damit zugleich oder eben darin hat er die Autonomie
des Geistes entdeckt, des erkennenden und des sittlich wollenden, die
Autonomie des Verstandes, des Gewissens und die Autonomie des reli-
^ösen Bewusstseins. Und er hat entdeckt den Träger dieser Autonomie,
das autonome Ich, das Vernunft-Ich. Er hat es entdeckt, indem er es
schied von dem Trieb-Ich oder Instinkt-Ich, dem innerlich oder äusserlich
gebundenen Ich*.
Dies ist der göttliche Mensch im sinnlichen, die Idee des Menschen,
die Plato ahnte, der Mensch, den Jesus lehrte und lebte.
Und so wie Kant diesen Menschen entdeckte, so kann er uns .Führer
sein im Finden des autonomen Ich, Führer zur geistigen und sittlichen
und religiösen Freiheit. Es ist dasselbe, wenn ich sage, er kann uns
Führer sein zur Wahrhaftigkeit". Diesen Gedanken führt Lipps durch die
Teile der Kantischen Philosophie durch, wobei er besonders lichtvoll die
Lehren des kategorischen Imperativs auseinandersetzt.
Kant ist eine grosse Persönlichkeit, ein hervorragender historischer
Faktor nicht nur in der Vergangenheit; ein Wegweiser auch in unseren
Zeiten.
In ähnlichem Sinne spricht sich Benno Erd mann (8) aus. Die mate-
rialistische Geschichtsauffassung glaubt die geistigen Kräfte der grossen
Persönlichkeiten aus der Darstellung der Geschichte eliminieren zu müssen.
Sie sieht in den Werken der grossen Geister nur den Überbau ökono-
mischer Vorgänge und findet nur in den ausgelösten Impulsen der Massen
die Faktoren, welche die Geschichte unseres Geschlechtes bedingen. Dem-
gegenüber sind wir „überzeugt, dass es Geisteshelden giebt, die ungleich
bestimmender auf ihre und die folgenden Generationen einwirken, als sie
selbst von der Generation, in der sie aufwachsen, bestimmt werden**. Ein
solcher Grosser war Kant, „der erste grosse deutsche Philosoph, dessen
Lebensanschauung ein nationales Gepräge trägt**. Seine zweimal mit
Macht und Nachdruck einsetzende Wirksamkeit besteht, obwohl seiner
Darstellungsart und Gedankenführung der Reiz künstlerischer Anziehungs-
kraft fehlt. Das spricht nur für die Macht seiner Gedanken. Kant ist
ein discursiver Denker, ein Gelehrter, der in mühereicher Arbeit Herr
seines Stoffes wird, ein Systematiker durch und durch, kein intuitiver
Kopf, dem die originalen Gedanken wie von selber kommen. Er gehört
auch nicht zu jenen selbständigen Geistern, denen wie etwa Leibniz die
Gedanken beim Studium anderer zufliessen. Auch zu jenen starren Naturen,
wie etwa Fichte, Schopenhauer, Comte, gehört er niclit, „die einmal als
richtig erkannte Gedanken mit zäher Energie festhalten, so dass ihre
spätere Entwickelung wesentlich deduktiv verläuft. Gerade in der Zeit
seiner stärksten inneren Arbeit wird ihm die Überzeugung zu einem be-
deutsamen Hilfsmittel seines Forschens, dass es notwendig sei, sich in die
entgegengesetzten Richtungen möglicher Weltauffassung hineinzudenken,
um festzustellen, wie sich ihre Einseitigkeiten von einem höherenfStand-
punkt aus überwinden lassen**. Kant sucht also auch entgegengesetzten
Anschauungen gerecht zu werden und überwindet sie, indem er sie in
bU
H- Renner,
ihrer BerechtigruTig als Bausteine verwendet. Damit gewinnen de eine
andere Stellimjj:. An die Stelle der MetapiiT^fsik ist die E rkenntn is-
le bre getreten. Selltst wenn diese sich als nnzulfinglicb erweisen sollte,
so kann es doch .nicht sein, dass die Philosopliie als Wissenschaft zu der
alten Bildertheorie des Dugmatisraus kann, ohne diese Arbeit durch eine
wissenschaftliche Untersuchung der Bedingungen unseres Erkenuens und
Denkens gesichert zu haben. In der Etbik überwindet er den Sensualis-
mus und den Hochmut des Intel lektuitlisnius, und findet er in der Würde
der Per.s<5iilichkeit niul im guten Willen das wahrhaft Gute. Da auf der
sitthchen Gesinnung nicht auf dem Wissen der Glaube beruht» so ergiebt
sich daraus die Notwendigkeit: „der Toleranz in allen Glaubens
sa eben als solchen: des Wissens gegen den Glauben^ des Glanbens
gegen das Wissen und die verschiedenen Formen von Ghiubensüherzeugungeu
untereinander'.
Der Weg zu den allgemeinen Problemen führt durch das Grosse der
Leistungen und damit des Wesens von Kant hindurch. Welchen Weg
man auch einschlagen mag, stets wird man Kant dankbar sein, der da
war: „ein König im Reiche der Geister^ der nicht anderes sein wollte als
ein treaer Diener der Gesamtheit und ein erster Diener dieser Gesamt-
heit war**. Kant gehört allen an, dem Leben und der Wissenschaft ; und
allen ihren Fakultäten, Freuden thai (9) zeigt uns dies in seiner Rede, die
liei aller notwendigen Kürze ein Gesamtbild von Kant entwirft. Er er-
zählt uns, wem Kant entstammte, wie er seinen Elteni eine dankbare
Erinnerung bewahrte, wie er die Schulen zurücklegte, und 174Ü in die
pbilosopbische Fakultät der Königsberger Universitiit liufgenommen wurde.
Er hat sich nie der Theologie gewidmet, Knutzen war sein vorÄÜglichster
Lehrer, der ihn mit den Gedanken Leibnizens und Wolfs, aber auch
Newtons bekannt machte. ^Unter diesen Einflüssen entwickelte sich in
ihm der Zug zu rein verstandesinässiger Auffassung der Welt und zu der
geistigen Freiheit, die unabhängig von Vonirteilen und Autoritäten sich
lediglich den Gesetzen des Denkens und den Thatsachen der Erfahrung
untermrft.**
Schwer hatte Kaut mit der Not das Lebens zu kämpfen und den-
noch konnte er 1745 als ,ein fertiger Gelehrter" die UniversitiLt verlassen;
Fr. deutet uns die Leiden und Freuden der Hauslebrer- und Privat-
dozentenzeit an, bis Kant eine Professur erhielt. Ein ungeheures Wissen
sammelte er au, er wurde der einflussreichste Philosoph, musste dafür
über mit dem Verzicht auf die reinsten Freuden des Lebens zahlen.
Er wanderte einsam durchs Leben; ein Mann von eisernem Charakter,
dc^juxen Felder nur Fehler seiner Vorzüge sind.
Allen Fakultfiten gehört er an. Für die Theologie bedeutet fast
jrdo« weiner grösseren philosophischen Werke ein Markstein in ihrer Ge-
ftcbichte!. Der Rechtswissenschaft bat er die Grnndzüge einer Recht«-
iiud Htaatalehre gegeben. Auch der Medizin ist er nicht fremd geblieben.
Auf dem weiten Gebiete der naturwisôenscbiiftlichen utid mathematischen
Kiirneliung seiner Zeit ist er durchaus beimiseb, ,uud dieses Wissen bildet
die feste tirundlage seiner philosophischen Untersuchungen**, Nur der
CJewddcbti* luit er wenig Teilnabme geschenkt. Fr, zeigt alsdann die
4
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4
Reden zur Feier der Wiederkehr von Kants 100. Todestage. 525
Grundlinien von Kants kosmologischen und philosophischen Anschauungen ;
und zwar spricht er wesentlich als Historiker. Ich hebe aus seinen Aus-
fahrungen einige Gedanken heraus, die mir wesentlich erscheinen: »man
missverstehe Kant und sein Werk nicht. Er hat die Grenzen der Wissen-
schaft festgestellt, aber ebenso wohl nach der Seite der* Metaphysik, wie
nach der Seite der Naturwissenschaft. Die Metaphysik ist von Grund aus
zerstört: Gott, Unsterblichkeit und Freiheit können nicht bewiesen werden,
wie S&tze der Mathematik. Aber so wenig wie die Geltung jener hohen
Ideen theoretisch dargethan werden kann, so wenig kann ihre Ungültig-
keit erwiesen werden. Wie Kant der Metaphysik das Bejahen, so hat er
den Erfahrungswissenschaften das Verneinen jener Vemunftideen verboten.
Die Naturwissenschaft würde ihre Befugnisse überschreiten, wenn sie das
zu leugnen wagte, was niemals Gegenstand der Erfahrung werden kann.
Die Welt der Erscheinungen zu beschreiben, die Gesetze der Bewegungen
festzustellen ist die grosse Aufgabe, die ihr zugefallen ist. Geht sie über
diese Grenze hinaus, verbindet sie sich mit dem Materialismus, sieht sie
den raumfüllenden Stoff als einzige Realität an, so wird sie selbst zur
Metaphysik** „Kant hat den höchsten Wert darauf gelegt, mit dem Wissen
nicht auch den Glauben an jene Ideen vernichtet zu haben*. Sie haben
in der Ethik ihre Wurzel. Die Kr. d. U. übergeht der Redner. Mit
seiner Philosophie „ist Kant der Erzieher des eisernen Geschlechtes ge-
worden, das in der Zeit der Fremdherrschaft die Hoffnung besserer
Zeiten nicht aufgab, dem Feinde sich nicht beugte, und als die Stunde
der Erhebung geschlagen hatte, alles dahingab für die Rettung des Vater-
landes*. Im Anschluss hieran zeigt Fr. wie Kant auf die Einzelwissen-
schaft^n eingewirkt hat, und wie er „die bestimmende Macht für die
deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts" war. In ihm haben sich die
edelsten Eigenschaften des deutschen Volkes verkörpert: „Geisteskraft
und Herzensfrömmigkeit, Pflichttreue und Arbeitsfreudigkeit, Wahrheits-
drang und Wahrheitsmut. Diese Tugenden aber altem und sterben
nicht".
Sucht Freudenthal uns ein Gesamtbild von Kant und seiner Philo-
sophie zu geben, so fasst Liebmann (10) neben Kants wissenschaftlicher Per-
sönlichkeit nur die Naturgeschichte des Himmels, die Kritik der reinen
Vernunft und die Kritik der praktischen Vernunft ins Auge, nachdem er
kurz die Beziehungen Jenas zu Kant skizziert hat. .Kants Persönlichkeit,
aus welcher ja der Charakter seiner Philosophie als Frucht herausge-
wachsen ist, enthält eine ganz eigentümliche Mischung von kaltblütiger
Ruhe und kühner Energie, von besonnener Selbstkritik und schöpferischer
Geisteskraft, von berechnend abwägendem Verstand und einer Initiative,
die ins unermessliche geht, die selbst vor den äussersten, paradoxesten
Konsequenzen nicht zurückscheut. Nüchtern, trocken, kühl und klar
war er, ein ausgeprägtes Phlegma, mit einer erheblichen Dosis von
Ironie und schalkhaftem Humor. Aber unter der kühlen Oberfläche
keimten, wuchsen und reiften in der Tiefe Riesengedanken; gigantische
Gedanken, die ins Ungeheuere hinausgreifend die ganze Welt zu umfassen,
zu durchdringen suchten, die ganze Aussenwelt, dann die ganze Innenwelt,
und das rätselhafte Verhältnis, das zwischen Aussenwelt und Innenwelt
westeht. ppelstnnig^ ist ja di&ses Verhältnis. Denn eineF&eit& ist der
Menseli zweifellos ein Proditkt der Natur; andererieitâ aber ist, in einem
gewiäsjen Sinne, die Natur ein Produkt des Menschen. Dieses Letztere
elen hat Kant auf der Hühe seiner kritischen Philosophie entdeckt.'^ Es
iit die Autonomie der Vernunft. Sie sclireibt der Natur Gesetze vor.
Die Welt, die wir kennen, die Natur, die ans ah Gegenstand der Er-
faliruiii?' gepreben ist, liegt innerhalb des Bewtisstseins, ^rsie ist Bewußt-
seinsinhalt, Bewusstaeinsphänomen"; sie trägt den Charakter des menücL-
liehen Erkenntnisvermögens an ricIi und ist durch dessen int^UektueUie
Struktur bedingt. In paralleler Weise schreibt die Vernunft dem Wille«
Gesetze vor.
Autonomie setzt Freüieit voraus und der innerste Centralpunkt der
Kantischen Philosophie iât daher die Kernfrage: *,^^i^ ist Freiheit verein-
biif mit der kausalen Naturnotwendigkeit?^
f^Eant hat seine Antwort darauf gegeben l — Man darf sagen : die
giinxe kritische PhiloBOphie Immanuel Kanta» sein transscendentaler Idea*
lisniufi ist eine neue, originelle, höchst tiefsinnige Lösung des uralten
I'roblems; ist die tiefsinnigste Antwort welche jemals eiu philcisopliischer
Denker gegeben hat,'*
Ein Gesamtbild der Kantisehen Philosoptiie sucht auch A . Rie hl (11)
f,u geben^ aber mehr als Systematiker , denn als Historiker. Er sucht ues
mehr tiber das Wesen von Kantä Philosophie wai lehren und uns zu Kant
TAI führen, als uns über ihn und den Inhalt seiner Philosophie zu onen*
tieren, wenn er sich audi der historisclien Darstellung als Mittels bedieat.
Kant stand der Metaphysik schon in der vorkritischen Zeit skepti&oh
gegenüber, so sehr er auch ihre Aufgaben respektierte. Diese sehten ihm
aber nicht im Nachspähen nach den verborgenen Eigenschaften der
Dinge, sondern in der Erkenntnis der Grenzen der menschlichen Vemimft,
zu liegen, ein Gedanke, der auch seiner kritischen Philosophie als Auf-
gabe geblieben ist. Diese stellte in ihrem theoretischen Teile eine ganz
neue Wissenschaft dar, „von der selbst die blosse Idee unbekannt war:
die Wissenschaft der unabhängig von der Erfahrung über Dinge urteilenden
Vernunft . . . Und neu wie der Gegenstand, in dieser Begrenzong und
Aussonderung ist auch die Methode des Werkes**. Schon die Fragestel-
lung Kants ist von entscheidender Bedeutung. Es kommt ihm nicht da-
rauf an, festzustellen, auf Grund welcher Vorgänge sich Erfahnmg ent-
wickele, welche seelischen Vermögen und Kräfte dabei ins Spiel treten,
„er unterscheidet und prüft die Erkenntnisarten ... Er nimmt seinen
Ausgang von den exakten oder rationellen Wissenschaften, der Mathema-
tik, der allgemeinen Naturwissenschaft, und von dem Begriffe der B^
fahrung und in der Art, wie er beides: Wissenschaft und Erfahrung ver-
bindet, zeigt sich die Besonderheit und Tiefe seines Geistes^.
„Erscheinungen werden in der Erfahrung auf Gegenstände besogen,
die nicht selber wieder erscheinen, sondern als die bestimmenden Ursachen
der Erscheinungen gedacht werden.^ Aus den Bedingungen der MOg^ch-
keit der Erfahrung leitet Kant die allgemeinen Gesetze der Natur ab, die
es sind als Gesetze der Erfahrung der Natur und er geht noch tiefer, er
führt sie auf die Einheit eines denkenden Bewusstseins überhaupt Eorflck,
Reden znr Feier der Wiederkehr von Kants 100. Todestage. 527
ohne die es überhaupt keine Erkenntnis, also auch keine Erfahrung, die
Erkenntnis von Gegenständen der Erscheinungen ist, geben kann.
Dies ist der erste positive Satz der Kr. d. r. V. Erfahrung ist Er-
kenntnis; dass aber auch die Umkehrung gilt, dass Erkenntnis nur in der
Erfahrung ist, beweist Kant im 2. Teil jenes Werkes. Die Vernunft kann
nur methodische Begriffe gewinnen, die als die obersten Richtpunkte der
Forschung von Bedeutung sind.
Der Philosophie hat es nie genügt, nur Wissenschaftslehre zu sein.
Der Philosoph ist zugleich „ein Lehrer im Ideal". Kant ist diesem Ideal
in Lehre und Leben nahe gekommen wie nur wenige. „Auch ihn zählen
wir deshalb zu den Philosophien der Lebensführung und seine Moralphilo-
sophie erscheint uns als das Gesetzbuch des sittlichen Handelns.*^ Kants
Ethik wurzelt im Begriff der Autonomie, d. h. in der Leitung des Willens
durch die Vernunft, in der Freiheit. Hierdurch wird der Mensch über die
Natur emporgehoben, hierin wurzelt seine Würde, und so gipfelt die
Ethik in der „lebensvollsten Idee, in der erhabenen Idee der Persönlich-
keit . . . der Menschheit im Menschen*^.
Freiheit und Natur kommen in der Kr. d. U. zum Ausgleich. Der
Zweck, der im Reich des Willens heimisch ist, erweist sich als Beurtei-
lungsprinzip der organischen Formen in der Natur. Der „Newton des
Orashalms*^ ist auch heute noch nicht erschienen. Kant hat in der Philosophie
eine Revolution hervorgerufen. Das Wesen seiner Lehren wird sich er-
lialten, auch wenn die Form zerbricht. „Und so ist die Rückkehr zu Kant
in Wahrheit einem Fortschritt gleich zu achten."
Als deutschen Nationalphilosophen, als die Verkörperung des deut-
schen Geistes, feiert Cohen (12) Kant. Und worauf beruht es, dass Kant
der Philosoph des deutschen Volkes ist? „Was Kant von allen grossen
Philosophen vor ihm unterscheidet, besteht darin, dass er zuerst ein
System der Philosophie errichtete." Was etwa bei Aristoteles etwas der-
artiges sein soll, ist zugleich System des gesamten Wissens, „so muss es
ihm an der Einheit gebrechen, welche das System der Philosophie er-
heischt".
Kant war vorzugsweise ein Schüler Newtons, in dessen Methode er
den Grund des wissenschaftlichen Charakters der Naturforschung erkannte.
Newton dachte aber nur aus dem Geiste der Mathematik und mathema-
tischen Naturforschung heraus. Durch diese Einsicht wurde Kant zum
ersten Systematiker der Philosophie, so konnte er erst es werden, weil
jetzt erst ein System der Prinzipien erreicht war. Kant ist „der
Schöpfer nicht eines, sondern des Systems der Philosophie, von dem es
sich verstehen lässt, dass er der Philosoph seines Volkes werden konnte".
In echt platonischem Geiste, der in ihm wieder lebendig wurde, heischt
er, dass die Logik im Systeme den ersten Spatenstich thue. Wie etwas
derartiges wie exakte Erfahrungserkenntnis möglich ist, bildet das genau
bestimmte Urproblem der theoretischen Philosophie. „So wird die exakte
Wissenschaft dasjenige Faktum, auf welches seine Logik bezogen, in
welchem seine Philosophie begründet wurde". Er stellte die wissenschaft-
liche Vernunft in ihrer Reinheit, d. h. die Wissenschaft in ihren Prinzipien
dar. Sein Idealismus darf sich mit dem wissenschaftlichen Realismus
Kaatetndini IX. S4
528 H. Renner,
identifizieren: er ist nicht der trftomende Idealismas, der Realismus des
Selbstbewnsstseins, er ist der Idealismas der Prinzipien; die, als Gnind-
legrun^n vom Inventar der Begriffe nnd der Erkenntnisse ausgezeichnet,
sich selbst rechtfertigen nach dem Vorbild der Mathematik und mathema-
tischen Naturwissenschaften. «Der Idealismus ist zwar in den mathema-
tischen Ideen erdacht worden; aber in der Idee des Guten strebt er seine
Vollendung an. Die Logik muss zur Ethik führen, sie führte Kant gerad-
linig zu ihr.*^ Die dogmatische Metaphysik musste zersetzt werden, das
übernatürliche Ding des Absoluten musste in ein Gebinde von Aufgaben
und Problemen aufgelöst werden, deren Lösung die Ethik bringen sollte.
Der Fortschritt von der Religion zur Ethik ist notwendig. ^DasSein, und
wenn es nach Jahrtausenden z&hlt, darf nicht entscheiden über das Sollen.^
Das Unbedingte der Metaphysik tritt in der Ethik als ein wahrhaft Abso-
lutes zu Tage; das Unbedingte der sittlichen Idee. Beim Menschen darf
ich nicht stehen bleiben bei der Frage, was er sei. „Die Ethik lehrt, was
er sein, was er werden soll. Natur und G^eschichte sind dabei als Quellen
sorgsam zu erforschen, aber sie entscheiden nicht über das sittliche Schick-
sal, über die Aufgabe des Menschen zur Sittlichkeit.*' Die Ethik führt
zur Autonomie. Hier ist aber nicht die Frage und kann es nicht sein,
wie sich die Freiheit zu Gott oder zur Naturkausalität stellt, sie ist kein
Naturgesetz, wohl aber ein Vemunftgesetz; sie ist „als das Prinzip des
Vemunfti^nbens, eine Fortsetzung der Methode des reinen Idealismus^.
,J>ie Logik hatte zur Ethik den Weg gewiesen und gebahnt. Der
ethische Geist wurde nun aber zum Spürsinn für alle mensliche Kultur.*'
Kant hat die Selbständigkeit der Kunst festgestellt, aber auch ihren „un-
gebrochenen Zusammenhang mit der Natur und der Sittlichkeit** zur
Offenbarung gebracht« In dejr Erkenntnis des Genies gipfelt sein System.
Kant war selber eins, an dessen Werk man sein Leben setzen muss. „Ein
Jahrhundert ist seit seinem Tode verflossen. Aber noch manches Jahr-
hundert mag kommen und gehen, ehe seines Gleichen wieder erscheinen
wird,**
Manche Berührungspunkte mit Cohens tiefer Rede zeigen die Ausführ-
ungen Natorps(l3). Auch für ihn ist Kant ein deutscher Phüoeoph, die Vei^
körperung deutschen Geistes und damit zu^eich seine Philoeophie Kultur-
philosophie. Sie stellt die Methode dar, Kultur zu schaffen, es sei als
Erkenntnis, ethische Norm oder Kunstwerk. Das Werk Kants besteht
nicht in einigen Sitzen, die er hinterlassen, er hat uns die Methode ge-
geben. Das Höchste was Philosophie geben kann, denn diese ist „ein»
fortwirkende Kraft^ Gedanken zu eneugen, nicht bloas ein einseines ge-
dankliches Erzeugnis*'.. Die Einwände der Empiristen gegen Kants Er-
kenntnistheorie übersehen, dass er die Grandfunktion des EMiennens, die
S^ii thesis in reine und nicht reine, d. h. empirische schied; die Erfahrung
war ihm aber selbst Problem. Der Vorwurf, dass in Nietzsche sich Kants
Autonomie selbst auflöes«, wird entkrtftigt und aof die soziale Bedeutung
von Kants Ethik hingewiesen ; ihne Wichtigkeit für das Erfassen der Re-
ligion Meiichtet ; Gedanken, die Natorp in einer Reihe früherer, wohlbe-
kannter Werke ausgeführt hatte. Auch für die Kunst ist die Philoscqiliie
von Betloutung. ^.Str^bt die moderne Kunst, kniz gesagt, sn einem ▼e^
Reden zur Feier der Wiederkehr von Kants 1<10. Todestage. 529
tieften Kultorbewusstsein, so strebt sie eben dahin, wohin seit Kant die
Philosophie strebt."
Külpe (14) schildert uns zunächst die Fäden, die seine Universität
mit Kant verbanden. Schon in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts
erstand dort Kant ein wanner Verehrer, ein treuer Anhänger: Matemus
Reuss. Er sah in Kant nicht den Allzermalmer, sondern den Philosophen,
der den moralischen Glauben auf immer gereinigt und vor der Ausartung
in Aberglauben und Unglauben bewahrt habe. Es gäbe keine protestan-
tische und katholische Philosophie. Er suchte daher das Studium von
Kants Philosophie zu fördern, was ihm bei den aufgeklärten Anschauungen
des damaligen Fürstbischofs BVanz Ludwig v. Erthal möglich war. Sein
Nachfolger im Lehramt, der „weit schärfere und selbständigere Denker",
Dr. theol. Andreas Metz, hatte sich schon als Gymnasiallehrer als Anhänger
Kants erwiesen. Der idealistischen Fortbildung der Kantischen Philosophie
stand er als Gegner gegenüber, er glaubte an die Notwendigkeit einer
anthropologischen Fundamentierung der Philosophie.
Kant vereinigt den Tiefsinn der Mystiker mit der Verstandesschärfe
der Aufklärer. Er hat den Begriff der Erkenntnis begründet; den er zu
eng fasst. Er ist ausgezeichnet durch die Merkmale allgemeiner und not-
wendiger Geltung und durch die Bedeutung als Erweiterung unseres
Wissens. Der Weg, auf dem er seine Aufgabe zu lösen sucht, behält ihren
Wert, auch wenn man die Resultate im Einzelnen nicht mehr anerkennen
sollte. Durch seine Methode hat Kant eine Versöhnung von Empirismus
und Rationalismus, Skeptizismus und Dogmatismus gegeben. Die Grund-
züge der Kantischen Ethik zeichnen sich durch eine grosse Einfachheit
aus, „bringen eine gewisse Erfahrung unseres sittlichen Lebens mit
kraftvoller Einseitigkeit zur treffenden Darstellung"; nämlich das Pflicht-
bewusstsein. Auf die Ethik gründet sich die Metaphysik. „So sehen wir
in Kant vor allem eine wissenschaftlich-persönliche Einheit von
drei Momenten, der Überlegenheit der Vernunft über die Sinnlichkeit der
Autonomie des Erkennens und Wollens und dem Primat der praktischen
Vernunft vor der theoretischen."
Die bedeutsame Eigenart der Lebensanschauung Kants besteht in
der Lehre, „dass wir einen umfassenden philosophischen Standpunkt, eine
Weltanschauung von dauernder Wahrheit nur vom Subjekt aus gewinnen
können, dass wir in Wissenschaft, Philosophie und Religion über den sub-
jektiv-menschlichen Standpunkt nicht hinaus gelangen." Das ist das
Thema der Rede Götz Martins (16). Damit will Kant nicht dem Skep-
tizismus dienen, sondern vielmehr die Erkenntnis tiefer gründen, ihre
Tragweite und Grenzen feststellen und das Problem des Gemeinschafts-
lebens als Erzeugnis der Einzel-Subjekte lösen.
Kant hat gezeigt, dass man das, was für uns denknotwendig ist,
nicht zu absoluten Dingen machen darf, ohne sich in Widersprüche zu
stürzen. So ist der absolute Raum nur die Form der sinnlichen Anschauung.
