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Full text of "Kant-Studien"

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V 


Alle  Rechte  vorb  ehalten. 


125591 


INHALT. 

Kant«  Zar  Erinnerangf  an  den  12.  Februar  1804.  Von  0.  Lieb- 

maun 1 

Nach  hundert  Jahren.    Von  W.  Windelband     ....        5 

Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  Zugleich 
ein  Beitrag  zu  den  Untersuchungen  über  Kants  PhUo- 
Sophie  der  Geschichte.    Von  E.  Troeltsch    ....      si 

Immanuel  Kants  philosophisches  Vermächtnis.  EünOe- 
denkblatt  zum  hundertjährigen  Todestag  des  Philo- 
sophen.   Von  F.  Heman 166 

Die  Persönlichkeit  Kants.    Von  B.  Bauch 195 

Kants   Bedeutung   ftkr   die   Pädagogik   der  Gegenwart. 

Zum    Streite    Natorps    mit   den  Herbartianem.      Von 

F.  Staudinger 211 

Herder    und    Kant   an    ihrem    100jährigen   Todestage. 

Von  E.  Eühnemann        246 

Helmholtz  in  seinem  Verhältnis  zu  Kant.    Von  A.  Riehl  861 

Zum  hunder^ährigen  Todestage  Kants.    Von  F.  Paulsen  286 

Emerson  und  Kant.    Von  6.  Runze       298 

Kant  im  Spiegel  seiner  Briefe.    Von  F.  A.  Schmid  .    .  a07 

Die    Neue   Kant-Ausgabe    und   ihr    erster   Band.     Von 

E.  V.  Aster 381 

Erklärung  der  vier  Beilagen.    Von  H.  Vaihinger     .     .     348 

An  die  Freunde  der  Kantischen  Philosophie.  Bericht 
über  die  Begründung  einer  „Kantgesellschaft"  und  die 
Errichtung  einer  „Kantstiftung"  zum  hundertjährigen 
Todestage  des  Philosophen.    Von  H.  Vaihinger    .    .     344 

Luther  und  Kant.    Von  B.  Bauch 351 

Anfänge    des    Kritizismus.    —    Methodologisches    aus 

Kant.    Von  A.  Riehl 498 

Reden  zur  Feier  der  Wiederkehr  von  Kants  100.  Todes- 
tage.   Von  H.  Renner öl8 


ÏV  Inhalt 

Zwei     dänische    Festgaben     zum    Kan^ubiläum.       Von 

A.  Aall       , 53Ö 

Zur  Blattversetzung  in  Kants  Pralegomena.    Von  Sitzler     533 

Mit  einem  Nachwort,    Von  H.  Vaihinger 5S9 

Recensionen  : 

Chrbtiani^enf  Broder»   Erkenntnistheorie  und  Psychologie  des 

Erkennens»    Von  F.  Medicus     ......,,.<.      544 

Kietü,  AloiB,  Zur  Einftilirung  in  die  Philosophie  der  Gegen- 
wart..   Von  J.  W.  A,  Hickson  . 647 

Ratxer,  Ernst,  Das  Problem  der  Lehrfreiheit  und  seine  Lösung 

nach  Kant    Von  Sülze 553 

DeBBoir-Metixer,  Philosophisches  Lesebuch.    Von  A.  Gil  le      .      555 

Dietzgen,    Joseph,   Das  Wesen  der  menschlichen   Kopfarbeit 

etc.     Von  F.  Staudinger       656 

Emmannel   Kant     Critique   de  la  raison   pratique,   nouvelle 

t  rad w  c  ti  on  par  Fran  coii?  F  i  c  a  v  e  t.  2*  édition.  Von  E,  v.  A  s  t  e  r      567 

Selbstanzeigen  : 

Wernicke,  Die  Theorie  des  Gegenstandes  und  die  Lehre  vom 
Dinç-an-sich  bei  Immanuel  Kant.  S,  559.  —  Kai  weit,  Kantg 
Steffung  zur  Kirche.  S.  559.  —  Nenmann,  Goethe  und  Fichte. 
S.  560,  "  Ape!,  Imnjanuel  Kant  S.  560.  —  Haber,  Benedikt 
Stattler  und  sein  Anti-Kant.  S.  561.  —  Fnedmanni  Die  Lehre 
vom  Gewissen  in  den  Systemen  des  ethischen  Idealismus» 
S.  662.  —  Schtnid.  Mchtes  Philosophie  und  das  Problem  ihrer 
inneren  Einheit,  S,  563,  —  Messer,  Kants  Ethik.  S.  564.  — 
Roppetmann,  Kritik  des  sittlichen  Bewusstaeins.    S.  564. 

Mitteilungen 566 

Kant  und  moderne  Kunst.  —  Kantmedaille.  —  Gründung  einer 
poinischen  philosophischen  Gesellschaft,  —  Ein  Éant-Fund.  — 
Kan  t-GesellBch  aft . 

Register: 

Sach-Regieter 571 

Personen-Register 574 

Besprochene  Eantische  Schriften      , 577 

Verfasser  besprochener  Novitäten     .    .    • tie 

Verzeichnis  der  Mitarbeiter B7g 


J(ant. 


jfur  €rinnerung  an  den  12.  jFebruar  1804. 


\ierganglichkeifl  —  erloschen  ist  das  Sicht 

€rstarrt  das  JJuge,  das  die  Welt  durchdrungen, 
Çeknickt  der  flügel,  der  im  JJngesicht 
3>er  Jl^enschheit  sich  zum  Rimmel  aufgeschwungen; 
6m  Sonnenuntergang  - ,  und  J/acht  umflicht 
J)en  Geist,  der  sich  zum  Cag  emporgerungen- 
Wo  ging  er  hin?    J)orthin,  woher  wir  kamen, 
Jns  Jlll,  der  Zoten  Çruft,  des  Sehens  ^a/ne/7. 

Prosa  war  er,  6edankenenergie, 
Cam  nüchtern  klar,  ganz  frei  von  2)ichtertrâumen, 
Und  doch  voll  kühnster  S^^^^pferphantasie, 
J)ie  sich  vertheilt  in  unermessnen  Räumen, 
Um  alter  Dinge  Was  und  Wo  und  Wie 
Jn  der  Begriffe  fangnetz  einzusäumen, 
J)ann  aber  zu  sich  selbst  zurückzulenken, 
Sic^  in  das  innere  î^âthsel  zu  versenken. 

KaatatudltB  IX.  l 


€ln  hoher  Seist,  ein  mächtiger  Verstand, 
j)er  mit  des  7>enkens  scharfgeschliffnen  Waffen 
7>en  Weg  zurück  ins  alte  Chaos  fand 
Und  aus  dem  Chaos  neu  die  Welt  geschaffen, 
Von  7>ogmen  frei,  hat  forschend  er  erkannt. 
Wie  sich  Jfatur  vermocht  hat  aufzuraffen, 
Wie  aus  dem  Jfebeldunst  durch  Urgewalten 
f^laneten,  Jrtonde,  Sonnen  sich  gestalten. 


2>och  Grössres  noch  stand  diesem  Çeist  bevor 
Was  ist  Jfatur?  und  was  sind  Wirklichkeiten? 
JJus  unserm  Jnnern  taucht  das  ^ild  empor, 
7>as  BUd  der  Welt  in  Räumen  und  in  Jeiten; 
Gleichwie  der  Künstler  aus  sich  selbst  hervor 
Sein  Werk  erzeugt,  uns  Staunen  zu  bereiten. 
So  muss  dein  Jluge  schauend  selbst  gestalten. 
Was  dich  umgibt,  was  wir  für  wirklich  halten. 


Çeheimnisvolle  Werkstatt  der  Vernunft/ 
€in  innres  Weben,  Schaffen  und  Srkennen 
Erzeugt  in  ewig  neuer  Wiederkunft 
2>as  grosse  /^hânomen,  das  „Welt"  wir  nennen; 
€r  hat's  erlauscht,  hoch  über  aller  3^^ft 
Wie  sich  Çedankerj  einigen  und  trennen. 
Und  wie  das  Jch  beharren  muss  und  dauern. 
Um  sich  ein  Universum  aufjumauern. 


Und  aus  dem  Jnnern  stammt  das  ^ellge  auch. 
Dem  wir  uns  beugen,  das  wir  tief  verehren. 
Wodurch  wird  dir  ÇesetK  der  Sitte  Brauch? 
Wer  kann  unbändiges  J{ancfe/n  dir  verwehren? 
Jst's  nicht  der  inneren  J^athselstimme  à(auch, 
â(erz  und  Çewissen,  was  dich  muss  beiehren? 
2>u  selbst  musst  denkend  fühlen,  prüfend  richten, 
3>ir  aufzubaun  dein  à(eiligthum  der  ff  lichten. 


Unsterblichkeit?  —  was  hält  dem  Wechsel  Stand? 
Jfationen  stürzen,  Chrone,  7>ynastieen, 
fluth  folgt  der  €bbe,  und  aus  J)/teer  wird  Sand, 
Dogmen  zergeh n,  Systeme,  Cheorieen; 
Selbst  was  ein  grosser  Çeist  entdeckend  fand. 
Verfallt  dem  Schulgezänk  der  Coterieen. 
2>och  Cold  bleibt  Cold,  wie's  auch  sich  umgestaltet, 
Wahrheit  bleibt  wahr,  wenn  auch  die  form  veraltet. 

Jena.  Otto  Liebmann. 


Nach  hundert  Jahren. 

Von    Wilhelm    Windelband. 


Wenn  man  auf  die  Bewegungen  der  Philosophie  in  den 
letzten  Jahrzehnten  zurückblickt  und  in  der  Gegenwart  Umschan 
hält,  so  ist  man  wohl  versucht,  sich  staunend  zu  fragen,  ob  denn 
wirklich  schon  ein  Jahrhundert  dahingegangen  ist,  seit  der  grosse 
Denker  in  Königsberg  die  müden  Augen  schloss:  so  unmittelbar 
lebendig  sind  uns  seine  Probleme  und  Begriffe,  so  unablässig 
arbeiten  wir  noch  heute  an  der  Ausspinnung  der  Gedanken,  die 
er  angelegt  hat.  Und  diese  historische  Macht  der  kritischen 
Philosophie  zeigt  sich  gerade  darin,  dass  sie  nicht  etwa  in  der 
Gestalt  eines  geschlossenen  Schulverbandes  weiter  gewirkt  hat, 
sondern  die  ganze  Breite  des  wissenschaftlichen  Lebens  befruch- 
tend durchdrungen  hat.  Zahlreiche  eindrucksvolle  und  gedanken- 
mächtige Systeme  der  Philosophie  sind  iu  der  direkten  Weiterent- 
wickelung aus  dem  Kritizismus  erwachsen;  aber  keines  von  ihnen 
hat  dauernd  die  Allgemeinheit  und  Tiefe  der  Wirkung  auszuüben 
vermocht  wie  das  Kantische.  Dabei  erleben  wir  den  eigenartigen 
Vorgang  —  ein  leuchtendes  Beispiel  von  den  sachlichen  Notwen- 
digkeiten, die  in  der  Geschichte  der  Philosophie  walten  —,  dass, 
nachdem  Kants  Lehre  ihren  zweiten  Siegeszug  gehalten  hat,  aber- 
mals aus  ihr  kräftige  Triebe  hervorzubrechen  beginnen,  die  jenen 
der  ersten  Entwickelung  verwandt  und  ähnlich  sind. 

So  stehen  wir  heute,  nach  hundert  Jahren,  wiederum  vor  der 
Frage:  was  soll  aus  dem  Kritizismus  werden?  Ein  unver- 
gleichlicher Reichtum  von  bedeutsamen  Prinzipien  ist  in  Kants 
Denken  vereinigt,  ohne  seine  völlige  und  entschiedene  Ausgleichung 
gefunden  zu  haben:  je  energischer  sich  die  neue  Entwickelung 
darin  vertieft  hat,  um  so  unabweisbarer  ist  auch  für  sie  die  For- 
derung geworden,  zu  dem  Ganzen  neu  Stellung  zu  nehmen. 
Wiederum  stehen  wir  vor  der  Frage:  wie  müssen  wir  Kant  recht 
verstehen,  um  über  ihn  hinauszugehen? 


6 


W.  WindelTiand, 


Der  Durchbriich  dieser  Einsieht,  deu  wir  gepfeiiwärtig  fest- 
stellen können,  hängt  mit  allgemeinen  Wandhiiigen  des  wissen- 
schaftlicben  (feistes  zusammen,  die  sich  auch  in  dem  Wechsel  der 
Auffassuüg  des  Kritizismus  jsrespiegelt  haben.  Der  neue  Auf-_ 
Schwung  der  Kantisehen  Lehre,  der  um  das  Jahr  1860  herum  h 
gann,  fiel  in  die  Zeit  des  Tiefstands  von  idiilosophischem  Interesse,' 
der  fast  leidenschaftlichen  Ablehnoiig  metaphysischer  Fragen  niid 
der  Beschränkung  auf  die  Arbeiten  der  SpezialWissenschaften. 
Aus  dieser  Stimmung  heraus  ergriff  man  begierig,  namentlich  von 
Seiten  der  Naturforscher,  eine  philosophische  Lehre,  welche  die 
Unerkennbarkeit  der  Dinge-an-sich  festzulegen  und  zugleich  das 
Recht  einer  mathematischen  Theorie  der  Erfahrungswelt  zu  be- 
gründen versprach.  So  wirkte  Kant  zunächst,  gerade  wie  bei 
seinen  Lebzeiten,  wieder  mit  den  negativen  Ergebnissen  seiner 
Erkenntnislehre.  Damals  war  es  eine  Kontrastwirkung  gewesen 
gegen  die  Alleswisserei  des  Rationalismus  und  des  Popularphilo- 
sophentums,  die  der  Alles  ZermaJmende  ein  für  alle  Mal  abthat: 
jetzt  war  es  eine  Erscheinung  der  Sympathie,  mit  der  man  sich 
an  der  philosophischen  Rechtfertigung  des  eigenen  Empirismus 
freuen  zu  dürfen  glaubte.  Dieser  Sachlage  entsprach  es,  dass 
die  ersten  Auffassungen  und  llmwandhmgen.  die  der  „Neukantia- 
nismus** erfuhr,  den  „Antimetaphysizismus"  besonders  betonten 
und  sich  selbst  z.  T.  relativistischen  und  positivistischen  Neigungen 
zuwandten. 

Allein  diese  ^agnostische**  Stimmung  hielt  nicht  Stand.  Von 
Jatirzehnt  zu  Jahrzehnt  wuchs  auch  in  den  besonderen  Wissen- 
schaften wieder  das  Bewusstseiu  von  der  Aufgabe  und  dem  Be- 
dürfnis, die  Fülle  des  thatsächlichen  Materials  und  die  Foimeu 
seines  wissenschaftlichen  Zusammenhanges  in  letzter  Instanz  unter 
allgemeinere  Prinzipien  zu  ordnen,  und  unter  der  Einwirkung  so 
bedeutsamer  Prinzipien  wie  der  Erhaltung  der  Energie  oder  der 
Entwickeinng  mehrten  sich  die  Versuche,  das  Ganze  der  gewon- 
nenen Einsichten  wieder  in  grossen  Linien  zusammenzuschauen. 
Je  kräftiger  dabei  die  erneuerte  Erkenntnistheorie  des  Kritizismus 
behilflich  gewesen  war,  den  Materialismus  zu  überwinden,  der  halb 
bewnsst,  halb  unbewnsst  die  naive  Grundmeinung  w^ährend  jener 
Ebbe  des  philosophischen  Denkens  ausgemacht  hatte,  umsoinelu' 
erstarkten  im  Gegensatz  dazu  alle  Denkmotive,  welche  auf  die 
Erfassung  eines  geistigen  Lebensgrundes  der  Dinge,  im  Gedanken, 
in   der  Phantasie,    im  Willen    gerichtet   sind.     Mit   diesen  Wand- 


Nach  hundert  Jahren.  7 

langen  aber  vereinigten  sich  heftigere  Strömungen  in  weiteren 
Kreisen.  Durch  gewaltige  Geschicke  und  mächtige  Umwälzungen 
des  öffentlichen  Lebens  im  Tiefsten  aufgeregt,  von  fieberhaftem 
Bedürfnis  nach  neuer  Selbstgestaltung  ergriffen,  verlangte  die 
Volksseele  nach  dem  bestimmten  und  bestimmenden  Ausdruck 
dessen,  was  sie  bewegt:  in  Kunst  und  Litteratur  hastet  und  tastet 
sie  nach  dem  Ungewöhnlichsten,  um  sich  daran  und  darin  zu 
formen,  und  in  der  Bedrängnis  ihrer  socialen  und  religiösen  Er- 
regungen erheischt  sie  gebieterisch  von  der  Philosophie  das,  ohne 
das  noch  keine  Zeit  zu  schöpferischer  Gestaltung  gelangt  ist  :  eine 
Weltanschauung.  So  haben  wir  es  erfahren,  wie  am  Ende  des 
neunzehnten  Jahrhunderts  Wissenschaft  und  Leben  den  „Mut  der 
Wahrheit**  wiedergefunden  haben,  den  Hegel  an  seinem  Anfange 
verlangt  und  den  es  verloren  hatte. 

Diese  Entwickelung  hat  der  „Neukantianismus"  mitgemacht: 
ihr  gemäss  sind  in  der  Auffassung  und  Darstellung,  wie  in 
der  selbständigen  Weiterbildung  der  Kantischen  Lehre  Schritt  für 
Schritt  mehr  die  positiven  Elemente  zur  Geltung  gekommen,  und 
das  allgemeine  Interesse  am  Kritizismus  geht  heute,  wie  vor 
hundert  Jahren,  wieder  auf  die  Frage,  ob  er  uns  in  seinem 
Grundriss  und  in  seiner  Ausführung  als  philosophische  Weltan- 
schauung genügen  kann,  ob  er  die  Tragkraft  und  die  Erweiterungs- 
fähigkeit besitzt,  um  den  Reichtum  des  neuen  Lebens  in  sich  auf- 
zunehmen und  sich  einzugliedern. 

Dass  diese  positiven  Momente  und  ihre  Zusammenfassung  zu 
einer  Weltanschauung  bei  Kant  vorhanden  sind,  steht  ausser  Frage. 
Die  geschichtliche  Wucht  seiner  Erscheinung  wäre  ohne  dies  un- 
begreiflich. Und  seine  ersten  grossen  „metaphysischen"  Nach- 
folger, die  ganze  Generation  von  Fichte  bis  zu  Herbart  und 
Schopenhauer,  haben  diese  Momente  sich  nicht  entgehen  lassen: 
sie  haben  daraus  die  Bausteine  gemacht,  mit  denen  sie  die  kühnen 
Gebäude  ihrer  metaphysischen  Systeme  aufrichteten;  jedes  darunter 
hat  seine  Grundlage  in  der  Weltanschauung  des  „kritischen'' 
Philosophen, 

Darum  ist  der  Streit,  ob  Kant  ein  Metaphysiker  war,  ein 
Wortstreit  gewesen.  Es  ist  offenkundig,  dass  Kant  das,  was  er 
Wissenschaft  nannte,  mit  zwingenden  Gründen  als  unfähig  zur 
Überschreitung  der  Grenzen  der  Erfahrung,  zur  Erkenntnis  der 
Dinge-an-sich,  zum  Aufbau  einer  Metaphysik  im  Sinne  der  „Wis- 
senschaft  vom  Übersinnlichen''   erwiesen  hat.    Aber  es  ist  ebenso 


s 


W,  Windelband, 


offenkuDcli^,  dass  er  von  der  Realität  der  „intelligiblen  Welt**  un- 
erschütterlich überzeuisft  war,  ued  dass  er  voü  ihreiTi  Inhalt  und 
Leben,  wie  von  ihren  Beziehungen  zur  Erscheinun^welt  sehr  be- 
stimmte und  wohldurchdachte  Vorstelhino^on  hatte.  Der  ganze 
Bestand  seiner  philosopliischeu  Lebeosarbeit  enthält  eine  streng 
geschlossene  und  vullig  ausgebildete  Weltanschauung:  und  sie  liegt 
nicht  etwa  nur  keiniailig  zu  Grunde  oder  andeutungsweise  im 
Hintergninde,  sondern  offen  ausgesprochen  zu  Tage.  Wer  das 
gewaltigste  seiner  Werke,  die  Kritik  der  Urteilskraft,  begiîffen 
hat^  kann  darüber  nicht  im  Zweifel  sein,  ebensowenig  aber  auch 
über  die  Bedeutnng,  die  der  Philosoph  dafür  in  Anspruch  ninirat. 
Diese  Weltanschauung  gilt  ihm  nicht  als  eine  bloss  persönliche 
Meinung,  sie  ist  nicht  seine  Privat  meta  physik,  die  ebenso  wie 
vielleicht  andere  neben  der  Erf a krungs Wissenschaft  nur  so  her- 
laufen wollt«  oder  dürfte,  —  sondern  er  verlangt  für  sie  die  „not- 
wendige und  allgemeine  Geltung''  in  nicht  geringerem  Masse  als 
für  die  mathematisch-naturwissenschafthche  Erkenntnis  der  Er- 
scheinungen. Die  Postulate  der  praktischen  Vernunft  beziehen  sich 
auf  ihre  intelligiblen  „Gegenstände"  gerade  so  notwendig  wie  die 
Anscîiauungeu  uinl  dit*  Kategorien  auf  die  Sinnenwett,  und  die 
heuristischen  Prinzipien  der  teleologischen  Urteilskraft  erfassen  das 
Ganze  der  Natur  und  des  Lebens  gerade  so  allgemeingiltig,  wie 
die  „Grundsätze"  auf  die  Erfahrung  angewendet  werden.  Die 
Aufdeckung  ihrer  transscendentalen  Geltung  gehört  zu  den  Auf- 
gaben der  kritischen  Philosophie  mindestens  in  demselben  Grade 
wie  die  Untersuchung  über  die  Bedingungen  der  Erfahrung.  Was 
man  in  den  Anfängen  des  Neukantianismus  vielfach  nachSchopen- 
hauei-sehem  Rezept  als  Beiwerk  angesehen  hat,  erweist  sich  als 
int-egrierender,  vielleicht  als  der  inhalthch  bedeutsamere  Teil  der 
kritischen  Philosophie,  die  eben  deshalb  der  systematischen  Gliede- 
rung und  des  architektonischen  Aufbaues,  den  ihr  Kant  gegeben 
hat  und  geben  musste,  auch  in  ihrer  weiteren  Entwickelung  nicht 
entraten  kann.  Nur  so  bleibt  die  Einheit  und  die  gegenseitige 
Ergänzung  der  negativen  und  der  positiven  Ergebnisse  gewahrt, 
welche  das  eigenartige  Wesen  des  Kritizismus  ausmacht. 

Denn  eben  darin  besteht  dessen  Grösse  und  Grigiualität, 
dass  Kant  uns  gelehrt  hat,  Li  runde  und  Id  halte  der  Weltanschau- 
ung, welche  die  Philosophie  bieten  soll,  nicht  bloss  in  der  wissen- 
schaftlichen Theorie,  sondern  im  gesamten  Umfange  des  Vernunft- 
lebens  zu  suchen.     Der  Einschlag,   den  früher  die  „Metaphysiker* 


1 


Nach  hundert  Jahren.  9 

ans  naiven  Antrieben  des  ethischen,  ästhetischen  oder  religiösen 
Bewusstseins  in  das  wissenschaftliche  Begriffsgewebe  eingewirkt 
haben,  um  ihre  philosophische  Gesamtanschauung  zu  gestalten,  wiid 
von  Kant  mit  vollem  kritischen  Bewusstsein  in  seiner  Unentbehr- 
lichkeit  erkannt,  in  seiner  Begründung  gerechtfertigt,  in  seinen 
Anforderungen  geregelt:  eben  damit  aber  wird  das  Mass  der  An- 
sprüche beschränkt,  welche  die  wissenschaftliche  Theorie  für  sich 
allein  im  Rahmen  der  philosophischen  Weltanschauung  zu  erheben 
befugt  ist.  Das  ist  im  letzten  Grunde  das  Wesen  der  Epoche, 
welche  Kant  in  der  Geschichte  des  menschlichen  Denkens  gemacht 
hat:  und  darin  besteht  die  aktuelle  Bedeutung  seiner  Lehre  für 
ein  Zeitalter,  das,  wie  das  gegenwärtige,  wieder  einmal  die  Ur- 
rechte der  Gefühle  und  der  Triebe  in  der  Gestaltung  seines  ge- 
samten Lebens  und  damit  auch  seiner  intellektuellen  Überzeugungen 
anerkannt  sehen  möchte. 

Diese  Bedeutung  steht  um  so  höher,  als  für  den  leidenschaft- 
lichen Überschwang  und  die  naturalistische  üngezügeltheit  solcher 
Bestrebungen,  wie  sie  sich  ja  sattsam  in  der  popularphilosophischen 
Litteratur  unserer  Tage  breit  machen,  kein  besseres  Heilmittel  ist 
als  die  kritische  Philosophie  selber.  Denn  die  Bedeutsamkeit 
ethischer  und  ästhetischer  Bedürfnisse  für  die  philosophische 
Weltanschauung  erkennt  Kant  nun  und  nimmermehr  in  ihrer  un- 
mittelbaren, einzelnen,  historisch  bedingten  individuellen  Erschei- 
nungswelse, sondern  nur  in  der  Gestalt  an,  welche  sie  für  die 
Vernunft,  d.  h.  in  allgemeingiltiger  und  notwendiger  Weise  be- 
sitzen. Die  Elemente  der  „Metaphysik",  wie  er  sie  verlangt, 
sind  sehr  verschieden,  aber  gemeinsam  ist  ihnen  allen  die  not- 
wendige und  allgemeine  Geltung  für  die  „Vernunft",  für  das  „Be- 
wusstsein überhaupt".  Allein  eben  deshalb  sind  in  der  kritischen 
Philosophie  die  Gründe  der  AUgemeingiltigkeit  und  Notwendigkeit 
in  den  verschiedenen  Bereichen  des  Wirklichen  verschieden:  für 
die  Metaphysik  der  Erscheinungen  liegen  sie  im  Wissen,  für  die 
Metaphysik  des  Übersinnlichen  und  seiner  Beziehungen  zur  Erfah- 
rungswelt liegen  sie  im  „vernunftnotwendigen"  Glauben  und  im 
vemnnftnotweudigen  „Betrachten".  Nicht  jedes  Glauben  oder  jedes 
Betrachten  hat  dies  metaphysische  Recht,  sondern  nur  das  not- 
wendige und  allgemeingiltige,  das  vernünftige.  Dies  aber,  das  allein 
berechtigte,  aus  der  Fülle  der  individuellen  und  historischen  Ansprüche 
herauszuschälen,  bleibt  auch  bei  Kant  die  Sache  der  Philosophie,  der 
„wissenschaftlichen"  Klärung;  —  ja,  es  ist  ihre  vornehmste  Aufgabe. 


W,  Windelband» 


Dauiit  siehm  wir  an  dem  Puukte»  wo  die  von  Kant  gej 
Form  dfis  Kritizismus  über  sich  selbst  hinausweist.     Ihis  ,, Wissen*' 
das  er  forträiinieu  rnusste,  um  dem  Glauben  Platz  zu  machen,  di 
„Wissenschaft**»    deren  Anrerbt    an    die  Metaphysik    in  der  Ki-itik 
d(*r  reineu  Vernnnft  gewognen  und  zu  leicbt  gefunden  wird,  —   si€(^| 
umspaunen  nicht  den  ^mv/jin  Umfanfir  der  tbeoretlscheü  Erkenntnis- 
arbeit.    Kants    Betriff   der  ,. Wissenschaft**    ist  —  historisch  sehr 
begreiflich  —  eingeengt  auf  den  methodischen  Charakter  der  theo«<^| 
retischen  Naturforschung,  bestimmt  durch  das  Newtonsche  Prinzip.  ~ 
Das    kommt    am    dentlichsten    und    schroffsten  bekannthch  in  den 
„Metaphysischen  Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft"  zu  Tage, 
wo    es   heisst,    dass    „in   jeder  besonderen  Naturlehre  nur  so  vielfl 
eigentliche    Wissenschaft   angetroffen    werden   könne,    als  darin 
Mathematik  anzutreffen  ist",  und  wo  deshalb  ('hemie  uud  Psycho- 
logie  von  der  „eigentlichen"  Wissenschaft  ausgeschlossen  werden. 
Aber    auf   denselben    Begriff   der  ,, Wissenschaft."    sind   die  Kritik 
und  die  Prolegomenen  gestimmt:  es  ist  lediglich  der  der  Gesetzes-^ 
Wissenschaft.  ^M 

Heutzutage  ist  dieser  Begriff  der  Wissenschaft  zu  eng. 
Auf  die  Chemie  fände  Kant  ihn  jetzt  vielleicht  anwendbar,  auf 
die  Psychologie  —  trotz  aller  psychophysischen  Gesetze  —  im 
Ganzen  wohl  kaum:  und  doch  zählen  wir  auch  sie  zu  den  eigent- 
lichen W^isseuschaften.  In  noch  ganz  anderem  Sinne  aber  gilt  das 
von  den  historischen  Disciplinen,  die  von  Kant  erst  recht  aus  der 
Sphäre  der  Wissenschaft  ausgeschlossen  werden.  Wir  können  \ 
ihm  daraus  keinen  Vorwurf  machen:  denn  bis  zu  seiner  Zeit  gab 
es  in  der  That  wesentlich  nur  eine  Kunst  der  Geschichtsschreibung 
und  grosse  Künstler  darin;  aber  die  Geschichte  zählte  eben  zu 
den  belies  lettres,  sie  war  noch  keine  Wissenschaft.  Dazu  ist  sie 
erst  nach  Kant  geworden.  Es  gehurt,  zu  den  eigentümlichsten 
Erscheinungen  im  geistigen  Ijcben  des  neunzehnten  Jahrhunderts,  ! 
dass  neben  der  imposanten,  namentlich  nach  aussen  eindrucksvollen 
Entfaltung  der  Naturwissenschaft  als  ein  stillerer,  aber  stetiger 
und  zielsichei'er  Vorgang  die  Erhebung  der  Historie  „zum  Range 
einer  Wissenschaft"  einhergegangen  ist.  W^ir  haben  jetzt  die  Ge- 
schichte  als  Wissenschaft,  die  Kant  noch  nicht  gekannt  hat.  Und 
das  ist  nicht  etwa  daher  gekommen,  dass  ein  paar  universalistische 
Methodologen  und  ein  paar  theoretisierende  Historiker  —  niemals 
die  grossen  —  gelegentlieh  das  Verlangen  gestellt  haben,  auch 
auf   geschichtliche  Vorgänge    das   Prinzip   induktiver   Aufsuchung 


Nach  hundert  Jahren.  11 

von  „Gesetzen**  anzuwenden.  Nein,  diese  Scientifikation  der 
Historie  verdanken  wir  einzig  und  allein  dem  kritischen  Geiste, 
der  sich  von  der  phantasievollen  Betrachtung  der  Vergangenheit 
her  allmählich  und  mühsam  zu  streng  methodischer  Forschung  er- 
zogen und  die  dazu  erforderlichen  Verfahrungsweisen  und  Hilfs- 
mittel mit  vorsichtiger  Anpassung  an  die  eigenartige  Natur  der 
Gegenstände  bis  in  das  Einzelne  hinein  systematisch  ausgebildet 
hat.  Das  schliesst  nicht  aus,  dass  in  den  abschliessenden  Gesamt- 
darstellungen des  wissenschaftlich  Erworbenen  und  Gesicherten 
die  künstlerische  Genialität  des  grossen  Forschers  ihr  Recht  be- 
behält: gilt  doch  dasselbe  auch  für  die  überschauenden  Leistungen 
des  grossen  Naturforschers  und  für  den  Abschluss  alles  Wissens 
in  dem  Sinne,  wie  es  Schiller  in  den  „Künstlern**  als  höchstes 
Ziel  geschildert  hat. 

Diese  grosse  neue  Thatsache  der  Existenz  einer  historischen 
Wissenschaft  verlangt  nun  von  der  kritischen  Philosophie  in  erster 
Linie  eine  Erweiterung  des  Kantischen  Begriffs  vom  Wissen: 
die  Historie  fordert  neben  der  Naturforschung  ihr  Recht  in  der 
theoretischen  Lehre.  Auch  ihr  Wesen  und  ihr  Erkenntniswert 
will,  ihrer  wirklichen  Arbeit  gemäss,  verstanden  und  beurteilt 
werden.  Damit  verschieben  sich  Inhalt  und  Form  der  Wissen- 
schaftslehre um  ein  beträchtliches  gegenüber  der  Behandlung,  die 
sie  von  Kant  erfahren  hat  und  unter  den  Voraussetzungen  seiner 
Zeit  erfahren  musste.  In  der  reinen  Logik  und  in  der  Methodo- 
logie kann  man  schon  seit  langem,  seit  Lotze  und  Sigwart,  die 
prinzipielle  Berücksichtigung  der  Formen  und  Aufgaben  des  histo- 
rischen Denkens  neben  dem  naturwissenschaftlichen  beobachten: 
in  der  Erkenntnistheorie  ringt  das  gleiche  Bestreben  mit  steigen- 
dem Erfolge  nach  Anerkennung. 

Dabei  aber  stossen  wir  von  Neuem,  wenn  auch  in  veränderten 
Begriffsformen,  auf  denselben  Gegensatz,  den  Kant  für  die  philo- 
sophische Weltanschauung  in  seiner  Weise  zwischen  dem  Wissen 
einerseits  und  dem  vemunftnotweudigen  Glauben  und  Betrachten 
andererseits  gemacht  hat.  Wir  finden  die  eine  Art  des  wissen- 
schaftlichen Denkens,  die  der  Naturforschung,  durchgängig  und 
wesentlich  durch  das  Bedürfnis  bestimmt,  aus  den  Thatsachen  der 
Erfahrung  dasjenige  herauszuheben,  was  im  Sein  und  Geschehen 
sich  immer  gleich  bleibt:  an  der  logischen  Funktion  des  Gattungs- 
begriffs entwickelt  sich  die  Forschung  nach  dem,  was  im  Wechsel 
der  Thatsachen   beharrt   einerseits  als  bleibendes  Sein,   anderseits 


W.  Windelbacd. 


ate   st-etige    Reiherifolg^e    der  Ereignisse  —  nach    den    Subst^inzen 
und    den    Gesetzen    ihrer   Thätigkeit.      Das    „Herauspräparieren" 
dieser  Ordnung  ans  dem  Gewirr  der  Eindrücke  gilt  mit  Recht  als  ^ 
bewunderiuigswiirdige  Leistung    des  wissenschaftlichen    Intellekts  :  V 
aber   eben    damit    ist   schon  gesagt,    dass  das  so  gewonnene  Bild 
d<'S    Wirklich*ni    nur    einen  Ansschnitt    ans    di^r    „iinühei*sehbare!i 
Mannigfaltigkeit'*    des  Thatsächlicheii    bedeuten  kann.     Wenn  dies 
Bild    auch   —    um    die    Terminologie   von    Heinrich    Hertz    anzu- 
wenden —  so   adae(i«at  wie  möglich  ist,   so  giebt  es  doch  gerade 
dann  nur  diejenigen  Momente  der  Wirklidikeit  wieder,  welche  sich 
zu    der  Subsumtion    unter  die  (Tattungsbngriffe  des  Seins  und  des 
Geschehens    eignen.      Die    l(*bendige    Wirklichkeit    des    Einzelnen  ■ 
geht  in  diese  allgemeinen  Begriffe  nicht  ein  :    sie  lassen  sich  dar- 
auf  anwenden,   aber  sie   ei^chöpfen  sie  nicht.     Die  so  gewonnene 
„Erkenntnis"*  ist  also  nach  der  Auswahl,  die  unter  den  Thatsachen 
getroffen  wird,    und   nacli  der  Beziehung,    die  zwischen  ihnen  ge^  J 
sucht    wird,    eine  Konstruktion    der  Vernunft,    die    ihre  eigene  lo-^ 
gische    (und  mathematische)    Gesetzmässigkeit    in  den  Thatsachen 
entdeckt    mnl    daraus    heranspräpariert  hat.     Die  „Natur"  als  Ob- 
jekt der  Wissenschaft   ist  ein  Kosmos,    dessen  Zusammenhatïg  wir 
nur  ans  den  Eorrnen    unserer  Vernunft   in  Ansclianuugen  und  Be- 
griffen Torzustelh*n  vei  mögen  :  —  genau  wie  es  Kant  gelehrt  hat. 
Aber  ganz  dasselbe   gilt  auch  für  die  Geschichte  -  -   mutatis 
mutandis.     Auch    der   Historiker    geht    nicht  darauf  aus,    das  ein- 
zelne zeitliche  Sein  und  Geschehen  in  seiner  ganzen  individuellen 
Mannigfaltigkeit    zu    beschreiben;    er  denkt  um  so  weniger  darau, 
als    er   das    garni  cht  auszuführen  vermöchte.     Auch  er  trifft  viel- 
mehr aus  der  unendlichen  Masse  des  geschichtlich  Gegebenen  eine 
Auswahl,    weh'he    keineswegs    nur   durch  das  Schicksal  der  ITber- 
liefernng,    sondern    vielmehr    wesentlich    <lurcli    das  hiteresse    be- 
stimmt  ist,    das   die  einzelnen  Momente  der  Vergangenheit  zu  er- 
w^ecken  geeignet  sind.     Unsäghch  vieles  „geschieht",   was  niemals 
zur  ,. Geschichte''  gehören  wird.     Das  Interesse  aber,  das  die  Über- 
lieferung wie  die  Auswahl  des  Historikers  leitet,   Imngt   in  dit*sem 
Ealle  an  den  Wertbestimmuugen  des  Menschenlebens;    nur  das  ist 
histortsclie   Thatsache,     was    irgendwie    für   die   Erinnerung    der 
(Tattung,  für  ihi'f  w^rtbestimmte  Selbsterkenntnis  bedeutsam  werden 
kann.     Ebenso    aber    sind    die  Beziehungen,    in  die  der  Historiker 
die  Thatsachen  zu  bringen  hat,  wesentlicli  durch  dasselbe  Interesse 
bestimmt:  er  sucht  nicht  Gattungsbegriffe,   sondern  Gestalten  und 


Nach  hundert  Jahre  il 


13 


Gestalteakomplexe,  die  durch  solche  Wertbeziehimgeii  beding-  sind. 
Nur  als  Mittel  im  Verständuis  solcher  Znsamineiihänge  benutzt 
auch  die  histürische  ForschuDg  das  Wissen  von  geuen^llen  Vor- 
hältuisseu,  das  sie  zum  Teil  den  Gesetzeswissenschaf  ten  entlehnen 
kann,  zum  andern  Teil  aber  selbst  erst  zu  diesen  Zwecken  ge- 
winnen muss.  Auch  die  „Geschichte"  also  als  Objekt  der  Wissen- 
schaft ist  ein  geonlnètor  Zusammenhang,  den  wir  uns  auf  dem 
Grundriss  allgemeingiltig'er  und  notwendiger  Vemuuftinteressen 
aus  dem  Gegebenen  herauszu[»riipariercn  vermtigen:  denn  nur  da- 
durch unterscheidet  sich  dabei  die  Wissenschaft  von  der  indiil- 
duellen  Erzählung,  dass  sie  an  Stelle  der  persönlichen  luteressen 
des  Einzelnen  die  allgemein  und  notwendig  geltenden  Werte  zum 
Prinzip  der  Auswahl  und  der  Beziehung  zwischen  den  Thatsachen 
macht. 

Diese  Erweiterung  der  erkenntuistheoretischen  Untersuchung 
von  den  naturwissenschaftlichen  auf  die  historischen  Disciplinen, 
wie  sie  am  besten  von  Rickei-t  entwickelt  und  foiTimliert  worden 
ist,  führt  nun  unmittelbar  darauf,  für  das  „systematische  Geschäft" 
der  kritischen  Philosophie  die  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit  der 
Werte,  denen  die  Geschichte  den  Charakter  als  Wissenschaft  ver- 
dankt, als  das  vollkommen  ebenbürtige  und  parallele  Problem  zu 
der  Apriorität  der  intellektuellen  Formen  erscheinen  zu  lassen, 
auf  denen  sich  die  Naturwissenschaft  aufbaut.  Die  „Kritik  der 
historischen  Vernunft"  leitet  mit  sachlicher  Notwendigkeit  und 
Selbstverständhclikeit  zu  den  Aufgaben  der  Ethik,  Ästhetik  und 
Religionsphilosopbie  hinüber:  sie  leistet  als  Bindeglied  dasselbe, 
was  Kant  durch  die  Konstruktion  der  transscendentalen  Dialektik 
und  durch  die  Beziehungen  zwischen  Ideen  und  Postulaten  er- 
reichen wollte,  Sie  zeigt  aber  dabei,  dass  nicht  nui'  für  eine  sog, 
Metaphysik  des  Übersinnlichen,  sondern  schon  für  die  unerlässliche 
Ginndlage    der   historischen  Wissenschaften    die   notwendige    und 

remeiue  Geltung  der  Werte  erforderlich  ist. 
Daher  wird  die  Begründung  dessen,  was  Kant  den  vernunft- 
notwendigen Glauben  der  praktischen  Vernunft  und  die  vernunft- 
notwendige Betrachtung  der  reflektierenden  Urteilskraft  genannt 
hat.  d.  h.  die  philosophische  Theorie  der  Werte  zum  Mittelpunkt 
der  Aufgaben,  die  der  Fortentwickelung  und  systematischen  Aus- 
bildung des  Kritizismus  aus  der  gegenwärtigen  Lage  der  Wissen- 
schaften ebenso  wie  aus  den  allgemeinen  Zuständen  des  geistigen 
Lebens    erwachsen.      Denn    gerade    in  letzterer  Hinsicht  hat  sich 


14 


W.  Windelband, 


aus  leidenscliaft lichen  Impulseii,  aus  Gefühlen  des  Kraftübei-schusses 
und  der  ExpansioDsbedürftig^keit,  wie  aus  den  unausbleiblichen 
Kontras tstimmimgeu  decadeuter  Impotenz  in  dem  allgemeinen  Be- 
wusstseiu  unserer  Tage  ein  Individualismus  und  Relativismus  ent- 
wickelt, der,  nachdem  er  sich  eine  Zeit  lang  ausgetobt,  bereits 
nach  seiner  Erlösung  von  sich  selbst  zu  seufzen  und  zu  di*äugen 
begonnen  hat. 

Solche  Strömungen  verdienen  um  so  mehr  Beachtung,  als  sie 
in  gewissem  Masse  gegenüber  den  formalen  Bestimmungen  der 
kritischen  Moralphilosophie  im  Rechte  sind.  Diese  Bestimmungen 
sind  eben  in  der  That  rein  formal.  Alle  Werte,  die  Kants  Ethik 
anerkennt,  hängen  an  der  Übereiustinmiung  des  Besonderen  mit 
allgemeinen  Normen.  In  genauem  Parallelismus  zu  dem  Aprioris- 
mus  seiner  Erkenntniskritik  gesteht  Kant  auch  im  Felde  der  Sitt- 
lichkeit die  allgemeine  und  notwendige  Geltung  nur  dem  Oenerellen 
zu:  dem  Sittengesetz  als  einer  Maxime,  die  als  Naturgesetz  ge- 
wollt werden  kann.  Und  aus  diesem  Prinzip,  das  keinen  andern 
Inhalt  mehr  haben  soll  als  die  Gesetzmässigkeit  selbst,  ist  ge- 
flissentUch  jede  sachliche  Bestimmung  ausgeschlossen.  Auch  die 
Persönlichkeit,  auf  deren  Autonomie  so  starkes  Gewicht  gelegt 
wird,  empfängt  ihre  ^ Würde"  nur  von  ihrer  selbstgewollten  Ideo- 
tifLkatiou  mit  dem  Vernunftgesetz,  ihren  Wert  nur  von  der  durch 
sie  vollzogenen  Verwirklichung  des  allgemeinen  Pflichtgebots:  ihre 
„Freiheit"  besteht,  dem  i-»ositiven  Begriffe  nach,  nui*  in  der  Fähig- 
keit, sich  durch  nichts  anderes  als  diu^ch  das  Gesetz  bestimmen 
zu  lassen.  Diese  Maximenmoral  Kants  ist  schon  in  der  ersten 
Zeit  einem  ästhetisch  bewegten  und  stürmisch  aufgeregten  Ge- 
schlecht unbequem  gewesen  und  unzulänglich  erschienen:  Jacobi, 
die  Romantiker,  auch  Fichte  haben  diese  Fesseln  der  Gesetz- 
mässigkeit zu  sprengen  gesucht,  und  Schiller  ist,  so  nahe  er  dem 
Prinzip  der  Pflichtmässigkeit  bleiben  wollte,  doch  dem  Zauber  der 
Unmittelbarkeit  in  der  ^sittlichen  Natur**  des  Individuums  nacli- 
gegangen. 

Allein  alle  diese  Versuche,  die  generellen  W^ertformen»  auf 
die  Kant  die  allgemeingiltigen  Gründe  des  moralischen  Urteils 
ausschliesslich  ziirückzufüln-en  für  nötig  befunden  hatte,  durch  den 
Hinweis  auf  den  gesicherten  Bestand  individueller  Werterschei- 
uungen  zu  ergänzen,  —  sie  blieben  entweder  im  Halben  hangen 
oder  sie  stellten  die  Allgemeiugiltigkeit  und  Notwendigkeit  des 
Wertbevvusstseins   in    Frage.     Erst   in  dem  gi-ossen  Sinne,    womit 


4 


Nach  hundert  Jahren.  15 

Schleiermacher  die  Ethik  lehrte,  den  ganzen  Umfang  des  histo- 
rischen Lebens  zu  umspannen  und  begrifflich  zu  bemeistem,  fand 
sie  auf  diesem  unermesslich  erweiterten  Arbeitsfelde  auch  das 
Verständnis  der  lebendigen  Inhalte,  welche  als  einmalige,  indivi- 
duelle Verknüpfungspunkte  der  generellen  Norm-Beziehungen  neben 
diesen  selbst  in  ihrer  Eigenart  den  Gegenstand  allgemeiner  und 
notwendiger  Wertung  ausmachen.  In  dieser  Richtung  allein  kann 
die  wesenhafte  Entwickelung  der  kritischen  Ethik  gesucht  werden: 
nnr  im  unmittelbaren  und  methodischen  Zusammenhange  mit  der 
Geschichtsphilosophie  kann  sie  daran  arbeiten,  das  formale  Gerippe 
genereller  Maximen  mit  dem  Fleisch  und  Blut  lebendiger  Wertin- 
halte zu  umkleiden.  So  vermag  sie  auch  den  gesättigten  Reichtum 
der  Hegeischen  Lehre  vom  objektiven  Geiste  in  sich  aufzunehmen 
und  die  Verwirklichung  der  „Ideale"  als  das  Wesen  alles  histo- 
rischen Geschehens  zu  verstehen.  Eben  dadurch  wird  sie  zu  einer 
Philosophie  der  Gesellschaft,  zu  einer  kritischen  Theorie  des  Gat- 
tungslebens: denn  der  Eigenwert  der  individuellen  Gebilde  der 
Geschichte  besteht  in  ihrer  eigenartigen,  nur  an  ihnen  in  dieser 
Weise  möglichen  Beziehung  zum  Ganzen,  zu  der  durch  die  Jahr- 
tausende hin  auseinandergelegten  Entfaltung  der  Humanität.  Dar- 
auf allein  beruht  die  allgemeine  und  notwendige  Geltung  ihres 
Wertes.  Sie  zum  Bewusstsein  zu  bringen  und  den  Rechtsgrund 
der  historischen  Wissenschaft  darin  blosszulegen,  ist  die  wesent- 
liche Aufgabe  der  Ethik  als  allgemeiner  kritischer  Werttheorie 
und  zugleich  der  unentbehrliche  Ertrag,  den  sie  für  die  philoso- 
phische Weltanschauung  zu  liefern  berufen  ist. 

Denn  nichts  anderes  kann  doch  schliesslich  die  Aufgabe  der 
philosophischen  Weltanschauungslehre  —  sagen  wir  doch  ruhig 
der  Metaphysik  —  sein,  als  uns  darüber  zu  verständigen,  welches 
Recht  wir  haben,  dem  objektiven  Weltbilde,  das  uns  die  Wissen- 
schaften als  das  notwendige  und  allgemeingiltige  Denken  der 
Menschheit  darbieten,  die  Kraft  zur  Erfassung  der  Realität,  der 
absoluten  Wirklichkeit  zuzutrauen.  Das  ist  die  Frage  der  Erkennt- 
nistheorie und  —  der  „Metaphysik".  Denn  von  dem  Verhältnis 
des  objektiven  Denkens  zum  Realen  kann  man  nicht  reden,  ohne 
vom  Realen  zu  reden  —  selbst  wenn  man  es  das  unerkennbare 
Ding-an-sich  nennt.  Die  „Metaphysik  des  Wissens"  —  so  hat 
Kant  mit  Hume  die  kritische  Philosophie  genannt  —  ist  auch  eine 
Metaphysik  der  Dinge.  Aber  freilich  keine  solche,  welche  aus 
ontologischen  Prinzipien  ein  eigenes  Begriffssystem  in  der  „freien 


W.  Wîndelband, 


1 

J 


Luft  der  Einbildungskraft**  ausführt,  sondern  eine  solche,  welche 
aus  den  Argumenten  der  Sonderwissenschaften,  die  sie  in  ihrem 
Bestände  als  objektives,  allgemein  und  notwendig  geltendes  Denken 
unangetastet  und  unerschüttert  bestehen  lässt,  die  kritische  Frage 
entscheidet,  in  welchem  Sinne  sie  selbst  eine  „Erkenntnis  der 
Wii'klichkeit"  zu  sein  beanspruchen  dürfen,  Das  ist  das  Funda- 
ment, welches  Kants  Kritiken  ein  für  alle  mal  für  alle  weitere 
Philosophie,  für  „eine  jede  künftige  Metaphysik,  die  als  Wissen- 
schaft wird  auftreten  können,**  in  unverrückbarer  Sicherheit  gelegt 
haben. 

In  diesem  Sinne  st^ht  die  kritische  Philosophie,  wenn  es 
sich  um  die  letzten  Fragen  handelt,  vor  dem  grossen  Gegensatze 
der  Gesetzeswissenschaften  und  der  Wertwissenschaften,  —  der 
Naturforschung  und  der  Hist<)rie.  Jede  von  ihnen  enthält  in  der 
Aaswahl  und  in  den  Beziehungen  der  Thatsachen  ein  Produkt  des 
objektiven  Denkens,  das  in  seiner  gesamten  Struktur  durch  die 
verschiedenen  Zwecke  dieses  allgemeingiltigen  und  notwendigen 
Denkens  bestimmt  ist:  auf  der  einen  Seite  eme  Ordnung  von 
Gattungsbegriffen,  auf  der  andern  ein  System  von  Werten.  Jeder 
einzelne  Bestandteil  unseres  Erfahmngsmaterials  kann  unter  jede 
der  beiden  wissenschaftlichen  Bearbeitungs weisen  fallen,  und  ein 
grosser  Teil  der  besondereo  Discipllnen  wendet  sie  in  einer  Ver- 
bindung an»  über  die  man  sich  durchaus  nicht  immer  und  überall 
prinzipiell  klar  ist  und  bei  der  einzelnen  praktischen  Forschungs- 
arbeit auch  nicht  klar  zu  sem  braucht.  Diese  Verhältnisse  fest- 
zustellen ist  Sache  der  Methodologie,  deren  Geschäft  ja  kein  an- 
deres ist  und  sein  kann,  als  die  Wissenschaften  über  den  log-ischen 
Sinn  und  Wert  dessen  zu  verständigen,  was  sie  in  unmittelbarer 
Bewältigung  ihrer  Aufgaben  eigentlich  thun.  Aber  wenn  so  die 
beiden  Grundfoinnen  der  Auswahl  und  Beziehung  von  Thatsachen 
am  Einzelnen  angewendet,  sehr  verschiedene  und  scheinbar  weit 
auseinander  Hegende  Systeme  der  Erkenntnis  des  Wirklichen  er- 
geben,  so  erwächst  für  die  Philosophie  eben  damit  durch  die  Aii^ 
Wendung  derselben  Dualität  der  Behandlungsweiseu  auf  dt 
Ganze  die  höchste  ihrer  Fragen:  vne  verhält  sich  das 
der  Gesetze  zu  dem  Reich  der  Werte? 

Das    ist,    wie  man  sieht,    genau  das  Problem  der  Kritiw 
Ürteilski-aft,  das  m  den  Kantischen  Formeln  auf  die  VereiuK         det 
von  Natur  und  Zweckmässigkeit,    von  Notwendigkeit  und  ^^^|.vel 
hinausHef     Unter  den  Denkern  des  neunzehnten  JahrhuiA<^    \^\iS 


Rev 


*^ 


^V 


Nach  hundert  Jahren.  17 

dies  Problem  keiner  so  klar  gesehen  und  so  deutlich  formuliert 
wie  Lotze:  seine  ganze  Lehre  des  „teleologischen  Idealismus" 
lauft  —  genau  wiederum  im  Sinne  der  Kritik  der  Urteilskraft  — 
darauf  hinaus,  in  der  Gesamtheit  der  Gesetze  das  System  der 
Formen  zu  sehen,  durch  welche  sich  eine  inhaltliche  Welt  der 
Werte  verwirklicht.  Das  beruht  —  wiederum  wie  in  Kants  „Meta- 
physik" —  auf  der  tiefen  Einsicht,  dass  aus  den  allgemeinen 
Formen  des  Geschehens,  den  ewig  sich  gleich  bleibenden  Gesetzen, 
niemals  der  lebendige  Inhalt  herstammen  oder  begriffen  werden 
kann,  den  unser  Wertbewusstsein  in  der  Wirklichkeit  sucht  — 
und  findet. 

Aber  der  übergreifende  Begriff,  der  in  dieser  Weise  das 
Reich  der  Gesetze  mit  dem  der  Werte  verbindet,  ist  der  der  Ver- 
wirklichung, die  höchste  Kategorie  der  Weltbetrachtung  ist  das 
Verhältnis  des  Mittels  zum  Zweck:  es  ist  das  Prinzip  der  Ent- 
wickelung.  Seine  beherrschende  Stellung  tritt  in  der  Kritik  der 
Urteilskraft  deutlich  genug  hervor:  es  ist  das  heuristische  Prinzip 
für  die  vernunftnotwendige  Betrachtung  des  „Lebens"  :  es  ist  der 
leitende  Gedanke  in  jenen  gewaltigen  Paragraphen  am  Ende  des 
Werkes,  wo  alle  Linien  der  Kantischen  Philosophie  zusammen- 
laufen, wo  der  zweckvolle  Zusammenhang  der  Natur  als  der  ge- 
setzmässigen  Ordnung  der  Erfahrungsinhalte  und  der  wertbe- 
stimmte Ablauf  der  ganzen  Menschengeschichte  mit  einander  als 
die  fortschreitende  Verwirklichung  des  Reiches  Gottes  auf  Erden 
„vemunftnotwendig"  betrachtet  werden. 

An  dieser  Stelle  setzt  mit  Schelling  in  erster  Linie  Hegels 
Gedankenarbeit  in  der  Weiterbildung  des  Kritizismus  ein:  hier 
gelangt  der  historische  Charakter  der  neuen  Weltanschauung  zum 
entscheidenden  Durchbruch.  Damit  freilich  kommt  der  Kantischen 
Erkenntnislehre  gegenüber  eins  der  schwierigsten  Probleme  zum 
Vorschein,  das  hier  nur  angedeutet  werden  mag.  Wenn  die  Ent- 
wicklung als  das  reale  Wesen  des  Lebens  und  des  Universums 
vernunftnotwendig  betrachtet  werden  soll,  —  wie  ist  damit  die 
Phaenomenalität  der  Zeit  vereinbar?  Wenn  die  Werte  in  der 
Verwirklichung  begriffen,  nur  in  ihr  zu  verstehen  sind,  so 
muss  das  Geschehen,  das  ohne  Zeit  nicht  denkbar  ist,  eine  wesent- 
liche Bestimmung  des  Wirklichen  selber  sein,  so  darf  es  nicht 
bloss  als  Form  der  Anschauung  gelten.  So  stellt  die  Lehre  von 
der  Entwicklung  —  das  liesse  sich  auch  au  Kants  Ethik  und 
Religionsphilosophie   aufweisen  —  die  parallele   Behandlung   von 

KftnUtadien  IX.  9 


18  W.  Windelband, 

Kaum   und  Zeit,  wie  sie  die  transscendentale  Ästhetik  eingefährt 
hat,  unausweichlich  in  Frage. 

Die  Bedeutung  des  Prinzips  der  Entwicklung  für  die  moderne 
Naturwissenschaft  ist  allgemein  bekannt:  weniger  verbreitet  und 
anerkannt  ist  die  Einsieht,  dass  es  ein  Wertprinzip  ist.  und  doch 
ist  das  kaum  deutlicher  zu  machen,  als  es  schon  Kant  in  der 
Kritik  der  Urteilskraft  eben  da  gethan  hat,  wo  er  die  bedeutr 
samsten  Anwendungen  dieses  Prinzips  auf  die  Gresamtanffassung 
des  organischen  Lebens  und  seines  geschichtlichen  Zusammen- 
hanges voraussehend  in  grossen  Linien  gezeichnet  hat.  Wer  sich 
darüber  keine  Gedanken  macht,  der  mag  wohl  naiv  von  höheren 
und  niederen  Formen,  von  der  Herausbildung  der  ersteren  ans  den 
letzteren,  von  normalen  und  abnormen  Bildungen  u.  s.  w.  reden: 
wollte  er  sich  darauf  besinnen,  nach  welchen  Kriterien  und  mit 
welchem  Rechte  er  solche  ihm  geläufigen  Unterscheidungen  an- 
wendet, so  würde  er  auf  die  Wertbestimmungen  stossen,  deren  er 
beim  Verständnis  des  Lebens  nun  und  nimmermehr  entraten  kann. 
Gerade  da^  wo  main  gemeint  hat«  nan  endlich  das  Wunder  aus 
der  Welt  des  Mechamsmus  verjagt  zu  haben,  dem  Geheimnis  der 
Zweckmässigkeit  auf  der  Spur  zu  sein,  -  gerade  da  hat  man  dem 
Gast  aas  der  Welt  der  Werte  das  Bürgerrecht  im  R^che  der 
Gesetzeswissenschaften  gegeben. 

In  der  frachtbaren  Anwendung  dieses  Prinzips  auf  die  Er- 
kenntnis der  Körperwelt  besteht  offenbar  der  wesentliche  Beitrag, 
den  die  Naturforschang  des  neunzehnten  Jahrhunderts  für  die 
philosophische  Weltanschauung  geliefert  hat.  Mit  der  Fonnnliening' 
des  Prinzips  von  der  Erhaltung  der  Energie  hat  âe  fast  gleich- 
zeitig die  allgemein  und  notwendig  gütige  Grundvoraussetzung 
aller  Gesetzeswissenschaft  auf  den  glucklichsten  Aasdruck  gebracht. 
Das  Prinzip,  dass  es  in  der  Welt  nichts  Neues  geben  könne«  dass 
alles  Sein  and  Geschehen  jedes  Moments  nicht  mehr  und  nicht 
weniger  enthalten  könne  als  das  des  vorhergehenden«  ist  darin  anf 
die  universell  brauchbarste  Weise  niedergelegt.  Aber  dieser  Vor- 
stellung von  der  quantitativ  gleichbedeutenden  Seihe  der  Um- 
wancilongen  fugt  nun  auch  im  Umkreis  des  körperUchen  Geschehens 
der  Entwicklungsgedanke  das  Verständnis  hinzu«  dass  der  qualitatrre 
Inhalt  dieser  Umwandlungen  nach  den  Werten  zu  beurteilen  ist, 
die  sich  darin  verwirklichen.  Diese  gegenseitige  Ergänzung  der 
beiden  grossen  Prinzipien  da:  Xaturforschung  scheint  das  Thema 
der  heutigen  Naturphilosophie  zu  werden^  welche  in  Energetik  und 


Nach  hunàert  Jahren.  19 

Neovitalismus  den  lang  geschmähten  Namen  wieder  zu  Ehren 
bringt.  Je  mehr  sie  mit  der  Erneuerung  einer  dynamischen  Auf- 
fassung von  unorganischer  und  organischer  Welt  zu  dem  Bestreben 
zurückkehrt,  hinter  den  quantitativ  bestimmten  Formen  des  Ge- 
schehens den  Inhalt  zu  suchen,  der  sich  darin  verwirklicht,  um  so 
mehr  nähert  sie  sich  auf  ihrem  Gebiete  der  von  Lotze  formulierten 
Aufgabe,  den  Weltlauf  zu  verstehen  und  ihn  nicht  bloss  zu  be- 
rechnen. 

So  drängt  Alles  darauf  hin,  dass  die  kritische  Philosophie, 
wenn  sie  die  Lebenskraft,  die  sie  ein  Jahrhundertlang  bewahrt 
hat,  auch  in  der  Bewältigung  der  intellektuellen  Bedürfnisse  der 
Gegenwart  bewähren  soll,  sich  fähig  erweisen  muss,  mit  ihrem 
Begriffsystem  eine  Weltanschauung  zu  tragen,  welche  den  geistigen 
Wertinhalt  der  Wirklichkeit  in  sicherem  Bewusstsein  zu  erfassen 
vermag.  Sie  hat  dazu  das  Recht  und  den  Beruf,  weil  sie,  den 
Kantischen  Grundlagen  gemäss,  die  Gründe  allgemein  giltiger  und 
notwendiger  Überzeugungen  in  dem  ganzen  Umfange  menschlicher 
Kulturthätigkeit,  im  sittlichen  und  geschichtlichen  Leben,  in  Kunst 
und  Religion  ebenso  wie  in  der  Wissenschaft  zu  suchen  angewiesen 
ist.  Und  diese  Aufgabe  zu  erfüllen,  dazu  stehen  die  Zeichen  der 
Zeit  nicht  ungünstig.  Schon  erleben  wir  —  fast  von  Tage  zu 
Tage  —  einen  rapiden  Niedergang  der  natui-alistischen  Weltan- 
schauung, die  nur  noch  gelegentlich  einmal  von  einem  der  Alten, 
die  nichts  mehr  gelernt  haben,  mit  glücklicher  Ahnungslosigkeit 
aufgetischt  wird.  Unsere  Jugend,  die  die  Macht  des  historischen 
Lebens  in  sich  fühlt,  —  sie  brennt  darauf,  ilire  gährenden  Wert- 
gefühle in  klare  Begriffe  umgesetzt  zu  finden.  Es  ist  alle  Hoff- 
nung, dass  der  gute  Kampf  um  einen  geistigen  Lebensinhalt,  wie 
ilin  Eucken  mit  edler  Leidenschaft  kämpft,  zum  Siege  führe. 

Wenn  wir  die  Weite  des  geistigen  Lebens,  das  das  ge- 
schichtliche ist,  für  den  letzten  Inhalt  aller  Wirklichkeit  ansehen, 
dessen  Verwirklichung  herbeizuführen  auch  den  Sinn  alles  natür- 
lichen Geschehens  mit  dem  ganzen  Apparat  seiner  gesetzmässigen 
Kausalität  bilde,  so  wird  wohl  erwideil:  das  sei  und  bleibe  An- 
thropologismus und  Anthropomorphismus.  Ob  man  denn  immer 
noch  nicht  gelenit  habe,  dass  unser  gesamtes  Geschlecht  mit 
seinem  Leid  und  Lust,  mit  seinem  Meinen,  Wünschen  und  Wollen 
in  einem  entlegnen  Winkel  des  Universums  eine  beschränkte,  auf 
kurze  Frist  gespannte  Existenz   abspielt!    Woher  das  Recht,  das 


20  W.  Windelband,  Nach  hundert  Jahren. 

was  uns  bewejft,   als  Werte   zu  betrachten,   die-  in   den  letzten 
Tiefen  aller  Wirklichkeit  wurzeln  sollen? 

Das   klingt   sehr   einsichtig  und   ist   doch   sehr  kurzsichtig. 
Gewiss,  der  Hegeische  „Weltgeist"  als  der  Inbegriff  der  Kategorien 
der  Wirklichkeit,    er   ist   in   Wahrheit   der  Menschengeist   in    der 
historischen  Entwickelung  seiner  inneren  Wertbestimmungen.     Aber 
gehört   nicht  zu   eben   diesen  Errungenschaften   des   historischeu 
Geistes   auch  jenes  Wissen   von    den   gesetzmässigen  Zusammen- 
hängen eines  in  Raum  und  Zeit  unendlich  ausgebreiteten  Weltalls, 
wozu  sich  Schritt  für  Schritt  die  sinnlich  beschränkte  Vorstellung 
unserer  physischen  Existenz    erweitert  und  umgebildet  hat?     Ver- 
danken  wir   dieser   unserer  eigenen  geistigen  Arbeit  den  Einblick 
in    die   physische  Ordnung  der  Dinge,    der  wir  anzugehören  über- 
zeugt sind,  fühlen  wir  uns  damit  in  einen  Zusammenhang  gerückt, 
der  weit  über  uns  selbst  hinausreicht,  so  erhebt  uns  das  geschicht- 
liche Leben   in    eine    geistige  Ordnung,   die   an   allen  Ecken    und 
Enden   über   sich  selbst   hinaus,    über  alles  menschliche  Drängen 
und  Treiben   in   eine  höhere  weltumspannende  Wirklichkeit  weist. 
Wenn  irgend  eine,  so  ist  es  die  Aufgabe  der  Religionsphilosophie, 
dies  zur  deutlichen  Besinnung  zu  bringen.    Wir  kennen  die  Werte 
der  geistigen  Wirklichkeit  nicht  anders  als  durch  unsere  Geschichte, 
in  der  sie  sich  zur  Geltung  herausgerungen  haben,  gerade  wie  wir 
die  Gesetze  des  physischen  Daseins  nicht  anders  kennen,  als  durch 
die    Formen   unseres   Intellekts,    die   wir   darin   walten  gefunden 
haben:  und  eben  deshalb  haben  wir  das  Recht  überzeugt  zu  sein, 
dass   auch   die  Werte   des  geistigen  Lebens,    zu  denen  unsere  ge- 
schichtliche Entwickelung  aufringt,   ebenso  lebendige  Wirklichkeit 
sind   wie   die  Sonnensysteme.    Mit   dem  Reiche  der  Gesetze,    die 
wir  denken,  und  mit  dem  Reiche  der  Werte,  die  wir  erleben,  wissen 
wir    uns   gleichermassen  in  den  grossen  Ordnungen  eines  Weltzu- 
sammenhanges,   die   mit   gleichem   Rechte   unsere  Ehrfurcht    ver- 
langen:   „der   bestirnte  Himmel   über   mir   und    das    Sittengesetz 
in  mir." 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie. 

Zugleich  ein  Beitrag 

zu    den   Untersuchungen   über  Kants  Philosophie   der  Geschichte. 

Von  E.  Troeltsch  in  Heidelberg. 

1. 
Die  Darstellungen   von  Kants  Religionsphilosophie. 

Die  Kantische  Eeligionsphilosophie  hat,  wie  das  bei  der 
Wichtigkeit  der  Sache  begreiflich  ist,  eine  grosse  Anzahl  von 
Darstellungen  gefunden.  Ich  hebe  unter  ihnen  nur  die  wichtigsten, 
sei  es  durch  Erschöpfung  des  Stoffes,  sei  es  durch  charakteristische 
Auffassung  ausgezeichneten,  hervor,  um  an  sie  eine  Reihe  von  Be- 
trachtungen anzuknüpfen,  die  mir  mit  den  bisherigen  Darstellungen 
nicht  erledigt  zu  sein  scheinen,  und  die  sich  mit  den  neuerdings 
hervortretenden  Untersuchungen  über  Kants  Verhältnis  zur  Ge- 
schichte berühren.  Sie  werden  zugleich  durch  die  Entwickelung 
der  wissenschaftlichen  Theologie  auf  eine  immer  eindringendere  Er- 
wägung der  historisch-prinzipiellen  Fragen  nahe  gelegt.  Es  sind  die 
Darstellungen  von  Kuno  Fischer  *),  Otto  Pf  leiderer«).  Albert 
Schweitzer*)  und  Ernst  Sänger;*)  an  sie  reihen  sich  die  für  die 
Entstehung  der  Kantischen  Religionsphilosophie  lehrreichen  Arbeiten 
von  Georg  Hollmann  *)  und  Emil  Amoldt,  «)  sowie  die  Auffassungen 
der  kantisierenden  Theologen  an. 


1)  Kuno  Fischer,  Immanuel  Kant  und  seine  Lehre.  Heidelberg  1898. 
Bd.  IL 

^  Otto  Pfleiderer,  Geschichte  der  Religionsphilosophie  von  Spinoza 
bis  auf  die  Gegenwart*.    Berlin  1893. 

3)  Albert  Schweitzer,  Die  Religionsphilosophie  Kants,  Freiburg  1899. 

*)  Ernst  Sänger,  Kants  Lehre  vom  Glauben.    Leipzig  1903. 

^)  G.  Hollmann,  Prolegomena  zur  Genesis  der  Religionsphilosophie 
Kants.    Altpreussische  Monatsschrift  1899. 