„Aus dem Raum die absolute Daseinsform der Dinge machen, heisst über
das thatsächlich Gegebene und damit über den bedingten menschlichen
Standpunkt hinausgehen, sich eine Einsicht anmassen, welche wir nicht
besitzen und nicht besitzen können. Wir dürfen und können nur vom
34*
530
H. Renner,
Subjekt aus unsere Stellung zu den Dingen finden.** Ebenso verhält
sich mit den denknotwendigen Begriffen, sie sind subjektiv^ aber nid
Dinare, Substanzen. Sind aber die Gesetze der Natur subjektiv, so leb:
sie uns die Rrscbeinungen, nicbt die Dinge an sieb zu erfassen. So W(
es «ich aber um die Erkenntni.s der Erscheinungen handelt, redet er,
weit es geht, (kr inechaniscben Erklärung das Wyrt. An den organisch
Gebilden hat die mecbuniscbe Erklärung ilire Grenze. „Dan*it lehnt Ka:
von vornherein nicht bloss den spateren Darwinismus, sondern auch jedi
anderen Versuch, die Zweckmässigkeit der Lebensformen erklären zu wollen^
ab. Dem Neovitalbmiis jedweder Art würde Kant entgegenhalten, dai
die Annahme einer besonderen, die Materie in das Zweckmässige zw-
genden Kraft einen inneren Widerspruch enthalte." Es giebt nur mi
nische Krîifte. keine solchen, die hinter der Wirklichkeit thütig sii
^Die ZweckmJifiÄigkeitsbetrachtung muss die wissenschaftliche Zerglied
nng ergänzen; sie kann es, weil die Erkenntnis der Mittel keine absolui
Einsicht darstellt, ... sie musa es, weil die mechanischen Vorgänge das
Ganze der Erscheinungen nicbt erfassen," Kants theoretische Auffasaun
sind auch für die Psychologie von Wichtigkeit. Sie stimmen einer fu
tionelleu Auffassung des Verliältnisses von Leib und Seele bei, sie lehtti
die Identitätslehre oder die .idealistische Vorstellung letzter psjchiscb
Einheiten als ontologisehe Gnindlagen der Entwickelung^ ab. Er spren,
die beengende Theorie der monadenlmften Existenz geistiger Ersch(
unngen.
Dem Zweckgedanken geht die Ethik nach. Die Teleologie führt
zur Theologie: ^Das Sittengesetz stammt nicht von Gott^ es führt zu Gott,
Sittlich ist der Mensch, ^der im Gemeinschaftsleben seine Aufgal
seine Pflicht als Selbstzweck erfUllf^, aber die Pflicht, die ihm seine Yi
nunft zeigt; die Autonomie.
Kants Philosophie ist in eminentem Sinne eine Philosopliie ai
Friedens. „Den Menschen in seiner Vollendung hat sie im Auge ; ihr
halt ist die tiefste Begründung, welche die Humanitüt bis beute ge-
funden hat»**
Der psychologische Gesichtspunkt tritt am stärkaten bei Jerusa*
lern (16) in den Vordergrund, das drückt sich sehr prügnant schon in der-
Autfassung des Kritizismus aus : „alle unsere Wahrnehmungen müssen — und
das ist der neue, umwälzende Gedanke bei Kant — von unserem Verstände
erst geformt und gegliedert werden, damit daraus Erfahrung entstehe-
Das Suchen nach diesen, wie Kant überzeugt war^ angeborenen Formen
des Verstandes ist die Wendung znm Kritizismus/* Um Kants Leistung*
zu erkennen j muss man einen Blick auf die Geschichte der Erkenntnis-
kritik werfen und Kant« Ideen „von dem dialektischen Beiwerk befreieiTt
das so oft den waliren Sinn der Kant sehen Gedanken verdunkelt hat
und noch verdunkelt'*.
In der Geschiebe hatte sich, niclit am wenigsten auch durch die
grossen Enldeckangen der Naturwissenschaft, herausgestellt, dass WaLr-
nehmung noch keine Erkenntnis ist; so wichtig sie aucli für diese seili
tnag, es gehim eine verstandesmässige Verarbeitung dazu, Erkenntnis da-
raus zu sL-baffen. Aus diesen beiden Seiten der Erfahning entmckelt sich
hrt
I
Beden zur Feier der Wiederkehr von Kants 100. Todestage. 531
der Gegensatz des Sensualismus und Rationalismus, die Kant in einer
genialen Synthese verband. Und der Kern dieser Synthese „ist nichts
anderes, als die Verwertung der Thatsache unseres Ichbewusstseins für die
Formung und Objektivierung unserer Erkenntnisse". . . . „Er hat die un-
umstössliche und noch lange nicht hinreichend verwertete Wahrheit er-
kannt, dass die Affektionen unserer Sinne für uns erst dann zu Thatsachen,
zu Wirklichkeiten werden, wenn sie durch unser Ichbewusstsein hindurch-
gehen, wenn sie von diesem Zentralorgan unserer Seele geformt und ge-
gliedert werden, wenn sie unserem Wesen einverleibt werden.** Die
Funktion des erkennenden Ich vollzieht sich im Urteilen. Dass Kant
dieses „Ich** durch die von Aristoteles überkommenen Arten der Urteile
erfassen wollte, war ein Irrtum. „Wollen wir Kants Erkenntnistheorie
wirklich verstehen und als Unterbau für weitere Forschung benützen, so
müssen wir uns kurzweg entschliessen und sagen: Fort mit der Kate-
gorientafel und fort auch mit der AprioritAt von Raum und Zeit**. Die
letztere Anschauung gründet sich auf die angebliche Apriorität der Geo-
metrie, es „bricht sich aber in immer weiteren Kreisen die Überzeugung
Bahn, dass die Axiome der Geometrie empirischen Ursprung haben*^.
Kant« Ethik ist trotz der psychologischen Unmöglichkeiten, die er
fordert, und trotz der logischen Widersprüche in seiner Beweisführung
eine That von epochemachender Bedeutung; er verlangt Unerfüllbares,
um uns mit ewigem Vorwärtsstreben zu erfüllen.
Auch der Ästhetik hat er neue Bahnen gewiesen. „Indem er die
Freude am Schönen als ein „uninteressiertes Wohlgefallen** bezeichnete,
hat er eine psychologische Wahrheit ausgesprochen, die wir nur weiter
auszugestalten brauchen, um zu einer voUstAndigen Psychologie des ästhe-
tischen Geniessens zu gelangen.**
Wie Jerusalem Kant psychologisch auffasst, so kann er sich auch
nur eine psychologische Weiterbildung seiner Lehren denken. Die Auf-
fassung der Transscendentalphilosophen lehnt sich nur ftusserlich an Kant
an, ohne den tiefen Sinn seiner Philosophie erfasst zu haben. Sie bleibt
immer auf demselben Punkte stehen. „Wirklich fördern können wir da-
her Kants so genial angelegte Einsicht in den Prozess des Erkennens,
wenn wir auf Grund der heute doch etwas weiter gekommenen Psycholo-
gie und unter Anwendung des Entwickelungsgedankens das Erkennen als
Lebensvorgang auffassen, der mit den anderen Lebensvorgängen in der
innigsten Wechselbeziehung steht."
Wir sehen hier eine Anschauung, die zu den übrigen, angeftlhrten
Ausführungen in einem diametralen Gegensatz steht, mögen auch jene
hie und da unterschieden sein. 1st Kant es anzurechnen, dass er so „viel-
gedeutet** ist?
Falckenberg (17) erblickt in der Vieldeutigkeit der Ergebnisse der
Kantischen Philosophie nichts weniger als einen Mangel und er setzt sich
die Aufgabe von der Vielseitigkeit der Impulse, die Kant entsandt, ein
flüchtiges Bild zu entwerfen.
„Wie die Fülle der Deutungsversuche für die Tiefe der Hamlet-
dichtung spricht, so giebt es keinen schlagenderen Beweis für die Grösse
unseres Denkers, als diese Buntheit der Saaten, die auf seinem Acker auf-
532
H, Re HD er,
çetchoifeii tifid, Diei hekiuidet — nicht aowofai, wie die streng
luiiit inner ei emuehtsn, ein betrübendes Unvenco^n des VergUIndiûsea
den Nenr der KiinttKchen Kritik, aU — einen Reichtiuii, eiae FftUe
Tiefe der Konzeptionen » wie me kaum ihre» Gleichen hat. Hier wieder-
holt Kich in erhrihtem Masse, waj< t»ei den sokratischen Schulen erlebt
worden. Ein t«olcher Sechen an verschieden gearteten Kindern ij»t keinem
Phtiofopheo bewhkdcn gewesen, wie diesem kinderlosi^n Manne,**
Fillckf5iiber|^ schildert dann ganz kurz den Fortgang der von K;
g«|^beil6D Anregungen über Fichte, Schelling zu Hegel. Die Wiedi
erweck ung Kant^ durch Furt tage. Kuno Fischer, Liebmann, HelmholtxT
I^nge^ der NeukuntiiintHniur» in seinen verschiedenen Schattierungen
werdrn «ki/./iert, alleM in der Kürze, die eine weitere Kiirzune nicht veT-
tragen. Ich begnüge mich daher zum Sclüu&s, die von Falckeuberg
gebene Gmppiening der Kantischen Scbtüen der Gegenwart anzultihi
Sic sind in Kächerfonn gruppiert, und w^erdeii nach recht« immer met^i?
physischer, nach iinks positivistischer, in der Mitte bteht der Neu^
kantianismiii.
Eren
/eT-
Berkeley.
Hume,
Rebmke .Com eli u s.
Mach. BiehL
Lotze f 1681.
Lipps.
Wundt.
Lii^bmann.
Paulsen. Deusüen.
Coli e n . W i II de 1 1 »a n d . E uek e n , Hartman n ,
(Fries,) II (Fichte,)
Scho
ScheUing.
In der Festesfreude verstummt die Kritik. Sie w(4re ein ünrecl
Aber weJin die Alltagssorgen eintreten, und die ArbeilsÄtimmnng
übernTannt, tritt sie wieder in ihr Recht und wir fnigen uns nach di
Gewinne aus dem, was an unserem Auge vorbeigezogen, wir fragen, wi
wir aus allem diesen festhalten können.
E*» uui^^ iij der Nntur der Sache liegen, dass der Ertrag ein höherer
ist für den Historiker, als fdr den Systematiker. Ein solcher Tag drängt
dazu, sich duN Gftuze der Persönlichkeit vor Augen zu stellen, weniger ^t^M
Einsicht im Einzelnen /ai fördern, ^^
Dnss Kaufs Weltanscbauiuig auch für die Gegenwart noch von Be-
deutung ist, zeigt .sich von der flikhtigsten Auffassung bis zu den tief*
sinnigen Ausführungen Wiudelbauds, die ich bewundere, so wenig ick
ihnen zustimmen kann.
Aber auch seine wissenschaftliche Bedeutung als Begründer d(
Transscendenfal philosophie ist in weiteren Kreisen anerkannt, seine trans-
sceudentale Methode hat auch bei solchen Denkern Anerkennung g^
funden, die man eher als Gegner sich gedacht hätte. Bedeutende P^ebo-
îogen haben sieb günstig darüber ausgesprochen, wie die feinsinnigen
Ausfühnmgen von Külpe, Lipps und Martins beweisen, Jerusalem freilicli
steht ihm fem. Das mag auf Denkgewohnheit beruheu, sieht er doch
eine grosse ÄlmUchkeit mit Kants Philosophie in der stoischen Erkennt-
nislebre !
Reden zur Feier der Wiederkehr von Kants 100. Todestage. ô33
1) Immanuel Kant Ansprache an die Königsberger Studenten-
schaft. Gehalten von Dr. Ludwig Busse, Univ.-Prof. in Königsberg.
R. Voigtländers Verlag, Leipzig 1904.
2) Zum Gedächtnis Kants. Rede zur hundertsten Wiederkehr des
Tages seines Todes in der Aula der Albertina am 12. Februar 1904, ge-
halten von Dr. Julius Walter, o. ö. Professor der Pjiilosophie an der Uni-
versität Königsberg. Gräfe & Unzer, Königsberg i. Fr. Iîi04.
3) Dieser Trost in der Sterbestunde ist aber auch nach Walter
nicht der Rechtsgrund der Hoffung, was ich hier betone, um nicht eine
irrige Auffassung von Walters Ausführungen auf Grund des aus Kant
stammenden Citats zu verschulden.
4) Immanuel Kant und seine Weltanschauung. Gedenkrede zur
Feier der 100. Wiederkehr seines Todestages, an der Universität Heidel-
berg gehalten von Wilhelm Windelband. Heidelberg 1904, Carl Winters
Universitätsbuchhandlung.
6) Kant, der Philosoph des Protestantismus. Rede, gehalten bei
der vom Berliner Zweigverein des evangelischen Bundes veranstalteten
Gedächtnisfeier am 12. Februar 1904 von D. Julius Kaftan. Verlag von
Reuther & Reichard, Berlin 1904.
6) Kant. Rede, gehalten bei der Kantfeier in Posen von Kühne-
mann. Kunstwart, Jahrg. 17, p. 618—627.
7) Zur Jahrhundertfeier des Todestages Immanuel Kants, von Prof.
Lipps, München. Deutschland, Monatsschrift für die gesamte Kultur.
2. Jahrg., p. 673-689.
8) Immanuel Kant, von Benno Erdmann. Bonn, Verlag von Fried-
rich Cohen. 1904,
9) Immanuel Kant. Rede bei der von der Breslauer Universität
veranstalteten Gedenkfeier am 12. Februar 1904, gehalten von Prof. Dr.
J. Freudenthal. Breslau, M. & H. Marcus 1904.
10) Immanuel Kant. Eine Gedächtnisrede, gehalten am hundert-
jährigen Todestage Kants, den 12. Februar 1904 vor versammelter Univer-
sität in der Collégien kirche zu Jena von Otto Liebmann. Strassburg,
Verlag von Karl J. Trübner 1904.
11) Inunanuel Kant. Rede zur Feier des hundertjährigen Todes-
tages Kants, gehalten in der Aula der Universität Halle- Wittenberg von
Alois Riehl. Halle a. S., Max Niemeyer 1904.
12) Marburger akademische Reden 1904 No. 10. Rede bei der Ge-
denkfeier der Universität Marburg zur hundertsten Wiederkehr des Todes-
tages von Immanuel Kant. Gehalten am 14. Februar 1904 von Hermann
Cohen. Marburg, N. G. Elwertsche Verlagsbuchhandlung.
13) Zum Gedächtnis Kants (f 12. Februar 1804) von Professor Dr.
Paul Natorp. Separatabdruck aus „Deutsche Schule" Heft U. 1904.
14) Kant-Feier der Würzburger Universität am 12. Februar 1904.
I. Ansprache des Rektors Professor Dr. Kunkel. II. Festrede, gehalten
von Professor Dr. Külpe. Würzburg, Druck der Königl. Universitätsbuch-
druckerei von H. Stürtz 1904. ^
15) Kant. Zum Gedächtnis seines hundertjährigen Todestages.
Akademische Rede, gehalten am 12. Februar 1904 in der Aula der
534 H. Renner, Reden £, Feier d. Wiederkehr t. Kants lOOl Todestage.
ChrLrtian-Aibreehto-Univerntât tod GOCe Xartiiis, o. Prof. der Fliflaaophie.
Kiel 1904, Konuniafionirerlag ffir die UuiTerntlt Kiel, lipsins & Tisciier.
16; KanU Bedeutaniç für die Gegenwart. Gedenkrede zum
12, Februar 1904 nm Prof. Dr. Wilhelm Jenualem. Wien nnd Leipzig,
Wilhelm Branmttller
17) Gtâàchtnuartde auf Kant zur Feier der handertjfthrigen Wieder-
kehr de«i T#jdectages des Philosophen, im Auftrage des Akademischen
Senats der k b. Fnedrich-Alexanders-Univerntfit Erlangen, am 12. Febmar
1904, gehalten in der Aola der Univerrität von Dr. Richard Falckenberg,
k« o. n, ProfeMor der Philosophie. Erlangen 1904, k. b. Hof- und Univer-
sitAtaboehdmckerei von Junge & Sohn.
Zwei dänische Festgaben zum Kantjubiläum.
Mitgeteilt von Â. A all in Halle.
I. H. Hoff ding: TU minde om J. Kant
Sonderdruck aus Oversigt over det königl. danske vidensk. Selsk.
forhh. 1904. No. 1, S. 13-21.
Diese kleine Festschrift darf man wohl als Ausdruck der Anteil-
nahme der Eopenhagener Universität an der Kantfeier betrachten. Die
kurze Charakteristik der Kantischen Philosophie, die sich darin findet,
ist — eben weil so gedrängt — recht interessant.
H. hebt hervor, wie sich Kant nicht lediglich an die damals geläu-
figen Fragepunkte hielt, sondern nach den Voraussetzungen forschte, unter
denen jene Fragen möglich wurden. Dem entspricht, dass die kritische
Philosophie die Bedingungen nicht der Entstehung, sondern der Geltung
der Erkenntnis- und Wertprinzipien zum Gegenstand hat. Nach H. be-
steht die Grundeigentümlichkeit der Erkenntnis für Elant in dem Streben
nach der Zusammenfassung, nach Synthese. Dass der Königsberger
Philosoph diesen Gesichtspunkt durchgeführt habe, ohne die Grenzen der
Wissenschaftlichkeit zu überschreiten, sei sein Ruhm. Kant habe die
schliessliche Einheit der intellektuellen und moralischen Grundbegriffe
einerseits, der Naturgesetze andererseits vermutet, aber nicht dogmatisch
behauptet, weil eben der Erfahrungsbeweis dazu nicht hinreichte. Er habe
überhaupt nicht aus dem subjektiven Bewusstsein heraus Realbestimmungen
für die Welt der Erscheinungen entnommen, sondern dies Bewusstsein
analysiert und besonders für die philosophische Betrachtung die synthe-
tische Begriffsmethode verwertet. H. findet Spuren dieser Grundrichtung
bei Kant überall. Seine treffende Darlegung über das Wesen der
Kunst entstamme jener synthetischen Fassung der Probleme, eine weitere
Frucht jener methodischen Zusammenfassung sei Kants Behandlung der
Ethik, die Lehre von der Willens- Autonomie, die auf Würdigung des ge-
meinsam Menschlichen beruht.
Die praktische Bedeutung der Kantischen Grundsätze sowohl inner-
halb wie ausserhalb der deutschen Kulturwelt, zumal in Dänemark, deutet
H. in Beispielen an. Kant war der Abschluss der vorangegangenen Philo-
sophie und gleichzeitig deijenige, der der denkenden Nachwelt die Auf-
gaben stellte. Das geistige Leben hat in ihm geschichtlich „einen Höhe-
punkt und Knotenpunkt** erreicht, und zwar einen Höhepunkt, wie wir
einen solchen vor BLant erst wieder bei Plato finden, und nach Kant noch
nicht erlebt haben.
&86
A, Aall,
IL Rant.
Von A. T h Ci m sen, Pnvat^loz.eTiten an der KopenhÄ/Erener UniversitÄt.
Sonderdruck aus Teologisk Tidsskrift V, S. 273 f^.
Der dänische Author knüpft in dieser kleinen Abhandhing an Kants
berülimte Bemerkung: über die drei Stadien im Verlauf des menschlichen
Erkennen« (Dr»^matismus, Skeptizismus »iiid Kritizismus) an, und schildert
Äiier.st Kants Verhältnis zum Do^rtnatismus seiner Zeit, Die ErÖrt^nmg
des philosophischen Rationalismus niilndet in den Nachweis aus, dass
Kant selbst noch teilweise in der alten Metaphysik stecken gebliehen sei,
die er bekümpfen wollte, T. weist in dieser Hinsicht besonders aiif die
Kantische Lehre vom Ding^ an sich hin, ein Gesicht«piinkt, der mit einer
früheren Untersuchung des dänischen Autors in diesen Studien (vgL
KSt. Bd. VI 11: Bemerkungen zur Kritik de« Kan tischen Begriffes des
Dinges an sich) zusammenfällt. Man könnte einwenden, dass wohl allge-
meiner Kants eigenartiges methodisches Verhalten hierfür verantwort^lieh
zu machen sei. Seine Vernachlässigung der psychologischen Betrachtungs-
weise hat vielfach zur Folge gehabt, dass Aufgaben der BeAvtisstÄeins-
Analyse sich zu ßegriffshestimmungen metaphysischen Charakters objekti-
viert haben; wird doch eben erst dadurch in das Erfahrungspro bleni
in verhängnisvoller Weise jener erkenntnistheoretische Gegensatz zwischen
Erscheinungen und Gegenständen hineinkonstniiert.
Nachdem T, die doppelte Angriffsstellung Kants gegen den Dogm»-
tismus der Wolffianer eiuerseit«^ Humes Skeptizismus andererseits, erwähnt
hat, schildert er den positiven Standpunkt, den Kritizismus des grossen
Denkers. Die Hauptleistung Kants w ird dahin bestimmt^ dass durch seine
Philosophie die zusammenfassende Funktion des menschlichen Bewusstseins,
die Synthese der Anschauung und der Verstandest hiitigkeit» und damit die
Grundlagen des Erkenntnislehens erst mit kritischer Schärfe gewürdigt
worden sind. Die tiefgehenden Erörterungen Kants über die Begriffe
Raum und Zeit werden in diesem Zusammenhang besonders liervorgehoben,
Dass aber in der Kantischen Lehre vom Iransscendentalen Idealismus
manches Schiefe mit einherlief, dafür hat T. einen offenen Blick: „Aus
der Apriorität des Raumes folgt nicht dessen Subjektivität; weil der Raum
psychologisch eine Reihe von Empfindungen ist, dadurch wird dessen Ob-
jektivität nicht erkeüBtmstheoretisch hinfällig,^
Der Schluss der Abhandlung ist, wîe meist in dergleichen Darstel-
lungen^ der Religionsphilosophie und vor allem der Ethik Kants gewidmet.
Als bezeichnend für die Kantischen Wertprinzipien nennt T. Kants Wür*
digung der Charakterfestigkeit, seine Betonung des guten Willens, seine
Hochschfttzung der freien Menschenpersönlichkeit. In sympathischer Weise
hebt T, hervor, dass Kant für die Tragik des in unablässigen inneren
Kämpfen hinfliessenden menschlichen Lehens ein offenes Auge gehabt habe.
Das habe sich gezeigt in Kants Ausfühnmgen über den Gegensatz zwischen
Tugend und Lust, Kant sei hierdurch sicher den w^irklichen Gefühlsthat-
sachen des Menschenlebens näher gekommen als solche Theoretiker, die,
wie die englischen Vorgänger Kants: Shaftesbury, Hutcheson, Harne
u, B. w., überall Harmonie zwischen Tugend und Glücksempfindung her-
gestellt fanden.
«
I
Zwei dänische Festgaben zum Eantjubiläam. 537
Wer sich mit der etwas schwülstigen Aasdmcksweise in der vor-
liegenden Kantabhandlung versöhnt, wird dieselbe nicht ohne manche An-
regung lesen. — Die Lektüre ist geeignet, überhaupt solche Reflexionen
wach zu rufen, die sich auf das Verhältnis der modernen Philosophie zu
Kant beziehen. Wie weit erstreckt sich Kants Einfluss ? Ein wesentliches
Stück der modernen Philosophie sind die Untersuchungen, die, von Fechner
eingeleitet, die elementaren Äusserungen des Bewusstseins zum Gegenstand
haben. Wie dürfte sich hierbei — nämlich in der psychophysischen
Forschung — der Geist, die Methode Kants kundgeben? T. erklärt zu
allgemein, wenn man seine etwas gewundenen Worte ins Deutsche über-
setzt: „Jeder neue Weg in der Philosophie wird — sei es auch nur
mittelbar — sich an den Weg schliessen, den Kant einmal gebahnt." Hier
wäre der Beweis interessanter als die einfache Behauptung.
Zur Biattversetzung in Kants Prolegomena.
Von Dr. Sitzler in Anrieh.
In den Prolegomena Kante sind die Abschnitte 2—6 des § 4 an eine
falsche Stelle geraten. Sie gehören nämlich ihrem ganzen Sinne nach an
den Schluss des § 2. Nnnmehr ergiebt sich anch der sinngemässe Zn-
sammenhang des Abschnittes 1 des § 4 mit dem Abschnitte 7 des § 4.
Es ist Vaihingers Verdienst, dies zuerst nachgewiesen zu haben. Seine
Beweise finden sich in den Philosophischen Mpnateheften vom Jahre 1879,
Band 15, Seite 321—332. Sie werden jeden nicht Voreingenommenen
flberzeagen.
Vaihinger giebt a. a. 0. einer sog. „Biattversetzung^ die Schuld,
d. h. einer Verwechselung der Blätter des Manuskripte. Noch näher
dürfte m. E. die Annahme einer Verwechselung der sog. Spalten, besw.
„Fahnen^ liegen.
Es würde sich in diesem Falle um ein Versehen des ^^Metteurs*^
handeln. Der Setzer verfährt nämlich vielfach so, dass er die
Typen hinter einander nicht seitenweise, sondern unbekümmert um
Seite bezw. Kapitel immer weiter an einander reiht und nur dann
aufhört, wenn eine bestimmte Reihe von Zeilen, etwa 100, gesetzt ist,
resp. wenn der Raum von 100 Zeilen ausgefällt ist (wobei der sog.
Durchschuss, d. h. die kleineren oder grösseren Zwischenräume zwischen
den einzelnen Zeilen mitgerechnet werden). Jede solche Reihe von Zeilen
heisst im Buchdruckergewerbe eine „Spalte'^ und deren vorläufiger Ab-
druck eine „Fahne^. Erst nachdem der Setzer eine Reihe von Spalten
gesetzt hat, teilt der sog. Metteur innerhalb der Spalten die Seiten
und Seitenzahlen ab: die „Spalten*^ werden in richtige, definitive Kolunnen
„umbrochen^, wie der terminus technicus lautet.
Dass beim Drucken der Prolegomena ebenso verfahren ist^ zeigt die
Originalausgabe von 1733. Zählt man die Zeilen der an die unrechte
Stelle gesetzten Abschnitte 2 — 6 des § 4 ab, so erhält man genau 100
Zeilen ~ von Zeile 14 auf Seite 34 bis Zeile 5 incl. auf Seite 38 — .
Genau denselben Raum, nämlich eben den Raum von 100 Zeilen,
nimmt aber die vorher mit dem § 3 beginnende und bis Abschnitt 1 incL
des § 4 reichende Stelle ein, die zu Unrecht vor der versetzten Stelle
(Abschnitt 2—6 des § 4) steht.
Zählt man nun weiter zurück, so erhält man bis zum Anfang des
§ 1 der Prolegomena wiederum den Raum von 200 Zeilen, also noch ein-
mal zwei Spalten bezw. Fahnen von 100 Zeilen.
Zur Blattversetznng in Kants Prolegomena. 539
Ganz genau mit dem MiUimetermass gerechnet nimmt dieser Passus
den Raum von 201 Zeilen ein ; dies erklärt sich wohl weniger wahrschein-
lich aus einem Versehen des Setzers beim Zählen, als durch den einfachen
Umstand, dass der Metteur auf Seite 28 wohl zwischen den ursprünglich
dicht vor dem Text stehenden Worten „Von den Quellen der Metaphysik**
und dem Text selbst eine Zeile frei liess, um die Oberschrift mehr hervor-
zuheben. Die allgemeine Überschrift auf Seite 23 ,,Prolegomena. Vor-
erinnerungen von dem Eigentümlichen aller metaphysischen Erkenntnis**
ist, zumal sie wahrscheinlich auf einem besonderen Textblatte stand, auch
besonders gesetzt worden, wie das bei Überschriften noch heute viel-
fach geschieht.
Es ist danach sehr wahrscheinlich, dass Spalten von je 100 Zeilen
gesetzt wurden, und dass nun der Metteur aus Versehen statt der dritten
Spalte (die die Zeilen von 201-3C0 enthielt) die vierte zuerst ergriff und
dann erst die dritte folgen Hess, so dass das, was an den Schluss von § 2
gehört, in den § 4 hineingeriet. Übrigens ist eine ebensolche Verwechse-
limg der für die Korrektur hergestellten ,,Fahnen** auch denkbar.
Dass der Missgriff nicht gleich bemerkt wurde, liegt daran, dass
beide Spalten, resp. Fahnen nicht mitten im Text aufhörten, sondern zu-
fällig beide mit einem Abschnitt schlössen.
Der Umstand, dass die beiden vertauschten Stellen genau denselben
Raum einnehmen, ist ein weiterer Beweis für die Richtigkeit der
Vaihingerschen Darlegung von der Versetzung der beiden Stellen.
Nur in der Art und Weise, wie diese Versetzung zustande gekommen ist,
weiche ich von Vaihinger ab, indem ich die Spaltenverwechselung resp.
die Fahnenversetzung für wahrscheinlicher halte, als die Blattversetzung.
Die Kenntnis über die Thätigkeit des Setzers und des Metteurs
verdanke ich meinem Freunde Max Schersath zu Berlin.
Nachwort.
Von H. Vaihinger.
Es sind nunmehr gerade 25 Jahre her, dass ich meine Thätigkeit für
die Erforschung der Kantischen Philosophie mit meinem Aufsatz über
„Eine Blattversetzung in Kants Prolegomena** eröffnet habe (Philos.
Monatsh. 1879, S. 321—332). Fast hundert Jahre nach dem Erscheinen
der Prolegomena wies ich nach, dass in der Einleitung dieses vielgelesenen
Buches der Text nicht in Ordnung sei, und dass ein beträchtliches Stück
dieses Textes an eine falsche Stelle geraten sei. Es handelt sich dabei
im Text nicht um besonders schwierige Dinge, sondern um die allbekannte
Einteilung der synthetischen Urteile in Erfahrungsurteile, mathematische
Urteile und metaphysische Urteile: ein Teil des Abschnittes über die
mathematischen Urteile, sowie der ganze Abschnitt über die metaphysischen
Urteile sind in den § 4 hineingeraten, während sie offenbar an den Schluss
des § 2 gehören. Ich führte diese Textverschiebung auf eine „Blattver-
setznng** zurück, d. h. eine Verwechslung der Blätter im Manuskript Kants.
640
H, Vaihing-er,
In einem zweiten Aufsatze (Pbil. Monatsli. 1Ö79, S, 513— 532) wie«
ich nach, dass jene Textverschiehiin^ sehr verhi'ing:nisvülle Konsequenzen
in dem Streite zwischen Kherhard und Kant grehabt habe, Eberhard, der
sich zunächst an die Prolegomena hielt, musste auf Grund der verstümmelten
Darstellung- zu einem ^anz falschen Referat über Kants Lehre vom svn-
thetischen Urteil ktunmen : da ja in §2 nur empirisclie und uiathematischc
Urteile als solche aufgezfihlt waren, i>o musste Klïerhard über dt*n syntbe-
tischeu Charaktei der metaphysischen Urteile im Unklaren bleiben. Dies
rächte sich: in seiner K^nzen Kontroverse mit Kant spielte dieses Miss-
verstöndnis eine schlimme Rolle.
5ÎU solchen Missversttinduissen ist es seitdem in der Literatur nicht
mehr gekonunen, da maji ja doch für Kants Lehre stet.s die Darstellung
der Kr. d. r. W selbst zu örunde legte. Aber um so merkwiii'diger bleibt,
dass man, eben 'auf Grand dieser Darsteïhiufc der Kr» d, n V.. nicht jenen
Fehler der Prolepfomena entdeckte, der ja das Verständnis des Zusammen-
liang-es in den §§ 2 und 4 vollstiindig unmöglich macht und eine Reihe
auffallend schwerer Inkoxigruenzen bervorgfenifen hat. Die Entdecloing'
jener Textverschiebnu^ fand denn auch damals all^enjeine Anerkennung:»
und nur Johannes Witte, damak nocVi Frivatdozent in Bonn, beging die
Unvorsichtigkeit, in zwei Aufsätzen in den Philos. Monatsh. 1883, S. 14ö — 174
nnd 597- 614 nicht bloss jene Textverschiehung, scmdern sog^ar jene in die
Augen springenden Inkongruenzen des Textes zu bestreiten* Es war mir
ein Leichtes, Wittes gilnzIichesUnversliindnis nachzuweisen (ib. S. 401 — 416),
Der Name „Johannes Witte*' ist seitdeui aus der Kaiitliteratur verschwunden.
Die Sache ist nun neuerdings wieder zum Gegenstand der Erürteruug
gemacht worden, und zw^ar von Professor B. Erdmann in Bonn. Bekannt«
beb hat Prof. Erdmann in der neuen Akademieausgahe ausser der Kritik
d. r. V, auch die ProJegimiena herausgegeben. In dieser monnmentalen
Ausgabe hat Prof. Erdmann nirgends, weder unmittelbar im Text noch am
Schlüsse in seinen eigenen textkritischen Anmerkungen, auf die Text-
Verschiebung hingewiesen. Dieses Schweigen, das niclit bloss mir aufge-
fallen ist, hat Prof, Erdmann nun zu rechtfertigen gesucht im Anhang zu
seiner neuen Schrift „Historische Untersuchnngen über Kants Prolegomena**
(Halle a. S,, Max Niemeyer, imi4).
Um Erdmanns Erörterungen richtig würdigen zu können, muss ich
zuerst genau und klar die verscliiedenen Gesichtspunkte unterscheiden,
um die es sich bei der ganzen Sache handelt, um jede Verkennnng des
Thatbestandes unmügUch zu machen. In meiner Abbandhmg aus dem Jahre
1879 sind folgende 8 Gtsâichtapunkte zu unterscheiden :
I. Nachweis, dass in den §§2 und 4 der Prolegomena
schwere Inkungrueuien vorhanden sind. Diese bestehen im Wesent-
lichen darin, dass in dem § 2 die Einteilung der synthetischen Urteile
getroffen werden soll, dass aber ausser den empirischen nur die mathe-
matischen anfgezählt sind, nicht aber die metüphysischen, und zweitens
darin, dass in dem § 4 die Abschnitte 2—0 den Zusammenhang vollständig
unterbrechen und sich gar nicht organisch in den übrigen Tenor des
Paragraphen einghed«rn lassen. Der Anfang des Absatzes 7 schliesst mit
„also" direkt an den Schluss des Absatzes 1 an, so dass eben die Absätze
4
Zur Blattversetzung in Kants Prolegomena. Nachwort. 541
2 — 6 den Zosammenhang zwischen Abs. 1 und 7 störend aufheben. Eine
Reihe anderer Inkonvenienzen, die ich noch aufdeckte, mag ich hier
nicht wiederholen.
IL Nachweis, dass diese Inkonvenienzen durch eine
Textverschiebnng entstanden sind. An jenen Inkonvenienzen kann
man Anstoss nehmen, ohne sich nun klar zu machen, wodurch sie ent-
standen sind. Ich habe aber zeigen können, wie sie entstanden sind,
nämlich durch eine Textverschiebung. Alle jene Inkonvenienzen
lösen sich vollständig und glatt durch die Annahme, dass eben die Absätze
2—6 des §4 gar nicht in denselben hineingehören, sondern in den §2;
dass also eine Textverschiebung vorliegt. Die Absätze 4—6 des § 4 ent-
halten gerade da^enige, was wir in § 2 vermissen, nämlich eben die Auf-
zählung der metaphysischen Urteile; dem § 2 fehlt im hergebrachten
Text sein natürlicher Schluss, dieser ist eben in Abs. 4—6 des § 4 enthalten.
Der Absatz 6 spricht auch vom „Schluss des Paragraphen^ ; nach der neuen
Ordnung ist dieser natürliche Abschluss für § 2 nun erreicht, während in
dem § 4 noch 3 Absätze folgen auf jenen angeblichen „Schluss^ im Ab-
satz 6. Die Abschnitte 2 und 3 enthalten ausserdem noch einen Zusatz
über die synthetische Natur der mathematischen Urteile, ebenfalls in un-
mittelbarem Anschluss an das in § 2 Gesagte. Die neue Anordnung macht
also jene ehemals entstandene Textverschiebung rückgängig und alles ist
in schönster Ordnung.
Dass der Text ehemals verschoben worden ist, also die Textver-
schiebung, ist zunächst eine Annahme, eine Hypothese. Sie ist aber
zur Sicherheit geworden durch den Umstand, dass Kant selbst im § 4
Abs. 1 eine Rückverweisung macht auf „§ 2 lit. c^, welche nach der bis-
herigen Anordnung keinen Sinn hat, sondern nur nach der neuen. Die
Textverschiebung ist also erwiesen, und in dem sicheren Nachweis derselben
besteht das Wesentliche und Neue meiner Entdeckung.
III. Vermutung, dass jene Textverschiebung durch eine
Blattversetcang entstanden ist. Jene unrichtige Einstellung eines
Textstückes an einen falschen Platz muss nun irgend eine Ursache gehabt
haben, und zwar wohl eine rein mechanische, und da lag am nächsten die
Vermutung, dass ein Blatt des Manuskriptes an eine falsche Stelle ge-
raten ist. Eine solche Platzvertauschung benennen die klassischen Philologen,
in deren Gebiet solches öfters vorgekommen ist, mit dem terminus technicu8
„Blattversetzung*. Diese Blattversetzung kann, wie ich sagte, entweder
schon in Königsberg durch eine Nachlässigkeit Kants oder seines Ab-
schreibers entstanden sein oder auch erst in der Druckerei. Die Annahme
einer „Blatt Versetzung^ als solcher ist natürlich nur eine Hypothese, um
den erwiesenen Thatbestand der Textverschiebung zu erklären.
Nach diesen Vorbemerkungen kann ich nun erst mit Erfolg auf
Erdmanns neueste Ausführungen eingehen. In dem Anhang zu der
obengenannten Schrift, S. 122 ff., finden sich „Orientierende Bemerkungen
zu den Paragraphen 1 — 5 der Prolegomena'^. In diesen giebt nun Erdmann
die Inkongruenzen vollständig zu, und spricht ganz in demselben
Sinne wie ich von den „Schwierigkeiten** (122) und den „Dispositions-
mängeln** (126, 127) der betreffenden Paragraphen; er führt dieselben im
543
H Vaihiiiger,
^nsel&en auf und schreibt: „Die hier vorhandenen Dispositionsm&ngel
des Ulis vorliegenden Textes hiit Vaihinger in allem Wesentlichen richtig
bemerkte (127J. Über diesen Punkt besteht also keine Differenz.
Ebenso giebt Erdmann vollständig zu, dass diese Inkonvenienien
alle dadurch erklärt werden, dass ein Stück des Textes ans § 2 in § 4
hineingekummen ist ^ also auch die Tex t v erschi e hung wird von
ihm acceptiert. Er giebt zu, dtiss es notwendig ist, die Absätze 4—6 .,dein
Zusammenhang des§*J zuzuweisen, dem sie der Konzeption nach zngehören*-
(128); denn „entsprechend dem hierfür gehingen en . .. Nachweise Vaihingers
gehörten die Absätze 4—6 des § 4 ursprünglich zu § 2** (123). Ebenso
giebt Erdmann zu* dass die Absätze 2 und H „gleichfalls in engem Zu-
sammenhang mit § 2 stehen" (128). Er giebt zu, dass nnr der so .vervoll
stândigte §2^* (127, 128), ,,der ursprüngliche, vollständige § 2" einen logischen
Sinn und Zusammenhang giebt. Er giebt zu: ^Das Zita,t [das Selbstzital
Kant« am Anfang von §4, wo er anf §2 lit. c hinweist] macht also un-
zweifelhaft, dass der Zusammen bang» in dem diese Absiltze jetzt stehen,
ursprünglich dem g 2 angehört hfit. Hier hört iii der That die Hypothese
anf und fängt die Gewissheit an" fl30). Erdmann liat damit also dasjenige
anerkannt — wie hatte er als Kundiger auch anders können? — worin
eben das Wesentliche meiner Entdeckung besteht. Auch darüber besteht
somit keine Differenz.
Diese beginnt erst mit dem dritten Punkt: hei der Erklürung
jener von ihm als tbatstlchlich acceptierten Text Verschiebung, Und hier
unterscheidet .sich nun ß. Erdmann von mir, indem er meine Hypothese
einer mechanischen Blattversetznng durch eine andere Hypothese ersetzen
will, durch die Annahme, das.s jene Abschnitt-e 2 — 6» die aus § 2 in § 4
hineingeraten sind, „nicht zufällig abgetrennt wr^rden sind*' (123), sondern
— absichtlich durch Kant selbst jene Umordnuiig erfahren haben: „Kant
hat» gleichviel vorerst, aus welchen Gründen, Anlass genommen, bei der
definitiven Redaktion dieser Aufzeichnungen das ui-sprünglich Zusammen-
gehörige zu trennen, aber nach Analogie anderer Fälle, nur lose und nicht
2u Gunsten deutlicher Disposition** (127). Man erwartet nun» die hier an-
gekündigten „Gründe** zu erfahren, aus denen Kant jene unnatürliche
Trennung vorgenommen hat. Wo Erdmann nachher davon spricht, S. 139,
erfährt man nur folgendes: „ Daran fli in wurde . . . dem jetzigen § 4 die
was vorliegende Fassung gegeben: durch Einschiebung der Absätze 2 tind
S, durcli Abtrennung des Abschnittes 3 der Abteilung cj von dem § 2 und
deren Einordnung als Absatz 4 — 6 in diesen §4**.
Ich muss gestehen^ dass meinem Verständnis des Verfahrens Kantâ
und eiues Schriftstellers überhaupt damit zuviel zugemutet wird: ich kann
absolut nicht verst^hen^ welche Gründe Kant gehabt haben mag, seinen
Text in dieser Weise vollständig zu verstümmeln und zu verderben. Man
mag noch so viele redaktionelle nachträgliche Änderungen annehmen,
meine thalb eine zweite, dritte, vierte Eedaktitui, aber niemals kann Kant
doch mit Absicht jene Umstellung vorgenfjmmen haben. Erdmann lie-
trachtet es als einen entscheidenden Grund gegen meine Annahme einer
zufälligen, mechanischen Blattversetzung, dass Kant bei Gelegenheit der
Ausarbeitung der 2. Auflage der Kr. d. r. V. Jenes „ärgerliche Versehen**
1
■■4
ll
i
Zur Blattversetzung in Kants Prolegomena. Nachwort. 54.^
hätte bemerken müssen (127); da er es nun nicht korrigiert habe, so könne
es auch kein ärgerliches Versehen sein, sondern — Absicht. Nim, ich
meine, wir nehmen doch lieber an, Kant habe jenes ,,ärgerliche Versehen",
welches doch meiner Ansicht nach nur auf ein zufälliges Vertauschen zweier
Blätter zurückzuführen ist, das vielleicht sogar erst in der Druckerei zu
Stande kam, nicht bemerkt, als dass wir die mir ganz unbegreiflich
erscheinende Annahme machen, Kant selbst habe gelegentlich der definitiven
Redaktion jene Umstellung absichtlich vorgenommen, die ja auch
dann ein ^ärgerliches Versehen^ bleiben würde, das wir
heute corrigieren müssten.^) Man belastet das Konto der Nachlässigkeit Kants
unvergleichlich viel mehr, wenn man Erdmanns Annahme macht, als wenn
man meine Annahme acceptiert. Freilich eine wichtige Konsequenz hat
die Annahme B. Erdmanns: seine Hypothese berechtigt ihn dann bis zu
einem gewissen Grade, in der neuen Akademieausgabe den Text zu lassen
wie er ist,^) und seine Hypothese giebt dann auch eine Art nachträglicher
Rechtfertigung dafür, dass Benno Erdmann bei Gelegenheit seiner ersten
Ausgabe der Prolegomena im Jahre 1878 — ein Jahr vor meiner Ent-
deckung — die Textverschiebung nicht gefunden hat: denn Kant hat
ja seiner Meinung nach die jetzige Textanordnung absichtlich gewollt
Kants angebliche Absicht dabei kann freilich kein Mensch verstehen.
Noch Eines ist in B. Erdmanns neuem Buch auffällig. B. Erdmann
erwähnt die Angelegenheit, die er im Anhang zu seinem Buch behandelt,
auch schon im Texte selbst. Er sagt : „Auf eine Reihe von Inkongruenzen
. . . habe ich in der Einleitung zu meiner Ausgabe der Prolegomena hin-
gewiesen ; eine spezielle hat Vaihinger verwertet, um die Hypothese einer
Blattversetzung in Kants Prolegomena zu begründen'^ (20). Diese Dar-
stellung könnte den Anschein erwecken, als ob die von mir hervorgehobene
Inkongruenz [es sind aber in Wirklichkeit viele] schon 1878 von B. Erd-
mann bemerkt worden sei. Das ist aber nicht der Fall und dies will auch
Erdmann nicht sagen, wie er ja selbst S. 127 in der schon oben S. 542 von
mir angeführten Stelle zugiebt. Ausserdem könnte diese Darstellung den
Anschein erwecken, als ob B. Erdmann meine Entdeckung nicht anerkennen
') Oder sollte Erdmann denn meinen, Kant habe bei Gelegenheit der
definitiven Redaktion jene Umstellung zwar selbst und eigenändig vor-
genommen, aber nur unabsichtlich ? Nun, das würde ja die denkbar grösste
Ungenauigkeit und Flüchtigkeit der Arbeit voraussetzen und ausserdem
noch viel weniger als die Annahme einer absichtlichen Umgestaltung die
Belassung des bisherigen in Unordnung geratenen Textes rechtfertigen.
*) Eine Erwähnung der von mir entdeckten faktischen Textver-
schiebung (und der zu ihrer Erklärung aufgestellten Hypothese einer
Blattversetzung) in den textkritischen Anmerkungen wäre auch so aller-
dings immer noch zur Orientierung der Leser erforderlich gewesen. Ich
glaube, dass die Leser der neuen Akademieausgabe doch ein Recht darauf
haben, mit einer so wichtigen Thatsache bekannt gemacht zu werden,
durch welche in den § 2 der Prolegomena überhaupt erst logischer Sinn
hineingebracht, und aus dem § 4 derselben Unlogisches und Sinnwidriges
herausgebracht wird. Die Besitzer der grossen Akademieausgabe werden
über (uesen wichtigen Umstand nicht so gut orientiert, als die Besitzer
der kleinen Reklamausgabe, deren Herausgeber Karl Schulz auf die
Textverschiebung nicht bloss in der Einleitung, sondern auch in einer
Fussnote zum Texte selbst aufmerksam gemacht hat.
K*Btitadi«a IX. 35
544 H. Vaiîiin^er, Zur Blattvers, in ïCunts Prole^. Nachwort.
woUte — dies thut er aber S. 128 ff., wie oben gezeigt. Aber an dieser
Stelle, am Anfang seines Buches unterscheidet B Krdmann nur ^Inkon-
gruenzeïi" und „ Blattverset zung**, lässt aber die Hauptsadie weg: die
Textverschiebung, und in dieser Auffindung der Text Verschiebung be*
steht ja das Wesentliche und Wertvolle meiner Fititdeckmig, und das hftt
B. Erdniann seihst anerkennen müssen.
Ebenso missverständlich ist eine andere Stelle aus derselben Gegend;
da heisst es S. !2'i[;l: aus dem Anhang wird „erhellen, dnss die von Vaihinger
hervorgehobene Inkonvenienz in den Anfangsparagraphen nur eine von
vielen i^t, so dass die Hypothese einer Blattversetzniig schon ans diesem
Grunde ihren Boden verliert "*. Auch hier fehlt zwischen .Inkonveuiena*
und trßhitt Versetzung** die Hauptsache, das mittlere Glied, die Textv
seh it^* bung, welche eben in jenem Anhange ja voîi Krdniiinn anerka;
worden ist, Nach der vorliegenden Stelle könnte es erscheinen, als waren
jene Inkimvenienzeu in § '2 und § 4 gleichwertig mit den anderen in den
Anfangspara^raphen 1 ö enthaltenen Inkonvenienzen» z. B. der ebenfalls
von mir zuerst hervorgelioheneu Inkonvenienz, dass §4 und § 5
gleiche (/herschrift ^, Allgemeine Fntge** haben. Aber diese und ähnli
Inkonven lenzen erklären sich einfach durch rasche Überarbeitung, wie
sich auch sonst hei Autoren findet, erfordern aber nicht die radikale
nähme einer âen ganzen Zusammenhang zerreissenden Text Verschiebung,
die ja B. Rrdmann seihet im Anhang zusieht, auf den er hier verweist.
Sein Anhang gfieht also etwas ganz Anderes, als diese gänzlich ab
lehnende Vorbemt^rkung vermuten lässt — nftmliclï eben die A una h
des Weseutlichen meiner Entdeckung,
Was B. Erdmann wirklicli einzig und allein bezweifelt, ist die An-
nahme, da.ss jene auch von ihm acceidierte Textversch iebung — die
Hauptsache — nun gerade auf einer mechanischen „Blattversetzung**
beruhe. Er zieht dafür jene schon genügend cîiarakterisierte Annahme
einer absichtlichen Umstellung durch Kant vor. Dass aber jenCi
B. Erdmanna treffenden Ausdnick zu wiederholen, ^Ärgerliche'* V«
Schiebung mechanisch und zufällig geschehen sei, ist doch viel plad?
sibler; und hier hat nuu die Beobachtung, welche Dr. Sitzler gemacht
hat, dass die beiden vertauschten Stellen gerade je 100 Zeilen umfassen,
eine neue Hypothese zur Erklflrung jener Textverschiebung nahegele,
die Annahme einer Spaltenvertauschung resp. einer Fahnen vertausch ui
Diese Hypothese, welche ebenfalls eine rein mechanisclie Entstehung jei
Textfeblers eiuschliesst, ist sehr plausibel, und ich kann mich nur freui
daâs meine Ausführungen von 1879 naoli 2î* Jahren eine so willkommene
Ëf^nKung erfahren haben.
nat**.
ans
a3^
mg.
äst.
ib» I
[fl^*
Recensioneii.
Christiansen, Broder. Erkenntnistheorie und Psychologie
des Erkenn ens. Hanau, Clauss u. Feddersen. 1902. (IV u. 48 S.)
Auf wenigen Seiten von kleinem Format die Behandlung eines
grossen Problenis — das scheint gewagt und erweckt vielleicht ein un-
günstiges "Vorurteil. Liest man aber das Schriftchen durch, so wird man
freudig überrascht sein durch die Fülle des Inhalts, die — nicht etwa nur
in Gestalt geistreicher Andeutungen, sondern — wenigstens zumeist — in
wirklich klarer, durchsichtiger Ausführung darin niedergelegt ist. Christi-
ansen verfügt über eine bewundernswert präzise Art und Weise, sich aus-
zusprechen ; er kann kurz sein, ohne undeutlich zu werden. Und wenn es
einer Rechtfertigung dessen bedürfte, dass diese Schrift — die am Ende
nicht so gar viel völlig Neues bringt — gedruckt worden ist, so brauchte
nur darauf hingewiesen zu werden, iHe der Verf. das sagt, was auch von
anderen schon gesagt ist.
Die Arbeit ist aus dem Freiburger philosophischen Seminar hervor-
gegangen; ihr Standpunkt ist wesentlich der Rickertsche. Erkenntnis-
theorie und Psychologie werden also in der Weise geschieden, für die
Kant vorbildlich ist: alles That^ächliche am Urteil fällt der Psychologie
anheim, die Wahrheit eines Urteils aber ist keine Thatsache, sie ist „kein
realer Teil eines Urteilsaktes, auch keine Beschaffenheit oder thatsächliche
Eigenschaft eines solchen" (6) — die Wahrheit der Urteile ist uns gegeben
als Aufgabe, sie ist uns aufgegeben, sie ist der Zweck unseres Urt^ilens
(7). Die Methode der PsychoTog^ie ist naturwissenschaftlich, die der Er-
kenntnistheorie teleologisch. Diese Verschiedenheit der Methoden bedingt
ein totales Auseinandertreten der Resultate: die erkenntnistheoretische
Analyse eines Urteils führt zu wesentlich anderen Faktoren als die psy-
chologische Analyse. Der Psychologe forscht eben nach den Momenten,
die im Urteil als empirischer Thatsache aufweisbar sind, während es der
Erkenntnistheoretiker nur mit denjenigen an den Urteilen zu thun hat,
was nicht als Thatsache betrachtet werden kann (16 ff.). Der Psychologe
sucht Naturgesetze, der Erkenntnistheoretiker Normen (21 ff.). Die Not-
wendigkeit der Urteile ist für den Psychologen ein Müssen, für den
Erkenntnistheoretiker ein Sollen. Jedes Vrten, das ich thatsächlich fälle,
muss ich so fällen, wie ich es thue ; die teleologische Notwendigkeit des
So liens realisiere ich jedoch nur in den u?aÄren Urteilen, nur in den Ur-
teilen, die der Aufgabe des Urteilens gerecht werden. Falsche Urteile sind
für die Erkenntnistheorie wertlos. — na Zusammenhang hiermit entwickelt
der Verf. (24 ff.) die Lehre vom „Wahrheitsgefühl', wesentlich ebenso wie sie
Fichte vertritt. Das Wahrheitsgefühl ist das unmittelbare Bewusstsein des
Wertes richtiger Urteile, ein unmittelbares Bewusstsein davon, wie geurteilt
werden soll, welche Stellungnahme teleologisch notwendig ist. Mit der psy-
chologischen Notwendigkeit des Urteils hat das Wahrheitegefühl nichte zu
thun. Psychologisch notwendig ist ja jedes thatsächlich gefällte Urteil.
.Das Wahrheitsgeftlhl dagegen giebt an, wie geurteilt werden soll, durch
welche Art der Stellunj^nahme die Aufgabe des Urteils erreicht wird, es
ist ein Kriterium richtiger Urteile; und nicht i'eder Urteilsakt entepricht
diesem Sollen" (25/6). Es ist- in dieser Frage schwerer als irgendwo, den
35*
546
Recensionen (Chrigtiansen).
I
Seliem des Fisychologismiis za vermeiden, and wie von Fichte«
Darstellungen mOchte ich auch von der des Verfasi^iri» bczweÜ
sie es vermag, dem , Neukantianer" von hetite die rnrichtitrkeit eines
solchen Kin wanden diïrzutltuii. Es wird immer wieder du Schein ent^
stehen, ab* oh nun um richtige Urteil nicht mehr kdiglich teleo
logisch charakterisiert wäre (als dasjenige Urteil, das seiner AufjB^be
eiit*ipricht — vvohei davon abgesehen werden inüj»ste, oh wir imstande
siod, uns von diesem Wert der Urteile im einzelnen thatsächlichen
Falle zu überzeugen j, sondern da&s das richtige Urleil auch einen Faktor
hatte, der e^ psychologisch vor den anderen llrfeUen auszeichnete. Wo-
mifr die im Pnnzip bo scharf herausgearbeitete Grenze zwischen Psycho-
log if und Erkenntnistheorie doch wieder flüssig g< worden wäre.