^)  £.  Arnoldt,  Kritische  Excurse  im  Gebiet  der  Kantforschnng 
Königsberg   1894;  Beiträge  zu  dem  Material  der  Geschichte  von  Kants 


22  E.  Troeltsch, 

Die  Darstellung  Fischers    ist   durch   die  Heranziehung  des 
ganzen    Materials   und   durch     das    Bestreben    nach    Herstellung 
möglichster  Einheit   im  Kantischen  Denken  charakterisiert.,    wobei 
diese  Einheit   im    Sinne  Kants   gemeint   ist  und  die  nachbildende 
Darstellung   etwaige  Brüche   und  Schwierigkeiten    aus    dem  Sinne 
Kants   heraus   zu    glätten  unternimmt.     Sie  spricht  so,    wie  Kant 
im  Interesse   der  îiinheit  und   stilistischen  Ausprägung  seines  Ge- 
dankens   hätte    sprechen    müssen,   wenn  er  auf  Diskrepanzen  hin- 
gewiesen   worden    wäre    oder  noch  bessere  Formeln  von  ihm  ver- 
langt worden  wären.     Für  Fischer  steht  demgemäss  die  Religions- 
philosophie  als  Abschluss   aller  Gedanken  im  genauen    Fortschritt 
des    mit    dem    Transscendentalismus    eröffneten    Gedankenganges. 
Sie   reiht  sich  als  Theorie  vom  reinen,   d.  h.  aus  der  apriorischen 
Selbstgesetzgebung   hervorgehenden    Glauben    unmittelbar    au    die 
Lehre   von  dem  reinen,  apriorischen  Moralgesetz,    wie  diese  ihrer- 
seits sich  an  die  Lehre  von  der  reinen,  die  Erfahrung  erkennenden 
Vernunftgesetzgebung  anschliesst,   während  der  reine,    auf  die  die 
Erfahrung   übersteigenden  Gegenstände   angewendete  Vernunftge- 
brauch  oder   die  Dialektik    die  Vernunftideen    von  Seele,  Freiheit 
und  Gott   in    der   bekannten  Schwebe  zwischen  Thesis  und  Anti- 
thesis   hält,    welche    durch   den  Hinzutritt   der  apriorischen  prak- 
tischen Erkenntnisse  mit  subjektiver  Allgemeingiltigkeit  zu  Gunsten 
der  Thesis  entschieden  wird.     Die  Darstellung  der  auf  den  reinen 
Vernunftglauben     begründeten    Religionsphilosophie      giebt     dann 
Fischer   im    engsten   Anschluss    an   die    „Religion    innerhalb    der 
Grenzen  der  blossen  Vernunft",  die  er  als  den  völlig  angemessenen 
Ausdruck  der  reifsten  Erkenntnis  Kants  über  diese  Dinge  ansieht, 
und    in    der  er  mit  der  prinzipiellen  Zuwendung  zu  dem  religions- 
philosophischen Thema  eine  ausserordentliche  Vertiefung  des  Kan- 
tischen Denkens  erkennt.     Diese  Vertiefung  stellt  sich  dar  in  der 
Abgrenzung  der  ReUgionsphilosophie   gegen   die  bis  dahin  mit  ihr 
noch  allzueng  verbundene  Moralphilosophie,  und  diese  Abgrenzung 
vollzieht  sich  durch  Einführung  des  Erlösungsbegriffes  mit  seinen 
metaphysischen,  wenn  auch  nur  praktisch-metaphysischen,   begriff- 
lichen  Korrelaten.     Durch   die  Einführung  des  Erlösungsbegriffes 

Leben  und  Schriftst^llerthätigkeit  in  Bezug  auf  seine  Religionslehre  und 
seinen  Konflikt  mit  der  preussischen  Regierung.  Königsberg  1898;  Kants 
Jugend  und  die  fünf  ersten  Jahre  seiner  Privatdocentur.  Altpreussische 
Monatsschrift  XVm,  1881.  Auch  die  erstgenannten  Abhandlungen  A  meldte 
sind  ursprünglich  in  dieser  Zeitschrift  erschienen. 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  23 

gelangt  Kant  nunmehr  auch  zu  einer  deutlichen  Klarstellung  seines 
Verhältnisses  zum  historischen  Christentum,  das  allein  innerhalb  der 
ganzen  Religionsgeschichte  eine  starke  innere  Beziehung  auf  die  reine 
Vernunftreligion  hat.  Der  Anschluss  an  das  (Christentum  geht  so- 
A^'eit,  dass  mit  ihm  nicht  bloss  die  Idee  der  Erlösung,  sondern 
auch  das  Zentraldogma  des  alten  Protestantismus,  die  Idee  des  die 
Erlösung  bewirkenden  stellvertretenden  Leidens,  als  logische  Kon- 
sequenz des  reinen  Vernunftglaubens  aufgenommen  wird.  Dieses 
stellvertretende  Leiden  bleibt  dabei  nicht  bloss  in  der  Sphäre  der 
Bewusstseinsimmanenz  als  Leiden  des  Wiedergeborenen  an  den 
Folgen  seiner  früheren  Sündhaftigkeit  im  Schmerz  der  Busse,  so 
dass  in  demselben  Subjekt  der  Wiedergeborene  die  Stelle  des 
Un  wiedergeborenen  vertritt;  vielmehr  lässt  Fischer  Kant  auch  die 
stellvertretende  Genugthuung  durch  ein  fremdes  sündloses  Leiden 
von  dem  Inhalt  des  Vernunftglaubens  aus  postulieren:  „diese 
Genugthuung  ist  nicht  unser  Verdienst,  sondern  ein  fremdes,  also 
eine  von  uns  unabhängige  Thatsache,  welche  wir  durch  Offenbarung 
erfahren  und  durch  den  Glauben  an  diese  Offenbarung  uns  an- 
eignen*" S.  843.  Damit  ist  das  für  die  ganze  Kritik  und  auch 
für  die  Religionsphilosophie  grundlegende  Prinzip  der  Bewusstseins- 
immanenz durchbrochen,  und  prinzipiell  die  Frage  nach  dem  Ver- 
hältnis der  bewusstseins-immanenten  und  durch  apriorische  Not- 
wendigkeit ihrer  selbst  sicheren  Religion  zu  den  Thatsachen  der 
Geschichte  gestellt.  Dieses  Problem  lässt  Fischer  denn  auch  in 
der  „Antinomie"  der  „Rel.  i.  d.  G.  d.  b.  V."  prinzipiell  als  eines 
der  Hauptprobleme  der  Kantischen  Religionsphilosophie  gestellt 
und  gelöst  werden.  Kant  konstruieit  darnach  das  Problem  in 
Analogie  mit  der  oft  befolgt-en  Methode  als  Antinomie  zweier  von 
derVernunft  aus  gleich  notwendigen  Sätze,  einer  die  historische 
Thatsache  der  Genugthuung  fordernden  Thesis  und  einer  die  Re- 
ligion rein  auf  den  bewusstseins-immanenten  Ablauf  der  Willens- 
bescbaffenheiten  einschränkenden  Antithesis.  „Hier  gilt  die  Thesis 
ebensogut  als  die  Antithesis,  vielmehr  gilt  zunächst  keine  von 
beiden.  Wir  haben  zwischen  Kirchen-  und  Religionsglauben  eine 
in  der  Natur  der  Sache  begründete  Antinomie  :  diese  bildet  den 
eigentlichen  Kern  und  Mittelpunkt  des  zwischen  Kirche  und  Reli- 
gion, Offenbarung  und  Vernunft  streitigen  Glaubens"  S.  H44.  Die 
Lösung  erfolgt  dann  dadurch,  dass  die  Anerkennung  eines  histo- 
rischen Individuums  als  Verwirklichung  des  sittlich-religiösen 
Menschheitsideals  nicht  durch  historischen  Autoritätsglauben,   son- 


24  E.  Troeltsch, 

d(5ni  (lurch  Messung  der  historischen  Erscheinung  an  detn  rational- 
notwendigen  Ideal,  durch  freie,  rational  notwendige  Bejahung 
dioHor  Persönlichkeit  als  Ideal,  zu  Stande  kommt.  „Wenn 
dcT  historische  (ïlaubc  durch  den  rationalen  bedingt  ist,  so  ist 
zwischen  Kirchen-  und  Religionsglaube  kein  Widerspruch;  gilt  da- 
go^cm  der  historische  Glaube  als  unbedingt  und  von  aller  Ver- 
nunfteinsicht als  unabhängig,  als  der  Glaube  an  ein  wunder- 
bares Kakturn,  so  ist  der  Widerspruch  von  Kirche  und  Religion 
niemals  zu  lös(»n*  S.  347.  So  ist  Kants  Religionspliilosophie  für 
Fisc.luu*  im  (iesanit(»rgebnis  eine  gegen  alle  andere  Religion  mit 
d(^ni  Christentum  gemeinschaftliche  Sache  machende  Theorie,  die 
innerhalb  des  (Christentums  mit  dem  Protestantismus,  innerhalb  des 
Protestantismus  b(»züglich  der  Pi-ädestination  mit  den  Lutheranern, 
b(v/iiglicli  der  Sakramente  mit  den  Reformierten  geht,  mit  keinem 
kirchli(*.hen  Dogma  sich  deckend,  aber  in  der  Gesamtrichtung 
christlich,  inhaltlich  am  nächsten  der  Umbildung  des  christlichen 
(Gedankens  durch  Lessiiig  verwandt,  aber  auch  Lessing  gegenüber 
völlig  selbständig  aus  dem  sittlichen  Genius  Kants  hervorgegangen. 
Ks  ist  deutlich,  dass  nach  dieser  Darstellung  die  Kantische 
Religionsphilosophie  sich  aufs  engste  an  das  Christentum  an- 
sohliesst  und  den  Glauben  an  den  geschient  liehen  Christus  als  Er- 
löser einschliesst,  Ks  darf  aber  nicht  verschwiegen  werden,  dass  bei 
solcher  Dai-stellung  gerade  an  diesem  Punkte  starke  Widersprüche 
uuuntersuoht  stehen  geblieben  smd.  Es  ist  ein  anderer  Begriff 
der  Krlösung  als  der  bisher  vorausgesetzte,  wenn  es  heisst:  „Nur 
wenn  die  TugtMul  und  die  sittliche  Wiedergeburt  den  Anfang  ge- 
macht hat,  können  wir  vollkommen  gewiss  sein,  dass  das  Ende 
die  Krlösung  sein  wird-  S.  3()5.  Und  es  ist  ein  direkter  Wider- 
spruch gt^gini  die  Krlösung  durch  Christus,  wenn  es  heisst:  „Wenn 
die  Bedingung  -unseivs  iiuieren  Gott  wohlgefälligen  Lebens),  die 
erste  und  oberste,  nicht  in  die  Tugend,  in  unsere  eigenste  und 
innerste  That,  sondern  in  die  giHtliche  Gnade  und  eine  fremde 
Genügt  h  nun  g  gi^setzt  wird,  so  ist  der  Glaube  nicht  rein  mora- 
lisoh.  s^>udern  seinem  wahren  Urspnmge  untreu  und  auf  dem  Wege 
tnr  Idololatrie-*  S.  375.  Diese  Widerspriiche  fallen  freilich  nicht 
b%ohor,  sondern  Kant  zui*  Last:  aber  Fischer  hat  es  unterlassen 
auf  den  sehr  widerspruchsvollen  Charakter  der  von  ihm  zu 
Grunde  g^^egteu  Hauptschrift  hinzuweisen.  Er  bemerkt  viel- 
mehr ohne  jtHle  Rücksicht  auf  diese  Widerspriiche  uur  ganz 
allg^^mein:  -Die  Art  und  Weise,  wie  Kaut  das  Verhältnis  der  Re- 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  2ö 

ligioD  und  Offenbarung,  der  unsichtbaren  und  sichtbaren  Kirche 
auffasst,  darf  als  vorzügliches  Beispiel  seiner  Entwickelungslehre 
überhaupt  dienen:  er  lässt,  wie  Lessing,  die  Offenbarung  als  die 
religiöse  Erziehung  der  Menschheit,  die  sichtbare  Kirche  als  die 
Erscheinungs-  und  Entwickelungsform  der  unsichtbaren  gelten  und 
legt  ein  grosses  Gewicht  darauf,  dass  diese  geschichtlichen  Bil- 
dungsstufen richtig  gewürdigt  werden;  denn  es  sei  eben  so  ver- 
kehrt, sie  für  wertlos  und  überflüssig  als  für  das  Wesen  der 
Sache  und  für  unwandelbare  Formen  zu  halten"  S.  574.  Wie  für 
Fischer  das  Kantische  Denken  überhaupt  in  dem  —  freilich  mit 
den  Prinzipien  des  Transscendentalismus  nicht  ganz  einstimmigen  — 
Entwickelungsgedanken  gipfelt,  so  sieht  er  auch  die  Religionsphiloso- 
phie schliesslich  wesentlich  im  Zusammenhange  dieses  Entwickelungs- 
gedankens:  in  dem  durch  die  Wiedergeburt  bewirkten  Heil  wird 
der  rationale  Ziel-  und  Normalbegriff  der  Religion  durch  das 
Christentum  verwirklicht,  und  das  Christentum  reiht  sich  damit  ein 
in  den  die  ganze  kritische  Philosophie  krönenden  Begriff  einer 
Entwickelung  der  Vernunft. 

Obwohl  in  diesem  letzten  Gedanken  mit  Fischer  sich  be- 
rührend, giebt  Pfleiderer  doch  ein  erheblich  anderes  Bild  von 
Kants  Religionsphilosophie.  Seine  Abhandlung  ist  zwar  mehr  eine 
Kritik  als  eine  Darstellung,  und  als  Kritik  zunächst  das  Gegenteil 
einer  immanenten  Kritik.  Er  verwirft  die  Kantische  Unterschei- 
dung von  Wissen  und  Glauben,  die  Sonderung  und  Wiederzusam- 
menstimmung  von  gesetzmässiger  Erfahrungserkenntnis,  antino- 
mischer  Dialektik,  praktisch-moralischer,  kritisch-teleologischer  und 
apriorisch-religiöser  Vernunft.  Er  übt  auch  an  dem  positiven  In- 
halt der  Kantischen  Religionsideen  eine  scharfe  Kritik,  die  teils 
die  eudämonistischen  Überbleibsel  der  Religionsphilosophie  der 
Aufklärung,  teüs  die  starre  Isolierung  der  apriorisch-religiösen 
Ideen  gegen  das  übrige  Seelenleben  tadelt.  Die  Kritik  erfolgt  vom 
Standpunkt  eines  verschwommenen.  Denken  und  Sein  spekulativ 
zur  Deckung  bringenden  Monismus.  Ist  sie  deshalb  trotz  mancher 
treffenden  Hinweise  auf  Widersprüche  im  Transscendentalismus 
doch  verständnislos  gegen  Kants  eigentlichen  Gedankengang  und 
ebendeshalb  unfruchtbar,  so  ist  sie  doch  an  einem  Punkte  sehr 
beachtenswert,  nämlich  da,  wo  Kant  einem  solchen  Monismus  am 
meisten  sich  nähert,  bei  seiner  Geschichtsphilosophie  und  damit 
bei  den  geschichtsphilosophischen  Elementen  seiner  Religionslehre. 
Kant  nämlich   kann    sich   nicht  damit   begnügen,    die  Geschichte 


26  E.  Troeltsch, 

bloss  im  Ganzen  aus  apriorischer  Notwendigkeit  so  zu  beurteilen, 
als  ob  in  ihr  der  Vernunft-  und  Freiheitszweck  der  Gattung  sich 
realisiere,  sondern  niuss  von  hier  aus  immer  wieder  den  unum- 
gänglichen Versuch  machen,  diese  prinzipielle  Betrachtung  der 
Geschichte  am  konkreten  Geschehen  zu  bestätigen.  Insofern  diese 
Greschichtsphilosophie  dann  wieder  die  Voraussetzung  bildet  für  das 
Verhältnis  der  reinen  Religion  zum  Christentum,  ist  das  für  die 
Beligionsphilosophie  direkt  bedeutsam.  Darnach  muss  das  Christentum 
irgendwie  eine  Manifestation  der  Entwickelung  der  Vernunft  sein. 
Auf  diesen  Punkt  legt  Pfleiderer  allen  Nachdruck,  dagegen  igno- 
riert er  die  von  Fischer  so  umständlich  reproduzierten  Versuche, 
dem  Faktum  der  Offenbarung  und  der  Erlösungswirkung  Christi  doch 
auch  von  der  Vemunftreligion  aus  eine  gewisse  Notwendigkeit  zu- 
zuerkennen. „Eine  vierte  Möglichkeit  (des  Verhältnisses  von  Ver- 
nunftreligion und  Offenbarungsgeschichte)  ist  nach  Kant  noch  die, 
dass  eine  Keligion  objektiv  natürlich  und  doch  subjektiv  geoffen- 
bart sei,  wenn  sie  nämlich  so  beschaffen  ist,  dass  die  Menschen 
durch  Vernunftgebrauch  von  selbst  hätten  auf  sie  kommen  können, 
nur  nicht  so  früh  schon,  so  dass  die  Offenbarung  für  gewisse 
Zeiten  und  Orte  nützlich,  ja  nötig  sein  konnte,  ohne  dass  doch 
die  Wahrheit  der  Keligion  bleibend  auf  ihr  beruhte.  Und  das 
scheint  in  betreff  der  christlichen  Religion  Kants  Ansicht  zu 
sein**  S.  176.  Pfleiderer  nimmt  an,  dass  Kant  über  diese  Sache 
absichtlich  sich  nicht  deutlich  ausgesprochen  habe.  Jedenfalls 
schränkt  er  die  Bedeutung  der  so  anerkannten  eventuellen  Offen- 
barung ohne  weiteres  darauf  ein,  dass  zu  der  eigentlich  die  Reli- 
gion konstituierenden,  rein  bewusstseins-immanent^n.  That  eine  „Ver- 
anschaulichung des  sittlichen  Ideals  in  einem  geschichtlichen  EIxempel 
von  so  henorragender  sittlicher  Erhabenheit,  wie  Jesus  es  darstellte, 
anregend  wirken  könne""  S.  177.  Auch  die  Bemühungen  Kants 
um  die  Herübemahme  der  Versöhnungslehre  laufen  ihm  daher 
lediglich  hinaus  auf  eine  ^Umdeutung  der  kirchlichen  Versöhnungs- 
lehre in  einen  subjektiven,  immer  neu  sich  wiederholenden  Vorgang 
im  Innern  des  sittlichen  Individuums"*  S.  178.  Wenn  die  Vemunft- 
religion in  dem  so  verstandenen  Christentum  sich  selbst  wieder 
erkennen  kann  und  um  dessen  willen  ihm  die  Möglichkeit  der 
Offenbartheit  zugesteht,  so  ist  der  Offenbarungscharakter  „auch 
unter  dieser  Voraussetzung  nur  als  subjektiv  mögliche  Erklämngs- 
weise  eines  geschichtlichen  Datums  zugestanden,  nach  seiner  ob- 
jektiven Bedeutung  aber  völlig  in  der  Schwebe  gelassen"*  S.  179. 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  27 

Pfleiderer  sieht  daher  die  eigentliche  Tendenz  der  Kantischen  Re- 
ligionsphilosophie in  einer  rein  subjektiven,  rein  aus  dem  Bewusst- 
sein  selbst  quellenden  Religion  streng  rational  deducierten  Cha- 
rakters, zu  der  sich  die  Geschichte  lediglich  als  allmähliche  Ent- 
wickelung  und  Durchsetzung  dieses  Zielgedankens  verhält  und  auf 
die  auch  die  reinste  geschichtliche  Religionsbildung  des  Christen- 
tum nur  anregend  und  entbindend  wirken  kann.  Die  Idee  der 
Religion  ist  von  der  Geschichte  absolut  unabhängig,  dagegen  ist 
die  Geschichte  abhängig  von  der  Idee  der  Religion.  Damit  ist  ihm 
die  Kantische  Religionsphilosophie  die  direkte  Vorläuferin  der 
Hegeischen,  die  neben  und  mehr  als  Schleiermacher  mit  diesem 
Gedanken  der  in  der  Geschichte  sich  entwickelnden  Idee  der  Reli- 
gion vollen  Ernst  gemacht  hat.  Bei  Hegel  freilich  ist  diese  Voll- 
endung des  Gedankens  nur  durch  eine  starke,  aber  zu  diesem 
Zweck  auch  unumgängliche  Umbildung  der  metaphysischen  und 
erkenntnistheoretischen  Voraussetzungen  möglich  geworden.  Bei 
Kant  bleibt  infolge  der  Mängel  an  diesen  beiden  Punkten  —  ab- 
gesehen von  der  Dürftigkeit  des  Inhaltes  der  Religion  —  daher 
auch  immer  ein  unbefriedigendes  Verhältnis  zur  Geschichte.  Es  bleibt 
eine  Sprödigkeit  gegen  sie,  die  alle  Durchsetzung  der  Idee  in  der 
Geschichte  bestenfalls  immer  nur  als  Anregungs-  und  Veranschau- 
lichungsmittel  für  die  Entbindung  des  reinen  Vemunftglaubens  im 
Subjekt  würdigt,  bei  der  aber  niemals  die  Idee  in  der  Geschichte 
so  stark  und  kennbar  hervortreten  kann,  dass  sie  dem  Individuum 
tragender  Grund  und  zeugende  Kraft  werden  könnte.  Daran 
hindert  Kant  nicht  bloss  der  ächte  IndividuaUsmus  des  18.  Jahr- 
hunderts, sondern  vor  allem  der  Ausgangspunkt  seiner  transscen- 
deotalen  Analyse  im  Subjekt,  seine  Bindung  aller  objektiven  Er- 
kenntnis an  die  apriorischen  Erkenntnisse  und  der  Gegensatz 
dieser  apriorischen  praktischen  Erkenntnisse,  die  nur  im  Subjekt 
Objektivitätsgewissheit  wirken,  gegen  alles  andere  als  blosse  Er- 
scheinung. Es  ist  das  Misstrauen  der  Kritik  gegen  die  metaphy- 
sische Realität  der  mehreren  Subjekten  gemeinsamen  und  vom 
einen  auf  das  andere  wirkenden  Macht  des  Geistes.  Der  Mensch 
hat  das  Intelligible  nur  im  eigenen  Selbst  und  nicht  im  fremden, 
das  vielmehr  Erscheinung  bleibt,  und  darum  ist  bei  aller  relativen 
Würdigung  der  Geschichte  das  Individuum  doch  gegen  die  Ge- 
schichte und  gegen  den  in  ihr  wirkenden  Geist  abgesperrt  und 
nur  auf  sich  selbst  angewiesen;  ja  es  kann  nicht  einmal  in  sich 
selbst   das  Intelligible  und  die   Erscheinung    sicher   unterscheiden 


28  E.  Troeltsch, 

and  auf  einander  beziehen;  es  hält  sich  daher  am  besten  bloss 
an  die  apriorischen  Vernunftgesetze,  alles  übrige  nur  so  beurteilend, 
als  ob  es  mit  ihnen  im  Zweckzusammenhang  stehe.  Wie  die  ganze 
Geschichtsphilosophie  die  Prinzipien  des  Kritizismus  überschreitet, 
so  ist  auch  Kants  relative  Würdigung  der  religionsgeschichtlichen 
Entwickelung  schon  ein  nicht  ganz  konsequenter  Schritt.  Der 
Gedanke  des  ethischen  Gemeinwesens,  das  Kant  für  die  Erlösung 
fordert  und  aus  dem  er  seinen  Gottesbegriff  gelegentlich  geradezu 
erst  ableitet,  bleibt  darum  für  ihn  auch  nur  ein  kritisches  Postulat. 
Die  intelligible  Freiheit  ist  im  Einzelnen  etwas  Erfahrbares,  eine 
Realität,  ein  scibile,  aber  das  Reich  der  Freiheit  ist  nur  ein  von 
der  Moral  gefordertes,  theoretisch  aber  überschwängliches  Postulat; 
das  Gleiche  bleibt  damit  auch  die  Geschichtsbetrachtung,  welchç 
das  Reich  der  Freiheit  werden  sieht,  aber  die  Erlösung  des  Indi- 
viduums nicht  in  den  Kausalzusammenhang  mit  diesem  werdenden 
Reiche  selbst  zu  bringen  wagt. 

Erschöpfen  die  beiden  bisher  genannten  Darstellungen  den 
ganzen  Umfang  der  Kantischen  Religionsphilosophie  und  tritt  des- 
halb bei  ihnen  das  religionshistorische  neben  dem  thetischen  Pro- 
blem deutlich  zu  Tage,  so  ist  die  Arbeit  Schweitzers  aus- 
schliesslich dem  letzteren  gewidmet.  Es  ist  in  der  Benutzung  der 
von  seinen  Vorgängern  gegebenen  Gesichtspunkte  ein  Abschluss 
dieser  ganzen  Litteratur,  die  ja  grösstenteils  nur  dem  thetischen 
Problem,  den  Ideen  von  Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit  und 
ihrer  Begründung  im  reinen  Glauben,  gewidmet  ist.  Schweitzer 
dringt  analytisch  in  diese  Begriffsbildung  ein,  zerlegt  sie  in  ihre 
Componenten,  untersucht  die  sie  leitenden  Denkmotive  und  prüft 
sowohl  den  Gesamtzusammenhang  der  Religionslehre  mit  der  Trans- 
scendentalphilosophie  überhaupt  als  den  der  besonderen  religions- 
philosophischen Begriffe  unter  sich.  Damit  tritt  das  Bewegliche 
und  Widerspruchsvolle,  der  Kampf  und  das  Werden  der  Gedanken 
zu  Tage,  die  bei  Kant  so  wenig  als  bei  irgend  einem  Denker  ein 
wirklich  einheitliches  Resultat  ergeben  haben.  Kuno  Fischer  habe 
das  Bild  der  Kantischen  Religionsphilosophie  so  gezeichnet,  wie 
sie  schliesslich  historisch  gewirkt  hat;  er  will  es  zeichnen,  wie  sie 
in  seineu  verschiedenen  Entwürfen  und  immer  von  neuem  unter- 
nommenen Ausführungen  wirklich  beschaffen  war.  Dadurch  wer- 
den die  Linien  sehr  viel  unruhiger  und  verworrener,  als  sie  das  kon- 
ventionell gewordene  Bild  zeigt.  Vor  allem  hat  Kant  seine  Reli- 
gionsphilosophie  bei   ihrem  viermaligen  Entwürfe  nie  erschöpfend, 


Das  Historische  in  Kants  tteligionsphilosophie.  2d 

nie  ganz  prinzipiell,  sondern  immer  mehr  beiläufig  dargestellt,  und 
der  einzige  Ansatz  zur  prinzipiellen  Darstellung,  die  „Rel.  i.  Gr. 
d.  bl.  V.",  ist  sowohl  unvollständig  als  keine  reine  Ausführung  des 
Gedankens.  Die  Religionsphilosophie  hat  als  Abschluss  des 
Ganzen  von  Anfang  bis  zu  Ende  sein  Denken  beschäftigt,  aber  sie 
ist  viel  weniger  fertig  geworden,  als  die  gewöhnliche  Annahme 
meint.  Die  Dialektik  enthält  einen  religiousphilosophischen 
Plan,  der  die  Überführung  der  Thesen  der  Antinomien  in  prak- 
tisch-religiöse Vernunfterkenntnisse  in  Aussicht  nimmt  und  der 
völlig  originell  ist,  der  aber  niemals  ausgeführt  worden  ist.  Die 
Methodenlehre  der  „Kr.  d.  r.  V."  enthält  eine  religionsphilo- 
sophische Skizze,  die  aus  der  mit  dem  Transscendentalismus 
nicht  in  inneren  Zusammenhang  gebrachten  Freiheitslehre  die 
ethisch-eudämonistisch-metaphysischen  Postulate  der  seit  Locke  und 
Leibniz  entwickelten  Religionsphilosophie  der  Aufklärung  kon- 
struiert. Die  „Kritik  der  praktischen  Vernunft"  bringt 
dann  die  ausgebildete  Freiheitslehre  Kants  mit  ihrer  spezifisch 
ethischen  und  religiösen  Würdigung,  aber  sie  vermag  die  Einhal- 
tung des  religiousphilosophischen  Planes  der  Dialektik  und  damit 
den  Zusammenhang  mit  den  strengen  Prinzipien  des  Transscenden- 
talismus nur  sehr  künstlich  und  gewalttätig  zu  behaupten.  Ihre 
Postulate  von  Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit  sind  etwas  an- 
deres als  die  Ideen  der  Dialektik;  die  Freiheit  als  scibile,  als 
Realität  des  Übersinnlichen  im  Menschen,  ist  etwas  anderes  als  die 
Freiheit  der  Dialektik;  die  religiösen  Postulate  schliessen  sich  an 
diese  Freiheitslehre  nur  sehr  ungenau  an,  indem  hier  die  Freiheit 
aus  der  Basis  der  Postulate  selbst  zum  Postulat  wird  und  die  Un- 
sterblichkeitsidee nur  durch  eudämonistische  Erschleichung  und 
erst  durch  diese  Erschleichuug  die  Gottesidee  gewonnen  wird. 
Die  „R.  i.  d.  Gr.  d.  bl.  V.",  in  der  Schweitzer  weniger  den  reli- 
giösen Erlösungs-  als  den  ethischen  Wiedergeburtsgedanken  betont 
findet,  sprengt  die  kritische  Freiheitslehre  vollständig,  indem  sie 
im  intelligibeln,  also  an  sich  zeitlosen  Charakter  Geschehen  und 
Entwickelung  annimmt;  sie  stellt  zugleich  neben  der  Beibehaltung 
der  alten  eudämonistischen  Unsterblichkeitsidee  den  religiösen 
Gredanken  doch  im  Grunde  auf  eine  neue  Basis,  auf  die  Basis 
der  sittlichen  Gemeinschaft,  deren  gemeinsames,  rein  inneres 
ethisches  Verpflichtungsbewusstsein  auf  die  göttliche  Venjunft  als 
Gesetzgeber  zurückweist  und  eine  unbegrenzte  Entwickelung  der 
Gattung,   nicht   des   Individuums,    zum  Ziel  postulieren  lässt.    Im 


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iir-  :ir -ilii:''^,.-  V -s  s-i-'^-r  .m-iiiL:-"7*ij:-'.i  uni  .a.i»ri-!iiiJ?  b^r  Ei- 
-.•ii^iii'in,:  -  n-  ~  •»■^••.li'-i-'i  r*" -><-  N.i.i'-  irr  yi^^'h^-iiifuiLT'-Q  iu 
l.r-Tii  .iir-:ii::v"'- 11  -^"in-i-  ît-aLLi^^n-«".  A  i>s. ■•••:- !ii  mz  iaa:  >**L:i*fa 
T^Liaü-a^iiiir     Lilt."::      r-r—     i,.,-i     lmi.-     î  i:-.'ii"'L-i-iir-!i.       Lj;&>    er 

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/L-i-iM-  -  :M'-ri»i'-i!  Aju."-«-  ■:•-■.-!!  ihah  ;:.-  ^■"jîss^a  '::n«rr»rnL 
-»'iiv-r_-i.*LT  a  ma  -^'jr-asur::"  i.:/  ii.,r:>,'ii»-u  y-â:£'«'iiï?oLiil':îïO- 
jM"  i*''-\i.i^--i  it-i— -r  IS  sr-Mir  -■.i:iiit.  i.-i*  ''"•.la-vs.'-utienra-Jsaias 
::ir  ---iii--ni  -i'-  1i'-i:i;um--'v-'^"'-'1  i-r  :?ii.r.i.  ::i-[ui..-ii  imi  ai..inie- 
:..*^-'-i  V  -  r  L  as -.■  11  .>-*.-î  II  Lhu  N'-'-Vü'-ikliiui  r  z''Z'\\  h^  Yriiik  and 
A.-iii:!'.'ii-T}:i:l- -•^îii^*    111:  .ii/--'n   yiiii:- ■:  n    i»-i-    n  ii:::- •iu;.rii   W^jLt  in 

H^iii'ünu-T'-ii    -ui«i    uir    mà-î--.     :.:î-  N  .ii.u.-ü.i.'.r.i:     i-i^i,...    sr-U'^ail-r. 


Das  historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  31 

für  den  Transscendentalismas  die  ganze  Welt  äusserer  und  innerer 
Erfahrung  gleicbmässig  lediglich  Erscheinung  ist.  Es  ist  das  die 
oft  hervorgehobene  Schwierigkeit  des  Kritizismus,  die  einerseits 
in  seinem  Verhältnis  zur  Metaphysik  und  andererseits  in  dem  zur 
Psychologie  liegt,  und  die  zur  Entstehung  einer  metaphysischen 
und  einer  psychologistischen  Schule  aus  ihm  geführt  hat  ;  die  erste 
zieht  das  Psychologisch-Phänomenale  in  das  Intelligibel-Metaphy- 
sische,  die  zweite  umgekehrt  das  Metaphysisch-Intelligible  in  das 
Psychologisch-Phänomenale  hinein.  »)  Die  andere  Schwierigkeit, 
die  Schweitzer  hervorhebt,  liegt  in  dem  Inhalt  der  religionsphilo- 
sopbischen  Ideen.  In  ihm  nämlich  stossen  sich  der  Gedanke  der 
Glückseligkeit  oder  des  Ausgleichs  von  Natur  und  sittlicher  Wür- 
digkeit durch  eine  beide  aufeinander  beziehende  Gottheit  und  der 
Gedanke  eines  sich  entwickelnden  Reiches  des  Guten  und  der 
Freiheit,  dessen  geistige  Einheit  und  dessen  gegen  alle  Wider- 
stände sich  durchsetzende  Zielrichtung  nur  unter  der  Voraussetzung 
eines  göttlichen  Gesetzgebers  und  Weltleiters  möglich  ist.  Es  ist 
im  ersteo  Falle  der  Gedanke  der  individuellen  Unsterblichkeit  und 
jenseitigen  Glückseligkeit,  der  in  der  Ethik  der  Aufkläning  und 
damit  in  ihrer  Religionsphilosophie  eine  so  grosse  Rolle  gespielt 
hatte,  im  andern  Falle  der  Lessing  verwandte  Gedanke  einer  im- 
manenten und  universellen  Menschheitsentwickelung  mit  ihren  re- 
ligiösen Voraussetzungen,  die  Ausdehnung  des  Entwickelungs- 
gedankens,  den  Locke  und  Leibniz  noch  auf  das  Individuum  ein- 
geschränkt hatten,  auf  die  Gattung. 

Einen  noch  enger  begrenzten  Teil,  als  Schweitzer  behandelt 
hat,  macht  sich  Sänger  zum  Gegenstand,  nämlich  das  prinzipielle 
Verhältnis  von  Wissen  und  Glauben  in  seiner  rein  formalen,  lo- 
gisch-erkenntnistheoretischen Bedeutung.  Es  ist  eine  unverkenn- 
bare Anfänger-Arbeit,  aber  in  Geist  und  Methode  Vaihingers  ge- 
halten, und  daher  von  grossem  begriffsstatistischem  Verdienst.  Sie 
zeigt,  dass  diese  Unterscheidung  seit  Beginn  des  kritischen  Ver- 
haltens mit  fast  monotoner  Gleichförmigkeit  als  einer  der  wesent- 
lichsten Grundgedanken  durch  alle  Kantischen  Äusserungen  hin- 
durchgeht, und  legt  dadurch  den  Schluss  nahe,  dass  diese  Unter- 
scheidung nicht  sowohl  erst  eine  theoretische  Folge  des  kritischen 
Standpunkts  als  ein  selbständiges,  grundlegendes,  gefühlsmässiges 
Aperçu   Kants    ist,   das   sich    seinem    religiösen    Bewusstsein   in 


«)  Vgl.  Elsenhaus,  Das  Kant-Friesische  Problem,  Heidelberg  1902, 


32  E.  Troeltsch, 

dnr  Auseinandersetzung  mit  der  dogmatischen  Metaphysik  er- 
geben und  dann  unter  der  Einwirkung  der  Kritik  in  den 
immer  festgehaltenen  bekannten  Formeln  begrifflich  verdichtet 
liat. ')  Diese  ja  auch  von  anderen  gestreifte  Entdeckung  Kants 
wäre  demnach  nicht  notwendig  an  sein  besonderes  System  ge- 
bunden. Ausserdem  zeigt  die  Abhandlung,  wie  streng  Kant  trotz 
dieser  Scheidung  die  Einheit  der  Vernunft  festzuhalten  bemüht 
war.  Er  hat  einerseits  stets  von  der  theoretischen  Vernunft  aus 
in  wechselnden  Formen  Hinweise  auf  die  praktisch-religiöse  ge- 
sucht, sei  es,  dass  er  sie  in  den  Ideen  der  Dialektik,  oder  dass  er  sie 
in  eimun  neben  ihnen  behaupteten  doktiinalen  Glauben,  d.  h. 
einem  teleologischen  Wahrscheinlichkeitsurteil,  oder  nach  Entdeckung 
der  „reinen  Urteilskraft**  in  der  apriorisch  notwendigen  teleo- 
logischen Wiîltbeurteilung  fand.  Andererseits  hat  er  von  den  Be- 
ligionspostulaten  möglichst  jede  Kollision  mit  dem  übrigen  Er- 
kennen, d.  h.  mit  dem  kausal-mechanischen  Weltbild^ der  inneren 
und  äusseren  Erfahrung,  ferne  gehalten,  und  daher  die  religiösen 
Postulate  nicht  nur  in  einer  bloss  subjektiv  praktischen  Allgemein- 
giltigkeit,  sondern  auch  in  einer  ganz  abstrakten  Allgemeinheit 
gehalten.  Sie  beschränken  sich  darauf,  dass  das  kausal-mechanische 
Weltbild  und  sein  Bestandteil,  das  menschliche  Seelenleben,  sich 
beurteilen  lassen,  als  ob  die  religiösen  Ideen  in  Geltung  stünden. 
Von  der  intelligibeln  Welt  ragt  in  die  Erfahrung  nur  die  Freiheit 
als  reale  Gewissheit  herein,  aber  die  hierauf  aufgebauten  Postu- 
late sind  ein  Deukei^eugnis,  dass  das  erfahrungsmässige,  gesetz- 
liche Weltbild  nicht  beeinträchtigen  darf. 

Diese  Spezialfrage,  das  Verhältnis  von  Glauben  und  Wissen, 
ist  es  auch  fast  allein,  die  die  kantisierenden  Theologen  be- 
arbeitet haben.  Eine  wirkliche  Darstellung  der  Kantischen  Eeli- 
gionsphilosophie  und  eine  Ent Wickelung  ihi*er  eigenen  Auffassung 
aus  dieser  hemus  ist  mir  nicht  bekannt.  Zudem  kommt  als  eigent- 
licher Kantianer  unter  ihnen  nur  Wilhelm  Herrmann*)  in  Betracht  und 
neben  ihm  Max  Reischle.')    Ritschi  hat  wohl  allerband  Berühnmgetf 


^'  Vgl.  Simmel.  Beiträge  zur  Erkenntnistheorie  der  Religion,  Ztschr. 
f.  Philip,  u.  phili^  Kritik  1902,  Bd.  119.  S.  18. 

*>  Wilh.  Herrmann.  Die  Religion  im  Verhältnis  zum  Welterkennen 
und  zur  Sittlichkeit«  Halle  1879;  Warum  bedarf  unser  Glaube  geschicht- 
licher Thatsachen?    Halle  185>2. 

*)  Max  Reischle.  Werturteile  und  Glaubensurteile.  Halle  1900;  Die 
Fni^  nach  dem  Wesen  der  Religion.  Pnfiburg  1889. 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  33 

mit  Kant,  steht  aber  dem  eigentlichen  Geiste  des  Kritizismns  ganz 
ferne  und  hat  auch  nie  etwas  anderes  als  die  Mithilfe  Kants  an 
vereinzelten  Punkten  in  Anspruch  genommene)  Aber  auch  bei 
den  vom  eigentlichen  Geiste  Kants  berührten  Theologen  wird  nur 
die  Verwerfung  der  theoretischen  Metaphysik  und  die  Einführung 
der  praktischen  Glaubenserkenntnis  übernommen,  die  der  phäno- 
menal-gesetzlichen Erfahrungserkenntnis  als  religiöse  Deutung  auf 
Grund  „religiöser  Erlebnisse"  gegenübersteht;  die  „religiösen  Er- 
lebnisse" enthalten  dabei  immer  mehr  als  die  Bewährung  der  Frei- 
heit, auf  w^elche  Kant  das  wirkliche  intelligible  Erlebnis  ein- 
schränkt, ohne  aber  dass  dieses  Mehr  erkenntnistheoretisch  genauer 
fixiert  würde.  Ebenso  fällt  Kants  energisches  Streben  nach  der 
Behauptung  der  Einheit  der  Vernunft  fort.  Weder  die  Hinweise 
der  Dialektik  noch  die  der  Urteilskraft  auf  den  religiösen  Gedanken 
spielen  irgend  eine  Bolle;  ebensowenig  der  Versuch,  diese  letzteren 
durch  kritisch-subjektive  Haltung  und  Einschränkung  auf  die  allge- 
meinsten Ideen,  durch  Ablehnung  jedes  unmittelbaren  Verkehrs  mit 
Gott  und  aller  Aussagen  über  das  Verhalten  Gottes  zum  Einzel- 
geschehen, mit  dem  gesetzlich-kausalen  Weltbild  der  inneren  und 
äusseren  Erfahrung  in  Übereinstimmung  zu  halten.  Ganz  fällt 
schliesslich  der  Kantische  Schlussgedanke  weg,  die  Welt  als  phä- 
nomenale Entwickelung  des  intelligibeln  göttlichen  Vernunftwillens 
zu  betrachten.  Das  religiöse  Bedürfnis  nach  unmittelbarem  Verkehr 
mit  Gott,  nach  Beziehung  des  Einzelgeschehens  auf  den  göttlichen 
Vorsehungswillen  und  nach  Anschluss  an  die  konkrete  Vorstellungs- 
welt der  Bibel  und  die  beim  religiösen  Menschen  so  häufige  Gleich- 
giltigkeit  gegen  die  Einheit  des  Gesamterkennens  durchbrechen 
hier  überall  die  sorgfältigen  Eingrenzungen  und  Anpassungen  der 
Kantischen  Religionsideen,  und  es  bleibt  von  Kant  im  Grunde  nur 
das  Prinzip  der  subjektiv-praktischen  Begründung  nebst  Ablehnung 
der  theoretischen  Metaphysik.  Vor  allem  aber  durchbrechen  sie 
die  Anschauung  Kants  von  der  Geschichte  und  ihrer  Verknüpfung 
mit  dem  normativen  Beligionsglauben.  Sie  verschmähen  dabei  den 
von  Kant  selbst  angedeuteten  Weg,  die  Offenbarung  als  Etwas 
seiner  Natur  nach  Unkontrolierbares  neben  der  wissenschaftlich, 
d.  h*  immanent-kausal  vei-standenen  Geschichte  zu  postulieren  und 
den  subjektiven  Glauben  daran  wegen  seiner  Unentbehrlichkeit  für 

1)  Vgl.  Lüdemann,  Theologie  und  Erkenntnistheorie,  Prot.  Monats- 
hefte 1897,  der  hierüber  in  feindseüger  Form,  aber  sachlich  richtig  ge- 
arteilt hat. 

KantitadJeu  IX.  3 


34  S.  Troeltsch, 

die   praktische  Bdîgion  wenigstens  als  möglidi  zu  konstnueren. 
Diesel  Weg  haben  die  alten  theologischen  Kantianer  Tor  hundert 
Jahren   beschritten   and   aof  ihm  die  kirchliche  Offenbamngslehre 
and  Dogmatik   in   einer  gewissen   moralistischen  Abblassang   and 
Umdeotang  wieder  hergestellt.     Die  modernen  theologischen  Kan- 
tianer dagegen  bestreiten  Kants  Begriff  Ton  der  Geschichte  fiber- 
haopt  als  Überbleibsel  des  geschichtslosen  Sinnes  der  Aoftlärong 
and  fordern   eine   wissenschaftliche   Betrachtang  der  Geschichte, 
welche   ùberfaanpt   das  konkret-indiyidaelle  Geschehen   emstlidier 
als   solches  würdigt,   die  idealen  Überzeogangen  des  Menschen  in 
ihren  positiy-historischen  Begrändangen  aofeacht  and  Tor  allem  insbe- 
sondere in  Jesus  eine  absolute  Offenbarung  des  Intelligibeln  durch 
Glaubensurteil   feststellt.     Durch   die   Stützung  auf  diese  Offen- 
barung  konunt    den    ohne    Christas    doch    immer   schwankenden 
Glaubenspostulaten   erst   absolute,    Vertrauen   wirkende  Sicherheit 
und   der   in  Trotz   und  Ungewissheit  schwankenden  sündigen  Un- 
kraft  die   erlösende  Kraft   zu.    In   dem  Unterschied   dieses  prak- 
tischen Glaubensurteils,  das  in  Jesus  die  absolute  Offenbarung  des 
Intelligibeln,  d.  Il   der  sittlichen  Vernunft   sieht  und  Ton  dieser 
Anerkennung  ans   erst  den  Beurteilungsmassstab  der  Historie  der 
Religion  wie  den  Begriff  der  Seligion  findet,  gegenüber  dem  prak- 
tischen Glaubensurteil  Kants,  das  all  seine  Gewissheit  seiner  ratio- 
nalen  Allgemeingütigkeit   und   praktisch-ethischen  Aprioritit    ver- 
dankt, liegt   die  grundlegende  Korrektur  des  ELantischen  «reinen 
Glaubens*".    Es   liegt  jedoch   auf  der  Hand,  dass  diese  Konr^^tor 
Kants  gänzlich  ans  seinen  Voraussetzungen  herausgeht  und  neben 
dem  allgemeinen  kritischen  Prinzip  der  Unterscheidung  Ton  Glauben 
und  Wissen   noch  die   kritische  Deduktion  des  Offénbarungs-  und 
Wunderprinzips  samt   einem  Mittel,  dasselbe  sicher  auf  das  histo- 
rische Christentum  anzuwenden,   notwendig  machen  würde.     Diese 
wird  Ton  den  kantisierenden  Theologen  jedoch  merkwürdiger  Weise 
stets  unterlassen  und   die  Anerkennung  der  geschichtlichen  Offen- 
barung immer  nur  im  Namen  der  modernen  Überwindung  des  „jèB" 
historischen  Sinnes  der  Aufklärung'"  gefordert,  als  ob  der  moderne 
historische   Sinn   irgend   selbstrerständUch  zu  einer  solchen  Aner- 
kennung führte   und   als  ob  eine  solche  Verwertung  der  Historie 
sich   ohne  Weiteres   nachträglich   in  die  Grundbegriffe  des  Trans- 
scendentalismus  einflicken  Hesse.     Und   doch   hätten  sie  für  eine 
solche,    den  Kritizismus    freilich  tief   yerändemde   Deduktion  im 
Begriff  des   radikalen   Bösen   und    in    einigen    Andeutungen   der 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosopbie.  35 

„R.  i.  d.  Gr.  d.  bl.  V."  eine  Handhabe  gehabt.  Diese  ist  meines 
Wissens  niigends  benutzt  worden.  Selbst  die  theologischen  Inter- 
preten des  Eantianismus  haben  trotz  alles  Interesses  an  einer 
solchen  Verwertung  des  radikalen  Bösen  doch  einen  zu  tiefen 
Eindruck  von  dem  auf  das  Allgemeine  gerichtete  und  das  Allge- 
meingiltige  in  der  Erfahrung  realisierenden  Charakter  des  Ean- 
tischen  Systems,  als  dass  sie  es  von  dieser  Stelle  aus  aus  den 
Angeln  zu  heben  versucht  hätten. 

Sofern  neben  den  bisher  genannten  theologischen  Kantianern 
noch  andere  in  Betracht  kommen,  die  zwar  auch  vor  allem  die 
Unterscheidung  von  Glauben  und  Wissen  betonen,  im  übrigen  aber 
sich  mit  der  psychologischen  Symbolisierung  der  Glaubensideen 
und  mit  der  geschichtlichen  Entwickelung  dieser  Symbolisierungen 
beschäftigten,  so  fällt  für  diese  freilich  der  Einwurf  einer  der- 
artigen unmöglichen  Korrektur  und  Interpretation  der  Kantischen  Qe- 
schichtsphilosophie  weg.  Aber  sie  haben  dann  den  Kritizismus 
an  einer  andern  Stelle  durchbrochen.  Sie  haben  die  spröde 
Sonderung  des  Zufällig-Psychologischen  von  dem  Notwendig-All- 
gemeingütigen  aufgehoben  und  damit  sowohl  den  festen  Wahrheits- 
gehalt der  Religion  als  die  Begründung  einer  normativen  religiösen 
Elrkenntnis  undeutlich  gemacht,  ganz  abgesehen  davon,  dass  die 
so  psychologisch  verstandene  und  geschilderte  Religion  schwer 
gegen  das  bloss  teleologisch-kritisch  gedeutete  kausal-mechanische 
Weltbild  aufkommt.  In  der  That  ist  Sabatier,i)  der  geistvollste 
Vertreter  dieser  Auffassung  der  Kantischen  Lehre,  in  Wahrheit  auf 
dem  Wege  zu  dem  Psychologismus  von  Fries  und  de  Wette.  Da- 
mit ist  er  aber  überhaupt  auf  dem  Weg  zu  neuen  Problemen,  denen 
gegenüber  nur  zu  sagen  ist,  dass  sowohl  das  Verhältnis  dieser 
psychologisch-historischen  Religionsforschung  zu  den  kritischen 
Prinzipien  überhaupt  als  insbesondere  Wesen  und  Beurteilungs- 
mögiichkeit  der  historischen  Entwickelung  nicht  genügend  durch- 
gedacht sind.    Noch  mehr  gilt  das  von  Lipsius,«)  dessen  Eklekti- 

1)  August  Sabatier,  Theologische  Erkenntnistheorie.  Deutsch  von 
A.  Baur,  Freiburg  1896;  Esquisse  d'une  philosophie  de  la  religion  d'après 
la  psychologie  et  l'histoire.  Paris  1897.  Vgl.  meine  Anzeige,  Deutsche 
Litt.-Ztg.  1898.  Sp.  737  ff.  Lasch,  Die  Theologie  der  Pariser  Schule, 
Berlin  1901. 

*)  Lipsius,  Lehrbuch  der  evangelisch-prot.  Dogmatik^,  Braunschweig 
1893;  vgl.  meine  An^ieige  Gott.  Gel.  Anzz.  1895;  Ders.,  Philosophie  und 
Religion,  Leipzig  1886.  Vgl.  die  schon  genannte  scharfsinnige  Abhandlung 
von  Ltidemann,  die  auch  über  Lipsius  erschöpfend  und  zutreffend  geurteilt  hat. 

3* 


86  É.  Troeltsch, 

zismiis  den  kritischen  Glaubensbegriffj  spekulative  Äquivalente 
dieses  Glaube  us,  psychologisch-kausale  Geschichtsbetrachtung  uad 
metaphysische  Geschichtskoostniktioe  sehr  unklar  zu  verbindeu 
suchte^  und  der  ebeu  deshalb  trotz  ernstlichen  und  gedankenreichen 
Bemühens  für  Interpretation  und  Verwertung  der  Kantischeu  Re* 
ligionsphilosopie  nichts  Wesentliches  geleistet  hat.  Immerhiu  aber 
steht  diese  zweitgenannte  Gruppe  —  abgesehen  von  der  Verdiinnung 
des  Apriorisch-Nortiiativen  in  der  Kantischen  KeUgionsphilosopkie 
—  jedenfalls  in  der  von  Sabatier  gegebenen  Durchführung  dem 
Geiste  der  Kautischen  Geschichtsphüosophie  näher  als  die  erst- 
genannte, und  die  sie  drückenden  Probleme  sind  zum  grössten 
Teil  solche,  die  auch  die  Kantische  Lehre  drücken. 

Die  historischen  Zusanimenliänge,    iü    denen    und    aus  denen 
für  Kant  selbst  sich  seine  Religionsphilosophie  bildete,   sind    noch 
wenig  erforscht.     Ihre  Kenntnis  würde  viele  der  Lehren  Kants  und 
besonders    seine    Stellung   zur  Historie    sehr   erheblich  erleuchten» 
Doch  siüd   iiiimerhin    solche  Forschungen  schwierig  und  darf  mau 
sich  ihren  Ertrag  nicht  allzu  gross  vorstellen.     Kant  hat  bekannt- 
lich wenig  zitiert.     Allein  der  Nachweis  von  Zitaten  und  direkten 
Bemühungen  würde  nicht   allzuviel  beweisen  für  einen  Mann,    der 
aus    Recensionen    und   Gesprächen    sich    alle  litterarischen  Neuig- 
keiten verschaffen    konnte    und    fiir  den  auf  diesem  Gebiete  nicht 
die  Details,    sondern    nur    die  prinzipiellen  Hauptgedanken  in  Be- 
tracht kamen.     Andererseits  ist  das  besondere  Kapital  von  Kennt- J 
nissen    der  Religionsgeschichte    uud    besonders  der  Geschichte  deal 
Christentums  sicher  nicht  allzu  gross  gewesen.     Ausser  dem,    was 
ihm  die  anthropologischen  Studien,   die  umfangreiche  Lektüre  you 
Reiseberichten   und   dann   das    Studium    der  Hauptwerke   der  eng- 
lischen uud  französischen  Litteratnr  zugeführt  hat,  werden  es  our 
einzelne  Gmudanschauungen  gewesen  sein,   an   denen  ihn  nur  die 
prinzipielle  Tragweite,  nicht  aber  das  historische  Detail  interessiert 
hat.     Wenigstens  ist  das  der  Eindruck,  den  man  aus  der  kostbaren 
Sammlung  der  «Losen  Blätter'^  empfängt.     Kaut  hat  sich  für  theo- 
logische Studien    und  Littei-atur  nach  seiuer  Universitätszeit  nicht 
besonders   mehr    interessiert    und    hat  dann,    als  er  den  religions- 
philosophischeu  Studien    sich   näherte,    mit  geringem  Kapital  sehr 
reichlich  gewuchert.     Die  dogmatische  Theologie  hat  er  dann  erst 
in  den  Arbeiten  seiner  Schüler,   die  seine  Prinzipien  auf  die  Dog- 
matik    au  wandten,    wieder   kennen  gelernt.      Von   der  historischen 
und    exegetischen,   von  Schöckh    und  Michaelis,    hatte   ♦■!■  Jugend- 


Das  HiBtorische  in  Kantfi  Religionsphilosophie.  37 

erinneruugen;  von  Semler  scheint  er  mehr  indirekte  Kenntnis  ge- 
habt zu  haben.  >)  Unter  denjenigen,  die  sich  dem  Problem  der 
Entstehung  der  Kautischen  Religionsphilosophie  zugewandt  haben, 
hat  daher  Hol  1  mann  ^Prolegomena  zur  Genesis  der  Beligions- 
philosophie  Kants"  allererst  vorausschicken  zu  müssen  geglaubt.«) 
Hier  hebt  er  nach  dem  Vorgang  von  Benno  Erdmann  die  besondere 
Natui-  des  Königsberger  Pietismus  hervor,  der  in  seinem  Haupt, 
Franz  Albert  Schultz,  dem  Lehrer  Kants  und  dem  Freunde  seiner 
Eltern,  Wolffische  Rationalität  und  Demonstration  mit  dem  pietis- 
tischen Bekehrungs-  und  Heiligungsgedanken  verband.  Hollmanu 
glaubt  in  seiner  sehr  sorgfältigen  Arbeit  damit  eine  Hauptwurzel 
von  Kants  Religionsphilosophie  aufgedeckt  zu  haben.  In  der 
That  mag  das  Prinzip  der  Versöhnung  von  Philosophie  und  Theo- 
logie, des  Ausgleiches  der  beiden  Fakultäten,  von  da  aus  in  Kant 
dauernd  wirksam  geblieben  sein  und  mag  ihm  von  hier  aus  die 
Vereinigung  rationaler  Allgemeingiltigkeit  der  Religionsidee  mit 
der  praktischen  Strenge  des  Wiedergeburts-  und  Heiligungsge- 
dankens eine  gewisse  gefühlsmässige  Selbstverständlichkeit  behalten 
haben.  Aber  Kant  entwuchs  doch  den  theologischen  Einflüssen 
völlig  und  behielt  von  seiner  Jugend  vor  allem  eine  Abneigung 
gegen  die  pietistische  Erregung  der  Sündenangst  und  gegen  die 
pietistische  Andachtsübung.  Er  tauchte  doch  völlig  unter  in  der 
Welt  der  rein  metaphysisch-spekulativen  Probleme  und  dann  in 
der  englisch-französischen  Wissenschaft  der  Elmpirie  und  des  Psy- 
chologismus. Hier  hat  er  sich  völlig  in  die  von  der  Theologie 
ganz  unabhängige  Fragestellung  der  modernen  Religionsphiloso- 
phie eingestellt,  und,  als  er  von  da  aus  zu  den  religionsphiloso- 
phischen Problemen  zurückkehrte,  stand  er  auf  deren  prinzipiell 
antisupranaturalistischem  Standpunkt.  Die  Ausführung,  die  er  dann 
auf  diesem  Standpunkt  gab,  ist  freilich  von  den  bezeichneten 
Jugendeindrücken  mitgefärbt,  vor  allem  in  der  persönlichen  sitt- 
lichen Stimmung,  aber  alle  ihre  wesentlichen  Grundbegriffe  ent- 
stammen aus  einer  völlig  anderen  geistigen  Welt.  Wenn  Kant 
wirklich,  wie  Hollmann  meint,  für  die  „Rel.  i.  d.  Gr.  d.  bl.  V." 
einen  Königsberger  Katechismus  benutzt  hat,  so  würde  ich  darin 
nur  ein  Zeichen  seiner  völligen  Entfremdung  von  aller  Theologie 
sehen   können,    die  es  ihm  wünschenswert  machte,   für  sein  Werk 

1)  HoUmann  S.  35. 

^  Ober  diese  Prolegomena  hinaus  sind  bis  jetzt  die  Forschungen 
HoUmanns  nicht  fortgeschritten. 


38  B.  Troeltsch, 

gewissenhafter  Weise  noch  ein  offizielles  Beligionsbnch  zum  Zweck 
der  Anseinandersetzong  mit  der  Theologie  zu  kousultierea 

Eine   ganz    andere   Erklärong  giebt  Amol  dt.      Fjt   unter- 
nimmt es,  Kants  Beligionsphilosophie  in  die  möglichste  Nähe  Les- 
sings  zu  rücken  und  sie  grossenteils  als  Zustimmung  oder  Gegen- 
satz zu  erklären.    Die  Beweise  dafür  beruhen  allerdings  nur  darauf, 
dass  Kant    einen   so   glänzenden  Autor  und  Zeitgenossen  gelesen 
haben  müsse,  dass  alle  thatsächliche  Übereinstimmung  der  beider- 
seitigen Begriffe  Übernahme  Lessingscher   Ideen   durch  Kant  und 
alle  thatsächliche  Verschiedenheit  Korrektur  derselben  bedeute.  Das 
Richtige  dagegen  hat  schon  Kuno  Fischer  gesagt.  ^)     Die  folgende 
Abhandlung  wird  zeigen,  wie  Kant  durchaus  auf  der  breiten  Basis 
der  Religionsphilosophie,  Geschichtsphilosophie  und  Ethik  der  Auf- 
klärung  überhaupt   steht,  und   wie   die  Berührungen  mit  Lessing 
sich  aus  der  gemeinsamen  geistigen  Atmosphäre  von  selbst  ergeben. 
Insbesondere  die  Aufstellungen   über   die  Offenbarung,    die    Kant 
und   Lessing   gemeinsam   sind,   sind   nur   die  berühmten  und  viel 
verhandelten  Begriffe  Lockes,  mit  denen  er  das  deistische  Schema 
der  Vereinigung   von  Vernunft   und  Offenbarung   im    Christentum 
ausgebildet    hatte.     Es   wird   sich  überdies  zeigen,  dass  die  Ver- 
wendung dieses  Schemas  von  Kant  überhaupt  nur  im  exoterischen 
Sinne  gemeint  ist,  indem  er  durch  dasselbe  den  Theologen  eine  die 
Philosophie   nicht   störende,  möglicher  Weise  berechtigte,    Provinz 
einräumt.     Amoldt  hat  einige  Beziehungen   auf  Lessing    und    vor 
allem  auf  Reimarus  allerdings  wahrscheinlich   gemacht.     Allein  es 
ist  eine  ganz  falsche  Vorstellung  von  der  Sache,  wenn  man  Kant 
in  diesen  Dingen  von  einem  einzelnen  Autor  statt  von  der  Gewalt 
der  modernen  antisupranaturalistischen  Problemstellung   überhaupt 
abhängig  denkt. 

Ganz  allgemein  hat  Paulsen  in  seiner  Abhandlung  „Kant  der 
Philosoph  des  Protestantismus"^  die  Kantische  Philosophie  über- 
haupt als  „rechte  FrucW  des  Protestantismus  bezeichnet  und  da- 
mit natürlich  auch  besonders  von  der  Religionsphilosophie  dieses 
Urteil  gefällt.  Eine  solche  Zusammenordnung  hat  ihr  voUes  Recht 
als  Aussage  über  ein  sachliches  Zusammentreffen.  Sofern  sie  da- 
gegen genetisch  gemeint  ist,  kann  sie  nur  bedingt  gelten.     Schon 

1)  Kant  n,  375  ff.  Als  blosse  Vergleichung  der  Kantischen  und 
Lessingschen  Lehre  ist  die] Abhandlung  dagegen  sehr  branchbar. 

«)  Berlin  1899.  Sonderabdruck  aus  Kantstudien  IV,  1  Virl  meine 
Anzeige  Deutsche  Littztg.  1900,  Sp.  157  ff. 


Das  Hûtorische  in  Kants  Beligionsphilosophie.  39 

der  Ânti-fiationalismus  der  Kantischen  Religionsphilosophie  ist  kaum 
ein  Ergebnis  des  Protestantismus.  Der  lediglich  im  religiösen 
Widerwillen  gegen  die  Spekulation  begründete  Anti-Rationalismus 
Luthers  hat  nicht  auf  Kant  gewirkt  und  ist  im  Protestantismus 
selbst  überhaupt  rasch  verloren  gegangen.  Das  Christentum,  das 
auf  Kant  gewirkt  hat,  ist,  wie  Hollmann  gezeigt  hat,  stark  ratio- 
nal, und  von  ihm  hat  er  den  Impuls  auf  eine  Vereinigung  des  Ra- 
tionalen und  des  Religiösen  empfangen.  Andererseits  ist  Kants 
Anti-Rationalismus  völlig  selbständig  in  den  Ergebnissen  seiner  Ar- 
beit an  den  religiös-metaphysischen  Spekulationen  begründet  und 
wurzelt  in  seiner  hierbei  gewonnenen  Einschränkung  rationaler 
Erkenntnisse  auf  die  wissenschaftlich  bearbeitete  Erfahrung  Die 
Stellung,  die  dadurch  den  religiösen  Gedanken  zu  Teil  wird,  ist 
daher  mehr  antimetaphysisch  als  antirational;  Kant  hat  sich  alle 
Mühe  gegeben,  ihre  Rationalität  auf  anderer  als  metaphysischer 
Basis  dafür  um  so  strenger  zu  behaupten.  Die  genauere  Gestaltung 
dieser  Rationalität  selbst  ist  dann  freilich  vom  protestantischen 
Individualismus  und  Gewissensbegriff,  genauer  vom  Pietismus,  er- 
heblich bestimmt.  Aber  indem  dieser  Religionsbegriff  der  subjektiv- 
persönlichen Überzeugung  von  der  Begründung  des  Sittengesetzes 
und  seiner  siegreichen  Durchführung  in  Gott  rein  rational  gehalten 
und  allem  Historischen  gleichmässig  gegenübergestellt  wird,  be- 
findet sich  Kant  im  Zusammenhang  der  modernen  wissenschaft- 
lichen Religionsphilosophie  oder  des  Deismus  und  steht  er  schroff 
gegen  Protestantismus  und  Katholizismus,  die  beide  gleicherweise 
einer  abgelaufenen  Periode  angehören  und  von  denen  er  den  Ka- 
tholizismus ausdrücklich  konsequenter  findet  als  den  Protestantis- 
mus. >)  Sogar  die  ethisch  religiöse  Empfindung  selbst  ist  viel- 
leicht gleich  stark  Avie  durch  den  Pietismus  durch  Rousseau  beein- 
flusst.  Paulsen  hat  daher  auch  in  seinem  „Kant"  die  Religiosität 
der  Philosophen  mit  derjenigen  Lessings,  Spinozas  und  des  Deis- 
mus in  einer  Weise  zusammengestellt,  die  den  vollsten  Gegensatz 
gegen  alle  diejenigen  enthält,  welche  den  Erlösungsgedanken  als 
ihr  Zentrum  betrachten  und  hier  den  Anschluss  an  das  Christentum 
sehen.  Kant  empfindet  in  dem  18.  Jahrhundert  überhaupt  ein 
neues  Zeitalter  der  Religionsgeschichte,  das  Zeitalter  der  nicht- 
statutarischen, und  das  heisst  der  nicht-supranaturalistischen  Reli- 
gion,  das  einen  Bruch   mit    allem   bisherigen   bedeutet   und   erst 


1)  Kant,  Werke,  Hartenstein,  1868.    VH,  378. 


40 


E,  Troeltsch, 


in  seinoii  Anfängen  ist.  Dieser  Bruch  aber  ist  vor  allem  m  der 
StelliiBg  zum  Historischf'ü  beja:riioilet  Eiu  ,,syoibolisdier  Anthro- 
proniophisiHUS"  als  notweudi^e  Form  jedes  religiösen  Glaubens 
(S.  ll>)  iiïul  die  Aufg:abe  der  Keinigurig  und  Kontrule  dieses  Sym- 
l>olisrnas  durch  reine  Veruuuftideeu»  das  ist  etwas,  was  nicht  dem 
Pmtestantisnius,  soudern  rein  der  niodenien  Ideenwelt  angehurt.*) 


2. 

Kants   AusganjSfspuuki   für   die  Bestimmung   des 

Verhältuisses  von  Religion  und  Geschichte. 
Dieser  Überblick  über  die  wichtigsten  Darstellimgen  and 
Auffassungen  der  Kantischtm  Religionsiihilosophie  zeigt,  class  ihre 
Probleme  sieh  deutlich  iu  zwei  Hauptgruppeu  gliederu^  in  die  er-  ^ 
kenutnistheoretisch -metaphysischen  (das  Wort  „metaphysisch**^ 
hierbei  im  Sinne  Kants  gebraucht  als  Bezeichnung  für  eijie  auf 
reiner,  gesetzgebender,  apriorischer  Vornuuft  beruhende  Erkennt- 
nis) und  lu  die  religionsgeschichtlicdieu.  Das  zeigt  auch  Kants 
eigene  Schriftstellerei,  die  in  den  wiederholten  Hauf^tentwürfeiM 
nur  Aus  erste  Probleni  ins  Auge  fasst,  das  zweite  dagegen  ausser 
in  der  „R.  i.  d.  Gr,  d,  bl.  V,"  nur  in  Gelegenheitsschriften  be- 
handelt Das  liegt  schliesslich  im  Wesen  der  Kantischen  Theorie 
selbst,  die  überall  die  gewisse,  aus  der  Venmuftgesetzgebuijg 
hervorgehende  Erkenntnis  su(!ht  und  alle  bloss  psychologische  An- 
regung oder  Durchkreuzung,  alle  historischeu  Beimengungen  oder 
Durchsetzungen  nur  als  Beiwerk  betrachtet.  Es  ist  nicht  die 
Absicht  dieser  Abhandlung,  die  Probleme  der  ersten  Gruppe  weiter 
zu  beleuchten  und  zu  uutorsucheu.  Übe)'  diese  diWte  in  einer 
uferlosen  Litteratnr  allmähtich  alles  Vernünftige  gesagt  sein. 
Insbesondere  halte  ich  die  Schrift  von  Schweitzer  trot^  mancher 
üborscharfsinnigen  Meinungen  auf  diesem  Gebiet  mindestens  vor- 
läufig für  das  k^zte  Wf)rt,  Dagegen  bedarf,  wie  die  vorangegan- 
gene tibersicht  zeigt-,  die  zweite  Gruppe  noch  sehr  dringend  ga« 
nanerer  Untei-suchung.  Es  kann  zwar  auch  hier  nichts  wesentlich 
Neues  gesagt  werden  und  darf  vor  allem  nicht  vergessen  werden, 
dass  Kant  diese  Probleme  absichtlich  bei  Seite  geschoben  und 
ihnen  keine  integrierende  Bedeutung  zuerkannt  hat.  Sie  düiien 
daher    auch    nicht    tiefer    in    seineu    Gedanken    hineingeschuhen 


1)  Was  übrigens  Paulseti  selbst  richtig  liervorhebt  S.  lö  1  AusserdeB 
vgl  Paulsen  1.  Kant  1898,  S,  364  f. 


Das  Historische  in  Kants  Reiigionsphilosophie.  41 

werden,  als  er  selbst  sie  hat  haben  wollen.  Allein  einerseits  ist 
die  Auffassung  von  Kants  wirklicher  Stellung  zu  ihnen  doch  noch 
sehr  schwankend,  und  andererseits  pflegen  in  solchen  nur  durch 
Abschiebung  erledigten  Problemen  die  nicht  aufgearbeiteten  Reste 
zu  liegen,  von  denen  aus  sich  die  kritische  Fortbildung  durch  die 
Nachfahren  zu  erheben  pflegt. 

Um  nun  aber  den  Einsatzpunkt  für  diese  Untersuchung  fest- 
zulegen, muss  ich  noch  einmal  den  Hauptcharakter  hervorheben, 
der  von  allen  Darstellern  als  der  entscheidende  Grundzug  aner- 
kannt ist.  Die  Kantische  Lehre  ist  in  allen  Stücken  erkenntnis- 
theoretisch, das  heisst:  sie  beruht  auf  der  Voraussetzung,  dass  in 
den  apriorischen  Notwendigkeiten  der  Vernunft  und  in  deren  Kon- 
sequenzen die  dem  Menschen  allein  erkennbare  normative  Wahr- 
heit gegeben  ist;  sie  besteht  in  der  Herausschälung  der  apriorisch- 
rationalen, den  Wahrheitskern  konstituierenden,  Gedanken  aus  dem 
Win-warr  des  erfahrungsmässig  stets  getrübten  und  nie  rein  auf 
seine  apriorische  Bestimmtheit  sich  besinnenden  gewöhnlichen  Be- 
wusstseins  ;  sie  ergiebt  schliesslich  derart  als  Ziel  aller  Denkarbeit 
einen  streng  normativen,  die  für  Menschen  erreichbare  Wahrheit 
enthaltenden,  Gedankenzusammenhang,  der  als  Wahrheitskern  des 
gewöhnlichen  Bewusstseins,  als  Massstab  der  thatsächlichen  histo- 
rischen Geistesbewegungen  und  als  Zweck  der  völlig  gereinigten, 
Edles  Zufällige  von  diesen  Gesetzen  aus  beherrschenden  und  glie- 
lemden,  Vernunft  erscheint.  >)  Die  Bedeutung  dieses  Grund- 
Aarakters  gerade  für  die  Rehgionsphilosophie  zeigt  sich  bei  dem 
V^'ergleich  mit  der  vorkantischen  modernen  Religionsphilosophie. 
Diese  war  entweder  rational-metaphysisch,  indem  sie  einen  meta- 
[>hysisch  konstruierten  Sachverhalt  als  Wesenskern  und  Norm  der 
5ubjektiven  Religion  konstruierte  und  von  diesem  aus  die  verschie- 
lenen  historischen  Offenbanmgsansprüche  zu  würdigen  unternahm, 
3der  sie  war  empirisch  psychologisch,  indem  sie  mit  Locke  in  den 
îthisch-eudamonistischen  Urteilen  das  religiöse  Ingredienz  heraus- 
zuheben suchte  oder  mit  Shaftesbury  in  Gefühl  und  Enthusiasmus 

*)  Vgl.  an  M.  Herz  1773:  „Da  ich  einmal  in  meiner  Absicht,  eine  so 
ange  von  der  Hälfte  der  philosophischen  Welt  umsonst  bearbeitete  Wissen- 
tchaft  umznschaffen,  so  weit  gekommen  bin,  dass  ich  mich  in  dem  Besitz 
^ines  Lehrbegriffes  sehe,  der  das  bisherige  Rätsel  vöUig  aufschliesst  und 
las  Verfahren  der  sich  selbst  isolierenden  Vernunft  unter 
ichere  und  in  der  Anwendung  leichte  Regeln  bringt  . .  .*  Er  wiU  diesen 
.seinen  domigten  und  harten  Boden  eben  und  zur  allgemeinen  Be- 
arbeitung frei  machen^.    Briefw.  I,  137. 


42 


E,  Troeltflch, 


oder  mit  Rousseau  in  der  Stimme  der  Natur  die  religiöse  Erkeont- 
ids  suchte  und  dabei  de»  einfachen  praktischen  (iehalt  in  alleu  Be- 
h'gfionen  trotz  verschiedener,  meist  nur  kornmpiereiider  Ausigrestal- 
tunken  identisch  fanden.  Der  iteprensatz  Kants  gegen  den  erstp 
genanuteii  Zwei^  der  Rehgionsphilosoithie  liegt  auf  der  Hand.  £s 
ist  der  Gegensatz  der  transseendental-kritischen  gegen  die  meta- 
physisch-spekulative Methode»  wobei  nur  nicht  zu  vergessen  ist, 
dass  Kant  mit  den  i^letaphysikern  das  Interesse  an  einer  unbe- 
dingt, festen,  begrifflich  völlig  gesicherten,  normativen  Erkenntnis 
gemein  hattet)  Weniger  scharf  beachtet  ist  sein  Gegensatz  gegeo 
den  letztgenannten  Zweig.  Er  hat  mit  diesem  gemein,  dass  er  die 
Religion  nicht  als  dogmatisches  Refiexionsprodiikt,  sondern  als  ge- 
gebenes seelisches  Phänomen  nimmt.  Aber  er  unterscheidet  sich 
von  dem  empirischen  Psychologisnms  dadurch,  dass  er  sich  nicht 
au  die  psychische  Ei^^cheinung  als  solche  hält,  die  ihm  direkt  und 
von  sich  aus  keinen  Zutritt  zur  Wahrheit  gewährt,  sondern  Eü^^ 
schoinung  des  Seelenzusammeuhangs  ist.  Er  schält  vielmehr  auct^^ 
hier  erst  kritisch-erkeuntnistheoretisch-transsceudeutal  den  hier  zu 
Grunde  liegenden  apriorischen  Wahrheitskern  heraus.  Er  unter- 
scheidet Psychologrie  und  Erkonntnistheorie  der  Religion,  und  nur 
auf  der  kritischen  Erkenntnistheorie  des  TransscendentaüsmttS 
baut  oj'  den  Wesens-  und  Noi^m begriff  der  Rtjligion  anf,  den  der 
Psychologismus  von  sich  aus  konsetjuenter  Weise  gar  nicht  suchen 
konnte  und  den  die  metaphysische  Religionsphilosophie  kons 
quenter,  aber  irrtiimlichcr  Weise  suchtet) 


1)  Vgl  Briefw.  n,  512  vom  24.  XI.  1794:  „Mein  Thema  ist  eigentlic 
MetaphysOc  in  der  weitesten  Bedeutung  und  befasst  als  solche  Tlieologie» 
Moral  ^mit  ihr  also  Religion),  ingleichen  Naturrecht  (imd  mit  ihm  St^iat^- 
und  VfUkerrecht},  obzwar  nur  mich  dem,  wa-s  bloss  die  Veruunft  von  iliDen 
zu  sagen  hat,**  und  die  Äusserung  an  Herz  IL  V,  1781  über  die  Kritik, 
sie  »,entlialte  die  Metaphysik  von  der  Metaphysik"^  Briefw*  1,  252. 