Cliristi ft Ilsen bespricht weiterhiu den Begriff des erkenn tnistheoi
tischen Snlgekts, den er gegen den psychologischen Snbjektsbegriff
grenzt, indem er zugleich bemüht kt, alle Metaphysik fernzuhalten (28
as erkenntnistheoretische Subjekt bezeichnet oiclit eine Wirklichkeit, _
ist .nicht identisch mit dem Suitjekt, welches erkennen will, sondern €«
ist das Subjekt, zu dem dus Individuum werden wilï", .Es ist nicht gc-
geben als Tliatsache, sondern es ist aufgegeben als Ideal". Der Verf.
wendet sich sodunn zu den einzelnen Formen der Erkenntnis (:^3 ff /. Die
Möglichkeit eiïier Deduktion lehnt er ab; dass wir gerade Raum und
Zeit, Dinghaftigkeit ujid Kausalität als konstitutive Formen vorfinden,
„ist eine empiris*che 'I hatsnche, welche der Psychologe konstatiert**. Dass
ein solches Abhängigkt^itsverhilltnis der Transscendentiilphilosophie von
der Tnjnssceiidentalpsycliolngie der gegeuwilrtigen historischen Lage der
t'rkeniitnistheoretiscliLn Forschung entspricht, wird sich nicht leugnen
lassen ; bedenklich aber scheint es mir, diesen geschiclitlich bedingten
MiKsstand zum Prinzip zn erheben. Wer der Erkenntnistheorie eine selt-
süindige Stellung zuwi-ist, wird auch den Anspruch festhalten müssen,
dahs sie - mit Fichte zu reden - alles Faktische in seine Genejsis aufzu-
lösen habe. Neben diesem stolzen Wort kann sehr wold das bescheidene
Eingeständnis stehen, dass die damit bezeichnete Anfgalie ihrer Liisung
noch harrt — Sehr interessant ist, wie Chrisiiansen das Verhältnis der
apriorischen Fonnen zu den etnpirisch gegebenen Begrifft^n von Dinghaftig-
keit, Kausalität, Raum und Zeit bestimmt. Das in der jüngsten Zeit
mehrfach besprochene Verhältnis Rickerts zu Mach tritt hier in vollcjr
Klarht^it zutage — übrigens ohne Nennung der beiden Namen, Doch
stehe u die Maclischen Wendungen i,34 fj kaum von ungefähr an ihrer
St^^lle; auf den folgenden Seiten wird dann die erkenntnistheoretische
Bedeutung der für die Mtiglichkeit richtiger Urteile notwendigen Formen
hervorgekelirt, und die von unserem »praktischen** Interesse abhängigen
relativ beharrenden Komplexe vorgestellter Elemente treten in die Be-
leuchtung der Transscendenialphiiosophie. — Sehr gefreut habe ich midi
über die in einer Anmerkung i'^d) vorgetragene Theorie, dass sowohl der
Kategorie der Dinghaftigkeit wie der der Kausalität zwei verschiedene
Bedeutungen zukommen: eine naturwissenschaftliche und eine historische.
Zu bedauern habe ich nur, dass ich Christiansens Schrift noch nicht gelesen
hatte, als mein Aufsatz „Kaut und lianke*' im vorvorigen Heft dieser Zeit-
schrift gedruckt wurde: ich hätte dann nicht versäumt, darauf hinzuweisen,
dass ein Hauptgedanke der dort vertretenen Kategorienlehre bereits aus-
gesproelien war, — Im Anschluss an Windelbands Beitrag zur Sigwart-
Festiîcltrift unterscheidet der Verf. von den koustilutiven Kategorien die
reflexiven (4t ff.). Die reflexiven Prinzipien haben die Aufgabe, „das in
Form von Anschauungen gegebene Weltoild umzusetzen in Begriffe"; sie
verwandeln die „mentale Existenzform des Weltbildes". Diese Über-
tragung kann nicht absolut erreicht werden; wesentliche Stücke der Ob-
jekte gehen bei dem Umformungsprozess verloren. „Warum dieses der
Fall, kann hier unerürtert bleiben'* {4.H): Diese Worte mochten in Ricke rts
Seminar an ihrer Stelle sein; ich glaube aber, dass die nächstfolgenden
Auî^fuhrungeTi drs Verfassers nur von einem Leser verstanden werden, der
Recensionen (Riehl). 547
die „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildunç" kennt. Doch
will ich hervorheben, dass dies auch die einzige Stelle ist, an der allzu
knappe Fassung der Deutlichkeit schadet. — Infolge davon nun, dass die
Begriffe nicht imstande sind, die TotalitÄt des Anschaulichen zu erschöpfen,
wira das ideale Weltbild „zu einer Idee im Sinne Kants, zu einer Idee
aber, der wir uns nicht einmal in vollem Sinne annähern können, denn
jede Annäherung in der einen Richtung bedingt in anderer Richtung eine
Entfernung * (44). Diese erkenntnistheoretische Idee der absolut identischen
Wirklichkeit dient als Massstab zur Abschätzung des Werte« der verschie-
denen Wirklichkeitssysteme, wie sie das praktische Leben und die Wissen-
schaften ausbilden. Die Psychologie hingegen kommt auch hier nicht über
das Thatsächliche hinaus : ihre Sache ist es, die faktische Herausgestaltung
jener verschiedenen Systeme zu erklären. Worin sich aber z. B. das Welt-
bild der Naturwissenschaften vor dem des gewöhnlichen Lebens auszeichnet
und worin es andrerseits hinter diesem zurücksteht: das zu beurteilen ist
die philosophische, die erkenntnistheoretische Aufgabe.
So ist es ein grosses Stück Wegs, das uns der Verf in Eilmärschen
zurücklegen lässt. Aber überall hat man den Eindruck, dass er uns den-
selben Weg auch langsam führen könnte, dass er auch die Details sehr
genau kennt, die er nur streift oder verschweigt. Das Schriftchen verrät,
dass es ans geistiger Konzentration heraus geschrieben ist, dass es einem
ernsten und — bei aller Anlehnung an Rickert — selbständigen Denken
entstammt.
Halle a. S. Fritz Medicus.
Riehl, Alois. Zur Einführung in die Philosophie der
Gegenwart. Acht Vorträge. Leipzig 1903. (258 S.)
Diese Vorträge „sollen mehr anregen als belehren: sie sollen der
Philosophie unter den wissenschaftlich Gebildeten neue Freunde gewinnen
und zum Verständnis der philosophischen Bestrebungen der Gegenwart
beitragen". (Vorwort.) Mit diesen Worten bezeichnet der Verfasser des
,Philosophischen Kritizismus' den Zweck seines Buches, welches unserer
Ansicht nach sowohl belehrend wie anregend wirkt. Die Aufgabe, welche
sich Riehl gestellt hat, den Rapport zwischen Wissenschaft und Philoso-
phie darzustellen, scheint uns in vortrefflicher Weise gelöst zu sein.
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, sagt Riehl, konnte das
Wort fallen : „die Geschichte der Philosophie sei e^en selbst die Wissen-
schaft der Philosophie, ein Wort, das wohl jener augenblicklichen Lage
der Philosophie angemessen war, ihr aber im Grunde, Leben und Zukunft
abspricht**. S. 1. Heute aber hat sich die Lage geändert, zum Glück so-
wonl der Naturwissenschaft wie der Philosophie. Bedeutende Natur-
forscher, vor allem He Im hol tz, haben sich in den letzten fünfzig Jahren
mehr und mehr mit Problemen der Erkenntnistheorie beschäftigt und die
Grundlage der wissenschaftlichen Methodik von neuem untersucht Durch
die Entdeckung Robert Mayers, Von dem unten die Rede sein wird,
ist „der grösste Fortschritt der allgemeinen Wissenschaftslehre seit der
Kritik der reinen Vernunft" gemacht worden, und dadurch eine neue
Epoche der philosophischen Forschung eröffnet. — Nun unterschätzt
Riehl keineswegs die Bedeutung der grossen Arbeiten der Historiker
der Philosophie. Um die Frage nach dem Wesen und Zwecke der Philo-
sophie zu beantworten — denn „das erste philosophische Problem ist heute
die Philosophie selbst als Problem" — sei eine geschichtliche Betrachtung
nicht nur von Nutzen, sondern geradezu unentbehrlich, um zu erkennen,
was Philosophie sei und bedeute. Denn „die Geschichte der Philosopliie
ist die Geschichte der Entwickelung und Verwandlung des Begriffs der
Philosophie". (S. 6. Im ersten Kapitel, welches eine kurze einleitende,
dem Zwecke des Buches gut entsprechende Skizze des Verhältnisses der
Philosophie zur Wissenschaft im Altertuuie, enthält, werden die haupt-
sächlichsten Ergebnisse der Schrift vorange«chickt, „nicht als Sätze, woran
nmnen
tteglaubi werdet! soll, sondern als Zielpankte, wahin die UnteTsuchtnig
ftliren tnriehfe^. S. 6.
Wie «lifirc'inein anerkannt, gal» va im Alierttime kehre WiRsenscl
ausser d^r Philosophie: nnd sie hÜehin liis zu Uescaiies unirefrennt.
der .Schr>pfunp' der modernen WisKeriM-liiift aber begann sich das Verhi
nis beider anders z« p^estaJlen. Die neue Wissenschaft scheint die aU
Phik»iiophie ersetzt zu haben: diese erfährt ihre Fi*rltietx«np iti jeni
Damit entwickelte sich für die theoretische Phih»M>phie eine bedeuliir
volle Fra^e, ob e« noch ne!>en der positiven Wissenschiift und verschied
von dieser eine Wissenschaft lit- he Phih»sophie gehe? Giebt es eine solch
so ^darf i^ie nicht hinter dem Mnsse, das wir ï^eit Giililei an wisse
schaftliche Erkenntnis tinznlegen ^^elenit haben, zurückbleiben**.
PhiloKi>phie nubste Kinzelwissenîsciiaft hein, sie stünde s<ini>t an 8tren|j
hinter den übrigen Wissenscimtten zurürk, nnd sie müsst^ zn^leich
jjrmeinwisi.senschaft sein können, sonst wîire sie nicht — Philosophie**. SJ
Wie soll nun dies sclieinhare Diltmmsi gehest werden? Giiben
die Phihisophie für die Gesamtheit der positiven Wisseiischafleii aus»
kiknien wir. sagt Riehl, „zu dem wunderlichen ResnltHle, das» es i.\
eine Phih>sopliie giebt, aber keinen Pliilosophen ^ehen kann** Wir wi
den entweder ein bhisses Wörterh:ich von wissenschaftlichm Kenntnis>s
besitzen, oder, mis mit jener Spencerschen „Einsmachnng** der W'issenscbi
b**jfnü^nMj müssen, die bekanntlich nur dys Allgemeinste von Uinen
eine Kointel bringt, vermfige ganz oherflFuhlicher Aniilogieen und Gleifl
niNse, !îie Lösiiitg dieser Schwierigkeit ergiebt sich aber ans der Efl
wickelttng der positiven Wis*ienschaften selber, ans welcher ein Pruhle
liervoriregangen ist, deren Bedeutung erst in der neueren Zeit vollständ
begriffen wird, nemlich : die Priifung der Grundlagen der Wis^enscha
ntid die Krage nach deren Bedeutung, Umfang mid Voraussetzungen. Di^
int ilf*r Gegenstand der vom Verfasser verlretenen kritischen Philosophie.
DriÄ „riilersnchungsgebiet der Pliilosophie ist die Erkenntnis selbst,
Gegenshuid iler Begriff des Wis^sens : die Erfahrung, nicht die Krfahningc
Die PhihiHopliie, soweit sie Wissenschaft ist, ist Wissenschaftslehre**, SJ
Erst in der Epoche, die mit Locke beginnt, hat die theoretische Pbiku
idiie ihr walires Ziel und eigentümliches Untersuch ungsgebiet entdec
Neben dieser Kritik der Erkennt nisq ne lien bat aber die Philosophie
tîeiwtfsftihrnng eine praktische Aufgabe Sie hat nicht minder die
blenie der Lebensanschanung, die Wert problème, zu untersuchen und
b«s«timmen. Dieser , doppelte Beruf' der Philosophie soll in der Person lie
küit iU^s Pliilosophen vereinigt sein. D<'r wahre Philosoph ist „Ge
gfiber der Vernunft und ein Lehrer im Ideal**. S. 24. _
Ein eîitschiedener Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie
Ifit mit der Lehre von Köpern icus und der Schöpfung der modernen
WliiNenschrtft durch Kepler und Galilei eingetreten. Wir rnüs^^en sogar
hnnli' nach dem Vorgang Hobhes, die neuere Philosophie mit Ko pern i-
vnn, der „einen neuen Stern entdeckt*' und ^die Erde in den Himmel
Vf«riietz haP*. und fügen wnr hinzu» mit dem Philosophen der modernen
Ki*i»rmih»gio Giordano Bruno, statt mit Descartes, beginnen. Ni
fUr *hiN erste Mal erfährt Bruno eine richtige Schätzung seitens Rieh!
N ritt' n K o p e r u i c u s und B r u u o stellen wir auch Galilei, dessen ^[4
tliofJe eine „Revolution der wissenschaftlichen Deiikart*' herbeigeführt hat.
Drf Bi^grllnder der modernen Physik ist zugleich der Begründer der mo-
ileHK n indukliotislehre. Diese von Rieh! sehr schön charakterisierte In-
diddjon imd Deduktion. Experiment und Denken in sich vereinigende
Mi'lhodi'. hat die „antike Naturphilosop^hie för immer durch die moderne,
die NiéhirwiHutvnschaft ersetzP^. S. 34. Mehr und mehr bricht die Meinung
diMrh diiHK ciiewe Methode von grundlegender Bedeutung und von allen
iitithmiii li'iirKcheni entweder hewusst oder unbewusst gefolgt sei; während
hliu* y**'il ihi^ Fiedeutuug Francis Bacon, der Vertreter einer hilflosen
m^il Uli ub/UNcldieNHenden Empirie, fiir die Entwickehmg der Wissenschaft*
^ül^pM MtTlhodik gun» überschätzt wurde. "
Recensionen (Riehl). 549
Bezüglich Descartes ist nach Rieb I das Hauptgewicht auf seine
wissenschaftliche Thätigkeit und physikalischen Forschungen zu legen.
Für diese allein nahm er objektive Gültigkeit in Anspruch; die von ihm
gefundene, leider /u wenig Gewicht auf Verifikation legende Methode,
sollte Viekanntlich zur Verbesserung der Medizin dienen Seine metaphy-
sische Betrachtungen, hat er dagegen keineswegs sehr hoch geschätzt.
Leider hat sich Descartes keineswegs von Scholasticismui» frei gemacht.
Der Gedanke, dass nur da« Mathematische an sich wirklich ist, zeigt, wie
Riehl bemerkt, einen Überrest des mittelalterlichen Begriffsrealismus,
welchen die Begreiflich keit zum Masse der Wirklichkeit der Dinge statt
zum Masse ihrer Erkennbarkeit machen will. Der klassische Vertreter
dieser Anschauung ist natürlich Spinoza, dessen geometrische Methode
ein Reflex der mathematisch-mechanischen Wissenschaft seiner Zeit ist.
Spinoza, und nicht Kant, sagft Riehl mit Recht, ist „der Vater der
deutschen idealistischen Spekulation, deren wesentlichste Ideen eine Nach-
bildung, öft«r auch eine Abschwächung Spinozistischer Gedanken sind".
S. 51. In einer gewissen neo-scholastischen Richtung der Gegenwart,
welche in England von Oxford ausgegangen ist, sehen wir einer Rückkehr
zu und sehr rohe Berührung mit dem Gedankenkreis dieses Mustertypus
der dogmatischen Metaphysik. —
„Weniger glanzvoll sagt Riehl als die moderne Wissenschaft und die
ihrer Bahn folgenden philosophischen Systeme hat sich die kritische Phi-
losophie, wie wir sie nach dem Vorgang Kants nennen, in die Geschichte
eingeführt. Ihre Fragen sind nicht geeignet, Sinn und Einbildungskraft
gefangen zu nehmen. . . . Diese Philosophie verheisst uns weder, uns in
die weiten kosmischen Räume zu führen, noch uns einen Einblick in das
Wesen der Natur zu eröffnen". „Die sokratische Weisheit des Nicht-
wissens, in Fragen, die den Umkreis der Erfahrung tiberschreiten, ist ihre
Maxime^. S. 52. „Mit einem Worte, sie hat es aufgegeben, metaphysisch
zu sein und hinter den Dingen Dinge zu suchen". Diese Philosophie hat
vor allem die Bedeutung der Wahrnehmung in dem Erkenntnissyst^me zu
bestimmen und die fundamentalsten Erfahrungsprinzipien aufzustellen und
zu begründen.
Bei der Beantwortung der ersten Fragen begegnet uns die Lehre
von den primären und sekundären Qualitäten und das ihr physiologisch
gleichbedeutende Dogma von den spezifischen Sinnesenergieen, welches
rar gewisse Forscher beinahe die Geltung eines Glaubensatzes erlangt hat.
Eine kurze eindringende Kritik dieser Lehre (S. 61 — 65) zeigt, dass ein
hervorragender Vertreter derselben, Helmhol tz, sie in einer Richtung
entwickelt hat, die zur Modifizierung der Mutterlehre führen muss; femer,
dass eine übertreibende Bedeutung der l^hatsache der anomalen Erregung
zugeschrieben wird, derzufolge die adaequate Reizung durch die Annahme
erklärt wird, was eine Umkehrung einer Maxime der wissenschaftlichen
Methode bildet : „die Ausnahme vielmehr aus ihren besonderen Umständen
zu erklären". Nun ist es gar nicht verwunderlich, dass „ein Organ auf
ungewöhnliche Reize hin in der gewohnten und durch seine ganze Ent-
wickelungsgcschichte befestigten Weise reagiert"; ausserdem sei eine ano-
mal erregte Empfindung für das Bewusstsein „keineswegs völlig gleich
einer normal erregten; wir empfinden deutlich, dass sie erzwungen ist".
S. 6B Endhch ergiebt sich ein allgemein biologischer Einwand gegen
„die Annahme des ausschliesslichen Ursprungs der Modalitäten aus den
Sinnesnerven", aus dem Umstand, dass der Sinnesapparat selbst einen Teil
der objektiven Welt bildet, und „wenn diese wirklich an sich nur aus
Masse und Bewegung entstehen soll", so kann das Sinnesorgan „nicht
ausserdem noch spezifische Wirkungen hervorbringen, es müsste sie denn
aus nichts erzeugen". S. 64. So kam die Lehre von den spezifischen
Sinnesenergieen unmöglich im Dienste der mechanischen Hypothese ge-
braucht werden. „Die Empfindung stellt sich uns als die vollendete Ent-
wickelung der Beschaffenheit der Reize dar; sie ist durch die Beschaffen-
heit der Sinne mitbestimmt, aber nicht durch diese allein erzeugt". S. 66.
Rerensionen (Rieljî).
Uehi
Die toteressante, ttnd für eine realistische Weltauffa^snng wichtig
wie viel vom Empfind iinpn^inlial^e der Beschaffenheit des Sidik
wie viel der Beschaffenheit des Heize«; zu7,UÄch reiben ist, wird von
nicht beantwort-et.
Hierauf folgt eine eingehende ßetrachtnng ober die Prinasipien der
Erfahrung, vermöge welcher ein Zusjimmenhang unter unseren Wahmeh-
mucgen geatiftet wird, die GnmdsÄtze der SuVi«itanÄ und Kau&alitàt, wobei
die Beitiige Lockes, Hnmes, Kant» und Robert Mayers in vorzûç-
lieh klarer Weise auseinandergesetzt und verglichen werden Weder d"'
psychologisch genetische (, piain historical method') Methode Locke», m
die biologische Erkenntnistheorie Hume$ die eine originelle Neuerui
in der Gegenwart erlebt hat, nemlich in der, Kritik der reinen Erfalirun,
^welche <ße Vernunft durch die reine Erfahrung wegkritisieren will*),
im Stande, das Erktnntnisproblera zu lösen. Die Grenzen und SchwÄchi
der Ltickeschen Methode leuchten am bellen bei seiner Unt€f>ucliung d
Subiîtanzbegriffs ein* S, 83 Das von Locke berührte Problem &ei ifi
durch Kant gelilst^ der einen metaphi^iÄchen in einen fonnallogifschei
Begriff verwandelt habe. Es bedeute den wesentlichsten Fortschritr üb(
Locke hinaus, dass Hume ^in der Erfalirunp ein Problem sah, nicht ei
Losung*" nAnf den Boden der Erfahrauggphilosophie selbst da» Probl
der Erifahnmg gestellt zu haben, ist das Verdienst Humes und bezeichn
seinen Platz in der Geschichte der Philosophie**. S. 87. Riehl bemerl
auch sehr rieht i«^, dass: ^Erfahrung bei Hume nicht blosse Wahniebmunj
oder reine Erfahrung bedeutet, sondern Erueitenmç der Wjhniehmuni
durch Folgerung auf eine mit ihr verknüpfte, aber niclit walirgenommeni
Thataache; das Primup dieser Folgerung und eb«n damit der „ïlrf abrangt
ist die KaiLsalitAt'«. S. 97
Es sei nun, meint Riehl, gegen Hume geltend zu machen, ersten
daas er überall voraussetzte, dass die Sinneseindrücke oder Impressionei
an sich selbst Objekte seien**, die Folge unserer Impressionen mithin die
Folge der Objekte selbst**; zweitens, dass er niemals zu zeigen vermochte,
wie die Erfahningsobjekte notwendig mit den Prinzipien der Erfahrung
übereinkommen müssen. Diese gnindlegende Frage, betreffs der Begriffe
und Grundsätze der Erkenntnis und der Realität ihrer Verbindungen in
der Erfalimiiç soll erst Kant in befriedigender Weise gelöst haben und
damit auch die Frage: ^wie werden gegebene Gegenstände zu erkannten
Gegenständen?*' beantwortet S. 112 114, Eiu gutes Beispiel, welchem
zeigt, wie „die Aufeinanderfolge der Wahrnehmungen die umgekehrte ist
von der Aufeinanderfolge der objektiven Vorgänge**, kann als eine in-
staniio crue is gegen Humes kausalitâtaauff aasung angesehen werden.
S. IIB.
Kant „leitet die Erfahning von der Voraussetzung eines beharrlich
Daseins ab**. Dabei soll er nach Rielil nicht nur gezeigt haben, d;
ohne die Grundsätze der Beharrlichkeit und Kausalität aJs objektiv pültij
vorauszusetzen, Wissenschaft unmöglich wäre, sondern dass „ohne sie "'
fahrung, mithin das Objekt der Wissenschaft nicht möglich ist". S.
M aber diese feine Fnterscheidung von grosser Bedeutung? Sind nicht
^Objekt der Wissenschaft" und „mögliche Krf ah rung" nach Kant ein und
dasselbe? Riehl lehnt es ab, diese Erfahrungsgrundsätze als Postulat« d\
Erfahnmg anzusehen. Die Möglichkeit der Erfahnmg aber scheint u
zweifellos postuliert. Es ist eine Thatsache, keine Notwendigkeit, di
wir zur Erfahrung im Sinne Kants gelangen können; daher wird
zweifelhaft, ob Kant wirklich den Grund des glücklichen Zusammen*
treffens der That«iachen mit den Forderungen unseres Geistes aufgedeckt
habe, oder ob dies überhaupt ohne eine metaphysische Hypothese zu
erklären sei ? Zugegeben aber, dass Kant zuerst nachwies, da.ss die Grund-
sätze der Beharrlichkeit und Kausalität als unentbehrliche Erfahnings-
Srinzipien notwendig zusammengehören, so hat Robert Mayer erst bei
er Aufstellung des umfassenden Naturgesetzes von der Erhaltung der
Energie gezeigt, wie sie sich gegenseitig bedingen^ wie das Substanz-
md
i
Recensionen (Riehl . 551
prinsip im Kausalprinzip enthalten und wie beide zur notwendigen Ein-
heit in der Erfahrung verbunden werden können und müssen. iV. Vortrapf
S. 144.) Durch das neue ßand der ursächlichen Verknüpfung:, die Grössen -
identit&t der Veränderungen, wird das Kausalprinzip zum Konstanzprinzip
der Veränderungen erhoben.
Das Erhaltungsprinzip der Energie hat sich heutzutage zu einer
»energe tischen' Naturauffassung entwickelt, die femer zum wissenschaft"
Uchen Monismus geführt hat, welcher den Dualismus zwischen Materie und
Energie dadurch beseitigen will, dass er den Massenbegriff eliminiert und
damit auch den wissenschaftlichen Materialismus tiberwinden zu können
meint. Dagegen zeigt Riehl, dass dies nur scheinbar geleistet sei. denn
in den Kapazitäten der Energie, die von den ntensitäten unterscliieden
werden, „steckt der empirische Begriff der Materie und .statt diesen Be-
griff wirklich eleminieren zu können, hat die Energetik ihn nur anders
benannt. Mag die Materie immerhin ein Abstraktum sein, darum ist sie
noch kein blosses Gedankending**. „Wir werden die Materie nicht los, wie
wir den Raum nicht los werden, ... so real wie der Unterschied von
Raum und Zeit, so re^il ist auch der Unterschied von Materie und Ener-
gie". S. 149. Indem Ostwald die Energie, die selbst ein Abstraktum
ist, zu dem ,Alleinwirklichen* gemacht, hat sich in den treffenden Worten
Riehls „der empirische Begriff Energie in einen metaphysischen, der
Grössenbegriff in einen Wesensbegriff umgewandelt**. Ist die Materie
^Erscheinung* der Energie, so muss die Energie „das Ding-an-sich der
Materie sein". S. 149.
Es giebt nun einen tiefergehenden Dualismus als deijenige zwischen
Materie und Energ[ie, nämlich denjenigen zwischen Seele und Leib, den
aber dieser dogmatische, naturphilosophische Monismus nicht zu lösen ver-
mag. Er kann in der That nur auf kritischem Standpunkt gelöst werden,
für welchen weder Materie (und Energie) noch Geist Dinge-an-sich sind,
sondern Erscheinungen. Die einschlägigen Betrachtungen, welche zur
Lösung dieser Frage schon im Hauptwerke des Verfassers enthalten sind,
scheinen uns immer unter den abgeklärtesten über diesen Gegenstand und
sind ohne Zweifel von anderen Forschem benutzt worden. Sie werden,
wie ich glaube, durch die Kritik Busses in „Leib und Seele", Teil II,
Erster Abschnitt, Kap. 1 (S. 110—118) und Kap. 3 (S. 255—286, 34 i- 345)
nicht getroffen. Die von Riehl vertretene Identitätsauffassung führt
weder zur Allbeseelungslehre noch zum Epiphänomenalismus. Der Pan-
psychismns, der einen missverstandenen Spinozismus darstellt, muss in der
That, wie Riehl sagt, mehr behaupten, als er wissen kann, nämlich, „dass
Bewnsstsein nicht entstanden sein kann, während es in jedem Augenblicke
neu entstehend ist". S. 161. Schon die Thatsache, dass es eine Schwelle
des Bewusst«eins giebt, spricht gegen denselben. Gegen den Versuch, das
Psychische als Energieform aufzufassen, und demgeinäss den Begriff der
geistigen Energie einzuführen, wird, ausser logischen Gründen, ein Phänomen
angefahrt, das vielleicht als ein experimentum crucis zu betrachten
ist. Es verschwindet nämlich nicht Energie, wenn Bewusstsein entsteht,
noch entsteht Energie, wenn Bewusstsein verschwindet, sondern wie das
Experiment Mossos zeigt, wird die Energie des chemischen Umsatzes im
Gehirn gesteigert, wenn wir geistig thätig sind S. 158. Sind aber der
cerebrale Vorgang und das ihm correspondierende BewusstBeinsphänomen
simultan oder successiv? Diese wichtige empirische Frage ist bis jetzt zu
wenig untersucht worden.