*)  Lehrreich  ist  hierfür  Kants  Verhältnis  7ai  Jacobi.  Er  hatte  sich 
durt*k  die  Berliner  in  scliarfenGegen.satz  geja:en  ihn  treiben  lassen  (Briefw. 
1,  U%  432',  bat  aber  doch  die  Verbindung  mit  ihm  —  wohl  im  Gefühl 
einer  gewissen  Gemeinsamkeit  —  nicht  abgebrochen  sehen  wollen  (L  öOo). 
Kant  hat  dann  seinen  Unterschied  gegen  Jacobis  Theismus  oder  Relierions* 
pliilosophie  überlegt  und  selbst  in  dem  oben  angegebenen  Sinne  fixiert. 
Er  schreibt  an  Jacoln  30.  VIII.  1789:  *,Etwas,  was  Über  die  Spekidation 
hinzukommt,  aber  doch  nur  in  ihr,  der  Vernitnft,  selbst  liegt  und  was  wir 
zwar  (mit  dem  Namen  der  Freiheit,  einem  übersinnlichen  Vermögen  der 
Kausalität  in  uns)  zu  benennen,  aber  nicht  zu  begreifen  Tvissen,  ist  das 
notwendige  Ergänziingsstück  derselben.    Ob   nun  Vemunftj  uin  zu 


diesem 


Das  Historische  in  Kants  Beligionsphilosophie.  43 

Es  ist  sehr  nötig,  dieses  erkenntnistheoretische  Moment  in 
Kants  Religionsphilosophie  zu  betonen.  Denn  Auffassang  und  Be- 
urteilung hängt  zum  guten  Teil  davon  ab.  Freilich  ist  sie  aber 
auch  nicht  lediglich  aus  diesem  Gesichtspunkt  zu  verstehen.  Wie 
seine  ganze  EIrkenntnistheorie  durchgängig  von  dem  psychologischen 
Befund  der  Bewusstseinsanalyse  und  damit  von  dem  Stand  der 
damaligen  Psychologie  abhängig  ist,  so  ist  auch  seine  Erkenntnis- 
theorie der  Religion  von  der  damals  vorwiegend  geübten  Religions- 
psychologie abhängig.  Diese  hatte  an  der  Religion  überall  bereits 
den  wesentlich  praktischen  Charakter  erkannt,  und,  da  sie  das 
Praktische  nur  als  Moralisches  zu  fassen  wusste,  so  hatte  sie  die 
Religion  als  Moral  mit  metaphysischen  Korrelaten  angesehen.    Das 


Begriff  des  Theismus  zu  gelangen,  uns  durch  etwas,  was  allein  Geschichte 
lehrt,  oder  nur  durch  eine  uns  unerfassHche,  übernatürliche  innere  Ein- 
wirkung habe  erweckt  werden  können,  ist  eine  Frage,  welche  bloss  eine 
Nebensache,  nämlich  das  Entstehen  und  Aufkommen  dieser  Idee,  betrifft^ 
II,  73  f.  Jacobi  schreibt  in  seiner  Antwort  diese  Stelle  aus  und  bemerkt 
zu  ihr:  „Und  es  entspringen  diese  Erkenntnisse  nach  meiner  Meinung  aus 
der  unmittelbaren  Anschauung,  welche  das  vernünftige  Wesen  von  sich 
selbst,  von  seinem  Zusammenhang  mit  dem  Urwesen  und  einer  abhängigen 
Welt  hat.  Bei  der  Frage,  ob  diese  Erkenntnisse  wirkliche  oder  nur  ein- 
gebildete Erkenntnisse  sind,  ob  ihnen  Wahrheit  oder  Unwissenheit  und 
Täuschung  entspreche,  wird  die  Verschiedenheit  zwischen  Ihrer  Theorie 
und  meiner  Überzeugung  auffalleitd.^  II,  102.  Jacobi  bezeichnet  auch  den 
gemeinsamen  Boden,  innerhalb  dessen  sich  diese  Differenz  bewegt:  „Da 
ich  meinen  Theismus  überall  nur  ans  dem  allgegenwärtigen  Faktor  mensch- 
licher Intelligenz,  aus  dem  Dasein  von  Vernunft  und  Freiheit  hergeleitet 
habe,  so  konnte  ich  die  Möglichkeit  einer  Beziehung  (sc.  eines  Angriffs 
Kants)  auf  meine  Theorie  nicht  einsehen.*^  I,  101.  Die  gegen  Jacobi  ge- 
richtete Abhandlung  „Was  heisst  sich  im  Denken  orientieren^  1786,  die 
die  Berliner  Kant  abgedrungen  hatten  und  auf  die  sich  die  oben  zitierten 
Briefe  beziehen,  hatte  auch  ihrerseits  diesen  Unterschied  auseinanderge- 
setzt. Das  Prinzip  giltiger  Erkenntnis  liegt  nur  in  der  reinen  kritischen 
Vemtmft.  Das  gilt  gegenüber  Mendelsohns  common  sense.  Es  gilt  noch 
mehr  gegen  Jacobis  genienmässigen  Glauben.  In  ihm  hegt  kein  Prinzip 
der  Gütigkeit.  „Der  Venunftglaube  (sc.  die  kritische  Lehre)  muss  vorher- 
gehen und  alsdann  könnten  aUenfalls  gewisse  Erscheinungen  oder  Er- 
öffnungen Anlass  zur  Untersuchung  geben,  ob  wir  das,  was'^zu  uns'^spricht, 
oder  sich  uns  darstellt,  wohl  befugt  sind,  für  eine  Gottheit  zu  halten,  und 
nach  Befinden  jenen  Glauben  bestätigen,"  IV,  349.  Wie  in  den  Er- 
leuchtungen als  solchen  kein  Prinzip  der  Giltigkeit  hegt,  so  wird  die 
Nötigung  bald  sich  einstellen,  ein  solches  zu  ergänzen.  Man  wird  ent- 
weder genötigt  sein,  auf  das  Eingebungsprinzip]  das^Prinzip  supranatu- 
raler Offenbarungen   aufzupfropfen  oder,   wenn  man  von  ihm  sich  befreit, 


44 


E.  Troeltsch, 


ist  bei  so  griindverschiedeneii  Deiikerir  wie  Lot'ki%  Leibuiz  und 
Pascal  der  Fall  mid  ist  besutiders  charakteristisch  in  der  Kant 
zunächst  vorliegenden  Reli^iooslehre  der  deutsclien  Aufklärang 
ausgeprägt.  So  liât  Kant  deu  Religionsbegriff  ilberkoniuien,  uüd, 
indem  er  ihn  aus  dem  bloss  Psychologischen  ins  Erkeuntnistheore- 
tische  erhob,  hat  er  ihot  die  Erkenntnistheorie  der  Moral  als  Rück- 
grat gegeben.  Einmal  aber  so  zum  Rückgrat  des  Religionsb(?- 
grifies  geworden,  hat  die  Moral  über  ihn  eine  ganz  einseitige 
Herrschaft  erlangt,  die  über  die  persönliche  Empfindung  Kants 
von  der  Religion  doch  wohl  nicht  unerhelilieh  hinausging.  Der 
Wiedergeburts-    und    Erltksungsgedanke,    die  Idee   einer  göttlichen 


die  Spekulationen  einer  dogniatisclien  Metaphysik  zu  Norm  und  Kern 
machen  müssen  IV,  Hb\,  Ganx  den  gleichen  Standpunkt  nimmt  die  nicht 
ausdrücklich,  aber  thatsai'ldich  g-egen  Jacohi  ^rericlitete  Abhandlung  ^Von 
einem  neuerdin^  erhob*^nen  vornehmen  Ton  in  der  Philosophie^  1796  ein.  Die 
Reli^ioiisphiloHophie  der  Geniemänner  fordert  nnr  „einen  einzigen  Scharfbhck 
auf  ihr  Inneres'*  (VI,  466);  sie  hält  sich  an  das  „Empirische,  welchem  eben 
darara  xur  allgemeinen  Gesetzgebung  untauglich  ist"  und  .^entraannet  und 
lähmt  durch  dieses  untergeschobene  Empinsche*'  die  auf  apriori  geltenden 
Prinzipien  bernhende  praktische  Vernunft  477*  üni  dann  aber  „glaubhaft 
zu  machen,  dass  dieses  Gefühl  nicht  bloss  subjektiv  in  mir  sei,  sondem 
einem  jeden  angesonnen  werden  ki^nne/*  macht  sie  aus  dem  Gefühl  ^eine 
Anschauung,  Auffassung  des  Gegenstandes  selbst";  „es  lebe  also  die  Philo- 
sophie aus  Gefüllten,  die  uns  gerade  zur  Sache  selbst  ftthrt  !  Weg  mit  der 
Vernünftelei  aus  Begriffen,  die  es  nur  durch  den  Umschweif  allg-emeiner 
Merkmale  versucht,  und  die,  ehe  sie  noch  einen  Stoff  bat,  den  sie  immit- 
ielbar  ergreifen  kann^  vorher  bestimmte  Formen  verlangt,  denen  sie  jeneu 
Stoff  unterlegen  könne!"  S.  471.  Dem  gegenüber  fixiert  Kant  seinen 
Standpunkt  seharf:  „Die  innere  Erfalu*un|^  und  das  Gefühl  (welches  an 
sich  empirisch  und  hiermit  zufällig  ist),  wird  allein  durch  die  Stimme  der 
Vernunft  (dictamen  rat  ionisa  die  zu  Jedennann  deutlich  spricht  und  einer 
wissenschaftlichen  Erkenntnis  fähig  ist^  aufjtijerc^^,  nicht  aber  etwa  durchs 
Gefühl  eine  .  ,  .  Begel  für  die  Venmnft  eingeführt,  welches  nniuôglicb 
ist,  weil  jene  sonst  nie  allgemeingillig  sein  könnte**  S.  478.  Znm  Schluas 
aber  betont  Kant,  dans  diese  Differenzen  bei  der  Gemeinsamkeit  des  Bodens 
doch  unbedeutend  seien  .,ein  Länu  um  Nichts,  eine  Veruneinigung  aus 
Missverst«nd,  bei  der  es  keiner  Aussivhnnng,  sondern  nur  einer  wechsel- 
seitigen Erklärung  bedarf**  S.  48L  Freilich  ist  mit  der  Hervorhebung 
dieser  Begriffe  nicht  der  ganze  Gegensatz  erschöpft.  Die  Genie-Religiaii 
will  in  ihrer  Anschauung  Gott  haben  und  von  ihm  erj^riffen  sein^  während 
sie  der  Kantische  Lehre  %'orvvirft,  dass  nach  ihr  die  Vernunft  Gott  erst 
mache  und  ihn  bloss  Prinzip  und  Idee  sein  lasse.  S.  477.  Von  diesem 
Gegensatz  wird  später  noch  die  Rede  sein.  \g{.  VII,  444  (Anthropologie)» 
wo  iTacotu  nicht  genannt,  aber  sichtlich  neben  Pascal,  der  Bourij^on  und 
Alb.  V.  Haller  gemeint  ist. 


Das  Historische  in  Kants  Religio nssphilosophie. 


Onade  tind  Weisheit,  die  die  Totalität  der  gnteu  Gesiünimg  für  die 
^ten  Werke  Bimmt,  mid  einer  Voi-sehiing  und  Weltleitung,  welche 
das  Gute  gegvu  das  Böse  stärken,  das  suid  doch  nicht  mehr  mora- 
lische, sondern  spezifisch  religiose  Gedanken.  Auch  die  anbetende 
Bewunderung  vor  der  Majestät  des  Übersinnlichen  geht  über  das 
moralistische  Schema  weit  hinaus.  Aber  diese  Gedanken  sind  unter 
dem  Zwang  der  au  die  Moral  augt*lohriten  Erkenntnistheorie  zu 
keijier  rechten  Entfaltung  gekonnneu.  Doch  soll  das  in  diesem 
Zusammenhang  nicht  besoudei-s  betont  werden;  hier  hat  ja  bereits 
die  romantische  Religionsanalyse  mit  vollem  Recht  korrigiert.  Hier 
soll  nur  die  Bedeutung  des  erkenntnistheoretisclien  (^edankens  als 
solchen  hetTorgehoben  sein,  weil  an  seiner  Einführung  die  Be- 
sonderheit des  Verhältnisses  von  Religion  und  Geschichtre  hängt, 
wie  es  für  Kant  sich  ergeben  habe* 

Noch    ein    weiterer  Umstand  ist  bei  dieser  Betonung  des  er- 
i  kenntuistheoretischen  Momentes  von  vornbereiu  zu  beachten,  Kants 
I  ganze    kritische  Erkenntnistheorie    ist    eine  Behauptung  und  Neu- 
igestaltung  des  Rationalismus    gegenüber   dem  Empirismus.     Allein 
les    ist   ein   völlig  formaler  Rationalismus,    der  nur  in  den  apriori- 
'  sehen  Bewusstseinsfoi^men  und  Beuiteilungsweisen    die  Notvvendig- 
I  keit  der  Vernunft  liervorhebt,  aber  diese  Formen  überall   auf  den 
'  thatsäcblicheu  Stoff  des  äusseren  und  inneren  Sinnes  ei'st  anwenden 
^lässt    Das  ist  verhältnismässig  einfach  und  rein  durchgeführt  für 
'  die    Naturwissenschaften    und    für    die    teleologische    Urteilskraft. 
Nicht  völlig  rein  aber  ist  dieses  Prinzip  durchgeführt  für  die  Ethik 
und    die    Religionslehre.     An    sich    müssten  darnach  die  Grundbe- 
griffe  der  Moral    und    der  Religion  Kriterien    sein,   die  den  mora- 
lischen   oder    religiösen   (îharakter    eines  Geschehens    festzustellen 
emioglichen    und    die    in    dem    rationalen   Seelengeschelieti    immer 
mehr    als   ordnende    Prinzipien   geltend    zu    machen    sind.      Statt 
dessen  aber  schlägt  die  kritische  od(^r  formal-rationalistische  Hand- 
habung des  Prinzips  sein*  häufig  um  in  eine  materiale  mhn-  inhalt- 
lich-rationalistische.     Aus    dent    formalen    Moralprinzip    wird    ein 
freilich    sehr   mageres    inhaltliches   Moralgesetz  und  ans  dem  for- 
malen Religionsprinzip    wird    ein    nicht    minder  magerer  lïibegriff 
rationaler   Glaubensartikel    gewonnen.     Das   aber    ist  von  grosser 
Wichtigkeit  für  unser  Problent.     Je  mehr  das  erstere  der  Fall  ist, 
um    so    unbefangener    wird    die    Religionslehre    auf   die  wirkliche 
Uisturische  Religion    eingeheu;  je    mehr    das  zweite,    um  so  mehr 
wird  Kant  die  rationalistische  Spr(idigkeit  der  Veriuinft  gegen  die 


46  E,  TroeUsch, 

G^chîchte  teilen.  Immerhin  aber  macht  sich  dieser  Unterschied 
mehr  nebenbei  geltend.  Das  Wichtigste  ist  für  Kant  die  Frage 
nach  der  Geltung  überhanpt,  und  diese  für  ihn  nur  erkenntnis- 
theoretisch  zu  beantwortende  Frage  verschlingt  alle  feineren  Unter- 

fi*agen. 

Kants  Denken  steht  also  durchaus  in  der  Richtung  auf  das  Nor- 
mative.    Er    hat    das    mit  dem   ganzen   aufstrebenden    modemen 
Denken    gemein,    das   die  Geltung   der  Autoritäten  und  Vorurteile 
nicht   dazu  erschüttert  hat,    um  sieh  mit  geistreicher  Skepsis  und 
nachbildender  Objektivität    in   die  Mannigfaltigkeit  des  Wirklichen 
und    des    Geweseneu    zu    stürzen,    sondern    das    die    durch     die 
anderthalb  Jahrtausende  christlicher  Ei^iehung  erw^orbene  Richtung 
auf   absolute,    höchste   und    normative  Wahrheit   nur  mit  anderen 
Mitteln  zum  Ziele    zu  führen   suchte.     Hierin  vor  allem  liegt  das 
begründet,  was  man  den  unhistorischen  Charakter  der  Aufklärung 
genannt  hat.     Die  Aufklärung  sucht  auf  dem  küi-zesten  Wege  die 
von    der  Autorität   unabhängige,    allgenieingiltige    Wahrheit    eines 
endlich    mündig  gewordenen  Zeitalters.     Sie  ist  wohl  mit  Historie 
beschäftigt,    aber   sie  fasst  die  Historie  überall  als  Nachweis  der 
menschlichen  Entstehungsweise   aller  bisherigen  historischeu  AnUy 
ritäten   in  Kirche,    Staat  und   Gesellschaft,   die  zu  solchen  Autori-* 
täten  ja  nur   durch  den  Glauben  an  einen  irgendwie  göttlich-über- 
menschlichen Ursprung  geworden  waren  und  die  durch  Abstreifuug 
des  göttlichen  Ursprungs  auch  der  göttlichen  Aut4>rltät    entkleidet 
wurden»     Und  sie   achtet   andrerseits    überall  auf  die  ihrem  Ideal 
entgegenkommenden   Ansätze,    in   denen   sie  das  notw^eiidige  Hin- 
streben zu  den  natürlichen  normativen  Wahrheiten  erkannt.     Wenn 
sie    hierbei    die    Störungen     dieser    Wahrheiten    durch    subjektiv- 
pragmatisch   erklärte   Abweichungen    und    Verschlechteruiigen    zu 
erklären  versucht,    so  war  ihr  ja  auch  das  durch  die  jahrtausend- 
lange Herrschaft    des  Erbsündenbegriffes    nahe  genug  gelegt,    der 
ebenfalls  die  Abweichungen  vom  Normativen  nur  als  Korruption  zu 
erklären  TriTisste.     Daraus  und  nicht  in  erster  Linie  aus  der  natm^ 
wissenschaftLichen  Gewöhnung  des-  Denkens  folgt  die  eigentümliche 
Behandlung   der  Historie    in  der  Aufklärung.     Nur  indem  ihr  nor- 
matives,   auf   die  neuen  Grundbegriffe  der  Welterkeuutnis  gericb- 
tetf'S  Denken  sich  dabei  vor  allem  den   naturwissenschaftUch-tech- 
niscben  Emingenschaften  zuwandte   und  zur    Aufhellung    der  Zu- 
sammenhänge der  natiu^wisseuschaftlichen  Methoden   sich  bediente 
drang    dann     die    alles    Einmalige   und    Individuelle     austilgende, 


É 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  47 

atomistische,  der  Naturwissenschaft  analoge  Behandlung  auch  me- 
thodisch in  die  Historie  ein,  wobei  nur  nicht  zu  vergessen  ist, 
dass  gegen  das  Individuelle  und  Einmalige  auch  die  christlich- 
nomative  Geistesrichtung  mehr  als  gleichgültig  war.  Daneben  hat 
es  aber  an  Erwägungen  des  zufälligen  Individuellen,  auch  an  der 
Verwertung  des  Entwickelungsbegriffes  nicht  gefehlt.  Die  Aufklärung 
hat  das  historische  Problem  sehr  wohl  gekannt,  hat  aber  in  ihrem 
normativen  Geiste  ein  ganz  anderes  Interesse  an  die  Historie  herange- 
bracht, als  das  dann  eine  in  der  Âllgemeingeltung  des  Bationalen  aus- 
gehungerte Zeit  mit  ihrem  Bedürfnis  nach  Leben  und  konkreter  Realität 
später  gethan  hat.  Es  liegt  ja  auch  auf  der  Hand,  dass  sich  das 
19.  Jahrhundert  mit  seinem  historischen  Sinne  zwar  das  Leben  gross- 
artig vertieft  und  ausgeweitet,  aber  doch  die  geistige  Gesamtlage 
nur  erschwert  hat.  Für  es  liegt  das  Problem  des  Normativen  in- 
folgedessen in  einer  viel  schwierigeren  Höhenlage,  als  das  für 
die  Aufklärung  der  Fall  war;  und  alle  modernen  Versuche  zur  Be- 
gründung des  Normativen  zeigen  dementsprechend  auch  entweder 
die  Notwendigkeit,  die  Historie  wieder  im  Sinne  der  Aufklärung 
zu  depotenzieren,  oder  für  den  neuen  Problemansatz  auch  eine, 
von  den  Begriffen  der  Aufklärungsphilosophie  sehr  verschiedene 
methodisch-spekulative  Voraussetzungen  zu  suchen.^) 

1)  Die  Genesis  des  modernen  historischen  Sinnes  ist  noch  sehr  wenig 
erforscht.  Jedenfalls  entwickelt  er  sich  selbständig  als  Kritik  und  Rekon- 
struktion neben  dem  naturwissenschaftlichen  und  wird  von  diesem  nur  ge- 
färbt, aber  nicht  im  Wesen  bestimmt.  Die  Kritik  und  Politik  der  Renais- 
sance, Kirchengeschichte,  Philologie,  Rechtsgeschichte  sind  seine  QueUen. 
Anthropologie  und  Ethnologie  erweitem  ihn  mächtig.  Menschheitsge- 
schichte und  Entwickelung,  Fortschritt  und  Hemmung,  der  Begriff  der 
Kultur  und  eine  bei  den  einzelnen  Denkern  sehr  verschiedene  Wertung 
der  Knlturelemente,  ob  Staat  oder  Kunst  oder  Technik  und  Naturwissen- 
schaft die  wichtigsten  sind  und  zur  Gliederung  des  Ganzen  dienen  können, 
zugleich  die  Frage  der  Urkundenkritik  und  die  erkenntnistheoretischen 
Bedingungen  der  Rekonstruktion:  all  das  beschäftigt  die  zweite  Hälfte 
des  18.  Jahrhunderts.  Das  19.  Jahrh.  hat  freiUch  dem  eine  ausserordent- 
liche Ausbreitung  der  Urkunden  und  Verfeinerung  der  Kritik,  sowie  die 
Vertiefung  der  Sozialpsychologie  hinzugefügt.  Aber  etwas  prinzipiell 
Neues  ist  in  seiner  Historie  nicht  zu  entdecken,  es  sei  denn  der  Verzicht 
atrf  alle  Beurteilungsmassstäbe,  was  aber  kaum  in  jeder  Hinsicht  ein  Vorzug 
ist.  Der  Entwickelungsbegriff  jedenfalls  macht  den  Unterschied  nicht  aus. 
Denn  dieser  ist  heute  kaum  klarer  als  damals.  Vgl.  Goldstein,  Die  empi- 
ristische Geschichtsauffassung  Humes,  Leipzig  1903;  Fleint,  Philosophy  of 
history  in  Prance  1893  ;  Harsbach,  Untersuchungen  über  Adam  Smith  1891  ; 
Görlitz,  Historische  Forschungsmethode  Mascovs  1901;  Bock,   Wegelin  als 


48  E.  Troeltsch, 

So  ist  auch  Kant  darchaos  dem  Problem  des  Xormatiyen  zu- 
gewandt, und  seine  charakteristische  Steilnng  ist,  dass  er  es  in 
einer  von  der  übrigen  Philosophie  gnindTerschiedenoi  Weise  za 
klsen  versnchte.  indem  er  entgegen  der  speknlatiren  Metaphysik 
sich  anf  die  Er&Lhmng  nnd  das  Gegebene  und  entgegen  dem  em- 
pirischen PsTchologismns  anf  das  streng  rationale,  apriorische  Er 
kenntnis  gebende  Element  des  Bewnsstseins  zurückzog'.  Damit 
wnrde  aber  dann  fr^ch  das  Verhältnis  Ton  Psychologie  und  Er- 
kenntnistheorie, von  kosmisch-psychischer  Erscheinung,  die  als 
Ganzes  wie  im  Einzelnen  für  die  menschliche  Erkenntnis  lediglich 
Thatsache  and  Znfall  ist,  zn  dem  Apriorisch-Notwendigen,  das 
mit  dem  Gedanken  des  Normativen  immer  auch  den  eines,  wenn 
auch  nnbekannten.  intelligibeln  oder  übersinnlichen,  vemnnft-not- 
wendigen  Grandes  der  Dinge  mit  sich  bringt«  für  die  Kantische 
Lehre  zn  einem  überaas  schwierigen  Problem.  Das  Problem  ist 
immer  schwieriger  geworden,  seit  Psychologie  and  Historie  eine  za 
Kants  Zeiten  angeahnte  Aasbreitang  and  Verfeinerung  erfahr»! 
haben,  and  seit  man,  dem  anmittelbaren  Zwang  seiner  an  der 
rationellen  Metaphysik  orientierten  Fragestellang  entnommen,  es 
nicht  mehr  so  selbstverständlich  findet,  die  normativen  £ri:ennt- 
nisse  lediglich  anf  die  apriorisch-rationalen  Bewnsstseinselemente 
za  gründen.  Dieser  Sachveriialt  charakterisiert  nun  aber  vor 
allem  aach  seine  Beligionsphilosophie.  Sie  geht  in  der  Richtung 
einer  die  erfahnmgsmÂssige  ThatsiUrhlichkeit  des  religiösen  Be- 
wnsstseins analysierenden  Untersnchnng  nnd  lâsst  dabei  die  Be- 
gründung der  Religion  auf  den  Offenbarungsg^uben,  der  selbst 
ein  psychologisches  Phänomen  und  Problem  ist-  weit  hinter  sich, 
verschmäht  aber  aach  einen  raschen  Übergang  von  dem  seelischen 
Phänomen  der  Religion  zn  einer  darin  angeblich  sich  äussernden 
spekulativ-rationalen  Gotteserkenntnis.  Damit  halt  er  die  Grund- 
richtung der  modernen  Religionsforschung  ein,  die  mehr  oder 
minder  klar  bewusst  diesen  methodischen  Ansatz  des  Problems 
vorgenommen  und  damit  überhaupt  erst  die  Basis  für  eine  wissen- 
schaftliche Religionsforschung  gelegt  hatte,  i)    Aber  seine  Analyse 

Geschichtstheoretiker  1902.  Von  alter  Littermtnr  ist  sehr  Iriirreich  Aï  L. 
Schl5zer.  Weltgeschichte  1786  «Dritte  Auflage  der  ^Voisteilun^  der  Uni- 
versalhistorie-  .  wo  die  Litteratur  sehr  reichlich  Teneichnet  ist. 

1  VieL  meine  Untersuchung:  Theologie  und  ReligionswisaeBschaft 
des  IS.  Jahrhunderts.  Preuss.  Jahrb.  1903  und  meine  Artikel  ,4>eismiis^ 
and  Jtforalisten.  Engtische*^  in  der  Real-Encyclop.  f.  Prot.Theol    «.  Kirche^. 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  49 

ist  nun  dämm  nicht  psychologistisch  und  deshalb  unfähig,  normative 
Erkenntnisse  zu  begründen,  sondern  sie  ist  erkenntnistheoretisch, 
d.  h.  sie  sucht  giltige  Wahrheit  und  zeigt  daher  im  rationalen 
Apriori-Gehalt  der  Religion  auch  die  giltige  Wahrheit  der  Eeligion. 
Was  das  bedeutet,  kann  man  vor  allem  an  einem  Vergleich  mit 
Herder  sehen.  ^)  Hat  der  letztere  eine  reichere  und  lebendigere 
Anschauung  von  der  Religion,  so  müht  er  doch  von  seinem  reinen 
Psychologismus  aus  sich  vergeblich  um  einen  fixierbaren  Wahrheits- 
gehalt der  Religion  und  kann  ihn  auch  durch  die  Heranziehung 
einer  poetisierten  Metaphysik,  durch  den  „Synkretism  des  Spinozism 
und  dem  Deism  in  seinem  Gott",  wie  Kant  sagt  (Briefw.  IL,  74), 
sich  nicht  verschaffen,  weil  gegen  eine  allzuenge  Vereinerleiung 
der  wirklichen  Religion  mit  dieser  Metaphysik  sich  doch  wieder 
seine  psychologische  Einsicht  sträubt.  Die  Überfülle  psychologischer 
und  in  eine  kosmolgischej  Metaphysik  verwebter  Feinheiten  und 
der  Mangel  an  einem  als  giltig  und  notwendig  begründeten  Mensch- 
heitsziel ist  ja  auch  das,  was  Kants  berühmte  Recension  an 
Herders  Ideen  tadelt.  In  umgekehrter  Richtung  lehrt  uns  das 
Gleiche  ein  Blick  auf  Schleiermachers  Religionsphilosophie.  «)  Was 
Schleiermacher  von  allen  Vorgängern  unterscheidet,  ist,  dass  er 
nicht  bei  schwankender  Psychologie  und  Beschreibung  der  Religion 
stehen  bleibt,  sondern  das  erkenntnistheoretische  Apriori  der  Re- 
ligion sucht,  das  ihm  dann  erst  durch  die  Beziehung  auf  die  wech- 
selnden Zustände  von  Lust  und  Unlust  und  durch  die  Entwickelungdes 
Weltbewusstseins  seinen  konkreten  psychologischen  Gehalt  erlangt. 
Wenn  er  das  auch  auf  andere  Weise  thut  als  Kant,  das  Prinzip 
selbst  hat  er  von  Kant.  Die  Einführung  dieses  Prinzips  aber 
macht  den  Fortschritt  des  Studiums  der  Religion  durch  Kant  aus. 
Ist  dem  nun  aber  so,  so  ergiebt  sich  erst  von  hier  aus  der 
richtige  Ansatz  für  das  unsere  Untersuchung  beschäftigende  Pro- 
blem. Die  Seele  der  Kantischen  Lehre  ist  die  Richtung  auf  das 
Normative.  Dieses  Normative  aber  findet  nur  die  Erkenntnistheo- 
rie als  Herausstellung  der  giltige  Erkenntnis  hervorbringenden, 
reinen,  d.  h.  apriorischen,  von  jeder  bloss  psychologischen  Bei- 
mengung befreiten  Vernunftgesetze.  Damit  ist  die  Stellung  zum 
Psychologischen-Historischen  von  selbst  gegeben.  Es  ist  das  rein 
rhatsächliche  und  —  von  menschlicher  Erkenntnis  aus  betrachtet  — 

Î)  Vgl.  Rud.  Wieland,  „Herders  Theorie  von  Religion  und  religiösen 
^''orstellungen-.    Beriin  1903. 

•)  Vgl.  Eng.  Huber,  „Schleiermachers  Religionsbegriff".  Leipzig  1901. 

K«atstadien  IZ.  4 


50 


'roeltsci 


I 


Zufällige,    in    dem  der  Empfindungsötoff  der  sog,  äusseren  Erfah- 
ruDg    und   die  EinzelÜmtsächliclikeit   der    sog.    inneren  Erfabning 
gegeben   ist.     Und    Dicht  bloss  den  Stoff  der  ErkeuDtnis  giebt  es, 
sondern    es    bewirkt    im  Zusamuieuhang   seiner   kausal    bedingten 
Bewegungen   auch    allerhand  Anregungen  und  Befcirderuiigeti  oder 
Hindernisse  uud  Trübungen,  wie  Kant  in  seiner  Gesehichtspihiloso-  _ 
phie    und  seiner,  eben  diese  Beziehung  sehililernden  Anthropologie^ 
vielfach   ausgeführt    hat     Also    es    ist   keineswegs  ignoriert  und 
keineswegs    unwichtig,   aber    ans   ihm  kommt   keine    Giltigkeit 
der   Erkenntnis.      Diese    stammt    nur   aus  der  reinen  Vernunft, 
ans  dem  von  aller  Vermischung  mit  dem  bloss  Thatsächlichen  be- 
freiten Apriori  der  Notwendigkeit.     Daher  stammt   die  Sprödigkeit 
gegen  alles  Psychologische  und  Historische.     Sie  stammt  nicht  aus  _ 
dem  „unhistorischen  Sinne  der  Aufklärung",  die  in  ihrer  Erzählungs*^ 
Utteratur  und  Poesie  psychologische  Freiheit  genug  entwickelt  niid 
deren    Ethik    von  psychologischen  Reflexionen  und  Beobachtungen 
ganz  und  gar  durchzogen  war,    die   von  hier  aus  das  Gewebe  der 
historischen    Vorgänge     gelegentMch     sehr    fein      zu    analysieren 
wusste.      Ja,     wenn    man    Habbes  und    Locke,    Voltaire,     Hume 
und   Eonsseau    kennt,    so    zeigt   sich    bei  Kant  sogar    ein    fortge- 
schrittenes,   ao  Tiefe,  Weite    und  Feinheit   über    diese  Begründer 
der   modernen  Geschichtsphilosophie  hinausgehendes  Interesse  und 
Verständnis,   eine    völlige  Antecipation    des   modernen  historischen 
Gedankens    zugleicli    mit   der  Einsicht,  dass  eine  bloss  empirische 
Geschichtsforschung  zu  zunehmenden  Relativismus  führen  müsse,  dem 
nur  eine  fest  gegründete,  rational-geschichtsphilosophische  Theorii* 
über  Ziel  und  Entwickelungsgaug  der  Geschichte   seine    ti'ostlosen 
Wirkungen  nehmen  kannJ)     Kant  will  gerade  gegen  diese  Fluten 
den  Daonn    des  Normativen    aufrichten,    und    wie    schwer  das  auf 
andere  Weise   möglich  ist,   zeigt  die  Verwüstung  des  Normativen, 
die    diese  Fluten    seither   bei   ihrem  ungeahnten  Wachstum  ange- 
richtet  haben,     Sie  stammt  auch  nicht  aus  dem  „Individualismus** 
der  Attfkläning.     Denn    die  Zugrundelegung    des  individuellen  Be- 
wusstseins,    soweit  es  AUgeaieingiltigkeit  enthalt,    ist  die  notwen- 
dige Voraussetzung  einer  solchen  Giltigkeit  erstrebenden  Methode, 
Das  individuelle  Bewusstsein  ist  mit  seinen  apriorischen  Elementen 
der    einzige     direkt    erreichbare    Repräsentant    des    Bewusstseins 
überhaupt,    und  dem  Über-Individuellen  des  Giltigkeitsbegriffes  ist 


^)  Vgl:    T|Idee   zur   aUgem.    Gesell."     IV,  1j>1  u.  156, 


Das  Historische  in  IBLant«  Keligionsphilosophié.  51 

ja  Bechnung  getragen  durch  Âusmerzung  alles  Zufällig-Psycholo- 
gischen und  Zufällig-Thatsächlichen.  Im  übrigen  setzt  Kants  Ge- 
schichtsphilosophie ja  gerade  bewusst  die  Gattung  und  nicht  das 
Individuum  als  ihr  Objekt  voraus.^)  Die  Sprödigkeit  gegen 
das  Psychologische  und  Historische  stammt  also  aus 
dem  innersten  Kern  der  Methode  selbst,  eben  der  Methode 
die  durch  Einschränkung  von  Raum,  Zeit  und  Kategorien  auf 
bewusstseinsimmanente  Giltigkeit  die  dogmatische  Metaphysik  zer- 
stört und  damit  den  Unterschied  von  Wissen  und  Glauben  be- 
gründet hat.  Aber  Sprödigkeit  heisst  nicht  Ausschliessung  und 
Ignorierung.  In  seiner  prinzipiellen  Reform  der  ganzen  Philosophie, 
in  seiner  Riesenarbeit  auf  dem  weiten  Felde  der  Metaphysik,  d.  h.  an 
der  Herausstellung  der  giltigen  Erkenntnisse  aller  Gebiete,  hat  er  nur 
keine  Zeit  und  kein  Interesse  für  dieses  Beiwerk.  Die  Anthropologie, 
die  dieser  Aufgabe  dienen  sollte,  kommt  zuletzt  und  ist  nicht  erschöp- 
fend. «)  Es  fallen  vor  allem  in  geschiohtsphilosophischen  Aufsätzen 
nur  einzelne  Bemerkungen  ab.  Hier  aber  zeigt  sich  Kant  auch 
weit  entfernt  davon,  diese  psychologischen  Beimengungen  nur  als 
Trübungen,  die  historische  Mannigfaltigkeit  nur  als  Korruption  des 
Rational-Einheitlichen  aufzufassen,  was  ja  bei  seiner  rein  formalen, 
bloss  den  Notwendigkeitscharakter  betonenden  Fassung  des  Apriori 
auch  gamicht  möglich  wäre.  Vielmehr  sieht  er  teils  diese  That- 
sächlichkeiten  als  zur  Ordnung  und  Beherrschung  durch  die 
reine  Vernunft  bestimmt  an,  teils  in  einer  Weise,  die  Hegels 
List  der  Vernunft  antecipiert,  als  die  Mittel  zur  Entbindung 
und  Befreiung  der  reinen  Vernunft  aus  ihrer  bloss  instink- 
tiven Verborgenheit  im  psychologischem  Getriebe.  Ja,  sein  Inter- 
esse gehört  geradezu  dem  Problem  der  Bestimmung  des  Menschen 
und  damit  der  Weltgeschichte.  ^)    Aber  er  hat  bei  seiner  schroffen 


1)  Ebd.  IV,  146  u.  149. 

«)  Vgl.  Briefw.  U,  414  an  Stäudlin  4.  V,  1793:  „Mein  schon  seit  ge- 
ranmer  Zeit  gemachter  Plan  der  mir  obliegenden  Bearbeitung  der  Felder 
der  reinen  Philosophie  ging  auf  die  Auflösung  der  drei  Aufgaben:  1.  Was 
kann  ich  wissen  (Metaphysik),  2.  Was  soU  ich  thun  (Moral),  3.  Was  darf 
ich  hoffen  ?  (Religion)  ;  welcher  zuletzt  die  vierte  folgen  soU  :  Was  ist  der 
Mensch  ?  (Anthropologie,  über  die  ich  schon  seit  mehr  als  20  Jahren  jähr- 
lich ein  Collegium  gelesen  habe).^ 

8)  Vgl.  von  Beck  27.  X.  1791:  „Und  was  kann  dazu  {nämlich  das 
Gemüt  durch  Beschäftigung  mit  den  nicht-mathematischen  Anlagen  teils  zu 
erquicken,  teils  ihm  abwechselnde  Nahrung  zu  geben)  j  und  zwar  auf  die 
ganze    Zeit   des  Lebens,   tauglicher   sein,   als   die  Unterhaltung  mit  dem, 

4* 


B.  froeltscli, 

Richtung   auf   das    Normative    diesen  Gedanken    keine  prinzipielle 
Aiisfühnmg  mehr  211  Teil  lassen  können.    1st  die  transseendentale 
Notwendigkeit  eines  Begriffes,  einer  Idee»    eines  Postulates,    einer 
Beurteilurigsweise  bewiesen,  so  ist  ja  die  Hanjitsache  erledigt;  und 
die  psychologischen  Beimischungen  von  Interessen  und  Associationeu, 
von  Trieben    und  Bedürfnissen,    von   Inlüniern    und    l^uklarheiteii 
können    nunmehr    als    nnseliädlieli    sieh    selbst    überlassen   werden 
oder   in    dvn  so  abtresteckten  und  auf  ihre  Prinzipien  beofriuideten 
Fachwissenseliafteii    erledigt    werden.     So    hat    Kant  ja    auch    in 
seiner  Logik    und  seiner  Kthik  das  rein  Psyehologisdie  behandelt. 
Die  reinen  Begriffe  der  Natnrmssenschaften  werden  (his  bloss  Ge- 
gebene von  selbst    finden    und  werden  auch  von  selbst  alles  Spiel 
zufälliger    und    unsidierer   Verknüpfungen    auflieben.     Die    reinen 
Begriffe    der  Dialektik    werden    in  der  Spekulation  von  selbst  die 
Phantasie    vertreiben.     Die    i*einen  Begriffe  der  Ethik  werden   die 
durch  Triebe  und  Internssen  vei-flllschten  Kegelü  des  Handelns  von 
selbst  aufklären.    IHe  reine  Keiigion  wird  sich  ihre  kritische  Stcdlung 
zur  positiven  von  selbst  geben.    Aber  ebenso  werden  alle  im  Psy<^ho- 
logischen    hegenden    Mittel    der    Beförderung ,    Veranschaulichung. 
Technik    und  Erziehung  von  seihst  sich  geltend  machen,     AH  das 
mögen  seine  Nachfolger   besorgen,  die  sich  dabei  nur  hüten  mögen, 
dass  sie  „die  grosse  Sache  der  Kritik"  nicht  an  die  relativistische 
Psychologie  verraten.^) 


was  die  ganze  Bestimmung  des  Menschen  betrifft;  wenn  man  vornehmlich 
Hoff» lin":    hat,    dass   sie   systematisch  durchgt^dacht  und  \M»n  Zeit  zu  Zeit . 
immer  einiger    barter  Gewinn  darin  gemacht  werden  kann.     Überdem  ver- 
veini^en  sich  damit  zuletzt  Gelehrte-  sowohl  als  Welt^schichte."     Brief w, 
II,  L>77  f. 

1)  Wie  wenig  Kant  sein  System  für  fertig  hielt,  sieht  man  aus  der 
Bemerkung  an  den  leidenden  Garve  21.  IX.  1798:  „Ich  weiss  aher  nicht, 
ob  .  .  .  das  Loa,  das  mir  gefallen  ist,  vnn  Ihnen  nicht  nocîi  schmerzhafter 
empfunden  werden  mr^chte,  wenn  Sie  sicli  darin  in  Gedanken  versetzten; 
nämlich  für  Geistesarbeiten  hei  üonst  ziemlichen  körperlichen  Wohlsein 
wie  gelähmt  zu  sein:  den  vöUigea  Abschluss  meiner  Rechimng  in  Sachen 
welche  das  Ganze  der  Philosophie  {sowoW  Zweck  als  Mittel  anliegend) 
betreffen,  vor  sich  liegen  und  es  noch  immer  nicht  vollendet  zu  sehen* 
obwohl  ich  mir  der  ThunHchkeit  dieser  Aufgabe  bewusst  bin:  ein  tanta- 
lischer Scliuierz,  der  indes  doch  nicht  hoffnungslos  ist,*^  Die  Aufgabe,  die 
ihn  zunächst  beschäftigtj  ist  ^Der  Übergang  von  den  metaphysischen 
Anfangsgründen  der  Natarwissenschaft  zur  P]lysik*^  Brief w,  II,  254  Man 
sieht,  es  iitt  der  Übergang  von  den  reinen  Vernunftprinzipien  zur  konkreten 
Wissenschaft  mit  ihren  Bestandteilen  des  bloss  That  säe  blichen.  Eiu  Gleiches 


i 


Das  Historische  in  Eant.s  Religionsphilosophie.  53 

Es  ist  hierbei  das  Historische  iiunier  mit  doiii  Psychologischen 
lufs    engste    zusainmeuf^^efasst    worden.     Das    ist  in  der  That  der 

musste  er  aber  auch  irgendAvie  für  die  historischen  Wissenschaften  in  Aus- 
sicht nehmen.  Hier  vollzieht  den  Übergang  auch  in  der  That  die  „Anthro- 
pologie", die  ja  nichts  anderes  als  vergleichende  liistorisierende  Psycho- 
logie ist.  Dabei  steht  freilich  für  Kant  von  vornherein  fest,  dass  diese 
Anthropologie  und  Psychologie  nie  im  gleichen  Sinne  Anwendung  der 
apriorischen  Grundsätze,  der  Metaphysik  der  Sitten,  werden  kann,  wie  die 
angewandte  Naturwissenschaft  eine  solche  der  metaphysischen  Anfangs- 
gründe der  Naturwissenschaft  ist,  ja  dass  sie  hei  aller  Begründung  auf  das 
Kausalitätsprinzip  nie  strenge  Wissenschaft  wie  die  Naturwissenschaft 
werden  kann.  „Auf  die  Erscheinungen  des  inneren  Sinnes  lässt  sich 
Mathematik  nicht  anwenden,  auch  als  Experimentallehre  kann  die  Psycho- 
logie der  Chemie  wegen  der  viel  ungünstigeren  Bedingungen  der  Beo- 
bachtung niemals  nahe  kommen;  sie  kann  darum  nicht  naturwissenschaft- 
liche, sondeni  nur  historische  Disziplin  werden,  nicht  Seelen  Wissenschaft, 
sondern  nur  Beschreibung  der  Seele.^  Vgl.  Hegler,  Die  Psychologie  in 
Kants  Ethik,  Freiburg  1891  S.  14.  So  beschränkt  sich  die  „Anthropologie** 
darauf,  „pragmatisch"  zu  sein,  d.  h.  den  Menschen  zum  Zweck  der  prak- 
tischen Menschenkenntnis  zu  studieren.  Sie  giebt  auf  Gnmd  des  beobach- 
teten Materials  und  der  erforschten  Zusammenhänge  l^ypen,  die  der  prak- 
tischen Menschenbehandlung  und  vor  allem  der  Förderung  des  rationalen 
Endzweckes  der  Gattung  dienen.  «Das  Gegenstück  einer  Metaphysik  der 
Sitten  als  das  andere  Glied  der  Einteilung  der  praktischen  Philosophie 
überhaupt  würde  die  moralische  Anthropologie  sein,  welche  aber  nur  die 
subjektiven,  hindernde  sowohl  als  begünstigende,  Bedingungen  der  Aus- 
führung der  Gesetze  der  ersteren  in  der  menschlichen  Natur,  die  Erzeugung, 
Ausbreitung  und  Stärkung  moralischer  Grundsätze  (in  der  Erziehung,  der 
Schule  und  Volksbelehrung)  und  dergleichen  andere  sich  auf  Erfahrung 
gründende  Lehren  und  Vorschriften  enthalten  würde,  und  die  nicht  ent- 
behrt werden  kann,  aber  durchaus  nicht  vor  jener  vorausgeschickt  oder 
mit  ihr  vermischt  werden  muss."  Vgl.  Hegler  S.  15  f.  Dieses  Verhältnis 
beider  ist  allerdings  nur  möglich  bei  einer  vorausgesetzten  gemeinsamen 
Wurzel  der  rationalen  Ideen  und  des  psychologischen  Triebmechanismus, 
die  daher  von  der  Anthropologie  auch  wiederholt  aufs  stärkste  betont 
wird.  W.  W.  VIT,  574,  596,  626,  647,  655  u.  s.  w.  Es  kommt  Kant  dabei 
nur  immer  wieder  darauf  an,  dass  die  „Anthroponomie"  nie  in  „Anthro- 
pologie" aufgelöst  werde.  Hegler  S.  16.  Dass  aber  trotzdem  doch  diese 
pragmatische  Anthropologie  ihre  letzten  Wurzeln  in  einer  Lehre  von  der 
Entwickelung  der  Vernunft  in  dem  Seelengetriebe  der  Geschieht«  hat  und 
also  der  Übergang  von  der  Metaphysik  der  Idee  des  Guten  zur  historischen 
Entfaltung  dieser  Idee  gemacht  wird,  wird  am  Schlüsse  genauer  zu  zeigen 
sein.  Nur  ist  dieser  Übergang  viel  weniger  methodisch  ausgeführt  als  der 
von  den  apriorischen  Begriffen  zu  den  empirischen  Naturwissenschaften. 
Der  Grund  ist,  wie  die  oben  angeführte  Stelle  zeigt,  nicht  ein  geringeres 
Interesse  für  die  Geschieht«,  sondern  der  Mangel  einer  wissenschaftlichen 
Methode  für  sie.    Kant  hat  eine  solche  nicht  zu  finden  vermocht. 


54 


E.  Troeltsch, 


i 


Schlüssel  für  das  Verstäüdnis  der  Rolle,  die  das  Historisehe  in 
Kants  Lehre  spielt.  Es  ist  eiü  Teil  des  phänomenalen  Erfahrungs- 
zasammenhanges.  Seio  Inhalt  sind  zum  allergrösst^u  Teil  die 
Thatsachen  dex  inneren  Erfahrung,  doch  in  kausaler  Verknüpfung 
mit  denen  der  äusseren  Erfahrung,  Es  ist  das  Gebiet  des  rein 
thatsftchlkh  Gegebenen,  Zufälligen  iiml  Irrationalen,  das  kausaU 
gesetzmässig  erforscht  wird  und  in  den  kosmischen  Gesamtzu- 
sammenhaug  sich  verläuft.  Es  ist  ein  Gebiet  de^  Wechsels  und 
der  Zeit»  es  ist  empirische  erzählende  Psychologie  im  Grossen. 
Aber  allerdings  ist  das  nicht  die  einzige  Auffassung,  die  Kant 
vom  Historischen  hat.  Das  Historische  im  bisher  betrachteten 
Sinne  ist  die  Historie  als  Aneinanderreihung  einzelner  Seelen- 
phänomene  und  (■îeschehnisse,  die  dabei  als  einzelne  betrachtet 
werden  und  dadurch  naturgemäss  in  den  Zusammenhang  der  Phäno- 
minalität  und  damit  der  empirischen  Psychologie  fallen.  Daneben 
aber  kennt  Kant  eine  Geschichtsbetrachtung,  die  die  Geschichte 
als  Ganzes,  als  spezifisch  menschliche  Gattuugseinheit,  ansiebt 
und  als  Ganzes  auf  ihre  Angemessenheit  zu  dem  in  der  praktischen 
Vernunft  offenbaren  sittlichen  Endzweck  beurteilt*^)  Kant  hat 
hier  lange  gesucht.  Er  hat  anfangs  die  Leibnizsche  praestabilierte  ■ 
Harmonie,  den  christlichen  Vorsehuugsgedanken  oder  die  ^Absicht 
der  Natur**  als  begriffliche  Mittel  verwendet  und  hat  natuj'gemäss 
nicht  davon  lassen  können,  diese  zweckvolle  Leitung  an  einzelnen 
besonders  deutlich  sie  bezeugenden  Ereignissen  and  am  wirklichen 
Gang  der  Dinge  sich  zu  bestätigen.  Nach  Entdeckung-)  des  Prin- 
zips der  „reinen  teleologischen  Urteilskraft'^  hat  er  dieses  Prinzip 
auf  die  Geschichte  angewendet  und  eine  apriorische  Notwendigkeit 
gelehrt,  sie  so  zu  beurteilen,  als  ob  sie  der  Verwirklichung  des 
ethischen  Vernunftzweckes  diene,  aber  ohne  Möglichkeit  spekulativ 
dariiber  sich  Voi-stellungen  zu  machen,   wie  das  geschehe.     Es  ist 

*)  Vgl  hierzu  Medicus  ^Kant«  C^eschichtsphilosophie**  Berlin  1902 
sowie  Lask  „Fichfes  MealismiiÄ  und  die  Geschichte**  Tübin^n  1902.  — 
Das  Obige  ist  deutlich  ausgesprochen  in  „Ideen  zu  einer  all^.  Gesch  «* 
IV,  143. 

»)  Über  die^e  „Entdeckung*^  vgl.  Kant  an  Reinhold  20.  XII.  1787 
Brief.  I,  478.  Man  fühlt  aus  dieser  Stelle,  wie  Kant  durch  diese  Ent- 
deckung sich  erleicht-ert  ftlUt,  und  von  ihr  geht  in  der  That  eine  leise 
Neuening  in  der  Organisation  des  Systems  der  reinen  Vernunft  vor  sich, 
das  von  hier  aus  erst  sich  dem  Entwickehingsbegriff  ernstlich  ansckUesst 
und  erat  von  hier  aus  den  andeutenden  metaphysischen  Hintergund  der 
menschlichen,  wie  auch  schliesslich  der  kosmischen  Entwickelung  ausbildet 


i 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  6Ô 

aber  sehr  natürlich,  dass  er  dann  doch  immer  wieder  sich  diese 
Beurteilung  an  einzelnen  Hauptereignissen  zu  verifizieren  versuchte 
und  damit  immer  wieder  auf  den  Gedanken  der  Vorsehung  oder  der 
Erziehung  der  Menschheit  zurückkam.  Diese  zweite  Betrachtung 
ist  nun  aber  doch  nicht  ohne  nahen  Zusammenhang  mit  der  ersten. 
Denn  steht  die  Sache  so,  wie  die  zweite  will,  dann  müssen  die 
empirisch-psychologischen  Geschehnisse,  die  einzelnen  Thatsächlich- 
keiten  der  Geschichte,  doch  auf  irgend  eine,  wenn  auch  dem 
Menschen  unerkennbare  Weise  im  Zusammenhang  stehen  mit  dem 
in  ihrer  Totalität  sich  realisierenden  Gattungszweck.  Sie  müssen 
auf  unerforschliche  Weise  als  Verwirklichungsmittel  des  Intelli- 
gibeln  von  diesem  selbst  hervorgebracht  sein,  wie  sie  ebenso  auf 
unerforschliche  Weise  die  Möglichkeit  einer  Störung  und  Trübung 
haben  müssen.  In  ihnen  muss  die  „Idee"  sich  entwickeln  und  in 
diesem  als  Letztes  sich  ergebenden,  wenn  auch  theoretisch  völlig 
überschwänglichen  Begriffe  der  Entwickelung  müssen  das  Psycho- 
logisch-Empirisch-Historische und  die  Idee  des  sittlichen  Vernunft- 
zweck eines  sein.^)  Damit  stehen  wir  aber  —  nur  mit  Erwartung 
über  die  Menschheit  und  durch  sie  hindurch  über  den  Kosmos  — 
vor  dem  alten  Gruudproblem  des  Verhältnisses  des  Rational-Not- 
wendigen und  Empirisch-Thatsächlichen,  des  Erkenntnistheoretischen 
und  des  Psychologischen,  des  Pseudouormalen  und  des  Intelligibeln. 

ij  Vgl.  hierzu  die  sehr  interessante  Bemerkung  an  den  Katholiken 
Matern  Reuss  bei  Übersendung  des  „R.  i.  d.  Gr.  d.  bl.  V."  Mai  1793:  „Ich 
Füge  .  .  .  eine  kleine  Abhandlung  philosophisch-,  nicht  eigentlich  biblisch- 
theologischen  Inhalts  bei,  mit  welcher  keiner  Kirche  einen  Anstoss  zu 
g^ben  bedacht  gewesen,  indem  darin  die  Rede  nicht  ist,  welches  Glaubens 
ier  Mensch  überhaupt,  sondern  nur  der,  welcher  sich  bloss  auf  die  Ver- 
nunft fusst,  allein  sein  könne;  die  mithin  gänzlich  auf  Gründen  a  priori 
beruht,  die  ihre  Giltigkeit  unter  allen  Glaubensarten  behaupten  (R.  scJneibt 
offenbar  axts  Versehen  „behauptet"),  was  das  Objektive  der  Gesinnung  be- 
trifft; (die)  aber,  was  die  Ausführung  dieser  Absicht  betrifft,  als 
[Gegenstand  der  Erfahrung,  dadurch  die  allgemeine  Welt- 
regierung (Ä.  fügt  hier  noch  ein  „fiie'^  das  aber  offenbar  Dublette  zu  dem 
folgenden  Wort  ,jene  Ideen*'  ist)  jene  Ideen  in  der  Ausführung  hat 
larstellen  wollen,  das  Herz  nicht  vor  dem  empirischen  Glauben  in 
Ansehung  irgend  einer  Offenbaning  verschliesst,  sondern,  wenn  sie  in 
Einstimmigkeit  mit  jenem  stehend  befimden  wird,  es  für  dieselbe  offen 
?rhält.**  Brief w.  II,  416.  Die  Stelle  ist  nur  im  Entwurf  vorhanden,  woraus 
inch  ihre  stilistische  Mangelhaftigkeit  sich  erklärt;  ich  habe  mir  daher 
erlaubt,  die  beiden  Korrekturen  vorzunehmen  und  zur  deutlicheren  Be- 
seichnnng  der  Fortsetzung  des  grossen  Relativsatzes  ein  .die'  einzu- 
dämmen.   Die  Unterstreichungen  stammen  von  mir. 


56  E.  Troeltsch, 

Die  scharfe  Sonderuog  wie  die  enge  Wiederaufeiflanderbeziehniig 
beider  sind  die  charakteristischen  Grandmerkmale  und  die  grössten 
Schwierigkeiten  des  Kritizismus. 

Damit  haben  wir  die  Voraussetzungen  für  die  Beantwortung 
unseres  Problems  in  der  Hand.  Es  versteht  sich  nun  von  selbst, 
dass  nicht  bloss  Zufälligkeiten  der  Zeitlage  oder  persönlicher  Eigen- 
schaften die  Sprödigkeit  der  Kantischen  fleligionsphilosophie  gegen 
die  Geschichte  hervorgebracht  haben.  Es  versteht  sich  ebenso 
von  selbst,  dass  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  der  giltigen  Re- 
ligiouserkenntnisse  zu  dem  Geschichtlichen  sich  auf  das  Gesam^ 
gebiet  der  historischen  Entwickeluug  überhaupt  und  damit  auf  die 
Religionsgeschichte  im  Ganzen  erstreckte.  Es  ist  das 
nicht  bloss  eine  Konsequenz  des  Kantischen  Denkens,  sondern  ist 
als  völlig  bewusste  und  prinzipielle  Fragestellung  anzusehen,  wie 
ja  auch  bereits  Locke,  Hume,  Leibniz,  Voltaire,  Lessing  und  Herder 
in  diesem  Gedanken  vorangegangen  waren.  ^>  Die  Kantische 
Religionsphilosophie  ist  zwar  im  Prinzip  von  der  Geschichte  und 
von  der  psychologischen  Wirklichkeit  der  Religion  ganz  unabhängig. 
Ihr  Grundstock  liegt  daher  auch  in  den  immer  neu  aufgenommenen 
Darstellungen  über  die  reinen  Religiousideen.  Aber  sie  hat  po- 
sitive und  negative  Beziehungen  zur  Religionsgeschichte, 
die  an  sich  ebenfalls  eine  Darstellung  fordern.  Kant  mnsste  sich 
ähnlich    wie    in    der  Rechtswissenschaft   zu  einer  solchen  Darstel- 


^  So  wendet  sich  denn  in  der  That  Plessing  an  ihn  mit  PUnen  einer 
fieilich  noch  sehr  verworrenen  vergleichenden  Religionsgeschichte  6.  YUL 
179a  :  ^Mein  Hauptzweck  bei  diesem  Stadium  des  sc.  orientalischen  und  grie- 
chischen Altemmisi  ist,  die  Nichtigkeit  des  der  menschlichen  Temimft 
gremachten  Vorwurfs  zu  zeigen,  als  wenn  sie  nur  erst  seit  jüngeren  Zeiten 
auf  die  Idee  eines  göttlichen  Wesens  gekommen  wäre  und  hierzu  einer  an- 
deren als  ihrer  eigenen  iülfe  bedurft  hitte  :  femer  die  Geschichte«  den  Zu- 
sammenhanjir  u^d  alten  entfernten  Ursprun;«:  jenes  merkwärdi^n  Svstems 
zu  entwickeln,  das  auf  die  Schicksale  und  die  Denkart  der  Menschen  einen 
so  unennesslichen  Einâuss  ^habt  und  daher  ^nau  untersacht  zu  werden 
d«.K*a  verdiene-.  Er  will  dabei  von  den  alten  Sintfiutsa^n  als  eirem 
Haupcdenk^ial  iltester  ReLution  aasgehen.  Briefw.  U.  Si2  f.  Unter  6.  IV. 
1T96  fordert  Stiudiin  Kant  auf  zur  Mitarbeit  an  einer  •GOttinjser  Monats- 
Schrift  far  die  Philosophie  der  Religion  und  Moral  und  die  Geschichte  der 
verschiedenen  Gîaubensarten-.  die  er  zur  Verbreitung  der  von  ihm  mit  Eiler 
erzriffenen  Sancischen  Rebjçionsphilosophie  ^e^ründet  hat.  Briefw.  JHÖ- 
Kant  hatte  die  Absicht,  ihm  den  ^Streit  der  Kakult.-  hierfür  zn  schicken, 
hat  es  dann  aber  mteriassen,  weil  er  nüt  fremdartigen  Materien  verbanden 
jetzt  vor  das  Licht  treten  moss^    Briefw.  UI^  ^45^ 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  Ö7 

ng  umsoraehr  aufgefordert  fühlen,  als  die  Konkurrenz  einer  den 
eichen  Gegenstand  behandelnden  theologischen  Fakultät  und 
e  praktische  Bedeutung  des  Christentums  für  Staat  und  Kirche 
m  dieses  Thema  nahe  legten. 

Kant  hat  sich  zu  einer  solchen  Darstellung  denn  auch  ent- 
'.hlossen.  Sie  liegt  vor  in  der  „Eeligion  innerhalb  der  Grenzen 
^r  blossen  Vernunft"  von  1793  und  im  „Streit  der  Fakultäten" 
m  1798,  welcher  letztere  schon  vor  einigen  Jahren  fertig,  aber 
egen  Zensurschwierigkeiten  zurückgehalten  worden  war.  i)  Die 
rage  ist,  ob  die  prinzipielle  Auseinandersetzung  der 
ernunftreligion  mit  der  Religionsgeschichte  hier  völl- 
igen ist  oder  nicht.  Ich  glaube,  dass  das  nicht,  oder  doch  nur 
idirekt  der  Fall  ist.    Das  ist  zunächst  zu  beweisen. 


3. 
Der  Kompromisscharakter  der  Hauptschrift. 
Der  zeitliche  und  sachliche  Zusammenhang  des  „Streites  der 
'akultäten"  mit  der  „Rel.  i.  d.  Gr.  d.  bl.  V."  ist  jederzeit  erkannt 
'Orden.  Man  muss  aber  noch  weiter  gehen  und  sagen,  dass  das 
'hema  der  letzteren  erst  von  den  prinzipiellen  Darlegungen  des 
roteren  aus  ganz  verstanden  werden  kann.  Der  „Streit"  giebt  erst 
en  eigentlichen  Ansatz  des  Problems,  wie  es  Kant  vorschwebte, 
demnach  ist  es  ein  wesentlich  praktisches  Problem,  das  durch  den 
lusammenhang  der  offiziellen  Organisation  der  Wissenschaft  in  der 
Fniversität  mit  den  praktischen,  vom  Staat  an  sie  gestellten,  For- 
erungen  gegeben  ist.  ^)   Der  Staat  wird  dabei  von  Kant  im  Sinne 


1)  Briefw.in,230.  Er  war  schon  4.  XII.  1794  seit  einiger  Zeit  fertig 
[,  514,  gehört  also  direkt  in  den  Gedankenkreis  der  „R.  i.  d.  G.  d.  bl.  V.* 
nd  darf  als  eine  Art  Fortsetzung  betrachtet  werden. 

*)  Vgl.  Amoldt  „Beiträge  etc."  140  ff.,  der  die  richtige  Auffassung 
er  Sachlage  trifft,  sowie  Laas  „Kants  SteUung  in  der  Geschichte  des 
Konflikts  zwischen  Glauben  und  Wissen,  Berlin  1882.  Amoldt  will  gegen 
•aas  betonen,  dass  in  dem  Verhältnis  der  philosophischen  zur  theologischen 
'akultät  die  philosophische  schlechthin  entscheidend  sei.  Aber  das  ist 
or  bedingt  richtig,  da,  wie  sich  zeigen  wird,  das  allerdings  entscheidende 
otum  der  letzteren  doch  immer  dahin  entscheidet,  dass  die  christliche 
heologie  in  ihrem  die  Gemeinschaft  ermöglichenden  symbolischen  Vorstel- 
mgsapparat  immer  etwas  Eigenes  behält,  das  nur  die  kritische  Regu- 
emng  und  Deutung  durch  die  Ideen  der  reinen  Moralreligion  fordert, 
înd  das  Ergebnis  einer  solchen  Vereinigung  sollte  dann  allerdings  —  da- 


58  ^HHP  K  Troeltsch, 

eines  völlig  leoitiiinstis€lieii  Gehorsitnis  als  zu  diesen  Fonlerunj 
/^^äuzlitih  bereditigt  betraeliti't.  Kcint  setzt  das  alte  protestaütisi^^he 
Siaatskirehentuni  in  seiner  rationalistierteu  Gestalt  als  gmiid- 
salzlich  berechtigt  voraus;  der  Staiit  hat  an  dieser  wichtigsten 
Tiiensehlichen  Angelegenheit  um  seiner  eigenen  Existenz  willen  ein 
wesentliclies  Interesse,  nmi  die  eines  Vehikels  bedürftige  Keligioü 
niuss  für  Ordnung  und  Aufrecbterhaltung  die  Macht  und  Gesetz- 
gebung des  Staates  beansprtrchen.  *)  So  versieht  sich  die  Kirchen* 
hoheit  des  Staates»  der  Ausschluss  bedenklicher  KirchengeuieiD- 
Schäften    und    die    Festsetzung    oder    Handhabung    der    geltendeu 


1 


rin  hat  Laas  Reclit  —  von  der  Regierung,  sofern  sie  dem  Ideal  einer  er- 
leuchteten Re^ieruüg  entspricht,  sanktioniert  werden^  Schliesslich  S,  146 
konuTit  doch  mich  Arn  old  t  auf  diese  Auffassung  hinaus,  Gduz  so  steht  e« 
mit  den  heiden  anderen  positiven  I'\ikultiiten  ;  sie  haben  Me  ein  relative* 
selbständiges  Recht  und  eine  ihnen  eigentümhch  zukommende  Materiej 
aber  ihre  Leistungen  müssen  von  der  reinen  Philosophie  kritisch  auf  ihre 
Angemessenheit  7àu  Venmnft  geprüft  und  reguhert  werden.  Kben  des- 
halb denkt  auch  Ktint  das  Problem  der  Zen^sur  damit  zn  Irtsen,  dass  sie 
ausschliesslich  den  Fakultäten  überwiesen  wird,  welche  als  wi^isen- 
sclmftliche  Anstalten  die  positive  Wissenschaft  hinreichend  mit  pliilnso- 
l>hischem  Geist  zu  durchdringen  geneigt  sind,  dasü  die  an  ihnen  geübt« 
Zensur  billige  GeiBteßfreiheit  garantiert.  Nicht  geeignet  zur  Ausübung 
der  Zensur  sind  dagegen  Konsistoriumj  Ministerinm,  Gerichts-  und  Medi- 
zimilbehörden.  Dagegen  halte  ich  es  für  einen  Irrtum  von  Laas,  wenn  er 
meintj  die  im  ^Streit**  vorgetragene  Ansicht  von  der  Kooperation  der  Fa- 
kultäten sei  erst  nachträglich  hier  vürgetragen,  nachdem  die  Christiam- 
sierimg  von  Kants  Deismus  in  der  „Rel  i.  d.  Gr.  d.  hl.  V.**  resultatlos  ge- 
blieben  sei.  Allein  das  letztere  Buch  beruht  schon  durchaus  auf  den  im 
Streit  vorgetragenen  Grundsätzen^  und  der  in  ihm  hinzutretende  Vorschlßf 
über  die  Gestaltung  der  Zensur  ist  durchaus  im  Geistt?  von  Kants  stet» 
betonter  Ansicht,  M 

")  Vgl.  die  Äusserung  über  den  „Streit"  an  Stâudliii  4.  XII,  1794:  Sie" 
(sc.  Abh.  über  den  „Streit*')  scheint  mir  interessant  zu  sein,  weil  sie  nicht 
allein  das  Recht  des  Gelehrtenst^ndes,  alle  Sachen  der  LandesreUgion  vor 
das  Urteil  der  theologischen  Fakultiît  zu  ziehen,  sondern  auch  das  In- 
teresse des  Landesherra  dieses  zu  verstatten,  überdeni  aber  auch  eine  Op- 
positionsbank der  philosopliisclieu  gegen  die  erstere  einzuräumen  aus 
Licht  stellt,  und  (weil  sie)  nur  nacli  dem  Result nt  der  Idee  der  durch  beide« 
Fakult^äten  instruierten  Geistlichen  als  Geschäftsmänner  der  Kirclie,  sofern 
sie  ein  Oberkonsistorium  ausmachen,  die  Sanktionierang  einer  Glanbeuü- 
lettre  zu  einer  öffentlichen  Religion  dem  Landc-sherrn  ?îur  Pflit-bt-  sowohl 
als  Kingheitsregel  macht,  indessen  dans  er  andere  freie  Gesellschaften, 
die  nur  der  Sittlichkeit  nickt  Al>bruch  thun,  als  Sekten  tolerieren  kann. 
Briefw.  n,  514.  Die  Abhandlung  Jst  eigentlich  nur  publicistisch  und 
nicht  theologisch  (de  jure  principis  circa  religionem  et  ecclesiaml." 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  59 

Lehre    durch   die    Staatsanstalt   einer   theologischen  Fakultät  von 
selbst.     Analog   liegen   die  Verhältnisse  in  der  juristischen  Fakul- 
tät, wo  das  dorn  Staat  unentbehrliche  positive  Recht  gelehrt  wird, 
und  in  der  medizinischen,  wo  die  Mediziualpolizei  und  hygienische 
Fürsorge  des  modernen  Polizeistaates  die  Nonnen  giebt.  Von  diesen 
Fakultäten   werden    die  auf  die  geltende    Ordnung   verpflichteten 
greistlichen  und  juristischen  Beamten  gebildet,  die  denn  auch  streng 
gehalten  sind,  in  ihrer  amtlichen  Thätigkeit  sieb  an  die  geltenden 
Regeln  der  Dogmatik,  des  Rechts  u.  s.  w.    zu  binden.«)    Die  drei 
grenannten,  wegen  dieser  ihrer  praktischen  Bedeutung  und  der  Aus- 
stattung mit  Macht  als  die  oberen  bezeichneten,  Fakultäten  sind  je- 
doch  selbst   nicht  unbedingt  gebunden,    sondern  zu  freier  wissen- 
schaftlicher Bearbeitung   dçr   positiven  Satzungen  berufen  als  aie 
Instanzen,   die  ja  gerade  der  Staat,  d.  h.  die  Regierung,  zu  ihrer 
eigenen  Belehrung  und  zur  rationellen  Fortbildung  eingesetzt  hat. 
Sie  wirken  durch  ihre  Arbeit  auf  die  Regierung  und  bewirken  so 
indirekt  durch  die  unter  ihrem  Einfluss  von  der  Regierung  getrof- 
fenen Verordnungen  auch  für  die  Beamten  eine  Ausgleichung  ihrer 
positiven   Verpflichtungen   mit   ihren    rationalen   Einsichten.    Die 
Impulse   zu  dieser   fortbildenden,  reinigenden   und  reformierenden 
Thätigkeit   zugleich   mit   den   wissenschaftlichen  Mitteln   erhalten 
nun  aber   die    oberen  Fakultäten    von   der  Fakultät  der  reinen, 
durch   keine   praktischen  Zwecke  und  keine  gesetzlichen  Pflichten 
gebundenen   Wissenschaft,   d.  h.   von    der  philosophischen  Fakul- 
tät    Diese    ist    bei    dem    Mangel  jeder    direkt    praktischen  Be- 
ziehung  und   bei   dem  Mangel  jeder  Machtausstattung  die  untere 
Fakultät,  aber  als   alleinige  Inhaberin  der  rein  wissenschaftlichen 
Methoden  und  als  alleinige  Untersucherin  des  Rational-Normativen 
Hüter  dem  wissenschaftlichen  Gesichtspunkt  die  oberste  und  gesetz- 
gebende.    Sie  respektiert  alles  Gesetzlich-Positive,    aber  doch  niu' 
als   etwas   auf  Zeit  Giltiges,   und   übt   an   ihm   eine  rein  wissen- 
schaftliche Kritik,    durch   die   sie   die  oberen  Fakultäten  zu  einer 
immer   neuen  Annäherung   an    das  Rational-Normative  zwingt  und 
damit  die  Staatsgesetzgebung  unaufhörlich  indirekt  zu  Fortschritt 
und  Reformen  drängt.    Diese  ganze  Kritik  und  Reformarbeit  aber 
ist  eine  rein  interne,  esoterische  Angelegenheit  der  Gelehrten  und 

«)  Vn,  377  und  382:  .Der  Kirchenglaube  darf  in  Kirchen  nicht  öffent- 
lich angegriffen  oder  auch  mit  trockenem  Fuss  tibergangen  werden,  weil 
er  anter  dem  Gewahrsame  der  Regierung  steht,  die  für  öffentliche  Ein- 
tracht und  Friede  Sorge  trägt.«  VU,  359. 


60  E.  Troeltsch, 

der  freien  wissenschaftlichen  Litteratur,  die  weder  das  Volk  noch 
die  verpflichteten  Beamten  direkt  angeht  oder  gar  zum  Eingreifen 
in  solche  Reformen  mit  aufrufen  will.  Es  ist  die  von  Kant  über- 
all betonte  Idee  eines  in  der  Natur  der  Dinge  liegenden,  die  Ent- 
wickelung  hervoi  treibenden,  dauernden  Antagonismus,  die  er  auch 
für  das  Verhältnis  der  positiven  und  der  rationalen,  der  praktisch* 
politisch  bedingten  und  der  reinen  Wissenschaft  geltend  macht 
Es  ist  ein  Antagonismus,  d(M*,  ohne  CJhicune  und  ohne  Hochmut 
durchgeführt,  lediglich  der  p]ntwickelung  dient  und  die  Möglichkeit 
eines  glücklichen  Ergebnisses  jedesmal  in  sich  trägt,  wenn  einer- 
seits die  reine  Wissenschaft  die  relative  und  momentane  Geltung 
des  Positiven  anerkennt  und  dieses,  soweit  irgend  möglich,  ihren 
Forderungen  anpasst,  wenn  andererseits  die  positiven  Wissen- 
schaften, soweit  irgend  möglich,  sich  den  Forderungen  der  reinen 
W^issenschaft  annähern,  wenn  ferner  die  ganze  Auseinandersetzung 
Angelegenheit  der  berufenen  fachwissenschaftlichen  Instanzen  und 
der  freien  wissenschaftlichen  Litteratur  bleibt  ohne  willkürliche 
und  gesetzwidrige  Eigenmächtigkeit  der  Unberufenen,  und  wenn 
schliesslich  —  wie  das  freilich  vor  allem  zu  wünschen  —  eine 
fortschrittliche  Regierung  die  Arbeit  der  von  ihr  eingesetzten  be- 
rufenen Instanzen  für  ihre  Verordnungen  verwertet.  Es  ist  das 
eine  Auffassung,  die  tief  in  Kants  prinzipiellen  Denken,  in  seiner 
Geschichtsphilosophie,  in  seiner  politisch-rechtlichen  wie  in  seiner 
^vissenschaftlich-rationalen  Überzeugung  und  insbesondere  in  seiner 
Idee  von  dem  Beruf  des  fortschrittlichen  Jahrhunderts  wurzelt.  So 
ist  dieser  Gedankengang  bereits  in  der  Abhandlung  „Was  ist  Auf- 
klärung'' 1784  vorgezeichnet.  ^  r)as  Zeitalter  der  Vorherrschaft 
des  Rein-Positiven  und  damit  der  durch  Bequemlichkeit  verschul- 
deten Unmündigkeit  geht  zu  Ende.  Aber  die  Kultur  der  Zukunft 
soll  nicht  durch  eine  Revolution,  durch  plötzliche  Durchsetzung 
des  Rein-Rationalen,  sondern  durch  laugsame,  von  der  Staatsleitung 
in  Praxis  umgesetzte,  Ausgleichung  des  Positiven  und  Rationalen 
bewirkt  werden.  Was  ihm  vorschwebt,  ist  also  ein  Komproraiss 
oder   ein  ,.Koalitionsversuch"  des   Positiven  und  Rationalen,»*)  der 

1)  W.  W.  IV,  162— 16Ö. 