Der sechste Vortrag über Wertprobleme führt ins Gebiet der prak-
tischen Philosophie ein. Obwohl die Kunst Werte schafft, so sei doch,
meint Riehl, aer Wertbegriff vor allem in der Ethik, welche nach ihm
von der Moralwissenschaft zu unterscheiden ist, zu Hause. ., Werte er-
schaffen heisst nicht Werte erfinden oder beliebig ersinnen"; sondern wie
schön ausgeführt wird, ,, Werte werden nicht anders geschaffen, als wissen-
schaftliche Erkenntnisse geschaffen werden: man erfindet sie nicht, sie
werden entdeckt". S. 176. Ein solcher Entdecker sei vor allem Sokra-
5a2
pnsionen ♦Riehl).
tps, ^der pliiJa$:«»piKche Gcîiiiis** seiner Zeit, und der als Beispiel ech(
Philosoph IM" htT Lihensführiiniff freiten dürfe. Seine Lehre sei nicht xnW
iütfltidi^ /AI verMeheii uhne Berück«ichtitrting' sein t-.s T( »des, der Üire höclistc
HesUiti^^MHi^^ l»dde. Ihi« von Rieht mit Eindruck und lebhafter Teilnahme
diirjçestellte Hitischeideii des Philosophen wider^preclie, meint er» der AufJ
fahttiuiif d«-r Kthik So k rate», als NlltzlichkeitsmoraL S, 188, 189. Nac!
dem gpy.eijrt worden, dms Sokratische nnd Platonische Gedanken wiede
in der Kantischrn Ethik hervortreten, bemerkt Rie hl, duss die Postulate
clf^r ^irakttscïien Vernimft wedf*r seihst Realitäten sein kOniien, noch krmnen
FieHlitfiteii (ïureji sir hctrniiuiet werden. ^Der Wille ijeht nicht von der
Freiheit (der tînindlfif^é' der Ethik K a ji t s ans) als von einem nrspninjî-
lii'hen B. Sitze ;ius, i.'r führt /nr Freiht-it Jiin, er befindet sich zu ihr, mü-
thematisch treredet, in iisymptotiNcher Annätheriinßr^\ Der vielfach missel
versUmdetie kate^forische linper^itiv, der leider zuweilen als etwas Befehb?*!
hahrrisches anf^ewlellt wird, ^(]iis sich auf Gründe nicht eiijlü«8t, E^undem]
hcliweit'enden (jelHirsam erheischt, sn nnîrefahr wie das Kommando eine«
Untt^roffiziei^*^* «ei nnr die Formel, nicht das Prinzip der Kantisehen
Ethik, lind ,,eine Notwendi/irkeit, sie allg-emein anzuwenden, läsijt sich uichl
he^Hinden". S. lîîô. Dun Prinzip drespr Ethik, die Autonomie des Willen
hh'ihe daffe^en als das alleinifie l'rin/ip aller moralische Gesetze. Ge^n
Nietzsche wird daher .si>:ir< r sehr ^''liickLich ein^^e wendet; ^dass die
wahre Herrennioral des antononieii Willens schfm /jefnnden war, als er sie
noch suchte, ist ilim entg"i*n^en**. 8. 225. Diese Seihst ß'i*^etzß'ehnng
nicht nur mit dem Determinns vereinhar, sondern notwendig mit ilim ver
hnnd*^î5^. „Da^* Sitten^esetiî ist das Naturgesetz de« vernünftigen Wesen
rIs soldier**. S. 197.
Die Frapfe nnch dem Werte de^s Diiseirm führt zar l'^ntersuchunji
des Pensimihmus, der den Wert des Lehens verneint: wesluilh dif Mitleids*!
moral für Scho jie nhaiier die Moral hildet. diese dus Lehen verfhichendo|
Kri*îikenhansiuoraI, w^elche Nietzsche iuich als die alît^inige Mora"
kannte, (Vortniß; VIL) Die Frage, cd) der Wt^rt des Daseins iil>erhanpl
geschlitzt werden köinie, wird aasdrficklich abgelehnt; sondern es wir*
vom Verfasser einfach hemerkt, dass, falls „das Lehen als t^anzes ge
sehîltzt und tlie Summe seines Wertes besiitntnt werde» dais Ganze de
Lebens gegeben nnd unveränderlich sei'*. So mnsste denn Schopen-I
haue Tf „um den Pessimismus bejahen zn können, die Geschichte vemeiuen**
8. 21J0» ä*il. Dieser Pessiniismiis erführt nun eine scharfsinnige, logischa
und psychologische Widerlegung iS 202 — 219% falls überhaupt von eine^
Widerlegtitig dessen gesprochen w^erden kann, das als Folge eines ange
tiorenen düsteren Temperamentes und persönlicjier KrfahruTigen anzusehen
ist, nnd sich durch keine Logik beseitigen liisst. Wie wenig der Meta
physiker des Willens den wirklichen Willen verstanden hat, zeigt sich
nach Rie his treffender Bemerkung darin, dass nach ilini die Basis alte
Wollens immer Bedürftigkeit sei S. 'IHK Der Schluss di-s siebenten Vop
tniges wird einer kritisclien nnj>aririischen Beurteilung Nietzsches
ethischer Lehre gewidmet. Riehl vermag nicht in Nietzsche deol
grossen Propheten oder philosophischen Führer der Zukunft zu erblîckeiuj
Auf einen solchen müsM n wir noch warteîi. Denn ,jnjin kann sich déni
nicht zum Führer wiUib n, der ^stebs ein anderer ward, sich selber fremd*!
und ,sich selbst entsprungen* ist*V. ,,Er ist der beständijc Suchende, dep|
grosse Fragende'* dessen Eni wickelang ohne Al>scblnNs bleibt, S. i?.il^
*Jrï2. .Dass das Prtulnktive mil dem Historischen verbtmden werden m iissei[l
nrn wirklich produktiv zu sein, wie GueMu' es forderte, beachtete e-tj
Hicht^\ ^Alle seine Anschauungen, fügt Riehl liinzu, verraten ein Grund*;
gehrechen : den Mangel an hist<>rischem Sinne**, S. :^ô3.
,jMit der Wissenschaft hindert sich atîch die l*hilosopliie**, sajart defl
Verfasser im letzten Vrirtrag i8. 2.H8), der eine Betrachtung über GegenJ
wart und Zukunft der Philosopliie eiithitlt und die Ergebnisse der Schrift 1
zusanimenfasst. Eben deshalb dürfe die Philosophie niemals bei irgend
eijieni phiiosopliischen System© stehen bleiben. Wenn daher heilte in
Recensionen (Katzer). 553
Deutschland vom Zurückgehen auf Kant noch immer die Rede ist, so
bedeute dies einfach die Wiederan knüpf unia: àer Verbindung zwischen
Wissenschaft und Philosophie, welche durch die auf Kant folgenden
idealistischen Systeme gestört wurde. Diese spekulativ -metaphysische
Richtung der deutschen Philosophie interessiert Riehl sehr wenig, jedoch
erkennt er die Bedeutung der Hegel'schen Geschichtsauffassung für die
moderne Geschichtswissenschaft an. S. 240, 241.
Riehl ist der Meinung (und dies wird vielleicht eini^ Metaphysiker
überraschen), dass es nie ein philosophischeres Zeitalter in der Wissenschaft
g:egeben habe als das gegenwärtige, aber diese Philosophie sei mehr in
den Werken der grossen Naturforscher niedergelegt — wie z. B H e 1 m -
holtz, Mayer, Hertz um nur Deutsche zu nennen — als in den Arbeiten
der Fachphilosophen. Abgesehen von der neuen Bearbeitung der Grund-
sätze der Beharrlichkeit und Kausalität, hat es auch die physikalische
Chemie und physiologische Psychologie geschaffen. „Die Zukunft der
wissenschaftlichen Philosophie ist die Erhebung der Wissenschaft zur Philo-
sophie. Wie die Wissenschaften aus der Philosophie, ihrer anfänglichen
Einheit, durch Auseinanderlepung derselben hervorgegangen sind, so sehen
wir sie auch in der Spirale alles geschichtlichen Werdens auf einer höheren
Stufe ihrer Entwicklung zur Einheit zurücklenken". S. 248. Wir brauchen
deshalb nicht zu glauben, dass jemals ein Weltbild das definitive sein
werde.
Es ist erfreulich, dass die Schrift Rie his vor allem den wissenschaft-
lichen Charakter der Philosophie hervorhebt. Wenn es eine Metaphysik
giebt, so ist ihre Aufgabe lediglich eine negative, die Anmassungen einer
alles erklärenwollenden Metaphysik einzuschränken. Durch die Ein-
schränkung des Feldes der theoretischen Philosophie werden ihre Ergeb-
nisse sicherer gemacht, und es bleibt weniger Spielraum für blosses „Meinen"
übrig. Einige werden vielleicht finden, dass die Bedeutung vonLockes
Essay überschätzt sei; während gewisse Idealisten die vom Verfasser mit
futen Gründen] noch beibehaltenen Dinge-an-sich als Zeichen eines un-
ritischen Realismus ansehen werden. Gerade aber die Unentbehrlichkeit
des Substanzbegriffes für die Wissenschaftslehre beweist, dass der Gedanke
der Unabhängigkeit der Dinge von ihrem Wahrgenommen werden notwendig
ist; es kann daher nur die Frage sein, was die Natur dieser Dinge-an-sich
sei Nun haben die Idealisten unserer Ansicht nach noch nicht bewiesen,
dass diese Dinge geistige Wesen sein müssen. Bemerkenswert ist es, dass
Leibniz nur vorübergehend erwähnt wird; ebenso geschieht es mit
Berkeley, wie wir glauben mit Recht Im Vergleich mit Locke, be-
deutet die Philosophie Berkeleys (abgesehen von seiner Theorie der
Raum Wahrnehmung) einen Rückgang; die Entwickelung der Philosophie
wäre wahrscheinlich dieselbe gewesen, wenn Berkeley überhaupt nie
gelebt hätte.
Das meisterhaft geschriebene Buch Rie his darf nicht mit anderen
wohlbekannten und verdienstlichen „Einleitungen" verglichen werden, da
es einen ganz andern Zweck verfolgt und schon in der äusseren Form
der Darstellung von solchen Werken abweicht Es ist interessant zu be-
merken, dass Riehl den persönlichen Faktor und die praktische Aufgabe
der Philosophie stärker betont, als in seinem »Kritizismus* geschehen ist.
Es scheint uns auch, dass er hier eine mehr zurückhaltende Stellung der
mechanischen Hypothese gegenüber einnimmt. Der Genuss der Lektüre
wird durch die Leichtigkeit der Sprache wesentlich erhöht. Schliesslicii
sei auf eine belehrende Parallele zwischen Heraclit und Helm holtz
aufmerksam gemacht. S. 13.
MontreaL J. W. A. Hick son.
Kat/.er RniHt. Dr. phil. Past. prim, in Löbau in Sachsen, „Das
Problem der Lehrfreiheit und seine Lösung nach Kant'.
Tübingen und Leipzig, 1. C. L. Mohr, 1903. (VII -f 53 S.)
Recejjstofien (KatBer).
' Im Jahre Î8îi6 hat Oliristîan HermaDn Weisse xuerst, die Frflpc auf*
geworfen: „ïivwîrfern bat iiuüere Zeit sich wieder an Kant sîn yrieDtifreti?*
wir malien es üh selbstveretiltidlit^h au, fiasa wir bei allen Friii^eû^ die K »ut
tTiîrtcrt bat| ihn vnr ftllem hören. KhIzçts ihemik crsdjeint uns in ¥i»\^
davon ttmsonielir bereclitigii wtil da^ Problem der Lehrfreiheit ein emineat
sii Hiebes Prnblem ist, die Ansicht unseres prro.«*sten Etlüken; in dieser
Knijyre eben dr?îbalb f*ir uns von der gröbsten Bedeutung^ sein mum. Dun
kommt, da^s Kiint dws Problem der Lehrfreiheit: nicht nur als Theoretiki^T,
sondern bekanutlicji an t^h auf Grund der ernstt'sten ErfahrtmE- 1 gehandelt bat
Kants Genialitäf xrig^t üicb in unserem Falle î^ogleich darin^ dm« er
unser FroV»lem von einem weiteren Gesichtskreise au^ behai\delt, àk ti
mt ist ^escîiii^it, Ev fi ordert fjehrfreibeit nicbt hloss für die Lelirer h
Kirche und Sthule, sondi-rn für alle, die den inneren und den äii.««ertii
Bi ruf hrtben» an dem Fortâcbritte im Lehen des Volkes zn arbeite«. Di«e
Arbeit darf anf keinen Fall gebindert werden Geschieht es doch, so ist
es eine Sünde wider den heiliuren Geifit. Die menEächliche Natur ist m
hescbnffen, dass nur im Austausche und im Kampfe der Meinungen di*
Erkenntnis der Wührheit ihr aufgebt. Wird das gebindert^ so wird um
Leben getfitet.das nur hei utigebemmtem Wachstum he&tehen kann. t)der
es entsteben Revolutionen, die eben so grossen Verlust wie GewiBD
bringe Uj jedenfalls scbwierige Korrekturen notwendig machen. Kant war
bekanntlich der mächtigste Apostel der Freiheit und îtugleich streng con-
öervativ.
Es entspricht seinem aittllchen Ernste^ daas er nur dem das Recht der
Lehrfreiheit zugesteht, der selbst wahrhaft^ d. h. sittlich frei int, nicht k-
herrscht von fjeidenschaften, namentUch nicht von Eitelkeit und Lust m
Zerstören, Der sittliche Fortschritt ißt nach Kant der sittliche Zweck und
damit die Aufgabe der G e*e hiebt*?. Nur wer selbstlos in den Dienst dies*^r
Aufgabe sich stellt, hat das Recht frei und offen seine Ubersçeugimir
auszusprechen und selbst das Bestehende zu bekämpfen, Das Gebiet dft
eigentlichen Wisjseuschaft ist nach Kant ein hescb Hinkte?*, im Grunde mit
die Erkenntnis der Natur. In diesem Gf*bi*^te kann uinnnscbrtinkte Frei-
heit herrschen, aber nur unter der Bedingung, dass es streng von dem
anderen Gebiete, von dem des Glaubens, d. h. von dem sittlichen and dem
religiösen, geschieden wird. Der vulgäre Materialismus des letzten halben
Jahrhunderts, der frivol diese Grenzlinie überschritt, würde daher die
febührende Ablehnung von Seiten unseres grössten Denkers gefanden
aben. Im sittlich-religiösen Gebiete aber giebt es nach Kant uner-
schütterliche, ewige Erkenntnisse, daher einen untrüglichen Massstab für
die Beurteilung aUer Lehren. Was das sittliche Leben fördert, das ist
zu gestatten. Wodurch es geschädigt wird, das ist zu verwerfen. Aber
nicht nur der Inhalt, sondern auch die Darstellung neuer Gedanken ist an
dem sittlichen Massstabe zu messen. Das Neue darf nur mit Schonung
gegen das Vorhandene als die notwendige Frucht des Alten vertreten
werden. 1st darüber zu entscheiden, ob ein Vertreter des Fortschrittes
sein Recht niissbraucUt hat, so sind nur Richter zulässig, die wissenschaft-
lich vollkommen die erörterten Fragen beherrschen und zugleich selbst
volle sittliche Freiheit besitzen. Unfehlbare Richter wird es freilich nie-
mals geben; aber wer das Martyrium für die Wahrheit mit reinem, gutem
Gewissen trägt, dem verleiht es die höchste Würde. Mit besonderer Schärfe
bekämpft Kant die Manie, Lehrstreite und Lehrgerichte zu Glaubensstreiten
und Glaubensgerichten zu machen. Kein Mensch kennt den Glauben eines
anderen; nur seine Meinungen kann er beurteilen.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass Kant die notwendigsten und
wertvollsten Gesichtspunkte für die Lösung des Problems gâtend ge-
macht hat. Wären sie immer beachtet worden, hätte man auf beiden
Seiten die sittliche Qualität des Gegners an erster Stelle geprüft, bezw.
anerkannt — unsere politische und kirchliche Entwicklung wäre eine fried-
lichere und erfolgreichere gewesen. Es erweckt schmerâiche GefOhle, in
Kants Gedankenkreis und in seine Zeit sich zu versetzen. Die Bildnng
Recensionen (Des8oir-Menz6r). 555
▼on Parteien, die wie zum Teil unsere Sozialdemokraten und unsere Ul-
tremontanen von allen sittlichen Verpflichtungen sich los^macht haben,
konnte man damals sich offenbar gar nicht denken. Da wird recht deut-
lich, was wir verloren haben, indem unsere Reaktion uns dahin brachte,
den Mann zu vergessen , der zuerst die Ethik unerschütterlich ftlr uns be-
gründet hat. Nur dadurch ist es dahin gekommen, dass — um ein Bild
Shakespeares anzuwenden — unser Leben einem Gefäss mit siedendem
Wasser gleicht, dass sich immer mehr entleert, während es sich zu füllen
scheint.
Katzer ist ein guter Kenner Kants. Er hat mit Sorgfalt und Liebe
die Gedanken Kants über unser Problem gesammelt und dargestellt. Er
hat sich dadurch für unsere Zeit, in der namentlich die konfessionellen
Kämpfe heftiger als je entbrannt sind, ein grossen Verdienst erworben.
Möge seine Schrift die verdiente ßeachtunc finden und auch durch sie
Kants tiefer Ernst unter uns wirksamer werden.
Dresden. Sülze.
Dessiiir-Menzer. Philosophisches Lesebuch, lierausgeg. von
MaxDessoir, aord. Professor und Paul M enz er, Privatdozenten der Philo-
sophie an der Universität zu Berlin. Stuttgart, Ferdinand Enke 1903.
(VllI und 2.-)HS) 8".
Im historiscIuMi Aufhau, der den systematischen Gesichtspunkt erst
an zweiter Stelle berücksichtigt, bringt vorliegendes Buch Abschnitte aus
den Werken von 17 führenden Geistern im Gebiete der Philosophie von
Plato bis Schopenhauer und am Schluss ein zuverlässiges Namenverzeichnis
und Sachregister. Auch unter der Voraussetzung historischer Gliederung
kann die Auswahl im Einzelnen noch durch andere Grundsätze geregelt
werden : Sie kann es darauf absehen , besonders wichtige Prägen aus der
Erkenntnislehre, der Logik, aus Ethik oder Metaphysik durch die Ge-
schichte der Philosophie zu verfolgen; sie kann ferner jeden eingeführten
Schriftsteller vor allem für sich betrachten und das für seine Lehre
Charakteristische in den Vordergrund rücken wollen. Die Verfasser haben
dieses an sich wohl zu billigende Verfahren gewählt. Die üble Folge,
welche dieser Plan mit sich bringt, dass er nämlich durch das Über-
springen von metaphysischen Problemen zu logischen und ethischen leicht
den Eindruck des Unruhigen und Unfertigen nervorruft, haben sie durch
die sehr eingehenden „Erläuterungen" zu jedem einzelnen Philosophen
zum grossen Teil wieder gut gemacht.
Diese Erläuterungen bringen nicht bloss Angaben über Leben und
Werke des soeben im Buche vorgestellten Schriftstellers, sowie über em-
pfehlenswerte, auf ihn bezügliche Litteratur, sondern sie suchen auch die
innere Verbindung zwischen den abgedruckten Lesestücken des einzelnen
Verfassers wie zwischen den Anschauungen der verschiedenen Denker
herzustellen. So spinnen sie beispielsweise die verknüpfenden Fäden von
Kant in die Vergangenheit zu Locke und Hume wie zu Berkeley und
Leibniz, in die Zukunft zu Fichte und Schopenhauer. Überraschend wirkt
besonders die Parallele der ethischen Grundansichten zwischen Kant und
dem Meister Eckhart aus dem 13. Jahrhundert. Durch solche steten
inneren Beziehungen der Ansichten und durch die wiederholte Beleuchtung
der wichtigeren Fragen von verschiedenen Seiten lernt der Leser die
Hauptprobleme der Pliilosophie leicht kennen und auch verstehen
Es sei noch hervorgehoben, dass die Verfasser in dem Verfolgen der
Begriffsentwicklung, wie z. B. der Bedeutung der Kausalität bei Hunie,
niclit vor den neuesten Ansichten der Naturforschung Halt machen. Dabei
ist allerdings dem Erläutern von Kant auf S. 188 in der Anm. zu 171 f
entgangen, dass die mechanistische auf Darwin zurückgehende Naturer-
klärung zum crössten Teil bereits wieder überwunden ist. An ihre Stelle
setzt die vitalistische Biologie eines Reinke u. v. a., die zielstrebige, klar-
logische Betrachtungsweise. Wie weit diese Richtung von den gleich-
556
arti^ei) AnRchauungeti Kant« haeinflii^t worden ist, wäre vieUeLclit
weiterer Untersuchimg luciit iiiiwert.
Detn von den VerfÄsseni hauptsächlich ins Aii^ g^tâssUn Zwetlt
1 lires Buches j erläuterndes Anschauungsmaterial zu den Vorlesungen &b*f
Ocsclii elite der Philtmopliie zu liefern uud diese zu er7.eu4ren, vermag es
lecht wohl stu dienen. Krst mit Hilfe sulclier Unterstiitsînug' werden die
"Worte des vf>rt rodenden Dosîeulen Inhalt und Leben erlinlten und dem
Studenten, der su mit deu leitenden Gedanken und den führenden öeistero
etwast vertrauter geworden mU wird e.s nicht mehr ergehen wie dem
Schüler im Faust. Wenn das Buch somit als eiu Fortsdiritt im Gebiet
der Huch»chulpäda|^ogik hezeichnet werden kann, ^ilt dieser Seid uss jedaoh
nicht für die höheren Lehranstalten Von den vielen mös^licheu Ein-
wendungen voui Standpunkte dieser Schulen aus ^eien hier nur iîwei er*
wälint: Der Stoff ist mehrfach äu lu*eh und xu .sehwierijL'' «nd herticksiditi^
ferner den erziehlichen Zweck der Schule nicht |reiiüg^f:ii\K Dii^ Phi]oÄi.*plüe
darf für den Schüler, der vielleicht nie xsieder zn ihr xurückkebrt^ nkhi
mit der Verne luuiig des Willens zum Lehen, mit einem Nichts tihschliesi^fij,
Bad Ems, A. G il le,
Dietsf^n, Joseph. Das Wesen der menschlichen Ki^pfurheir.
Eine abermalige Kritik der reinen und der praktischen Ver-
nunft. Mit einer Einleitung van Anton Pounekrt-k. Stuttj^iri (üietE) ÜKIS.
Als dies Büchlein des »ozinlistischen Philosophei^ I86£^ zum er^ten^
mal herauskam, ward es im Grunde weniii' beachtet ^ si^wuhl in wie aa&^^^
halb der sog. Partei. Sie stand nocli in den Anfangen und he^cliftftigt«
sich mit anderen Fragen. Der iibngen Fîiiloi*ophie nher war es kauw
zur Kenntnis gekommen, und docli enthült das Werk des scharf sinnigen
Gerbermeisters, der seinen Kant und manch anderes bejiser 4»tndiert hatte.
als er in seiner Einleitung bescheiden sagt.^ f^nr manche Gedankeu, dîediïr
Beachtung wert sind. Wenn er aueli nicht, '»le er içlanUl, weder hier nocb
in den späteren Schriften (l^ber dus Acquisut ârv ï*hilusophie und Briefe
über Logik. Stuttgart 1895) eine ausreichende Begründung für die Be-
ziehung zwischen uns und den Dingen geliefert hat, und wenn seine Aus-
drucksweise in manchem zu Beanstandungen und Missverständnissen An-
lass ^iebt, so hat er doch die Grundlinien einer Gedankenrichtnng klar
gezeichnet, die man im Gegensatze zu Idealismus und Materialismus viel-
leicht passend Korrelativismus nennen könnte, und die im Wesen,
wenn auch nicht in. der Begründung und in allem Einzelnen auf das Rich-
tige hinauslaufen dürfte.
„Gegenüber der idealistischen Vorstellung, dass hinter der Ersdid-
nung ein Wesen versteckt sei, was erscheine, gilt für Dietzgen die Er-
kenntnis, dass dies versteckte Wesen nicht in der Aussenwelt, sondern
innen im Kopfe des Menschen apart wohnt ... Es gilt nicht allein von
physischen, es gilt auch von geistigen, es gilt metaphysisch von allen
Dingen, dass sie das, was sie sind, nicht an sich, nicht im Wesen, sondern
nur im Kontakt mit anderem, in der Erscheinung sind." (S. 74 ) „Das
Denkvermögen" — das noch S. 74 ein wesentliches, reales Vermögen ist —
„im Kontakt mit den Erscheinungen produziert das Wesen der Dinge.'
(S. 75 u) .Der Satz: Die Dinge sind nicht, sondern ersehe inen^
bedürfen den Satz zu seiner Er^nzung: „Was erscheint das ist" jedoch
und soweit als es erscheint. „Die Wärme vermögen wir nicht wahrzu-
nehmen," sagt die Physik des Professor Koppe, j,wir schliessen nur ans
den Wirkungen derselben auf das Vorhandensein dieses Agens in der
Natur." Dietzgen sagt dagegen: „Die Summe ihrer verschiedenen Wir-
kungen, das ist die Wärme selbst." (S. 74 f.) Die Sinnlichkeit ist quiüi-
tativ, das Denkvermögen begreift alles als Quantität. Das Allgemeine ist
das wahre Sein, das Wesen. Dies steht aber nicht „hinter" der Erschei-
nung, sondern ist nur mittelst derselben, in Relation mit dem Erkenntois-
vermögen, nur für die Vernunft da oder wirklich, und umgekehrt gewinnt
fi.ecen8ionen (ÏHcavet). 557
die Vernunft keinen Begriff aus sich, sondern nur in Kontakt mit der Er-
scheinung. (89.)
Wie Dietzgen zu Kant und dem Materialismus steht, ist aus folgen-
der charakteristischer Stelle (S. 103) zu entnehmen.
Nach Hume „enthält der Begriff der Ursache nichts weiter als die
Erfahrung dessen, was als eine Erscheinung gemeiniglich vorhergeht.
Mit Recht macht Kant dagegen geltend, dass der Begriff von Ursache
und Wirkung ein viel intimeres Verhältnis ausdrücken", .... dass darin
„Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit enthalten sei; also etwas, was
gar nicht erfahren werden kann, was sogar über alle Erfahrung hinaus-
feht, apriori im Verstand müsse enthalten sein. — Die Materialisten,
ie alle Autonomie des Geistes leugnen, die durch Erfahrung Ursachen zu
finden meinen, oft zu entgegen, dass die Notwendigkeit und Allgemeinheit,
welche das Verhältnis von Ursache und Wirkung voraussetzt, eine un-
mögliche Erfahrung darstellt. Den Idealisten ist dagegen anderer-
seits zu bedeuten, dass, ob auch der Verstand Ursachen erforscht, die
nicht zu erfahren sind, diese Forschung doch nicht apriori, sondern nur a
posteriori auf Grund empirisch gegebener Wirkungen statthaben kann."
Und S. 107: »Der Idealist sucht die Quelle der Erkenntnis in der
Vernunft allein, der Materialist in der sinnlich gegebenen Welt. Zur
Vermittlung des Widerspruches bedarf es nur der Emsicht in die gegen-
seitige Bedingtheit dieser beiden Erkenntnisquellen.* — Hierin offenbart
sich der Korrelativismus Dietzgen am deutliclisten. Auf ihre Bestandteile
freilich analysiert er die sinnliche Wahrnehmung nicht.
Sehr interessant ist auch seine Stellung zur Ethik Kants. Auch
hier tritt Kants abstraktes Sittengesetz sofort in Korrelation zu der
Wirklichkeit. „Die Moral ist der summarische Inbegriff der .... sitt-
lichen Gesetze, welche den gemeinschaftlichen Zweck haben, die Hand-
lungsweise des Menschen gegen sich und andere deiart zu regeln, dass bei
der Gegenwart auch die Zukunft, neben dem einen auch das andere,
neben dem Individuum auch die Gattung bedacht sei."
Und am Schlüsse heisst es: „Unser Kampf gilt . . . nur der Arro-
ganz, welche eine bestimmte Form zur absoluten, zur Sittlichkeit über-
haupt macht. Wir erkennen die Sittlichkeit als ewig heilig an, soweit
darunter Rücksichten zu verstehen sind, welche der Mensch sich selbst und
seinen Nebenmenschen zum Zwecke gegenseitigen Heiles schuldig ist.
Aber die Art und Weise, der Grad dieser Berücksichtigung, gehört zur
Freiheit des Individuums". . . . Dass „das vorgeschriebene Recht für ab-
solutes Recht, für eine unübersteigliche Schranke der Menschheit gefallen
sei, deucht uns höchst überflüssig und sogar schädlich für die der Zukunft
nötige Energie des Fortschrittes "
F. Staudinger.
Emmanuel Kant. Critique de la raison pratique, nouvelle
traduction française par François Picavet. 2. édition XII, XXXVII, 326 S.
Paris 1902.
Die verliegende Übersetzung der Kritik der praktischen Vernunft
ist in 2. Auflage erschienen. (Die erste Auflage stammt aus dem Jahre
1888.) Dem Text sind beigegeben einige Anmerkungen des Herausgebers
am Schluss (S. 297—323), meist historischer Natur, auf Geschichte und Ur-
sprung der Schrift und der in ihr gebrauchten Termini Bezug nehmend,
auch mit Berücksichtigung der einschlägigen Litteratur, dagegen unter
Vermeidung aller kritischen Bemerkungen. Femer enthält das Buch zur
Einführung des Lesers zwei Aufsätze von Picavet, von denen der eine das
Eindringen der Kantischen Philosophie in Frankreich behandelt („sur la
philosophie de Kant en France de 1773 à 1814", 37 S.), der andere eine
Anleitung zum Studium der Kritik der praktischen Vernunft geben will
(„Comment faut-il étudier la morale de Kant?" 12 S.) Diese letztgenannte
Einführung ist ein Zusatz der zweiten Auflage, mit dem der Herausgeber
Reoeîisionen (Picavei)*
Wünschen entsprochen hat^ die aus dem Leserkreis an ihn ^richt<
wurden.
Für den deutschen Leser bietet zweifellos der erwähnte kurze A
Hss zur Gescliichte der Kantischen Philosophie in Frankreich das meiste'
Interesse, zumal er sehr gewissenhaft eine KüJle von Material zusammen«
trä*,^t. Der Natnr der Dinge entsprechend wei^den am ausführlichsten be*
handelt der Emisant und enthusiastische Kanlverehrer ViUers („expo*'
sit ion des principes fondamentaux de la phih».sophie transscendentale de,
Kant^ 1901) und Frau von Staël, denen sich aU dritter der Akademiker
Dégéra ndo mit seinem grossen Werk Über die Geschichte der philoso-
phischen Systeme atisddiesst (10l)î>). Abgesehen da%^on aber betont deï^J
Verfasjser mit besonderem Nachdruck, dass schon in der Mitte der 90,
Jahre des XV III Jahrhunderts der Name Kant« in Frankreich durchauaj
nicht mehr unbekannt gewesen sei Unter Atiderm werden drei Über^
Setzungen, der .Betrachtungen über das Gt^fühl dc^ Sciiönen und Erhabe-
nen**, der Abhandlung zum ewigen Frieden, und eine mit ausfülirlichen
Anmerkungen versehene Übertragung der Religion innerhalb der Grenze:
der reinen Vernunft von Ph. Huldiger, die letzte besonders ïobend erwöJintJ
Als interessante Thatsache sei eine brief hebe Äusserung des Abbé Sièjr^
hervorgehoben, in der er sich für eine Popularisierung der Kantiseh«
Philosophie in Frankreich ausspricht. Wie bei ihm scheint allgemein da§^
damalige Interesse an Kant, das natürlich immerliin sehr vereinzelt ist,;
aus dem Bedürfnis eutsprungen zu sein, ein Gegengewicht für den Mate-
rialismus zu finden. Weiterhin sucht dann Picavet nacliznweisen, daas
etwa von IfckK] an das Kantische System in der Akademie, wie in den
philosoplnsclien Zeitschriften lebhaft diskutiert worden sei — trotz des
immer wiederholten Vorwurfs der philosopiiiscben Rîkkstândigkeit und
Indolenz, den ViUers gegen seine Landsleute richrete. Die französische
Kantlitteratur nach 1814 wird von Picavet nur kui-z gestreift.
In der Anleitimg zum Studium der praktischen Philosophie Kants,
wie in den Anrnerkuugen macht sich m. M. n. eine Übei-setzuug der bis to-
risclien Ankim|ifungspunkte und des fremden Einflusses ^Voltaire!) und
enisp rechend eine Ünterschätzung des systematischen Zusammenhangs der
Kantischen Philosopliie geltend. Vor allen Diugen kommt der wisseu-
schaft liehe Endzweck der Kantischen Ethik, ihre Absicht, Mural zu be-
gründen, nicht zu predigen, sein Ziel, dem Imperativ des sittlichen Welt^
bewusstseins eine wissenschaftlich haltbare Itormulierung zu geben, zu
wenig zur Geltung. Und was soll man dazu sagen, wenn eine volle Seite
hmg von den Lebensgewohnheiten Kants die Rede ist mit der Begründung,
die peinliche Pünktlichkeit und Pedanterie seines Wesens habe Kant mit
zur Aufstellung eines formalen Sittengesetzes veranlasst! — Ein ent-
schiedener Vorteil für den Leser ist eine kurze Inhaltsangabe der Gmnd-
legung zur Metaphysik der Sitteu und der Kritik der reinen Vernunft,
letzterer mit besonderer Berücksichtigung der angeblichen Widersprüche
zwischen beiden Kritiken.
Die Übersetzung selbst, übrigens eine zweifellos recht schwierige
Aufgabe, ist, wie man sich leicht überzeugen kann, mit grosser Gennuig-
keit und Sorgfalt hergestellt worden, unter Mitberflcksichtigung einer
lllteren französischen (Bami), einer lateinischen tBorn) und einer englisclieu
Übersetzung (Abbot). Als deutscher Text \^Tjrde der Hart4?nsteinsche zu
Grunde gelegt, aber auch die Atisgaben von Rosenkranz und Kehrbach zu
Rate gezogen. Ausdrücke, deren Übertragung Zweifel erregte oder nur
durch Umschreibung möglich war, sind in Klammem deutscli beigefügt,
felegenthch wird die gewühlte Übersetzung unter dem Text gerechtfertigt.
It was störend wirken die ziemlich zahlreichen Dmckfehler in den einge-
fügten deutschen Worten.
Berlin, v, Aster.
i
Selbstanzeigen (Wernicke— Kalweît). 659
Selbstanzeigen.
Wernicke, Alex, Prof. Dr. Die Theorie des Gegenstandes
und die Lehre vom Ding-an-sich bei Immanuel Kant. Ein
Beitrag zum Verständnisse des Kantischen Systems. Braunschweig, Joh.
Heinr. Meyer. 1904. (32 S. 4P,)
Die Notwendigkeit, eine neue Auflage meiner Schrift „Kant . . .
und kein Ende?'' (Braunschweig 1894) zu veranstalten, liess es mir wün-
schenswert erscheinen, eine altere Arbeit, welche ich seiner Zeit Herrn
Vaihinger in Handschrift für seinen Kant-Kommentar (vgl. dort II, 7, 17,
57) zur Verfügung gestellt hatte, doch noch zu veröffentlichen. Sie be-
schäftig sich hauptsächlich mit der „Theorie des Gegenstandes'', welche
Kant m der ersten Auflas^ der Kritik entwickelt und in der zweiten
Rubrik festhält. Wie ich miher bereits mehrfach hervorgehoben, scheint
mir die gesamte Geistesarbeit Kants durch die Schlichtnn^g des
Streites zwischen Freiheit und Notwendigkeit bestimmt zu
sein. Dieser gebührt die unbestrittene Herrschaft (I^wton) in der räum-
lich-zeitlichen Welt, jene lebt unbeanstandet jenseits dieser Welt, im
Reiche der Ideen. Wenn aber die Gegenstände der räumlich-zeitlichen
Welt ein gesetzmässiges Ganzes bilden, und zwar so, wie es den Forder-
ungen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschung entspricht, und
wenn trotzdem für die Freiheit als Grundlage aller ethisch-rehgiösen Be-
stimmungen ein Platz übrig bleiben soll, so müssen diese Gegenstände
etwas anderes sein, als was sie gemeinhin zu bedeuten scheinen. Demge-
mäss schafft bei Kant die produktive Einbildungskraft als Ktlnst-
lerin nach den Gesetzen des Verstandes die Gegenstände der räumlich-
zeitlichen Welt in ihrer Formenfülle aus der formlos fi^gebenen Masse
der Empfindungen als anschaulich-logische Gebilae.
Die Empfindungen, welche als ein Gegebenes auftreten, weisen auf
das Ding-an-sich als Ursache zurück, und (fieses ist nur be^fflich, aber
nicht anschaulich bestimmbar, und kann darum niemals ein Gegenstand
unserer Erkenntnis werden.
Dass aber die Einbildungskraft des einzelnen aus dessen Empfind-
ungen in ihrer Freiheit für (fiesen eine räumlich-zeitliche Welt schafft,
welche mit den entsprechenden Welten anderer eine weitgehende Ober-
einstimmung zeigt, ist ein Problem, ein Teil des grossen Problems der
Übereinstimmung zwischen Natur und Freiheit, dessen Lösung Gott als
A und ß fordert.
Für die theoretische Vernunft ist das Ding-an-sich ein Grenzbegriff,
der allenfalls auch entbehrt werden kann, erst die praktische Vernunft
lehrt uns, dass jedes Ich als Träger des Sittengesetzes über die Welt der
Erfahrung hinausweist und darum in seiner Freiheit als ein Ding-
an-sich aufzufassen ist, welches Unsterblichkeit für sich fordern
muss und erst in Gott die Lösung aller seiner Fragen theoretischer und
praktischer Natur findet.
Die Abhandlung will ein Beitrag sein zum Verständnisse des Kan-
tischen Systems, sie will keine Kritik der Kantischen Gedankenarbeit
darstellen.
Braunschweig. A. Wernicke.
Kaiweit, Panl, Lie. Dr. Kants Stellung zur Kirche. Schriften
der S3modalkommission für ostpreussische Kirchengeschichte. Heft 2.
Königsberg i. Pr., Ferd. Beyer. 1904. (88 S.)
Die Schrift stellt einen Beitrag einerseits zur Biographie, anderer-
seits zur Religionsphilosophie Kants dar. Ich glaubte beweisen zu können,
Kaatttodi«n IX. 36
860
3etbstAnzeigeD (Neumann— Âpel)-
dttB der IBaflmM? des Köni^ber^r I^etkmtis auf Kant nicht litieh eü vt>
ansohlageil ist. Dabei etg^b sjeb tnir, da^ die Nuulirichti^n der eMen
Kaatbiogiwlieil mit aller Voi^icht aufzunehmen sind Die g^j^^^enen Zti-
iammeiisteuiiligen werden hoffentlich zeigen, wie wenig wirkliche Ân-
sdianiuiff und wie viel Rhetorik bei ihnen vorhegl. Für eigene religiöse
BedflrfiiliKe brauchte Kant die Kirche nicht. Sie gew^änn aber für ibn
BedeiitiUM|[ als Öffentliche Institution^ als Er?:ie herin desVolkes^ nanientJicli
In ihrier YeriiilKéLung mit dem preussiiclien Stant. Kants I^ebre von der
Kirche ist rfneneits von d.^n VoraussetEungen der kritiscben Philosophie^
daaa es sich auch hier um (lewinnung^ von synthetiscben Urteilen a priori
handehd muss, andererseitâ von der kirchlichen und politischen Lag« »eil
dem BeciernngSDiitritt Friedrich Wilhelms II. her zu verstehen. Als wich-
tigstes Froblem wird das Verhältnis des Ewij^eu 7Mm Historiseben heraus-
Mrtellt und EU «eigen versucht, dass in dle^üer Präge eine Fortbildung
der Kantischen Anschauungen notwendig und mî^glich bt
Naamborg a. d Queiss. P. Kai weit
NeVttiiiiB. Robert Goethe und Fichte, Pmgramm des Kôni^*
slftdtisehen Beal^vmnajiiunis zu Berliu. Berlin, Weidmann, 19Û4. (Hb S ¥ï
In den beiden ersten Bünden der Kant^studien sind die Beziehungen
(Goethes an Kuit von Karl Vorländer eingebend dargestellt. Ks erschien
mir nnnm^ir angebracht^ die Beziehungen Goethes zn dem begabtesten
und eigenartigsten Schtller Kants, zu Fichte^ zu behandeln, der nach Bein-
hi^ds^Tegffange ab Vertreter der Kantischen Philoisophie nach Jena be-
mfen wnraie. Schon Vorländer macht die Bemerkui*|j. dass sich das an-
fangs frenndsohaftliche Verhältnis Goethes zu Fichte im Laufe der Jahre
mehr nnd mehr abkühlte, und schreibt dieses dem Einfluss Sehillen» tu
JHe nähere Untersuchung giebt ihm Eecht. Der Haupitgrund zu d^r
Trennung Goethes von Bichte Ug jedoch in der eigenartigen Peraönlich'
keit des Philosophen und in der kühnen Anwendung seiner Lehre auf das
praktische Leben.
„Wie mit Sack und Packe Musen wandern, wo aufgeschlagen wer-
den Philosophische Lehrsysteme.** (Bückert.)
Zu der Arbeit boten mir reichliches Material die Yeröffentlichongen
in den Goethe-Jahrbüchern. Im Anhang der Schrift gebe ich ausser einem
Verzeichnis der in der Goethe-Bibliothek befindlichen Schriften Fichtes
ein genaueres Bild von der einzigen Schrift dieses Philosophen, die Goethe
durchgearbeitet und mit Strichen und Anmerkungen versehen hat.
Die Arbeit ist als wissenschaftliche Beilage des Oster-Programms
des Königstädtischen Real-Gymnasiums zu Berlin im Weidmannachen Ver-
lage erschienen.
Wilmersdorf. Robert Neumann.
Apel, MaXf Dr. Immanuel Kant. Ein Bild seines Lebens und
Denkens. Mit einem Bildnis. Ein Gtedenkblatt zum hundertjährigen
Todestage des Weltphilosophen. Berlin, Skopnick. 1904. (VIII -f 102 S.)
Kant glaubte mit seinen Schriften um ein Jahrhundert zu frflh ge-
kommen zu sein; nach 100 Jahren würde man ihn erst recht verstehen,
seine Bücher aufs neue studieren und gelten lassen. Hundert Jahre und
mehr sind nun abgelaufen. In den Werkstätten der Wissensd^aft ist Kant
der grosse Lehrmeister geworden, er wird studiert, er gilt etwas, eine
neue, schöne und wertvolle Ausgabe lässt sein Werk in neuer Pracht er-
stehen. Und dennoch will es scheinen, als ob der Königsberger Weise
mit dem, was in ihm als persönliche Macht lebte, was in seinen Werken
einen oft ergreifenden Ausdruck fand, was in den Herzen seiner Zeit
einen beg^eisterten Widerhall weckte, der Welt unserer Tage femer
steht als aer seinen.
Was soll einer Welt voll Oberflächlichkeit, Unwahrhaftigkeit^ voll
Unfähigkeit zu ernster Begeisterung für ideale Güter, was soll ihr der
alte Kant mit seiner Tiefe, mit seiner Grundehrlichkeit und mit ~~'
Selbstanzeigen (Haber). 561
heiligen Feuer für Menschenrecht und Würde? Man sucht andere Pro-
pheten und findet sie. Man ist Sklave seiner Triebe und gesellschaftlicher
Unsitten. Was bedeutet solcher Unfreiheit die Kantische Freiheit?
Nicht mit Gründen der Vernunft wird Kant bekämpft, sondern aus
der Stimmung heraus abgelehnt. Und dabei kommt es unserer Zeit sehr
zu statten, dass in den weitesten Kreisen ein zu falsches Bild des grossen
Denkers, ein wahres Zerrbild, lebt; gezeichnet von kaltem Unverstand,
äusserlichem Auffassen und oberflächlicher Anekdotenspielerei. Was weiss
das deutsche Volk von diesem seinen weisesten Manne, in dem die Natur
ein so einzigartiges Wunderwerk schuf? Und was ist Leben geworden
von den IdeiQen, die Kants Seele durchglühten?
Die Absicht dieser kleinen Schrift ist, ein Gefühl dafür zu erwecken,
was uns Kant als Persönlichkeit und als Denker ist. Daher behandelt der
erste Teil (S. 1 — B7) Lebensgang und Persönlichkeit, der zweite die Philo-
sophie Kants. Ein Mensch wie Kant, in dem der Genius der Wissenschaft
Platz genommen hat, darf nicht unter dem Massstabe der Alltagsmenschen
betrachtet werden. Es gilt vielmehr in die Tiefe dieser Denkerseele
hinabzusteigen; es gilt mitzufühlen den köstlichen Wendeprozess im In-
nersten der Seele, das Wachen, Kämpfen und endliche Durchbrechen der
sieghaften neuen Gedanken. Um dies wenij^tens in den Grundzügen zu
zeigen, sind auch die so anziehenden vorkritischen Werke kurz besprochen.
Eingehender behandelt (S. 60 — 98) ist das Hauptwerk, die Kritik d. r. V.
Hier hofft der Verfasser auch manchen schwierigeren Punkt etwas ge-
klärt zu haben. Im ganzen soll das Werkchen einem grösseren Publikum
ein Bild der Kantischen Weltanschauung in den Grundzügen darbieten.
Die Ethik konnte nur kurz in den wesentlichen Punkten berührt werden,
Kants Stellung zu Religion, Kirche und Staat ist im 1. Teil dargelegt.
Die Ästhetik konnte leider nicht mehr berücksichtigt werden.
Charlottenburg. Max A pel.
Haber, Georg. Benedikt Stattler und sein Anti-Kant. Ein
Beitrag zur Geschichte der Kantischen Philosophie und zur hundert-
jährigen Gedächtnisfeier des Todestages Kants. I.Teil: Stattler und seine
Kritik der transscendentalen Ästhetik und Kategorieenlehre Kants« I.-D.
München, J. J. Lentner. 1904. (109 S.)
Ein sicherlich beachtenswerter Zeitgenosse und Gegner Kants ist
Dr. Benedikt Stattler. Er nennt sich selbst den Anti-Kant, und zwar, wie
er glaubt, mit vollem Rechte. Denn er habe, wie Kant, nicht bloss Jahre
lang grosse Mühe verwendet, der Philosophie neue BÜahnen zu weisen,
auch habe er nicht bloss ähnliche Fragen behandelt, wie die Kr. d. r. V.,
schon lange vor dem Erscheinen derselben, z. B. nach der „Allgemeinheit
und Notwendigkeit^ der Urteile, nach der Ableitung der Kategorieen,
sondern er habe auch das Seichte und Ungegründete der neuesten Philo-
sophie des Herrn Kant bis zur Evidenz aufzeigt.
Was den ersten Punkt betrifft, so ist sicher, dass St. — geb. 1728,
später Professor an der Universität Ingelstadt, f 1797 zu München — mit
der mittelalterlichen Philosophie grüncUich gebrochen hat : immensus cultus
Topices et Metaphysices Aristotelis maximo detrimento fuit. Über die
neueren philosophischen Strömungen, mit denen er wohl vertraut ist, sucht
er sich zu erheben. Originelles Denken ist dem Anti-Kant nicht abzu-
snrechen. Aber ein Dualismus durchzieht doch diese eklektische Philoso-
phie: das empiristische und rationalistische Element — letzteres vertreten
durch die einseitige Wertschätzung des Satzes vom Grunde — stehen un-
vermittelt einander gegenüber Oberhaupt ist das gen. Axiom der Nerv
der Stattlerschen Phüosophie. Die Unmöglichkeit synthetischer Urteile
a priori, der Weg zu allgemeinen und notwendigen Urteilen, die Realität
von Seele, Welt und „Urwesen" wird mit EUlfe lenes „Prinzipes" darge-
than. In der Verwertung des Satzes vom Grunde bekundet St. Leibniz
gegenüber einen Fortschritt, Kant gegenüber aber einen niedrigeren
36*
662 S6ltlitea«c%en (FriedmaTin^,
Staadpmikt^ wenngleich der Ânti-Eaut ein verhänge ^volles Nachwirken
.d«B teriidbien Satzes da nnd dort in der Er. d. r. V. »lufssnzeiifen vem^.
ßer Eweite Funkt, die Polemik ^eçen Kant, verrät bei St wenig
Verständnifl für die suhjektive Seite der Kntiachen Philoi^ophie nnd für dets
Sinn des Apricpri. Die vyrliegende Arbeit spe^^ieîl imifasst die Kritik,
welche Sfc. atj der transscendtjntalen Ästlietik und an der Kat^gutieenlehre
Kants übt. Die lierkiVTiimliche Dreiteilung der Seelen vermögen, Siimhcli-
keity Vexvtand und Vernunft« findet sieb bei Kant und Stattlert jedoch mix
yenlöhiedener Beütimmun^. Die Binnlichkeit betagt nach St. nicht àm
Terwoirene Denken, auch verhält sie sich nicht lediglich passiv, vHe Kant
meint Sie bildet viejmelir Urteile und Schlüsse^ aber nur von eiuzelntü
Subjekten und PrMikaten. Da^ eigen t liehe Geschäft des Verstanden
iat das .Allgemeindenken durch unmittelbare Urteile**, während die
Vernunft durch mittelbare Urteile, d. h. Schlüsse denkt. — Der Statlie^
sehen Theorie des Raumes und mutatis mutandis auch der Zeit lieft
ein durcham ungenügender Begriff ssu gründe: Das Wesen des Baumes
beet^ie im diâcrimen locorum rerum simultaneanmi. Um hier den Anti-
Hiant richtig zu würdigen, \^t immer ein Doppelte« 7.u unterscheiden: die
direkte Bcastreitung der Lehre Kants und die positive ErgEnsuug der-
selben durch Stattler LetKtere ut abzuweisen, ert*tere aber beachtenswert.
Die Kategorienlehre, welche St. an der Hand des Sat2e.s vum
Grunde entwickelt, glaubt er frei von allem rhapstjdischen Zuge und voll-
kommener ab die Deduktion bei Kant. An kti&terer bekiimpft St, um
«Fdnaip^ der Ableitung, nämlich die Tafel der Urteile, den losen Zu-
sammenhang zwi^ichen den Urteils formen luid den reinen Verstandesbe-
griffen und das „architekt<mLsehe lutaresse^. Die Tafel der ontologiaehea
Begriffe hfilt St. für tinvollàtandig, da die Begriffe von Eaum, Zdt,
Gleichheit und Cngleicblieit, gut und bös u. s, w/feiüen. Auch six^d ain-
selne Begriffe falsch gruppiert, und die Bei^aehung der ^Wechselwirkung''
aur Form des disjunktiven Urteil» erscheint unverständlich. — Die Methode
des Anti-Kjxnt ist die Wolfscbe. Die sprachîirbe Darsteilung ist hart, oft
dunkel und derb.
Die vorliegende Arbeit bildet den ersten Teil einer ^röeseren Ab-
handlung über die Polemik des Anti-Kant. Hieraus möge sich die etwas
ausgedehnte biographische Skizze erklären! Der zweite folgende Teü
wird betrachten: die synthetischen Urteile a priori, das Veiiiftltnis von
Mathematik und Philosophie, die Theorie des Schlusses, die Lehre fiber
Seele, Welt und Gott, die Grundzüge der Ethik und Religionsphilosophie,
endlich die Wirkung des Anti-Kant auf die Zeitgenossen
Zum Schlüsse muss der Verfasser noch um Nachsicht ob der mehr-
fachen Druckversehen in vorliegender Dissertation bitten. Die Druck-
legung fiel leider in eine ungünstige Konjunktur verschiedener Umstftnde.
München. Dr. phil. Georg Hub er.
Friedmann, Jonas, Dr. Die Lehre vom Gewissen in den
Systemen des ethischen Idealismus historisch-kritisch
dargestellt. Budapest, Geyer. 1904. (80 S.)
Unter ethischem Idealismus verstehe ich die sogenannte formale
Ethik, wie sie ihre Vertreter in erster Reihe in Kant und Fichte hat
Die Arbeit, zu der mir der geehrte Herausgeber dieser Blatter, Herr Prof.
Dr. Vaihinger die Anre^ng gab, soll eine historisch kritische Darstellung
der Gewissenslehre beider Denker, beziehungsweise eine Vergleichung
derselben liefern. Diese Vergleichung wird auch einen Beitrag ergeben
zu der Frage des Verhältnisses Fichte zu Kant überhaupt. Ich habe
daher an der Spitze des ersten Kapitel Fichtes Verhältnis zu Kant, wie
es nach den Ergebnissen der Forschungen in den letzten Jahren (wie
z. B. nach der m dieser Zeitschrift erschienenen Studie von W. Kabita:
„Entwickelung der Fichteschen Wissenschaftslehre aus der Kantschen
Philosophie") als sicher festgestellt zu betrachten ist, kurz dargelegt
Meine Ausführungen sollen diese Ergebnisse bestätigen. Es wird geseigt,
Selbstanzeigen (Schmid). 563
wie in der Auffassung, die das Gewissen bei den beiden Denkern gefanden
hat, die Verschiedenartigkeit ihrer Ethik zum Ausdruck kommt. Bei
Fichte finden wir das Gewissen in dem Mittelpunkt seiner Ethik,
während bei Kant die Einführung des Gewissenspliänomens in seine Ethik
mit dem Bestreben zusammenhängt, die Ethik mit der Religionsphiloso-
phie zu verbinden. Bei Kant ist die positive Seite des Gewissens das
böse Gewissen, hingegen bei Fichte das gute.
In einem anderen Kapitel kommt die Kritik, die die Kantische Ge-
wissenstheorie gefunden hat, zu Worte. Femer werden auch die nach-
kantischen, von Kant verschiedenen, modernen Gewissenstheorien kurz
vorgeführt und ihr Verhältnis zu Kant dargelegt. In einem abschliessen-
den 3. Kapitel wird gezeigt, was nach Abzug aller berechtigten Kritik
als das bleibende und wertvolle in der Kantischen Gewissenslehre ange-
nommen werden darf, beziehungsweise inwiefern das Gewissen, wie Kant
es wollte, als ein ethischer Faktor betrachtet werden kann. In diesem
Zusammenhange wird auch untersucht, wie sich diejenigen das Gewissens-
phänomen erklären, die im Grossen und Ganzen auf dem Boden der Kan-
tischen Ethik stehen oder, wie die Neukantianer in einigen wesentlichen
Punkten von Kant abweichen.
Budapest. Dr. J. Friedmann.
Srhmid, Friedrich Alfred, Dr. Fichtes Philosophie und das
Problem ihrer inneren Einheit. (Die Frage nach der veränderten
Lehre.) iYeiburg i. Bç., G. Ragoczy (E. Jedele). 1904. (112 S.)