'^)  Vgl.  die  Äusserung  an  Sömerring  bezüglich  eines  zwischen  Phy- 
siologie und  Psychologie  streitigen  Problems  10.  Vlll.  1795:  „Mithin  wird 
ein  Responsum  gesucht,  über  das  zwei  Fakultäten  wegen  ihrer  Gerichts- 
barkeit ...  in  Streit  geraten  können,  .  .  .  wo,  wie  bei  allen  Koalitions- 
versuchen zwischen  denen,   die   auf  empirische  Prinzipien  alles  gründen 


Das  Historische  in  Kauts  Religionsphilosophie.  61 

unaufhörlich  fortschreitend  und  die  möglichste,  durch  die  Verhält- 
nisse erlaubte  Annäherung  an  das  Kationale  suchend  die  positive 
Wissenschaft  verpflichtet,  sich  möglichst  nach  den  Massstäben  der 
rationalen  auszulegen,  und  die  reine  Wissenschaft  verpflichtet,  dem 
Positiven  durch  Aufsuchung  alles  relativ  Berechtigten  und  rational 
Deutbaren  in  ihm  entgegenzukommen.  Der  Kompromiss  bleibt 
durchaus  ehrlich,  wenn  dabei  die  reine  Vernunft  wenigstens 
in  thesi  nichts  von  ihrer  allein  entscheidenden  Autorität  opfeit. 
Er  ist  zudem  immer  nur  auf  Zeit  gemeint  und  daher  nie  ein 
Letztes.  Er  soll  stets  auf  die  Regierung  wirken  zu  einer  offi- 
ziellen Rationalisierung  des  Bestehenden,  und  auf  diesem  Fort- 
schritt wird  sich  dann  eine  höhere  Stufe  des  Kompromisses 
erheben  können,  bis  dereinst  im  Reiche  der  zum  Völkerbunde 
verbundenen  Republiken  unter  der  Sonne  des  ewigen  Friedens 
und  der  autonomen  sittlichen  Kultur  die  Kompromisse  überflüssig 
werden  und  die  reine  Vernunft  aus  sich  heraus  rein  die  Praxis 
gestalten  kann.  >)  Denselben  Grundsatz  spricht  die  für  Kants  Auf- 
wollen, und  denen,  welche  zu  oberst  Gründe  a  priori  verlangen  (ein  Fall, 
der  sich  in  den  Versuchen  der  Vereinigung  der  reinen  Rechts- 
lehren mit  derPolitik  als  empirisch  bedingter,  imgleichen  der 
reinen  Religionslehre  mit  der  geoffenbarten,  gleichfalls  em- 
pirisch bedingten  noch  immer  zuträgt),  Unannehmlichkeiten  ent- 
springen, die  lediglich  auf  dem  Streit  der  Fakultäten  beruhen,  für  welche 
die  Frage  gehöre,  wenn  bei  einer  Universität  (als  alle  Weisheit  befassender 
Anstalt)  um  ein  Responsum  nachgesucht  wird."  Brief w.  III,  31.  Kant 
spricht  sogar  selbst  von  Akkommodation.  Auf  einem  losen  Blatt  Reicke  II, 
851  stellt  er  die  Einwürfe  gegen  sein  Buch  zusammen  und  da  lautet  der 
dritte  :  „Das,  was  eigentliche  Akkommodation,^theoretische  Lehre  und  künst- 
liche Schrifterklärung  ist  und  dem  Buche  stellenweise  eine  theosophische 
Farbe  giebt,  das  kann  ich  nicht  für  nützlich  halten.^  Ähnlich  Reicke  III,  5  : 
„Der  Streit  der  Fakultäten  kann  und  wird  wohl  zwischen  der  theologischen 
und  philosophischen  immer  bleiben,  aber  nicht  als  Widerstreit,  sondern  als 
Antagonism  der  Einschränkung  der  einen  durch  die  andern."  Man  beachte 
die  Einreihung  dieses  Themas  in  die  allgemeine  geschieh tsphilosophische 
Theorie  vom  Antagonismus  als  dem  Mittel  des  Fortschrittes.  —  Dass  Kant 
dem  Prinzip  einer  exoterisch-anpassenden  DarsteUung  überhaupt  nicht  fem 
stand,  zeigt  die  Praxis  seiner  Vorlesungen,  die  an  gegebene  vorgeschriebene 
Lehrbücher  angeschlossen,  prinzipiell  dem  Hörer  Kants  Lehre  nicht  völlig 
adäquat  entwickelten.  Vgl.  Amoldt,  Krit.  Exe.  38ö  f.  Ein  solcher  FaU 
der  Gedankenentwickelung  aus  dem  Gegebenen  und  rechtüch  Geltenden 
Hegt  auch  in  der  „Rel.  i.  d.  Gr.  d.  bl.  V."  zum  guten  Teile  vor. 

1)  „Der  Kirchenglanbe  ist  .  .  .,  weil  er  nur  Vehikel  des  Religions- 
glaabens,  mithin  an  sich  veränderUch  und  muss  einer  allmählichen  Reini- 
gung bis  zur  Kongruenz  mit  dem  letzteren  fähig  bleiben."  W.  W.  VU,  359, 


&2  E.  Troeltsch. 

tä^sun^  dieser  Dinz^  nicht  minder  charakteristische  Abhandlnng 
.tt-^r  den  Genieinspnich:  das  mas  in  der  Theorie  richtig  sein, 
UttiTt  ab-er  nicht  für  die  Praxis*  1793  aus.  In  der  richtigen 
T':iev>rlr.  d.  L.  in  dem  Rein-Rationalen  wurzelt  auch  die  allein  wall^ 
iiait  zuüi  Ziel  führende  Praxis.  In  der  «Gegenwart  zwar  kann  sich 
dir  an  d;i<  P'>?iiiTe  und  au  die  unvollkommenen  [«oliiisirh-rechtlichen 
ZiyZAnd-i^  ^»^bundene  Praxis  n»x*h  nicht  rein  nach  der  Theorie 
ri'.'ine:;.  'r^ie  uiuss  dem  P.>>itiven  Konzessionen  machen,  aber  nur 
in  I-rz:  -^iciT  der  H-chachtau;?  und  Liet-e  zu  dem  gesetzlich  gelten- 
i-rti  Zostan-i  und  mit  der  Gewissheit,  ihn  dereinst  2"anz  ins  Batio- 
nil-  i-irt.'i  Riforc:  cinüb-r  rent  wickeln  zu  kennen.*» 

Ein  s«.L'.'ner  K oxpromiss  oder  Kvaliti.usversuch  ist  nnn 
jLn:li  ü-  ,Et1.  L  Gr.  1. 11.  V.-  Sie  zri^t  die  ».Tmn'lsatze.  die  für  die 
o^^ir-Til'in^r  i-^  staats-sin'nli.'hen  Re"j:rljaspr«jblems  in  der  reinen 
V*'l>sfnsc"naf:  'dr-^^n.  >:-  zei:^:t  al-r  rt-en  damit,  wir  weit  die  rein 
;i:i-.cial-  Relijr'vtisIecLrv  -irr  i-.sitiT-iircnn-.'iien  entze?»rn  koinm«i, 
nn«!  -v:-r  wti:  nnjj:»rkenr:  üe  letz:cr*r  zli  der  ersieren  sich  aus- 
x-i-'n-n  !ijLnn  Sir  zrUr.  s:.rr  j.i:l  z^**rn  iis  W'Llnersche  Regiment, 
V  j^>  > •  ii.rv" n : T riln ^  a ns;^^: s*: lil  .■  s^sr n  ":  le fcrc  m nss.  we nn  es  zu  einer 
S4  !.'i:-n,  ^^deLiliclie  rrln:'.vl.:ielnn^  in  Siaat  md  Kirriie  erm^glichen- 
irn  K.a.:::«.[i  i.moien  s»//..  L-a^üTri:  ist  sie  dar.'haas  keine  e^ 
Stil' c: -cd-  :netis«.'ne  I'lrs^eHnz:*:  Sie  is:  nicit  einmal  di»?  defimtive 
rnr^rL/m^  zr^'i  irr  r-fine  Aisdr-ük  eines  Trils  seiner  Religions- 
;'i:_l-.>.ç'n:r.  Sir  "^r  lii:  v.Hrn:  Bewnsscsein  rine  auf  «lie  gegen- 
•^  ir'-i^ra  srdäiskir'.'iili'.-n-n  Zis^ande  ixjes-'imittene  F^arscellung  der 


■■  ^-\-Ai  >c  L*i  yr^Litiir  inr  Fifd^r.  .2  L-ii.  Sririii-ea.  der  Hoch* 
i:i-iix  1 1  i  1:-;":^  -ir  i.r  V^r:***!::^  w  .r::i  min.  Lebe,  dmch 
i:r  _:  ?r:ri-r  .--:<Lx:ii::jc  i-.-r  V:i:cr^;i*i.:»rci,  iir  ;eat:  soca  «îlati  jelbst  eia- 
-:■  ^-c.  ^aa*-t:r*  i::d  :aa  ^  ^:Ki*:.ir-in.i.-ia  >l«:.i  idcn  i:e  F-eoerü  aarerein- 
i  :  :  r  •  -  .  1  -T  .  :  ?:.  iiTi."  >.r  i::  :t  :  jr-?  ??  iîij-;:':  Tirlieren.  d» 
-l:i.::^  >''Lj..iiii i:u  i^r  V  L"tsr^i:j:c;'  '•"..  ?;^.  T'as?  '-^leiciie  iÜT  j^egendber 
:--Ti  Viarj^-Lr::iearini    aI-s  -in ei:  ':ii;r*cn  Sv.-e^-.ii.riL    ie*  dp*ircadeji  Rechtes 

•r-::::,i.:.:.  Z.rdtrTiii.atri;  1.  "S.  ili  ^"'tü  r'i^-.&%.  caea  stnd  i-ircä  Üin»  GeachAfte 
-^  ^-  Il  A-::  iirriAC-ra  LiaiMjiijr'.jc  •'."  >ea"u.rv:a.  Sir  iioätwa  üe  wahren 
f --..i'isir^r  ul^rTii»:.n  ii.icjen  i:<^  VTi^r^iiiiita.  Jire  Sràiiier.  znädBen  die 
X.r-^'  ■:  Lirz:n.-A  "nidrj:  mii  iir:  Vriitrliiia^  ir>  AcicrQWu -  S.  il6:  .^Fttr 
--::-  -  •-«:  v-r  .n  irrc  laafii:-::  :;*r«î:  i --:::':.  lad  Li:^  ieurii  G^^ctes  ist 
^•-..iv  .^  ::  iii>.  Tie  -.Lr-ii:3Lia^ri:iiC  .>c  i^crzz  uuca  nOn^ç  ATyUnn 
I  :-K-s  rrrî:.:cr:r:.£S.-i".  iic  ù'cr  i-i'i^c  st  J.'id  iiirir  luix^îaijimnea  wird." 
•rj-  ic  n  .>^i.iir.ra.  in*^  iie  :cnica  .c ■:::':<; u  v  j>*i^?^in:j!>»n  jn  HiudexempJar 
-.-■Ir::    -^-i  i:«:U"  r'Lr  iit    .feuracaiin.:    Jc^:mi!iL  >;nd. 


Das  Historische  in  Kants  Keligionsphilosophie.  63 

Ânforderangen  einer  rein  rationalen  Religionsphilosophie  und  des 
bei  diesen  Anforderungen  mögliehen  Zusammenbestehens  mit  der 
kirchlich-biblischen  Theologie,  ein  Ausweg  für  Philosophie  und 
Theologie  aus  der  Lage,  die  sich  auf  einer  mittleren  Linie  treffen, 
auf  ihr  eine  vorläufig  geltende  Koalition  errichten  und  von  ihr 
ans  in  der  Richtung  auf  eine  zukünftige  rein  wissenschaftliche 
Religion  weiterstreben  können.  So  sind  denn  überhaupt  die  in  der 
„Rel.  i.  d.  Gr.  d.  bl.  V."  vereinigten  Abhandlungen  überhaupt  nicht 
als  Buch  gedacht,  sondern  als  einzelne  diesem  Zweck  dienende 
Abhandlungen  für  Biesters  Zeitschrift.  Sie  sollten  das  Problem 
der  Vereinigung  in  einigen  Hauptpunkten  darstellen  und  lösen. 
Erst  die  Zensurschwierigkeiten  haben  die  gemeinsame  Herausgabe 
als  Buch  verursacht  und  ein  Ganzes  sind  sie  erst  dadurch  ge- 
worden, dass  die  ausführliche  Vorrede  den  eigentlichen  thetischen 
Religionsbegriff  Kants  hinzufügt,  wobei  er  sich  darin  freilich  be- 
züglich des  wichtigsten  Punktes,  des  apriori-synthetischen  Charakters 
der  Religionsideen,  mit  Andeutungen  (W.  W.  VI,  100)  begnügen 
muss.  Ihr  eigentlicher  Zweck  ist  die  Herstellung  der  geschilderten 
Vereinigung,  wie  ein  Brief  an  Stäudlin  4.  V.  1793  es  ausdrücklich 
ausspricht  „Mit  beikommender  Schrift:  Rel.  etc."  habe  die  dritte 
Abteilung  meines  Planes  zu  vollführen  gesucht,  in  welcher  Arbeit 
mich  Gewissenhaftigkeit  und  wahre  Hochachtung  für  die  christ- 
liche Religion,  dabei  aber  auch  der  Grundsatz  einer  gewinnenden 
Freimütigkeit  geleitet  hat,  nichts  zu  verheimlichen,  sondern,  wie 
ich  die  mögliche  Vereinigung  der  letzteren  mit  der  reinsten 
praktischen  Vernunft  einzusehen  glaube,  offen  darzulegen." 
Briefw.  H,  414.  Dieser  Zweck  geht  auch  aus  der  ganzen  Haltung 
des  Buches  auf  das  deutlichste  hervor,  das  in  der  That  die  Ver- 
einbarkeit einer  wissenschaftlich  behandelten  Bibeltheologie  mit 
einer  rein  wissenschaftlichen  Religionstheorie  zeigt  und  in  einer  bei 
Kant  sonst  ganz  ungewöhnlichen  Weise  auf  die  kirchliche  Dog- 
matik  eingeht.  Die  Zensur  hat  in  der  That  nicht  so  unrecht  ge- 
habt, das  Buch  als  theologisches  zu  behandeln.  Dass  es  ein  solches 
sei  und  den  für  die  augenblickliche  Lage  möglichen  Mittelweg 
zwischen  reiner  Religionsphilosophie  und  kirchlich-biblischer  Theo- 
logie zeigen  will,  geht  überdies  aus  seinen  eigenen  Äusserungen 
deutlich  hervor,  besonders  aus  dem  ersten  der  von  Dilthey  mitge- 
teilten Entwürfe  zu  der  Vorrede  des  Buches.  Der  Philosoph  be- 
darf des  Anschlusses  an  die  Theologie,  um  die  reine  Religion 
praktisch  zu  machen,   und   der  Theologe   des  Anschlusses  an  die 


64 


Proeltscîi, 


Relis:ionsphüoso]>hie,  nm  die  biblische  Theolojsrie  wissenschaftlich 
zu  inadieiL  „Der  Fliilosoph  mug  sich  noch  so  sehr  enthalten,  sich 
mit  Bestimmungen  des  üffeubaruu^sglaübeus  zu  befassen  und  sitii 
bloss  auf  Prinzipien  der  reinen  Vernunft  einschränken,  so  muss  er 
doch  auch  auf  die  Möglichkeit  der  Ausführung  seiner  Ideen  in  tier 
Erfiihrung  Rücksicht  nehmen,  ohne  welche  diese  bloss  leere  Ideale 
ohne  objektive  praktische  fîealitat  zu  sein  in  Verdacht  koinnieii 
müssten,  mithin  keine  öffentliche  Religion  (davon  doch  der  Begriff 
in  den  t^mfang  seines  (jeschäfts  gehört),  dadurch  begründet  oder 
nui*  als  möghch  vorgestellt  werdeji  köinite."^)  ^ Der  Geistliche  al^j 
ein  solcher  mag  dagegen  immer  den  besonderen  Anforderungen  des 
Staates  unterworfen,  ja  auch  für  eine  gewisse  Art  der  Öffentlichei 
Behandlung  der  Religion  privilegiert  sein,  so  steht  eben  dei-selbe 
doch  als  Gelehrter,  der  sich  mit  dem  Philosophen  misst,  unter  dem 
Urteil  der  Fakultät,  dazu  seine  Wissenschaft  gezählt  wild,  nämlicli 
der  bibhsch'theologischen,  welche  als  ein  Departement  der  Uni- 
versität nicht  bloss  für  das  Heil  der  Seelen  (in  Bildung  zu  Lehre 
im  geistlichen  Stande),  sondern  auch  fürs  Heil  der  Wissenschaft 
zu  sorgen  hat  und  der  philosoplüschen  Fakultät,  deren  Vernunft-, 
Sprach-  und  Geschichtsforschungen  sie  oft  zu  benutzen  nötig  findet, 
schlechterdings  keine  Finschränkungen  auferlegen  kann,  wie  weit 
sie  sich  ausbreiten  dürfe,  weil  es  die  Natur  derselben  mit  sich 
bringt,  sich  über  alles  auszubreiten/' ^j  2*;^  gj^bt  also  drei  Stel- 
lungen zu  dem  Problem,  die  des  Rehgionsphilosophen,  des  wissen- 
scbafthchen  Theologen  und  des  praktischen  Geistlichen.  Der 
letztere  hat  den  bestehenden  Gesetzen  zu  gehorchen  und  nur  auf 
die  Milderung  und  Rationalisierung  zu  hoffen,  die  die  beiden  ei'sten 
in  dem  gemeinsamen  Interesse  an  einer  Vereinigung  oder  Mittel- 
linie bew^ii^ken  und  den  Kegierungsinstanzeu  annehndich  machen 
werden.  Dieses  Interesse  an  der  Herstellung  einer  Mittellinie 
spricht  auch  noch  aus  der  Eingabe  an  die  Kiuügsberger  theolo- 
gische Fakultät  um  Entscheidung,  ob  das  Buch  einer  theologischen 
Zensur  zu  unterliegen  habe;  Kant  hält  ihr  vor,  dass  „tue  Theo- 
logen als  Universitätsgelehi"te  (nicht  bloss  als  Geistliche)  das  Inter- 
esse der  Wissenschaft  nicht  zu  verabsäumen,  sondern  vielmehr  .  .  . 
zu  erw^eitern  befugt  und  verbunden  sind.**  Briefw.  II,  345.  Es 
spricht    aber   auch   noch    aus    der  letzten  Kedaktion  der  Vorrede, 

1)  Dilthey,    Kants  Streit  mit  der  Zensur  fiber  das  Recht  freier  Reli- 
gionsforschmig,     Archiv  f.  Gesch.  d.  Philos.  Uli  1900.  S.  437. 

2)  Dilthey  S.  438.  ~ 


Das  Historische  in  Kants  Beligioiiâpliilosophie. 


65 


wo  Kant  freilich  die  beiden  Wissenschaften  der  Religiousphilosophie 
und  Theologie  zunächst  reinlich  geschieden  sehen  will;  aber  er 
will  dann  doch,  dass  schliesslich  „der  Versuch  angestellt  wird,  sie 
in  VereiüigüDg  zu  betrachten**;  man  muss  wissen,  ^wie  man  mit 
der  Religionslehre  im  Ganzen  daran  sei",  und  es  wäre  daher  wohl- 
gethan,  „nach  Vollendung  der  akademischen  Unterweisung  und  der 
biblischen  Theologie  jederzeit  noch  eine  besondere  Vorlesung  über 
die  reine  philosophische  Beligionslehre  (die  sich  alles,  auch  die 
Bibel,  zu  nutze  macht)  nach  einem  Leitfaden,  wie  etwa  dieses 
Buch,  .  ,  .  als  zur  vollständigen  Ausrüstung  der  Kandidaten  er- 
forderhch  zum  Beschlüsse  hinzuzufügen/*  VI,  105  fJ) 
^b  Aber  diesen  Sachverhalt  hat  nun  freilich  Kant  selbst  wieder 
'  verdunkelt,  indem  er  in  allen  offiziellen  Äusserungen,  in  der  Vor- 
rede zu  der  „Rel  i.  d.  ür,  d.  bl  V."  und  zum  „Streit^*,  in  der 
Eingabe  an  die  theologische  Fakultät  und  besonders  in  der  Ver- 
antwortung gegen    den    König,    aber  auch   in  den  Briefen  an  die 


^B  ^)  Noch  detitiicber  spricht  ein  loses  Blatt  Reicke  11,  253:  „Ich  glaube 
T^^ts  Unwürdiges  in  der  Vemutifttheologie  und,  sofern  sie  Moral  enthält, 
in  Ansehung  der  Religion  der  Vernunft  gesagt  zu  haben,  und,  da  der  bib- 
lische Theologe  sich  auch  der  Vemunftideen  bedient^  musste  ich  sehen, 
wie  weit  die^e  für  sich  selbst  reichen  und  auf  welche  Art.  sie  mit  jenen 
in  Hannonie  gebracht  werden  können;  alJes  als  Hypothese,  Die  Saclie 
wurde  so  vorgestellt,  wie  sie  zwischen  der  philosophischen  und  theologischen 
Fakultät,  nicht  zwischen  der  ersten  und  den  Geistlichen,  nnd  nicht  vor 
dem  Volk,  sondern  dem  gelehrten  Publikum  geführt  wird.  Mein  Buch  ist 
keine  Rede  an  das  Volk,  denn  dazu  ist  es  viel  zu  g^elehrt  und  unverstÄnd- 
lich,  sondern  an  die  Fakultäten,  um,  wieweit  die  Rechte  der  biblisch-theo- 
logischen im  Verhältnis  auf  die  philosophisch- theologischen  gehen,  auszu- 
machen, weil  beide  in  Harmonie  soUen  gebracht  werden".  Ganz  ebenso 
Reicke  HI,  4,  Daher  auch  der  Titel,  der  nicht  Religion  aus  reiner  Ver- 
nunft, sondern  innerhalb  reiner  Vernunft  sagt  und  damit  andeutet,  dass 
es  eine  rationale  Religion  nirgends  gehe,  sondern  nur  rationale  Religions- 
elemente,  die  eingehüUt  sind  in  empirisch-positive  und  die  dieser  HüUe 
immer  bedürfen^  da  nie  reine  Verminftreligion  bei  der  sinnUchen  Art  des 
Menschen  möglich  ist.  Daher  sein  Prinzip:  „Analytische  Methode  eine 
gegebene  Religion  innerhalb  der  Grenzen  etc,  (d.  h,  auf  ihren  Gehalt  an 
reiner  Vemufift  m  prüfen  nnd  wm  dieaem  Gehalt  awt  zu  deiden)  zu  finden, 
nicht  synthetisch  eine  solche  durch  Vernunft  zu  machen",  Reicke  111,  59. 
Der  Gedanke  ist  oft  wiederholt.  Ebd.  III,  68;  UJ,  90,  Das  ist  aber  das 
Prinzip  eines  Kompromisses,  der  die  Notwendigkeit  der  positiven  Religion 
anerkennt,  die  beste  unter  den  vorhandenen  aussucht,  diese  nach  Vermögen 
aus  ihren  eigenen  rationalen  Intentionen  heraus  rationalisiert  und  dabei 
zugleich  möglichst  Rücksicht  auf  den  rechtlichen  Bestand  des  Staats- 
kirchen turns  nimmt. 

KAXitotii<n*n  IX  5 


66 


K  Troeltscli, 


Theologen^)  eine  mit  dem  wirklichen  Zweck  gar  nicht  überei 
stimmende  Unabhängkeit  und  blosse  Parallelität  gegenüber  der 
positiven  Theologie  behauptet.  Er  will  nur  vom  Standpunkt  der 
philosophischen  Fakultät  aus  gesprochen  haben,  die  biblischen  Be- 
züge nur  als  Beispiel  gewählt  haben,  an  deren  Stelle  auch  andere, 
nur  dann  ihm  weniger  bekannte,  weniger  anschauliche  und  prak- 
tisch  bedeutsame  hätten  gewählt  werden  können  ;  er  will  vor  allein 
dem  eigentlichen  Erkenntnisprinzip  der  theologischen  Fakultät  gar 
nichts  präjudiciert  haben.  Seine  Religionsphilosophie  will  sich  zoofl 
Theologie  nur  verhalten,  wie  die  reine  natürliche  Religion  gegen-^ 
über  der  offenbarten,  und  die  Berührungen  mit  ihr  bezögen  sich 
nur  auf  die  Elemente  natürlicher  Religion,  die  nach  eigener  theo- 
logischer Lehre  ja  auch  in  dieser  selbst  enthalten  seien.  Der  für 
jede  Philosophie  unkontrollierbare  Begriff  der  Offenbarung  falle 
nicht  in  seine  Kompetenz  und  könne  von  der  Philosophie  ans 
wenigstens  nicht  als  unmöglich  erwiesen  werden;  somit  verbliebeo 
der  kirchlichen  Theologie  ihr  eigentümMches  Erkenntnisprinzip  und 
die  eventuell  daraus  ableitbaren  Dogmen  als  ihr  von  ihm  unange- 
fochtenes Eigentum.  Allein  es  liegt  auf  der  Hand,  dass  dies« 
Wendungen  um*  aus  dem  Streit  mit  der  Zensur  bervorgegaugeE 
sind  und  die  Prinzipien  der  scholastischen  Theologie^)  lediglich 
benützen,  um  ans  diesen  selbst  den  Anspruch  zu  folgern,  dass 
seine  Schrift  nicht  vor  das  Forum  der  theologischen,  sondern  vor 


i)  So  z.  B.  in  dem  Briefe  an  den  KatholikeD  Renss,  Mai  1793:  ^Id 
SBg-e  hier  nicht,  dass  die  Vernunft  in  Sachen  der  Religion  sich  seibat 
nug  zu  sein  behaupten  wage,  sondern  nur  {dass)^  wenn  sie  sich  nicht  at^l 
wohl  in  Einsicht  als  im  Vermögen  der  Ausübung  genug  ist,  sie  alle^  üb- 
rige, was  über  ihr  Vermögen  hinzukoramen  muss^  ohne  dass  sie  es  wissen 
darf,  worin  es  bestehe,  von  dera  übemattirlichen  Beistand  des  Himmels 
erpi^arten  mu8s>  Bricfw.  Lf,  416.  —  tTber  die  Verantwortung  an  den  König 
vgL  Amoldt,  Beiträge  111  ff.,  der  hier  „tTbertreibung"  120  findet. 

*)  Vgl.  meine  Schrift,  Vernunft  und  Offenbarung  bei  W.  Jos-Gerhard 
und  Melanchthon.  Göttingen  1891,  Ich  kann  Dilthey  nicht  zugeben,  dass 
in  diesen  Formeln  sich  für  Kant  das  grosse  Problem  des  Verh^tnisse*'  der 
historischen  Machte  der  Religion  zur  neuen  Religionswissenschaft  aae- 
spreche.  Die  wirkliche  Auffassung  Kants  liegt  in  dem  vorher  geschilderten 
Koalitions verfahren.  Dagegen  kann  ich  in  den  scholastischen  Formeln  Über 
die  Kompetenzen  der  Zensur  und  in  der  der  Teilung  dieser  Korapetenzea 
entsprechenden  Teilung  der  philosophischen  Religionslelire  und  der  Offen- 
barungstheologie nur  eine  momentane  Auskunft  gegenüber  den  Zensur- 
schwierigkeiten sehen,  zu  der  er  die  von  ihm.  selbst  gänzlich  überw^undenea 
scholastisch-theologischen  Formeln  benutzt» 


Das  Hîâtorîsclie  in  Kants  ReUgicmspliilosopMe. 


67 


fias   der  rein    philosopHscheD  Zensur  gehöre.     Das  aber  war  der 

Gegenstand  seines  Streites  mit  der  Berliner  ZensurkommissioD  und 
war  die  Bedin^uüg»  unter  der  allein  sein  Buch  gedruckt  werden 
konnte.  Dass  hierin  allein  der  Oruud  dieser  eigeûtihnlich  schola- 
stischen und  zopfigen  Wendungen  liegt,  ist  ohne  weiteres  klar, 
wenn  man  die  zur  Fonnel  gewordenen  ganz  (liploniatischen  und 
inhaltsleeren  Äusserungen  über  die  neben  der  Religionsphilusophie 
allenfalls  noch  mögliche  Offenhamngstheologie  betrachtet,  wenn 
man  bedenkt,  dass  Kant  die  sämtlichen  christlichen  Dogmen  als 
richtig  zu  interpretierende  Belebungs-  und  Erweckungsmittel  der 
Eeligion  betrachtet  und  der  scheinbar  anerkannten  Offenbarung 
zwar  nichts  präjudiciert,  aber  auch  keinerlei  Platz  übrig  lässt. 
Er  erkennt  sie  in  der  Theorie  als  miiglich  an  und  arbeitet  prak- 
tisch ihren  ganzen  Stoff  auf,  als  ob  sie  nicht  vorhanden  wäre. 
Das  heisst  die  Offenbamtig  haben,  als  hätte  man  sie  nicht,  oder 
sie  nicht  haben,  als  hätte  mau  sie, 

Ist  also  die  „ReL  i,  d.  Gr,  d.  bh  V."  ein  für  die  momentane 
und  wohl  noch  lange  dauernde  Lage  gemeinter  Koalitionsversuch, 
eine  Vereinigung  von  Religionsphilusophie  und  Theologie,  so  ist 
sie  für  die  Auffassung  von  Kants  Religionsphilosophie  nur  mit 
Vorsicht  zu  benutzen  und  jedenfalls  kein  erschöpfendes  Dokument, 
Mindestens  das  Verhältnis  zu  der  Eeligionsgeschichte  wird  aus  ilir 
nur  sehr  indirekt  erhellt  werden  können,  i^ber  nicht  bloss  dieser 
Kompromisscharakter  erschwert  die  Ausnutzung.  Kants  Schreib- 
weise hat  in  iliesen  Dingen  vielmehr  noch  einen  ganz  besonderen 
diplomatischen  und  übervorsichtigen  Charakter,  sie  ist  reich  an 
Mentalreservationen  und  Zweideutigkeiten,  die  der  grund wahrhaftige 
Mann  vor  sich  mit  dem  Gebot  des  Gehorsams  gegen  die  bestehende 
Obrigkeit  rechtfertigte.  Wer  den  Veraicht  auf  religionsphiloso- 
phische Schriftstellerei  »,als  seiner  Majestät  getreuester  llnterthan** 
bedingungslos  leistet  und  dann  selbst  erklärt,  sich  damit  den 
Rücktritt  von  diesem  Versprechen  bei  dem  Eintritt  eines  neuen 
Herrschei^  haben  sichern  zu  woollen;')  wer  Mendelssohns  Ablehnung 
jeder  Konversion  durch  Berufung  auf  die  zuvor  notwendige  göttliche 
Annulierang  des  Gesetzes  als  „vorsichtige^  Andeutung  auffasst, 
ÜBER  j&  die  Christen  selbst  jüdische,  erst  zu  überwindende  Trü- 
bungen in  ihrer  Religion  hätten;-)  ein  solcher  Mann  mag  vieles 
geschrieben    haben,    dessen    wirkUche  Meinung   heute   nicht  mehr 


1)  W.  W.  Vü,  330, 
»)  W,  W.  Vn,  369. 


5* 


E.  Troeltsch, 


eptziffert  werden  kann.  So  schreibt  Kant  ja  anch  selbst  ^es  sei 
jedermann  bekannt,  wie  sorie^ältig  er  sich  mit  seiner  Schriftstellerei 
in  den  Schranken  der  Gesetze  halte",  Brief w,  III,  238.  Am  deut- 
lichsten aber  hat  er  sich  über  seine  Grundsätze  gegen  Fichte  er- 
klärt, der  von  ihm  Auskunft  haben  wollte,  wie  man  in  der  Frage 
der  Offenbarung  gegenüber  der  Zensur  aufkommen  könne.  Er 
stellt  zunächst  fest,  dass  aus  den  ihm  und  Fichte  gemeinsamen 
Grundsätzen  allerdings  unvermeidlich  folgt-,  ^dass  eine  Religion 
überhaupt  keine  anderen  Glaubensartikel  enthalten  könne,  als  die 
es  auch  für  die  reine  Veniuüft  sind''.  Von  hier  aus  sei  an  sich  der 
Zensur  gegenüber  nicht  schwer  durchzukommen.  „Dieser  Satz  ist 
nun  memer  Meinung  nach  zwar  ganz  unschuldig  und  hebt  weder 
die  subjektive  *)  Notwendigkeit  einer  Offenbaruug  noch  selbst  daij 
Wunder  auf  (weil  man  annehmen  kann,  dass  ob  es  gleich  mög^ 
lieh  ist,  sie,  wenn  sie  einmal  da  sind,  auch  durch  die  Vernunft 
einzusehen,  ohne  Offenbarung  aber  die  Vernunft  doch  nicht  von 
selbst  darauf  gekommen  sein  würde,  diese  Artikel  zu  introducieren, 
anfangs  Wunder  von  Nöten  gewesen  sein  können,  die  jetzt  der  Ke- 
Ugion  zu  Grunde  zu  legen,  da  sie  sich  mit  ihren  Glaubensartikehi 
nun  schon  selbst  erhalten  kann,  nicht  mehr  nötig  sei),**  Allein 
damit  komme  man  bei  der  jetzigen  Verschärfung  der  Zensur  nicht 
mehr  durch,  die  sich  nicht  darauf  einlässt,  „dass  die  Offenbarung 
dergleichen  Sätze  nur  aus  Akkomodation  für  Schwache  in  einer 
sinnlichen  Hülle  aufzustellen  die  Absicht  hege  und  dieselbe  insofern 
auch,  ob  zwar  bloss  subjektive,  Wahi-heit  haben  könne.**  Es 
bleibe  aber  unter  diesen  Umständen  immer  noch  der  Weg  übrig, 
dem  Zensor  „den  Unterschied  zwischen  einem  dogmatischen,  über 
alle  Zweifel  erhabenen  (sc.  kirehUchen)  Glauben  und  einem  bloss 
morahschen  freien,  aber  auf  moralische  Gründe  (die  Unzuläng- 
lichkeit der  Vernunft,  sich  in  Ansehung  ihres  Bedürfnisses  selbst^ 
Genüge  zu  leisten)  sich  stützenden  Anuehmung  (sc.  des  Wunden^ 
und  der  Offenbarung)  begreiflich  und  gefällig  zu  machen  ;  da  alsdami 

1)  „Subjektiv-  heisst  hier  und  weiter  unten  einfach  soviel  als  ^psy- 
chologisch**. Vgl.  Hegler,  „Psych,  in  Kant«  Ethik';  S.  21,  der  an  einigen 
schlagenden  Beispielen  diese  Begriffsgleiciiheit  nachweist.  An  anderen 
Stellen  freüich  heisst  .subjektiv"  soviel  als  ppersnnheh-ethisch  in  der  Gel- 
tung begründet^.  AUein  das  ist  —  wenn  man  die  sonstige  Behandluof 
des  Wunderbegriffes  sieh  vergegenwärtigt  —  hier  sicher  nicht,  der  Fall.  Die 
zweite  Auskunft  gegenüber  der  Zensur  ist  ein  Versuch,  jene  erate  Be- 
deutung von  ..subjektiv^  allenfaUs  m  diese  zweite  hinübe rzuspielen,  oder 
sie  ilir  doch  anzunähern. 


Das  Historische  in  Kants  Relij^onsphilosophie. 


69 


der  auf  Wunderglauben  «lurch  moralisch  gute  Gesiimnng  gepfropfte 
Religiousglaube    ungefähr    so    lauten    würde  :     Ich    glaube    lieber 
Hpfr!  (d.  h,  ich  uehme  es  (sc.  dm  Wunder)    g?rne  an,    oh  ich   es 
gleich    weder    mir  noch  anderen  hinreichend  beweisen  kaun);    h^ilf 
,    meinem  Unglauben:    d*  h.    den   moralischen  Glauben    in  Ansehung 
I  alles    dessen,    was    ich    aus    der    WundergeschichtserzäbUing    zu 
'  innerer  Besserung  für  Nutzen  ziehen  kann,  habe  ich  und  wünsche 
'    auch    den    historischen,    sofern    dieser    gleichfalls    dazu    beitragen 
könnte,    zu    besitzen/'      Kant  nennt  diese  Ideen  „in  der  Eile  hin- 
I  gelegt,   obzwar   nicht   unüberlegt". ')     Und   es   ist  klar,    dass   in 
dieser   Sache  Methode  ist.     Die  Methode  ist  in  den  relîgionsphilo- 
I   sopMschen    Schriften    nur    allzu    spürbar.      Aber   wenn    von    den 
I  beiden  Wer  vorgeschlagenen  Methoden  die  erste  noch  allenfalls  für 
'  Kants  Gedankengang    möglich    ist,    so    ist  die  zv^^ite  eine  direkte 
Vei  leugnung  seiner  wesentlichen  Grundsätze.     Ks  ist  auf  eine  be- 
reits   exoterische  Methode    eine  mehr  als  esoterische  aufgepfropft. 
TJüd    diese  Anweisung    gab  Kant  im  Februar  1792,    also  während 
er   an    seiner  „Rel.  i.  d.  Gr.  d.  bL  V."    arbeitete!    Wie    unsicher 
ist  dann  der  Boden  für  die  Interpretation  dieses  Buches! 

Im  Ganzen  aber  wird   doch  die  Auffassung  des  Buches  nicht 
allzusehr   beeinträchtigt    durch    diese  Winkelzüge,    zu    denen   eine 
bornierte  Pfaffen  Wirtschaft   und    sein    korrekt-legitimistischer  Sinn 
den    souveränen    und    alle  diese   Menschlichkeiten    mit   beissender 
Ironie  betraclitenden  Denker  genötigt  haben.    Ist  nmn  einmal  auf 
sie  aufmerksam  geworden,    so    lassen  sie  sich    an  der  stereotypen 
1^  Formel,    an   der  gleichartigen  Einflickung   durch    „obw^ohl",    „wo- 
I  bei*,  ^oder**  u.  s.  w.,  vor  allem  an  dem  den  Kontext  oft  empfind- 
I   lieh   störenden    oder  verwackelnden  Widerspruch  zumeist  leicht  er- 
kennen   und    ausscheiden.*)     Nach  dieser  Ausscheidung  erhält  das 


1)  Briefw.  II,  308  f. 

«)  Ich  notiere  einige  Beispiele:  W,  W,  VI,  13i*,  157,  158,  180,  181, 
208,  303,  210,  241,  270,  286,  ein  sehr  charakteristisches  Beispiel  ist  S.  169, 
wo  ich  die  Kongression  durch  eckige  Klammer  ausscheide  und  der  Satz 
durch  die  Ausscheidwiie:  erst  .seinen  echteii  Sinn  gewinnt  :  „und  diese  (sc. 
die  nme  sittlivhe  (iesifimmg)  in  ihrer  Reinigkeit,  wie  die  des  Sohnes  Gottes 
(sc.  des  sittlicheji  Menst^hheitsiileak  üherJiaupt)^  welche  er  (sc.  der  Mensch)  m 
.  sich  Aufgenommen  hat  (oder,  (wenn  wir  diese  Idee  perso nifi- 
cieren)  dieser  selbst  (sc,  jetzt  ChriBhin)}  trügt  ftir  ihn,  [und  so  auch 
für  alle,  die  an  ihn  (praktisch)  glauben]  als  St«D  vert  reter  die 
*Stlndenschuld,  thut  durch  Leiden  [und  Tod)  der  höchsten  Gerechtigkeit 
^nug  und  macht  als  Sachwalter,  dass  sie  hoffen  köEBen,  vöt  ihrem  Eich  ter 


70 


E.  Troeltsch, 


Buch  einen  ganz  anderçD,  viel  geschlosseneren,  grossartigeren 
nnd  freieren  Charakter.  Es  kennzeichnet  sich  dann  deutlich  als 
rationalisierende  Vermittelungstheologie  grössten  Stiles.  Es  giebt 
drei  Theologieen:  die  rein  wissenschaftliche  oder  die  das  Ganze 
der  Religion  deduzierende  und  in  seinem  Verhältnis  zur  Religions- 


à 


als  gerechtfertigt  zu  erscheinen,  [nur  da  s  s  (in  dieser  Vorstellungs-' 
art)  jenes  Leiden,  das  der  neue  Mensch,  indem  er  dem  alten 
abstirbt,  ira  Leben  fortwährend  Übernehmen  miiss,  von  dem 
Repräsentanten  der  Menschheit  als  ein  für  allemal  erlitte- 
ner Tod  vorgestellt  wird)."  Der  Satz  ist  für  Kant«  Methode  sehr 
interessant:  Die  Einschiebsel  heben  seinen  einfachen  Sinn  geradezu  aul|^— 
denn  er  will  sagen,  dass  der  neue  Mensch  in  der  Totalität  seiner  Gesin^^ 
niing  Erlöser,  Stellvertreter  und  Sachwalter  ist;  die  Einschiebsel  entstellen 
den  Sinn  durch  Einfügung  einer  allenfalls,  weil  für  die  Vernunft  unkon- 
trollierbaren» annehmbaren  Ergänzung;  aber  Kants  EhrMcbkeit  hebt  diese 
Ergänzung  in  der  letzten  Einschränkung  wieder  auf,  wo  er  diese  Er- 
gänzung lediglich  als  Symbol  ftir  einen  täglichen  psychologischen  Vorgang 
erklärt;  eine  grosse  Anmerkung  unter  dem  Text  erläutert  vollends  die 
Symboltheorie;  dabei  bleibt  aber  doch  im  Text  der  völlig  zweideutige  und 
sinnsiörende  Doppelgebrauch  des  Ausdrucks  Sohn  Gottes.  Beiläufig  sei 
bemerkt^  dass  dies  die  einzige  Stelle  ist,  wo  die  Worte  Erlöser  und  Er- 
lösung gebraucht  sind,  und  dass  liier  der  Erlöser  ganz  ausdrücklich  die  neae 
Gesinnung  ist.  Ein  ähnlich  charakteristisches  Beispiel  findet  sich  S,  184: 
„Da  er  also  mit  ihnen  (sc,  dm  himnüüchen  Einßimat)  unmittelbar  nichts  an- 
zufangen weiss,  so  statuiert  er  in  diesem  Falle  keine  Wunder,  sondera 
verfährt  so  ... ,  als  ob  alle  Sinnesänderung  und  Besserung  lediglich  von 
seiner  eigenen  angewandten  Bearbeitung  abbinge."  Zu  diesem  vieUeicht 
Anstoss  gebenden  „statuiert^^,  giebt  nun  die  zweite  Auflage  die  Anmerkung: 
„Heisst  soviel  als:  er  nimmt  den  Wunderglauben  nicht  in  seine  Maximen 
(weder  der  theoretischen  noch  der  praktischen  Vernunft)  auf,  ohne  doch 
ihre  Möglichkeit  oder  Wirklichkeit  anzufechten.*'  Dabei  ficht  er  aber  an 
anderer  Stelle  beides  an.  —  Die  bisherigen  Stellen,  die  ganze  Theorie  der 
Parerga,  der  bloss  möglichen  und  zwar  die  Theologie,  aber  nicht  die  Reli- 
gionsphilosophie betreffenden  Wunder,  Geheimnisse  nnd  Geschicktstbat- 
sachen  VI,  146,  verfahren  nach  dem  ersten,  Fichte  gegenüber  geäusserten 
Grundsatz.  Andere  verfahren  nach  dem  zweiten,  dass  sie  den  historischen 
Wunderglauben  zwar  in  hypothesi  anerkennen  und  als  wünschenswert  be- 
zeichnen, aber  nickt  von  üim,  sondern  ninr  von  der  sittlichen  Gesinnung 
ausgehen  wollen,  um  i-^on  dieser  aus  ihn  dann,  soweit  er  moralisch 
fnichtbar  gemacht  werden  kann,  annehmlich  zu  machen.  Es  handelt  sich 
dann  nicht  um  den  historischen  Wunderglauben  selbst,  sondern  nur  um 
seine  Voranstellung  oder  Nachstellung.  Kant  kämpft  nur  für  die  xweite 
(VI^  278,  283)  und  es  fehlt  anch  nicht  in  diesem  Zusammenhang  das  gegen 
Fichte  gebrauchte  Stichwort:  ,jlch  glaube,  lieber  Herr,  hilf  meinem  Un- 
glauben". VI,  289.  Das  ist  ganz  unverkennbare  Befolgung  des  dort  ge- 
schilderten Verfahrens  gegenüber   der  Zensur.  —  Am  schlimmsten  ist  der 


Das  HistoTische  in  Kants  Reli/grionsphilosophie. 


71 


^^scbichte    zeigende   Eeli^ioiisphilosopliie ,   die    rein    kirdilich-posi- 

^p^e,    ans    der  offenbarten    und    inspirierten    Bibel    die    Dogmen 

darstellende    eigentliche    Theulogie    (VII,  340  und  353),   und   eine 

Verbindung   von  Religioosphilosopliio    und  Thi'ologie,    in  der  diese 

von  jener    durch    und    durch    erleuchtet,    deduziert    und   geregelt 

wii'd,    aber    auch   jene    sich   diese  als  Organ  praktischer  Wii^kung 

und  Mittel  religiösen  Fni-tschrittes  aneignet  (VII,  359).     Die  erste 

JCheologie    behält  Kant    für   sich;    sie    würde   für   die    Praxis    im 

^bgenwärtigen  Zeitpunkt    leer    und    wh*kungslos   sein   und   durch 

ihren  Rationalismus  nur  P^bitterung   oder  Vei^tiindnislosigkeit  be- 


Abschnitt VI,  212-222,  wo  über  da^  Verhältnis  der  in  der  sitthcheii 
Wiedergeburt  selbst  voUzogenen  Befreiung  vom  Bösen  zu  dem  fremden 
Verdienst  des  historischen  Christus  gehandelt  wird.  Die  Stelle  ist  in  ihrem 
Wortlaut  absohlt  unverständhch  und  ist  auch  in  Kuno  Fischers  ausführ- 
licher Reproduktion  nicht  verständlich  geworden.  Sie  wird  nur  durch  das 
Zcnsiirprinzip  verständlich,  den  historischen  Glauben  allenfalls  auf  die 
moralische  Gesinnung  aufzupfropfen,  und  ist  eine  Auslegung  des  Wunsches 
j^iilf  meinem  Unglauben'^  Kant  giebt  sich  hier  den  Anschein,  eine  fremde 
Gemigtbaung  zur  Straftilguiig  für  eine  Vemunfiforderung  zu  halten,  und 
konstruiert  sogar  eine  Antinomie  zwischen  dem  rein  innerlich-rationalen 
Religionsglanhen  mid  einem  notwendigen  Rekurs  auf  fremde  historische 
Ergänzung.  Allein  das  Ende  vom  Liede  ist,  dass  es  auch  hier  nur  auf 
Voranstellung  des  sittlich -rationalen  Gedankens  ankommt  und  das  andere 
dann  wohl  oder  übel  als  der  moralischen  Erneuerung  zuträglich  und  von 
üur  ans  bestimmbar  liinzugefügt  werden  m5ge:  Der  Religionsphilosoph 
„wird  bei  aller  Achtung  filr  eine  solche  üherschwängliche  Genugthuung, 
bei  allem  Wunsche^  dass  eine  solche  auch  für  ihn  offen  stehen 
möge,  doch  nicht  umhin  können,  sie  nur  als  bedingt  anzusehen^  nUmüch, 
dass  sein,  soviel  in  seinem  Vermögen  ist,  gebesserter  Lebenswandel  vorher- 
gehen müsse,  um  auch  nur  den  mindesten  Grund  zur  Hoffnung  zu 
geben,  ein  solches  höheres  VerdieDst  k5nne  ihm  zu  Gute  kommen." 
S.  215.  Das  ist  lediglich  für  die  Zensur.  Seine  wahre  Ansicht  deutet 
Kant  dadurch  an.  dass  er  diese  Abhandlung  über  die  Anerkennung  einer 
fremden  historischen  Genugthuung  überschreibt:  ,,Der  allmähliche  Übergang 
des  Kirchenglaubens  zur  Alleinherrschaft  des  reinen  Religionsglaubens  iat 
die  Annäherung  des  Reiches  Gottes**!  —  Erwähnt  sei  noch,    dass  VII,  £^80 

ÉOpfening  Isaaks   einfach  als  Mythos  bezeichnet  wird,   während  in  der 
sl,  L  d.  Gr.  d.  bl.  V."   dieselbe   Geschichte   nur   als  ,, nicht   apodiktisch 
vim**,  als  möglicher  Weise  einen  Irrtum  der  Überlieferung  und  Auslegung 
haltend  VI,  286  bezeichnet  wird.  —  Dabei  ist  aber  nicht  zu  vergessen,  dass 
Kant,  indem  er  nach  dieser  dogmatischen  Seite  sich  starke  Zurilckhaltung 

«erlegt,   dafür   auf   der   praktisch-kirchlichen  um  so  schroffer  und  grim- 
rer  das  Wöllnersche   Regiment   bekämpft.     Das   Prinzip   des   Zwangs- 
abeus  wird  mit  sittUcher  Entrüstung  und  mit  schneidendem  Hohn  be- 
Umpft  ^ 


72 


E.  Troeltsch, 


wirken.     Die   zweite    hält  Kant  für  das  grosse  Übel,  für  den  vou 
Kleiolichkeit,  Äiisserlichkeit   imd  Herrschsucht  festgehaltenen  ReslA 
einer  überwnnileiieii  Relig^ousstiife,  der  in  den  gegen wärtigen,  der 
Aufklärung  sich  entgegen  bewegenden,  Zeiten  die  Religion  nur  ver- 
giften  und  verächtlich  machen  kann.     Die  dritte  ist  ihm  das  van 
der  Zeitlage   geforderte  Mittel  der  Versöhnung  und  Fortentwicke- 
lung, durch  das  aus  der  chiistlicheu  Landeskirche  als  der  reinsteu 
Verkörperung  der  religiösen  Wahrheit,  die  die  Erf aiming  darbietet, 
durch  allmähliche  Umdeutnng,  Einschränkung  und  Selbstanfhebung 
die    ideale    Zuktmftskirche,     die     reine,    famiüenhafte,     religiöse 
Menschheitsgemeinschaft,  angebahnt  werden  soll.    Es  gilt,  die  hier 
erreichte  relative  Wahrheit  der  historischen  Religionsgemeinschaft 
möglichst  heraus  zu  heben  und  sie  damit  auf  die  Bahn  zu  bringeU|.Ä 
auf   der   sie  —  in    freilich  noch  unabsehlich  weiter  Ferne  —  zur™ 
absoluten  reinen  Wahrheit  sich  erheben  wird.     So  hat  Kant  seine 
Stellung   im  Unterrichtsorganisraus   der  Univei^itM  aufgefasst,  W0^| 
ReligionsphUosophie  und  Fakultätstheologie  nebeneinander  standen 
und  von    den    gleichen  Hörern  benntzt  werden  sollten;    so  hat  er 
die  reiferen   unter   seinen  theologischen  Schülern  zur  Einheit  undfl 
Versöhnung   ihrer  Ausbildung   geführt;    so   hat    er  vor  allem  die 
Mission   der  Philosophie    in  Bfzug   auf  das    grosse   religiös-kirch- 
liche  Problem   der   neuen  Zeit   aufgefasst.  ^)    Es   ist   das   nichts 


Ï)  Das  Pro^rramm  fftr  die  Gegenwart,  die  für  Kant  eine  nene  Epoche 
in  der  Geschichte  des  Cliristentmns   und  zwar  die  wichtigpste  in  ihr  Über- 
haupt ist,  ist  folgendes:    ^1.  Bass  ,  .  . ,  da   die  Verbindung  der  Menschen 
zu  einer  Religion   nicht   füglich   ohne   ein    heiliges   Buch   und   einen   auf 
dasselbe   gegründeten  Kirche nglanb en   zu  Stande   gebracht  und  beliarrüch 
gemacht  werden  kann;    da  auch^    wie  der  gegenwärtige  Zustand  raensch*Ä 
lieh  er  Einsicht   h  es  ch  äffen   ist,  wohl    schwerlich  jemand   eine  neue  Offen-™ 
baning,  durch  neue  Wunder  eingeführt,  erwarten  wdrd,  es  das  Vernünftigste 
und  Billigste  sei,   das  Buch,   was   einmal  da  ist,  fernerhin  zur  Gnmdlage 
des  Kirchenunterrichta  zu  brauchen  und  seinen  Wert  nicht  durch  unnütze 
oder  willkürliclie  Angriffe  zu  schwächen  ;  2,  dass,  da  die  heihge  Geschichte  . .  »M 
nur  zur  lebendigen  Darstellung  ihres  wahren  Objektes  (der  zur  Heiligkeit  w 
hinstrebenden  Tugend)  gegeben  ist,  sie  jederzeit  als  auf  das  Moralische  ab- 
zweckend gelehrt   und  erklärt  werde. **     VI,  23L    An  sich  freilich  ist  ,jdie 
heilige    Geschichte    bloss    xum    Behuf    des    Kirchenglaubens    angelegt^* 
d.  h,  ein   rein   histuriclies  Produkt  urchristlicher  Apologetik  und  Legende 
und   als   solche   geht   es   die  Religionsphilosophie  nichts  an.    Aber  sie  ist 
die  „Hülle  für  den  Embryo**  der  reinen  Religion  (S.  219)  und   als  solche  ist 
sie  ein  vielleicht  für  immer  (S.  234),  jedenfalls  auf  lange  Zeit  unentbehr- 
liches „Vehikel". 


Das  Hisforische  in  Kants  Reli prion spb il osophie. 


73 


anderes  als  die  l^iiteracheidimg  einer  rein  wissenschaftlichen  Theo 
logîe  lind  einer  Kirche  und  Wissenschaft  versöhnenden»  aber  nicht 
rein  wissenschaftlichen,  sondern  die  Wissenschaft  nui*  benutzenden 
nnd  den  historisch-populären  \%rstelliingen  sich  mög^lirhst  an- 
schliessenden Theologie.  Diese  Unterscheidung  liegt  lief  im  Wesen 
der  Sache.  Zu  ihr  sahen  sich  alle  grossen  Denker  und  Forscher 
in  der  Theologie  genötigt,  Ihr  habeu  in  der  Begriindung  der 
Theologie  die  grossen  Alexandriner  gehuldigt,  sie  ist  in  der  moder- 
nen Neubildung  der  Theologie  von  Semler  und  von  Schieier  mâcher 
gefordert  worden,  und  sie  hat  sich  immer  deutlicher  als  die  Konse- 
quenz des  Eindringens  der  reinen  Wissenschaft  in  die  Theologie 
herausgestellt.*)  Der  wahrhafte  i^isseiischaftliche  Radikalismus 
kennt  seine  Tragweite  und  versteht  die  konservativen  Mächte  des 
Gegebeueu,  Er  macht  daher  nicht  den  Versuch,  mit  abstraktem 
Wahi'heitsfanatisEUis  diesen  Abstand  zu  iiberspriugen,  sondern  sucht 
ihn  in  besonnener  langsamer  Ausgleichung  zugleich  zu  schonen 
und  zu  überbrücken.  So  hat  Kant  weder  die  revolutionäi^e  Er- 
setzung der  historisch  bedingten  Theologie  durch  eine  reine  Ver- 
nunft théologie  *),  noch  die  Einnjengung  einer  rein  historisch-kritischen 
Bibelforschung  in  die  Theologie  gewollt ;3)    Die  erstere  entspricht 


^)  Vgl  Bernoulli,  Die  mssenschafthciie  nnd  die  kirchliche  Methode 
in  der  Theolog-ie,  Freibnrg-  1897  nnd  meine  Anzeige  Gott.  Gel.  Anzg,  1898. 
Von  Bernoullis  Historismus  unterscheidet  sich  die  KaBtische  Lehre  sehr 
charakteristisch  dnrch  den  Besitz  eines  normativen  Religionsbegriffes  und 
die  Möglichkeit  von  hier  aus  der  „Vermittelung"  ein  festes  Rückgrat  zu  geben. 

*)  W.  W.  VI,  220:  t,ln  dem  Prinzip  der  reinen  Vernunft  religion  als 
einer  an  alle  Menschen  beständig  geschehenen  götthchen  {obzwar  nicht 
empirischen)  Offenbarung  muas  der  Grund  zu  jenem  Überschritt  zu  jener 
neuen  Ordnung  der  Dinge  hegen»  welche  einmal  aus  reifer  Überlegung 
gefasst>  durch  allmählich  fortgehende  Reform  zur  Ausfühning  gebracht 
wird,  sofern  sie  ein  menschliches  Werk  sein  soll;  denn  was  Revolutionen 
betrifft,  die  diesen  Fortechritt  abkürzen  können,  so  bleiben  sie  der  Vor- 
sehung überlassen  und  lassen  sich  nicht  planmÄssig.  der  Freüieit  unbe- 
schadet, einleiten"  und  S.  210:  „Der  Kirchenglaube  kann  als  Volksglaube 
tiieht  vernachlässigt  werden,  weil  dem  Volke  keine  Lehre  ?m  einer  unver- 
änderlichen Norm  tanglich  zu  sein  scheint^  die  auf  blosse  Vernunft-  ge- 
gründet ist,  und  es  göttliche  Offenbarung,  mithin  auch  eine  historische 
Beglanbigung  ilues  Ansehens   durch  Deduktion   ilires  Ursprungs,  fordert." 

8)  W.  W,  \TI,  383:  ,,Nun  mag  wohl  die  philologische  Auslegung  für 
den  Schriftgelehrten  und  indirekt  für  das  Volk  in  gewisser  pragmatischer 
Absicht  wichtig  genug  sein,  aber  der  eigenthche  Zweck  der  Religions- 
lehre  .  .  .  kann  auch  dabei  nicht  allein  verfehlt,  sondern  wolü  gar  ver- 
hindert werden,^*    Vgl.  VIJ,  386;  VI,  2m  und  Reicke,  ÜI,  9. 


74 


K  Troeltscli, 


den  Volksbedurfiiisseu  nicht,  und  die  zweite  lenkt  die  Religion  v 
dem,  was  sie  allein  interessiert,  vom  Absoluten,  auf  das  ab,  Wi 
für  sie  völlig  gleichgiltig  ist,  auf  das  Zufällig-Relative.  Er  liebt 
die  Bibelkritik  so  wenig  wie  Goethe,  soiulern  will  Verwertung  der 
Bibel  zur  unmittelbaren  Erbauung,  ohne  welche  ihre  Verwertußg 
keinen  Sinn  hätte,  In  dieser  Beorderung  und  Methode  weiss  er  sich 
einig  mit  der  wissenschaftlichen  Theologie  aller  Volker  und  Zeiten^ 
mit  der  christlichen  und  jüdischen,  der  indischen  und  islamischen, 
die  alle  genötigt  waren,  die  reine  Wissenschaft  von  der  Volks- 
religion zu  sondern,  aber  die  letztere  nach  Möglichkeit  im  Sinne 
der  ersteren  zu  deuten,  V)  Aus  so  krummen  Holze,  wie  der  Mensi 
geschnitzt  ist,  lässt  sich  oben  nichts  gerades  zimmern.*) 

So  ist  also  allerdings  die  „Rel.  i.  d,  Gr,  d.  bl.  V,**  die  Ai 
einandei"setzung  mit  der  Historie.  Aber  sie  ist  nicht  die  prinzipielle 
Untei'suchung  des  Problems  an  sich,  sondern  die  Losung  der  prak- 
tischen Aufgabe,  wie  die  Religionsphilosophie  sich  zu  dem  die 
Praxis  beherrschenden  historischen  Element,  dem  chiistlicheo 
Landeskirchentum,  zu  verlialten  habe.  Und  zwar  sind  es  speziell 
die  Zentraldogmen  des  lutherischen  Pietismus,  Erbsünde,  Bekehrung, 
Eechtfeitigung,  Wiedergeburt,  Sündenstrafe,  Geuugthuung,  Stellver- 
tretung,  neues  Leben,  Reich  Gottes  und  Kirche,  mit  denen  Kant 
sich  beschäftigt,  während  die  trimta.risch- Christo  logisch -kosmolo- 
gischen  Dogmen  der  alten  Kirche  ganz  zuriicktreten.  Die  Gnind- 
gedanken  der  so  entstehenden  Koalitionstheologie  sind  leicht  in 
ihren  Umrissen  zu  zeichnen.  Den  wichtigsten  Punkt  bildet  die  Lehre 
vom  radikalen  Bösen,  das  zwar  That  jedes  Einzelnen  ist  und 
dessen  Allgemeinheit  nur  von  der  Erfahrung  festzustellen  ist,  das 
also  von  der  christlichen  Krhsünde  sehr  verschieden  ist.  Es  be- 
deutet die  Herrschaft  einer  Gesinnungstotalität,  die  unbe- 
greiflich und  doch  fühlbar  die  Ifnterordnung  des  Trieblebens  unter 
das  apriorische  Sittengesetz  im  Prinzip  aufhebt  und  dadurch  eine 
böse  Gesinnung  hei  verbleibendem  Keim  des  Guten  und  bei  ein- 
zelnen Bethätigongen  des  Outen  hervorbringt.  Dadurch  berührt 
sie  sich  mit  der  christlichen  Lehre  von  einer  jeden  Menschen  be- 
hen*schendcn  und  erst  zu  überwindenden  Macht  des  Bösen.  Diese 
Überwindung  als  Umkelu^ung  der  Maximen,  als  Herstellung  des 
Übergewichts  der  Grundaidage  zum  Guten  über  die  Störung  des 
Bösen,    ist  ein  in  seiner  Möglichkeit  gänzlich  unbegreiflicher,  aber 

1)  VI,  206. 

2)  VI,  198,  offenbar  ein  Lieblingswort;  vgl  IV,  149, 


Das  Historische  in  Kants  Religion  sphilosopMe. 


75 


durch  die  Notwendigkeit  des  Sittengesetzes  als  möglich  und  iu  ud- 
begrenzter  Eotwickekiiig  verbürgter  V^organg,  der  durch  religiöse 
Selbstbesinnung  und  Vertiefung  d.  h.  durch  Wirkung  der  geheim- 
nisvollen Majestät  des  Sitteogesetzes  und  der  in  ihm  enthaltenen 
metuphysischeu  Hintergründe  auf  das  Gemüt  zu  Stande  kommt. 
Sie  giebt  dem  Keim  des  Guten  das  Übergewicht  und  begründet 
eine  qualitativ  neue  und  einheitliche  Gesinnungstotalität  des  Guten, 
bei  der  quantitative  Mängel  immer  übrig  bleiben  und  erst  in  lang- 
samer Annäherung  au  das  Ziel  überwunden  werden  mögen.  Der 
Vorgang  ist  für  die  menschliche  Auffassung  eine  innerlich-psycho- 
logische Entwickeluug,  unter  dem  zeitlosen  Gesichtspunkt  Gottes 
eine  Revolution,  eine  uubegri'eifliche  Umkehrung  der  Maximen  durch 
die  Freiheit.  Die  Schmerzen  der  Busse,  die  diesen  Vorgang  be- 
gleiten, büssen  im  erneuerten  Menschen  die  Sünden  des  alten, 
lassen  ihn  stell ve^tret^^nd  die  Folge  der  Sünde  tragen.  Damit  ist 
das  Wahrheitsmoment  der  christlichen  Bekehrungs-,  Rechtfeilignngs-, 
Wiedergeburts-  und  Busslehre,  daneben  auch  das  der  Sti*af-  und 
Genugthuungslebre  anerkannt;  denn  um  der  Totalität  der  Gesinnung 
willen  kann  der  neue  Mensch  trotz  quantitativer  UnvoUkommenbeit 
der  Werke  Gott  als  genehm  gelten.  Die  blosse  Vergegenwärtigung 
der  Majestät  des  Sittengesetzes  ist  nun  aber  zwar  ausreichend  zu 
dem  unbegreiflichen  Vorgang  der  Sinnesänderung  und  zu  der  Ge- 
meinschaft ans  der  Idee  des  Guten,  aber  nicht  ausreichend  zur  em- 
pirischen Behauptung  des  neuen  Lebens,  das  aus  der  menschlichen 
Gesellschaft  und  ihrem  Egoismus  immer  neue  Anfechtungen  erfährt; 
es  bedaii  zur  Sicherstellung  der  Behauptung  und  des  Fortschrittes 
einer  Vereinigung  der  erneuerten  Menschen,  die  in  dieser  Ver- 
einigung sich  gegenseitig  starken  und  in  dieser  Verstärkung  die 
Einflüsse  von  aussen  abwehren.  Damit  ist  aus  den  rein  immanenten 
Vorgängen  der  Übergang  zum  Historischen  und  zur  empirischen  Ge- 
meinschaft gemacht,  die  in  der  Geschichte  von  dem  ersten  starken, 
orgauisationskräftigen  Durchbmch  der  reinen  sittlichen  Idee  aus 
erw^ächst  und  die  Menschen  zunehmend  zu  einer  reinen  Religions- 
gemeinschaft der  blossen  Tugendgesinnnng  und  Tugendpflege 
sammelt  Es  ist  zugleich  der  Übergang  zur  positiven  Religion. 
Damit  ist  die  Wahrheit  der  christlichen  Lehre  von  dem  Reiche 
Gottes  und  der  es  verkörpernden  Kirche  anerkannt  und  auch  die 
relative  Wahrheit  der  christlichen  Idee  von  der  Heilsgeschichte, 
d.  h.  von  einem  in  der  Geschichte  erfolgenden  und  am  geeigneten 
Zeitpunkt   von   der    Vorsehung    aus    Licht    geführten  Durchbruch 


76 


E,  Troeltsch, 


der  reinen  Sittlichkeitsgemeiuschaft.  Kant  giebt  einen  Ahriss"* 
dieser  Heilsj^eschichte,  wie  Piaton  einen  Mythos  erzählt  oder  wie 
Goethe  in  ^Wahrheit  und  Dichtung"  die  Bibel  schildert»  em^| 
Mischling:  rationell  auf^efasster  Geschichte  mit  poetischer  universal-^ 
geschichtlicher  Legende,  deren  Ansetzung  an  diese  Geschichte  so 
begreiflich  als  reizvoll  und  erbaulich  ist.  Eine  vsolche  Mensch- 
heitsgemeinschaft oder  ein  solches  Reich  der  religiösen  Sittlichkeit 
muss  nun  aber  auch  schliesslich  seinen  Kultus  haben.  An  sich  wäre 
nur  der  Kultus  reiner  sittlicher  Gesinnung  und  darin  liegender  Ver- 
senkung in  das  Göttliche  sowie  des  guten  Handelns  erforderlichJÄ 
Allein  bei  der  auf  Gemeiuschaftsformen  angewiesenen  Schwäcbe  der 
menschlichen  Natur»  bei  der  noch  dauernden  Teilung  der  Staaten 
und  dem  Interesse  des  Staates  an  einer  Organisation  des  sitt- 
lichen Geistes  ist  eine  nach  Ländern  geschiedene  versin olichende 
Organisation  des  Gottesreiches  oder  eine  Kirche  im  engeren  Sinne 
nicht  wohl  zu  entbehren.  Sie  ist  so  unentbehrlich,  dass  überhaupt 
von  einer  Religion  aus  reiner  Vernunft,  d.  h.  von  einer  bloss  sitt- 
lichen Gesinniingsreligiün  gar  nicht  die  Rede  sein  kann,  sondern 
als  Belebungsmittel  ein  heiliges  Buch  un  erlässlich  ist,  als  welches 
man  dann  das  beste  vorhandene  —  und  das  ist  die  Bibel  —  auf 
nnabsehliehe  Zeiten  benutzen  wird.  Ja,  auch  das  Judentum,  das 
zur  Euthanasie  in  der  reinen  Moralreligion  neigt,  wii'd  deshalb  zum 
Anschluss  an  die  chiïstliche  Kultus-Organisation  genötigt  werden 
müssen.  0  In  ihr  muss  dann  nur  dafür  gesorgt  werden,  dass  die 
Aufstellung  von  Geistlichen  oder  moralischen  Volkslehrem  der 
Freiheit  und  Mündigkeit  der  autonomen  Sittlichkeit  und  Frömmig- 
keit keinen  Eintrag  thue,  dass  die  Predigt  nur  Mittel  der  Belebung 
und  Entwickeluug  freier  sittUcher  Gesinnung  sei,  und  dass  die  dog- 
matischen  SymhoUsierungen  der  religiösen  Idee  sowie  die  kultischen 
Gebräuche  nie  über  die  Stellung  von  Belebungsmitteln  hinauswachsen. 
In  diesem  Sinne  ist  sogar  auch  das  Privatgebet  als  Meditation 
und  Selbstbelebung  der  guten  Gesinnung,  das  Gemeindegebet  und 
Kirchengehen  als  S}Tnbol  der  Allgemeinheit  der  Religion,  die  Taufe 
als  Symbol  der  Aufnahme  in  das  Reich  Gottes  und  die  Kommunion 
als  Symbol  brüderlicher  Gemeinsamkeit  zu  fordern.  Damit  is^ 
dann  die  christliche  Lelii*e  vom  Kultus  und  den  Guadenmitteln  in" 
ihrem  Wahrheitsgehalt  anerkannt,  der  Üliergang  zur  Landesreligion 
oder  der  privilegierten  Staatskirche  vollzogen  und  der  Abriss  diese 


Î)  Das  erste  Reicke  111,  4  1  ;  das  zweit-e  Reicke  III,  39. 


Das  Historische  in  Kants  ReUgionsphilosophie, 


77 


Theologie  beschlosseD.  Freilich  sind  daneben  im  Vorbeiweg:  noch 
einzelne  andere  Dogmen  gesti-eift;  es  ist  die  Trinitäts-,  Beruf iings- 
und  Er  wähl  nngst  ehre  sowie  die  Christologie  und  Logoslelirc  im 
moralischen  Sinne  als  Exponent  des  Freiheitsgeiieioinisses  und  î3eines> 
religiösen  Gehaltes  umgedeutet  worden.  Allein  das  ist  deutlich  als 
Nebensache  behandelt.  Die  Hauptsache  ist  das  Geheimnis  der 
Freiheit,  die  göttliche  Majestät  des  Sittengesetzes  und  die  mit 
immer  neuer  Anbetiiug  erfüllende  Tiefe  der  hierin  geoffeuharten, 
aber  yöllig  unbegi^eif heben,  intelligibleu  Welt,  Aus  ihm  und  aus 
der  Erkenntuis  des  radikalen  Busen  ergeben  sich  alle  die  über  die 
blosse  Moral  Mnausgeheuden  religiösen  Gedanken^  ebendamit  aber 
auch  ihre  Coincidenz  mit  dem  ewigen  Wahrheitsgehalt  des  Christen- 
tums, der  als  solcher  sich  gerade  durch  diese  Coincidenz  erweist. 
Jesus  und  die  Bibel  christUchen  Anteils  sind  die  klassische  Illu- 
stration und  Verkörperung  des  Guten  trotz  alles  Morahsch-lu- 
diöerenteu,  was  der  Bibel  und  dem  Messianismus  Jesu  anhaften 
mag.  Das  Detail  der  Glaubeusvorstellungen  mag  dann  bei  dem 
unveräusserlichen  Hang  der  menschlichen  Natur  zur  Versiunlichung 
und  Symbolisierung  sich  selbst  und  einer  es  immer  reiner  ratio- 
nalisierenden moralischen  Interpretation  überlassen  bleiben.  Es 
lassen  sich  dabei  allerhand  tiefe,  freiUch  stark  in  Metaphysik  und 
Theosophie  hinüberschweifende,  Gedanken  anknüpfen,  die  aber,  je 
weiter  sie  sich  vom  Uumittelbar-Morahscbeu  entfernen,  um  so 
schwerer  für  die  Wissenschaft  fassbar  sind.') 

1)  Es  zeigt  sich  hierin  die  öfter  beobachtete  Doppelneigung  Kants, 
einerseits  mit  der  Phantasie  und  Hypothese  sich  viel  weiter  in  eigentJictie 
Metaphysik  einzulassen,  als  die  Kritik  an  sich  erlaubte;  Beispiele  dafiir 
gieht  A  mold  t  „Krit.  Exe/*  bei  der  Besprechung  seiner  Vorlesungen  über 
Metaphysik.  Andererseits  ist  ihm  der  letzte  sichere  Punkt  der  Erforschung 
des  Übersinnlichen  lediglicii  die  Freiheit  und  das  Sittengesetz,  und  schon 
die  elementarsten  religiösen  Zusatzgedanken  sind  ihm  fatale  Verwicke- 
lungen des  Problems.  Sehr  charakteristisch  ist  gerade  bei  den  Zetteln,  die 
die  Begrime  der  Genugthuung,  Erwählung»  Berufang  behandeln,  der 
Schliussatz  Reicke  U,  186:  „Würden  wir  von  aUer  Religion  abstraliieren, 
so  würde  die  Moral  ihren  sicheren  Gang  gehen.  Wir  würden  wissen,  was 
wir  zu  thun  haben,  ohne  uns  ums  Schicksal  zu  bekümmern.  Jetzt,  da  wir 
um  dieses  besorgt  sind  und  deshalb  einen  Gott  annehmen,  kommen  \w 
in  neue  Schwierigkeiten."  Ähnlich  sagt  er  von  dem  in  der  christlichen 
Lehre  ?,ht  kritischen  hinzutretenden  Pkis  Reicke  II,  168  „Allein  die  Philo- 
sophie geht  ungern  daran,  sich  bis  zu  Erklämngsgründen  zu  versteigen, 
deren  Begriff  in  einem  ewigen  Dunkel  für  uns  bleiben  muss."  Zwischen 
dieser  Doppelneigung  geht  die  ganze  Religionsphilosophie  Kants  hin  und  her, 
.  Das  wird  sich  noch  später  bei  der  Metaphysik  der  Geschichte  wiederholen. 