¥j8 liegt der vielerörterien Frage, ob sich in dem System der
Fichteschen Philosophie zwischen Früher und Später eine gegensätzliche
Weltauffassnng nachweisen lasse, eine viel tiefere Bedeutung zu Grunde,
als etwa die blosse Lust an der historischen Kritik. Fichte Philosophie
steht an der Wende des Jahrhunderts der deutschen Denker auch als ein
Merkstein in der entscheidenden Wendung des Kantischen Idealismus, die
dieser mit dem neuen Jahrhundert nahm. Es ist, aufs kürzeste gesagt,
die Wendung von der, im innersten Wesen notwendig immer rationalisti-
schen, Kritik als System, zu dem antirationalistischen und zuletzt
immer metaphysischen System transscendentaler Werte, deren
eigentliche Transscendenz schliesslich nur noch eine Frage des persönlichen
Geschmackes bleibt.
Derselbe Schelling, der, neben Hegel, in der Geschichte der Philo-
sophie mit Recht als der Vollender der idealistischen Metaphysik gilt,
war denn auch der Erste, der den Umschwung bei dem älteren Fichte der
Welt mit einiger Genugthuung verkündigte. Fichte protestierte leiden-
schaftlich, und seit jenen Tagen ist der Streit, dessen Kernproblem indessen
das Schicksal der deutschen, klassischen Philosophie mit Schopenhauer
entschied, nicht mehr erloschen.
Unter sehr persönlichen Interessegegensätzen war der Streit be-
gonnen. Persönliches Interesse an der Macht oder der Ohnmacht des
Fichteschen Einflusses setzte ihn fort. Die objektive Beurteilung scheint
selbst heute noch manchmal dem Kantisch-kntischen oder dem antikriti-
zistischen Historiker schwer zu fallen. Denn Fichte ist ein Lebendiger:
Es hängt allzuviel von dem Urteil über diese Frage ab, wie die Gesamt-
beurteilung der nachk m tischen, oder besser der nachfichteschen Philoso-
phie darnach ausfalle.
Ich habe versucht, unter ausdrücklicher Beiseitesetzung aller herein-
spielenden und oft vielfarbig schillernden Detailfragen, das Einheita-
problem der Ficht eschen Philosophie in der Verschlingung seiner Grund-
oegriffe zu fassen.
Nach dreijährigem, eingehendem Fichtestudium wollte ich ein Urteil
über diese Frage finden, das sich zwar, mit Rücksicht auf seine Denk-
voraussetzungen, ganz seiner nachkantisch-kritischen Schulung bewuast
ist, dabei aber dennoch bemüt blieb, in jedem Punkte die möguchste Ob-
jfàgrtrxM m heviora. Um -»uoDscîk fteNvLcac »sm^r r«
air^ HjuM^Jr.i/taut laid Bmti^^ mil d^mi Lf>iiii£ Lexpoz«: V«is 4 Co.
»Vt OClI a. «Ä ^
riM BvfUL wiH ZTi4<ii4* -.3. 'Im ^cvimni 'iitr KjatsKÔca ErÂik eÏB.-
ftam.. DïMsieiB Zwecke i«>r3i(a3L^i'iL dsiïnc <2ae ^uùecciuie Beczacknaur
<>« «fMuiMÛs CaarA-*. f«ni^ ^ii«»«». iim die 2»3idûeâriâca«& B&ckbocke
Z^!!9lpu^a d^T r^viea erLiiczun. Ha:xp<'.4cîinf*.«n. ^if^r ^Grxad>zTEZf zur K^e-tA-
W^x^^rüE. w^riîT. »Tiç-r i-iiîh. di-t HAapcproc-L«aL«!>. di<^ Kac*^» Ethik
*3*f^r»/.isr Biçr^i«/rh*izî2n«- -ii* *^:* d«- usôî^t: Z3:^zr=L'«!ifidie^xMien Dar-
tfe;i^*4r irj*«rf* G^e^enÄaL«**:». H. Coc.*t* W*rk *Kaa** Gnadlf gnne der
Oîkik* fB^in I^TTT er»eiii«c.<Tk L«^: «rufiirtWrh^ Asw'ûfcUfed'frwtzancen mit
«^rq^T^n Eirhik^TT. z. B mît Hiç»:ncr>!-m. Krir^r. Sckwiuz, Stanipe, Scao-
dÎAir^r a. a. var^i hier Û£&x zq nmireben.
Die hieriker r^h/Hicem Kapitel çrtzppierrii «i^b. am zvei zentnle
Frac<^n. die Daeh dem We^^c d#4 Si^ïicaet:. r«exv. dem obeiïteii Morml-
prinzîp md die oaeh der Willensfreiheit Zor eT«te& «tehen folçeDde
Kapitel io Beziehimjr: .VeriiäitEiit der pfaktiäcken zur theorerfeMrheii Ver-
nonft*, .Vemanftapnori «ader Willei»aprifi<i?^. .der formale Charakter des
katecroriAeheii faiipentiT%*. .die Ucbeçreiflichkeit des kategorischen fanpe-
mtiri*. .das Verfaihais der KantischéB Ethik zum Eadlmonismus*, .der
RirorismiM der Kantîachen Ethik*, .Kants Lehre vom h^chsteii Gut and
▼on den Priftiilaten*. «4ias Verfaihnis der wichtiesten ethischen Rieht nngeo
der Ge^enwan zo Kant*: mit der zweiten Fnee be4chàftieirn sich die
Kapitel' .die rerschiedenen Bedeatan£en des Freiheitsheeriffs bei Kant",
^die I>hre Tom intelUçiblen und empirischen Charakter*. .Kants Verhält-
nif zum hentiiren Deteiminismos und Indeterminismos*.
Das Ziel dieser Untemchnn^en ist nicht nnr das. den wahren Sinn
der Kantischen Lehren festzustellen and irriçe Deatonçen abzuwehren,
sondern es besteht auch darin, vermittelst einer pietAtrollen and doch
freimütigen Kritik an Kant selbst, diejenigen seiner Grandçedanken her-
aosKoschAlen, die heute noch al« iriltie erscheinen und ihr VerhältnLK za
den bedeutsamsten Richtun/Bren der modernen Ethik zur Darstellung zu
brin^n. Dies forderte einübende Auseinandersetzun^n mit dem Endft-
monism US, Evolutionismus, der thomistischen Ethik imd mit dem Deter-
minismus.
Oiessen. Prof. August Messer.
Roppelmann, Wllhehn Kritik des sittlichen Bewusst seins
vom philosophischen und historischen Standpunkt. Berlin,
Reuthcr Ä Reichard. 1904. (MH u. 385 S.
Diose rntersuchnnfr des sittlichen Bewusstseins gelang zu dem Re-
•ulUt. dHH» btM aller örtlichen und zeitlichen Verschiedenartigkeit der sitt-
lichen AimchHUungen doch ein fester Pol vorhanden ist, nAmlich das stets
uiwi üboriill Midi findende Bewusstsein der Pflicht der Wahrhaftigkeit resp.
dfr /lUvnrllUMigkeit, welche nichts anderes ist als Wahrhaftigkeit auf dem
pmkÜM'lirn Ot^biot. Und zwar ist diese Wahrhaftigkeit resp. Zuverlässig-
kcli niolii rillte laicht neben anderen, sondern die Grundpflicht, auf
Wtlchl^r Nllr Mtulrrtii ruhen, sodws, je mehr das Bewusstsein dieser Pflicht
Selbgtanzeigen (Koppelmann). Ö6Ö
Abff«schwächt und erstickt wird, desto mehr das Pflichtbewusstsein auch
auf allen anderen Gebieten ins Wanken s^erüt. Denn alle anderen Pflichten
werden, wie im 3. Kapitel i^die greschicntliche Entwickelun^ des sittlichen
Bewusstseins*^) nach/are wiesen wird, zu wirklichen Pflichten, an welche das
Individuum sich innerlich gebunden hält, erst durch die stillschweigende
oder ausdrückliche Anerkennung desselben, also durch eine Art von Selbst-
verpflichtung, deren ganze Kraft auf der Zuverlässigkeit beruht. Die
Gründe der Anerkennung dieser sekundären Pflichten sind verschieden ;
in den meisten Fällen liegen sie in dem eigenen Bedürfnis resp. dem
eigenen Interesse. Die Gestaltung der sekundären Pflichten dagegen
ist ein Produkt der Gesellschaft und vollzieht sich nach organischen Ge-
setzen, sodass auf gleichen Kulturstufen die sittlichen Ansäauun^en bei
den verschiedensten Völkern eine überraschende Ähnlichkeit aufweisen.
Das Spezifisch-Ethische liegt demnach in der Wahrhaftigkeit resp.
Zuverlässigkeit, aus welcher sich dann weiterhin bei sehr hoher Entwicke-
Inng Liebe, d. i. Drang zur innigsten geistigen Gemeinschaft entwickelt
Die Pflicht der Wahrhaftigkeit resp. Zuverlässigkeit ist im Gegensatz zu
den sekundären Pflichten ohne menschliches Zuthun und unabhängig von
aller Erfahrung, d. i. in Kants Sinne a priori da. Das Bewusstsein
derselben entspringt nämlich, wie im 2. Kapitel dargestellt ist, mit Not-
wendigkeit aus dem Wesen der Vernunft resp. Venunftgemeinschaft.
Durch diesen Nachweis wird zugleich der enge Zusammenhang des ethi-
schen Prinzips mit der Erkenntnis thätigkeit klar. Da die Pflicht der
Widirhaftigkeit resp. Zuverlässigkeit nicht vorschreibt, was wir sagen
oder thun sollen, sondern nur eine gewisse Form des Verhaltens verlangt,
nämlich die Einheit und Harmonie des Subjekts, die Übereinstimmung des
Inneren und Äusseren bei allem Verhalten, so muss das ethische Prinzip
zugleich als rein formal in Kants Sinne bezeichnet werden.
Das Wesen des Bösen besteht dementsprechend in der Falschheit
und ihren verschiedenen Erscheinun^formen. Die Motive der Falschheit
fînde ich, wie im 4. Kapitel im einzelnen entwickelt ist, in einer ge-
wissen, durch den Intellekt vermittelten Entartung des Trieblebens, welche
zur Genusssucht sowie zur Ehr- und Herrschsucht führt, eine Entartung
der Affekte und Stimmungen im Gefolge hat und bei fortschreitender
Konzentration des Wollens zur bewussten Selbstsucht, dem Gegenteil der
Liebe, sich entwickelt. Den Kampf dieses bösen Prinzips mit dem guten,
die Voraussetzungen des Sieges des einen über das andere sowie den Zu-
sammenhang der Sittlichkeit mit der Religion behandeln die letzten
Kapitel.
Das Buch sucht also die Lösung der ethischen Probleme in der von
Kant gewiesenen Richtung und stimmt in der Grundüberzeugung von
dem apriorischen und formalen Charakter des ethischen Prinzips mit ihm
überein, gelangt aber im einzelnen, insbesondere bei der Fassung des sitt-
lichen Grundprinzips, zu anderen Resultaten. Vor allem tritt auch der
Zusammenhang' der empirischen Elemente der Sittlichkeit mit dem aprio-
rischen Prinzip derselben hier deutlich zu Tage.
Leer. W. Koppelmann.
2^ MtwuexJMii'i,
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Emue «if ihre Art d«» Pbil/ji^/pheD pt/äenken werde, und to irt « auch
geluMiiiien, Zwar J^mm war er*, zu keiner tob den Kiasten hat er in
einem Mff^is^tn Verhelf m» i^e^^nden. Ah^r die Kaust ÛFt reick, äe kt
mitteilend and aiMt^^iletid, »e ideht auch da, wo se nickt» erkalten kat.
and da rielleiekt am allerfie(j«Um, Wie die Maler der Renainance nickt
danach i^^frai^ hahen, ob die Heiliit^^ der enten Jahrhandote Verehrer
der Kan^ waren, «o kann auch di^ doreham ankân«tleriftche Charakter
Kanta kein Grund für die Kamt «ein, an ikm vor&berzo^hen. Wohl aber
kann da«, wa» Kant n^weaen i«t, kann die That*ache, da» in ihm eine se-
waltiire Potenz in die Welt tnngtirtten ist, hinreichender Gmnd for die
Konst «ein, auch ihn in ihre Anneinandersetzoni^ mit der Wirklickkeit
einzubeziehen.
Man kann nan nicht «aipen, dam die Kanjit nicht von jeher hiernach
gehandelt hAtte. Ea ipebt, am nnr Ton den bildtrnden Künsten zn ^rechen,
eine lan^ Reihe von Portrftta, Bähten, Medaillen. Aber wie weniges da-
von kann doch aaf wirklichen Kanatwert Anspruch machen! Im groasen
Ganzen darf man behaupten, daa« die vorhandenen älteren bildlichen Dar-
stellungen uns zwar ziemlich genau sagen, wie Kant ausgesehen hat, dass
aber luum eine ,4>arstellung^ Kants im Ästhetischen Sinne des Wortes
darunter ist. So war hier wirklick noch eine Aufgabe zn lösen, und ohne
Zweifel : die Lösung war in unseren Tagen leichter als zu Kant« Lebzeiten.
Es ist durchaus entschuldbar, dass unter den Malern und Zeichnern, denen
Kant gesessen hat, kaum Einer war, der den Gegenwärtigen in seiner
flberra^enden Grösse zu erfassen vermocht hätte. Lnd so sind denn jene
alten Süder auch nicht viel mehr als Reproduktionen der Netzhautbilder.
Dem Kûnbtler von heute liefern sie die unentbehrliche Unterlage, sie sind
ihm hinlänglicher Ersatz ffir den unmittelbaren optischen Eindnick. Aber
der Künstler von heute wird ein Bewusstsein von der historischen Grösse
Kants schon mitbringen, sofern seine Leistung überhaupt jener Freiheit
entspringt, ohne die es keine wahrhaft künstlerische Leistunn^ giebt. Und
dieses Bewusstsein ist auch sicherlich mehr als bloss subiektive Meinung:
seinem Hauptinhalt nach ist es unweigerlich bestimmt durch das Wissen
davon, was Kant als historische Persönlichkeit gewesen ist, — und so
schwankend auch demjenigen, der selbst in der Kantforschung steckt, die
Meinungen der Gegenwart über Kant erscheinen müssen: vergleicht man
mit den Meinungen aus dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, so
ist docii sofort klar, wie viel fester die Geschichte Kants Z^ge um-
riasen liat.
Vor mir habe ich die Radierung der Berliner Künstlerin Clara
Meilin (Selbstverlag der Künstlerin, Berlin W., Kurfürstendamm 130;
Prel» (b*H Blattes 8 Mk.). Kant im Profil nach links, in der Haltung etwa
wie HUf RnuciiH Kantdenkmal in Königsberg oder auf dem Sockelfnes am
Denkmal Kdrdrichs des Grossen in Berlin. In der Ecke links oben über
der dt»ninn«trirrend vorgestreckten rechten Hand das Wappen von Königs-
bafff, VwiPt (Inm Ranae des Porträt« rechts Kants Wonnhaus von der
Qiil^lliHiltii, linkN die Nachbildung von Kant« Autograph. Plattengrösse
MXW OJn. Krinncrt das BiW beim ersten Blick stark an Rauch, so zeigt
Mitteilungen. 567
doch schon der nächste Blick, dass die Ähnlichkeit nur in dem alleräusser-
lichsten besteht. Wie fein ist z. B. schon die Haltung der Hand variiert,
und wie völlig anders ist hier der Kopf! Und geräe in diesen beiden
Partieen, in der geistreich aufgefassten Hand und dem ganz gewaltig wir-
kenden Denkerkopf liegt der Haupt reiz der Radierung. Imponierend
wirkt der mächtige Schädel auf dem schmalen Körper. Aber die Haltung
ist nachlässig« fast kraftlos, der Kopf hängt nach vorne — wunder-
bar klar schaut das Auge unter der hohen freien Stirn hervor. Man sieht
es wohl: „die Höh'n des Olympos" werden nicht erbeben, wenn diese
Brauen winken. Kein gewaltiger Wille zieht uns hier in seine Macht«phäre
hinein. Aber wer die P>habenheit der leidenschaftslosen klaren Ruhe zu
verspüren vermag, dem wird sie hier entgegentreten. In weite Femen
geht der Blick des Philosophen : Kant hat die „Maulwurfsaugen " verachtet;
man braucht, um klar zu sein, nicht beim Nächstliegenden Halt zu macheu.
Die Sicherheit des Intellektes — nicht des «gesunden Menschenverstandes",
sondern des weltumspannenden, ja weltbegründenden, des transscendentalen
Bewusstseins : das ist es, was diese Radierung von Fräulein Meilin dar-
stellt. -
Noch eine Dame hat dem grossen Königsberger eine künstlerische
Huldigung dargebracht: Louise Staudinger in Darmstadt, die Tochter
des den Lesern dieser Zeitschrift wohlbekannten Kantianers Prof. Dr.
Franz Staudinger. Der „Kant" von Fräulein Staudinger ist eine Plakette,
13X13 cm gi'oss, eine wohlgelungene Übersetzung des in Dresden aufge-
fundenen, jetzt im Museum zu Königsberg befindlichen Kantbildes (v^l.
das Festheft der KSt.) in den Reliefstiel. Die ästhetische Leistimg ist hier
wesentlich verschieden von der eben besprochenen : denn wenn eine ältere
Darstellung Kants Anspruch auf Kunstwert machen darf, so ist es — so
weit ich nach Kopien urteilen kann — das Dresdener Bild aus der Graff-
schen Schule. Allein unter den vorhandenen Abbildungen ist keine, die
einen selbständigen ästhetischen Wert hätte. Auch die grosse Photogra-
phie des Bildes lässt nur ahnen, wie das Original wirken mag. Bei der
farblosen mechanischen Reproduktion eines Gemäldes geht eben notwendig
eine Fülle von Akzenten verloren, die für die ästhetisch einheitliche Wir-
kung unerlässlich sind. Loui.se Staudinger hat sich die schöne Aufgabe
gestellt, das ästhetische Objekt jenes Gemäldes mit den Mitteln ihrer
Kunst zu erfassen : diese Aufgabe bedeutet mehr als eine blosse Kopie,
das Werk musste Nachschöpfung und teilweise selbst Neuschöpfung werden.
So aber ist es erst möglich geworden, den „Kant" des Königsberger Mu-
seums in einer künstlerisch vollgiltigen Reproduktion zu erhalten. — (Ab-
güsse sind durch die Künstlerin zu beziehen : Darmstadt, Inselstrasse 26.)
Fritz Medicus.
Kantmedaille.
Ausser durch das schöne Bild von Clara Mellin und die Plakette
von Louise Staudinger ist auch in einer bei A. Werner & Söhne in Berlin
erschienenen Medaifle von Wolf des hundertsten Todestages Kants künst-
lerisch gedacht worden. Diese Medaille ^ebt den Philosophen recht gut
nach dem bekannten Döblerschen Bilde wieder. Es gereicht dieser — so-
wohl in Silber, wie in Kupfer und in Bronze ausgeführten — Medaille
zum Vorzuge, dass sie, einmal abweichend vom allgemeinen Schema, nicht
ein Profil-, sondern ein Enfacebild darstellt.
Sie hat aber auch eine Kehrseite im eigentlichen und im übertrage-
nen Sinne. Denn die auf der Rückseite ausgeführte Darstellung kann
kaum als Bestimmung einer glücklichen Idee gelten: Die hoch in Wolken
zum Sternenhimmel — an dem deutlich der Saturn mit seinem Ringe
sichtbar ist — aufschwebende und pathetisch auf ihr Herz weisende Jung-
568 Mitteilmigeii.
fran Wird man schwerlich als passende Allegorie der Kantischen Woite
^der bestirnte Himmel fiber mir und das mondische Gesetz in mir^ — an-
sprechen dürfen.
GraDdan;^ einer polniachen phflosophlfM^hen Graellfichaft.
Herr Professor Wartenberg teilt uns aus Lemberg mit:
Am 12. Februar, dem hundertjährigen Todestage Immanuel Kants,
fand in Lemberg die Inaugurationsfeier der neu gegründeten JPol-
nischen Philosophischen Gesellschaft* statt. Die Eröffnungsrede
hielt der Vorsitzende der Gesellschaft, Prof. Dr. Twardovski, die Fest-
rede Prof Dr. Chmielowski über das Thema: Kant in Polen.
Ein Kaut-Fnnd.
In einer Umgebung, die eine Handschrift Kants nicht vermuten
Hess, in dem von mir aufgefundenen Hamann-Nachlass des Präsidenten
V. Roth, fand sich das nicht signierte Schriftstück, aus dessen Inhalt ich
sogleich auf Kants Autorschaft schliessen musste. Die Vergleichnng mit
faksimilierten Handschriften Kants bestätigte die Vermutung. Das Schrift*
Stück, acht Seiten gross Folio sUrk, deckt fünf ençbeschriebene Seiten,
i'ede etwa mit 42 Zeilen beschrieben. Die Handschrift, anfangs ungemein
tlar und besonnen, wird im Verlaufe flüchtiger, die Korrekturen häufiger.
Dem Inhalt entnehme ich folgende kurzen Angaben : Der Autor will,
um die Klippen des Dogmatismus und Skeptizismus zu vermeiden, den
Charakter der neugewonnenen Denkungsart feststellen; er findet ihn in
der strengen Anwendung der Urteilskraft auf das Fundament aller Be-
hauptungen. Hierdurch sei es möglich, vom blossen Meinen und Glauben
zum Wissen aufzusteigen. Meinen, Glauben und Wissen werden gegen-
einander abgegrenzt, wobei Beispiele aus der Geschichte zum Beleç menen.
In der Vernunftgewissheit werden wieder apodiktische und intuitive Ge-
wisslieit, Aximome und Mathemata unterschieden Die moralische Gewiss-
heit wird in ihrer Besonderheit aufgezeigt. Ein summarischer Begriff
st^'llt dann Dogmatismus und Skeptizismus einander gegenüber und be-
zeichnet den Kritizismus als die begrifflich und peschichtlich geforderte
Denkungsart. Diese Sätze werden endlich in geistvoller Ausführung er-
weitert.
Was das Ganze darstellt, wage ich nicht zu entscheiden; es könnte
vielleicht ein frühzeitiger Entwurf eines Vorworts zur Krit. d. r. V. sein,
worauf einige Anklänge weisen. Auch die Frage, wo die Handschrift in
die erwähnte Umgebung gekommen sei, lasse ich offen. Gewisse Spuren
zeigen auf Jacobi. Näheres darüber mag die Veröffentlichung bringen.
Die Herausgabe der von der Königl. Bibliothek zu Berlin käuflich
von der Eigentümerin erworbenen Handschrift soll durch die Kant-Kom-
nii8bion in der Akademie- Ausgabe erfolgen.
München. Dr. Heinrich Weber.
Kantgesellachaft.
In unserem Festheft IX, 1|2, Seite 344 ff. erschien ein Aufruf ^An
die Freunde der Kantischen Philosophie. Bericht über die Begründung
einer .Kantgesellschaft' und die Efrrichtung einer jKantstiftung* zum
hundertjährigen Todestag des Philosophen". Gleichzeitig brachten 'wir das
Verzeichnis der bis damals eingetretenen Mitglieder der neuen Gesellschaft,
und meldeten, dass die erstmalige Generalversammlung am Freitag, den
22. April, Kants Geburtstag, in Halle a. S., Reichardtstr. 15, stattfinden
solle. Diese erste konstituierende Generalversammlung fand nun auch
wirklich an diesem Tage statt. An sämtliche bis dahin angemeldeten
Mitglieder sowie an viele Freunde der Sache war eine Einladung ergangea
Diese Einladung enthielt folgende
Mitteilungen. ô69
Tagesordnung:
1. Begrüssung der Anwesenden durch den Unterzeichneten.
2. Sonate Op. 1 von J. Fr. Herbart, dem Nachfolger auf Kants Lehr-
stuhl in Königsberg, vorgetragen von Fräulein H. Suchier.
3. Überreichung des gesammelten Fonds zur Kant Stiftung an den Ku-
rator der üniversitÄt, Herrn Geh. Reg -Rat G. Meyer.
4. Vortrag von Herrn Privatdozent Dr. B. Bauch: „Kant und die deut-
schen Dichterfürsten".
Pause.
(Aussteilung von Kantbildem, ersten Drucken, Festschriften u. dgl.)
6. Beratung der Statuten.
6. Wahl der Vorstandsmitglieder.
Einen ausführlichen Bericht über diese erste Sitzung brachte die
Gallische Zeitung No. 191, sowie die Saalezeitung No. 190 (letztere brachte
noch in No. 192 ein ausführliches Feuilleton über die Kantausstellung),
^us diesen Blättern sind dann in die meisten Zeitungen kurze Berichte
tibergegangen. An dieser Stelle ist folgendes als das Wichtigste zu er-
mähnen: Bei der Beratung der Statuten wurden die in dem Aufruf vor-
läufig enthaltenen Bestimmungen angenommen, kodifiziert und von den
Anwesenden unterzeichnet. Es wurde beschlossen, dass die Kantgesell-
schaft in das Vereinsregister eingetragen werden soll. Wir können daher
die Statuten erst zum Abdnick bnngen, wenn dieselben den vorge-
schriebenen Weg durch das hiesige Amtsgericht gemacht haben. Zu Vor-
standsmitgliedern sind folgende Herren gewählt worden:
Geh. Reg.-Rat G. Meyer, Kurator der Universität Halle.
Hofrat fiofessor Dr. A. Riehl, Halle.
Geh. Justizrat Prof. Dr. Stammler, z. Z. Rektor der Univ. Halle.
Dr. C. Gerhard, Direktor der Universitätsbibliothek Halle.
Geh. Kommerzienrat H. Lehmann, Halle.
Professor Dr. Hans Vaihinger, Halle (Geschäftsführer).
Es ist beschlossen worden, dass die Generalversanmilung jedes Jahr
am 22. April stattfinden soll. Zum Sitz der Gesellschaft ist Halle be-
stimmt worden.
Beim Erscheinen des Festheftes hatt« die Sammlung für die Kant-
stiftung durch die einmaligen Beiträge der Dauermitglieder sowie durch
Geschenke die Summe von 9185 M. erreicht. Bis zum 22. April hatte sich
diese Summe auf 16000 M. erhöht. Dieses Kapital wurde (vgl. oben
Punkt 8 der Tagesordnung) dem Kurator der Universität, Herrn Geh.
Regierungsrat Meyer als Eigentum der Universität Halle zur Verwaltung
tibergeben. Die Zinsen aus diesem Fonds werden von der Kantgesellschaft
zur Verwendung gebracht. Die Sammlungen zu dieser Stiftung sind auch
bis heute weiter fortgesetzt worden und haben auch fernerhin ein sehr
erfreuliches Resultat ergeben. Doch ist die Sammlung noch nicht abge-
schlossen, und wir bringen daher erst in einem späteren Hefte die Über-
sicht über die weiteren bisher erfolgten Einzahlungen zu Gunsten des
dauernden Kantfonds. In sehr dankenswerter Weise ist diese Sammlung
von verschiedenen Seiten energisch unterstützt worden, und e« ergeht die
Bitte an alle unsere Freunde, auch weiterhin noch diesem Fon£ Mittel
zuzuführen, um für alle Zeiten einen Zentralpunkt des Kantstudiums zu
schaffen.
Auch an Jahresmitgliedem haben wir eine grosse Anzahl neuer Bei-
tritte zu verzeichnen :
Staatsminister a. D. Oberprttsident Dr. v. Bötticher, Exe, Magdeburg.
K. K. Studienbibliothek Klagen fürt (Gustos Dr. Ortner).
Direktor A. Schulze, Halle.
Dr. phil. Max Apel, Berlin-Charlottenburg.