78 


£.  Troeltseliy 


Das  Mittel  dieser  Koalition  ist  die  „moralische  Inte^p^etatiott^ 
Allein  diese  Interpretation  verhält  sich  zu  den  verschiedenen  Dog^ 
men  sehr  verschieden.  Sie  stellt  einerseits  die  Identität  der  ratio- 
nalen Ethik  und  der  Ethik  Jesu  sowie  die  weitere  Identität  der 
in  der  rationalen  Moral  enthaltenen  übersinnlichen  Be^ge  mit  den 
in  der  Lehre  Jesu  gepredigten  fest;  sie  ist  also  der  Aufweis  der 
inneren  Wesensübereinstimmung  in  den  Hauptlehren.  Dagegen  be- 
handelt sie  andererseits  die  apostolischen  und  kirchlichen  Lehren 
über  Gott  und  Christus  als  von  der  Lehre  Jesu  stark  abweichende, 
wenn  auch  der  uneutbehrlichen  Versinulichung  dienende,  Aus- 
führungen anthropomorphistischer  Art,  die  ziemlich  gewaltsam  und 
iOBserlich  umgedeutet  werden  dürfen,  da  sie  ja  von  Hause  aus  ihr 
Daseinsrerht  nur  in  dem  Masse  haben,  als  sie  die  reine  Lehre 
Jesu  ausdrücken  wollen.  Kant  verwahrt  sich  daher  gegen  den 
Vorwurf  der  allegorisch-mystischen  Interpretation,  der  schon  da- 
mals von  historisch-philologischen  Exegeten  gegen  ihn  erhoben 
wurde,  0  Er  will  keine  von  aussen  hereingetragene  und  willkür- 
liche Allegorisiening  des  Christentums  gegeben  haben,  sondern  eine 
Interpretation  aus  den  eigenen  wesentlichen  Grundideen  des 
Christentums  heraus,  das  ja  der  Durchbruch  der  remeu  Religion 
in  der  Geschichte  ist  und  nur  einer  Ausnierzung  der  auch  ihm  noch 
anhaftenden  Reste  des  anthropomorphistischen  Suprauaturaüsimis 
in  Dogma  und  Kultus  bedarf.  Die  gewaltsame  Behandlung  des 
Alten  Testamentes  darf  man  liierbei  nicht  m  Anschlag  bringen,  da 
das  alte  Testament  nach  Kants  Meinung  den  Juden  und  nicht  den 
Christen  gehört,  ja  am  besten  überhaupt  abgestossen  würde.  *)  Das 
Prinzip  ist  die  Deutung  der  religiösen  Vorstellungen  aus  einer  sie 
hervoilreibenden  Idee,  und  der  Schein  willkürlicher  Allegorisiening 

*)  Vn,  362  ff.  Dass  Kant  die  christüchen  Dogmen  einfach  im  Sinne 
«einer  Moralreîigion  allegorisiert  babe,  ist  auch  lieute  noch  eine  sehr  ge- 
läufige Auffassung-.  Er  hat  sie  nicht  mehr  allegorisiert,  als  e^  die  ganze 
moderne  Theolog^ie  Überhaupt  thut,  wenn  sie  von  wesentliclien  und  ewigen 
christlichen  Ideen  und  zeitgeschichtlichen  Hüllen  spricht.  Es  ist  dann  eben 
nur  die  Auffassung  des  Wesentlichen  und  damit  die  Deutung  der  zeitge- 
geichichtliciien  Hüileu  eine  andere.  Kant«  wirkliches  Verfahren  ist^  wie 
er  selbst  sagt,  „Reduktion  der  Glatibensartikei*^  aufs  Minimum  Reicke  B, 
868  und  allegorisch-mythiache  Erklärung  oder  auch  nur  Behandlung  des 
Bestes. 

*)  Reicke  U,  244:  „Wenn  man  es  herausscbaff ete  l  Lappen  an  einem 
neuen  Kleid!"  Kant  pflegt  das  A.  T.  und  die  jüdischen  Einflüsse  auf  das 
N.  T,  selten  zu  erwähnen  ohne  Zufügung  des  Spruches:  hae  nos  reliqu 
exercent, 


Das  Historische  in  Kants  ReligionspliilosopMe. 


79 


stammt  nur  aus  der  einseitig  raoraUstischen  Erkenntnistheorie  der 
Religion. 

Diese  Auffassung  des  Buches  scbliesst  nun  aber  selbstver- 
ständlich nicht  aus,  dass  seine  Bedeutung  nicht  in  der  Herstellung 
^eines  solchen  Kompromisses  aufgeht.  Es  ist  kein  Zweifel,  dass 
Kant  hei  der  Vertiefung  in  diese  Aufgabe  und  bei  der  damit  ihm 
aufgedritngten  eingehenden  Analyse  des  Christentums  seine 
eigene  Religionstheorie  erheblich  fortgebildet  hat.  Es  tritt  das 
an  den  beiden  Hauptpunkten  des  Buches,  in  der  Lehre  vom  radi- 
kalen Bösen  und  der  Wiedergeburt  und  in  der  von  der  rehgiüs- 
ethischen  Oerneinsehafi  deutlich  zu  Tage.  In  ihnen  liegt  nicht 
ein  durch  die  Koalitiorj  von  aussen  her  aufgenötigter  Korapromiss, 
sondern  eine  innere  Forthikking  und  Vertiefung  des  Kantisclien 
Beligionsbegriffes  selber  vor.  Das  hat  Schweitzer  durchaus  zu- 
treffend gezeigt-  Er  hat  auch  mit  Recht  darauf  aufmerksam  ge- 
macht, dass  die  Freiheitslehre  des  radikalen  Bösen  und  der 
Wiedergeburt  über  die  Prinzipien  des  ursprünglichen  Transscen- 
dentalismus  weit  hiiiausfühi-t,  indem  sie  trotz  aller  Verwahrungen 
Kants  Veränderung  and  damit  Geschichte  im  Gebiet  de^  Intelligibein 
lehrt,  dessen  Zeitlosigkeit  Kant  mit  dem  vSündenfall  und  der  Wieder- 
geburt, dessen  Einfachheit  er  mit  der  als  Entwickelung  sich  dar- 
stellenden empirischen  Bekehmng  trotz  aller  Versicherungen  nicht 
zu  vereinigen  vermag.  Ebenso  hat  Schweitzer  mit  Recht  hervor- 
gehoben, dass  in  dem  Begriff  der  ethisch-religiösen  Gemeinschaft 
als  Volk  Gottes  ein  anderer,  mindestens  weiterer  Begriff  Gottes 
als  der  ursprüngliche  der  „Kiit.  d.  prakt.  V."  sich  darbietet, 
dass  neben  der  zu  postulierenden  Einheit  von  Sinnlichkeit  und  in- 
telligibler  Welt  im  jenseitigen  höchsten  Gut  hier  der  Gedanke 
einer  in  der  Entwickelung  der  Geisteswelt  sich  offenbarenden  und 
zum  Ziel  wirkenden  Vernunft  trete.  Er  hätte  noch  hinzufügen 
dürfen,  dass  die  ganze  Heranziehung  der  Gemeinschaft  zur  Be- 
hauptung und  Befestigung  der  guten  Gesinnung  eine  Durch- 
brechung der  strengen,  alle  Deduktion  nur  auf  die  Vernunftgesetze 
gründenden  Bewussiseinsimmanenz  bedeutet  und  eine  positive  Wür- 

rg  des  Gesamtbewusstseins  anbahnt. 
Aber  diese  Dinge  sollen  hier  nicht  weiter  verfolgt  werden. 
Ks  handelt  sich  hier  nur  um  die  Auseinandersetzung  der  Kan- 
tischen Religionsphilosophie  mit  der  Historie,  und  es  ist  daher  hier 
vielmehr  die  Frage,  ob  nicht  —  ganz  abgesehen  von  den  durch 
die  Zensiu*   und   die  Rücksicht  auf  das  Dui'chschmttspubhkum  ab- 


80 


E.  Troeltscli, 


gezwungenen  Akkonitnodationen  —  die  Hanpt-  und  Grundideen  selbst 
durch  den  Koalitionsgedanken  in  einer  Weise  positiv  cliristlich  gefärbt 
sind,  die  nicht  ganz  der  eigentlichen  Auffassung  Kants  von  der  Historie 
entspricht.  Die  Frage  macht  sich  an  drei  Punkteo  ganz  von 
selbst  geltend  :  wie  verhält  sich  das  radikale  Böse  und  die  WJede^ 
geburt  zu  dem  von  Kant  überall  festgehalteneu  und  seine  ganze 
Weltauffassuug  behen^chendeti  Gedauken  der  Ent\^ickelung  ?  wie 
verhält  sich  die  m  den  verschiedensteu  Wendungen  gelehrte  gött- 
liche Thätigkeit  und  Wirkung  zu  dem  rein  subjektiv-imuianenteu 
Ablauf  des  Bewusstseins  ?  Was  ist  Kants  wirkliche  Meinung  über 
die  Bedeutung  Jesu  für  die  Religion?') 

Kuno  Fischer  charakterisiert  Kants  Religionsphilosophie  als 
ErU>sungslehre^  was  ohne  nähere  Bestimmungen  jedenfalls  die  An- 
nahoie  einer  Fehlentwickelung  und  eines  historischeu  Ausgangs- 
punktes der  Erlösung  voraussetzt;  damit  stimmt  auch  die  Be- 
tonung, die  Fischer  der  Geuugtheung  und  dem  Werk  Christi  zu 
Teil  werden  lässt.  In  der  That  kann  der  von  Kant  entwickelte 
Begriff  des  radikalen  Bösen  mit  seiner  Behauptung  einer  grund- 
sätzlichen verdorbenen  Gesinnuugstotulität,  seiner  Anschauung  von 
der  Allgemeinheit  und  Erregbarkeit  des  Bösen  ausserhalb  des  sitt- 
lichen Tugendreiches   und   seinem  ausdrücklichen  Ausschluss  eines 


*)  Die  Schrift  von  C,  v.  Kugelten  „Kantus  Auffassimg  von  der 
Bibel  und  seine  Auslegung  derselben.  Ein  Kompeudium  Kantischer 
Theglogie"  1896  ist  eine  ganz  steuerlose  Zusamnienst^Uung  von  Stellen 
ans  Kants  Werken  und,  abgesehen  von  dem  Nachweis  der  reichlichen 
Benntzung  der  Bibel  durch  Kant,  vöUig  wertlos.  In  dieser  Bibel- 
benutznng  spiegelt  sich  übrigens  zum  grossen  Teil  wie  in  den  Citato 
lateinischer  Dicîiter  nui  die  christ  lieb -humanistische  Erziehung  jener  Tage. 
—  Ich  mache  im  Folgenden  den  Versuch,  Kants  Religion  sieh  re  so  darzu- 
Btellen,  wie  sie  nach  Abzug  sowohl  der  aus  dem  Koalitions-  und  Koopera- 
tionsgedanlcen  stammenden  christlich-dogmatischen  Färbungen  als  auch  der  be- 
Bondereïij  von  der  Zensur  abgenötigten  Konzessionen  im  Rahmen  seiner  allge- 
meinen Denkweise  sich  darstellen  würde.  Auch  Laas  hat  das  in  seiner  sehr 
interessanten  Darstellung  unterlassen.  Er  lässt  daher  Kant  mit  seiner 
Christianisierung  des  Deismus  selir  stark  aus  der  Rolle  faUen  mid  veraïutet 
hiervon  seine  stark  theologisch-metaphysischen  Neigungen  als  Ursache, 
Das  ganze  Kooperations-  und  Kompromissprinzip  llsst  Laas  erst  nachtrSg- 
lieh  im  „Streif*  eingeführt  werden  und  damit  die  Christianisierung,  die 
Kant  als  freie  Utterarische  That  raisslungen  ist,  als  Kooperation  der  Fakxd- 
täten  und  Vorlage  des  Kompromisses  an  die  Regierung  von  neuem 
versucht  werden.  Dabei  ist  aber  verkannt,  dass  die  „Rel.  i,  d.  Gr.  d.  bL 
V.**  bereit«  ebenso  gemeint  war  und  in  Kant«  wirklichem  Sinne  erst  dtireh 
starke  Abzüge  verstanden  werden  kann. 


Das  Historisclie  in  Kant«  Religionsphilosophie. 


81 


Nebeneiüander  von  Gutem  und  Bösem  dazu  veranlasseu.  Alleia 
dagejgfea  macht  schon  der  Umstand  bedenklich,  dass  der  Ausdruck 
^Erlösnog^  gar  nicht  vorkommt,  ^)  dass  iiur  einige  male  vom  Heil  die 
Kede  ist  (VI,  179),  vor  allem,  dass  das  radikale  Böse  in  diesem 
Simie  in  keiner  anderen  Schrift  vorkommt.  Von  dcHi  Bösen  ist 
wohl  in  den  gesehichtsphUosophischen  Schriften  die  Rede.  Die 
Abhandlung  ^Vom  mutmasslichen  Anfang  der  Menschengeschichte** 
schildert  den  mutmasslichen  typischen  Anfang  des  Bösen.  „Die 
Geschichte  der  Natm-  fängt  also  vom  Guten  an,  denn  sie  ist  das 
Werk  Gottes  ;  die  Geschichte  der  Freiheit  vom  Bösen,  denn  sie  ist 
Meusehenwerk"  IV,  322,  Dieses  Böse  trägt  durch  seine  Folgen 
die  Selbstkorrektur  in  sich,  indem  es  zur  Stiftung  der  Kultur  und 
des  Staates  nötigt;  und  trotz  der  liierbei  sich  ergebenden,  die 
Menschheit  fast  hoffnungslos  um^ürdig  machenden  Kulturlaster  treibt 
doch  die  Kultui*  über  sich  selbst  hinaus  zm^  Enichtnog  und  Kräf- 
tigung der  sittlichen  Gesinnung  und  damit  zum  Fortschritt  des 
Ganzen.  Das  ist  ein  in  den  ersten  und  letzten  Schriften  Kants 
immer  wiederholter  Gedanke.  So  gilt  von  dem  anfänglichen  Bösen  : 
„Für  das  Individuum,  welches  im  Gebrauch  seiner  Freiheit  bloss 
auf  sich  selbst  sieht,  war  bei  einer  solchen  Veränderung  Verhist; 
für  die  Natui\  die  ihren  Zweck  mit  dem  Menschen  auf  die  Gattung 
richtet,  war  sie  Gewinn**  I\\  322.  Von  dem  Ganzen  der  Ge- 
schichte  aber  gilt:  ^Zufriedenheit  mit  der  Vorsehung  und  dem 
Gang  menschlicher  Dinge  im  Ganzen,  der  nicht  vom  Guten  an- 
hebend zum  Bösen  fortgeht»  sondern  sich  vom  Schlechten  zum 
Bessern  allmählich  entwickelt;  zu  welchem  Fortschritt  dann  jeder 
an  seinem  Teile>  soviel  in  seinen  Kräften  steht,  beizutragen,  durch 
die  Natur  selbst  berufen  ist**  IV,  329.  In  der  Schrift  „Zum  ewigen 
Frieden"  1795  ist  von  „einer  gewissen  in  der  menschlichen  Natur 
gewurzelten  Bösartigkeit"  die  Rede,  die  sich  in  der  legalen  Ord- 
nung des  Staates  zwar  verbürgt,  die  aber  unverhüllt  noch  heute 
in  dem  Verhältnis  der  Staaten  zu  einander  sich  kund  giebt  VI,  442. 
Schon  der  Ausdruck  verrät,  dass  hier  das  Böse  der  „Rel.  i.  d.  Gr, 
d.  bl  V.**  gemeint  ist.  Aber  von  diesen  Bösen  heisst  es  dann 
sofort:  „Das  moralisch  Böse  hat  die  von  seiner  Natur  unab trenn- 
liehe  Eigenschaft,  dass  es  in  seinen  Absichten  (vornehmlich  gegeu 
andere  Gleichgesinnte)  sich  selbst  zuwider  und  zerstörend  ist  und 

*)  An  der  oben  erwûtinten  Stelle  ist  nur  \*om  Erlöser  die  Rode  zu- 
sammen mit  anderen  stehenden  Termini  der  Dogmatik  wie  SteUvertreter 
und  Paraklet,  und  der  Krlöiber  ist  die  reine  sittliche  Gesinnmig  selbst. 


E.  Troeltsch, 


[iti-     I 


so  dem  (moralischen)  Prinzip  des  Öuten,  wennj^leich  durch  lang- 
same Fortschritte,  Platz  macht"  VI,  446,  Ähnlich  stallt  die 
Abhandlung  über  das  „Ende  aller  Dinge"  1794  das  Problem.  Sie 
wiirdigt  das  irrationale  Böse  als  eine  mügliche  Hemmung  des  Zieles 
der  Menschheit,  lehnt  aber  sowohl  die  buddliistisch-platonische 
Lehre  von  einer  Strafverbannung  des  Menschen  in  die  Sinnlichkeit 
wegen  intelUgibler  Sünden  ab,  als  die  christliche  Eschatologie  mit 
ihrem  allgemeinen  Abfall  des  Menschen  zum  Bösen  und  zum  Anti- 
christ. Die  ethisch-teleologische  Gesanitanscliauung  von  der  Gi 
schichte  fordert  eine  zunehmende  Entwickelung  zum  Guten, 
durch  das  Böse  und  den  Ausgang  aus  der  blossen  tierischen  In- 
differenz mitbefördert  wird.  „Natürlicher  Weise  eilt  in  den  Fort- 
schritten des  menschlichen  Geschlechtes  die  Kultur  der  Talente, 
die  Geschicklichkeit  des  Geschmacks  (mit  ihrer  Folge,  der  Üppig- 
keit) der  Entwickelung  der  Morahtät  vor;  und  dieser  Zustand  ist 
gerade  der  lästigste  und  gefähi'lichste  für  die  Sittlichkeit  sowohl 
als  physisches  WohL  . . .  Aber  die  sittliche  ^Anlage  der  Menschheit, 
die  (me  Horazens  poena  pede  claudo)  ihr  immer  naclihinkt,  wii^d 
sie,  die  in  ihrem  Lauf  sich  selbst  verfängt  und  oft  stolpert,  (wie 
man  unter  einem  weisen  Weltregierer  wohl  hoffen  darf)  dereinst 
überholen;  und  so  sollte  man  selbst  nach  den  Erfalirungsbeweisen 
des  Vorzugs  der  Sittlichkeit  in  unserem  Zeitalter  in  Vergleichung 
mit  allen  vorigen  wohl  die  Hoffnung  nähren  können,  dass  der 
jüngste  Tag  eher  mit  einer  Eiiasfahrt  als  mit  einer  der  Kotte 
Korah  ähnlichen  Höllenfahrt  eintreten  und  das  Ende  aller  Dinge 
herbeiführen  dürfte**  \%  364.  So  ist  also  das  radikale  Böse  unter 
allen  Umständen  ein  Moment  der  Entmckelung,  das  teils  sie  selbst 
vorwärts  treiben  hilft,  teils  in  ihr  wieder  überwunden  wird,  mit 
dem  mutmasslichen  Ende,  dass  wohl  einige  im  Bösen  sich  verhärten, 
die  Gattung  im  Ganzen  aber  das  in  der  Zeit  überhaupt  immer 
nur  approximative  Ziel  erreicht.  Das  wirkliche  Ziel  liegt  im  Zeit- 
losen und  Intelligibeln.  Dieselbe  Betrachtung  ist  es  nun  aber 
auch,  die  in  Wahrheit  in  der  ,EeL  i,  d.  Gr.  d.  hl.  V."  vorliegt. 
Die  am  Anfang  auftretende  und  für  Kants  entmckelungsgeschicht- 
liehe  Anschauung  so  befremdliche  Ausschliessung  eines  Nebenein- 
ander von  Gut  und  Böse^  wird  an  späteren  Stellen  ausdi'ücklich 
auf  die  inteUigible  Anschauung  beschränkt,  w^ährend  in  der 
fahrung   und   Erscheinung   sowohl   ein  anfänglicher  Zustand 


1)  VI,  118,  130  u.  152, 


Das  Historische  in  Kante  Eeligionsphilosüphie. 


83 


lodifferenz  als  dann  ein  kämpfendes  Nebeneinander  von  Gut  und 
Böse  zu  konstatieren  ist;*)  So  ist  auch  die  Wiedergeburt  nur  für 
die  zeitlose  Beurteilung  Gottes  eine  totale  Urakehruiig  und  Revo- 
lution, in  der  an  Stelle  des  Totalböseu  das  Totalgute  tritt,  wäh- 
rend sie  „für  die  Beiu-teilung  der  Mensclien,  die  sich  und  die  Stärke 
üirer  Maximen  nur  nach  der  Oberhand,  die  sie  über  die  Sinnlichkeit 
in  der  Zeit  gewinnen,  schätzen  können,  sie  nui^  als  ein  immer 
fortdauerndes  Streben  zum  Besseren^  mithin  als  allmähliche  Reform 
des  Hanges  zum  Bösen  als  verkehrter  Deukungsart,  anzusehen 
ist,***)  Was  es  hier  auch  immer  mit  dem  sehr  dunklen  Verhältnis 
zwischen  empirischer  und  intellektueller  Bemteilnng  auf  sich  habe, 
Motiv  und  Sinn  des  Gedankens  sind  klar.  Das  Böse  ist  neben 
dem  Guten  ein  Bestandteil  der  Ent\^icklung,  der  in  allmählicher 
Llberwindung  zurückgedrängte  ^'d;  aber  der  Gegensatz  des  in 
dieser  Entwickeking  hervortretenden  Böseu  und  Guten  soll  nicht 
als  ein  Gegensatz  des  Mehr  oder  iDoder,  sondern  jedesmal  als  ein 
ausschliessender  Gegensatz  der  Gesinuungstotalitäteu  betrachtet 
werden.  Wo  das  Böse  überhaupt  eintritt,  wird  es  durch  die 
Durchbrechung  des  einheitlichen  Prinzips  des  Sittengesetzes  eben- 
damit  zur  Totalität  des  entgegengesetzten  Prinzips,  und  seine 
Überwindung  ist  daher  nicht  quantitativ  im  Einzelnen,  sondern 
qualitativ  im  Totalen  der  Gesinnung  gefordert.  Alles  das  aber 
vollzieht  sich  innerhalb  der  aufwärtssteigenden  Entwickelung, 
und  in  diesem  Sinne  lauten  auch  die  tlberschriften  der  beiden  das 
Thema  behandelnden  Aufsätze  „von  der  Einwohuung  des  bösen 
Prinzips  neben  dem  Guten"  und  von  dem  „Kampf  des  guten 
Prinzips  mit  dem  bösen"  ;  in  dem  Kampfe  findet  die  vom  ethischen 
Glauben  geforderte  siegi'eiche  und  wachsende  Entwickeluug  der 
Menschheit   statt.     In   der   Einzelausführung   aber   ist   diese  Be- 


r     rui 


*)  .Hieraus,  d,  b.  au»  der  Einheit  der  obersten  Maxime  bei  der  Ein- 
it  des  Gesetzes,  worauf  sie  sich  bezieht»  lässt  sich  auch  einsehen  :  wa- 
rum der  reinen  intellektuellen  Beurteilung  des  Menschen  der  Grundsatz 
des  AussckÜessens  des  Mittleren  zwischen  Gut  und  B^se  zum  Grunde 
Liegen  müsse;  iDdessen,  dass  der  empirischen  BeurteOung  aus  sensibler 
That  (dem  wirklichen  Thun  und  Lassen)  der  GnindaatK  untergelegt  werden 
kann:  daas  es  ein  Mittleres  zwischen  diesen  Extremen  gebe,  einerseit« 
ein  Negatives  der  Indifferenz  vor  eller  Ausbildung,  andererseits  ein  Po- 
sitives  der  Mischung,  teÛB  gut  t-eils  büse  zu  sein.  Aber  die  letztere  ist 
OUT  Beurteilung  des  Menschen  in  der  Erscheinung  und  ist  der  ersteren  im 
Endurteü  unterworfen."    VI»  183. 

«)  VI,  142,    Der  gleiche  Grundsatz   im  »Ende  aller  Dinge**  VI,  366. 


84  E.  Troeltsch, 

tonung  des  Totalitätscharakters  des  Bösen  allzusehr  der  christ- 
lichen Terminologie  der  Erbsündenlehre  angenähert  worden,  und  es 
entsteht  der  Anschein  einer  nicht  bloss  partiellen,  sondern  totalen 
FeUentwickelung.  In  Wahrheit  ist  vom  Christentum  nur  der  Ge-^ 
danke  des  Gesinnungs-  und  Prinzipeharakters  des  Guten  wie  de0^ 
Bösen  ü'jernoinmeo  und  die  Ausschliesslichkeit  des  nur  durch  eine 
GesinnUDgsuoikehr  zu  überwindenden  Gegensatzes;  der  Gegensatz 
selbst  aber  ist  einer  aufsteigenden  und  einei-  das  Böse  durch  seine 
Wirkungen  zur  SelbstkoiTektur  antreibenden  Entwickelung  einver- 
leibt/«) Das  schon  von  den  antiken  Moralisten  erkannte  Wesen 
des  Bösen  ist  nur  in  Übereinstimmung  mit  dem  Christentum  dahin 
zu  vertiefen,  dass  es  nicht  ein  Minder-gut-sein  oder  eine  Unwissen- 
heit, sondern  überall  da,  wo  es  eintritt»  jedesmal  auch  ein  Total- 
prinzip  der  falschen  Gesinnung  ist  Damit  steht  Kant  unter  den 
modernen  Religionsphilosophen  Pascal  am  nächsten^  aber  er  ver* 
wirft  seinen  dualistischen  Supranatui'alismus.  •)    Hierdurch  ist  auch 


1)  Vgl.  VI,  164  u,  15L  Das  Motiv  Kants  ist  an  der  ersten  SteUe 
deutlich  ausgesprochen:  „Es  ist  eine  Eigentümlichkeit  der  chmtlichen 
Moral:  das  Sittlich-Gute  vom  Sittlich-Bösen  nicht  wie  den  Himmel  von 
der  Erde,  sondern  vne  den  Himmel  von  der  Hölle  unterschieden  darzu- 
fltellen,  eine  Vorstellung,  die  zwar  hiJdlich  und  als  solche  empörend,  nichts- 
destoweniger aber  ihrem  Sinne  nach  pliilosophisch  richtig  ist.  Sie  dient 
nämlich  dazu,  zu  verhüten:  dass  das  Gute  und  Böse^  das  Reich  des  Lichtes 
und  der  Finsternis,  nicht  als  aneinander  grenzend  und  durch  allmähliche 
Stufen  sich  in  einander  veriierend  gedacht,  sondern  durch  eine  unermess- 
liche  Kluft  von  einander  getrennt  vorgestellt  werde.  Die  gän2iiche  Vn- 
gleichartigkeit  der  Grundsätze  und  zugleich  die  Gefahr,  die  mit  der  Ein- 
bildung von  einer  nahen  Verwandtschaft  der  Eigenschaften,  die  zu  einem 
oder  dem  andern  qualifizieren,  verbunden  ist,  berechtigen  zu  dieser  Vor- 
stellungsart,  die  bei  dem  Schauderhaften,  das  sie  in  sich  enthält,  zugleich 
sehr  erhaben  ist'*  Aber  es  ist  das  nur  das  Motiv  für  die  jetzt  erfolgende 
nfthere  Ausgestaltung  seines  immer  festgehaltenen  Begriffes  des  Bösen,  da« 
wie  Mephisto  ein  Moment  der  Entwickelung  ist  und  bei  aller  gmndsätz-^ 
liehen  Entgegensetzung  doch»  indem  es  das  Böse  wiU,  das  Gute  schaffen^ 
hilft»  „Das  Böse  ist  die  Triebfeder  zum  Guten",  Reicke  II,  315.  Kant 
nennt  das  die  ^^Parodoxie"  der  historischen  Dinge  IV,  167,  VgL  auch  Vn, 
648,  652  ff.,  80wie  über  die  Wiedergeburt  als  Befestigung  der  sittlichen 
Gesinnung  gegen  die  schwankenden  Instinkte  zwischen  dem  30.  und  40. 
Lebeuiyahr  VII,  617. 

*)  In  den  Stellen,  wo  ich  Pascal  erwähnt  gefunden  habe  (Anthrop. 
vn,  444  u.  474)j  wirft  Kant  Pascal  überklinstliche  Selbstbeobachtung  vor, 
die  ihn  zu  „scln-eckenden  und  ängstlichen  Vorstellungen"  geführt  habe. 
Auch  Pascal  folge  dem  blossen  Psychologismus,  der  zu  Illuminatismus  odeJ 
Terrorismus  führt.    Die  psychologische  Aiiulyse  aber  ist  es,  worauf  Pascid 


1 L 


Das  Historische  in  Kanls  Religionspliilosophie,  8o 

ohne  Weiteres  klar,  was  Kant  unter  der  Erlösung:  versteht.  Sie 
Bt  für  ihn  nicht  Erlösung  dui-ch  eine  göttliche  Wiï'kuog,  am  aller- 
weniiEfsten  in  dem  Sinne  einer  supra  naturalen,  an  einem  Pnnkt  in 
die  Entwickehiug  eingreifeuden,  Gottesthat  Alle  Rede  von  der 
fremden  Geuugthuung  ist  nur  kunstvoll  verklausulieile  theologische 
Diplomatie.  Der  ganze  Gegensatz  einer  verlorenen  und  wiederge- 
wonnenen Welt  fehlt  Kant  bei  der  Anlage  seines  Weltgedankens 
überhaupt.  Von  Erlösung  kann  also  nur  insofern  die  Rede  sein, 
als  die  Erlösung  identisch  ist  mit  der  Wiedergeburt,  dem  Sieg  des 
guten  Prinzips,  der  Durchsetzung  des  Sittengesetzes,  der  Geltend- 
machung des  Grundgesetzes  der  praktischen  Veniunft.  Bewirkt 
ist  sie  durch  eine  bei  der  Unbegreiflichkeit  der  Freiheit  völlig 
mysteriöse  Freihdtsthat,  die  die  Umkehrung  der  Gesiunungsrich- 
riang  im  Zenti^ura  des  Willens  bedeutet.  Aber  darin  allein  besteht 
Erlösung.  Sie  findet  überall  statt,  wo  überhaupt  das  Sitten- 
setz  seine  Majestät  gegen  das  radikale  Böse  durchsetzt,  und 
wenn  sie  im  Christentum  besonders  zu  Hause  ist,  so  kommt  das 
cur  davon  her^  dass  eben  das  Christentum  das  reine  Sittengesetz 
mit  besonderem  Ernst  und  Nachdruck  geltend  gemacht  hat  und  in 
seiner  Gemeinschaft  diesen  Nachdruck  durch  das  Gemeinbewusstr- 
sein  um  das  Gute  vei-starkt.  Alles  wm  darüber  hinausgeht,  steht 
unter  dem  Eiufluss  des  chiistlichen  Sprachgebrauches  und  färbt 
dadurch  den  Kantischen  Gedanken  in  eiuem  ihm  nicht  von  Hause 
aus  eignenden  Sinne,  Vielmehr  ist  Erlösung  und  Religion  über- 
haupt identisch  und  beide  sind  überall,  wo  das  Gesetz  der  prak- 
tischen Vernunft  den  Willen  beherrscht.  *)    Die  Erlösung  ist  die  in 


seinen  Supranatiurahsmns  aufbaut,  während  ein  solcher  auf  die  rein  er- 
kenn tn  is  the  ore  tische  Bekaiidlun|r  des  Sittengesetzes  und  des  Bösen  nicht 
aufgebaut  werden  kann.  Es  seien  Täuschungen  des  inneren  Sinnes,  der 
ja  doch  das  Seelenleben  nur  als  Erfuhrting  und  Erscheinung  zeigt. 

')  Vgl.  VI ,  '62.  ,So  wird ,  wenn  gar  ein  solches  {sc.  Erläsunge- 
gfheimnië)  ist,  Jeder  es  nur  in  seiner  eigenen  Vernunft  zu  suchen 
haben,**  Oder  bezüglich  der  Gnade  vgl.VlI,  360,  „Wird  aber  unter  Natur 
(in  praktischer  Bedeutung)  das  Vermögen  aus  eigenen  Kräften  überhaupt 
gewisse  Zwecke  auszurichten  verstanden,  so  ist  Gnade  nichts  anderes  als 
die  Natur  des  Menschen,  sofern  er  durch  sein  eigenes  inneres,  aber  über- 
siuniiches  Prinzip  (die  Vorstellung  seiner  Pflicht)  zu  Handlungen  be- 
stimmt wird,  welches^  weil  wir  es  uns  erklären  woUen,  gleichwohl  aber 
vreiter  keinen  Gnind  davon  wissen,  von  uns  als  von  der  Gottheit  ge- 
wirkter Antrieb  znm  Guten,  dazu  wir  die  Anlage  in  uns  selbst  nicht  ge- 
gründet haben,  mithin  als  Gnade  vorgestellt  wird".  Oder  VU,  365  über 
die   moralische  Schriftanslegung,  die    allein  authentische  Selbstauslegung 


E,  Troeltech, 


der  Menschheitsentmckeluug  sich  vollzieheDde  Überwindung  des 
Bösen,  das  doch  selbst  als  Hebel  in  diese  Entwickelong  hinein- 
gehört. 

Damit  ist  in  der  Hauiitsachc  auch  schon  die  zweite  Frage 
beantwortet.  Es  kann  nicht  deutlich  genug  betont  werden:  Kantfl 
ist  Gegner  jedes  Supranaturalisnius,  der  Kundgebungen  und  Wir- 
kungen Gottes  irgendwo  anders  erkenut  und  statuiert  als  in  dem 
übersinnlichen  Vermögen  der  Freiheit  und  im  Sittengesetz  selbst. 
Die  „Reh  i.  d.  Gr.  d»  bl.  V,"  täuscht  hierüber  sehr  stark  durch 
die  immer  wieder  vorbehaltene  Möglichkeit,  dass  eine  dem  Philo- 
sophen bei  seiner  Methode  völlig  unzugängliche  und  daher 
von  ihm  auch  nicht  widerlegbare  Offenbarung  von  der  Theo- 
logie erwiesen  und  weiteren  Sätzen  zu  Grunde  gelegt  werden 
könne.  Allein  dieser  ^geistliche  Vorbehalt**  ist  nur  ein  Werk  der 
Diplomatie,  und  dieses  asylum  ignorantiae  für  die  Theologie  ist  in 
Wahrheit  nur  ein  Schutzort  für  den  von  der  Zensur  bedrängten 
Schriftsteller.  Kant  hat  ausdrücklich  den  Suprauaturalismus  in 
jeder  Gestalt  verw^orfen  und  ist  darin  nur  der  Vollstrecker  der 
Konsequenzen  der  modernen  Religionsphilosophie.  Die  Unklarheiten 
von  Locke  und  Leibniz,  die  archaistische  Position  von  Pascal  sind 
überwunden,  er  geht  hierin  mit  Hume,  Gibbon,  Voltaire  und  Rous- 
seau. Und  zwar  hat  er  das  Problem  allseitig  erwogen,  den  mehr 
kirchlich-orthodoxen  und  den  pietistisch-scbwarraerischen  Suprar 
naturalismus  unterschieden.  Den  ersteren  verwirft  er  ohne  Wei- 
teres als  zum  historischen  Religionswahn  gehörig.  Das  äussere 
historische  Wunder  ist  völlig  unannehmbar,  wobei  er  sich  dieH 
Huniesche  Lehre  von  der  Unmöglichkeit  der  Feststellung  eines 
solchen  rundweg  aneignet.  Der  zweite  kann  bei  seiner  Unab- 
hängigkeit von  der  Historie  als  Spielart  oder  Sekte  in  die  Ver- 
nunftreligion aufgenommen  werden,  aber  ist  trotzdem  ebenfalls 
zu  verwerfen,  da  er  sich  an  das  bloss  Psychologische,  Zufällige 
und  Empirische  hält  statt  an  das  Notwendige  und  Giltige  und 
somit  zur  Schwärmerei,  zur  Unmöglichkeit  der  Unterscheidung  von 


des  göttlichen  Geißte^  im  menscbhchen  ist;  „der  Gott  in  uns  selbst  ist  der^ 
Ausleger,  weil  wh*  niemand  verstehen  als  den,  der  durch  unsem  eigenen 
Verstand  und  unsere  eigene  Vernunft  mit  uns  redet,  die  Göttlichkeit  einer 
an  uns  ergangenen  Lehre  also  durch  nichts  als  durch  Begriffe  unserer 
Vernunft,  sofern  sie  rein  moralisch  und  hiermit  untrÜgUch  sind,  erkannt 
werden  kann**.  Gott  wirkt  und  spricht  also  nur  in  der  praktischen  Ver-^ 
nunft  als  einem  apriorischen  Bewusstseinsgeset«  selbst. 


Das  Historische  în  Kants  BeligioBsphilosophîe,  87 

Wahrem  uod  Falschem,  führt.  Damit  sitid  die  dem  modernen 
Denken  in  der  That  uähersteheDden  Lehren  der  Pietisten  und 
Jacobis  abi^elehnt.  i)  Aber  damit  ist  das  Problem  doch  noch  nicht 
erledigt.  Kant  hat  vielmehr  das  diingende  Bedürfnis,  das  rehitive 
Recht  des  Offenbarungfsgedaukens,  den  Geheimnischarakter  der 
lîeligion  und  die  objektive,  vom  Mensehen  unabhängige  Gegeben- 
heit, zu  betonen.  Das  erste  geschieht,  indem  er  unemiüdüch  den 
Geheimnischarakter  und  die  Unbegi-eifüchkeit  der  Freiheit  hervor- 
hebt. Die  Wolke  des  Geheinmisses  liegt  wahrlieh  feierÜch  genug 
auf  Kants  Religionsphilosophie.  und  darin  giebt  er  Jacobi  nichts 
nach.  Das  zweite  geschieht,  indem  er  in  der  Freiheit  die  Gegen- 
wart des  Ubersinnliclieo,  das  absolute  Wunder,  betont.  An  Stelle 
der  historischeu  Wunder  der  Heilsgeschichte  uud  an  Stelle  der 
psychologischen  Wunder  der  iibersinnlichen  Ei-fahrung  tritt  das 
erkenntnistheoretische  Wunder  der  Verknüpfuug  der  kausalen  Er- 
scheinungswelt mit  der  Freiheit.  «)  So  setzt  er  sich  völlig  bewusst  mit 
Jacobis  Vorwurf  auseinander,  dass  seine  Lehre  ein  „Machen" 
Gottes  durch  menschliche  Reflexion  bedeute  und  jede  direkte 
innere  Berührung  mit  Gott  aufhebe.  Dagegen  macht  Kant  geltend, 
dass  zwar  die  menschliche  Reflexion  die  Gottesbegiiffe  als  reflek- 
tierende Folgerungen  „mache'\  dass  aber  das  GöttUche  und  Ewige 
als  Prinzip  und  Gesetz  in  dem  uubegreifhchen  Vermögen  der  Frei- 
heit  selbst   präsent   sei.     Die    religiösen  Postulate  sind  nicht  aus 


ft 


1)  VI,  267  ff.  u.  Vn,  371  ff. 

^  Vgl  VII,  876:  j^Daas  wir  auch  das  Vermögen  dazu  h  ab  en ,  der 
Moral  mit  unserer  sinnlichen  Natur  so  grosse  Opfer  zu  bringen,  dass  wir 
das  auch  können»  woran  wir  ganz  leicht  und  klar  begreifen,  dass  wir  es 
sollen»  diese  Überlegenlieit  des  ti  b  e  rs  i  n  n  1  i  c  h  e  n  Men  s  che  n  in  uns  über 
den  sinnliclien^  desjenigen,  gegen  den  der  letztere  (wenn  es  zum  Wider- 
streit koinint)  nichts  ist,  ob  ûieseT  zwar  in  seinen  eigenen  Augen  alles 
ist,  diese  moralische  von  der  Menschheit  unzertrennKche  Anlage  in  uns 
ist  ein  Gegenstand  höchster  Bewunderung,  die,  je  länger  man  dieses 
wahre  (nicht  verdrehte)  Ideal  ansieht,  nur  immer  desto  höher  steigt;  so- 
das« diejenigen  wohl  zu  entschuldigen  sind,  welche,  durch  die  llnbegreif- 
Uchkeit  desselben  verleitet,  dieses  Übersinnliche  in  uns,  weil  es  doch 
praktisch  ist,  für  übernatürlich  d.  i.  für  etwas,  was  gamicht  in  unserer 
Macht  steht  und  uns  als  eigen  zugehört,  sondern  vielmehr  für  den  Einfliwa 
▼on  einem  anderen  und  höheren  Geiste  halten/'  Über  die  Freiheit  ala 
,,Faktnni"  vgl.  Hegler  S.  89—93,  über  die  Vernunft  a!s  reÜgiös  ge wertetes 
tinzip  der  Teilnahme  an  der  übersinnüchen  Welt  vgl.  Hegler  S.  106  tf 
er  die  ,^eaMtät  des  Übersimilichen'^  vgl  Hegler  S.  142. 


E.  Troeltacb, 


Not  und  Drang  geborene  Wünsche,  sondern  „Imperative",*)  die 
aus  dein  Wunder  der  Freiheit  notwendig  uud  insofern  objektiv 
hervorwachsen,«)  Es  ist  sozusagen  ein  rein  innerer,  ein  rein 
moralischer  Siipranaturalismus,  der  aller  uud  jeder  Religion  imma- 
nent ist,  wo  irgend  sie  sich  in  ihrem  reinen  Wesen  erfasst.*) 
Aber  damit  ist  das  Proldem  der  Gegen  wart  und  Wirkung  Gottes 
in  der  Eeligion  immer  noch  nicht  erschöpft.  Kant  betont  allzu 
deutlich  und  allzu  beharrlich  die  Notwendigkeit,  den  reiB  imma- 
nenten Ablauf  „irgendwie"  durch  transscendente  Beziehungen  zu 
ergänzen,  und  zwar  schwebt  ihm  dabei  gleicher  Weise  die  Sünden- 
vergebung wie  die  Kräftigung  des  sittlichen  Gesetzes  zu  i^illen- 
bestimmender  Macht  vor.     Die  Hinweise  auf  das  fremde  Verdienst 


< 


»)  VI,  495. 

^  Vgl.  VI,  421  gegenüber  Jacobi  :  ,,Die  versckleiert«  Göttin,  vorder 
wir  beiderseits  unsere  Kniee  beugen,  ist  das  moralische  Gesetz  in  uns,  in 
seiner  unverletzlichen  Majestät.  Wir  veniehmen  zwar  ihre  Stimme  und 
verstehen  auch  gar  wohl  ihr  Gebot;  sind  aber  beim  Anhören  im  Zweifel, 
ob  sie  von  dem  Menschen  aus  der  Machtvollkommenheit  seiner  eigenen 
Vernunft  selbst,  oder  ob  sie  von  einem  Anderen^  dessen  Wesen  uns  unbe- 
kannt ist  und  welches  zum  Menschen  durch  seine  eigene  Vernunft  spricht, 
herkomme.  Im  Grande  thäten  wir  vielleicht  besser,  uns  die^^er  Nach- 
forschung gar  zu  überheben,  da  sie  bloss  spekulativ  ist,  und  wa«  uns  zu 
thun  oblieg't  (objektiv),  immer  dasselbe  bleibt,  man  mag  eines  oder  das 
andere  Prinzip  zum  Grunde  legen;  nur  dass  das  didaktische  Verfahren, 
das  moralische  Gesetz  in  uns  auf  deutliche  Begriffe  nach  logischer  Lehrart 
zu  bringen,  eigentlich  allein  philosophisch,  dasjenige  aber,  jenes  Gesetz 
zu  personifizieren  und  aus  der  moralisch  gebietenden  Vernunft  eine  ver- 
schleiert« Isis  zu  machen  (ob  wir  dieser  gleich  keine  anderen  Eigenschaften 
heüegen,  als  die  nach  jener  Methode  gefunden  worden),  eine  ästhetische 
Vorstellungsart  eben  desselben  Gegenstandes  ist,  deren  man  sich  wohl 
hinten  nach,  wenn  durch  erst^re  die  Prinzipien  schon  ins  reine  gebracht 
worden,  bedienen  kann,  um  durch  sinnliche,  obzwar  nur  anaiogische,  Dar- 
stellung seine  Ideen  zu  beleben,  doch  immer  mit  einiger  Gefahr,  in 
schwärmerische  Visionen  zu  geraten,  die  der  Tod  aller  Philosophie  sind." 
Vgl  auch  VI,  268  und  Reicke  O,  168:  Das  Gewissen  als  einziges  Wunder. 

*)  Vgl.  VI,  220:  „Das  Prinzip  der  reinen  Vernunft  religion  als  einer 
an  alle  Menschen  heständig  geachehenden  göttlichen  (obzwar  nicht  empi- 
rischen) Offenbarung"  und  VI,  240  das  Chrißt^ntum  „als  die  Offenbarung 
degenigen,  was  ftir  die  Menschen  durch  ihre  eigene  Schuld  bis  dahin  Ge- 
heimnis war,*'  Doch  ist  diese  Offenbanmg  natürlich  nicht  auf  das  Christen- 
tum beschränkt:  „Dieser  sehgraachende  Glaube  .  ,  .  kann  bei  aller  Ver- 
schiedenheit de«  Kirchenglaubens  doch  in  jedem  angetroffen  werden,  in 
welchem  er  sich  auf  sein  Ziel,  den  reinen  Eeligionsglauben,  beiziehend 
praktisch  ist."    VI,  813. 


1 


I 


Das  Historiâche  in  Kant«  Beligionsphilosophie.  89 

sind  hierbei  nach  allem  bisherigen  nicht  ernst  zu  nehmen.  ^  Aber 
ein  Problem  bleibt  ihm  hierin  doch.  Im  „Streit"  korrigiert  er  diese 
dogmatischen  Zugeständnisse  dadurch,  dass  er  eine  irgendwie  die 
Schuld  der  Sünde  aufhebende  göttliche  That  als  einen  aus  dem  Ver- 
mmftglauben  selbst  zu  postulierenden  Begriff  erklärt:  „Von  einem 
heiligen  und  gütigen  Gesetzgeber  kann  man  sich  die  Dekrete  in  An- 
sehung gebrechlicher,  aber  alles,  was  sie  für  Pflicht  erkennen,  nach 
ihrem  ganzen  Vermögen  zu  befolgen  strebender  Geschöpfe  nicht  anders 
denken,  und  selbst  der  Vemunftglaube  und  das  Vertrauen  auf  eine 
solche  Ergänzung,  ohne  dass  eine  bestimmte  empirisch  erteilte  Zu- 
sage dazu  kommen  darf,  beweiset  mehr  die  echt  moralische  Ge- 
sinnung und  hiermit  die  Empfänglichkeit  für  jene  gehoffte  Gnaden- 
bezeugung, als  es  ein  empirischer  Glaube  thun  kann"  VU,  36Ô.*) 
f^  bleibt  also  auch  in  der  reinen  Vernunftreligion  ein  „Irgendwie" 
der  Sündenvergebung,  nur  ist  dieses  „Irgendwie"  ebenso  wie  die 
Erlösung  und  Offenbarung  dem  reinen  fieligionsglauben  überall 
wesentlich  immanent,  wo  er  rein  sich  erfasst,  und  hat  mit  dem 
Christentum  nur  insofern  und  in  dem  Masse  zu  thun,  als  dieses 
mit  der  reinen  Vemunftreligion  identisch  ist.  Aus  dem  Glauben 
an  einen  heiligen  und  gütigen  Gesetzgeber  folgt  überall  der  Glaube 
an  dessen  Bereitschaft  zur  Sündenvergebung  von  selbst.  Soweit 
darüber  hinaus  aber  noch  weitere  Wirkungen  Gottes,  Lenkung  der 
Geschichte  zur  Herausstellung  der  reinen  Religion  und  zu  ihrem 
schliesslichen  Sieg  in  der  Gattung  oder  Lenkung  des  individuellen 
Seelenlebens  zur  Gewinnung  des  Sieges  über  das  Böse,  in  Betracht 
kommen,  sind  wir  auf  Kants  allgemeine  geschichtsphilosophischen 
Lehren  und  damit  auf  seinen  Vorsehungsglauben  hingewiesen.  Eant 
ist  nämlich  weit  davon  entfernt,  sich  bloss  auf  den  Kanon  der 
„Urteilskraft"  zu  stimmen,»)  dass  die  kausal  verlaufende  Geschichte 

1)  Daza  kommt  noch,  dass  die  Auffassung  der  an  sich  eine  natürliche 
Folge  bildenden  Übel  als  Strafen  etwas  Subjektives,  eine  bloss  mensch- 
liche Beurteilung  durch  das  böse  Gewissen  ist  IV,  321;  VI,  170,  und  dass 
die  Lehre  von  dem  Strafleiden  Christi  nur  ein  Spezialfall  des  in  allen  Reli- 
gionen üblichen  elementaren  Expia tionsglaubens  ist  VI,  218. 

*)  Ebenso  und  noch  deutlicher  Reicke  ni,  7:  „Wir  haben  a  priori 
Ursache  zu  glauben,  dass  uns  unter  der  Bedingung  eines  guten  Lebens- 
wandels eine  solche  Genügt  huung  versprochen  sei,  ob  wir  gleich  historisch 
oder  empirisch  davon  keine  Kunde  haben;  in  diesen  Glauben,  durch  den 
wir  nichts  bestinmien,  würde  auch  das  Verdienst  Christi  gehören,  wenn  es 
von  GK)tt  versprochen  wäre." 

*)  Wie  Medicns  a.  a.  0.  gerne  möchte,  der  daher  die  nach  der  Urteils- 
kraft auftretenden  Äusserungen  als  Verwirrung  des  Alters  betrachtet! 


w 


E.  Troeltsch, 


bloss  im  Ganzen  so  beurteilt,  werde,  als  ob  sie  der  Verwirkliehimg 
des  ethischen  Gattuagszweckes  diene.     In  Wahrheit  hat  Kant  voi 
her  wie  nachher  einen  sehr  energischen  und  überaus  häiifigeo  Ge- 
brauch von  dem  Voi-sehungsgedanken  gemacht,  der  ihm  durch  das 
sittliche    Gesetz   gewährleistet   schien,    und    der   für    ihn    wie  für 
Goethe  uod  für  das  ganze  Jahrhundert  das  Zentrum  der  religiösej 
Betrachtungsweise    war.      Das    geht   von    der    Vorliebe    für    deii-l 
physikotheologischen  Beweis    bis    zu  den  geschichtsphilosophischea 
Aufsätzen    und    den  Betrachtungen  seines  Alters*    So  sehr  er  mit 
der  ganzen  Aufklämng  den  Anthropomorphismus  kritisch   verwirft, 
der  Vorsehungsglaube  ist  noch  dui^ch  keinen  Neu-Spinozismus  ent- 
nervt,  und    Kants    Denken    ist   in    seinem  Kern    durch  und  durch 
teleologisch,  viel  mehr,  als  es  nach  seinen  modernen  Darstellern  und 
Kritikern  scheint,  die  meist  nur  an  seiner  Grundlegung  der  Natur- 
wissenschaften  interessiert   sind,     „Das    was   die    Gewähr   leistet 
(sc.  für    den    etvigen  Friedefi,    ebenso    aber    auch    naturlich  für  dii 
zunehmende  Ùyerwindung  des  Bösen  und  den  Sieg  des  Guie7u   (dso 
für  die  Erlöm7igj    ist    nichts  geringeres  als  die  grosse  Künstlerin 
Natur,  aus  deren  mechanischem  Lauf  sichtbarlich  Zweckmässigkeit 
hervorleuchtet»    ,  .  ,  und    (die)    dämm,    gleich   als  Nötigimg    einer 
ihren  Wirkungsgesetzen    nach   uns   unbekannten  Ursache,    Schick-i 
sal,  bei  Erwägung  aber  ihrer  Zweckmässigkeit  im  Laufe  der  WeIH 
als   tiefliegende  Weisheit   einer  höheren,    auf  den  objektiven  End- 
zweck der  menschlichen  Gattung  gerichteten  und  diesen  Weltlauf 
prädeterminierenden  Ursache,  Vorsehung    genannt  wird;    die  wir    , 
zwar   eigentlich    nicht   an   diesen  Kunstanstalten    der   Natur   e^fl 
kennen  oder  auch  nur  daraus   auf  sie  seh  lie  s  sen,   sondern  (wî" 
in    aller  Beziehung   der  Form    der  Dinge    auf  Zwecke   überhaupt) 
nur  hinzudenken   können  und  müssen,   um  uns  von  ihrer  Möglich- 
keit   nach    der  Analogie    menschlicher  Kunsthandlungen   einen  Be- 
griff zu  machen;  deren  Verhältnis  uod  Zusammenstimmuug  zu  dem 
Zwecke,  den  uns  die  Vernunft  unmittelbar  vorschreibt  (dem  mora- 
lischen),   sich  vorzustellen  eine  Idee  ist,   die  zwar  in  theoretischer 
Absicht  überschwänglich,    in    praktischer   aber  dogmatisch  und  in 
ihrer   Realität    wohl    gegründet   isf"  VII,  427  f.     In  den  Rahmen 
dieses  Vorsehungsglauhens  liinein  sind  alle  Äusserungen   der  „BeL 
i,  d.  Gr.  d.  hl  V."     über    „irgendwie*'    erfolgende    göttliche    Er- 
gänzungen uod  Thaten  zu  denken,    und  durch  ihn  stellen  sie  sich 
in  den  Zusammenhang  eines  Entwickelungsbegriffes,    der  im  kau- 
salen Geschehen    doch  weder  die  Freiheit  noch  das  göttüche  Thun 


à 


Das  Historische  in  Kaufs  Eeligionsphîlosûphie. 


dl 


kusschliesst.     Alles  aber,    was    diesen  Gedankeu  iibersclireitet, 
Loschlnss  an  den  christüch-theülogischei!  Sprachgebrauchs ) 


ist 


*)  Ich  kann  daher  der  Charakteristik,  die  auch  Windelband  ,,Lehrhnch 
brGeach.  d.  Pkilos."^  1903  S.  456  jsrieM.  nicht  ^anz  zustimmen:  j,ln  jenem 
«rkchrt^n  Zustand  (sc.  des  radikalen  Bonen)  wirkt  die  eherne  Majestät  des 
KtteDgesetsZes  auf  den  Menschen  nur  mit  niederschmetternden  Schrecken, 
md  er  bedarf  daher  zur  Unterstützung  seiner  moralischen  Triebfedern  des 
llaabens  an  eine  göttliche  Machte  welche  ihm  das  Sittengesetz  als  ihr 
lebot  auferlegt,  aber  auch  zu  dessen  Befolgung  die  Hilfe  der  erlösenden 
Âehe  gewährt,"  „Er  setzt  damit  .  ,  ,  die  wahrhaft  religiösen  Motive,  die 
ED  Erlösiingsbedürfuis  wurzeln,  wieder  in  die  Rechte  ein,  welche  ihnen 
tnrch  den  Rationalismus  der  Aufklärung  verkümmert  worden  waren,'*  Es  ist 
las  Ähnlich  wie  bei  Kuno  Fischer  der  Versuch»  das  Wesenthche  derKantischen 
teligionsphilosophie  durch  den  Erlösungsgedanken  zu  bezeichnen.  Alleiu 
las  scheint  mir  aus  den  oben  angegebenen  Gründen  nur  sehr  bedingt 
ichtig.  Von  der  Aitfklänmg  unterscheidet  sich  Kaut  vor  allem  dnrch 
einen  Freiheitsbegriff  und  die  daraus  folgende  Irrationalität  des  Bösen 
He  der  Wiedergeburt,  durch  die  Einführung  des  Irrationalen^  das  an 
leiden  Punkten  gleich  irrational  ist.  Der  Gegensatz  von  Sündenschrecken 
Uid  Erlösungskraft  scheint  mir  aus  der  kantisierenden  Theologie  in  Kant 
ingetragen  zu  sein.  Dagegen  spricht  deutlich  die  Warnung  vor  „übel 
^erstandener  Demut**  VI,  281  :  „Die  Herabsetzung  des  Eigendünkels  in  der 
khfttzung  seines  moralischen  Wertes  durch  die  Vorlialtung  des  mora- 
leehen  Gesetzes  soll  nicht  Verachtung  seiner  selbst^  sondern  vielmehr  Ent- 
chloasenheit  bewirken,  dieser  edlen  Anlage  in  uns  gemäss  uns  der  Ange- 
nessenheit  zu  jener  immer  mehr  zu  nähern^  statt  dessen  (sc.  bei  den 
Üftrt^ai)  Tugend,  die  eigentlich  im  Mut  dazu  besteht,  als  ein  des  Eigen- 
tünkels  schon  verdächtiger  Name  ins  Heidentum  verwiesen  und  kriechende 
ïimstbewerbung  dagegen  angepriesen  wird/*  Kants  bekannte  Äusserung 
Jber  die  Liebens^ilirdigkeit  des  Christentums  VI,  369—372,  die  man  noch 
m  ehesten  in  jenem  Sinne  deuten  könnte,  will  doch  nur  den  besonderen 
par  moralischen  Achtung  vor  dem  Sittengesetz  hinzukommenden,  aber  von 
echtswegen  zu  ihr  gehörenden  Zug  bezeichnen  :  „Liebe  zu  dem  Geschäft 
br  Beobachtung  seiner  Pflicht  überhaupt  zu  befördern*',  und  es  „bringt 
ie  auch  hervor,  weil  der  Stifter  desselben  nicht  in  der  Qualität  eines 
lefeàlâhabers,  der  seinen  Gehorsam  fordernden  Willen,  sondern  in  der 
ânes  Menschenfreundes  redet,  der  seinen  Mitmenschen  ihren  eigenen  woM* 
»e»tandenen  Willen,  d,  i.  wonach  sie  von  selbst  freiwillig  handeln  würden, 
Ireim  sie  sieh  selbst  gehörig  prüften,  an  Herz  legt/'  Es  ist  „die  liberale 
)enkungsart'*,  „das  Gefühl  der  Preüieit  in  der  Wahl  des  Endzweckes", 
iber  all  das  ist  ja  nur  das  voll  verstandene  Wesen  des  Sittengesetzes,  und 
lie  Erl50ttng  ist  nur  das  in  jedem  Individuum  sich  wiederholende,  unbe- 
[reifliche  Wirksam-werden  des  vollen  Eindrucks  vom  Sittengeset« ,  in 
reiches  als  solches  erst  der  Gedanke  eines  ,, gütigen  Weltregierers**^  aber 
ichwerüch  der  der  göttlichen  Liehe,  eingeschlossen  ist.  Wo  Kant  daa 
Christentum  gegen  den  seinem  R^liginnsbegriff  ja  gleichfalls  sehr  nahe 
flehenden  Stoicismus  abgrenzt,  da  hegt  der  Unterschied  in  der  eindrucks- 


E,  Troeltsch, 

Schwieriger  zu  beantworten  ist  die  dritte  Frage.     Auch  Wer 
brauchen  wir  uns  freilieh  nicht  damit  aufzuhalten,  die  Deutung  di 
,, Sohnes  Gottes'*  als  ethisches  Ideal  nnd  die  an  die  Doginatik 
klingenden    Anwendungen    dieses    Begriffes    auf   Jesus    näher  ztt' 
untersuchen,    Es  ist  deutlich,  dass  es  sich  hier  um  eine  Umdeutung: 
des    kosniologisch-idealistischen    Logosbegriffes    in    einen    kritisch- 
ethischen  Begriff  handelt,  und  dass  die  Anwendung  auf  Jesus  nichts 
anderes    bedeutet    als    die  Behauptung   eines    irgendwie  gearteten 
Verwirklichungsf altes  dieses  Ideals:  Jesus  ist  an  Stelle  der  Inkar- 
nation des  Logos  oder  der  bei  und  in  (lott  seienden  Weltvernunft 
zu  einer  Verwirklichung  des  etliischen  Menschheitsideals  geworden 
Die  Frage  ist  mir,  in  welchem  Grade  Kant  diesen  Verwirklichungs- 
fall  als    von  allen  anderen  wesentUch  verschieden  betrachtet,    und 
welche    Bedeutung   er   diesem    Verwirklichungsfall    für    die    reine« 
Religion    zuschreibt.     Hier   sind    nun    zwei  Dinge  von   vornhereii^| 
klar.    Einmal    teilt  Kant   die   historisch-kritische   Auffassung   der 
Geschichte  Jesu,    die    seiner  Zeit   überhaupt    erreichbar  war.    Et 
kennt  dabei  freilich  die  Unterscheidung  der  johanuischen  und  synop- 
tischen Überlieferung  noch  nicht  und  steht  mit  seiner  Auffassonf 
deutUch    unter    dem   Einfhiss    der   ersteren.      Die    mesquine    Kon- 
struktion Reimarus*  und  Bahrdts    verwirft  er,   aber  er  sucht  doch 
selbst  ebenso  eine  psychologisch  verständliche  Auffassung  der  Ge» 
schichte  Jesu,  indem  er  ihn  im  Kampf  mit  Theologie  und  Priester- 
tum,  mit  Heteronomic  und  Observanzen  seine  Jünger  zum  Angriff 
in  Jerusalem  sammeln,  dabei  aber  den  Heldentod  durch  die  Feind- 
schaft des  Priestertums  finden  lässtJ)    Er  ist  ihm  der  Menschen-    i 
freund  und  Volkslehrer,    der   in   einem  durch  die  Einwirkung  der 


vollen  Personification  des  Sittengesetzes,  vermöge  dessen  die  Tugend  zur 
„Gottseligkeit'*  wird,  und  in  dem  Gefühl  der  Sündhaftigkeit  wie  der  in 
der  Wiedergeburt  erfolgenden  unbegreiflichen  „Heiligung'*,  wodurch  der 
„edle  Stob'*  des  Stoikers  nicht  zum  „Kleinmut",  aber  zur  „Demut"  er- 
mässigt  wird  Reicke  U,  167.  Kants  eigene  Ansicht  hält  zwischen  Stoi- 
cismus  und  Christentum  die  Mitt^,  Oh  mehr  das  eine  oder  das  andere, 
das  hängt  von  dem  Mass  der  jeweiligen  Personifikation  des  Gottesbegriffes 
und  der  Betonung  des  Radikal-Bösen  ah;  vgl,  Eeicke  II,  183,  247.  So  oft 
Kant  vom  ,jBeistande''  oder  von  der  „Ergänzung*'  redet,  wird  er  dunkel, 
wie  er  denn  überhaupt  her\^orheht,  dass  die  Moral  für  sich  allein  wissen- 
schaftlich wohl  verstëndlich  ist,  der  Hinzutritt  der  Religion  dagegen  alle» 
dunkel  mache-  Ebd.  186.  Charakteristisch  ist  der  Satzr  „Die  Ergänzung 
ißt  aber  wieder  die  Spontaneität**, 
Î)  VI,  177. 


Das  Historische  in  Kants  ReligionspMlosophie. 


ätantiken  Moral  auf  das  Jndciituni  wohl  vorbereiteten  Monieet 
.uftritt  und  diuxh  den  Zusamraeoschluss  mit  dieser  auf  dem 
echisch-römischen  Boden  siegt,  0  Immerhin  aber  ist  er  dabei 
eit  erhaben  über  die  Stoiker,  indem  er  das  Böse  und  den  Kampf 
gen  das  Böse  viel  tiefer  aus  dem  Wesen  des  sittlicheu  Bewusst- 
ins  heraus  erfasst  und  die  Forderungen  der  Autonomie  in  seinen 
ittlichen  Lehrvorträgen  populär  auschaulich  entwickelt.-)  Er  ist 
ftabei  freilich  zu  Akkommodationeu  an  die  jüdische  Welt  genötigt, 
iie,  durch  die  rabbinische  Argumentation  der  Apostel  und  die  ur- 
bhristliche  Apologetik  verstärkt,  noch  heute  schwer  auf  uns  lasten, 
lie  aber  Kant  in  der  That  für  wirkliche  Akkommodationen  hält, 
irährend  sie  bei  den  Aposteln  zeitgeschichtliche  Bedingtheit  ihres 
Penkens  sind,^)  Sehr  ablehnend  ist  Kant  gegen  den  bei  solcher 
iàuffassung  freilich  überhaupt  sehr  schwer  erträglichen  eschatolo- 
p-is^-'hen  Messianismus  Jesu;  er  betont  nur,  dass  Jesu  „inwendiges" 
(&ott€sreich  den  klaren  Bruch  mit  dem  Messianismus  bedeutet*]*) 
hn  übrigen  glaubt  Kant  bei  dem  Stand  der  Quellen  und  der  Art 
ier  Überlieferung,  die  aus  völlig  ungebildeten,  erregten  und  leicht- 
rläubigen  Kreisen  stammt,  die  wirkliche  Geschichte  nur  sehi^  be- 
liogt  mehr  erreichen  zu  können;^)  jedenfalls  ist  Anfang  und  Ende 
feines  Lebens  vom  ÄIrthus  eingehüllt,  wie  das  ja  bei  dem  Bedürfnis, 
line  göttliche  Offenbarung  zu  beweisen,  erklärUch  genug  ist^) 
lieber  ist  zweitens,  dass  Kant  die  Verwirklichung  des  sittlichen 
Ideals  in  Jesus  nicht  als  absolutes  und  reines  Offenbar-Werden 
fles  Intelligibeln  betrachtet  hat  und  nach  seiner  ganzen,  die  liisto- 
liscbe  Et^cheinungswelt  an  allen  Punkten  vom  Intelligibeln  trennen- 
Beo,  Denkweise  nicht  betrachten  konnte.  Aber  an  diesem  em- 
^indÜchsten  Punkte  der  Kirchenlehre  ist  Kant  überaus  vorsichtig. 
Ipat    auch  Jesus    den  Kampf   mit  dem  radikalen  Bösen  gekämpft? 

fVie  steht  es  mit  der  Sündlosigkeit  Jesu,  die  unter  Kants  Gesichts- 
unkte  der  Zentralbegiiff  werden  müsste  für  eine  direkte  religiöse  Er- 


1)  VI,  176,  227. 
j  ^  VI,  151,  257  ff.     Interessant   ist,   dass    Fessier   die   Stoiker   unter 

liecien  Gesichtspunkten  als  Vorlaufer  der  Kantischen  Moral  behandeln  will 
ind  hierzu  Kants  Rat  einholt.    Briefw.  Ill,  29. 

3}  VI,  261;  Vn,  354,  357, 
I  *)  VI,  235,  233»  wo  die  Eschatologie  der  Evangelien  mit  den  sybilli- 

Usehen  Büchern  verglichen  und  die  Apokalyptik  Jesu  nur  als  Ermutigung 
Édner  JUnger  aufgefasst  wird. 

*)  VI,  229. 

«;  VJI,  357;  VI,  277,  17H. 


94 


E.  Troeltsch, 


fassung-  Jesu  und  das  auch  bei  Schleiermacher  geworden  ist?  Id 
Wahrheit  kaun  von  einer  Jesus  prinzipiell  aus  der  Menschheitv 
gemeinschaft  heraushebenden  Sündiosigkeit  nicht  die  Rede  sein,  und 
Kant  hat  das  in  der  That  auch  deutlich  genug  angedeutet.^)  Wie 
steht  es  ferner  mit  dem  Anspruch  Jesu  auf  absolute  Offenbarung 
der  Wahrheit  in  ihm,  wie  ihn  namentlich  das  JohaDnesevangeUum 
schildert-?  Kant  hat  ihn  unverkennbar  auf  die  Absolutheit  des  von 
Jesus  anerkannten  Ideals  gedeutet  und  damit  die  Geltung  von  der 
Person  abgewiesen.*)  Das  Aufkommen  des  Christentums  ist  daher 
auch  nicht  eine  völlige  Weltveränderung,  sondern  nur  der  Durch- 
bruch  des  guten  Prinzips  zu  einer  zunächst  noch  reclit  beschränkten 
und  kümmerlichen  Wii'kung,  die  sich  breiter  erst  in  der  Zukunft 
entfalten  wird  und  hierzu  in  Wahrheit  erst  mit  dem  18.  Jiüu^ 
hundert  ernstlich  eingesetzt  hat.^)  Die  Person  Jesu  hat  daher 
auch  nichts  zu  thun  mit  dem  Weltende,  sondern  das  „natürliche 
Ende  der  Dinge"  lässt  sich  nur  als  Sieg  des  Guten  in  der  Gattung 
niut^assen.  Jesus  ist  also  im  Grande  nichts  als  der  wichtigste 
historische  Vermittler  des  sittlichen  Ideals  und  aller  darin  liegeo- 
den  religiösen  Folgegedanken.  Alles  das  schliesst  nun  aber  doch 
eine  zentrale  und  bleibende  Bedeutung  Jesu  für  die  Religion  auch 
in  Kants  strengstem  Sinne  nicht  aus^  und  man  hat  bei  ihm  den 
Eindruck  nicht  bloss  eines  ausserordentlichen  Respekts  vor  der 
Lehre  und  dem  Heldentum  Jesu,  sondern  auch  einer  dauernden 
Beziehung  des  religiösen  Gedankens  auf  ihn.  Indem  die  mensch- 
liche Schwäche  zur  Behauptung  und  Durchführung  der  Religion 
die  Gemeindebildung  erfordert,  indem  die  psychologische  Veran- 
lagung des  Menschen  Belebung  und  Entwickelung  der  ethisch- 
religiösen  VeiTiunft  durch  Symbol  und  Beispiel  nötig  macht,  indem 
die  Gemeinde  Jesu  eben  der  Durchbruch  der  sittlichen  Vernunft  ist 
und  indem  schliesslich  Lehre  und  Leben  Jesu  gerade  das  grossartigste 
Beispiel  und  Symbol  wahrer  Religion  in  der  ganzen  Weltgeschichte 
ist,  indem  all  das  der  Fall  ist,  ist  doch  auch  die  Vernunftreligion 
an  die  Gemeinde  Jesu  und  an  das  Bild  Jesu  als  an  ihr  ßelebungs- 
und  Entwickelungsmittel  gebunden,  Ihre  Wahrheit  und  Öütigkeit 
beweist  die  Religion  nur  durch  sich  selbst»  aber  ihre  empirisch- 
psj^chologische  Durchsetzung  bedarf  dieses  Hilfsmittels  oder  Vehi- 
kels.   Die  zukünftige  Entwickelung  der  Religion  hat  doch  nur  die 

1)  VI,  159,  176. 

»)  VI,  160, 

^  VI,  2Ô0,  220,  230  f. 


Das  Historische  in  Kants  Beligionsphilosophie.  96 

Aufgabe,  die  zeitgeschichtlichen,  supranatoralistischen  und  statu- 
tarischen Elemente  der  Bibel  abzustossen,  und  nicht  die,  sie  selber 
los  zu  werden.  Sie  und  —  da  in  ihr  für  Kant  in  Wahrheit  nur 
Jesus  in  Betracht  kommt,  das  alte  Testament  dem  Judentum  an- 
heimfällt und  die  apostolischen  Schriften  der  Zeitgeschichte  des 
Urchristentums  —  die  Persönlichkeit  Jesu  werden  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  immer  als  Vehikel  nötig  bleiben,  i)  Das  ist 
natnrgemäss  nicht  apodiktisch  sicher  vorauszusagen,  aber  bei  der 
Schwäche  der  Menschheit  ganz  überwiegend  wahrscheinlich.  Die 
Schwäche  der  Menschheit  also  macht  an  diesem  Punkte  eine  dauernde 
Bindung  der  rein  rationalen  Religion  an  die  Historie  wahrschein- 
lich, aber  diese  Bindung  ist  dann  so  zu  denken,  wie  sie  allein  für 
die  reine  Religion  möglich  ist,  als  Nährung  und  Pflege  einer  an 
sich  völlig  autonomen  und  selbst  genügsamen  Wahrheitserkenntnis 
durch  Beispiel  und  Symbol,  das  selbst  als  solches  nur  durch  seine 
Übereinstimmung  mit  dem  Vemunftideal  erwiesen  werden  kann. 


4. 
Die  eigentliche  Lehre  Kants. 
Die  Analyse  der  „Rel.  i.  d.  Gr.  d.  bl.  V.^  zeigt  allerdings 
Kants  Auseinandersetzung  mit  der  Religionsgeschichte.  Allein  es 
ist  doch  vor  allem  die  praktische  Anwendung  seiner  Theorie  auf 
die  christliche  Dogmatik  und  das  Landeskirchentum.  Die  prinzi- 
pielle Behandlung  des  Problems,  wie  die  rationale  normative  Reli- 
gionswahrheit und  die  geschichtlichen  Religionsbildungen  sich  ver- 
halten, ist  es  nicht.  Aber  freilich  bei  Kant  ist  nichts  in  der 
Praxis  richtig,  was  in  der  Theorie  unrichtig  ist,  und  die  wahrhaft 
förderliche  Praxis  kann  ihren  Grund  nur  in  der  richtigen  Theorie 
haben.  So  muss  der  praktischen  und  besonderen  Lösung  des  Pro- 
blems allerdings  eine  theoretische  und  pmzipielle  zu  Grunde 
liegen.  Diese  muss  die  Voraussetzung  bilden,  von  der  aus  für  ihn 
die  geschilderte  praktische  Lösung  erst  möglich  war.  Aber  sie  ist 
doch  eben  nur  die  Voraussetzung  und  muss  erst  aus  dem  Zustand 
fragmentarischer  und  gelegentlicher  Ausführungen,  verklausulierter 


1)  VI,  214,  234;  VII,  364.  Das  Christentum  „ist,  soweit  wir  wissen, 
die  schicklichste  Form  der  sinnlichen  Vorstellungsart  des  göttlichen 
Willens*'.  VI,  166,  176:  „Jesus  das  Symbol  der  sich  selbst  über  die  Ver- 
suchung zum  Bösen  erhebenden,  diesem  siegreich  widerstehenden  Mensch- 
heit.**    170. 