Professor Dr. Fritz Schnitze, Dresden.
Professor Dr. med. Koblanck, Berlin.
570 Kitteiluni^eiL
Prnltihhitr P. Tichomiroff, Moskau.
Vrohihhitr Dr. W. Jerusalem, Wien.
Dr phil. Da weft Hicks, London.
Dr. phil J. W. Hicks on, Montreal (Canada).
Dr. med. Kalker, KMn a. Rh.
Ritter^utslHfsitzer Siebert, Corben bei Mollehnen (Ostpr.).
Kabrikdirektor Kugen Hecker, Braunschweig.
Buchdnickereibesitzer Karl Maisch, Karlsruhe.
FMvat^eiehrter Dr. R. Wedel, München.
Friedrich Freiherr von Hügel, London
Professor Dr. Karl Kehrbach, Charlottenburg.
Professor Dr. A. Hof 1er, Prag.
Privatdozent Dr. R, Reininger Wien.
Rud. Goldscheid, Wien.
Dr. R. HAnigswald. Graz.
Fabrikbesitzer Friedr. Curtius-Nohl, Duisburg.
Gr.li. Kirchenrat G. H ei nr ici, Leipzig.
Professor Dr. Hu^o M uns ter b erg, Cambridge, Mass.
Dr. Victor Lowinski, Berlin.
Professor Dr. Victor Delbos, Paris.
Professor Dr. Volkelt, Leipzig.
Frau Bertha Meyer, Dresaen.
Frau Justizrat Meyer, Dresden.
Dr. Anton Thorasen, Kopenhagen.
Dr. Vaschide. Paris.
Hngifrungs-Referendar Dr. Sitzler, Aurich.
Professor Dr. A. Wernicke, Braunschweig.
Htud. Armin Lusser, Luzern.
Privatmann Gustav Wagner, Achern.
Dr. (Uy V. Brockdorff, Privatdozent der Philosophie, Braunschweig.
Dr. David Wiktoroff, Privatdozent, Moskau.
Magistrat der Stadt Hildesheim (für die Stadtbibliothek).
Dr. Karl Gebert, München.
Professor Dr. Tb Ruyssen, Aix-en-Provence.
Kommerzienrat Edmund Wirth, Sorau.
Professor Dr. J. H. Stirling, Edinburg.
Fiic. Dr. W. Koppelmann, Leer.
->. W. N. •
Privatdozent Dr. W. N. Iwanovsky, Kasan
Generalarzt Dr. Kern, Berlin.
Dr. R. Jorges, Düsseldorf.
IVofessor Dr K. B. Hof mann, Graz.
Dr. med. R Gaul. Stolp 1. P.
Philosophische Gesellschaft, Wien.
Proft>8sor D. Dr. Fr. Loofs, Halle a.S.
Jacob H. Epstein, Frankfurt a. M.
Gleichzeitig Dauennitglieder.
Die Verwendung der eingegangenen Gelder untersteht der Be-
sohl ussfassuug der oben genannten 6 Vorstandsmitglieder. Eis wird da-
rüber s. Z. in den KSt. Rechenschaft abgelegt werden. Wir bitten unsere
Freunde. nt>ch weitere Jahresmitglieder für uns zu werben, und indem wir
gleiohi^eitig für alle bisherige Thititiçrkeit in diesem Sinne danken, wieder-
holen wir die Bitte, auch für die weitere Dotienmg der Kantstiftnng thiti^
XU sein. .\lie die Kantgesellschaft betreffenden Mitteilungen bitte ich an
nüoli KU v^enden.
Halle a. S., den 1. August 1U04.
Prof. Dr. H. Vaihinger.
Sach-Registcr.
iube 115. 4G().
e, das 497. 628.
g 45 1. 4^5.
nwahn 46(>.
ienst Gottes** ACA) ff.
izismus ß.
in 18(>.
zum Guten 410.
aung 266. 274 f.
pologie 53. 99 f. 103.
poinorphismus 19. 40.
ponomie 53.
ionalismus 39.
»ranaturalismus 37 f.
-iori 163.
161. 267. 503.
smus 14.
k 513. 531.
ling 46.
mie 14. 427. 475.
at 212. 223. 476.
I 274 ff.
nngsprinzip 279.
omnium in omnes 463.
tsein 161.
tseinsiuhalt 226.
3 ff. 76. 80. 372 ff.
rsinhalt 242.
e 221.
rsetzung 538 ff.
AS Prinzip des Bösen 462.
nheit 367.
nliebe 419. 487.
ntnm 27 f. 108. .367.
Dänemark 535.
Determinismus 407. 410.
Ding an sich 6 f. 15. 157.
Dogmatismus 357.
Empfindung 157. 168. 508.
Rmpfiudungsquaiitäten 268. 495.
Empirismus 6. 289.
Endzweck 458.
Energie, das Prinzip von der Erhal-
tung der Energie 18. 265. 498.
EntWickelung 17 f. 26 ff. 217. 504 f.
Epigenesis 504.
Erfahrung (Begriff u. Bedingung d. E.)
8. 163. 267. 290. 498.
Erkenntnistheorie 6. 42.
Erziehung 212 ff.
Ethik 15. 17. 101. 427. 470 ff.
Ethikotheologie 119 f.
„Ethische Gemeinschaft** 464 f.
Eudämonismus 29. 128. 212. 429 f.
„Faktum der reinen Vernunft** 434.
Flächenkrttmmung
Familie 212.
Freiheit 29. 78 f. 439.
„Geistliche Natur** 409.
Geschichte 10 ff. 40 ff. 374 f.
Geschichtephilosophie 60. 101. 119.
Geschmacksurteile 216 ff.
Gesetzeswissenschaft 16.
Gesetzlichkeit (Begriff der G.) 281.
Glauben 34 f. 70 f. 357. 36« ff.
Glückseligkeit 31. 212. 480. 479.
Gnadenlehre 77. 451.
672
ttegistei*.
Onadenmittel 77.
^Gute Werk", das (verschiedene Be-
deutungen des Begriffs vom g. W.)
386. 388. 390 f. 393 ff.
Heiligkeit 441.
Heilsgeschichte 75.
Heteronomie 487.
Höchstes Gut 438 ff. 480.
Idee 145. 602.
Idealismus 164.
Identitätsphilosophie 264 f.
Illuminatismus 84. 466.
Immanenz Gottes 191.
Impression 609.
Individualismus 14. 50.
Induktionsschluss 273. 280.
Inspiration 466.
Intelligibel 27 ff. 33. 120. 288. 449.
Introduktion der Religion 143. 465.
Irrationalismus 360.
Kant als Persönlichkeit 197 ff. 523.
als Lehrer 529.
als Nationalphilosoph 527.
sein Leben 524.
Bildnisse Tit. 208. 820. 35Û.
sein Stil 517.
Katechismus (Königsberger) 37.
Kategorie 181. 502.
Kategorischer Imperativ 145. 183.
Katholizismus 39.
Kausalprinzip 266.
Kirche 73 f. 212 f. 488.
Konnotationen 283.
Kraft 273. 288.
Kritizismus 5 ff. 17. 492 ff.
Krümmungsmass des Raumes 277.
Krümmungsradien 277.
Kultur 60.
Legal 437.
^Leibliche Natur" 409.
Logik 101.
Materialismus 156.
Materie 273.
Mathematik 160. 262. 274.
Maxime 477.
Mechanismus 18.
Menschenrechte 124.
Menschenwürde 225. 485 ff.
Metaphysik 7 ff . 48 ff . 275. 288. 49^
Methodologie 16. 261. 501.
Monismus 25.
Monotheismus 110.
Moralprinzip 427.
Mystik 379 f.
„Mftchste**, der 417.
Nächstenliebe 417. 485.
Nativisuius 263. 280.
Natur 12. 148.
Naturalismus 288.
Naturphilosophie 179. 495.
Naturzustand 129. 463.
Naturwissenschaft 160. 261 f.
Neovitalismus 19. 530.
Neukantianismus 7. 156.
Noumenon 168.
Nutzen 212.
Offenbarung 66 ff.
Ontogenie 217.
Pädagogik 145. 211.
Pantheismus 107 f. 194.
Papsttum 387.
Pathologische Liebe 455. 487.
Permanente Möglichkeit 283.
Persönlichkeit 403 f. 446.
Person 446. 453.
Pflicht 438. 460 ff.
Pietismus 37.
Phänomenal 33 f.
Phylogenie 217.
Physik 177.
Physiologie 261. 500.
Polytheismus 107 f.
Positivismus 6 f. 156. 495. 498.
Postulate d. pr. Vem. 8. 29 f. 438 f*
Prädetermination 405 ff.
Praktische Liebe 455. 487.
Produktive Einbildungskraft 155.
Protestantismus 39 f.
Psychologismus 48 f. 113.
Register.
57â
Jnationsmetaphysik 405 f. 488.
dlierte Harmonie 54.
des Willens 406.
alismus 6 f.
167. 274 ff. 502.
t 257. 5%.
lation 124. 357.
ivität 277.
e Verstand", der 383 ff.
Gottes" 128. 193. 460 ff. 477.
Lsmus 14. 50.
ität des sittlichen Inhalts 415.
usgemeinschaft 420 ff.
nsphilosophie 21 ff 259. 457 ff.
:ance l*i4.
ik 124
imus 244.
ung 451.
rennögen 213.
ebe 480.
weck 234.
Wahrnehmung 265.
hkeit 145.
he Modalitat 260.
he Qualität 260.
:esetz 74.
i-religiöse Gemeinschaft 403
le Bethatigung 413. 482.
hen Begriffe«, die 433.
I 46. 495.
ädagik 213.
sehe Sinnesenergie 270 f. 495.
ismus 108.
aeitat 181. 447.
>S.
:esetzgebung 59.
:irchentum 58.
StatatarismuB 466 ff. 489.
Stoicismus 109.
Supranaturalismus 84.
Syroboltheorie 70.
Synthetisch 184.
Textverschiebung 538 ff.
Thaumaturgie 466
Theismus 108 f.
Theologie 63 ff. 458.
Transscendental 22 f 261 ff.
Transscendentaltheologie 358.
Triebmechanismus 101. 145.
Tugendgesetze 463 ff.
Unterricht 240.
Tehikel des Religionsglaubens 143.
466.
Verantwortlichkeit 407.
Verinnerlichung 475 ff.
Verdienst 438. 462. 479 f.
Vernunft 161. 4.
Vemunftwesen 189. 235.
Völkerrecht 124. 244.
Voluntarismus 406.
Weltanschauung 15. 520.
„Weltliebe« 419. 487.
Weltstaatenbund 124.
Wertfeindschaft 389.
Wertindifferenz 389.
Wertwissenschaft 16. 635.
Wissen 36.
Wissenschaft 10.
Wunderglauben 19. 105.
Zeit 167. 275. 502.
Zweckmassigkeit 18.
6?4
fiegiBtet.
Personen -Register.
Anaxagoras 109.
Aristarcb 854.
Aristoteles 208. 370 f.
Arnoldt 20. 38. 67 f. 60.
66. 77.96. 100 f. 109. 139.
Athanasius 372.
Augustin 406.
Baader 293.
Bac ou i*Ol.
Baen.sch Bô3.
Bahrdt 92. 144. 151.
Bauch 309.
Baum^arten 513.
Baur 35. 112.
Beattie 224.
Beck 51. 322.
Bendavid 139.
Bergemann 220 f.
Berkeley 157. 162.
Bernoulli 73.
Biester 63.
Bismarck 197. 391.
Bock 47. 158.
Boehiin5, lac. 282. 293. 306.
BohHus B32,
Borowski 203. 328.
Bourignon 44.
Bout roux 132.
Bröhmel 214.
de Brosse 96.
Bruno, G. 121. 209. 299.
La Bruyère 515.
Burdach
Caesar 296.
Carus, V. 305.
Oharlevoix 453.
Christiansen 551 f
Cicero 370.
Cohen 299.
Coleridge 305.
Condorcet 106. 124.
Copernicus 161 f. 165.
167. 864.
Oouain 305.
Crichton 309.
Crusius 338.
Dähnert .302.
Dalton .303.
Darwin 505.
Democrit 293. 495.
Descartes 337 f. 406. 493.
495 f.
Dieckhoff 406.
Diels 324.
Diestel 343.
Diesterweg 220. 231.
Dieterich 112. 125. 1.36.
143.
Düthey 63. 64. 66. 119.
121. 130. 140. 322 ff.
339 f. 356. 368 f. 3r.O.
364. 402.
Döhler 224.
Dove 339.
Dowden 299.
Duns, Scotus 3;)7. 406.
£rasmus 357.
Erdmann, B. 37. 62. 100.
102. 114. 118. 120. 124.
127. 1.38. 540 ff.
Eucken 17. 148
Euklid 303.
Faye 338.
Fechner 637.
Fessier 93.
Fichte 7. 14. 68 167 ff.
163. 177. 185. 198. 262.
292 f. 300. 3'/. 444.
504 f. 611. 546 f. 649.
lâcher, Kuno 21 f. 24. 28.
38. 71. 80. 91. 99. 162.
199. 206. 308. 343. 363.
427. 442. 500. 511.
Flint 47.
Flügel 222. 224 ff. 231 ff.
Fontenelle 318.
Fortlage 292. 306.
Frey 325. 381.
Freytag, G. 366.
Friedrich d. Gr. 293. SMj^
343.
Fries ;i03.
V. Funk 329.
Galilei 493.
Garve 62. 176. 514.
Gauss 277.
Gedan 325.
Gensichen 336.
Gerhard 66.
Gibbon 86. 99. 148
Gilbert .304.
Goethe 74. 90. 121. 14a
196. ^68. 292. 301. 905.
317. 318. 320. 403.5461
Görlitz 47.
Goldstein 47. 104.
Grimm, H. 306.
Gunkel 112.
Ilaberkant 317.
Haeckel 217.
Hagen 336.
V. Haller 44.
Hamann 142. 152. 290.
514.
V. Hardenberg, L. H. 319.
Hamack, A. 361 f. 356.
372 ff. 402 f. 420. 485.
4^9.
Hartenstein 321. 32a 329.
.380. 331. 338.
V. Hartmann 208. 294.
Hasbacli 47.
Hasse 172 178.
Haym 101.
Hebbel 311.
Hegel 7. 16. 17. 27. 118.
140. 142. 162. 159. 168.
185. 261 f. 290. 293.
499.
Hegler 53. 68. 87. 100.
115. 12.5. 145.
Register.
675
Seinrich 848.
Seixirici 842.
:Heiiize 824. 825. 827.
-▼. Helmboltz 261—286.
499 f. 504.
Hengstenberg 112.
Herbart 7. 215 i. 224 f.
228. 281 f. 285 ff. 241.
248. 245. 298.
Herbert, M. 812.
Herder 49. 56. 98. 101.
118. 121. 128. 189. 142.
148. 152 246-260. 818.
514.
Hersdiel 336
Herts 12.
Herz 42. 821.
Hubert 279.
Hobbes 118. 498.
HOfler 325.
Hoffmann 182.
HoUmann 20. 87. 89.
Huber 49.
Hofeland 170.
V. Hnmboldt, W. 286
Hume 15. 47. 56. 86. 96.
99. 103 ff. 107 ff. 119.
130. 134. 187. 148. 266.
272. 286. 289. 290. 800.
308. 819. 353. 495. 497 ff.
501. 509. 515. 536.
Hutcheson 536.
Huxley 302.
JFachmann 205.
Jacob 316. 819.
Jacobi 14. 42. 48. 87. 88.
132. 290.
Jftsche 325. 326.
Jesus 24. 26. 71. 77 f. 92.
94. 97. 125. 129. 150.
196. 299. 300. 368.
Jung 151.
Just 224. 226 f. 282.
Kaftan 359.
Kahl 406.
Karl V. 296.
Kmtstudica IL
Karl XU. 296.
Kattenbusch 405. 411.
Kawerau 370.
Kehrbach 825.
Kern 222.
V. Ketteier 891.
Kiesewetter 102.
Knutzen 339.
Königsberger 262.
Kömer 311.
Krause 179.
V. Kügelgen 80.
Külpe 325.
Iiaas 57. 58.
Lambert 289. 321. 358. 502.
Lämmer 401.
Lange, F. A. 292. 302. 600.
Lange, K 217.
Lasch 35.
Lask 54. 444.
Lasswitz 330. 382. 388 f.
Leber 843.
Lehmann 219 f.
Leibniz 81. 44. 54. 56. 86.
98. 181 f. 189. 289. 299.
306. 319. 323. 332. 494.
501.
Lenz 871. 406. 420.
Lessing 81. 38 f. 56. 99.
130. 132. 139. 161 f. 319.
Lichtenberg 178.
Liebmann 246. 292.
Lipsius 35.
Locke 3L 38. 44. 66. 86. 98.
131. 132. 152. 268. 290.
300. 494 f. 497 f. 601 f.
Lommatzch 366.
Lösche.) 401.
Lotze 9. 17. 299.
Lubowski 348.
Lttdemann 33. 35.
Luthardt 388. 400. 401.
405 f. 408 f. 411. 416.
419. 471.
Luther 196. 306. 312.
351-492.
Lfitkens 406. I
Maeterlinck 294. 306.
MaiiAon 157 1
Maier, H. 825.
Medicus 54. 89. 103. 121.
125.
Melanchthon 66.
Mendelssohn 43. 67. 151.
289.
Menzer 209. 824 f.
Michaelis 34.
Mill, J. St. 232. 266. 288.
Moleschott 265.
Montaigne 297. 806.
Montesquieu 149.
MüUer, Joh. 262. 267. 268.
270. 496.
van Mons 308.
Musschenbroek 384.
Napoleon I. 196. 197. 296.
Natorp 214 f. 217 1220 ff.
231 f. 285 f. 248 1 826.
Newton 276. 280. 808.
Nietzsche 222. 294. 296,
528.
Nikolovius 821.
Oettingen 388.
Oerstedt 804.
Oken 804.
Pascal
Paulsen 38. 39. 41. 146.
359. 360. 391.
Paulus 877. 883. 402. 406.
Persius 320. 341. 685.
Pestalozzi 214. 224. 886.
241. 248.
Piaton 76. 108 f. 208. 817.
218. 301. 495.
Plessing 56.
Poincaré 888.
Pope 318.
du Prel 302.
Priestley 224.
Protagoras 494. 495.
87
m
Baioke 61. 66. 78. 7? 1
84. 89. 68. 106 ft 416.
114 ft 187. 188. 161.
164. 166.189. 1441146.
149.151.178.17411771
806. 888 ff. 607.
8dd884i
BAimanii 86. 88. V^
B«in 888 1 886. 8«1 1
BdnlMfd 186. 141
Beiiiliold64.166.a67.618.
606.618.
Bmn65. 66.
Biokert 18. 84. 86. 116.
444.
Bi0hl854.
Riamimn 877.
Btjhdc 886.
Bitelü 144. 4<X>.
^QMnki^ni 681. 888. 660.
Booa^a 89. 48. 86. 106.
118. 184 1 184. 149.
Bnskiii, J. 296.
Sabatier 35.
Salwttrck 213.
Singer 21. 29. 140. 152.
SoheUing 17. 121. 140. 159.
168. 177 ff. 185. 193.
261 f. 272.293.299. 301.
806. 511.
Schüler 9. 198 f. 280. 286.
294. 311. 317. 319. 320.
439.
Scbleiermacher 15. 27. 49.
73. 94. 112. 140. 152.
193. 2 3 f.
SdüOtcer 48. 106.
SolinM 848.
Schmidt 884.
Sehneider 886.
SchOokh 86.
Sehopenhanar 7. 808 1
861. 87L 888. 800. 806.
868. 485. 44s. 446. 60a
504. 515.
Sohabert 881.
Schalte, Fr. Alb. 87.
Schiilie(AeneatdemM)157.
Schweiteer 80. 81. 88. 6}.
41. 78. 152.
Seinlar 87. 78. 128.
Shafteabozy 41. 180. 586.
Shakeapeare 800.
Sigwart 9.
Simmel 88
Smith 47. 149.
Sokratea 109. 298.
SOmering 60. 688.
Spencer 80a 808.
Spener, C. 612.
Spener, J. 886.
Spinosa 89. 108. 17& 198.
493.
Stammler 216. 825.
Stattler 547 ff.
Staudinger 214.
Stäudlin 60. 58. 63. 100 ff.
Strauss, D. Fr. 369. 375.
Stumpf 324.
Swedenborg 303 ff.
Tauler 357.
Tetens 508.
Thomas 330.
Thomas von Aquino 359.
Thnkydidee ig|.
Titius 861 H
Tol^i84.
ToriedU886.
Troeltadi 860.
Tmcfot 118. 181. m. MI
Vsener 118.
TaUen 884.
Yaihiiiger 88. 141. 1«.
178. 809. 816.
Vogt^K. 865.
Vogt,Th.«8|.
Voltaire 56. 86. 89. 88.161
119. 184. 18a 184. m.
149. 179.
Weber 189 1
Wegelin 47. 106.
Weiaa 186. 144.
Weisse 861.
de Wette 140.
Wil]ii|ani|,0.888.»4.8fr.
886.888. 845.
Windelband 91. 108. 8S5.
406. 444.
WissQwa 3^
Wolff 37. 138. 88a
WöUner 62. 71. 196.812 t
Wolke 319.
Zeller 384. 600.
ZiUer 228.
Zöllner 388.
Zoroaster 17%
BégÎ4tAr.
677
Besprochene Kantische Schriften.
tokdanken von der wahren Schätzung
der lebendigen Kräfte etc. (1747)
276. 294. 832.
TCTntersuchong der Frage, ob die Erde
in ihrer Umdrehung um die Axe,
wodurch sie die Abwechselung des
Tages und der Nacht hervorbringt,
einige Veränderung seit den ersten
Zeiten ihres Ursprungs erlitten habe
(1767) 334.
Die Frage, ob die Erde veralte, physi-
kalisch erwogen (1764) 334.
Allg. Naturgeschichte u. Theorie des
Himmels etc. (1766) 386 ff.
Keditationum quarundam de igne suc-
cincta delineatio (1766) 338.
Principiorum primorum cognitionis
metaphysicae nova dilucidatio (1756)
338.
Ton den Ursachen der Erderschütte-
mngen bei Gelegenheit des Unglücks,
welches die westlichen Länder von
Europa gegen das Ende des vorigen
Jahres betroffen hat (1766) 176. 338.
Cheschichte und Naturbeschreibung der
merkwürdigsten Vorfälle des Erd-
bebens, welches am Ende des
1766 sten Jahres einen grossen Teil
der Erde erschüttert hat (1756) 338.
Fortgesetzte Betrachtung der seit eini-
ger Zeit wahrgenommenen Erder-
schtttterungen (1766) 338.
lietaphysicae cum geometria junctae
usas in philosophia naturali, cuius
specimen L continct monadologiam
physicam (1766) 339.
^eue Anmerkungen zur Erläuterung
der Theorie der Winde (1766) 839.
Beobachtungen über das Gefühl des
Schönen und Erhabenen (1764) 615.
Xritik der reinen Vernunft (1781) 10.
18. 29. 168 ff. 164 f. 176. 186. 263.
269. 284. 327 f. 440. 604. 612.
Prolegomena (1783) 327. 638 ff.
Idee zu einer allgemeinen GheschichtQ
in weltbürgerlicher Absicht (178^
60. 105. 118. 126. 29a
Rezensionen von J. G. Herders Ideen
zur Philosophie der Geschichte der
Menschheit (1786) 49. 118.
Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten (1786) 327. 429. 433. 436 f.
444. 456 f. 469. 472.
Mutmasslicher Anfang der Mensoheo-
geschichte (1786) 81. 86. 106.
Was heisst sich im Denken orientieren
(1786)? 44. 105.
Metaphysische Anfangsgründe der
Naturwissenschaft (1786) 177. 327.
Kritik der praktischen Vernunft (1788)
29. 182. 429 ff. 433 ff. 440 ff. 460 ff.
Kritik der Urteilskraft (1790) 8. 17 f.
30. 177. 327. 440.
Ober eine Entdeckung, nach der irfle
neue Kritik der reinen Vamimft
durch eine ältere entbehrlich ge-
macht werden soll (1790) 85.
Die Religion innerhalb der Grenzen
der blossen Vernunft (1783) 87 ff.
55 ff. 62 ff. 65 ff. 70 ff. 80 ff . 86 f.
90 ff . 96 f. 106. 116 ff. 127 ff. 138.
140 ff. 177. 326. 327. 448 ff . 466 ff .
462 ff. 467 ff.
Ober den Gemeinspruch: das mi^ in
der Theorie richtig sein, taugt fber
nicht für die Praxis (1793) 62.
Das Ende aller Dinge (1794) 82f. 96. 186.
Über Philosophie überhaupt (1794)
92 ff. 326.
Zum ewigen Frieden (1796) 81. 88. 112.
126. 214.
Von einem neuerdings er^qbeneu vor-
nehmen Tone in der Philotopbit
(1796) 44. 88 f.
Die Metaphysik der Sitten (1797) 177.
Der Streit der Fakultäten (1798) 89.
66. 69 f. 67. 73. 78. 86. 87 ff. 105.
134 ff. 170. 327. 461 ff. 468 f. 467.
678
Register.
Anthropologie in pragmatischer Hin-
sicht (1796) 44. 68. 104. 126. 188.
886. 826 f.
Logik (1800) 886. 828.
Physische Geographie (1602) 826. 388.
Pftdagogik (1608) 181. 218 ff.
Opus postumum 62. 108. 169. 172 f. 176.
179.
Lose Bl&tter (Beicke) 86, 65. 73. 7« &
88 f. 92 f. 98. 105 ff. 118 ff. 131.186.
141. 145 f. 148 ff. 176 ff. 607.
Reflexionen (Erdmann) 62. 78. 100 ft
115. 127 ff. 148. 176.
Briefe 41 ff. 51 ff. 54 ff . 60 ff. 64 ft
98. 161 f. 311 ff. 316 f. 324.
Verfasser besprochener Novitäten.
Apel 660.
Busse 619.
Christiansen 646.
Cohen 627.
Beasoir 556.
Dietcgen 566.
grdmann 528.
Falckenberg 681.
TVeudenthal 624.
IViedmann 662.
Haber 561.
Jerosalem 68a
Kaftan 621.
Kaiweit 569.
Katser 568.
Koppelmann 564.
Kûhnemann 522.
Külpe 529.
laebmann 526.
Lipps 622.
Martins 529.
Menzer 556.
Messer 664.
Hatorp 628.
Neumann 560.
Picavet 657.
Riehl 526. 547.
Schmid 668.
Walter 619.
Wernicke 569.
Windelband 520.
Verzeichnis der Mitarbeiter.
Aall 535-537.
Apel 560—561.
T. Aster 821—341.
Bauch 196— 2ia 351-492.
Friedmann 662—663.
€>ille 555-566.
Bemann 165—195.
Hiokson 547-^58.
Hnber 561—562.
Kmlirat 659—660.
K<^pelmann 664—665.
Ktthnemann 246—260.
laebmann 1—3.
Medicos 645-547. 66&M7.
Messer 564.
M eunann 660.
Pauken 286—291.
Renner 518—534.
Biehl 261—285. 488—617.
Bunie 292-806.
fikhmid 307-320. 56^^64.
SitEler 538—639.
Standinger 211—246. 566
-567.
Sülze 553—665.
Troeltsch 21—154.
Taihinger842-360.63»-M4.
Weber 568.
Wernicke 669.
Windelband 5— »l
atiMlwti yrmm C A. Kmmmmmwt h ۥ.,
a. a.