96 


E.  Troeltsch, 


und  verdeckter  AndeiitEngeu  hervorgezogen  werden.  Sie  muss 
mit  den  übrigen  geschichtsphilosophischen  und  anthropologischea 
Schriften  ziisanuneiigestellt  werden  und  mit  den  Angaben  dieser 
zu  einem  Ausdruck  des  prinzipiellen  Kantischen  Gedankens  über 
Wesen  nud  Bedeutung  der  Religionsgescbichte  zusammenwachsen. 
Freilich  spricht  auch  das  Buch  selbst  schon  deutlich  genug, 
wenn  man  es  einmal  unter  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet.  Es 
ist  eingetaucht  in  eine  Atmosphäre  religiousgeschichtlicher  Ver- 
gleichungen.  Die  Mensch heitsanfänge  sieht  Kant  im  Lichte  einer 
vergleichenden  Zusammenstellung  der  Sagen  vom  Paradies,  vom 
goldenen  Zeitalter,  vom  ersten  Menschen;  das  Menscliheitsende  ijd 
Lichte  der  Prophetien,  Apokalypsen  und  Sibyllinen.  Einzebe 
theologische  Begriffe,  wie  die  Trinitätslehre  und  die  Stellver- 
tretungs-  oder  Expia tionslehre  verfolgt  er  bei  Indern,  Persem, 
Germanen,  Juden  und  Christen,  ')  Vollends  die  Sakramente,  Obse^ 
vanzen,  Kirchenorgauisationen  und  Kulte  verfolgt  er  durch  alle 
möglichen  Religionen  und  knüpft  hier  besonders  gern  die  ent- 
wickelten Institutionen  au  die  der  Naturvölker  an.  Die  antiken 
Dichter  und  MoraUsteu  sind  ihm  überall  Parallelen  der  Bibel.  Die 
historische  Relativität  und  die  weitgehende  Analogie  oder  Abhängig- 
keit christlichen  Küxhentums  und  cbiistlicher  Legende  gegenüber 
den  entsprechenden  Erscheinuugeu  anderer  Völker  und  ReUgioneE 
sind  für  ihn  so  selbstverständUch  wie  für  Voltaire  undHurae;  von 
De  Brosses  Fetischlehre  macht  er  den  ausgiebigsten  Gebrauch, 
Aber  die  Andeutungen  sind  noch  direkter,  Kant  spricht  von  einem 
psychologischen  Bedüiinis  der  Vernunft  zui*  Vei-sinnhchung,  das  m 


1)  Arnoldt,  der  den  Aufsatz  „Das  Ende  aller  Dinge*^  für  eine  Art 
Eikurs  zu  der  „Rel  i.  d,  Gr,  d.  bl  V."  hlllt,  glaubt,  dass  die  hier  ent- 
wickelt« vergleichende  Trinitätslehre  ihn  zur  analogen  Ausführung  einer 
vergleichenden  Eschatologie  gefülirt  habe,  Beiträge  etc.  96.  Jedenfalls  ist 
der  Grundgedanke  der  Abhandlung  religionsgeschichtlicb  vergleichend  und 
kritisch  reinigend:  ^Er  muss  mit  der  allgemeinen  Menschenvemunft  auf 
wundersame  Weise  verwebt  sein,  weil  er  unter  aOen  vernünftelnden  Völkern 
zu  aUen  Zeiten,  auf  die  eine  oder  andere  Art  eingekleidet^  angetroffen 
wird.  Vly  359,  —  Ein  aus  den  Vorarbeiten  stammendes  loses  Blatt  notiert 
zu  der  Lehre  vom  Strafleiden  Christi  einfach  eine  Stehe  aus  Cicero  „De 
haruspicum  responso  oratio"  :  Nomen  populi  Romani  (imaginem  divinam) 
tanto  seelere  contamina  vit,  ut  id  nuUa  re  posKit  ni^i  ipsius  supplido  eipiari 
Reicke  II,  320.  Das  eingeklammerte  imag.  div.  stammt  von  Kant  und  soll 
die  Parallelen  sowie  die  beiden  Anschauungen  gemeinsame  psychologische 
Wurzel  noch  stärker  andeuten« 


Das  Historische  in  Kants  Eeliit^ionsphilosophie. 


97 


allen  Menschen  liege,  und  die  religiösen  Ideen  überall  unvermeid- 
lich anthropomorphisii-^re,  von  einem  „îScliematismiis  der  Analogie", 
der  die  religiösen  Ideen  diircli  ihr<^  Analogie  zu  meDScbliclicra 
Leben  verdeutliclit,  und  der,  individuell  verschieden,  die  unendüdie 
Mannigfaltigkeit  authroijomorpher  Religionsideeii  auf  christHetiem 
und  nicht  cliristlifiiem  Gebiete  heiTorbringt.  Die  cliristlichen 
Dojçnien  haben  hier  durchaus  keinen  Vorzug.  Er  spricht  von  der 
Notwendigkeit  religiöser  Gemeinschaftsbildungen  oder  Kirchen- 
stiftungen, die  alle  ilire  heiligen  Bücher  hervorbringen,  und  stellt 
in  dem  unterdrückten  Entwurf  der  Voirede  die  Bibel  in  bedingungs- 
lose Parallele  mit  dem  Yeda,  dem  Avesta  und  dem  Koran.  Will 
der  Religiousphilüsoph  seine  Lehre  an  Beispielen  verdeutlichen, 
„so  muss  irgend  eine  Glaubensgeschichle,  sie  sei  im  Zendavesta 
oder  in  den  Vedas  oder  in  deui  Koran  oder  in  der  vorzüglich  so 
genannten  Bibel  enthalten,  ihm  allein  dazu  tauglichen  Stoff  dar- 
reichen können/*,  ^)  Aber  wenn  er  so  über  die  historische  Rela- 
tivität und  Gleichartigkeit  aller  dieser  Erscheinungen  keinen 
Zweifel  lässt,  so  knüpft  er  doch  an  die  Bibel  nicht  an,  weil  sie 
allein  ihm  zufällig  eben  nahe  liegt,  sondern  weil  ihr,  rein  histo- 
lisch  angesehen,  ein  Vorzug  vor  den  anderen  Büchern  zukommt. 
Auch  sie  enthält  in  ihrem  neutestamentlichen  Bestandteil,  der  allein 
ÎD  Betracht  kommt,  reichlich  m3-thischen  und  statutarischen  Stoff, 
aber  neben  dem  in  der  Predigt  Jesu  doch  in  einer  unvergleich- 
lich klaren  Weise  die  Grundwahrheiten  der  reinen  Religion.  Sie 
ist  „dasjenige  heiUge  Buch,  das  im  MoraUschen  unter  allen,  soviel 
man  deren  kennt,  am  besten  mit  der  Vernuuftreligion  in  Harmonie 
zu  bringen  ist."*^)  Das  deutet  auf  eine  geschichtsphilosophische 
Theorie  über  die  Stellung  des  Chiistenturas  innerhalb  der  Reli- 
gionsgeschichte hin,  vermöge  deren  allein  der  ganze  Kompromiss 
mit  der  Bibel  möglich  war,  und  die  dem  ganzen  Buche  erkennbar 
als  Haüptvoraussetzung  zu  Grunde  liegt. 

So  enthüllen  sich  deutlich  die  Umrisse  eiuer  auch  die  Reli- 
gionsgenchichte  umfassenden  prinzipiellen  Religionstheorie,  die  das 
Ganze  der  liistorisch-wirklichen  und  der  rational-seiusolleudeu  Re- 
ligion umfasst.  Sollen  aber  diese  Umrisse  ausgefüllt  werden,  so 
ist  dreierlei  nicht  ausser  acht  zu  lassen.  Erstlich,  dass  Kant 
diese   Gedanken     nirgends    zusammenhängend    durchgedacht    hat, 


'J  Dilthey,  Arclav  f.  Gesch.  d.  Phil.  III,  437. 
«)  Ebd.  437. 

ICsiiUtnili«!}   IX. 


98 


E,  Troeltsch, 


ihnen  somit  die  Durcharbeitung  versagt  geblieben  ist,  die  iminer 
erst  dann  eintreten  kann,  wenn  ein  Thema  im  vollen  Umfang 
prinzipiell  behandelt  wird.  Si«  teilen  das  Schicksal  der  gesamteü 
Geschichtsphilosophie  Kants.  Der  zweite  Umstand  ist,  dass  Kant 
bei  seinem  streng  geiassten  Religionsbcgriff  und  seiner  Beziehung 
aller  wissenschaftlichen  Geschichte  auf  in  ihr  sich  herausarbeitende 
giltige  Zweckgedanken  die  eigentliche  Religionsgeschichte  viel 
enger  fasst  und  mit  dem  Worte  ganz  andere  Begriffe  verbindet, 
als  wir  zu  thnn  gewöhnt  sind.  Für  ihn  gehört  alles,  was  sich 
nicht  direkt  auf  jenen  Zweck  beziehen  lässt,  also  die  Geschichte 
der  Mythen  und  Gülte,  die  ganze  vergleichende  Forschung  über 
die  Religionen  der  Naturvölker  und  deren  (îbergang  zur  Knltur- 
religion,  nicht  zur  eigentlichen  Keligionsgeschichte,  sondern  zur 
Antlu^üpologie  oder  zur  ,,Archäologie  der  Religion",  ^)  Auch,  wo 
die  reine  Religion  prinzipiell  en*eicht  ist,  gehört  doch  auch  dann 
noch  das  mythisch-dogmatische  und  kuitisch-ceremonielle  Element 
zur  Anthropologie,  d.  h.  zur  Darstellung  des  thatsäclilichen,  psy- 
chologisch erklärbaren  Zustandes,  und  nicht  zur  Geschichte,  d,  h. 
zur  Darstellung  des  auf  den  notwendigen  Zweck  hinstrebenden 
Verlaufes,  Der  dritte  umstand  liegt  in  der  sehr  bescheidenen 
Kenntnis  éev  empirischen  Religionsgescliichte,  über  die  Kants 
Zeitalter  verfügt^i.  Kant  hat  zweifellos  das  gesamte  Material  seiner 
Zeit  im  Allgemeinen  gekannt;  er  hat  insbesondere  aus  Reisebe- 
schreibungen und  anthropologischen  Berichten,  wie  alle  Geschichts- 
philosophen des  Zeitalters,  das  Religionswesen  der  Naturvölker 
studiert.  Aber  die  grossen  Religionen  der  Kulturvölker  wio'den 
ihm  nur  sehr  mangelhaft  bekannt.  Auch  hier  sind  vor  allem 
Reisebeschreibungen  seine  Quellen,  dagegen  fehlen  historische 
Untersuchungen  über  deren  Entstehung  noch  fast  ganz.  Sogar 
die  Religion  der  Griechen  liegt  ihm  noch  wesentlich  nur  als  In- 
begriff von  Mythen  und  von  kultischen  „Religionsaltertümern'*  vor. 
Da  ist  es  begi'eiflich,  dass  er  an  diesen  Religionen  fast  nur  die 
anthropologische  Seite  kennt  und  aus  ihnen  das  wesentlich  Reli- 
giöse nicht  herauszufühlen  vermag.  An  diesem  Punkte  ist  Herder 
weit  über  Kant  hinausgeschritten.  Kant  dagegen  blieb  unter  dem 
aus  der  orthodoxen  Theorie  nachwirkenden  und  ja  auch  die  Locke- 
Leibnizsche   Religionsphilosophie    beherrschenden   Eindrucke,    dass 


1)  Der  Ausdruck  bei  Reicke  m,  9.    Hier  wird  der  urchristlicke  Mes- 
siaiiismas  zur  Archäologie  gereehnet. 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  99 

das  Christentum  allein  die  Elemente  reiner  Religion  enthalte.  Es 
ist  ihm  mit  seinen  Parallelen  in  der  spätantiken  Ethik  der  erste 
Durchbrach  und  der  Beginn  der  eigentlichen  Keligionsgeschichte,  ja 
das  einzige  wirkliche  Thema  einer  solchen.  Judentum,  Christentum 
und  Islam  mit  Lessing  gegeneinander  zu  neutralisieren,  hat  ihm 
völlig  fem  gelegen.  ^  Im  letzten  Grunde  ist  von  dieser  Isolierung 
des  Christentums  freilich  nicht  bloss  die  mangelhafte  Kenntnis  der 
fremden  Religionen  die  Ursache  —  Lessings  Wissen  war  kaum 
grösser  — ,  sondern  eine  persönliche  Meinung  und  Überzeugung 
Kants,  der  an  der  Vorzugsstellung  des  Christentums  als  an  etwas 
Selbstverständlichem  festhielt,  und  den  auch  die  Betrachtungsweise 
eines  Voltaire,  Hume  und  Gibbon  hieran  niemals  einen  Augenblick 
irre  gemacht  zu  haben  scheint. 

Von  hier  aus  ergeben  sich  die  drei  Hauptgesichts- 
p unkte,  die  Kant  für  die  Bewältigung  des  Historischen  in  der 
Eeligionsphilosophie  entwickelt  hat,  und  die  naturgemäss  nur  eine 
besondere  Anwendung  der  Grundbegriffe  bilden,  welche  er  über- 
haupt für  die  Bewältigung  des  Historischen  in  seinem  Verhältnis 
zum  Intelligibeln  ausgebildet  hat.  Ich  kann  hier  den  Faden  der 
Untersuchung  wieder  aufnehmen,  den  ich  oben  habe  fallen  lassen, 
um  die  Frage  nach  der  Bedeutung  der  „Rel.  i.  d.  Gr.  d.  bl.  V."  für 
das  Verständnis  von  Kants  Lehre  aufzuwerfen.  Kant  unterscheidet 
darnach  die  anthropologisch-kausale  Betrachtung,  welche 
die  bunten  Erscheinungen  und  Erfahrungen  des  „inneren  Sinnes^ 
nach  Kausalprinzipien  verknüpft;  die  kritisch-regulative  oder 
systematische  Geschichtsbetrachtung,  welche  dies  Ge- 
schehen betrachtet,  als  ob  es  dem  ethisch-notwendigen  und  damit 
zugleich  religiös  zu  deutenden  Endzweck  der  Gattung  diene,  und 
welche  die  E^cheinungen  nach  ihrem  Verhältnis  zu  diesem  Zweck 
systematisch  auf  eine  in  der  Geschichte  sich  verwirklichende 
Zweckidee  bezieht;  schliesslich  die  vermutungsweise  metaphy- 
sisch-spekulative Betrachtung,  welche  den  Gang  der  ge- 
schichtlichen Erscheinungen  als  von  der  Zweckidee  oder  dem  in 
ihr  enthaltenen  kosmischen  Grundwillen  hervorgebracht  und  gegen 


*)  Vgl.  hierüber  die  treffenden  Bemerkungen  Fischers  gegen  Ar- 
noldt  U,  877,  wodurch  aber  Fischers  eigene  Bezugnahme  auf  das  Gleich- 
nis von  den  drei  Ringen  sehr  eingeschränkt  wird.  Das  Gleichnis  ist 
durchaus  nicht  im  Sinne  Kants.  Er  würde  den  Massstab  der  reinen  Ver- 
nunftreligion  zur  Ausmittelung  des  Weitunterschiedes  der  drei  Ringe 
energisch  benutzt  haben. 

7* 


K 


lï.  TroeltBcb, 


die   immer  neaen   Abimingen   durchgesetzt    ansieht.     Die^e  " 
Kategorieen  gilt  es  nunmehr  im  Einzelnen  auszafüJlen, 

Die  Anthropologie  ist,  ^ie  bereits  ohen  betont  wordeip 
ist,  ein  Hauptziel  des  Kantischen  Denkens,  Der  dort  angeführtes 
Brief  an  Stüudlin  bezeichnet  sie  als  den  Schlusspunkt  seiner  Arbeit 
und  ich  habe  dort  bereits  auseinandergesetzt,  in  welchem  Sinne 
das  zu  verstehen  ist  Es  ist  der  Übergang  Ton  der  kritischeu 
Erforschung  des  Bewiisstseins  und  seiner  transscendeutalen  Ge- 
setze zu  der  historisch-psychologischen  \\'irklichkeit  des  Bewusst- 
seins  und  damit  analog  der  Aufgabe  des  Übergangs  von  den  kri- 
tisch-transscendentalen  Prinzipien  der  Naturmssenschaft  zur  kon- 
kreten Natur  Wirklichkeit,  i)  Erdmann  meint  zwar  in  seiner 
Dai-stellung  der  Entstehungsgeschichte  der  Kantischen  Anthropo- 
logie, diese  Äusserung  Kants  sei  nicht  mehr  als  ein  gelegentlicher 
Einfall  und  man  könne  die  Anpassung  weder  von  der  Anthropo* 
logie   noch   vou    den    andern    Disziplinen  aus  finden.*)    Allein  ich 


1)  Vgl.  oben  S.  49  f. 

•)  B.  Erdmann,  Reflexionen  zur  kritischen  Philosophie  Kants,  I 
S.  62.  Zu  der  Daratenung  Erdmanns  über  Genesis  und  Problemstellung 
der  Eantischen  Anthropolog-ie  ist  die  sehr  viel  ausführlichere,  g^euauere 
und  lehrreichere  DarsteUun^  Arnoidts  Krit.  Exe.  268—369  z\x  vergleichen. 
Hier  ist  der  ganze  Betriff  der  von  Kant  nicht  ausgeführten  Anthropologie 
durch  Herauziebung  der  die  Anthropologie  betreffenden  zerstreuten 
Stellen  konstruiert.  Die  mit  der  physischen  Geographie  von  Anfang  an 
in  enger  Verbindung  stehende  Anthropologie  hat  zunächst  in  der  voricri- 
tischen  Zeit  den  Zweck,  dem  Studierenden  das  Material  der  empiiischen 
Weltkeuntnis  als  Voraussetzung  aller  Spekulation  zu  geben.  In  der  kri- 
tischen Periode  entsteht  die  Notwendigkeit,  dieses  Material  zu  den  trans- 
scendeutalen Prinzipien  in  fe^te  ßeziehung  zu  setzen,  was  Kant  jedoch 
nur  in  gelegentlichen  programma  tisch  en  Ausführungen  gethan  hat.  Kant 
nennt  so  die  „ausföhrhche  Anthropologie  das  Pendant  zur  empirischen 
Naturlehre"*  S.  344,  die  Parallele  zur  empirischen  Physik  S.  345,  die  „em- 
pirische Seelenlehre  als  psychologisch-theoretische  Anthropologie,  welche 
den  zweiten  Teil  der  Naturlehre  ausmachen  wurde,  wenn  man  sie  als  Philo- 
sophie der  Niitur  (à.  L  der  Scelmnatur)  betrachtet,  sofern  sie  auf  empirischen 
Gesetzen  begründet  ist"  S.  345.  Die  „Urteilskraft**  identificiert  die  empi- 
rische Psychologie  mit  der  Anthropologie,  welche  letztere  ausdrücklich  die 
empirische  Geschichte  befasst  S.  346.  Die  Schwierigkeit,  diese  Disziplin 
in  den  Rang  einer  wirklichen  Natunvissensclmft  zu  erheben^  s.  S.  S46ii.SI8t 
vgl.  auch  oben  die  von  Hegler  gesammelten  Stellen,  Das  aber  würde  die 
Aufgabe  der  Anthropologie  nicht  erschöpfen.  Sie  soll  nicht  bloss  den 
Übergang  von  den  transscendentalen  Prinzipien  der  Gesetzeserkenntnis  zu 
der  empirischen  Psychologie  und  Geschichte  machen,  sondern  steht  auch 
noch    in  Beziehung   zu  den  transscendentalen  Prinzipien    und  Imperativ« 


â 


Das  Historische  in  Kunts  Reli^onspLUosophie. 


101 


glaube,  gerade  das  lolztoro  ist  *^\iiiz  deutliclL  Die  Anthropolojsrie 
als  Aüseinajidersetzuiig  des  IiiltdligilH^l-Ktitisrh'TraDSsceijileutalen 
mit  dem  Psyehologisdi-Hishjrisrhen  scheint  mir  doch  geradezu  der 
notwendig  gefordert!»  Absebliiss  des  Kaiitisclieu  Deiikeos  nach 
unten  zu  sein,  wie  der  Gedanke  einer  Siimliiddveit  und  Verstand, 
Triebmechauismus  und  Freiheitszweek  vereinigenden  Teleologie  der 
Abschluss  nach  obeu  ist.  Die  Ijösung  dieses  Problems  ist  freilich 
überaus  schwierig,  schwieTiger  noidi  als  bei  dem  t'l>ergang  zu  den 
Nâtur\\issenschafteu,  Denn  hier  genügt  nicht  die  Verbindung  der 
gestalt-enden  und  ordnenden  Kategorieen  mit  dem  Stoff  des  empi- 
rischen Seelenlebens  und  (jesdieheris,  sondern  hier  muss  die  ge- 
setzeswisseuschaftlich  aufgefasste  und  gestaltete  historische  Er- 
fahrung noch  in  Beziehung  gesetzt  werden  zu  den  intelligiblen 
Freiheitsideen,  deren  Erscheinung  sie  ist  und  die  in  sie  eingreifen. 
In  ilen  Wissenschaften  des  äusseren  Sinnes  oder  der  äusseren  Er- 
fahrung ergiebt  sich  ein  gesetzlich  geordnetes  Bild,  für  das  die 
Vemunftideen  höchstens  die  heuristische  Bedeutung  und  den  regu- 
lativen Wert  der  Messung  an  einem  absolut  einheitlichen  Erkennt- 


der  Etkik  und  zn  den  Forderungen  der  praktisch-techiiisclien  Vernunft. 
Di©  Beziehung  der  Anthropologie  zur  Moral  würde  eine  monilische  Anthro- 
pologie ergeben,  die  die  Anwendung^  die  Begüustiginig  oder  Hemmung  des 
sittlichen  Bewusatseios  durch  psychulogische  Thatsliclüichkeiten,  ku  schil- 
dern hatte  und  die  auch  die  Geschichte  in  moraUscher  Absicht,  d.  h  die 
Entsprechung  des  psychologischen  Geschehens  zu  ethischen  Zielbegi'iffen, 
EU  behandeln  htttte  8,  351.  Als  dritte  Aufgabe  hat  sie  die  einer  Ordiiung 
des  Stoffes  nach  dem  pragmatischen  Zweck  der  Welt-  und  Menschen- 
kenntnis, welche  Aufgabe  in  der  Anthropologie  von  1798  auch  allein  —  wenn 
attch  mit  Seitenblicken  auf  die  beiden  andeni  —  ausgeführt  worden  ist.  Der 
grome  Plan  îilieb  unausgeführt.  Aruoldt  konstruiert  ihn  S,  352,  Dement- 
sprechend beurteilt  Arnoldt  die  oben  citierte  Äusserung  an  Stludlin 
ebeOM),  wie  ich  es  gethan  habe.  Die  Anthropologie  im  vollen  Sinne  wäre 
der  Abschluss  des  Systems  gewesen,  indem  sie  gesetzeswissenschaftliche 
Psychologie  und  Geschichte  rait  der  Logik  und  Ethik  und  mit  einer  von 
Ethik  und  Urteilskraft  bestimmten  Geschichtsphilosophie  verhimden  und 
darin  erst  die  Totalität  des  wirklichen  Bewusstseins  dargestellt  hätte.  In- 
teressant ist,  das»  Kants  Vorlesungen  über  Géographie,  die  ja  die  Anthro- 
pologie mit  einschlössen,  den  Aus^an^punkt  der  Herderscheii  Geschicht«- 
philo«ophie  bildeten,  Arnoldt  S.  8â7,  Haym,  Herder  I^  83.  Die  verschiedene 
Entwickehing  desselben  Gedankens  bei  beiden  Milnnem  ist  äusserst  lehr- 
reich, bei  Herder  ausserordentliche  Ausbreitung;  und  Feinheit  der  psycho- 
loschen  Analyse  und  Verlust  eines  Zieles  und  Massstehes  der  Entwicke- 
lung,  bei  Kant  vorsichtige  Einschränkung  der  Psychologie  und  HeraiM- 
arbeitung  eines  transscendental  gesicherten  Massstabes. 


102 


E.  Troeltsch, 


iiisideal  haben.  In  den  Wissenschaften  des  inneren  Sinnes 
der  ionereu  Erfahrung  aber  herrscht  eine  Verknüpfung  des  Pfey 
chologisch-Thatsächlichen  mit  dem  Apriorisch-Notwendi^n,  die  ^ 
andere  Probleme  stellt^  die  überhaupt  nicht  ein  einfaches,  sondern 
ein  Doppelproblem  stellt.  Sie  muss  sowohl  die  kausale  Verknüpfung , 
der  „inneren  Erscheinungen*"  als  ihre  Beziehung  auf  die  Freiheit  in 
Handeln  der  ilenschen  und  im  Fortschritt  der  Geschichte  aufzeigen 
Die  Anthropologie  in  diesem  doppelten  Sinne,  als  theoretische  und  ali 
moralische,  hat  allerdings  Kant  niemals  ausgeführt,  und  fünf  Jahre» 
nach  dem  Brief  an  Stäudlin  bezeichnet  Kant  ^den  Übergang  Ton  den 
metaphysischeo  Anfangsgründen  der  Naturwissenschaften  zur  Physik** 
als  die  Arbeit  eines  ausgedienten  Mannes,  ^woniit  er  divs  kritische 
Geschäft  zu  beschliessen  und  eine  noch  übrige  Lücke  auszufüllen 
denkt".  Die  Gründe  für  diese  Unterlassung  sind  nicht  schwer  zu 
finden.  Sie  liegen  in  erster  Lijiie  iu  dem  überhaupt  nicht  völlig 
aufgeklärten  Verhältnis  zwischen  psychologischer  und  transscen- 
dentaler  Begriff sbiklung,  das  Kant  so  oft  innerhalb  seiner  grossen 
Werke  im  Einzelnen  in  Augriff  genommen  hat,  dass  er  damit  das 
Problem  im  Einzelnen  für  erledigt  halten  und  zu  einer  prinzipiellen 
Behandlung  im  Ganzen  bei  der  Schwierigkeit  der  Sache  sich  nicht 
mehr  aufgelegt  fühlen  mochte.  Es  wäre  eine  neue  Aufnahme  de 
Problems  des  Kritizismus  selbst  geworden,  und  hier  mochte  er  et 
was  noch  Unfertiges  in  seiner  gangen  Position  empfiudeu,  das 
nicht  von  neuem  durcharbeiten  wollte.^)  Ein  weiterer  Grund  ist 
die  ausserordentliche  Ausbreitung  des  Themas,  dessen  Materialien 
er  von  Anfang  au  gesammelt  und  bisher  in  seinen  Werken  auch 
schon  von  Fall  zu  Fall  aufgebraucht  hatte,  so  dass  er  die  Unlust 
des  Alters  zu  solcher  Unternehmung  wie  die  bereits  gegebenen 
Einzelausführungen  als  ausreichenden  Grand  für  den  Verzicht  auf— 
ein  solches  Werk  anseheu  durfte,»)  Vor  allem  aber  hatte  er  jaH 
schon  von  seiner  vorkiitischen  Zeit  her  seine  Anthropologie,  die 
zwar  freilich  eine  andere  Aufgabe  stellte,  die  aber  doch  alle  diese 
Fragen  streifte.  Es  war  sein  altes  Lieblingskolleg,  das  aus  der 
physischen    Geographie    zur    Anthropogeographie    geworden    und 


3 


1)  Briefw.  ILI,  2öfi  an  Kiesewetter  13.  X.  1798.  1 

*)  Vgl.  hierzu  die  schon  mehrfach  g-enannte,  gerade  fär  diesen  Pimkt 
höchÄt  lehrreiche  Schrift  vtm  Hegler  „die  Psychologie  in  Kants  Ethik'; 
ausserdem  Windeiband  „Präludien"'-  1903  den  Aufsatz  „Kritische  oder  ge- 
netische Methode  ?** 

3)  Vgl.  Erdmann  1,  1  S.  56.; 


Das  Historische  in  Kants  Beligionsphilosophie.  103 

sich  schliesslich  als  „pragmatische  Anthropologie"  verselbständigt 
hatte.  Das  war  allerdings  nur  eine  historisch-psychologisch  be- 
gründete Anweisung  zur  praktischen  Menschen-  und  Völkerkennt- 
nis; aber  da  die  Pragmatik  auf  wissenschaftlicher  Einsicht  in  die 
empirische  Psychologie,  in  die  Thatsachen  der  Geschichte  und  in 
die  Zusammenhänge  des  Körperlichen  und  Seelischen  beruhte, 
so  durfte  sie  als  Abschlagszahlung  für  die  Lösung  des  Problems 
angesehen  werden.  ^)  Auf  diese  engere  Aufgabe  sich  zu  beschränken, 
hatte  ja  schliesslich  Kant  auch  einen  dringenden  Grund  in  der 
Natur  dieser  Wissenschaft  selbst.  Auf  ihrem  Gebiet  konnte  nicht 
gelingen  und  nicht  erstrebt  werden,  was  bei  den  konkreten  Natur- 
wissenschaften vorschwebte,  eine  streng  kausale  Ordnung  und  die 
Gewinnung  von  Gesetzen.  Ein  derartiges  Verfahren  hat  nur  bei 
der  Erfahrung  des  äusseren  Sinnes  mit  der  Räumlichkeit  der 
Massen  und  Messbarkeit  der  Kräfte  einen  Sinn.  Auf  dem  Gebiet 
der  Erfahrungen  des  inneren  Sinnes  herrscht  zwar  ebenso  die 
Kausalität.  Aber  bei  der  Unmöglichkeit,  die  Erscheinungen  hier 
zu  quantificieren,  fehlt  auch  jede  Möglichkeit  zur  Gewinnung  fester 
Gesetze  und  mathematischer  Berechungen.  Es  fehlt  jede  Möglich- 
keit einer  Gliederung  des  Stoffes  nach  festen  Gleichungen  und 
nach  strengen  Gesetzen.  »)  Es  bleibt  nur  die  Selbstbeobachtung 
und  die  Beobachtung  anderer  und  die  stets  sehr  subjektive 
Nachfühlung  der  Zusammenhänge  der  Erscheinungen.  „Der  Lauf 
der  Welt  ist  zum  Teil  auf  Regeln  zu  bringen,  zum  Teil  nicht. 
Daher  Schicksal  und  Zufall.  Zwischen  beiden  das  Natürliche."«) 
Das  Anthropologische  ist  so  identisch  mit  dem  Empirischen,*)  und 
es  bleibt  hier  trotz  der  „verstandesmässig  vereinigten  inneren  Er- 
scheinungen" und  trotz  dem  „Fortschreiten  zur  Behauptung  ge- 
wisser Sätze,  die  die  Natur  des  Menschen  überhaupt  angehen", 
das  Empirische  im  Humeschen  Sinne  des  Wortes;  die  Rationali- 
sierung des  Gegebenen  durch  apriorische  Kategorien  zur  gesetzlich 
geordneten  Erfahrung   ist   unerreichbar,    man   bleibt  bei  gelegent- 

1)  Vgl.  die  ganze  Einleitung  Erdmanns  S.  37  ff. 

•)  Vgl.  oben  S.  52  Anmerkung.  Hier  ist  denn  auch  der  Punkt,  wo 
Rickert  die  historische  Methode  des  Transscendentalismus  neu  begründen 
will,  indem  er  eine  Theorie  der  historischen  Erfahrung  und  Ordnung  dieser 
Erfahrung  im  Gegensatz  gegen  die  gesetzeswissenschaftlichejvorschlägt. 
Vgl.  „Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung*^  1902.  ÄhnUch 
Medicus  „Kant  und  Ranke^,  Kant«tudien  1903. 

•)  Brdmann  1 1,  S.  104. 

«)  Ebd.  S.  61  not  4. 


104 


E.  Troeltscli 


'i 

^ 


lidieu  Successiooen,  Koordinatioiieu  uud  NjH^hfuhluwg  des  unmitte^ 
baren  LebeESzusamiiienhangrs.  Die  Bezieliuii^spiiDkte,  nach  den< 
die  Erscheinungeu  durchgängig  zu  ordnen  wären,  fehlen,  und  so 
bleibt  die  Ordnung  nach  dem  praktischen  Zweck  der  Menschen- 
kenntuis»  also  nach  einem  nicht  im  8tüff  seihst  liegenden,  sondern 
von  aussen  herangebrachten  subjektiven  Zwecke,  noch  ein  leid- 
licher Ausweg.  Die  theoretische  Anthropologie,  zu  der  ja  auch 
die  schwierigen  physiulogischen  und  anthropogeügraphischen  Prolh 
lerne  gehöreu,  ist  ein  nicht  zu  realisierendes  Ideal,»)  während  dit^ 
moralische  zwar  möglich,  aber  von  Kant  nicht  mehr  ausgeführt 
worden  ist.  Damit  bleibt  für  Geschichte,  Psychologie  und  An- 
thropologie in  theoretischer  Hinsicht  trotz  der  im  Prinzip  be- 
haupteten  Kausalität  doch  faktisch  derselbe  Standpunkt,  wie  ihn 
H  a  nie  und  die  englischen  Psychologis  ten  zu  der  Sache  eingenommeD 
haben,  *j  wie  denn  ja  auch  Kants  feine  Beobachtungen  in  In  divi- 
dual- und  Sozialpsychologie  durchaus  au  die  Beobachiungs-  und 
ZergHederuDgskunst  der  englischen  Psychologisten  erinnern. 

Aber  wenn  auch  der  grosse  anthropologische  Plan  aus  diesen' 
Gründen  nicht  ausgeführt  wurde,  so  hat  Kaut  doch  in  diesem 
Sinne  aothropologisch-psychologisch-gesetzlich  gedacht  und  von  hier 
am  sowohl  das  ttanze  der  Geschichte  als  einen  grossen  gleich- 
artigeo  Zusammenhang  aufgefasst  wie  auch  vorkoramendeu  Falls 
Jedes  Einzelne  nach  diesen  Gesichtspunkten  betrachtet.  Er  hat  in 
der  Weise  Huuies  die  Bedingungen  eines  sicheren  historischen 
Wissens  erörtert:  die  formelle  Kritik  der  Urkunden,  die  Beur- 
teilung aller  Überlieferung  nach  der  Analogie  des  heute  noch  vor- 
konimenden  psychischen  Geschehens  und  die  Herstellung  eines 
alles  umfassenden  Korrelationszusammenhanges,  in  dem  jedes  Ein- 
zeLue  durch  Beziehung  zu  einem  anderen  sich  erklärt,  uod  der 
io  letzter  Linie  auf  den  Zusammenhang  der  Menschheits- 
geschichte   hinweist.      Von    hier    aus   ergiebt    sich   die   Aufgabe 

^)  Vgl.  die  Einleitung  zu  Kants  Aßthropologie  VlI,  S.  431—434. 
Hier  ist  scwar  nur  die  physiologische  und  pragmatische  Anthropologie 
unterschieden,  aber  die  späteren  Ausfülirairgen  heben  dann  doch  stark 
hervor^  dass  die  pragmatische  Anthropologie  nur  ein  Ausschnitt  aus  der 
theoretischen  historisch-psychologii<chen  und  aus  der  moralischen  ist  zum 
Zweck  praktisclier  Menschenkenntnis.  ^Ê 

*)  Vgl, Goldstein,  Die  enipi ristische  Geschicht«auffassung  David  Humes." 
Hier   ist   besonders  lehrreich,    wie  auch  bei  Hume  für  die  Ge^chichtsthat- 
Sachen  schliesslich  kein  anderes  Ordnimgsprinzip  bleibt^  ^als  psychologisches 
Materiai  tu  geben  äu  einer  Erkenntnis  des  Menschen'*.   S.  63. 


É 


Das  Historische  in  Kante  Eeligionsphilosophie. 


105 


historischen  Kritik  mid  Kekonstraktion.  Die  prähisto- 
scheti  Zeitalter  ohne  urkuiidlkiie  Überlieffmop:  uötJ  die  bar- 
irischen  ohne  wissenschaftlich  geschulte  Überlieferung  sind  kein 
fceustand  sicheren  Wissens.  Hier  giebt  es  nur  Mutmassung  und 
rastruktion  aus  der  Analogie  von  beut  igen  Naturvölkern»  vou  der 
ntwickelung  des  Kindes  und  der  rugebikleten,  ja  auch  die  typi- 
erende  Allegorie  kann  hier  verwendet  werdeïh  Von  den  Zeit- 
tern  der  Kultur-  und  Wissenschaft  aber  giebt  es  i'herlieferiing, 
,e  die  Kritik  nach  jenen  Oruudsälzen  der  Analogie  und  der  Korre- 
>iion  behau deltJ)  Dabei  löst  die  Kritik  insbesoudero  die  Haupt- 
Jschungen  der  Überlief erungp  die  Mythen  und  Legenden  der 
eligion,  auf,  indem  sie  deren  Verst(jss  gegen  die  Analogie  heutigen 
eschehens  und  die  leichte  Verständlichkeit  ihrer  psychologisch  eu 
otive  aufzeigt.-)  In  der  Wuuderkritik  steht  Kaut  völlig  auf  dem 
Landpunkt  Humes,  Bald  wendet  er  die  mythische  Erklärung 
1,  die  Wunder  uud  Legenden  aus  dem  psychologischen  Ik^- 
irfnis  der  Versinnlichung  von  Gedanken  ableitet,  bald  die 
itioualistische,  die  aus  der  Überlieferung  einen  möglichen  und 
îûkbaren  Kern    wii'klicher   Geschichte  herausschält.»)     So  ist  die 

*)  Sicherlieit  des  kritiâch  gesichert«]!  historischen  Wissens  IV,  847 
id  352,  Grundsiitsi:e  dieser  Kritik  IV,  155,  wo  auf  Hume  und  Thucydides 
erwiesen  wird.  Wie  Hume  von  natural  lûstory  of  religion  spricht,  so 
rricht  Kant  von  „natüriicher  Gesdiichte  der  Menschheit"  Reicke  U,  314. 
i^leich  notiert  er  die  Ausgangspunkte  einer  solchen  natCirlichen  Ge- 
Uichte;  t, Wilde,  Keime,  Anlagen**.  —  Bedeutung  der  Analogie  für  die 
rähistorie,  der  Urkunden  fUr  die  spätere  Gschichte  IV»  315. 

*)  Am  deutlichsten  bei  Reicke  I^  97:  „Wunder  sind  nicht  Facta, 
indem  übemattirliche  Deutungen  von  Fact.is*%  und  Ebd.  3&8:  ^ Jeder,  der 
Iche  erfahren  zu  Itaben  meint,  darf  sie  innerkalb  der  Grenzen  der  Moral 
ïntttxen**.  So  versteht  er  die  Oberlicferung  des  Nenen  Testaments  aus 
m  Bedingungen  der  Tradition  hei  alten  Völkern:  ,,AUes  ist  hierbei  ganz 
irlich  durcli  nach  und  nach  sich  vermehrende  Tradition  der  Wunder  zu- 
igangen.  Die  Zahlenmystik  bat  liieran  grossen  Anteil.  —  Wer  mag  wohl 
ïT  Redaktenr  der  hibhscben  Schriften  gewesen  sein?  Es  niuss  ein  Juden - 
irist  gewesen  sein.**  Reicke  III,  64.  An  anderer  Stelle  Ebd.  IT,  246 
)tiert  er  die  Frage:  »,Wer  hat  die  Episteln  geschrieben?"  Nueh  skep- 
icher  steht  er  ûem  Alten  Testament^  wie  allem  rein  Orientaliscben,  gegen- 
»er.  Hier  sclieint  ihra  der  aUein  sichere  Punkt,  der  noch  erreichbar  ist, 
ie  griechische  Bibelübersetzung  zu  sein,  weil  sie  eine  Beurkundung  durch 
riechen  d.  h.  der  Kritik  fähige  Menschen  ist.  IV,  165;  VII,  38&.  Die 
ànze  Chronologie  des  Alten  Testament  ist  ihm  als  kabbahstisch  verdäch- 
g  Vll,  379. 

•)  Beispiele  für  mythische  Erklärung:  Der  Sündenfall,  die  Urge- 
îhichte  der  Genesis  VI,  157,  IV,  321;    Kampf  Gottes   und  des  Teufels  VI, 


106  ^^P^  E,  Troeîtsch, 

Baliii  frei  gemacht   für  eine  „natürliche  Geschichte  der  ReligioD". 
die    die    einzelnen  Bildungen  am  allp!:emeSn  verständlichen  psycho- 
loß-iseheu  Motiven  ableitet,   sie  in  ihrem  Zusanimenhanis:  durch  die 
j^anze  Breite  der  Reli^ionsgeschichte  verfolgt  und  sie  in  die  Wechsel- 
wirkung   mit    allen    iihrigen  Leheusei'scheinuniren  hineiustellt     Es 
ist   in    allen   Stücken    das    Verfahren    der    englisch-französischeu 
Oeschiditsphilosophie.     Man    braucht    nur'  Humes  methodische  Kr- 
läuterungen,  Voltaires  Essai  sur  les  moeui-s  et  Fesprit  des  nations 
oder  Condor eets  ^Esquisse    d'un  tableau  historique  des  progrès  de     1 
l'esprit  humain**  zu  lesen,  um  zu  erkennen,    dass  es  sich  um  eine     | 
bereits  Allgemeingut    gewordene  Methode  handelt.     Aber  auch  die 
feinen  Erwägungen  Wegehns  und  die  Kant  gegenüber  noch  etwas 
archaistische  „Weltgeschichte**  Schlözers,  die  übrigens  beide  selbst     j 
auf  englische  und  frarrzösische  Antoreu  weisen,  zeigen  den  gleichen 
Anschauungskreis  und  das  gleiche  BeginffsniateriaL 

Die  Religionsgeschichte,  in  diesem  anthropologischen  Sinne 
betrachtet,  bietet  ihm  vor  allem  das  Schauspiel  des  Bnnten,  Ver- 
wirrenden, Unabsehlicheu :  es  ist  ,,das  grosse  l>rama  des  Religions- 
wechsels" (VlI,  370),  „die  Verschiedenheit  der  Rassen,  der  Sprachen 
und  der  Religionen^,  „die  Ursache  so  vieler  Trennungen  und  gar 
offensiver  Kriege"  (Reicke  11,  H(î8).  Er  hat  nirgends  einen  in 
seine  öffentlich!*  Schriften  aufgenommenen  Vei'snch  gemacht,  diese^ 
bunte  Masse  zu  gUedern,  wie  denn  in  ihnen  überhaupt  jeder  Ver^fl 
such  eineri^Gliederuug  der  empirischen  Geschichte  nach  bloss  em- 
pirischen Zusammenliängeu  aus  den  oben  ausgeführten  Gründen 
fehlt  Thatsächlicb  und  für  seineu  Privatgebrauch  hat  er  jedoch 
solche  Gliederungen  natürlich  vorgenommen  und  sie  bei  allen  Up^ 
teilen  über  die  empirische  Geschichte  vorausgesetzt.  Er  hat  die 
historischeu  Hauptgebilde  gesondert  und  sie  in  einen  Entwicke- 
lungszusauHuenhaug  gebracht,  der  aus  dem  psychologischen  Grund- 
gesetz des  anfänglichen  Überwiegens  der  Sinnlichkeit  end  des  allJ 

174;  Die  Jtin^fraii  en  gehurt  Reicke  III,  53;  Cbrißti  Höllenfahrt  analog  den 
Hade.sfabrten  der  antiken  Heroen  Reicke  11,  182;  ebenda  Analogie  von 
Christi  Versuchting  mit  Erzählung  von  tibetanischeii  HeiUgen;  Himmel- 
fahrt und  Auferstehung  Christi  VI,  227,  Vll,  307;  Die  Opfeniu^  Isaiikd 
Vn,  379.  Beispiele  rittionalistisch-natürticber  Hrklilnuig:  Pfing:stgeschicht« 
VII,  383;  Durcbgang  durch  das  rote  Meer  Ktig:elgen  51;  Sümiflut  Ebd.  36; 
Wachtelspeisiuig  in  der  Wtiste  Ebd.  34;  Das  götthche  Strafgericht  über 
Sanherib  EbcL33:  Die  jüdische  Propbetie  als  St'hreckung  durch  die  Folgen» 
die  aus  der  prophetischen  Verhetzung  des  Volkes  selbst  s^ich  naturgemäS8 
ergeben  mussten  und  daher  leicht  voramsgesehen  werden  konnten. 


L 


Das  Historische  in  Kants  BeligionsphilosopMei 


107 


mählich    im   Kampf   eiotn'teudeii  Überwi«^|Groiis    der  Vf^ruunft    ver- 
ständlich ist  (Reicke  II,  224),     Ein   besonders  merkwürdiges  loses 
Blatt  zeichnet  die  Hauptgruppen  der  empirischen  Religions^eschichto 
und  kann  aus  anderen  gelegentlichen  Notizen  zu  einem  Abriss  von 
ihr   vervollständigt    werden.^)     Zuerst  kommen    die    Wilden    mit 
ihrer  rohen,  sinnlichen   und  authrnponiorphistischen  Natnrdeutnng, 
die  anter   dem  Einfhiss   von  Furcht  und  Hoffuung  die  Götterwelt 
I  eines  rohen  ungeordneten  Polytheismus  erzeugt.    Die  „erwartungs- 
j  volle  Einbildungskraft"    des    Menschen    sieht    tiberall  Zeichen  und 
Wunder  (VI,  363),  und  FiUTht  und  Hoffnung  erkünsteln  in  der  Seele 
allerhand  aufgedrungene  Göttervorstellungen  (VII,  359),     Zauberei, 
Geister  und  Priester  sind  die  wesentlichen  Elemente  einer  solchen 
Religion;  und  diese  Priesterreügion  ist  die  älteste  alter  I Hchttmgt^n 
(VI,  113),     Diese  von  der  Furcht  im  Bewusstsein  des  linvermögens 
dem  Menschen  abgenötigten  knechtischen  Götzenilieiiste  haben  wohl 
I  Tempel,    aber   keine  Verfassung,    kein  Gesetz,    keine  Bibel,    aller- 
höehstens  prit^terliche  Tradition  und  sind  darum  schwankend  und 
ansicher  (VI,  275;  VII,  367;  VI,  20b}.     So    sind  Reste    des  alten 
i  Hinduismus   in  den  Zigeunern  erbalten,    die  zeigen,  wie  w^eit  eine 
^solche    ReUgion    der   Tradition    von   dei'   des  Buches    entfernt  ist 
KU,  235).     Eine  solche  Ableitung  der  ältesten  Religion  aus  anthro- 
rpomorphisierender  Pliantasie    und    aus    l^'iircht    und  Hoffuung  soll 
80  wenig  wie   bei  Hnmo  eine  nattWiche  Neigung  und  innere  Noti- 
I  gtmg   zu    derartigen  VorstelUingsbildungen  ausschliessen,    aber  sie 
soll    die  Gründe    ihrer  eminrischeu  Gestaltung  aufdecken.-)     Über 
dieser  dauernd  wirksam   bieil*eiiden  Unterschicht  erheben  sich  nun 
drei    grosse    Klassen    von    Reiigionsbildungen.     Ein    weiteres   und 
späteres  Motiv    der    religiösen    Gedankenbildung   ist   nämlich    das 
Forschen    nach    einer   obersten  Ursache,    ganz   so    wie  Hume  den 
Gebilden  von  Furcht  und  Hoffnung  die  Gebilde  einer  anf  Ursache 
Ï)  Beieke  U,  238  f.    Das  Blatt  giebt  nur  abgerissene  Notizen,  die  ich 
hier   in  Satze    auflöse   und    unter  Heranziehung  anderer  Stellen    ergänze. 
Dus  Blatt  stammt  nach  Reicke«  sehr  wahrscheinlicher  Verumtiiug  spätestens 
atiB  den  70  er  Jahren.     Das  ist  aber  für  unseren  Zweck  unerhebüch. 

^  Hume,  The  natural  history  of  religion  (in  Essays  and  treaties 
Basel  1793  IV)  S.  78:  „The  nniversal  propensity  to  believe  in  invisible,  in- 
I  teUigent  power»  if  not  an  orig^inal  instinct^  beings  at  least  a  jsreneral  atten- 
dant of  human  nature  may  he  considered  as  a  kind  of  raark  or  stamp^ 
which  the  divin  workman  has  set  on  his  work.**  Kant»  Meinung  ist  sicht- 
üch  die  gleiche.  Im  vorkritiachen  Sinne  setzt  das  Blatt  noch  den  Trieb 
nach  dem  All  der  Reabtäten  als  tiefsten  Gmnd  voraus,  der  denn  auch 
'  diesen  Gebilden  von  Furcht  und  Hoffnung  zu  Grunde  liegt. 


108 


E.  Troeltêch, 


îiDd  Zweck  der  Welt  sich  erstreckenden  Reflexion  folgen  lässt 
Dieses  Forschen  führt  nnti  durch  seine  verschiedene  Richtung  auf 
die  drei  Hanptklassen.  r>as  erste  ist,  dass  die  Speknlation  anf 
das  natiii'liche  Urweseu,  das  oherste  logische  Ideal,  ffihrt.  8ie  er- 
fasst  dann  die  oberste  und  ewige  Ursache,  das  Substratum  der 
Welt.  I»ie  Götter  des  Polytheismus  werden  zu  Untergöttern  und 
Landesguttern,  Das  zweite  ist  die  Auffassung  des  Urwesens  als 
eines  „frei  handelnden  Wesens,  als  Prinzip  der  natürlichen  Ord* 
nung.  Das  Leben  kann  allein  den  ei-sten  Anfang  machen*  Daher 
hier  der  erste  Beweger,  der  lirheber,  der  oberste  Geist,  der  leben* 
dige  Gott."  Es  ist  der  anthropniuorpho  Theismus.  Als  eijie  be- 
sondere Unterart  tlieser  beidt-n  spekulativen  Religionsbildimgen 
notiert  er  den  Pantheismus  oder  Spioozismus,  den  er  anderwärts 
mit  dem  Buddhismus  und  Taoismus  gleichsetzt,  ja  nur  fiii'  eine 
Süblimieniiig  der  tibetanischen  Religion  erklärt  (VI,  :^67),  Es  ist 
ihm  ein  ungeheuerliches  System,  das  er  nur  aus  dem  uubegrenztfiû 
Durst  nach  Seligkeit  erklären  kann,  wobei  das  Streben  nach  völlig 
übereudlicliem  Genuss  in  das  Nichts  umsehlägt.  Unter  diese 
Klassen  gehören  wohl  auch  die  anderwärts  genannten  Keligionen, 
die  in  ihren  Göttern  Begriffe  personif icieren  ;  es  sind  sichtlich  die 
allegorischen  Religionen  HumesJ)  So  notiert  er  (Reicke  IIL  49) 
die  ägyptische  Triuität:  Phta  der  von  der  Materie  unterschiedene 
Geist,  Knepb  die  Gütigkeit,  Neith  die  Weisheit.  Daneben  stellt  er 
die  parsistische  Trinitat,  die  er  anderwärts  als  Allegorie  des 
Kampfes  zwischen  dem  (TUten  und  Bösen  hezeichnel  (VI,  239\ 
Diese  ägyptische  und  parsistische  Trinitat  parallelisiert  er  dann 
iveiterhin  mit  der  christlichen  und  brahmanischen,  ja  auch  mit  einer 
altgermanischeu:  din  Götterdreiheit  ist  Jedesiiial  *'ine  Allegorie  der 
zum  Regieren  nötigen  Eigenschaften,  der  schriplViischen  Urmacht, 
der  regierenden  (iütigkeit  und  der  diese  einsrhränkenden  Weisheit 
oder  Gerechtigkeit  (VT,  239).  Besondere  Züge  fügt,  diesen  Reü- 
gionen  noch  das  Bedürfnis  nach  einer  Eschatologie  hinzu,  wo  ein 
Weltplati  zui'  I?ettung  der  ersehnten  Lebensgüter  ersonnen  wird, 
und  wo  in  mumi  unabsehlicheu  Wirrwarr  doch  meist  alte  Ideen 
wiederkehren:  Hauitttypeu  siud  neben  dem  Messianismus  der  Juden 
und  der  Eschatologie  der  Christen  der  Fatalismus  der  Derwische 
Uïid  der  Pessimismus  der  brahmanischen,  tibetanischen  und  anderer 
Weisen  des  Orients,  der  sogar  einen  Piaton  angesteckt  hat  (\1, 
368  f.,  363).  Au  diese  beiden  Klassen  schliesst  sich  dann  aber 
1)  Hume,  Nat.  hist,  2ô  f. 


Das  Historische  in  Kants  Beligionsphilosophie.  109 

eine  dritte  an,  die  bei  Hume  infolge  seiner  Skepsis  gegen  die 
ethischen  Elemente  der  Religion  und  überhaupt  gegen  alle  aprio- 
rische Ethik  fehlt,  die  Klasse  der  Religionen  aus  Moralität.  „Es 
moss  ein  inniglich  gegenwärtiger  allgemeiner  Richter  sein."  Ihr 
Hauptbegriff  ist  der  des  „heiligen,  gütigen  und  gerechten  Wesens**, 
und  sie  wurzelt  in  der  Neigung,  „den  Lauf  der  Natur  an  Gesetze 
der  Moralität  anzuknüpfen"  VI,  168.  Unter  diesen  Begriff  fällt 
für  Kant  freilich  nur  das  Christentum  und  die  ihm  verwandten 
Elemente  der  Spätautike,  vor  allem  des  Stoicismus.  Die  ethischen 
Memente  im  Parsismus  werden  gerne  betont,  aber  er  kommt  mit 
seinem  Dualismus  gegen  die  beiden  ersten  nicht  auf.  Das  Christen- 
tum ist  für  Kant  historisch  sehr  isoliert.  Es  hatte  eigentlich  im 
Orient  so  gut  wie  gar  keine  historische  Anknüpfung  (Erdmann 
I  1,  214),  um  so  mehr  allerdings  im  Occident.  Hier  sind  Anaxa- 
goras,  Sokrates,  Piaton  und  die  philosophierenden  Römer  Vertreter 
eines  „moralisch  bestimmten  Theismus",  „gute  Christen  in  poten- 
tia"  (Reicke  HI,  37,  38).  Nicht  dagegen  rechnet  er  hierzu  das 
Judentum.  Es  ist  ihm  barer  Polytheismus,  wie  jede  Religion  mit 
bestimmten  Götternamen  Polytheismus  ist,  weil  sie  sich  dadurch 
von  anderen  Volksgöttern  unterscheiden  will  (Reicke  HI,  39;  II, 
105).  Es  ist  ihm  eine  durch  Religion  gesicherte  und  gestützte 
politische  Bildung,  wie  das  Altertum  überhaupt  die  Religion  gerne 
im  Dienste  der  Politik  und  der  Herrschaftsbegründung  verwendete 
(Reicke  11,  224;  Erdmann  I  1,  200,  209).  Er  gesteht  ihm  höch- 
stens zu,  dass  es  zur  Hervorbringung  einer  reineren  Religion 
schicklicher  war  als  seine  orientalischen  Nachbarn  (Reicke  II,  105). 
Dazu  mögen  es  die  im  Spätjudentum  „angehängten  moralischen 
Zusätze"  (VI,  224)  befähigt  haben,  unter  denen  Arnoldt  wohl  mit 
Recht  die  Aufnahme  des  Unsterblichkeitsglaubens  erkennt.  ^)  Sehr 
wenig  Beachtung  schenkt  Kant  dem  Islam,  der  ihm  nur  eine  Kirche 
neben  der  jüdischen,  persischen,  buddhistischen,  christlichen  ist 
(Reicke  HI,  82).  Er  betont  an  ihm  nur  den  Fanatismus  und  die 
Eklusivität,  worin  er  ein  typisches  Beispiel  der  Motive  und  Wir- 
kungen der  Kirchenstiftung  überhaupt  ist  (VH,  367). 


^)  Arnoldt,  Krit.  Exe.  S.  257.  Hier  wird  wohl  auch  mit  Recht  auf 
Beimanis  als  die  QueUe  dieser  Anschauung  verwiesen.  Übrigens  ist  in 
dem  Ganzen,  in  dem  Ausschluss  des  doch  so  natürlichen  Unsterblichkeits- 
glaubens vom  Judentum,  welcher  Ausschluss  nur  aus  einer  besonderen 
politischen  Berechnung  erklärbar  ist,  die  berühmte  Warburtonsche  Kontro- 
verse zu  erkennen. 


110 


E.  TroelWcl 


Eine  Hauptunterscheidung  unt-er  diesen  so  Terstaudenen  Reli- 
gionen bildet  natiir^emäss  der  Gegensatz  von  Polytheismus  und 
Monotheismus,  Aber  auch  hier  folgt  Kant  Hume  darin,  dass  er 
weit  davon  entfernt  ist,  den  Monotheismus  ohne  weiteres  für  die 
höhere  Ent^ieklungsstufo  zu  halten.  Nor  sind  freilich  seine  Gründe 
andere.  Nicht  das  mit  beiden  verbundene  Jlass  von  Toleranz, 
sondern  das  der  etliischen  Beziehungen  entscheidet  für  die  Höher- 
stelluijg.  Aber  hier  findet  Kant,  dass  der  Monotheismus  sehr  leicht 
ganz  abergläubisch  und  ceremonieü  sein  kann,  während  der  Poly- 
theismus sehi-  hoch  steh»^D  kann,  wenn  er  den  einzelnen  Göttero 
die  verschiedenen  Gebiete  des  Sittlichen  als  Departements  zuweist, 
(Reicke  H,  245,  359;  DI,  37.) 

Eine  weitere  Schattierung  bringt  in  das  Bild  der  Unterschied 
von  Orient  und  Occident.  Vielleicht  in  absichtlichem  Gegensatz 
gegen  Hamanns  und  Herders  Verherrlichung  des  Orients  sieht  Kant 
im  Orient  nichts  als  ein  Übermass  träger,  hochmütiger  Phantastik 
ohne  Sinn  für  das  Schöne,  für  Verstandesbegriffe,  für  reine  Grund- 
sätze der  Gesinnung.  „Die  orient aUschen  Nationen  würden  aus 
sich  seihst  sich  niemals  verbessern.''  Dahingegen  ,,müssen  wir  im 
Occident  den  kontinuierlichen  Fortschritt  des  menschlichen  Ge- 
schlechtes zur  Vollkommenheit  und  von  da  die  Verbreitung  auf 
Erden  suchen."  Und  zwar  sind  es  hier  die  Griechen,  welche  die 
natürhchen  Aulagen  für  eine  solche  Entwickelung  besitzen.  Freilich 
sind  auch  sie  mehr  anschaulich  begabt  und  daher  zu  den  eigent- 
lich abstrakten  Begriffen  noch  nicht  vorgedrungen.  Immerhin  aber 
sind  sie  die  Träger  alles  geistigen  und  ethischen  Fortscluuttes. 
Im  Orient  hat  eigenthch  nur  Jesus  den  Bann  durchbrochen  :  „Wenn 
wir  schon  occidentale  Bildung  hatten,  so  konnten  wir  in  die  orien- 
talischen Schriften  Verstand  hineindenken,  niemals  aber  haben  sie 
diU'ch  sich  selbst  den  Verstand  aufgeklärt.  Es  war  zwar  einmal 
ein  Weiser,  welcher  sich  ganz  von  seiner  Nation  unterschied  und 
gesunde  praktische  Religion  lehrte,  die  er  seineu  Zeitläuften  ge- 
mäss in  üSiB  Kleid  der  Bilder  und  Sagen  u.  s>  w.  einkleiden  nmsste; 
aber  seine  Lehren  gerieten  bald  in  Hände,  welche  den  ganzen 
orientalischen  Kram  darüber  verbreiteten  und  wieder  aller  Vernunft 
ein  Hindernis  m  den  Weg  legten."  (Erdmano  I  1,  204,  214; 
Reicke  H,  314.) 

Damit  ist  schon  die  Bedeutung  betont,  welche  zufällige  Ver- 
anlagungen, natürUche  Verhältnisse  des  Bodens  und  Kümas,  des 
Temperaments  und  Naturells,   des  Alters    und  Geschlechts   fiir  die 


Das  Historische  in  Kants  Beügionsphilosophie.  111 

Bildung  der  Religionsvorstellungen  haben.  Wie  Montesquieu  die 
Wirkungen  der  Umwelt  auf  die  historischen  Gebilde  untersucht 
und  wie  Rousseau  die  Zugehörigkeit  zu  einer  bestimmten  Religion 
als  eine  „affaire  de  géographie"  bezeichnet,  so  spricht  Kant  von 
einer  „theologischen  Geographie",  die  analog  der  politischen,  mo- 
ralischen und  merkantilischen  Geographie  „die  theologischen  Prin- 
zipien nach  der  Verschiedenheit  des  Bodens"  darstellt  (Erdmann 
I  1,  46).  Insbesondere  die  natürliche  Veranlagung  der  Phantasie 
übt  einen  starken  Einfluss  auf  die  Religion  aus.  Die  Phantasie 
der  Orientalen  ist  masslos  und  doch  unproduktiv  ;  die  Überschwäng- 
lichkeit  der  Phantasie  macht  Schwärmer;  die  Verbindung  solcher 
Phantasie  mit  Vernünftelei  macht  aberwitzig;  Herrnhuter,  Pietisten, 
Böhme,  die  Guyon  sind  schrifttoll  (Erdmann  I  1,  100  f.  124).  Um- 
gekehrt prägt  aber  auch  die  Religion  Naturell  und  Charakter  des 
Volkes  mit  allerhand  zufälligen  Zügen:  die  Juden  charakterisiert 
die  Peinlichkeit,  den  Islam  der  aggressive  Hochmut,  den  Hinduis- 
mus der  Kleinmut  (VI,  283  f.). 

Nicht  minder  beeinflusst  ist  die  Religion  durch  ihre  Ver- 
flechtung mit  dem  übrigen  Leben.  Diejenigen  Kulturstufen  oder  Be- 
schäftigungen, die  viel  mit  unberechenbaren  Gefahren  zu  thun  haben, 
neigen,  wie  auch  Hume  hervorhebt,  ^)  zum  Aberglauben  (VII,  597). 
Die  Religion  wirkt  auf  den  Staat  und  der  Staat  auf  sie.  Wie 
nichts  zur  Beherrschung  der  Menschen  so  behilflich  ist  als  Macht 
über  ihre  Phantasie,  so  bedient  sich  der  Staat  der  Religion,  um 
die  Phantasie  zu  leiten  (Erdmann  I,  209,  115,  108,  99  VH,  377). 
Die  von  der  Natur  gewollte  Trennung  kämpfender  Staaten,  welche 
eine  zu  frühe  und  gehaltlose  Uniformität  verhindern  sollte,  wird 
vor  allem  bewirkt  durch  die  Befestigung  dieser  politischen  Tren- 
nungen in  religiösen  Gegensätzen  und  Ausschliesslichkeiten,  sodass 
die  Religionsdifferenzen  als  ein  Hauptfaktor  der  Entwickelung 
gelten  dürfen  (Reicke  H,  308  VH,  657).  Die  Religion  sanktioniert 
Gesetze  und  Gebräuche  und  macht  dadurch  das  Recht  fest,  wie 
das  bei  der  Kastengliederung  der  Indier  geschieht  (VI,  326).  Sie 
ist  in  Ausdruck  und  Götternamen  bestimmt  durch  die  Sprache, 
und  Kant  rät  die  empirische  Religionsgeschichte  vor  allem  durch 
Benutzung  der  Sprachgeschichte  aufzuhellen,  wie  er  selbst  seine 
Liebe  zu  etymologischen  Erklärungen  auf  diesem  Gebiete  oft  sehr 
zuversichtlich  bethätigt  VH,  361.  Andere  Verwickelungen  erwachsen 


>)  Hume,  Nat.  hist.  13. 


118 


E.  Troeltsch, 


n 


ihr  aus  dem  Eiüfliiss  einer  rohen  Wissenschaft,  wo  Kant  nament 
lieh    Astrologie    und    Zahlenmystik    eine    grosse    Rolle    bis  in  die 
Bibel    hinein    spielen    lässt   und  ihrem  Einfluss  vor  allem  die  Uu- 
fruehtbarkeit    der    orientalischen  Religionen    zuschreibt   (VII,  509,j 
Krdmann  I  1,  2iHl 

So    fehlt    es    auch    riaturgemäss   nicht  an  religionsgeschicht* 
liehen  Vergleichiitigen    der    verschiedenen   Ersclieinungen    bei  ge- 
trennten Völkern»  die  entweder  aus  natürlicher  Analogie  oder  aus 
Entlehnung  abgeleitet  werden;    so  die  Ableitung  des  eleusioischen 
Festruies    konx    oöipax    aus   dem  Buddhismus  (VI,  426),    die    Er- 
klärung des  sog.  noachischeo  Blutverbotes  als  mythische  Fixienin^ 
des  Übergangs  vom  Jägerleben  zum  Ackerbau  (VI,  430),  die  ana- 
loge Erkläi-uog   des    Hamlwahrsagens,  der  Astrologie,   der  griecht 
scheu  Orakel,    des  Scham  an  entums»    der   römischen   Augurien    und 
Harnsiiieien,  der  Pythia  und  der  Zigeuneriu  (VIT,  393.  VU,  b03)^M 
die  Reduktion  des  Jüdischen  Bestattungsw^esens  auf  das  ägyptische^ 
(Kügelgen  32),  die  Erklärung  der  ouiinösen   Bedeutung  der  linken 
Seite    aus    der  Gewohnheit  des   linkshändigen  Waffentragens  (VI^H 
491)*    Die  pHrsische  und  altgermanische  Religion  sind  wegen  sprach- 
licher Älinliehkeit  der  Götternauien  stammverwandt  (VI,  3l31).    Die 
allegürische  Methode  ist  eine  allen  Reügionen  gemeinsame  Art  ûe^Ê 
Anpassung  heiliger  Texte  au  Vernunft f orderungen,  die  bei  Stoikern 
und  Piatonikern  ebenso  wie  bei  Juden  und  Christen,  bei  Muslimen 
und  Indiern  geübt  wird  (VI,  208  f.).    Die  die  Gottheiten  bearbeiten- 
den Gnadenmittel    sind  ein  Rest  des  Fetischismus  und   das  Papst- 
tum ein  Rest  des  Schamaneutums  ;  die  christUchen  Sakramente  sind 
den   muhamedanischen  fünf  Hauptgeboten    analog    (VI,  239,   299). 
Die  Exklusivität  der  Kirchenreligionen  geht  auf  den  Hochmut  des 
Stifters  zurück,    „als  habe  er   den  Begriff  der  Einheit  Gottes  und 
dessen  übersinnliche  Natur  allein  wiederum  in  der  Welt  erueueil"*. 
Das   gilt   besonders   vom    Islam,    der   „statt   an  Wundern  an  den 
Siegen    und    Unterjochung   vieler    Völker   die    Bestätigung    seines 
Glaubens  findet^^  VI,  283  fJ) 


*)  Die  Methode  reUg:iünageschichtlicber  Vergleichung  und  Erklärung 
ist  jenem  Zeittdter  durchaus  geltlufig.  Das  betont  Gunkel  ^Zum  religions- 
geschichtlichen Verständnis  des  N.  f ,"  Güttingen  1903  mit  Recht,  vgl,  die 
Litteraturangaben  S.  1  f.  Hier  haben  erst  Sclileiermacher,  Hengstenberg, 
aber  auch  die  Bäurische  Schale  und  ihre  Konstruktion  des  Christentums 
als  immanenter  Eiitwickeliiiig  aitfgerÄumt,  Was  heute  Usener  „Religions- 
geschichtliche    Unt^i^uchungen"    und    Dieterich    „Nekyia^    wollen,    ist  imj 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie. 


113 


Besonders  interessant  ist,  dass  Kant  sich  hier  nirgends  mit 
der  blossen  IndividualpsycholoiErie  begnügt,  sondern  sehr  nachdrück- 
lich sozialpsycbolugische  Begriffe  verwendet»  Er  geht  auch  hier 
Zunächst  in  der  Bahn  des  englischen  Psychologisnins,  *)  der  die 
Gesellschaft  aus  Interessen  und  Überlegungen  des  Individuums, 
weiterhin  ans  Trieben  der  Sympathie  und  aus  der  in  das  fremde 
Subjekt  sich  hineinversetzenden  Phantasie  aufbaut.  Aber  iudem 
für  Kant  die  sozialpsyehischeti  Gebilde  in  eine  gleich  näher  7M 
schildernde  Verbindung  mit  seinen  ethischen  Ideen  der  Allgemein- 
giltigkeit  des  Sittengosetzes  und  der  ethischen  Vollendung  der 
Gattung  treten,  gewinnen  sie  eine  besondere  Bedeutung  und 
Färbung,  Und  ganz  besonders  ist  das  der  Fall  auf  dem  Gebiete 
der  Religion.  Im  Menschen  sind  von  Hause  aus  egoistisch-isolie- 
rende imd  sozial  verein igeiuh^  Triebe  vorausgesetzt-  Damit  sind 
die  Einseitigkelten  von  Hobbes  ujui  Rousseau  abgelehnt.  Ans 
dem  Gegensatz  dieser  Triebe  geht  dann  nun  aber  nicht  die  Ge- 
sellschaft, sondern  ein  Kampf  einzelner  sich  sozialisierender 
Gruppen  hervor:  „Die  Jlensehen  liaben  eine  Fähigkeit  und  Trieb 
iu  Gesellscbaft  zu  treten;  aber  sie  misstrauen  einander  wegen  der 
Gewaltthätigkeit.  Daher  versucht  eiuer  dem  andern  aus  FiU'cht  zu- 
voi-zukomnien,  sie  verbinden  sich  in  kleiner  Menge,  um  einander 
zu  vertreiben''  (Reicke  II,  315),  Wie  der  englische  Psychologismus 
in  diesem  Kampfe  durch  das  wohlverstandene  luteresse  und  durch 
die  in  den  Standpunkt  des  Betrachters  sich  einstellende  Phanta- 
sie die  höheren  Gesellschaftsformen  entstehen  lässt,  so  hlsst 
auch  Kant  sie  slus  dem  Kampfe  hervorgehen  und  bezeichnet  er 
gerade  diesen  Kampf  als  das  Mittel,  w^odurch  die  Natur  die 
höheren  rechtlichen,  poUtisclien  und  sozialen  Bikliingeii  hervor- 
gehen lässt.  Aber  sie  tbut  das  doch  nur,  indem  die  so  bewirkte 
Brocliung  des  sinnliclien  Egoismus  und  die  so  herbeigeführte 
Gemeinsamkeit  Aidass  wud  Raum  giebt  für  die  Kinigung  aus 
Veniunftprinzipien.      Die    rein    sozialpsychischen    (j ebilde    rücken 


Prinzip  die  Fortsetzung  der  Tendenzen  des  18.  Jahrhundert«.  Audi  liier 
formen  sich  heute  durch  Wiederberflhriin^  mit  dem  Geiste  dieses  Jahr- 
hunderts die  Probleme  neu.  Die  ForMchungeii  in  den  Bahnen  der  ßje- 
nannten  Thetdogen  haben  «ich  erscliOpt,  und  es  treten  die  alten,  damals 
zurückgedrängten  Probleme  neu  her  vi  »r.  Kant,  der  Übrigens  aucli  an  diesem 
Punkt  phantÄsit'loser  ist  ab  die  ührigen  Geschicktsphilosoiihen  seinerzeit, 
würde  gegen  die  Methode  nichts  einzuwenden  haben, 

V)  Vgl.  meinen  Artikel    „Morahsten,    englische",    Prot.-ReaL-Encykl.^ 

KAutaliidiaEi  IX,  g 


114 


M.  Troeltich, 


damit  bei   ihm  an  die  Sphäre  der  Vernunft  heran,   sie  geben  der  - 
Vernunft    Anlass   zum    Hervortreten,    empfangren    von    der   Ver-  j 

nnnft  erst  die  eigentliche  und  wirkliche  Festigkeit  und  unterstützen 
wieder  die  bloss  ethisch-rationale  Gememsamkeit  durch  natürliche 
Motive  (Reicke  U,  224).  „Die  Menschengattung  ist  als  eine  ans 
dem  Bösen  zum  Guten  in  beständigem  Fortschieiten  unter  Hinder- 
nissen emporstrebende  Gattung  vernünftiger  Wesen  darzustellen; 
wobei  dann  ihr  Wollen  im  Allgemeinen  gut,  das  Vollbringen  aber 
dadurch  erschwert  ist,  dass  die  Erreichung  des  Zweckes  nicht 
von  der  freien  Zusammenstimmuug  der  Einzelnen,  sondern  nur 
durch  fortschreitende  Organisation  der  Erdbürger  in  nnd  zu  der  Gat- 
tung  als  einem  System,  das  kosmopolitisch  verbunden  ist,  er-  ■ 
wartet  werden  kann**  VII,  658 J)  Damit  habe  ich  freilich  der 
späteren  Darstellung  vorgegiiffen  und  in  die  bloss  erapirisch-an- 
thropologischen  Begriffe  die  rational-ethischen  hineingezogen.  Aber 
wie  die  letzte  Stelle  der  ^Anthropologie"  entnommen  ist,  so  ist  M 
überhaupt  die  Bedeutung  von  Kants  Sozialpsychologie  nur  durch 
diesen  Zusammenhang  klar  zu  machen.  Es  ist  der  Grund  ihrer 
Hochscbätzung  und  das  Motiv  ihrer  Gestaltung,  Wie  in  der  In- 
dividualpsychologie  die  künstliche  transscendentale  Trennung  des 
Kausal-Empirischen  vom  Intelligibel-Rationalen  nicht  festzuhalten 
ist,  so  ist  das  eben  auch  in  der  Sozialpsychologie  der  FalL  In 
den  psychologischen  Zwecksetzuugen  wirkt  ein  latenter  Trieb  auf  I 
die  Idee:  „Alles»  was  sich  erhalten  soll,  ranss  eine  Gemeinschaft 
der  Richtung  haben,  und  verschiedene  Zwecke  müssen  nach  einer 
Idee  zusammenhängen,  welche,  wenn  sie  gleich  nicht  intendiert 
ist,  doch  den  Ausgang  ihrer  widerstrebenden  Bestrebungen  aus- 
macht, in  welchem  sie  alle  vereinigt  werden  können"  (Erdmann 
1 1,  218),  Aber  Kant  hat  doch  die  empirisch-psychologischen  Be- 
dingungen sorgfältig  beachtet,  welche  ein  solches  GemeinbewTisst- Ä 
sein  hervorbringen  und  befördern  :  die  Regierung  als  Ergebnis  der 
im  Kampf  aufgedrängten  Organisation  und  als  Mittel,  durch  Zwang 

*)  VgL  Erdmann  I  !,  210  „Hier  liegt  nun  die  Scliwierigkeit,  das» 
das  Gute  einzeln  (?)  nur  vuni  Allgemeinen  erzeug  werden  kann,  das  Gut« 
aber  nicht  aU^emein  werden  ktinn  tihne  das  Einzelne .  .  ,  Es  ncheint  alles 
darauf  anzukommen,  dass  man  von  dem^  was  allgemeinen  Einfluß  hat» 
d.  i.  von  der  Rej^erun^  anfanp^îe.  Hier  muss  man  Philosophen,  Gescldcht^ 
achreiher,  Dichter,  voniehmlicii  Geistliche  ersuchen,  diese  Idee  vor  Augen 
zu  haben.  Die  Geseilschaft  ist  die  Büclise  der  Pandora,  wo  alle  Talente 
und  zugleich  Neigungen  entwickelt  ausfliegen,  aber  auf  dem  Boden  sitzt 
die  Hefe/'    Das  letztere  Bild  ist  häufig  wiederholt. 


Das  Hiâtorisclie  in  Kants  BeLigionsphilosaphie. 


115 


die  Gemeinsanikeit  zu  beförderü  (Erdmauii  II,  210);  die  Sug- 
gestJOQ,  die  den  esprit  de  corps  crzeugl.  und  die  von  der  Summe 
der  Eiuzelwirkmigcti  so  verschiedene  Masseiiwirkimg  hervorbringt 
(ErdmauD  I  1,  143);  die  beständige  Selbsterweiterung,  die  in  der 
Aofsnchuug  von  Genossen,  in  der  beständigen  Gegenwart  eines 
imagiiüerten  Zuschauers  liegt  (lleicke  I.  25H).  Der  Wille  hat  eiue 
Tendenz  dazu,  Gesamtwille  zu  werden:  ^Es  ist  eine  besondere 
Neigung  des  Menschen  zur  Vereinigung  io  einer  Gesellschaft,  nicht 
immer  der  Einigkeit  ihrer  Gesinnungen  wegen,  sondern  um  einen 
vereinten  Willen»  dessen  Kraft  stärker  ist,  heiTorzub ringen,  und 
aus  einer  Liebe  zum  System^  d.  i.  zu  einem  Ganzen  nach  Ge- 
setzen'' (Erdraanu  I  1,  206).  Die  Anwendung  dieser  sozialpsycholo- 
gischen Gedanken  auf  die  Gescluclite  der  Staaten  und  des  Rechtes 
ist  bekannt.  Nicht  minder  bedeutend  ist  sie  aber  auch  auf  dem  Ge- 
biete der  Religion,  Hier  machen  sie  zunächst  die  im  Zusammenhang 
mit  dem  St-aat  entstehenden  Nationalreligionen  verständlich.  Sie 
äussern  sich  aber  vor  allem  auf  dem  Gebiet  der  ethischen  ReU- 
giouen,  die  am  der  Schwachheit  der  Menschen  willen,  d.  h,  um 
ihrer  psychologisch-anthropologischen  Beschaffenheit  willen,  um-  in 
brm  einer  organisierten  Geraeinschaft  bestehen  können  und  dieses 
ehikel  für  immer  voraussetzen.  Anch  die  reinste  Religionsidee 
w^ird  niemals  freie  Zusammenstimmung  einzelner  tJberzeugungen, 
sondern  immer  auch  ein  anthropologisch- soziatpsychisches  Ge- 
ilde  sein.  V) 

Damit  ergeben  sich  schliesslich  auch  die  Grundzüge  einer 
Phänomenologie  der  Religion,  und  es  ist  begreiflich,  dass  Kant 
eine  solche  im  Grunde  nur  von  den  organisierten  Religionen  oder» 

Ifrie  er  sagt,  Kirchen  abstrahiert  Die  nichtkirchlichen  Religionen 
teigeu  ihm  nur  die  Phänomenologie  des  lockeren  Aberglaubens,  Aber 
be  verkirehhchten  Religionen  weisen  ihm  eine  phänomenologische 
îleîcliartigkeit  von  hörhster  Bedeutung  auf,  die  sowohl  für  die 
Beuileihmg  der  empii'iscben  Religion  überhaupt  als  insbesondere 
für    eine    kritische    Reinigung    des   Christentums    gi'osse   Dienste 

Ï»)  Rel.  i,  d.  G.  d,  bh  V.  VF,  im  ff.,  200  ff,  218.  Erat,  ivenTi  diese 
gemeineîï  psyoholofjisehen  Theorien  heraii^ezojafen  werden,  wird  die  Ge- 
'inscbaftslehre  den  Buches  verstund  lieh,  dan  die  reiTi  ethij^che  Uesiminugs- 
inoinschaft  de.s  Tugendreichej*  mit  der  Stiftung?  einer  empirischen  Oe- 
meinschaft  ^um  der  Schwäche  der  Menschen  willen**  verkoppelt.  Die 
Wertung  des  Psycho  h  »fischen  rds  ^Schwäche^  ist  ein  bei  Kant  Inliifig-er 
Umschlag,     Vgl.  Hegler. 


IUI 

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SO] 


îie 


E.  Troeltsch, 


leistet.    Mit  jedem  Goltesbegriff  ist  die  Notwendigkeit  eines  Kultus 
verbundeil,    und    mit    diesem  die  Verkirchüchung  samt  allen  ihren 
verhängnisTollen  Folgen  (Reicke  ü,  85).     Sie  ist  so  uneotbehrltch 
als  reich  an  Gefahren  und   Schäden.     Wie  jeder  Staat  seinen  Ur- 
sprung mythisch  verherrlicht  und  in  ihm  die    Gründe  der  Geltung 
seiner  Gesetze  sucht,  so  bedarf  noch  mehr  eine  Kirche  ihres  grossen  m 
Stiftungsmythus,  des  Wunders  ui^d  der  Legende.    Es  scheint  keine" 
starke    Gemeinschaftsbildung     unter    Menschen    möglich     zu    sein 
ohne    solche    Verherrlichung    und    Vergöttlichung    der    Anfäugofl 
(Reicke  m,  4R).      Auf    Grund    dieser    Auffassung   ihrer   Anfänge" 
fordert,    aber    dann    die    lÜrche     weiter    geheimnisvolle    Dogmen, 
Gnadenmittel,  Sakramente,  Übernatürlichkeiteu  und  die  Festlegung 
aller  dieser  Dinge  in  einem  heiligen  Buch.     Sie  fordert  mit  einem 
Wort  den  Supranaturalisnius,  aus  dessen  Wesen  sich  alle  weiteren  ^ 
Folgen    ergeben.     So   entstehen  die  von  Kant  stets  zusammen  ge«^ 
nannten  grossen  Bibeln  der  Menschheit,  der  Veda»  der  Zendavesta, 
der  Koran,   die  jüdisdi-chnstliche  Bibel.     Das  alles  aber  erfordert, 
dann    einen  Stand   von  Theologen  und  Clerikern,    der  die  heiligen 
Urkunden  mit  Gelehrsamkeit  behandelt  und  das  Volk  in  Unumudig- 
keit   erhält.     Es  befördert  andererseits  den  Religions wahn,    der  in 
der  Anthropomorphisierung  und  Objektivierung  des  Übersinnlichen 
besteht  und  die  Menschen  verleitet,  das  Übersinnliche  mit  Schmeiche- 
leien   und  Gaben    gleich    einem  Menschen    zu   behandeln  oder  gar 
zu    betrügen.      Die    so    hergestellte    übernatürliche  Aüeinwahrheit 
aber  reizt   natiirgemäss  den  Widei^pruch  und  treibt    zu  Religions- 
kriegen nach  aussen,   zur  Sektirerei   nach  innen.     Daraus  entsteht 
endloser   Streit,     Und   alles  das  sind  nicht  etwa  Auswüchse,    son- 
dern sind  die  notwendigen  Folgen  der  Sache  selbst,  die  natürlicheii 
Ergebnisse  jedes    die    empirische    Religion    vergötternden    SaprdH 
naturalism  US,     Wo    man    ihm    zu   entrinnen  hofft  durch  Preisgabe 
des  Äusserliclien    und  Zurückziehung   auf   das  Innei^,    aber  seine 
Idee  festhält,  da  entsteht  der  Glaube  an  innere  Offenbarungen  und 
Erleuchtungen,    die   Schwärmerei,    die  noch  zügelloser  ist   als  der 
Kirchenglanbe    und    geradezu    eine  Gefahr  für  die  Staaten  bildet. 
Sucht  man  aber  diesen  Fährtichkeiton  zu  entgehen  durch  gelehrte 
theologische  Arbeit    und   auf   sie    die  Kirchenreligiou  zu  gründen, 
so  verleiht   man    ihr   dadurch  wohl  eine  gewisse  wissenschaftliche 
Ruhe    und  Reinheit,   aber   man    häuft    dann  auch  die  ganze  Last 
historischer  Gelehrsamkeit  auf  die  Religion  und  macht  sie  dadui'ch 
abhängig   von    der   stets  inlumsfähigen  Wissenschaft,     üud  zwar 


Das  Historische  in  Kants  Beligionsphilosophie.  117 

ist  das  bei  beiden  Möglichkeiten  der  Theologie  der  Fall,  sowohl 
bei  der  die  Übematürlichkeit  der  Geschichte  festhaltenden,  rational- 
apologetischen als  bei  der  historisch-kritisch  verfahrenden.  Die 
erstere  erstickt  in  der  apologetischen  Not,  das  Geschehensein  der 
Gründongswunder  und  den  Wunderbegriff  überhaupt  zu  beweisen. 
Die  andere  ist  zwar  interessant  und  für  den  Gelehrten  bedeut- 
sam, aber  sie  stürzt  die  Religion  erst  recht  in  die  Unsicherheiten 
historischer  Erkenntnisse  und  kann  ihren  archäologisch  interessanten 
Einsichten  keine  direkte  und  wirksame  Beziehung  auf  die  Religion 
der  Gegenwart  geben.  0 

Aber  all  das  ist  nun  eben  nicht  Religionsgeschichte  im  Sinne 
Kants.  Es  ist  Anthropologie  oder  vielmehr  dasjenige  Stück  der 
Anthropologie,  das  als  gesetzliche  Verknüpfung  der  Erscheinungen 
eine  im  Prinzip  klare,  wenn  auch  in  der  Praxis  nicht  streng  dui-ch- 
führbare  Aufgabe  stellt.  Wissenschaftliche  Geschichte  giebt  es 
aber  nur  bei  einer  streng  durchführbaren  systematischen  Gliederung 
des  Stoffes,  was  die  kausal-psychologische  Anthropologie  nicht 
leisten  kann.  Wissenschaftliche  Geschichte  hat  ausserdem  die  Auf- 
gabe, zu  zeigen,  wie  dieser  Ablauf  der  Erscheinungen  sich  zum 
ethischen  Sinn  und  Ziel  der  Geschichte  verhält,  was  die  Anthro- 
pologie im  bisherigen  Sinne  ebenfalls  ihrer  ganzen  Natur  nach 
nicht  kann.  Beide  Probleme  zusammen  löst  nun  aber  die  „systema- 
tische Geschichte",  die  Aussonderung  der  Geschichtsphilosophie 
aiis  der  Anthropologie.  Sie  stellt  im  Zusammenhang  mit  der  Ethik 
das  allgemeingiltige  Ziel  der  Geschichte  und  die  Pflicht  eines 
Glaubens  an  die  Realisierbarkeit  dieses  Zieles  fest.  Aber  eben 
dieser  Glaube  giebt  auch  das  methodische  Organisationsprinzip  für 
die  bunte  Masse  des  Geschehens,  das  nunmehr  nach  dem  Grade 
und  der  Art  geordnet  werden  kann,  in  welchem  dieser  Zweck 
stufenweise  realisiert  wird.  Damit  ist  die  sachliche  Forderung, 
die  Beziehung  der  Geschichte  auf  einen  Sinn  der  Geschichte,   und 


^)  Vgl.  VI,  267  ff.  .Vom  Afterdienst  in  einer  statutarischen  Rehgion". 
Über  die  Sekten  und  Schwänner  VFI,  371  ff.,  368  ff.  Reicke  II,  34.  Über 
kritische  Theologie,  Reicke  III,  9.  Briefw.  II,  153.  Diese  Gedanken  ziehen 
sich  durch  Kants  sämtliche  Schriften  und  bedürfen  keines  einzelnen  Beleges. 
Insbesondere  beruht  die  „Rel.  i.  d.  Gr.  d.  bl.  V."  durchaus  auf  einer  solchen 
Phänomenologie  und  scheidet  aus  dem  kritisch  gereinigten  Christentum 
aUe  diese  der  Phänomenologie  des  Supranaturalismus  entstammenden 
Züge  aus. 


118 


E.  Troeltsch, 


die    mßthodische    Forderung   eines    wisseusch  aft  lieh    feststeheDdea 
Organisationspriüzips  befriedig-t.  i)     Dass  dabei   die  erajiirische  (je- 

1)  Den  Unterschied   der   imge  gliedert  en  empirischen  Geschichte  imd 
der  einen  Leitfaden  und  damit  Gliedeniiig  suchenden  philosdphischen  Ge- 
schichte betont  schon  die  „Idee  etc.'  IV,  Infi  f.    „Da.ss  ich  mit  dieser  hie« 
einer  Weltgeschichte,    die   gewissen  nassen    einen    Leitfaden    a  priori   hat, 
die  Bearbeitung   der   eigenthch    bloss    empirisch  ahgefassten  Historie  ver» 
tlrüngen  woUte»  wäre  Missdeutung  meiner  Absicht;  es  ist  nur  ein  Gedankt 
von  dem,  was  ein  phih^sophisclier  Kopf  (der  übrigens  sehr  geschicht«kimdie 
sein  müsste)  noch  aus  einem  anderen  Standpunkt  versuchen  könnte.**  Kant 
empfindet   die  Not   des  Rektivisnius.   die  eine  rein  empirische  Geschichte 
mit   sich    bringen    würde:  „Wie    werden    es  unsere  späteren  Nachkomraeü 
anfangeu,  die  Last  der  Geschichte,  die  wi/  ilinen  nach  einigen  Jahrhunderten 
hinterlassen  m  Richten,  zu  fassen^*  IV,  157,  Die  Anzeige  Über  Herder  betont  die 
„Kenntnis  der  Materialien  der  Anthropologie'^,   die  Kant  besitzet,    die  rtl>er 
uocb  keine  Geschichte  ausmacht.    Daran  hindert  „die  unermessliche  Kluft 
zwischen   dem   Zufälligen   und   Notwendigen"  IV,  182»    Genau  formuliert 
ißt-  das  Prinzip  dann  in  der  Anthropologie  Erdmann  1,1205:  ^a)  Geschichte 
der   Menschheit    (allmählicher  Fortgang  der  ganzen  Gatt  im  g  zu  ilirer  Be-  ^ 
stimm ungjy    nicht  Beschreibung   der   Menschheit  (d.  h.  nicht    blos^f  Anthro- 
fHilogie);    b)  von  der  Idee  (Methode)  einer  rniversalhistorie."     Ähnhch  Hd 
Reicke  II,  277  :    „Alle    historische    Erkenntnis   ist    empirisch   und  also  Er- 
kenntnis der  Dinge,  wie  sie  sind;  nicht  dass  sie  notwendig  so  sein  müss«ni| 
Das  Rationale  stellt  sie  nach  ihrer  Notwendigkeit  vor."     Daran  reibt  sicli  ' 
ein  Programm  der  Geschichte  der  Philosophie^  das  sich  Tnit  dem  spateren 
Hegels  deckt.     Ebenso  S.  286.     Oder  Erdmann  11,  173:  „Man  kann  in  Ad* 
sehimg  des  Interesses  an  dem,  was  in  der  Welt  vorgeht,  zwei  Standpunkte 
nehmen,  den  Standpunkt  des  Krdensohnes   und  den  des  Weltbürgers,   ^^ 
dem   ersten  interessiert    nichts  als  Geschiclite  und  was  sich  auf  Dinge  t>e- _ 
zieht,  sofern  sie  Einfhiss  auf  unser  Wohlhefinden  haben.    Im  zweiten  int^**«! 
essiert  die  Menschheit,  das  Weltganze,  der  Ursprung  der  Dinge,  ihr  innere*^ 
Wert,  die  letzten  Zwecke."     Hiermit  shid  die  Ausgiingspunkte   von  Kan** 
Auffassung  der  Geschichte  als  Wissenschaft  im  engen  Zusammenhang  tï*^^ 
seiner  Grundwnterscheidiing  des  Psycliologisch-Thatsächlich-Zufälligen  a^^ 
des   Hational-Notwendig-Giltigen    gegeben.  —  Beiläufig  sei  bemerkt,   d**^ 
sich    von   hier   aus  das  Vt^riiältnis  der  Ricke rtscben  Lehre  zu  der  KaX*^* 
leicht  bestimmen  lässt.    Auch  Rickert  fordert  vor  allem  mit  Kant  ein  c3^*^ 
Geschichte  eigenttimliches  Gliedenmgsprinzip  und  erkennt  mit  Riuit,  d*^^ 
die    gesetzeswissenschaftliche    Behandlmig,    also   die   Aufsuchung   psycfc^^ 
logischer   und  sozial  psychologisch  er   Gesetze,    ein    solches    nicht   gewftlw  '^ 
Aber   während  Kant   dieses  Gliedenmgsprinzip   direkt   hus   den  ethisch 
Nonnideen  des  abstrakten  Gattnngsi deals  entnimmt,  sucht  Rickert  ein  ^^ 
empirischen  Geschichte  eigentümliches  empirisches  Bearheitungsprinzip,  ^^ 
dem    er   den  Gedanken    der   gesetzeswissenschaftlichen    Gliederung  dur-  ^ 
den  Kant  ganz  mibekannten  Gedanken  einer  Gliederung  nach  individuell^^ 
Zweckkomplexen    ergitnzt.     Immerhin    kann  aber  auch  Rickert  diesen  B^* 
düngen   einen   festen    wissenschaftlicheii  Halt   erst   durch   ihie  Beziehua 


i 


Das  Historische  in  Kants  RelijerionspMlosopMe. 


119 


^sch 
Bsä<j 
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i 


schichte  als  Totalität  des  Lebens  der  Menschheit  zu  nohiiK^n  und 
diese  Totalität  als  eine  im  Stiifengang  trotÄ  aller  Unterbrechuiigeu 
aiifwärtsschreitende  zu  verstehen  ist,  tias  ist  für  Kant  mit  der  Ge- 
schichtsphilosopliie  Humes,  Voltaires  und  Turbots  selbstverständlich, 
ber  der  kritische  Denker»  der  die  Normen  nicht  aus  dem  that- 
ächlichen  Ablauf,  sondern  aus  dem  Apriori  des  Bewusstseiiis  ent- 
nimmt» entwickelt  seine  (»rganisation  des  Stoffes  der  Geschichte 
doch  uicht  aus  diesen  von  der  enipirisclien  Geschichte  aufgezeigten 
Elntwicke hingen  heraus,  sondern  aus  der  kritischen  Ethik,  aus  der 
Idee  der  Freiheit  und  den  in  ihr  gesetzten  ethischen  Begriffen. 
;ßie  werden  an  den  Stoff  herangebracht  und  der  Stoff  nach  ihnen 
egliedert..  Wahrend  in  den  authrot>ologischen  Betrachtungen  Kant 
die  Geschichtsphihisophie  seiner  fortgeschrittenen  Zeitgenossen  teilt, 
liegt  in  dieser  „systematisrhen  Geschichte**  sowohl  betreffs  der 
methodischen  Begriffsbild inig  als  in  Bezug  auf  die  inhaltliche  Auf- 
fassung  die  originale  Wendnng  des  Kantischen  Denkens.  Dabei 
bleiben  freilich  weilero  schwierige  Fragen:  wie  verhält  sich  die 
Freiheit  zmn  kausalpsychologischen  Ablauf,  in  den  sie  doch  als 
irgendwie  eingreifend  gedacht  werden  muss?  wie  verhält  sich  eben 
diese  Freiheit  dann  aber  andererseits  zu  dem  Weltplan  oder  der 
Absicht  der  Natur,  die  doch  auch  angenommen  werden  müssen, 
wenn  dies  Ineinander  von  Natur  und  Freiheit  als  Realisierung 
des  Endzweckes  gedacht  werden  soll?  Kant  hat  auf  diese  Fragen 
von    Anfang    bis    zu    Ende   vei-schiedenartig    und    gelegenheitlich 


au 


auf  ein  in  ihnen  sich  reaUsierende^  System  objektiver  Werte  geben.  Er 
hiebt  also  zwischen  Kants  Ântliropologie  und  ethikotheologische  Ge- 
hich t-sph  il  osophie  die  auf  den  Indi vi dualitätsbe griff  inifgebaute  Methodik 
tier  enipinscheii  Geschichte  ein,  mnss  aber  üucli  seinerseits  diese  Indivi- 
diifühildungen  tax  den  objektiven  Werten  in  Bezielumg  setzen  und  bildet 
»durch  Kants  Begriff  des  ethischen  Geschichtszieles  zu  einem  in  jedes- 
mal individiieUen  Werthiklungen  sich  naanifeÄtierenden  Prinzip  um,  das 
selbst  eine  abstrakte  C'barakterisienmg  seines  InbaUes  nicht  mehr  ziiUlsst, 
Umgekehrt  hat  Di! they  die  Kantiscbe  Lehre  fortgebildet.  Er  zerschlftg:t 
den  Erscheinungs-  und  damit  den  Phänomenahtät^seharakter  der  inneren 
»Brfahning  und  sucht  ro  eine  neue  nicht^natnrwissen schaftliche  Soziatpsycho- 
lo^€,  die  die  Geschichte  pliedern  soU^  die  aber  diese  Ghederung  nur 
unter  dem  Gesichtspnnkt  spezifisch  seelÎBcher  J^i^ntwickehingsgesetze  voll- 
xiehen  kann  und  kein  Mittel  der  Fixierung  ir^-end  eines  konkreten  Koni- 
lexes  hat,  die  eben  deswegen  nur  Gesetze  der  Abfolge  und  keine  ge- 
ichichtlichen  Werte  darbietet.  Er  endet  im  voUen  Relativismus,  in  der 
Anarchie  der  Werte.  V^L  meine  Abh.  „Moderne  Ge^chichtsphilos."  TheoL 
itnedscliau  iyû3  imd  Grotenfelt,  Wertschätzung  i.  d.  Geschichte  1903. 


120 


E*  Troeltsch, 


geantwortet.  Er  hat  sie  als  Fragen  zweiten  Grades  gedacht, 
üeoug,  dass  die  theoretische  Geschieht sbetraehtung  in  der  Haupt- 
sache festgelegt  nnd»  wie  die  Natur  durch  Begriffe  bewältig-l 
wurde,  so  auch  die  Geschichte  transscendental-begrifflich  in  der 
Hauptsache  gegliedert  werden  konnte.  Wie  die  Naturwissen- 
schaft sieh  um  den  blossen  Erscheinuii gsc harakter  der  Natur 
nicht  küiiuuert,  sondern  die  Fülle  des  Wirklichen  hinnimmt,  lun 
sie  gesetzlich  zu  ratioimlisieren,  so  kiimuiert  sieh  auch  die  Ge- 
schichte nicht  um  den  Erscheiuungscharakter  des  Seelengescheheiis, 
sondern  nimnit  seine  reiche  Mannigfaltigkeit  hin,  um  sie  durch 
Beziehung  auf  die  in  ihr  erfolgende  und  zu  glaubende  Kealisieiimg 
der  ethischen  Idee  auch  ihrerseits  zu  rationalisieren.  Die  GeschicJit^ 
geht  über  die  Naturwissenschaften  dadurch  hinaus,  dass  sie  ihren 
Stoff  nicht  bloss  kausal  verknüpft,  was  für  sie  ja  auch  nicht  mit  der- 
selben Klarheit  und  Strenge  möglich  ist  T^ie  für  jene,  sondern  dass 
sie  ihn  auch  direkt  auf  in  ihr  sich  realisierende  ethische  Ideen  kri- 
tisch bezieht.  Das  schwierige  Problem  des  Verhältnisses  von  Phäno- 
menalitat und  Noumenalität  gehurt  unmittelbar  nur  in  die  Gnmd- 
lagen  der  Kritik  und  dient  hier  vor  allem  der  Zertrümmerung  der 
spekulativen  Metaphysik,  t'ür  die  Naturwissenschaften  kommt  es 
gar  nicht  in  Betracht,  für  die  Geschichtswissenschaft  nur  insofern, 
als  eben  jene  Fragen  zweiten  Grades  erhoben  werden.  Dann  aber 
dient  es  vor  allem  dazu,  durch  den  Nachweis  der  Möglichkeit  einer 
intelligibeln  Betrachtung  neben  der  restlos  durchgeführten  kausal- 
phänoraenalistischen  den  Hinzutritt  der  besonderen  Eigentümlich- 
keit der  Geschichtswissenschaft,  die  Beziehung  auf  intelligible 
Zw^ecke,  als  inögÜch  und  erlaubt  zu  bezeichnen.  Dass  dieser  Hin- 
zutritt notwendig  ist,  das  ist  eine  Sache  der  Moral  und  des 
Glaubens.  Die  verbleibenden  Probleme  sind  das  Schicksal  mensch- 
licher Beschränktheit, 

Wie  die  oben  geschilderte  Anthropologie  ganz  von  selbst  ge- 
legentlich tlie  Probleme  der  „systeuiatischen  Geschicht^^**  oder  der 
in  systematischen  ethischen  Ideen  begründeten  Geschichtsphiloso- 
phie streifte,  so  zweigt  sich  notwendig  und  von  selbst  von  der 
Anthropologie  die  Geschichtsphilosophie  ab.  *)  Es  geschah  nach 
dem  Vorgang  der  „Beobachtungen  übei^  das  Gefühl  des  Schönen 
und   Erhabenen**     zunächst    in   den    bekannten    geschichtsphiloso- 


4 


I 


I 


')  Erdmann  I  l^S.  48f.    Es  ist  die  wenigstens  partielle  Durchführung 
der  .moralischen  Anthropologie"*. 


Das  Historische  in  Kants  Beligionsphilosophie.  121 

>chen  Abhandlungen  and  in  der  Recension  Herders,  deren  be- 
rscheuder  Gedanke  bereits  die  Forderung  ist,  nicht  bei  der 
jirisch-psychologischen  Fülle  der  Erscheinungen  stehen  zu 
iben,  sondern  im  Gedanken  eines  aus  der  Vernunft  notwendigen 
reckes  ein  Organisationsprinzip  zu  finden.  Sie  finden  ihn  im 
«htsstaat  und  schliesslich  in  einem  Weltbund  der  Rechtsstaaten, 
ide  Abhandlungen  sehen  die  empirische  Geschichte  noch  sehr 
g  mit  der  philosophischen  zusammen  und  verknüpfen  sie  in  dem 
îdanken   der  Absicht   der  Natur   oder   dem  der  Vorsehung.    Es 

die  Natur  der  Stoa,  Brunos,  Shaftesburys  und  Turgots,  des 
talistisch  gedachten  Pantheismus,  die  dann  auch  die  Natur 
îrders,  Goethes  und  Schellings  geworden  ist.  ^)  Wie  wenig  aber 
mt  dabei  dem  Zauber  des  pantheistischen  Gedankens  erlag,  zeigt  die 
5  ins  hohe  Alter  fortgehende  Gleichsetzung  dieser  Natur  mit  der 
)rsehung.  Denn  diese  Vorsehung  ist  die  religiös  empfundene 
"Metermination  und  Prästabilierung  Leibnizens.  Dem  gegenüber 
înnt  dann  die  Abhandlung  über  den  „Mutmasslichen  Anfang" 
ides  strenger,  und  konstruiert  als  den  Zentralgedanken  die  or- 
nisierende  Bedeutung  der  Freiheit.  Die  Freiheit  aber  ist  — 
d  damit  setzt  der  Gedanke  das  bisherige  Geleise  fort  —  zunächst 
?  Prinzip  des  Rechtsstaates  und  dann  durch  ihn  hindurch 
8  der  sittlichen  Kultur,  die  das  ganze  Leben  aus  der  Idee  des 
tonom-Notwendigen  bestimmt.  Eine  noch  festere  methodische 
Gründung  gewährt  dann  die  Entdeckung  des  Prinzips  der  teleo- 
ischen  Urteilskraft.  „Man  kann  und  soll  die  Welt  nach  der 
alogie  mit  der  physischen  Teleologie,  welche  letztere  uns  die 
^nv  wahrnehmen  lässt  (auch  unabhängig  von  dieser  AVahmeh- 
Qg),  a  priori,  als  bestimmt  mit  dem  Gegenstande  der  moralischen 
eologie,  nämlich  dem  Endzweck  aller  Dinge,  nach  Gesetzen  der 
îiheit  zusammenzutreffen,  annehmen,  um  der  Idee  des  höchsten 
tes   nachzustreben,   welches  ...  in   theoretischer  Rücksicht .  .  . 

überschwänglicher,  in  praktisch-dogmatischer  Hinsicht  aber  ein 
Uer  und  durch  die  praktische  Vernunft  für  unsere  Pflicht  sank- 
lierter  Begriff  ist."^    Damit   hat   die   in   der  Geschichte  voll- 


Ï)  Vgl.  die  höchst  lehrreiche  Abhandlung  Dütheys  „Der  entwicke- 
l^sgeschichtliche  Pantheismus  nach  seinem  geschichtlichen  Zusammen- 
fir  mit  den  älteren  pantheistischen  Systemen",  Archiv  f.  Gesch.  d.  Phil« 
i.  1900. 

«)  VIII,  668.  Medicus,  Kant«  Philos,  d.  Gesch.  S.  7.  Die  lehrreiche 
Stellung  von  Medicus  ist  überhaupt  hierzu  zu  vergleichen.    Doch  habe 


122 


E,  Troeltsch, 


zo^eiiLî  und  sie  erst  zur  wertvoUeu  Wisseuschaft  machende  B^- 
zieliniig  des  Thatsächlicheii  und  Seiu-sollendeu,  welche  bisher  für 
den  kritisdieu  Standinuikt  Schwierig-keiten  machte,  ihr  Fundament 
in  eiuem  weitereu  apriorischeu  (besetz  des  Bewusstseiiis,  iu  der  Be- 
ziehun«:  aller  Wirklichkeit  auf  intelligible  Werte,  gefuntleo  uud  kann 
die  Geschichtsphilosophie  als  Spezialfall  dieses  Prinzips  konstmiert 
und  iu  den  Kreis  der  kritisch  ^esicherteu  Wissenschafteü  aufgenommen 
werdeu,  Ihr  Idsherigrer  Inhalt  wird  damit  nicht  verändert,  Niir 
tritt  jetzt  als  Zweck  und  Sinu  der  Geschichte  mit  voller  Strenge 
der  ethisrlie  Gedanke  des  Reiches  der  sittüciien  Persönlichkeiten 
ein,  für  das  die  Rechtsorjoranisation  nur  eine  Vorstufe  ist.  Auch 
ist  mit  der  apriorisch-uotwendigen  Beurteilung  der  Geschichte,  als 
ob  sie  der  Verwirklichung  des  moralischen  Endzweckes  diene, 
die  bisherige  hypothetisch-metaphysische  Anschauung  von  einem 
die  ethischen  Zwecke  in  der  Erscheinung  auswirkeiulen  Weltplau 
nicht  aufgegeben,  sondern  nur  durch  eine  vorsichtigere,  dem  Geist 
des  Kritizismus  gemässere,  Redeweise  ersetzt  Überdies  verzichtet 
gerade  auch  die  „Kritik  der  l'rteilskraft**  nicht  darauf,  die  meU- 
physische  Basis  und  Voraussetzung  einer  solchen  Wissenschaft  zn 
heionen,  aber  nun  freilich  in  der  strengen  Gestalt  der  Ethiko- 
theologie,  des  moralisch  motivierten  Glaubens  an  Gott  als  die  ge- 
meinsame Quelle  der  sittlichen  Vernunft  und  als  den  Wehregenten» 
der  den  Sieg  des  Guten  und  die  Angemessenheit  des  Sittlichen 
und  Natürlichen  bewirken  werde.  Indem  dieser  geschichtÄphilo- 
sophische  und  moraltheologische  (bedanke  dann  auch  noch  die 
teleologische    Katurbeurteilnng   in    sich   aufnimmt  uud  die  Zweck- 


ich  gegen  sie  sehr  erhebliche  Bedenken.  Sie  stellt  Kants  Geschieh tspliÜo 
Sophie  mehr  dar,  wie  sie  hsltti^  sein  so  h  en  als  wie  sie  wirkHch  war.  Da- 
rum stellt  er  die  Als-ob-Lehre  der  „ITrleilskraft"^  in  den  Mittelpunkt  und 
schneidet  von  ihr  überdies  noch  die  für  Kant  so  wesentliche  Fortfiihrung 
der  Linien  in  die  Ethiko théologie  ah.  Deshalb  erscheint  ihm  alles  Vor- 
lieiige  als  „nnkritisch'*  und  ailes  Nachherige  als  Rückfall  und  Verwimmg. 
Die  mit  dem  btsonderen  Gegenstand  eintretenden  besonderen  und  wech- 
selnden  Antworten  erscheinen  ihm  wie  eine  jedesmal  neue  Theorie,  ein 
jedesmal  t>esonderer  Abfall  von  der  reinen  Lehre«  Dadurch  aber  wird  das 
Bild  m,  K.  falsch.  Kant  hat  îïlle  diese  Gedanken  stets  zusammen  ^hegt 
und  nnanfhilrlich  mit  ihren  Schwierigkeiten  ^erun^eiL  Die  Fragen  zweiten 
Grades  haljen  ihn  eben  immer  von  neuem  mit  ^tem  Grunde  ^equ&lt. 
Denn  die  Ais-oh-I^ehre  ist  doch  imr  ein  vorsichtiger  Ausdruck,  eine  Zurück* 
drtlngung  und  Verhüllung  der  weiteren  Probleme.  Bei  ihr  kann  meine« 
Erachtens  niemand  stehen  bleiben  und  ist  daher  auch  Kant  selbst  niemal*' 
stehen  geblieben. 


Das  Historische  in  Kante  Religionsphilosophie. 


123 


mässii^keit  der  Natur  auf  das  Oberhau|it  im  Reich  der  Geister  zu- 
rückführt, eDtst-eht  der  Gedanke  eiuer  das  Thatsächliidie  und  Gel- 
tende, Natur  und  Verounft  einheitlich  befassenden  Weltentwicke- 
lang.  In  der  That  verschwinden  ja  mit  dieser  neuen  FonnnUerunj^ 
auch  nicht  die  äitereu  metaphysischen  Bemühungen  um  das  Ver- 
hältats  von  Freiheit  um]  Weltplan,  von  psychologischem  Mechanis- 
mus und  autonomer  Vernunft,  Die  Schriften  nach  1700  bennlhen 
sich  infolge  der  Erweiterung'  und  Vertiefun»:  der  liistorischen  Ob- 
jektsanschauiing  durch  Religions-  und  Rechtsphilosophie  um  diese 
ubrigbleibeuden  Fragen  noch  ernster  als  die  früheren,  uutl  der  kri- 
tische Begriff  der  Freiheit  hat  diese  Bemühungen  nicht  erleichtert. 
Von  diesen  Problemen  wird  später  noch  die  Rede  sein.  Hier 
ist  nur  hervorzuheben,  dass  jedenfalls  die  systematische  Geschichte 
damit  ihre  tiliederung  endgilt  ig  gefunden  hat.  Sie  beginnt  mit  der 
Tierheit,  mit  dem  Naturzustand  der  sittlichen  Indifferenz  und  des 
völligen  Überwiegens  der  Sinnlichkeit  über  die  Vernunft.  lu  den 
ersten  Thaten  der  Gew^alt  befreit  sich  der  Willed  entdeckt  sich  die 
Freiheit  und  scheidet  sich  der  Mensch  vom  Tier.  Aus  der  Freiheit 
gehen  die  Vergesellschaftungen  und  ihre  Kämpfe  htjfvor,  in  welchen 
Küiupfen  mit  dem  Bewnsstseiu  um  die  Unrechtmässigkeit  und  Sündig- 
keit der  selbstsüchtigen  Gewalt  auch  langsam  das  Ideal  einer  die 
Freiheit  achtendeu  und  erusllich  oi^ganisierenden  Gemeinschaft  ent- 
steht. Durch  die  Urformen  der  Kultur,  das  Jäger-,  Hirten-  und  No- 
madenleben,  hintlurch  bewegt  sich  Sozialisierung  und  Kampf.  Mit  der 
Stufe  des  Ackerhanes  w^erden  die  Elemente  der  Rechtsgesellschaft 
gewonnen.  Das  eudämonistische  Bedürfnis  nach  Schutz  un<l  das 
instinktive  Rechtsgefühl  tier  Freiheit  verbindeu  sich  zur  Entwicke- 
Ittng  und  zur  Befestigung  aller  Aidagen  und  Kräfte,  und  der  so 
gegründete  Staat  entldndet  die  ersten  Elemente  des  sittlichen  Be- 
wusstseins,  den  Rechtsgedanken  der  Koexistenz  der  pci'söulich 
freien  Individuen  und  die  Legalität  der  Befolgung  cUeser  Regeln. 
^Die  systematische  Geschichte  fängt  vom  trojanischen  Kriege  an. 
Nehen  der  kommen  episodische  Geschichten  anderer  Völker  vor 
und  die  propädeutische  Geschichte  fabelhafter  Zeit^ai.  .  .  Eine  Idee 
leitet  die  tnensehlirhen  Handlungen  alle,  d,  i.  die  ihres  Rechtes**. 
Erdmanu  I  l,  219.  Der  Staat  ist  ein  Produkt  des  Kam|ifes  ums 
Dasein  und  sehränkt  den  Kampf  ums  Dasein  ein»  giebt  Raum  füi' 
die  sich  seihst  erfassende  sittliche  Idee  und  führt  die  (■ivilisation 
herbei,  in  welcher  die  Totalität  der  Anlagen  vom  sitilichf^n  Geist«' 
behernidit    und    organisiert    wird.     Die    höchste  Staatöbildung   iu 


E.  Troettsch« 


diesom  Sinne  ©iTeichten  die  Griechen  und  Römer,  die  daher  auch 
die  höchste  Blute  der  Civilisation  erlebten.  Hierin  und  in  der 
Beurteilung  des  Mittelaltei's  ist  Kant  völlig  einig  niit  Turgot, 
Voltaire  und  Condorcet.  Das  Mittelalter  hat  nut  dem  Staat 
auch  die  Kultur  sinken  lassen.  Aber  nach  der  Palingenesie 
der  Reformation  und  Renaissance  ist  in  den  neueren  Zeiten 
wieder  das  Staatsprinzip  gereinigt  and  gefestigt  worden,  womit 
sofoit  auch  ein  neuer  Kulturaufschwuug  verbunden  war.  In- 
zwischen geht  der  Kampf  ums  Dasein  aber  zwischen  den  Staaten 
fort  und  nötigt  sie  durch  die  grossen  Kriege  der  letzten  Zeit, 
durch  die  Erschwerung  der  politischen  und  finanziellen  Machteot- 
faltung  zur  Einschränkung  des  Kampfes  und  fühil  damit  zur  Ide<* 
des  Weltstaatenbundes  und  der  Beteiligung  der  Bürger  au  der  Entr 
Scheidung  über  Krieg  und  Frieden.  Hier  fügen  sich  die  Ideen  Rous- 
seaus  ein,  soweit  Kant  sie  sich  aneignen  konnte.  Damit  aber  hat, 
durch  Kampf  und  Bedürfnis  geführt,  die  Menschheit  wieder  eine 
höhere  moralische  Stufe  erreicht.  Denn  der  Weltstaatenbund  giebt 
den  Anlass  und  Raum  für  die  Begriffe  des  Volkerrechtes  und  die 
Republik  für  die  der  Menschenrechte,  Die  französische  Revolution, 
auch  wenn  sie  äusseriich  scheitern  mag,  hat  den  sittlichen  Gehalt 
der  hierin  enthaltenen  Ideen  den  Menschen  unverlierbar  ins  Herz 
ge[>rägt,  und  diese  Ideen  müssen  in  der  Zukunft  zum  Rechtsstaat 
und  zum  Weltstaatenbund  als  der  Orgaiüsation  der  sittlichen  Frei- 
heitsidee führen.  Aber  diese  poUtisehe  Organisation  der  Freiheit 
ist  doch  nur  Vorbedingung  und  Vorform  des  eigentlich  sittlichen 
(Jeistes-  Sie  ist  zugleich  dasjenige,  was  als  äussere  Institution 
allein  von  der  Geschichte  sicher  erfasst  werden  kann.  Aber  in 
ihr  ist  die  sittliche  Vernunft  doch  nur  erst  latent  und  bereit 
zu  weiterer  und  tieferer  Kntfaltung  im  Eigentlichen  und  Wesent- 
lichen des  sittlichen  Lebens,  in  der  ethischen  Gesinnung  und  m 
der  Tilgend.  Hier  verlässt  Kant  die  Bahnen  der  englisch-fran- 
zösischeu  tjeschichtspiülosophie  und  kommt  zu  seinen  eigenen, 
atis  seinem  sittlichen  und  religiösen  Empfinden  stammenden  Ge- 
danken; höchstens  Tnrgot  ist  ihm  hier  eiuigermassen  verwandt. 
Die  Organisation  der  Geschichte  zum  ^kosmopolitischen  System 
der  Weltgescliichte**  ist  nicht  das  letzte  Wort;  aus  ihr  und  über 
ihr,  manchmal  auch  neben  ihr,  erhebt  sich  das  „philanthropische 
iSystem"  (Erdmann  I  1^  S.  219),  d»  h,  die  Abzweckung  der  Geschieht« 
auf  das  Reich  der  Tugend.  Es  ist  das  unsichtbare  und  darum  von 
der  Forschung  nicht  direkt  fassbare,  aber  doch  ihren  höchsten  Or- 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  125 

lisatioDspunkt  bildende  Reich  der  autonomen  Persönlichkeiten, 
die  alle  Entfaltung  der  Anlagen  und  Civilisation  in  den  Dietist 
der  sittlichen  Idee  stellen  und  dadurch  ethisch  ei*st  wertvoll 
machen.  Insofern  dieses  Reich  der  Tugend  auch  den  religiösen 
Glauben  in  sich  schüesst,  ist  es  das  Reich  Gottes,  und  es  gilt  der 
Satz:  ^Das  Reich  Gottes  auf  Erden,  das  ist  die  letzte  Bestimmnng, 
des  Menschen  Wuusch,  Christus  hat  es  herbeigerückt;  aber  man 
hat  ilin  nicht  verstanden  und  das  Reich  der  Priester  errichtet, 
nicht  das  Gottes  in  uns"  Erdmann  I  1,  213.  Aber  die  Priester 
werden  falh*n  und  zu  moralischen  VolksleUrern  werden;  und  mit 
der  kommenden  politischeu  Entwickekmg  wird  die  ethisch-religiöse 
Hand  in  Hand  gehen.  Trotz  aller  Jakobinei-furcht  und  aller 
Dunkehnännerei  wird  der  vorgeschlagene  Weg  w^eiter  verfolgt 
werden,  und,  wenn  die  Menschheit  von  diesen  Ideak^n  wieder  am 
weitesten  abgekonnnen  zu  sein  seheinen  wird,  wird  die  ethische 
Reaktion  am  nächsten  sein;*) 


*)  Es  ist  unmöglich,  hiei-zii  die  einzelnen  Belegstellen  auszuschreiben, 
Sie  sind  überdies  grösstenteils  i^esarTiinelt  beiDieterieh.  Kant  und  Rousseau, 
Tübingen  1878.  Seine  Darsielliin^  ist  (trotz  der  sînrk  Übertreibenden  An- 
knüpfung an  Rousseau,  einer  gewissen  Modernisienin^  des  Kantischen 
Denkens  nud  der  Yerv^ischung  des  Gegensatzes  zwischen  Anthropologie 
and  systematischer  Geschichte)  die  beste  Wiedergube  des  Inhaltes  der 
Kantischen  Geschichtsphilosrjphie.  Inshesoudere  ist  mit  Recht  hetout,  dnss 
Kants  moralischer  Rigorismus  nielir  seinen  Grund  in  der  erkenutuistheo- 
retischen  Entgegensetzung  des  Allgemeiugiltigen  gegen  das  bloss  Psycho- 
logifiche  als  in  einem  sachlichen  Atisschhiss  des  Ideals  einer  ethisierten 
Kultur  üder  Totalität  der  Geisteseiitfaltung  hat  Die  frühem  Schriften 
fordern  durchaus  das  letztere  Ideal,  die  kritisch-ethischen  Schriften  arbeiteu 
aus  ihm  die  Autonomie  in  Parallele  zur  Allgemeingiltigkeit  des  Logiseheti 
flcha.rf  heraus  und  können  den  Weg  zum  Psychologischen  nicht  mehr  recht 
fiiidenf  ohne  doch  sachbck  das  alte  Ideal  aufzugeben.  Das  zeigt  schon  die 
Veröffentlichung  der  Anthropologie  1798,  die  das  Ideal  der  etliisierten  Tota- 
lität des  Geisteslebens  noch  streng  festhült.  Vgi  auch  Medicus  S.  i:i  und 
das  roehrerwälmte  Buch  v«»n  Hegler,  das  freilich  weniger  dieses  Problem 
als  das  des  Verhältuisses  der  erkenntnistheoretischen  Begründung  der 
Moral  zu  ihrer  empirisch-psychologischen  Aktualisienuig  mitersucht.  Das 
entere  Problem,  das  Verhilltiiia  des  allgemeingiltigen  P'ersönlichkeitszweckes 
so  den  übrigen  aus  der  Vernunft  folgenden  Zwecken  und  zu  der  Harmonie 
des  Gesamtmenscben,  bedürfte  noch  einer  bescmdereu  Darstellung,  die  frei- 
lich wie  die  der  Geschieh tsphüosophie  Kantus  auch  auf  ihrem  Gebiet  den 
Bruch  zwischen  dem  Anthrop*dogischen  und  dem  Allgemeingiitigen  nicht 
beseitigen  können  wird.  Kant  ist  eben  von  Hanse  aus  neben  dem  Meta- 
piiysiker  zugleich  Naturforscher  und  Kiüturpsychologe  gewesen.  Als  ihn 
die  Metaphysik  /.um  Trunsscejideiitalisiuus  und  zuj' Zertrümmerung  der  die 


1S6 


E.  Troeltsch, 


Damit  hat  nun  aber  auch  erst  die  systeiHatische  Religion» 
geschichte  oder  Philosophie  der  Eeli^ioosg'esehichte  ihren  iesiei 
OrgaiiisHtiüiispankt  ^efimdeii.  Rechts-,  Moral-  und  Reli^^onsent- 
wickL4iiog  greifen  meinander  (VI,  195).  ;Die  Rechtseut Wickelung 
oder  kosmopolitische  Cxeschichte»  die  äusserlich  fassbare  That- 
sacben    enthält,    ist    der    feste    Unterbau    als     Geschichte     de 


p 


Einheit  des  Wirkliched  konstruierenden  Spekulation  trieb,  da  hat  er 
krttisehe  Grundprinzip  der  Unterscheidung  und  Beziehung  des  Thato 
liehen  und  Allgemeingiltigen  als  der  beiden  Glieder  de«  empirischen 
wussft^eins  in  seine  Naiurwisseniiciiaft  und  in  «eine  Kulturplülosophie  hiü 
eingearbeitet^  aber  die  Kluft  zwischen  dem  seinen  Inhalt  bewusstsein 
immanent  ordnenden  Subjekt  einerseits  und  einer  die  transsiibjektive  Reahti 
der  Körperwelt  sowie  die  transsubjektive  Realität  der  fremden  Ich 
voraussetzenden  und  all  das  kausal  aufeinanderheziehenden  Geschicliti 
Riulererseitü  nicht  aiLsfüllen  können.  Das  ist  bei  der  Natur  der  Sache  nie 
anders  iiiüglicli  und  kann  nur  anders  werden,  wenn  von  der  zerstörte 
Metaphysik  soviel  wieder  hergestellt  wird,  um  die  transsubjektive  Realitâ 
von  Natur  und  Geschichte  auch  begrifflich  7x\  bichem  und  die  Vernun 
aus  ihrer  Latenz  in  der  Natur  genetisch  hervorgehen  lassen  zu  kt^nne 
Daher  auch  bei  Kant  immer  wieder  die  Rückfillle  in  die  sog.  Privatroetj 
physik.  Doch  ist  diis  im  Rahmen  dieser  Arbeit  nicht  weiter  zu  verfolgen» 
Icli  notiere  liier  vielmehr  nur  noch  einige  Stellen^  die  die  oben  ausge* 
sprochene  Reiheufolg:e  „Recht- G e^sinnungsiii oral*'  als  genetische  Reibe 
kennen  lassen:  IV,  153;  „der  weltbür^erliche Zustand  als  derSchoss,  wor 
alle  nrsprünghchen  Anlagen  der  Menschheit  entwickelt  werden**  IV,  Ifi 
190;  VI.  364  »,die  Entwickelung  der  Moralitât**;  VI,  433  „von  der  guten" 
Staatsverfassung  allererst  die  gute  moralische  Bildung  eines  Volkes  zu  er- 
warten**; VI,  190,  Aufbau  der  ethisch-bürgerUchen  Gesellschaft  auf  der 
rechtlieh-bilrgerhchen  ^wie  es  (d,  h.  dir  nstere\  vom  Menschen  g:ar  nicht  xu 
Stünde  gebracht  werden  könnte,  ohne  dass  das  letztere  zum  G rtin de  liegte 
VI,  194  das  Recht  ^^ht  aus  dem  bilrgerüchen  Naturzustand,  das  Reidi 
Gottes  aus  dem  ethischen  Naturzustand  hervor,  welcher  letztere  innerhalb 
des  bürgerlichen  Recht^tzustandes  IieîB:t  ;  Reicke  11,309  die  staatsbürger- 
liche Gesellschaft  ein  „Analogon  der  Moral**;  Reicke  IL  98  „Der  fest 
geg^nindete  Frieden  bei  dem  grosseren  Verkehr  der  Menschen  unter  ein- 
ander ist  di^eni^e  Idee,  durch  welche  allein  der  Überschritt  von  den 
Rech  tspf  lichten  zu  den  Tugend  pflichten  möglich  gemacht  wird.  Indem. 
wenn  die  Geset^.e  ansserhch  die  Freiheit  sichern,  die  Maximen  auftreten 
können,  sicli  auch  innerlich  nach  G^etzen  zu  regieren  und  umgekehrt 
diese  wiederum  dem  gesetzlichen  Zwange  durch  ihre  Gesinnungen  den 
Eiufluss  erleichtem,  sodass  friedliches  Verlialten  unter  öffentlichen  Gesetzen 
und  friedfertige  Gesinnimgen  {auch  den  inneren  Krieg  zwischen  Grond- 
ttätzen  und  Neigimgen  abzustellen),  also  I^galitilt  und  MoralitÄt,  in  dero 
Friedeusbegriffe  den  Unterstützunj^punkt  des  trberschritte«  von  da 
Becht«lehre  zur  Tugeudlehre  antreffen^. 


Das  Historische  in  Kant-s  Reli^ioiisphilosophie. 


127 


Die  Moralentwickelimg  gelit  auf  die  Gesiimimg  und  ist 
darum  weniger  fassbar;  aber,  da  sie  in  den  moralischen  Gesetzen 
das  betrifft,  wovon  wir  wissen,  dass  es  in  unserer  Gewalt  stehe, 
so  ist  sie  immer  noch  verhältnismässig  konkret.  Die  lieligiods- 
entwickeluDg  dagegen  geht  auf  die  Herausstellung  des  übersinnlichen 
Grundes  der  Moral,  damit  auf  den  Gedanken  der  in  aller  Moral 
offenbaren  göttlichen  Vernunft  und  auf  die  durch  Gottes  W  elf- 
regieruug  herzustellende  absolute  Einheit  oder  das  Ganze  der 
Gattungsvemunft,  also  auf  etwas,  wovon  wir  nicht  wissen  können, 
ob  es  in  unserer  Gewalt  ist.  Daher  ist  sie  am  schwersten  fass- 
bar. „Die  Religionsgeschich t^»  da  sie  auf  die  andere  Weit  geht 
und  nur  die  inwendige  Bildung  der  Sitten  (betrifft),  muss  beson- 
ders abgehandelt  werden"  (Erdmann  I,  1,  220).  Diese  besondere  Be- 
handlung aber  auf  Grund  der  ganzen  entvvickehmgsgeschichtliclien 
Anschauung  giebt  daun  auch  das  dritte  Stück  der  ,,ReL  i.  d.  Gr. 
d.  bL  V.*"  mit  dem  Titel  „Von  dem  Siege  des  guten  Prinzips  über 
das  Böse"*.  Man  mnss  das  Stück  nur  in  dem  Sinne  der  Kau- 
tischen Geschichtsphilosophie  und  ihrer  Theorie  von  der  Herans- 
eotwickelung  der  Vernunft  aus  dem  psychologischen  Triebmechanis- 
sius  lesen.  Das  ganze  Material  der  füi-  eine  Geschichtsphilosophie 
präparierten,  aus  dem  [psychologischen  Mechanismus  die  Vernunft 
herausent wickelnden,  Anthropologie  steckt  in  ihm*  Von  deiu  vor- 
politisehen  Zustand  zum  pohtischeu,  vom  politischen  zum  mora- 
lischen, vom  morahschen  zum  religiösen  geht  die  Kette.  Das  Be- 
sondere des  religiösen  Zustandes  ist,  dass  er  zur  Moral  den  mit 
dem  Gottesgedanken  innerlich  verbundenen  Gedanken  der  Einheit 
der  Gattung  in  der  sittlichen  Gesinnung  hinzufügt.  Aber  die 
Idee  des  sittlichen  Gattungszieles  ist  von  Anfang  an  latent  in  allen 
Evolutionen  der  Vernunft,  und,  indem  die  Religion  diesen  Gedanken 
dea  in  der  gemeinsamen  sittlichen  Venunft  oder  in  Gott  vereinigten 
Ganzen  heiTorbringt,  bringt  sie  geradezu  den  Abschluss  und  das 
Ziel  der  Geschichte,  den  letzten  und  litiehsten  Organisationspunkt 
überhaupt,  wobei  uns  eben  dieser  Organisationspunkt  hei  seiner 
Mpirisehen  llnfassbarkeit  und  bei  der  Anweisung  auf  die  Zukunft 
äo  Gegenstand  des  Glaubens  ist.  Von  iliui  geht  die  letzte  Ürga- 
oisation  der  Geschichtserken utnis  und  der  stärkste  Antrieli  dei*  zn- 
kilnftigen  Geschichtsgestaltung  aus.  Indem  aber  die  Religion  oder 
der  praktische  Glaube  allein  zur  Moral  die  Zuversieht  einer  sieg- 
reichen und  die  Vernunfteinheit  der  Gattung  herstellenden  Ent- 
wickelung   hinzu    bringt,    ruht  wieder   der   ganze   Ent\^ickeluugs- 


128 


E,  Troeltscli, 


gedaoke  selbst  auf  diesem  religiöseo  Grand*    Das  Reich  Gottes 

uns  oder  die  lujsichtbare  Kirche,  dieser  rational  verklärte  pietisti^che  ' 
Begri-iff  *)  Vüi»  einer  rein  iimerliclieii  Geisteseinheit  und  einer  allen 
Eudäiiionisnius    ausschiiessenden   GesbiiiiiigsreiDheit,    ist    diis   Ziel 
der   Gesclndite.      Die    Religionsgeschichte  ist  die  Voüenduog  und 
der  tragende  Grand  der  Geschichtsphil osopliie  zugleich. 

80  wird  erklärlich^  dass  die  systematische  Religions-  oder 
Kircheugeschichte  erst  so  spät  einsetzt.  Sie  beginnt  ei-st  mit  dem 
Üliristentum.  Zwar  ancli  in  den  vor-  und  ausserchristlichen  Reli- 
gionen ist  die  sittliche  Yernunftrehgion  latent  gewesen:  ^Lauf(*' 
vor  diesem  letzteren  lag  die  Anlage  zur  moralischen  Religioü  m 
der  menschlichen  Vernunft  verborgen,  wovon  zwar  die  ersten  rohen 
Äusserungen  bloss  auf  gottesdienstlichen  Gebrauch  ausgingen  und 
zu  diesem  Behuf  selbst  jene  angebliclien  Offenbarungen  veran- 
lassten, hierdurch  aber  auch  etwas  von  dem  Charakter  ihres  über- 
sinnlichen Ursprungs  selbst  in  diese  Dichtungen»  obzwar  unvor* 
sätzlich,  gelegt  haben''  VI,  STO/*^)  Aber  die  Religiunsgesehicht^ 
kann  nicht  die  Geschiebte  des  irgendwo  verborgenen  reinen  reli- 
giösen Gedankens  schreiben,  sondern  nur  die  der  deutlichen  An- 
näherungen der  empirischen  Religion  an  dieses  IdeaL  Diese  An- 
näherung aber  hat  entscheidend,  klar  und  durch gix'if end  nm'  statt- 
gefunden  im  Christentum.  ,,Es  war  einnuil  ein  Aveiser  Lehrer,  der 
dieses  Reich  Gottes  im  Gegensatz  zum  weltlichen  ganz  nahe  herbei- 
gebracht, welcher  sich  ganz  von  seiner  Nation  unterschied  und 
gesunde  praktische  Religion  lehile,  die  er  seinen  Zeitläuften  ge- 
mäss in  das  Kleid  der  Bilder,  der  allgemeinen  Sagen  u.  s.  w,  ein- 
kleiden rnusste.  Er  stürzte  die  8chrîftgelebrsanïkeit,  w^elche  nichts 
als  Satzungen  hervorbringt,  w^elche  nur  die  Menschen  trennen,  und 
errichtete  den  Tempel  Gottes  und  der  Tugend  im  Herzen.  Er 
bediente  sich  zwar  der  Schriftgelehrsamkeit,  aber  nur,  um  die, 
worauf  andere  geschworen  hatten,  zu  nichte  zu  niachea**  Erd- 
maun  I  1,  21^  f.     Damit  ist  der  ürganisationspuiikt  der  Religtoii^- 

Î)  Den  Begriff  des  Reiches  Gottes  in  diesem  Sinne  hat  Kant,  vne 
Jüh.  Weiss,  Die  Idee  des  Reiches  Gottes  in  der  Theologie,  Giessen  1901t 
S.  87  sehr  walir&cheinhch  macht,  von  Reinhard,  Versuch  über  den  Plan* 
welchen  der  Stifter  der  christlichen  Religion  zum  Besten  der  Menschen 
entwarf**  1781  ühemommen,  während  frtlhere  Scliriften  Kants  dag  Reich 
Gottes  als  jenseitijg^e  Seh^keit  betrachten.  IJbrigens  findet  er  sich  ancli  hé 
Seniler  und  Herder.    Er  hünort  hier  überall  mit  dem  Pietismiis  zusammen, 

2)  So  wird  anch  der  moraliscli-religiöse  Sinn  der  Trinitätslehre  ^in 
der  Religion  der  meisten  gesitteten  Völker"  angetroffen. 


Das  Historische  in  Kante  Religionsphilosopliie. 


gescWchte  gegeben.  „Wir  konueii  also  die  allgemeine  Kircheii- 
geschichte,  sofern  sie  ein  System  ausniaolien  soll,  niclit  anders  als 
vom  Urspnuig  des  Christentums  anfangen,  das  eine  völlige  Ver- 
lassung des  Judentums  ist,  worin  es  entsprang,  auf  einem  ganz 
neuen  Prinzip  gegründet,  eine  gänzliche  Revolution  in  Glaubens- 
lehren be\\irkte**  VI»  226.  Der  späte  Einsatz  ist  begreif  lieh.  Erst 
spät  entsteht  der  Rechtsstaat  ans  dem  juridischen  Naturzustand, 
ei-st  spät  entsteht  die  reine  Religion  aus  dem  ethischen  Natur- 
ssustand.  Ja  der  eigentliche  Beginn  der  reinen  Religion  liegt  in 
der  Gegenwart,  die  erst  die  christlichen  Ideen  wahrhaft  entdeckt 
hat.  Jesu  Lehren  ^^gerieten  bald  in  Hände,  welche  den  ganzen 
orientalischen  Kram  darüber  verbreiteten  und  wieder  aller  Ver- 
nunft ein  Hindernis  in  den  Weg  legten''  Erdmann  I  1,  214. 
Auch  der  Staat  verfiel,  und  erst  die  Neuzeit  hat  beide  zusammen 
unter  der  Einwirkung  des  freien  wissenschaftUcben  Denkens  wieder 
ans  Licht  gebracht.  Die  Welt  ist  noch  jnng,  die  höchsten  Ziele 
der  Gescidchte  sind  eben  erst  erschienen,  unendliche  Wege  liegen 
noch  vor  ihr,  und  der  beste  Teil  der  Geschichtspliilosophie  liegt  in 
der  Zukunft  (VII,  407)  V)-  Sie  ist  „ Wahrsagung'*,  sie  ist  der  Vernunft- 
glaabe  an  den  Völkerbuntl  und  das  Gottesreich  der  Zukunft;  „Wir 
sind  von  der  Vollendung  unserer  Bestimmung  noch  sehr  weit  ent- 
fernt. Die  halbe  Erdkugel  ist  erst  vor  20O  Jaliren  eutdeckt,  so 
wie  90U  die  Ostsee  entdeckt  w^urde""  ßeicke  II,  314.  Diese  Be- 
stimmung selbst  freilich  ist  Glaubenssache;  sie  glaubt  in  allen 
Schwankungen  an  einen  Fortschritt  der  Gattung,  die  Herausbildung 
der  Gattungseinheit  im  Gottesreich,  und  ist  vor  dem  abstrakten 
Chiliasmus  aller  Theoretiker  der  immanenten  Entwickelung  dadurch 
bewahrt,  dass  neben  dem  tilanben  an  den  Sieg  des  Guten  im  Ganzen 
der  an  die  Unsterblichkeit  des  Individuums  steht.  Es  sind  beides 
religiöse  Postdate,  ein  Gleichgewicht  des  individualistischen  und 
des  universalistischen  Entwickehingsglaubens,  das  viele  weitere 
Probleme  in  sich  enthält,  das  aber  keine  Inkonsequenz  ist.  Denn 
in  ihm  konmien  beide  gescbichtsphilosophische  Haupttendenzen 
Kants,  die  auf  die  freie  Persönlichkeit  und  die  auf  die  sittliche 
(4attungstotalität,  zum  Ausdruck,  und  in  ihm  findet  seine  Geseliichts- 
philosophie  die  Unbefangenheit  für  die  Würdigung  der  Thatsachen,«) 


*)  Ebenso  Erdniann  I  1,  216:  „Die  Erziehnngskiinst,  Begriflfe  der 
Sitte  und  Religion  hegen  noch  in  ihrer  Kindheit." 

*)  Vgl.  die  treffende  Bemerkung  Max  Webers  zu  der  analogen  Auf- 
fassung Roschers,  Jahrbuch  f.  Gesetzgebung  etc.,  herousg.  von  SchmoUer, 
SftAl«tDdl«ii  IX  g 


130 


E.  Troeltsch, 


Von    hier   aas   erklärt   sich   auch  der  zunächst  befremdliche 
Eiudnick,    den   die  Verwerfung   des   grössten  Teils   der  Religioos- 
geschichte  als  gar  nicht  zu  ihr  gehörig  macht.     Man  braucht  nur 
Voltaire  und  Hume  zu  lesen,  um  bei  ihnen  den  gleichen  Eindruck 
zu  bekommen.    Die  Messung  an  der  Vemunftreligion  und  der  Ghiube 
des   Zeitaltei-s  an  den  Beginn  eines  neuen  Weltâbschnittes    macht 
es  verständlich.    Das  Gleiche  liegt  bei  Kant  vor.    Die  Geschichte 
der  positiven  Religionen  ist  ihm  in  der  Hauptsache  die  Geschichte     i 
des  Aberglaubens,  und  die  Geschichtsschreibung  kann  sich  nicht  di«H 
Mühe  nehmen»  die  in  ihm  etwa  latenten  Elemente  derVernunftreügioa     ' 
zu  suchen.     Darin    stimmt    Kant   mit   beiden  überein  und  teilt  er  J 
die  Stimmung   des    18.  Jahrhundeits.     Aber   ganz    anders    wertet^ 
sein   ethischer  Idealismus   das    Christeutum    und   die  Znknnft  der 
Menschheit.    Er  glaubt  an  einen  Aufschwung  der  Menschlieit  durdi 
die   gereinigte   christliche    Religion,     Und    ganz  anders  wertet  er 
die  positiv-kirchliche  Form  des  Christentums.     Sie  ist  das  psycho- 
logisch unentbehrliche  Mittel  zur  Ausbreitung  und  Befestigung  dei; 
(Christentums.     Er  will  nicht  Religion  aus  reiner  Veniuuft,  sondern 
„Rektifikation"  der   positiven  Religion  durch  die  Vemunftreligiûu. 
Aber  allerdings   ist   es   ihm    nur   bei    dem  Christentum  der  Mühe 
weil,    die    Mythen    und    Legenden,    die   Dogmen    und    Satzungen 
einer  solchen   schonenden    Behandlung   und    Umbildung    zu  unter* 
ziehen.    Es  aileio  hat   den    hinreichenden    moralischen    Vernunft 
gehalt  dazu. 

So  ergeben  sich  die  Kategorien  für  die  Beurteilung  der  Reli- 
gionsgeschichte, Es  sind  Kategoneu,  die  a  priori  entworfen  werdeu 
müssen.  Die  Religion  ist  entweder  reine  Vernunftreligion,  d.  Ii. 
Überordnung  des  ethischen  Gedankens  über  alle  Versinnbildlichung 
Gottes,  oder  Heidentum,  d.  h,  Unterordnung  der  ersteren  unter  die 


I 


XXVII  4,  S,  33.  Weber  weist  auch  auf  Rankes  ähnliche  SteUung  hin. 
Daa  Nebeneinander  beider  Gedanken  bei  Kant  ist  wieder  das  Nebenein- 
ander der  Ergebnisse  der  kritischen  Lehre,  für  die  das  Individuum  mit 
seiner  Bejahung  des  Giltigen  aües  ist,  und  der  geschichts-philosüphiscb* 
anthropologischen  Lehre^  die  mit  dem  Gattungszusamiuenhatig  als  einer 
trans-subjektiven  Reahtät  rechnet.  In  der  Idee  des  Reiches  der  (unateTb- 
liehen)  sittüchen  Persönlichkeiten  fliesst  beides  zusammen,  ist  aber 
freilich  die  Unsterblichkeit  aller  fraglich  geworden.  In  dem  analoge» 
Kontlikt  der  gleichen  Gedankenreilien  hat  LesÄings  Geschichtsphilosophie 
bekanntlich  zum  Gedanken  der  Seelenwanderunçf  g^egriffen;  die  nicht  mr 
ünsterbUchkeit  eingegangenen  Seelen  kehren  in  derMetempsychuse  wieder. 
Vgl  Dil  the  j,  Lessing,  Preuss,  Jahrb.  1867, 


Das  Hifltoiiiclie  in  Kants  Eelîgionspliilosopliie. 


131 


letztere  (Vu,  366).^)  Es  sind  die  Beurteilungsprmzipien,  die  sich 
aus  dem  kritischen  Ürgamsatioiispunkt  einer  system atischeü  Reli- 
gionsgeschichte  ei^eben.  Dabei  ist  nur  nicht  zu  vergessen,  dass 
im  gewöhnlich  sogenannten  Heidentum  leicht  Vernnnftreligion  und 
io  der  vermeintlich  sogenannten  Vernmiftreligion  liel  Heidentum 
stecken  kann.  Kant  hat  die  Glanhensartikel  der  Vernnnftreligion 
—  wohl  im  Gedanken  an  das  Apostolicnm  oder  die  Trinitätslehre  — 
in  der  Dreizahl  forrauliert,  obwohl  mit  bekannten  wichtigen  Schwan- 
kungen in  der  Formulierung,  Diese  Glaubensartikel  sind  aber  nicht 
die  Artikel  einer  Kehgion,  die  die  Vernunft  erst  machen  oder  ein- 
setzen sollte,  sondern  der  kritische  Kanon  für  Beurteilung  und  Rek- 
tifikation der  positiven  ReligioiL  Er  hat  auch  die  Glaubensartikel 
des  Heidentums  formuliert  (VI,  267),  ebenfalls  nm^  als  kritischen 
Kanon  zur  Erkenntnis  der  heidnischen  Bestandteile  der  positiven 
Religionen, 

Diese  beiden  Kategorien  sind  seine  geschichtsphilosophischen 
Hauptkategorien  und  mit  ihrer  Hilfe  begründet  er  die  Stellung  des 
(Christentums.  Nicht  dagegen  hegen  in  Kants  eigentlichem  Sinne 
die  Kategorien  der  natürlichen  und  der  geoffenbarten  Religion, 
Es  ist  das  die  Fragestellung,  die  die  christliche  Kirchenphüosophie 
^«eit  dem  zweiten  Jahrhundert  zur  Bewältigung  des  Problems  der 
Keügionsgeschichte  ausgebildet  hatte,  und  die  auch  noch  den  konser- 
vativen Deismus  eines  Locke  und  eines  Leibniz  beherrsciit.  Für 
Locke  ist  die  Offenbarung  die  gottliche  Mitteilung  von  Erkennt- 
Qissen,  die  an  sich  auch  in  der  menschlichen  Vernunft  gelegen 
hätten,  deren  langsamen  und  bei  der  Natui*  des  Menschen  wenig 
hoffnungsvollen  Progress  aber  Gottes  Güte  abgekürzt  hat,  indem 
sie  die  rationale  Wahrheit  durch  ein  Üffenbarungswunder  vor  der 
Zeit  und  in  der  schlichtesten»  auch  den  Unmündigen  verständlichen, 
Komi  mitgeteilt  hat,  übrigens  unter  Hinzufügung  eines  Zusatzes 
unbegreiflicher  Mysterien.  Das,  was  heute  hinterher  als  rational 
bewiesen  werden  kann,  was  aber  den  Menschen  auf  rein  rationalem 
Wege  zu  erreichen  zu  schwierig  war,  das  hat  die  Offenbarung 
gegeben.  An  der  Konformität  ndt  der  rationalen  Ethik  und  Meta- 
ph3^sik,  sowie  an  den  beglaubigenden  Wundem  erkennt  man 
das  Recht  des  christlichen  Ofi'enbarungsspruches  gegenüber  dem 
anderer  Religionen.^)     Ähnlich,  nur  mit  engerem  Anschluss  au  die 


^t|| 


1)  KbeiLso  Reicke  III,  36  und  8L 

*)  Locke,  The  reasonableness  of  Christianity  as  delivered  in  the  scrip- 
Works,    LoDdon  1724  11,  530-537,    Die   au^serat  interessante   ReU- 


132 


E.  Troeltsch, 


scholastische   Theorie,    verwendet   Leibeiz    die   speknlative    Meta- 
physik   als  Kriterium    ziir  Ausiiiittelutig   des  Wührbcits wertes  de 
verschiedenen    religionsgeschichtlichen  Öffenbamngsansprüche,    da- 
bei   aber   seiner   ganzen  Richtung    nach    mehr   die  tbeosoiihischen 
Einsichten  als  die  moralischen  Volkswahrheiteii  betonend  und  ohne 
Fühlung    uiit   der  biblisch-historischen  Kritik.     Dit^  Coiucidenz  der 
christlichen  Lehre  mit  der  Hpekulation  und  der  historische  Beweis 
für  die  Uiaub Würdigkeit  der   biblischen  Wundererzäbhmg  erweiscB 
das  Christeutum  als  übeiuatürliche  Offenbarung,    w^ozu  danu  abe 
noch  Mysterien  hinzutreten,  als  für  die  Philosophie  weder  beweis 
bar    noch    widerleglar,    wenn   sie   keinen    Widerspruch   gegen   die^ 
logischen  iimudpriazipien  enthalten.  ^)    Die  einfachere  Lehre  Lockes 
hat  in  nianuigfacheu  Verbindungen  mit  der  Leibnizens  und    nntesH 
Znrückdriingnng  des  Zusatzes  der  Mysterien  die  weitere  Entwicke- 
lung   beberi^cht»    sie   bat    auch  die  religiousbistorische  Theorie  in 
Lessiugs  „Erziehung  des  Menschengeschlechtes"  inspiriert,  während 
Lessings  Theorie  von  der  Religion  seihst,  mehr  nuter  dem  Einfiusafl 
Leibnizens  stehend,  pautheistischen  und  mystischen  Gefühlen  Aus-^ 
druck  giebt,    Neben  diesen  rationellen,  halb  entwickelungsgescbicht- 
lichen,    halb    wunder-apologetischen    Offenbarungstheorien    gab    (3^M 
dann  aber  noch  die  mystisch-pietistischen,  mit  denen  ja  auch  Lessing 
gelegen tlich  spielt.     Für  den  Of feubartingsehar akter  des  Christen- 
lunis  gegenüber  anderen  Religionen  beweist  das  innere  Wunder  der 
gefühlsinässigeu  Vemcheruug  und  Erleuchtung,    die  Auflösung  der 
sonst   überall    vorhandenen    unlöslichen    Widersprüche    durch    daSji 
innere  Wunder  der  Bekehrung  und  des  Seelenfriedens  in  Christas 
So  hat  Pascal  argumentiert,    und    auf  Pascal  berief  sich  mit  Vor 
liebe  Jacobis  Religionslebre,    die   ja  auch  pietistische  Elemente  in 
sich    aufgenommen    hatte    und   die  Kant  verschiedentlich  ernstlich 
beschäftigt  hat.«)    In  diesem  Sinne  hatte  auch  Rousseau  die  Locke- 
sche Lehre  mit  neuen  Ideen  gemischt.  3)    Alle  diese  Motive  finden 


las« 


gionspliilosopbie   Lockes    verdien  te    sehr   eine  Bearbeitung,   die  vor  allem 
auf  ihren  Zusammenhang  mit  der  la  titudin  arisch  en  engUschen  und  mit  der 
freien   hoUändischen  Theologie    achten    müsste    und  die  Gesta^ltung  diesi 
theologischen  Materialien  durch  Locken  philosophische  Gnindgedanken  a 
Licht  stellen  müsste. 

Ï)  VgL  H.  Hoffmann,  Die  Leibnizscke  Eelig^ionsphilosciphie  in  ihrer 
geschichtUchen  SteUimg-.  Tübingren  1903.  Eine  Untersuchung  Wolffs  unter 
diesen  Gesichtspunkten  fehlt  leider  noch. 

*)  Boutroux,  Pascal,  Paris  1900,  S,  197. 

3)  VgL  meinen  Artikel  Deismus  PHE^^  D,  658. 


4 


Das  Histomche  in  Kanis  Relierîonspbilosophîe, 


133 


wir  tiiiü  freilich  bei  Kant  btniiitzt.  Kr  spricht  vod  der  im  Christen- 
imn  Hiiteciiiierteu  Vermuiftivligion,  von  den  mö/2fllcher  Weise  hiii- 
riikotiiniendeD  Sanktionen  ilorch  die  Wunder  der  Heilsg-eschichte 
oder  die  Wunder  der  Erleuchtung^,  die  als  unbeweisbar  und  im- 
^widerlegbar  für  die  Theologen  wohl  ihre  Geltung  behalten  mögen. 
Er  spricht  von  der  Coincidenz  der  Vernunftreligioji  nnd  der  ge- 
offenbarteo  als  dem  Kriterium  für  die  Geltung  des  Christentums, 
Ton  der  Hinzwfiigung  des  sanktionierenden  Vehikels  zu  der  Vernunft- 
religion. Aber  in  Wahrheit  zeigt  doch  seine  ganze  Anthropologie 
und  Geschichtsphilosophie  den  völlig  exoterischen  t 'harakter  solcher 
Wendungen,  eine  rein  historisch-psychologische  und  entwickelungs- 
geschichtliche  Betrachtung,  die  die  christliche  Offenbarung  genau 
so  betrachtet  wie  die  (jffenharnngen  aller  anderen  Religionen:  als 
unabsichtliche  Dichtung,  in  welche  sich  für  Meuscheu  einer  un- 
msscnschaftlichen  Kulturstufe  die  religiöse  Idee  einkleiden  niusste. 
Nur  anthropomorphe  Versinnlichung  und  zur  Schwärmerei  geneigter 
Enthusiasmus  setzen  eine  solche  Idee  in  der  Menschheit  durch.  Der 
Embryo  der  Vernunft  tritt  nur  in  solchen  Hüllen  zu  Tage,  die 
dann  die  später  erwachende  kritische  Vernunft  abstreifen  darf. 
Die  Bt>deutung  des  Christentuins  ist  nur,  dass  in  ihm  bei  der  Ah- 
streifung  dieser  Hiillen  der  unvergleichlich  stärkste  Moralgehalt 
übrig  bleibt.  Man  müsste  geradezu  annehmen,  dass  Kant  bei  der 
ausdrücklichen  Beschäftigung  mit  dem  Rehgionsproblem  in  den 
90er  Jahren  den  tlundogischen  und  deistischen  Offenbarungsideen 
meder  wenigstens  mehr  Möglichkeit  einzuräumen  geneigt  gewesen 
sei.  als  er  bisher  in  seiner  offenbar  unter  dem  Einfluss  der  radikalen 
englischen  und  französischen  Kritik  stehenden  KultiU'psychologie 
und  Oeschichtsphilosüphie  gewesen  war.  Allein  das  scheint  mir 
völlig  undenkbar.  Die  „Eel  i.  d.  Gr.  d.  bl.  V:"*  zeigt  ja  auch 
selbst  zu  deutlich  diesen  Untergruiul  eiiu^r  prinzipiell  entwickelungs- 
geschichtlicben  and  religionspsychologischen  (lesamtsnschauung. 
Kant  hat  hier  aus  ûvw  fiiiher  entwickelten  Gründen  die  Spitzen 
seiner  Theorie  abgebrochen.  Kr  wollte  ja  in  seiner  Religions- 
lehre aufhauen  und  nicht  negieren.  Er  durfte  glauben,  seinem 
Publicum  Hartes  genug  zugemutet  zu  haben  und  hat  die  tiefer 
Blickenden  die  vollen  Konsequenzen  nur  zwischen  den  Zeilen  er- 
kennen lassen.  Zudem  stand  er  ja  hier  im  scliroffen  Kampf  gegen 
das  Wöllnersche  Regiment  und  duiite  in  der  radikalen  Verhinde- 
rung des  pfäffischen  Extrems  das  nächste  praktische  Ziel  erreicht 
zu  haben  glauben. 


134  E.  Troeltsch, 

Dass  das  so  ist,   ergiebt  sich  schliesslich  aus  seiner  Behand- 
lung  des   Christentums   und   der  Bibel.    Hier  gebraucht   freilich 
Kant  häufig  das  deistische  Schema:  Das  Christentum  ist  die  tod 
Gott  veranstaltete  Introduktion   der   reinen  Vemunftreligion,  die 
Bibel  ist  die  göttliche  Sanktionierung  der  reinen  Religion,  Christas 
ist  der  Lehrer  derjenigen  Religion,  die  allein  unter  allen  mit  der 
Vernunft   übereinstimmt;   die  Offenbarung  ist  das  Vehikel  für  die 
Kundmachung   und   Einführung  der  Vernunftreligion.»)    Zwar  die 
Hinzufügung   eines  Zuschusses   unbegreiflicher  Mysterien  ist  weg- 
gefallen,   die   allenfalsigen  Wunder   dienen   lediglich   formell  der 
Einführung   der  reinen  Religion,   um  sie  als  solche  kenntlich  und 
wirksam   zu   machen;    in   diesem  Punkte   war  Leibniz  und  Locke 
vom  späteren  Deismus  längst  überholt,  und  Kants  Formeln  stellen 
den  reinen  Deismus  dar.    Allein  man  braucht  sie  nur  näher  anza- 
sehen,   um   sie   als  blosse  Beschwichtigungsformeln   zu  erkennen, 
und  jeder  Blick   auf  die  sonstigen   Lehren  Kants  bestätigt  diesen 
Eindruck.    Nicht  bloss  der  Zuschuss  der  Mysterien  ist  weggefallen, 
sondern  die  ganze  wunderbare  Introduktion  selbst  und  die  wesent- 
liche Identifikation  des  Christentums  mit  der  Vemunftreligion,  die 
ganze  Auffassung  des  Christentums  als  göttlicher  Offenbarung  der 
Vemunftreligion.    In  diesem  Punkte  denkt  Kant  völlig  wie  Hume, 
Voltaire   und   Rousseau.    Die   ganze  Introduktion,    der  Glaube  an 
Offenbarung  und    Wunder,    hat    nur    subjektive    Bedeutung    vom 
Menschen  aus,  keinerlei  objektive  von  Gott  aus.    Es  sind  die  Vor- 
stellungsformen, in   die    sich   bei   der  Schwachheit  der  Menschen 
der  religiöse  Gedanke   kleiden   muss,    und  in  die  er  sich  teils  für 
Jesus   selbst,   teils   und  vor   allem   für  seine  Gemeinde   kleidete. 
Diese  Formen   waren    unentbehrlich    zur  Sammlung  einer  Gemein- 
schaft  und   für   die  damalige  Zeit  glücklich  und  förderlich.*)     So 
wurde  der  reine  Religionsglaubc  Christi  zum  Glauben  an  Christus, 


>)  Vgl.  VII,  361  :  „Das  Christentum  ist  die  Idee  von  der  Religion, 
die  überhaupt  auf  Vernunft  gegründet  und  insofern  natürlich  sein  muss. 
Es  enthält  aber  ein  Mittel  der  Einführung  derselben  unter  Menschen,  die 
Bibel;  deren  Ursprung  für  übernatürlich  gehalten  wird,  die  (ihr  Ursprung 
mag  sein,  welcher  er  wolle),  sofern  sie  den  moralischen  Vorschriften  der 
Vernunft  in  Ansehung  ihrer  öffentlichen  Ausbreitung  und  inniglichen  Be- 
lebung beförderlich  ist,  als  Vehikel  zur  Religion  gezählt  werden  kann 
und  als  ein  solches  auch  für  übernatürliche  Offenbarung  genommen 
werden  mag."  Über  das  „deistische  Schema"  vgl.  meine  Abhandlung 
„Grundprobleme  der  Ethik"  Z.  f.  Theol.  u.  Kirche  1902,  S.  127-130. 

«;  Reicke  HI,  46  f.,  77,  64;  U,  6;  VI,  230,  263,  266  f.;  VU,  354. 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  136 

zur  Vergöttlichung  Christi,  zur  Religion  zweiter  Hand.^  Messia- 
nismus  und  antijüdische  Apologetik  haben  ihn  geformt  und  ihm 
für  die  neue  Gemeinde  die  Loslösung  vom  Judentum  durch  starke 
Konzessionen  an  jüdische  Denkweise  ermöglicht.*)  Diese  Vor- 
stellungsformen sind  für  spätere  Zeiten  zu  einer  schweren  Last 
geworden;  aber,  da  auch  sie  der  Vehikel  und  der  Versinnlichung 
für  den  Zusammenhalt  einer  Gemeinde  bedürfen,  so  sind  sie  auch 
heute  unentbehrlich  bis  auf  unabsehliche  Zeiten.  Darauf  beruht 
auch  die  Bedeutung  der  Bibel.  Da  die  Eeligion  der  Vehikel  be- 
darf und  die  Bibel  dieses  Vehikel  darstellt,  so  muss  trotz  der  Un- 
kontrolierbarkeit  und  vielfachen  Fraglichkeit  ihrer  Überlieferungen, 
trotz  der  zahlreichen  bedenklichen  Bestandteile  doch  die  Bibel  als 
psychologisch  unentbehrliches  Mittel  der  Erbauung,  Leitung  und 
Zusammenhaltung  einer  Gemeinde  beibehalten  werden.  Bibeln  und 
Religionen  entstehen  nur  in  wundergläubigen  und  enthusiastischen 
Zeiten.  Solche  sind  abgelaufen,  und  eine  neue  bessere  Bibel  ist 
darum  nicht  zu  erwarten.  So  halte  man  sich  an  die  alte  Bibel, 
die  doch  zugleich  eine  unvergleichliche  Majestät  und  Grossartig- 
keit besitzt,  und  sorge  nur  für  eine  Auslegung,  die  das  Bedenk- 
liche neutralisiert.  Sieht  man  die  Sache  so  an,  dann  wird  trotz 
des  Wegfalls  jedes  objektiven  Wunders  „die  Welt  nie  etwas  die 
Seele  belebenderes,  die  Selbstliebe  niederschlagenderes  und  doch 
zugleich  die  Hoffnung  erhebenderes  sehen  als  die  christliche  Reli- 
gion, die  sich  von  dem  Judentum  erhoben  hat"  Reicke  UI,  57. 
Dann  „entschädigt   die   Göttlichkeit  ihres  moralischen  Inhalts  die 


1)  Reicke  n,  283;  lU,  66. 

2)  Kant  betont  durchgängig,  dass  das  Legendarische  und  Mythische 
des  Urchristentums  aUes  aus  dem  Judentum  und  aus  dem  Messianismus 
stammt,  der  seinerseits  das  Mittel  war,  die  Juden  leichter  zur  Anerkennung 
des  Christentimis  zu  bringen.  Daher  „die  messianisch-christliche  Lehre 
von  der  Versöhnung  mit  Gott  durch  ein  Opfer"  Reicke  III,  34,  daher  das 
^Vehikel  der  Religionslehre,  nämlich  die  Geschichte  des  Glaubens,  welche 
mit  dem  messianischen  Glauben  anhebend  durch  den  evangelischen  (der 
jenen  zurücklässt)   zum   rein  moralischen  hinweiset**  Reicke  III,  68,  daher 

der  Abriss  der  Geschichte  des  Christentums,  wonach  erst  der  rein  mosa- 
ische Glaube,  dann  der  mosaisch-christliche,  dann  der  rein  christliche 
Glaube  kommt,  wonach  insbesondere  der  evangelisch-mosaische  als  evan- 
gelisch-messianisch  sich  vom  jüdisch-messianischen  unterscheidet  und  der 
rein  evangelische  jetzt  erst  anfängt.  In  dieser  Betonung  des  Judenchrist- 
lichen scheint  mir  Semlers  Einwirkung  vorzuliegen.  Das  Vehikel  ist  dar- 
nach nicht  eine  mögliche  wirkliche  Offenbarung,  sondern  stets  nur  der 
jttdisch-messianisch  gefärbte  Off enbarungs glaube  des  Urchristentums. 


136 


E.  Troeltsc! 


Vernunft  lùereicheud  wegen  der  Menschlidikeit  der  Geschichts- 
ei'zähliiüp:  und  zk-lit  diese  vielmehr  durch  Akkoninii^dation  und  Ans- 
legniig:  selbst  l)ei  dejii  gerijigsteii  (Irade  der  Walirseheinliclikeit 
siegreich  in  ihr  Interesse'*  Reickelll,  14.  Sielit  mau  dagegen  die  Sache 
objektiv  iiüt^fr  dem  (.lesidit.sjuiiikt  des  gottlictien  Thuns  an»  dann  ist 
Christentum  und  Bihet  ein  Werk  der  Voi-seliung,  und  das  ist  für  Kant 
gleichhudeuteiid  mit  einem  Ergebnis  der  geschiditlieiien  Entwickeluug:. 
In  der  Stufenfolge  der  durch  den  psydiologisehen  Mechanismus 
hindurch  sich  bewegenden  Entfaltungen  der  Vernunft  ist  es  der 
Dnrchbruch  der  A'erunuftreligiou  in  der  durch  Zeit  nud  Lage  be- 
dingten Form,  ^Man  kann  hiervon  wie  von  dem  Zweckmässigen 
und  Heilsamen,  was  sich  im  Laufe  rler  Welt  auch  ohne  unser  Zu- 
thun  ereignet  und  was  nicht  bloss  als  Znfall  anznseheu  ist,  (als 
Ursache)  nichts  anderes  als  die  Vorsehung  nennen,  w^elche  sich 
auch  aufs  Thun  und  Lassen  des  menschlichen  Geschlechtes  im  M 
Grossen  erstreckt ''.  Es  ist  ein  ^.Ereignis,  welches  wegen  seiner  ■ 
unendlichen  aus  der  grössten  Simplicität  hervorgehenden  Wirksam- 
keit zur  Besserung  der  Menschen  als  ein  Werk  der  Voi-sehuDg, 
darum  aber  nicht  minder  als  natürlicher  Erfolg  der  fortschreiten- 
den Kultur  augesehen  werden  darf",  Eeicke  IIL.  63  f.')  Ist  abtT 
so  das  Christentum  bei  all  seiner  Grossartigkeit  als  Hervorbriugun? 
der  natürlichen  Entwickelung  zu  betrachten,  so  teUt  es  auch  das 
Wesen  aller  Erzeugnisse  dieser  Entwickelung:  es  ist  nicht  ewig. 
Das  Unveränderlich^Normative  liegt  nur  in  der  Verunnftreligion, 
aber  alle  Ausgestaltungen  der  Vemunftrdigion  sind  zeitlich,  zufälUof, 
d.  h.  von  Lage  und  Ort  nntbestimmt  und  relativ.  Das  Christeu- 
tum  ist  nui'  auf  unabsehbare  Zeiten  die  Verkörperung  der  Ver- 
nunftreligion, sein  Küx'henglaube  „vereinigt  nur  provisorisch  die 
Menschen  zur  Befördeiiing  des  Guten**.«)    Was  dann  kommen  soUi 


i)  Fast  wörtlich  ebenso  VET,  381. 

«)  Die  Stelle  bei  Dieterich  S.  165,  ausführlich  bei  Reicke  III,  4  f 
mit  dem  charakt^ristiBchen  Schluss  *,Der  Satz  vom  geschriebenen  Wort 
Gotte.'j,  dass  es  nB.ralich  ewig  dauern  werde,  ht  nur  so  zu  verstehen,  dass 
es  Pflicht  derMenscben,  vornehmlich  der  Lehrer,  sei,  es  so  zu  beherzigen 
und  zu  lehren,  als  ob  es  çvng  zu  währen  bestimmt  sei,  weil  der  Gedanke 
von  ihrer  möglichen.  Abändeningr  zugleich  den  von  einer  felilerhaften  Be- 
schaffenheit derselben  und  der  Glaubenslehre  bei  sich  führen  und  so  ohne 
Kraft  sein  wllrde*^  Sehr  klar  auch  Reicke  111,  2  ^So  lange  die  Aufklärung 
in  der  Welt  bleibt,  wird  nie  ein  für  das  Volk  in  Sachen  der  Religion 
schickücheres  und  kräftigeres  Buch  angetroffen  werden;  denn  die  Salbung 
der  Geschichte  wird  ihm  fehlen,  und  eine  andere  Geschichte  wird  eben 


1 


i  undeutlich*  Maodimal  scheint  es,  als  solle  die  naiie  \\^i'iniDft- 
^ligion  ohne  alle  Vehikel  l*oriimen;  aU(*in  das  ist  bei  Kauts  psy- 
loloçischer  Auschaiiunof  von  df»r  steten  Verhuiidenhrit  der  Ver- 
»nft  mit  sinnlich-psychuluirischeii  Verwirküehunj^sniittcln  eiîie 
ufhebung  der  Voransseizun^en,  Mauelinml  s|pielt  Kant  ntit  dem 
«danken  eines  neuen  Vt'hik<ds  uu<l  einer  niMU'U  Biln'!,  nni  aber 
lesen  Gedanken  sofort  wieder  fallen  zu  lassen.  Ob  er  so  oder  so 
enkt,  das  hangt  davon  ab,  ob  mehr  sein  rationalistisches  Interesse 
m  tjiltigen  oder  seine  knltnrpsycbologisohe  Kinsirlit  in  die  Not- 
reodigkeit  psyeholog'isch  bedingter  Verwirkliehung-sfi^rmen  der  Ver- 
imft  vorheiTScht.  Im  iiauzeii  ist  daher  seine  Autwort  stets,  mau 
oUe  sich  an  das  Christentum  halten  und  aus  ihm  soviel  (irutes 
lachen,  als  man  zu   machen  im  Standi^  ist.     Auch  wo  er  von  d<*r 

Pen  Veruuuftreligion  der  Zukunft"  spricht,  scheint  er  doch  meist 
ein  eiidgilti^  rationalisiertes  (Christentum  zu  meinen,  dessen 
nken  völlig  auf  das  Haltbare  reduzieit  sind  uiul  dessen  Halt- 
sicher als  inadärjuates  Bihl  erkannt  istJ) 
Es  ist  klar»  dass  das  deistische  S«*heraa  völlig  aufgelöst  ist, 
fani  befindet  sich  mit  Voltaire  und  Hume  an  dem  Punkte,  wo 
1er  Deismus  in  die  moderne  religiousgeschicbtliche  Forschung 
Ibergeht.  Ei*  uuterscheidet  sich  von  ihnen  nur  dadurch,  dass  ihm 
lie  nackte  Vernunft  überhaupt  nichts  gilt,  sondern  die  Notweudig- 
:eît  des  Vehikels  der  [lositiven  Religion  bei  der  thatsachüchen  psy- 
hologischeu  Beschaffenheit  des  Menschen  feststeht,  und  dass  unter 
en  positiven  Religionen  ihm  das  Christentum  durch  seinen  Gehalt 
ine  unvergleichlich  hohe  und  dauernde  Bedeutung  hat.  Auch 
sychotogisch  und  religionsgeschiehtlich  als  mannigfach  bedingte 
Einkleidung  der  religitisen  Idee  betrachtet,  verliert  es  nichts  von 
einer  Herrlichkeit  und  von  seiner  Führerstellung  im  geistigen 
jeben. 

Das  sind  die  Ergebnisse  der  systematischen  Geschichte  der 
leligioD.  Sie  hat  den  kritischen  Massstab  a  priori  konstruiert 
nd  darnach  die  AuBäheningeu  der  geschichtlichen  Religion  au  ihn 
eurteilt,  I>abei  hat  sie  das  Christentum  als  die  einzige,  den  Ge- 
anken  selbst  prinzipiell  rein  erhaltende,  Verkörperung  der  Idee 
rkannt  und  alle  ausserchrist liehen  Religionen  trotz  gelegentlicher 
lOerkennung  von  Wahrheitsmomenteu  in  ihnen  schroff  verworfen. 


urch  diese  Aufklärung,  weil  sie  aus  neuen  Wundern  bestehen  mllsste,  nie 
^QAehen  bekommen"« 

*}  Vgl  oben  S.  45  f. 


EM 


138 


E,  Troeltficîi, 


Diese  ^»'aiiz  eigentümliche,  im  Grunde  sehr  nnhistoriseh  eiiipfirndeoe 
Tr**tiiiuiig:  des  Ätithroptdos^rischen  und  Normativen,  des  Ausserchrist- 
liehen  und  Chrisllicheu,  ist  der  AusfUiss  des  kritischeu  Gedankens, 
der  Treunung  des  Thatsächlich-Psycliohjgisclien  vom  Intelligibel- 
Normativen.  Aber  die  Darstellung  hat  doch  auf  Schritt  nnd  Tritt 
erkeuuen  lassen,  dass  das  nicht  das  ganze  Bild  der  Sache  ist 
tiberall,  wo  nicht  das  methodisch-kritische  Gewissen  des  Traos- 
scentlentalphilosophen  spricht,  spricht  doch  der  Geschichtsphilosopb, 
der  î>êides  aufs  engste  aufeinander  bezieht,  der  die  Vernunft  aos 
der  Natur  sich  entwickeln  und  in  d*^n  psychologischen  Gebilden 
sich  verkörpern  nnd  befestigen  lässt,  der  Psychologisches  nnd  In- 
telligibles zusammeuschant  und  beides  teleologisch  aus  einer  S^Ê 
nieinsamen  Quelle  sich  entwickeln  lässt.  Es  ist  der  MetÄ^ 
physiker,  der  eine  gemeinsame  Wurzel  von  Sinnlichkeit  und  Ver- 
stand, von  Kausalität  und  Freiheit  hypothetisch  für  w^ahrscheinlich 
hält  und  der,  wo  er  vom  Zwang  der  Methode  frei  ist,  die  Objekte 
so  nimmt,  als  läge  ihnen  eine  solche  metaphysische  Einheit  zu 
Grunde.  Die  Bedeutung  dieser  raet^ipliysischen  Voraussetzungen 
für  unser  Problem  ist  daher  der  let^t«  nnd  abschliessende  Gegeu- 
stand  unserer  Untersuchung. 

nie  Religionspsycbologie  ist  unter  diesem  Gesichtspunkte» 
denn  doch  in  Wahrheit  nicht  so  scharf  gescliieden  von  dem  e^ 
kenntnistheoretisch  gesicherten  Wesen  der  Religion,  als  es  nach  der 
bisher  geschilderten  rein  kritischen  Auseinanderhaltung  ei-scheiücß 
möchte.  Kant  hat  übei^all  dasjenige  vorausgesetzt,  wavS  Wandt 
die  „Heterogonie**  der  Zwecke  nennt.  Er  lässt  aus  dem  eudämo- 
nistiscbeu  Triebmechanismus  der  Seele  durch  gegenseitige  Hemmung 
der  Triebe  Raum  und  Gelegenheitsursachc  für  das  Hervortreten 
der  politischen  und  ethischen  Vernunft  hervorgehen,  die  Ergeb- 
nisse des  Jlcchnnismus  von  der  Vernunft  beseelen,  befestigen  lUid 
für  ihre  Zwecke  gestalten.  Er  lässt  die  frei  gewordene  Veraunft 
aus  eigenem  Wollen  oder  unbewusster  Nötigung  sich  mit  sinnliclu^n 
Bildern  und  Formen  bekleiden  und  so  Kinfluss  und  Macht  unt«r 
den  Menschen  erlangen,  namentlich  dett  IMechanismus  der  Sozial- 
psychologie für  ihre  Zwecke  vf^rwenden,  tla  sie  ohne  das  schwach 
und    bodenlos   bliebet)     Wenn  Kant   für   die   Religionsphilosopliii^ 


1)  VII,  370.  Die  Juden  sollen  Christen  oluie  Trinitätslebre  werden 
und  eine  Kirche  bilden:  J>a  hip  utui  so  lange  das  Kleid  rditie  Miißii 
(Kirche  oîme  Religion)  ^^tiaht  haben,  gleichwohl  nher  der  Mann  ohne 
Kleid  (Beligion  ohne  Kirche)  auch  nicht  gut  verwahrt  ist,  sie  also  gewisse 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  139 

diese  Gedanken  relativ  am  wenigsten  durchgeführt  hat,  so  kommt 
das  von  seiner  einseitig  ethischen  Auffassung  der  Religion,  die 
ihn  allerdings  gegenüber  den  tieferen  Religionsstufen  hilflos 
machte.  An  Feinheit  der  Analyse  hätte  es  ihm  dazu  nicht  gefehlt. 
Immerhin  macht  er  doch  wenigstens  Andeutungen  dieser  Art. 
Das  schon  einmal  erwähnte  lose  Blatt  (Reicke  I,  238)  beginnt  mit 
der  Bemerkung:  „Der  Begriff  von  Gott  ist  nun  einmal  da. 
Man  muss  ihn  aus  dem  Gebrauch  (sc.  der  thatsäcJilichen  psycho- 
logiscfien  Gestalt)  genetisch  (sc.  in  Eücksicfd  auf  den  darin 
latenten  Vernunftgehalt)  entwickeln,  indem  man  nicht  den 
Sinn,  den  man  wirklich  damit  verbindet,  sondern  die  Absicht 
aufsucht,  die  bei  all  diesen  Begriffen  zu  Grunde  liegt".  Und 
zwar  muss  das  zunächst  geschehen  „in  allen  Erkenntnissen,  die 
sich  lange  vor  der  Wissenschaft  erheben  und  die  Gelegenheit  dazu 
{d.  h,  jedenfalls  zum  Hervortreten  des  reinen  Oottesbegriffes)  geben". 
Kant  exemplificiert  dann  auch  sofort  auf  die  Religion  der  Wilden. 
So  habe  ich  ja  auch  bereits  früher  einen  Satz  aus  der  „Rel.  i.  d. 
Gr.  d.  bl.  V."  angeführt,  wo  die  Mythologien  aller  Religionen  als 
Dichtungen  bezeichnet  waren,  in  denen  unbewusst  die  religiöse 
Idee  sich  einen  Ausdruck  schafft.  Dass  die  zu  einer  solchen  Auf- 
fassung unentbehrliche  Anerkennung  der  unbewussten  Vernunft, 
der  aus  der  Latenz  heraus  wirkenden  und  erst  zuletzt  sich  in 
ihrem  eigentlichen  Sinne  erfassenden  Vernunft,  Kant  durchaus  ge- 
läufig war,  bezeugt  seine  Anthropologie  (VII,  445  ff.)  Hier  hatten 
Leibnizens  „Nouveaux  essais"  stark  vorgearbeitet.  Aber  aller- 
dings hat  Kant  diese  Gedanken  stets  nur  angedeutet.  Zu  der 
Feinheit   der  Analyse   religiöser  Erscheinungen,    wie   sie   Herder, 

Förmlichkeiten  einer  Kirche,  die  dem  Endzweck  ihrer  jetzigen  Lage 
angemessen  wäre,  bedürfen,"  so  sollen  sie  dem  Vorschlag  Bendavids  folgen 
und  eine  moderne  judenchristliche  Kirche  gründen.  Ebensowenig  will 
Kant  wissen  von  dem  Experiment  der  Theophilanthropen,  die  reine,  durch 
kein  Vehikel  bekleidete  Vernunftreligion  einzuführen:  „Keine  theophilan- 
thropische Gemeinde,  theologische  Mystik,  wird  den  Mangel  derselben 
{sc.  der  Kirche)  ersetzen,  weil  die  Erfahrung  nicht  bloss  zeigt,  dass  ohne 
alles  heilige  Buch  Barbarei  in  Religionsbegriffen  sich  einfinden  würde, 
sondern  auch  weil  dieses  gegenwärtige  System  durch  Erfahrung  seiner 
Brauchbarkeit  in  Ansehung  alles  Moralischen  sich  selbst  zum  Kanon  be- 
rechtigt, den  selbst  die  Regierung  mit  Achtung  anzuerkennen  nicht  er- 
mangeln wird"  Reicke  III,  6.  Die  Beifügung  der  theologischen  Mystik 
mag  sich  auf  Lessings  evangelium  aetemum  der  Zukunft  beziehen,  wie 
Amoldt  Krit.  Exk.  252  f.  wohl  mit  Recht  eine  Opposition  gegen  diese  auf 
die  Mystiker  gestützte  Lehre  Lessings  im  ,  Streit  der  Fak."  vermutet 


140 


E,  Troeltscli, 


Hegel    Schelliiip:,    tTiimm,    Schleif^rinacher    und    ih*    Wette    vorg 
iioninieii  habfiü,  ist  er  nie  voiTrednin^eiL 

Weiiü  mui  cihi'v  auch  dio  Throrio  der  Kîilwickidtmg  od« 
Heterogoüie  der  intelli^qbelu  Reli^noii  aus  psychologiseheii  Ansätoii 
lieraus  vod  Kant  iiielit  frf'nauer  durehgefiihrt  worden  ist,  so  hui 
er  dit'  Kiulieii  di-s  Veniütifti^^rii  und  Psychologiselieii  doch  wenig- 
stens in  Bezug  auf  die  herausgebildete  ethische  Keliginn  t^rnsllich 
geltend  gemacht.  Die  Religion  ist  kein  willkürlich  gemachtes 
Produkt  des  Verstandes,  sondern  eine  Änsserung  der  (Trund gesetzt' 
der  Vernunft.  Sie  hat  rationale  Notwendigkeit,  aber  nie  rein  ra- 
tionale, von  aller  Siunliehkeit  und  iisychologisehen  Intensiviening 
unabhängig«'  Wirklichkeit.  Sie  bedarf  des  anthropooiorpheu 
Bihles  oder  des  Scheniatismus  der  Analogie  oder  des  versinnliehendpo 
Syjnhoîs,  durch  welches  sie  erst  mitteilimgsfähig,  motivationskräftig» 
organisatorisch  und  belebend  wird.  Kant  hat  diese  Theorie  ganz 
ausdrücklich  in  der  ^ReL  i.  d.  t-ir.  d,  bl.  V.**  entw^ickelt  und 
kommt  hn  Einzelnen  unanfhörüch  auf  sie  zurück.  ^     Der  Gedanke 


1)  Die  auph  von  Dilthey  (Arch.  f.  Gesch.  d.  Pli.  Ill,  433)  stark  betonte 
Haiiptstelle  ist  ^ReL  i.  d,  Gr  d.  bl  V/^  VI,  160  f.  ^Wir  hedürlen,  um  uns  über 
sinnlicbe  Beschaffenheiten  fa.^«lich  zu  inachen,  immer  einer  gewissen  Analogie 
mit  Natarwesen  . , .  das  ist  des  Schematismus  der  Analogie  (zur  Erliiutenili^', 
den  wir  nicht  entbehren  können".    Irre  ich  nicht,  so  haben  wir  hier  eineu 
der  hRufi^en  Fälle,  wo  Kant  die  in  der  „Kr.  d,  r,  V."  gewonnene  Termine- 
log-ie   auf   andere  Gebiete    tlbertrüp^t.      Wie    von   den    reinen    Kat^gorieo 
stiu'  konkreten  Natunviasenschtift  der  „Schematismus  der  reinen  Verstandes- 
beg-riffe**  notwendig  den  IJber^ng   macht,   80  ist  auch  der  Übergang  von 
den  reinen  Religionsideen  zur  wirklichen  Religion  durch  einen  Schematic 
mus   der  Einbildungskraft   bedingt.     Sofort   aber   sorgt  dann  Kant  dafür, 
dass   diese  Symbole    nicht   als    adäquat«  Erkenntnisse   genommen    werderi 
dürfen,    weil    sie   ja    auf   das  (übersinnliche  Zeit  und  Kaum  und  die  sämt- 
lichen Kategorien  Ul>ertragen  würden,   die   .sämtlich    nur  Geltung:   ftir   die 
Erfahrung  haben  und  deren  Anwendung  auf  die  Ideen  des  Übersinnlichen 
diese  nur  zersetzen  würde.     ,,Man  kann  im  Anfat eigen  vom  Sinnlicben  zum 
Übersinnlichen   zwar   wohl    schematisieren    (einen  Begriff   durch  Analogie 
mit  etwas  Sinnlichem  fassbar  machen),  schlechterdiugs  aber  nicht  von  dem, 
was  dem  ersteren  zukommt,  dass  es  auch  dem  letÄteren  beigelegt  werden 
müase,   schliesaen    {und   so  seinen  Begriff  erweitern ;>\     Ebenso  susführücU 
über   das   Symbolische  und   lutellektuelle    in  der  Religion  VII,  ö07.     Also 
ein   stets    kritisch   an   seine  Inadäquatheit  erinnerter  symbolischer  Anthro- 
pomorphismus,    aber    kein     spekulativ-dogmatischer    oder     theosophischer 
Anthropomorphismnsi  der  das  Uli  ersinnliche  logisch  behandelt  wie  Gn^ssen 
der    Erfahrung.      Es    ist    die   Schwebe,   in   der    alle    metaphysischen    Be- 
griffe bei  Kant  bleiben;  sie  gehen  notwendig  ans  der  Vernunft  hervor,  als 


Das  Hiatoriflclie  in  Kants  Religionspïiilosophie. 


141 


»Uügt  in  seinem  Prinzip,  ila  die  Verniuift  immer  nur  kritisclies  Ke- 
fgülativ  des  wirklirheu  BewusstseitiS,  immer  bezogen  auf  das  zu- 
l^leieb  thalsächlich  und  zutnllig  bestimmte  empirische  Bewusstsein 
ist,  Sü  verwahrt  er  sich  Ja  aorh  mehrfach  dagegen,  dass  ei'  eine 
^Religion  aus  reiner  Vernunft"  geben  wulle.  Das  giebt  es  iiher- 
liaapt  nur  als  kritischen  Kanon,  nicht  als  thatsächliclie  Wirklichkeit 
l^des  Bewusstseins.  Er  will  unr  „Religion  innerhalb  der  reinen 
Vernunft*",  das  heisst  unter  diTKontroIe  der  reinen  Vernunft  gehen 
(Reicke  HI,  55,  908),  Hierin  liegt  ja  auch  der  tiefste  Gnmd  und 
das    silthclie    Recht    seines  Koalitionsversuehes.*)     Der  Religions- 


iMosse  Abstraktionen  der  Einheit  ans  der  theoretischen,  als  praktisch-leben- 
'  dige  Verge^enwftrtigutig  des  Sein-Sollenden  aus  der  praktischen,  als  änthro- 
!  pumorph  die  übersinnliche  Welt  persouit'icierende  aus  der  religiösen  ;  aber 
sie  liegen  in  all  diesen  Fällen  über  die  erkennende  und  beweisende  Wis- 
[goiinrhift  hinaus,  soweit  analogiscb  gedacht,  um  tlberhuupt  ^edaclit  werden 
BÉ  können,  und  soweit  jeder  Analogie  entrückt,  um  keine  Erfahrnn^- 
•ß^genstönde  ta\  sein.  Das  ist  w<dd  auch  die  einzii^  m<igliche  Aulwort  auf 
die  von  Vaihinger  in  der  Einleitung  zu  Sänger,  Kants  Lehre  vom  Glauben** 
S.  XI  aufgeworfene  Frage,  Ähiihch  bezeichnet  Kant  die  Personifikation 
des  übersinnlichen  als  „eine  ilsthetische  VorsteOungsart,  deren  man  sich 
wohl  liinten  nach,  wenn  durch  erstere  {die  pfiilosophwche)  die  Prinzipien 
schein  ins  reine  gebracht  sind,  bedienen  kann,  um  durch  sinnliche,  obzwar 
nur  analogische  Darstellung,  jene  Ideen  zn  beleben,  doch  innuer  mit  einijyrer 
Gefahr,  in  schwiinnerisihe  Visionen  zu  geraten,  die  der  Tod  aller  Philo- 
sophie sind**  VI,  4H1.  —  Diese  ^symbolische  Darstellung  ist  Mittel  der  Be- 
förderung des  reinen  Religionsglaubens**  VI»  275,  „Das  Unsichtbare  bedarf 
doch  beim  Menschen  durch  etwas  Sichtbares  (Sinnliches)  repräsentiert,  ja 
was  noch  mehr  ist,  durch  dieses  zum  Behuf  des  Praktischen  begleitet,  und, 
obzwar  es  intellektnell  ist,  gleichsam  nach  einer  gewissen  Analogie  an- 
schaiiLich  gemacht  zu  werden,  welches^  obzwar  ein  nicht  w  oh!  entbehrliclies, 
doch  ÄQgleich  der  Gefahr  der  Missdeutung  gar  sehr  unterworfenes  Mittel 
ist"  VI,  292,  Bei  Gelegenheit  der  christlichen  Trinitât,  Himmelfahrt,  Auf- 
erstehung: „Wir  können,  nra  unsereu  Begriffen  von  veniilnftigen  Wesen 
Anschauung  zu  unterlegen,  nicht  anders  verfahren  als  sie  zu  anthropomor- 
phideren;  unglücklich  aber  oder  kindisch,  wenn  dabei  die  symbolische 
Vorstellung  zum  Begriff  der  Sache  selbst  erhoben  wird"  VII,  486  f.  Die 
Gründe  hiervon  im  Wesen  des  Versta-ndes  und  der  Phantasie  \1I,  J-ißS, 
454,  483.  Das  vielgenannte  „Vehikel*"  ist  nichts  anderes  als  die  sinnliche 
Einkleidung  VI,  359.  298,  1Ô3.  VII,  35B,  354,  Reicke  III,  16,  II,  183.  Diese 
SymboHsierung  wirkt  die  Belebung  des  Willens,  bewirkt  die  Mitteilung 
und  Belebung  der  Religion  im  Unterricht  Vn,  364,  die  Stellen  bei  Diete- 
rich S,  162  f.  Besonders  wichtig  ist  das  für  die  Zeiten  der  Introduktion 
VI,  207,  231,  also  für  die  Ursprünge  der  positiven  Religionen. 

*)  Hiennit  sind  freilich  auch   die  Unsicherheiten  der  Auffassmig  ge- 
geben, die  üben  S.  45  u.  137  bezeichnet  worden  sind.  Jedenfalls  aber  ist  es  un- 


142  WtKtß         F.  Troeltsch, 

Philosoph  muss,  wo  er  praktisch  werden  will,  sich  an  die  konkreU' 
positive  Religion  als  an  die  noimi^ängliche  Verkörperung  der  Re- 
ligion halten.  Die  reine  Veraunft  ist  auch  in  der  Religion  sowenig 
wie  im  konkreten  Erkennen  oder  in  der  konkreten  Ethik  vollkomineü 
nackt,  sondern  hnmer  bekleidet.  Es  kommt  für  ihn  deshalb  geradezu 
darauf  au,  eine  konkrete  Religion  zu  finden,  deren  Bekleidung 
durchsichtig  genug  ist  oder  gemacht  werden  kann,  um  stets  die 
Idee  liindnrchleuehten  zu  lassen.  Wie  weit  in  dieser  Theorie  des 
Symbolismus  auch  Anregungen  Hamanns  oder  etwa  Rückwirkungen 
Herdei-s  vorliegen  mögen,  das  ist  nicht  mehr  auszumachen,  ün- 
wahrscheiulicli  ist  es  nicht.  Aber  freilich  die  volle  Fruchtbarkeit 
dieses  Gedankens  hat  Kant  selbst  aus  gleich  zu  erwähnenden 
Gründen  nicht  erkannt.  Die  geniale  Religionspsychologie  Herders 
und  die  feine  Analyse  der  „Idee  in  der  Fonn  der  Vorstellung**» 
wie  sie  dann  Hegel  entwickelt  hat.  sind  seiner  kulturpsycholo* 
gischen  Kunst  ferngeblieben. 

Besonders  wichtig  ist  dieses  Vehikel  des  symbolischen  Anthro 
pomorphismus  in  seiner  sozialpsyehologischen  Bedeutung.  Es  ist 
das  em  Punkt,    der   in  seiner  AVichtigkeit  für  die  Kantische  Reli- 


iar.  a^ 


richtig  Kants  Reliai onsk' h re  wesenÜicli  ah  reine  Veninnftrelig^ion  dar 
zu  wollen,  Sie  stellt  immer  nur  den  bcgrifflicli  haltbaren  Kern  dar, 
der  Versinnlicliiing  im  Bild  und  der  psycliolo^sclien  Actuahsiening  oder 
Belebung  durch  Vehikel  bedarf.  Was  ich  ohen  S.  80  ff.  als  wirkheben 
Sinn  der  „Reh  i.  d.  Gn  d.  bl.  V,"  herausgeschlüt  habe,  ist  iiicht  reine 
Vernunftrehprion,  sondern  das  wissenscbnftlich  allein  zidässigje  Mass  der 
Antliroponiorphisiening  und  Actnalisierung-,  Über  âm  das  Buch  in  Wahrheit 
—  wenn  auch  jedesmal  mit  Kautelen  —  hinausgegan^^en  ist.  Xauts  Reli- 
gion enthält  also  immer  prinzipiell  melir,  als  die  kritischen  Relig:ionsideen 
selbst  besagen.  Da  aber  dieses  Plus  psychologisciier  Art  ist  und  das  Psy- 
cholo^scbe  in  seinem  Verhtlltnis  zum  Kritisch-lntelligibcln  innrer  undent- 
heb  bleibt,  bald  ledighch  einkleidende  Form  ist,  bald  aber  doch  auch  in- 
halthch  die  religiöse  Stimmung  mitbedingt,  so  ist  die  Darstellung  dieses 
Plus  wohl  eine  sehr  anziehe ude,  aber  auch  sehr  schwierige  Aufgabe,  Sie 
seihst  fällt  nicht  in  den  Rahmen  dieser  Arbeit,  bedürfte  aber  sehr  eintat 
feinen  und  vorsichtigen  Bearbeiters.  Eni  sutcher  müsste  immer  im  Auge 
behalten^  dass  die  Vehikel,  d,  !k  die  Vorstellung  des  persönlichen  Gottes, 
der  Weltregierung,  des  Jenseits,  des  Gegensatxes  von  Siinde  und  Heilig- 
keitj  ja  aucli  die  Veranschaulichung  des  Guten  in  Jesus  u.  s,  w,  nichts 
bloss  Fonnelles,  sondern  Träger  ganz  bestimmter  religiöser  Stimmungen 
sind,  die  auch  inhaltlich  auf  die  Religion  wirken.  Darüber  hat  Kant  sich 
nicht  genügend  Rechenschaft  gegeben» 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  143 

gionslehre  selten  richtig  verstanden  worden  ist.*)  Das  Reich  der 
Persönlichkeiten,  das  Reich  Gottes,  die  Republik  der  Tugendge- 
sinnung,  die  unsichtbare  Kirche  sind  an  sich  reine  Religionsbegriffe 
und  haben  mit  der  positiven  Religion  und  so  auch  mit  dem  Christen- 
tum an  sich  nichts  zu  thun.  Aber  bei  der  Schwäche  der  Menschen 
und  bei  der  psychologischen  Notwendigkeit,  nach  der  alle  Willens- 
zwecke erst  durch  Vergesellschaftung  eine  beherrschende  Macht 
bekommen,  ist  es  unumgänglich  notwendig,  dass  die  rein  intelli- 
gible Gemeinschaftsidee  Basis  und  Mittel  in  einer  empirischen  Ge- 
meinschaft bekomme.  Wie  der  organisierte  Staat  die  Voraus- 
setzung der  Moralität  bildet,  der  ihr  erst  Raum  und  Boden  schafft, 
so  ist  die  staatartig  organisierte  positive  Religionsgemeinschaft 
erst  Voraussetzung  und  Mittel  für  die  Entwickelung,  Befestigung, 
Belebung  und  Verstärkung  der  reinen  Religion.  Diese  organisierte 
Religionsgemeinschaft  oder  sichtbare  Kirche  kommt  aber  nun  bloss 
zu  Stande,  wenn  die  Erregung  der  Phantasie  und  der  Enthusias- 
mus durch  energische  Symbolisierung  die  Macht  eines  Gesamt- 
willens erlangt.  Dabei  ist  freilich  die  Gefahr  eines  äusserlichen 
Supranaturalismus  und  einer  ihr  Gefühl  objektivierenden  Schwär- 
merei immer  nahe.  Aber  ohne  diese  Gefahr  entsteht  keine  Reli- 
gionsgemeinschaft, und  sie  kann  später  durch  wissenschaftliche 
Selbstkritik  wieder  beschworen  werden.  Dafür  entstehen  aber  auch 
in  einer  wissenschaftlichen  Welt  keine  neuen  Religionen  mehr,  und 
die  Religion  hat  daher  allen  Anlass,  das  die  erste  Introduktion, 
den  dauernden  Zusammenhalt  und  die  Fortpflanzung  ermöglichende 
Vehikel  zu  schätzen.  Ohne  Vehikel  keine  Gemeinschaft,  ohne 
organisierte  Gemeinschaft  keine  Dauer  und  Lebenskraft  der  reinen 
Religion.  Die  in  der  politischen  und  moralischen  Entwickelung 
latente  Vernunft  steigt  auf  zur  Produktion  religiöser  Symbole  und 
religiöser  Gemeinschaften,  in  denen  die  religiöse  Vernunft  latent 
ist  und  Gelegenheit  empfängt,  sich  selbst  in  ihrer  Reinheit  zu  er- 
fassen. So  ist  das  Vehikel  von  grösster  Wichtigkeit  für  die  Reli- 
gion, und  der  Religionsphilosoph  hat  die  Untersuchung  der  ver- 
schiedenen Vehikel,  Kirchen,  Bibeln  und  prätendierten  Offen- 
barungen durchaus  in  sein  Geschäft  zu  ziehen.  „Die  Regeln  der 
öffentlichen  Gründung  einer   Religion"  dürfen   zwar   nicht  „unter 

1)  Dieterich  hat  es  hervorgehoben:  „Im  Kampf  um  seine  Existenz 
sieht  es  (das  Moralische)  sich  gewissennassen  nach  psychologischen  Stützen 
um."  S.  33,  66,  169.  Doch  ist  die  Ausführung  sehr  ungenau  und  wirft  die 
intelligible  Gemeinschaft  mit  der  empirischen  zusammen. 


144  ^f9r         ^'  Troeltäcli, 

(lie  Prinzipien  der  Reli^oii  selbst**  gezählt  werden  (Reicke  III,  91), 

weil  sie  eben  zufällig-thatsächlich-psycholog^seli  sind,  aber  die  reine 
Religion  nmss  sich  doch  wesentlich  daranf  beziehen»  „indem,  me 
selbst  das  Vehikel  der  Reli^on  beschaffen  sei,  was  jemand  in 
seinen  Kirehenglauben  aufoininit,  für  die  Religion  keine  j^leich- 
giltige  Sache  ist"  VII,  869.  Der  Religioiisphilosoph  halt  dalipr 
nnter  den  verscMeilenen  Kirchen  und  Bibeln  Unisrhan,  welche  sich 
am  besten  znni  Vehikel  der  die  Wiedergeburt  und  das  Tugendreich 
bewirkenden  Religion  eigne,  und  das  gerade  ist  die  Bedeutung  des 
Chi'istentnms,  dass  es  unter  der  Einwirkung  des  grossen  mora- 
lischen Volkslehrers  im  Neuen  Testament  und  in  der  chrißtlichen 
Kirche  ein  unvergleichlich  giosses,  die  reine  Religion  einzigaitig 
durchschimmern  lassendes  Vehikel  zur  Leitung  und  Beförderung 
der  Religion  auf  unabsehliche  Zeiten  heiTorgebracht  hat.V)  Eben 
deslialb  musste  auch  die  „Religion  innerhalb  der  (irenzen  der 
rtîinen  Vernunft'*  sich  als  UeUendmachung  des  reiuen  Religions- 
gehattes  in  dem  Vehikel  des  christlichen  Kh'cheutums  dai-stellen.*) 

1)  Jüli.  Weiss  a.  a.  O.  S.  88  hat  richtig  liervorgehoben,  dass  Jesus 
nach  Kant  das  Reich  Gottes  nicht  stiftet.  Aber  er  bat  den  Gruod  nicht 
erkannt.  Das  Reich  Gottes  ist  eine  apriorische  Vernunft  idee  und  kann 
natürlich  nicht  g^estiftet  werden*  Dagegen  kann  das  empirische  Vehikel 
dafür  gestiftet  werden.  Hierin  folgt  Kant  Reinhard  gegen  Bahrdt  und 
Reimarus  VI,  177.  Jesus  bat  eine  Kirclie  stiften  woDen.  Seine  Absiebt 
ist  ,,nicht  gelungen,  aber  docb  nicht  ganz  vereitelt,  sondern  nach  seinem 
Tode  in  eine  sich  im  Stillen  ausbreitende  Religionsumänderung  überge- 
gangen." Von  dem  Theologen  Reinhard  mit  seiner  Identifikation  der  Stif- 
tung Christi  und  des  Reiches  Ciottes  unterscheidet  sich  eben  bewusat  der 
apriorische  Religionsphilosopb,  der  das  Reich  Gottes  als  Verniinfüdee  und 
die  Stiftung  Jesu  als  empirisch -psychologisches  Vehikel  betrachtet.  Bitscbl 
hat  hei  seiner  Verwendung  des  Kantischen  Reiches  Gottes  diesen  Unter- 
schied gamicht  beachtet,  wie  ja  das  Wesentliche  der  Kantischen  Reli- 
gionslebre,  die  Unterscheidung  und  Beziehung  de^  Vernünftig*Apriorischen 
und  des  Znfällig-HistoriscIi-SjTnbtjlischen,  welche  Unterscheidung  gleicher 
Weise  fîir  alle  Religionen  gilt,  für  ihn  garnicht  existiert. 

2)  Vgl.  hierzu  das  ganze  dritte  Stück  der  „Reh  i.  d.  Gr.  d.  bL  V." 
Vom  Sieg  des  guten  Prinzips  ilber  das  Böse.  Die  Inhaltstibersicht  VI,  X 
giebt  den  Gedankengtuig  genau  wieder  in  seiner  geschichtsphilosophiBchen 
Absiebt.  Vom  ethischen  Naturzustand  führt  die  Betrachtung  zu  der  aus 
ihm  sich  erhebenden  religiösen  Idee  des  Tugendreiches  tlberhaupt.  Von 
dieser  Idee  geht  e^  zur  Notwendigkeit  einer  Unterstützung  durch  social- 
psychische  Institutionen  oder  Kirchen  mit  Bibeln  und  StiftungsmytUos, 
von  den  versclüedenen  Kirchen  geht  es  zum  Christentum  als  derjenigen 
Kirche^  welche  in  ilirem  Kirclienvehikel  allein  die  reine  Idee  enthalt.  Als 
solche  das  Reich  Gottes  anbahnende  Kirche  kann  aber  auch  das  Christen- 


iigionsphi  losoph  ie. 

Aber  freilich  hat  Kant  diesen  klaren  Gedankengang  nicht 
immer  streng  eiogehalten.  Es  ist  ihm  mit  der  ReUgionsphilosophie 
geTiau  so  gegangen  wie  mit  der  Ethik.  Das  Prmzip  der  Unter- 
scheidung des  Intelligiblen  nnd  des  Psychologischen,  der  alleinigen 
iBegründung  alles  Oiltigen  anf  die  Vernnnft,  hat  ihn  iu  der  P^thik 
dazu  geführt,  den  formalen  Gedanken  der  Antononiie  und  des  kate- 
gorischen Imperativs  in  einer  A\'eise  gegen  alles  Psychologisehe  zu 
isolieren,  dass  diese  Isolierung  geradezu  zum  Gegensatz  und  zur 
Ausschliessung  wird.  Die  Unterscheidung  schlägt  um  in  den  plato- 
nischen Gegensatz  von  Idee  und  Sinnlichkeit»  in  den  pietistisehen 
Rigorismus  des  notwendigen  Gegensatzes  gegen  jeden  Trieh  und 
jede  Neigung,  Seine  ältere  Ethik,  die  mit  intellektuellen  Gefühlen 
und  Vernunfttrieben  arbeitete,  verwandelt  sich  in  die  rein  ratio- 
nale Ethik  des  formalen  Freilieitsgedankens,  und  die  Anerkennung 
aller  idealen  Zwecke  als  teiihabend  am  ('harakter  des  Sittlichen 
weicht  der  Konstruktion  von  Geboten,  die  sich  k^gisch  widerspruchs- 
los als  Prinzip  einer  allgemeinen  Gesetzgebung  denken  lassen.  Es 
bleibt  aber  dabei  doch  das  Wesen  der  kritischen  Ethik,  durch 
ihren  formalen  Grundbegriff  des  Moralischen  in  allen»  empirischen 
Handeln  nur  kritisch  den  moralischen  oder  nicht- moralischen 
Charakter  festzustellen,  es  bleibt  die  Aufgabe  der  Pädagogik,  aus 
dem  Psychologischen  das  Intellektuelle  zu  entwickeln,  es  bleibt  die 
Aufgabe  der  nujraliseh<:'n  Antliropologi*',  das  Hervorgehen  des  Mora- 
lischen aus  dem  Triebmechanisnms  und  die  Anwendung  des  Mora- 
lischen auf  das  konkrete  Wollen  zu  zeigen.  Die  Aufgaben  sind 
freilich  aus  den  bezeicbneten  Gründen  verkümmerte)  Ganz  genau 
so  geht  es  mit  der  Religionsphilosoplüc.  Die  Geltung  der  Religion 
beruht  auf  ihrer  ideellen  aiuiorischeu  Notwendigkeit.  Aber  die 
damit  gesetzten  religiüsen  tiedanken  sind  nur  ein  kritischer  Kanon 
atur  Ausmitteinng  des  Religiösen  in  der  empirischen  Religion  und 
zu  ihrer  Läuterung.  Allein  der  kritische  Kanon  wird  im  Handum- 
drehen    zum  Gegensatz    gegen    alle  empirische  Religion.     Er  wird 

tum  nur  gelten,  wenn  es  üicli  aus  seinem  Kern,  dem  Vemunftglauben^  be- 
ständig int-erpretiert.  „Die  Idee  eines  Volkes  Gottes  ist  (unter  mensch- 
Uclier  Veranstaltung)  niclit  anders  tüs  in  der  Form  einer  Kirche  auszu- 
führen** VI,  198,  Ganz  deutlich  ferner  V!,  25R;  Reicke  111,  80:  ,,Al]e 
Religion  muss  ihr  Vehikel  haben,  ohne  welches  sie  nie  eine  Kirche  aus- 
machen wird,  welches  doch  zu  ilirer  Beförderung  und  Erhaltung  not- 
wendig ist/* 

*)  Vgl  hierüu  die  überaus  feine  Untersuchung  Keglers;  bes,  S.  35  f., 
aö4  über   da8  „Gemüt"  und    die  „Einbildungskraft»',  8.74,  D5  t,  114,  279. 

KaoUtQdlcD  DE.  XO 


146 


E.  Troeltsch, 


zur  Verimnftreiîgpon,  im  Vergldch  iiüt  der  alles  andere  grösserer 
oder  geriiigerer  Aberglaube  ist  und  die  dereinst  völlig  rein  ahne 
jede  psy<iiologisclie  Beimischung  lierrsclieu  solL  Aus  einem  Prinzip 
der  Hektifikation  unaustilgbarer  Symbole  wird  er  zuïn  Glaubens- 
artikel  der  Vernnnftreligion.i)  Hierin  wurzelt  der  Schein,  der 
mehr  als  eio  Schein  ist,  als  ob  Kant  nur  ein  fortgeschrittener* 
Vertreter  des  reinen  EationalisDUis  sei,  was  er  so  wenig  ist,  als  ' 
ein  Vertreter  des  reinen  Rigorismus  wai*.  Der  Schein  hat  seine 
Grund  in  der  kritischen  Wendung  seiner  Philosophie,  die  bei  aller 
Hindung  der  Vernunft  an  die  Erfahning  doch  ein  Sieg  des  Ratio- 
nalisnms  war,  und  die  in  Ethik  und  Religionsphilosophie  zu  einem 
rein  formalen  und  erfahnuigslosen,  aber  doch  dürftige  Inhalte  aus 
sich  hervorbringenden  Rationalismus  wurde.  Trotzdem  ist  es  Dur 
ein  Schein,  Denn  da8  kritische  Priuzip,  eingebettet,  wie  es  ist, 
in  ein  aus  der  reichsten  Eiialirung  genährtes  Denken,  will  die 
erfahrbare  Wirklichkeit  nur  regulieren  und  läutern,  aber  nicht 
ei*setzen.  Sein  Rationalisums  ist  in  Wahrheit  nur  forma!,  und  ahes 
gelegentliche  l'mschlagen  in  einen  inhaltlichen  Rationalismus  ist 
nicht  nur  gegen  das  Prinzip,  sondern  auch  gegen  die  im  Ganzen 
festgehaltene  Praxis  des  Kantischeu  Denkens.  Dei'  rein  formale 
Rationalisnius  aber  enthält  überall,  und  so  auch  in  der  KeligioDS- 
philosophie ,  die  Voraussetzung  einer  gemeinsamen  verborgenea 
Wurzel  des  Rationalen  und  Empirischen,  Diese  Voraussetzung 
blickt  denn  auch  überall  in  der  thatsächlichen  Ausführung  durch, 
sie  ist  aber  nicht  zur  vollen  Entialtung  gekommen  nud  mehrfach 
in  Widersprüchen  zwischen  einer  bloss  formal  rationalistischen  und 
einer  inhaltlich  rationalistischen  Behandlung  stecken  geblieben. 

Die  hif^rmit  hervorgehobenen  Widersprüche  steigern  sich  noch, 
wenn  ^ir  von  der  so  in  den  Individuen  behaupteten  Einheit  des 
Intelligibeln  und  Psychologischen  zurückgehen  auf  deren  Einheit 
im  Ganzen  der  geschichtlichen  Entwickelung.     Es  ist  aus  der  bis^j 


Ï)  So  sehr  scharf  Reicke  I,  257:  ,jDie  Theologie  miiss  endlich  Reli- 
gion bis  Kur  Einsicht  und  Überzeugung  des  blossen  gesunden  Menschen- 
verstandes bringen;  .  .  ,.  sie  wird  dnmnl  dahin  kommen  müssen,  dass  jeder- 
mann nach  seinem  blossen  Mensch  en  verstand,  da  sie  einmal  da  ist,  wird 
einsehen,  sich  davon  überzeugen  und  sie  wird  fassen  k5nnen.  Da  muas 
jeder  Pimkt,  der  vielleicht  anfünglich  zur  Intr^iduktion  nötig  war^  we^ 
fallen»  wenn  die  Überzeugung  von  seiner  Richtigkeit  Gelehrsamkeit  (tï,  h. 
hkiorhthe  llferhgungen)  voraussetzt.**  Doch  verlangt  auch  hier  Kant  nocl 
einen  gewissen  Anschluss  au  die  Geschichte,  um  den  Vorwitz  und  die 
Hirngespinste  zu  zügeln. 


Das  HÎBtorisclie  in  Kants  Religioiisphilosüpliie. 


147 


herigen  Darstellung  klar  geworden,  dass  Kants  ganze  Auffassung 
von  dem  uns  bescliäftigeiideu  Problem  zum  guten  Teil  T^^xirzelt  in 
seiner  überaus  eij2:eoaitigeii  und  gfeistvollen  Metaphysik  der  Ge- 
schichte, in  seinem  Entwickehingsbegriff,  der  die  Vernunft  aus 
dem  psychologischen  Triebmechanisnms  heraus  sich  verselbständigen 
und  ihn  sieh  mit  steigendem  Erfolg  dienstbar  machen  lässt,  um 
damit  dann  ein  noch  weiteres  HeiTOitreten  der  Vernunft  zu  er- 
möglichen. Wie  in  den  Individuen  die  Einheit  des  Psychologischen 
Bnd  Intelligibeln  letztlich  begründet  ist  in  einer  metaphysischen  An- 
schauung,  so  ist  diese  Geschichtsphilosophie  im  Grossen  ganz  unver- 
kennbareineteleologisch-evolutionistischeMetaphyvSik,  deren  Reizdarin 
liegt,  dass  sie  in  der  Heterogonie  der  Zwecke  trotz  aller  Einheit  doch 
die  Verschiedenheit  von  Seelennalur  und  Vernunft  wahrt,  und  dass 
sie  dem  Triebleben  die  sündige  Opposition  gegen  die  Vernunft 
offen  lässt  Kant  hat  unter  dem  Eiufluss  der  Kritik  seine  Ge- 
schieht sphilosophie  zwar  auf  den  Ton  gestimmt^  dass  sie  nur  syste- 
matische Ordnung  oder  Gliederung  des  anthropologischen  Stoffes 
nach  Prinzipien  a  priori,  nach  dem  Ideal  der  Freiheit,  sei.  Allein 
das  ist  nur  eine  Eioschnürung  seines  natürlichen,  viel  reichereo 
Gedankens,  Dieser  geht  auf  eine  Theorie  der  „Psychogonie"  (IV, 
475)  oder,  wie  man  richtiger  sagen  würde,  der  heterogonischen 
Eni  Wickelung  der  Gattungs  Vernunft.  Von  diesem  Grundgedanken 
smd  auch  alle  seine  späteren  Schriften  noch  durchdrtingen,  und  er  bat 
ihm  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  eine  neue,  dem  kritischen  Stand- 
punkt entsprechende  Form  zu  geben  gesucht,  die  nur  eine  kritische 
Verschleiening  der  in  Wahrheit  metaphysischen  Position  ist.  Er 
É|l  das  geistvolle  Ergebnis  einer  immensen  Lektüre  und  seiner 
BkftvoUsten  Mannesjahre  wohl  offiziell  verleugnet,  aber  praktisch 
immer  weiter  benutzt  und  vorausgesetzt  Das  ist  auch  nur  natür- 
lich. Den  Konsequenzen  seines  kritischen  Ideatismus,  die  für  sich 
allein  ihn  oft  genug  an  den  Rand  des  subjektiven  Idealismus 
führen,  entgeht  er  nur  dadurch,  dass  er  die  Naturwelt  und  die 
Geschichtswelt  überall  selbstverständlich  als  Realitäten  voraussetzt, 
in  die  das  Ich  hi  neingehe tt et  ist,  und  die  es  nach  seinen  notwen- 
digen Denkformen  beurteilt  und  ordnet,  unbekümmert  darum,  wie 
m  überhaupt  zu  diesen  Realitäten  gekommen  sein  mag.  Und  eben 
diese  Denk-  und  Urteilsformen  selbst  gehen  doch  erst  hervor  aus  der 
iu  der  Welt  sich  realisierenden,  insbesondere  aus  der  im  histo- 
rischen Geschehen  sich  erfassenden,  Vernunft;  sie  gehen  hervor 
ans   der  werdenden  Natur,    deren  Absicht  in    der   Selbsterfassung 

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der  Vernimft    erst  erreicht  wird,  und  die  diese  Absicht  durch  den 
psychologisch  en  Associations-  und  TriebmeehanÎHunis  hindurch  ver- 
wirklicht.    Dieser  Begriff  der  Nalur  ist  freilich  nir  eine  mögliche 
metaphysische  Hypothese,    deren  einziger  fester  Halt  der  ethisflio 
Glaube    an    eine  sinnvolle  Einheit    der  Wirklichkeit  und  eine  von 
der  Beobachtung  des  wirklichen  Verlaufs  ans  zu  gewmnende  Walir- 
scheinlîchkeit  ist.    Zugleich  ist  dieser  Begriff  dnrch  die  Einfiihruiig 
des  sehr  bedentsanieii  Gedankens  der  Heterogonie,  durch  die  Unter- 
scheidung der  Vernunft  von  tleni  nur  Anlass  und  Heiz,  Stützpunkt 
und    Organisation    gewährenden    psychologischen     Naturgescheheu 
vor   pantheistischer  Zerflossenheit   geschützt.     Ja»  durch  die  Vei 
hindung  der  Vernunft  mit  der  Freiheit,  die  hier  freilich  kaum  mehr 
im    echtPii    ti'ansscendentalen  Sinne    zn    verstehen   ist,    ist  der  in- 
sprüngltch  pantheistische  und  bei  Herder  nud  Goethe  stark  pantheis- 
tiscb  entfaltete  Begriff  der  Natur  eher  einem  iuimanenteu  Dualismus 
angenähert,  wie  ihn  Eut?ken  in  seinem  „Kampf  um  einen  geistigen 
Lebensinhalt '*    schildert.     Und  wenn  so  die  metaphysische  Einheit 
des  Psychologischen  und  dei'  Vernunft  nicht  in  einer  vitalistischeu 
Auswirkung  der  Weltsubstanz,  sondern  in  der  Aufeinauderbeziehuug 
zweier  in  der  Erfahrung  stets  getrennter,  sich  unterstützender,  aber 
auch  sich  bekämpfender  Pi'inzipien  liegt,  dann  kann  der  Weltgruud 
selbst  nicht  bloss  als  monistische  Einheit,  sondern  nur  als  schöpferisehelM 
Wille  gedacht  werden,  dann  ist  der  letzte  mutmassliche  x\bsehluss 
der  Weltanschauung  und  damit  der  letzte  Untergrund  der  Gescliichts- 
philosophie  der  Theismus.    Es  ist  hier  nicht  der  Oit,  die  sehr  zu- 
sammengesetzte Genesis  dieses  Kantischen  Gedankens  zu  verfolgen: 
das  Theodiceeproblem,  die  psjThologistiscbe  Eutwickelöng   des  Ge- 
meinsiirnes  um]  Rechtes  aus  dem  antagonistischen  jrechanisnnis  der 
Motivation,    die    englisch-französische    Geschichtsphilosophie,    seine 
eigene  originale  Giltigkeitkeits-  und  Notwendigkeitsidee,  sein   Erei- 
heitsbegriff  und  seine  religiöse  tirundrichtuug:  alles  hat  an  diesem 
Gedanken  gearbeitet,  dem  die  Kritik  der  Ihleilskraft  eine  zweifellos 
ihn  nicht  erschöpfende  Form  gegeben  hat*)    Jedenfalls  ist  dieser 


^)  Auf  Ausgangspunkte  im  TUeodiceeprobleTn,  das  ihn  zur  Aufsuehung 
des  Sinneis  der  üe,sc'hichte  im  Ganzen  der  Gattung  trieb,  und  dem  englischen 
Psychol  ogi  Si  m  iiü^,  der  den  Triebraechaniünnii*  zur  Erzeugung  dt?s  Gattungs- 
simies  benutzt,  weisen  die  Blätter  Reicke  t,  296  und  297  über  Leibiiix  und 
Pope  hin.  Ähnlich  Erdmann  I  1,  S.  2H.  Im  ührig-en  wird  sich  die  Frage 
erst  bei  einer  genauen  Kenntnis  der  En t Wickelung  des  historischen  Be- 
wusstseins   im    18   Jahrhundert   beantworten    lassen*    JedenfaUs  ist  es  die 


Das  Historische  in  Kants  Relig^onsphilosophie.  149 

Evolutionismus  die  Fortführung  und  eigenartige  Umgestaltung  der 
besten  psychologischen  und  historischen  Erkenntnisse  des  18.  Jahr- 
hunderts, und  in  ihm  wurzelt  auch  schliesslich  seine  Grundan- 
schauung über  das  Verhältnis  von  Religion  und  Eeligionsgeschichte. 
Die  religiöse  Idee,  die  bei  der  völligen  Abwesenheit  des  Gedankens 
einer  Individualisierung  der  Idee  in  ihren  grossen  geschichtlichen 
Bildungen')  eine  durchaus  abstrakt  einheitliche  ist,  beweist  sich 
durch  sich  selbst,  durch  ihre  eigene,  subjektiv  verpflichtende 
Notwendigkeit  und  AUgemeingiltigkeit,  durch  ihren  Charakter  als 
praktischer  Vemunftglaube.  Aber  diese  Idee  wird  in  ihrem 
Hervortreten  und  ihrer  Durchsetzung  durch  den  psychogonischen 
Prozess  der  Geschichte  sehr  wesentlich  bedingt.  Sie  fordert 
gewisse  psychologische  Entwickelungen  und  Reize,  um  hervor- 
treten zu  können,  und  bedarf  dann  der  konkret -symbolischen 
Gestaltung  durch  die  Phantasie,    der  Belebung   und  Verkörperung 


Gedankenmasse,  die  von  Hume,  Gibbon,  Robertson,  Adam  Smith,  Voltaire, 
Montesquieu,  Turgot  und  Rousseau  ausgeht,  und  die  mit  dem  längst  entdeckten 
Begriff  der  Entwickelung  hier  den  der  Freiheit  zu  vereinigen  sucht.  Dass 
das  dann  freilich  eine  evolutionistische  Metaphysik  der  Geschichte  dar- 
stellt, ist  nicht  zu  leugnen;  aber  das  ist  nur  für  den  befremdlich,  der  in 
der  Kritik  den  Ausgangspunkt  und  nicht  den  Höhepunkt  des  Eantischen 
Denkens  sehen  will,  von  dem  aus  er  nur  sein  bereits  erworbenes  Wissen 
neu  organisiert.  Die  Betonung  der  Metaphysik  in  Paulsens  „I.  Kant"  1898 
scheint  mir  in  der  That  sehr  berechtigt;  Vaihinger  sagt  in  der  Abhand- 
lung „Kant  —  ein  Metaphysiker?*'  (Philos.  Abhg.  Sigwart  gewidmet  1900) 
nur  mit  stärkeren  Kautelen  im  Grunde  doch  dasselbe.  Dem  Satze  Paulsens 
(S  238)  „Man  kann  vielleicht  sagen,  dass  Kant  von  allen  Grundanschauungen 
zur  Theologie,  Psychologie  und  Physik,  wie  sie  in  den  vorkritischen  Schriften 
vorliegen,  nicht  einen  einzigen  hat  fallen  lassen.  Die  meisten  finden  sich, 
nur  mit  veränderten  Vorzeichen,  in  den  kritischen  Schriften  wieder"  möchte 
ich  in  Bezug  auf  die  Geschichtsphilosophie  zu  versieh  tlicli  zustimmen.  Dass 
das  auch  für  den  mit  der  Geschichtsphilosophie  eng  zusammenhängenden 
theistischen  oder  panentheistischen  Gott-esbegriff  gilt,  zeigt  die  höchst 
interessante  Stelle  Reicke  11,  236  ff.  :  Epikur  ist  mit  seinen  eigenen  Waffen, 
d.  h.  dem  Begriff  der  natürlichen  Entwickelung  überwunden. 

>)  Wo  dieser  Begriff  in  die  Geschicht«philosophie  eingeführt  wird, 
da  wird  naturgemäss  der  innere  Zusammenhang  des  Psychologischen  und 
Int^lligibeln  sehr  viel  enger  und  ist  die  Wiederauflösung  der  Verbindung 
sehr  viel  weniger  in  Aussicht  zu  nehmen,  als  das  bei  Kants  abstrakter  und 
spröde  sich  aussondernder  Vemunftidee  der  Religion  der  Fall  ist;  freilich 
ist  dann  auch  die  apriorische  absolute  Geltung  eines  religiösen  Inhaltes 
weniger  gesichert-.  Vgl.  meine  Schrift  „Die  Absolutheit  des  Cliristentums 
und  die  ReligioiKSgescliicht<*"  1902  und  meine  Aufsätze  „Was  heisst  Wesen 
des  Christentums"  in  der  „Christlichen  Welt"  1903. 


ur- 

I 


150  K  TroeHsch, 

in  einer  urbildlielieu  Persönlichkeit,  iJer  Befesti^unf^:  uii«l  Fort- 
pflauzuiig  in  einer  kultischen  Orj^anisütion  der  Relig-ion  oder  Kirche. 
Dabei  ist  es  die  Aufgabe,  den  Symbolismus  mit  der  fortschreitenden 
wisseusehaftliehen  Einsieht  in  seinen  Synibolcharakter  immer  reiner, 
bewnsster  und  strenger  zum  AusUnink  der  Idee  zu  machen»  Das 
aber  ist  mojsriich  nur  im  Christentium,  das  in  der  Person  Jesu  eini 
gi'ossartijs:  reine  ^'erkörpernnf;:  der  roligiüsen  Idee  hat,  uud  das 
daher  die  Krisis  eines  wissenschaftlichen  Zeitalters  übei-stehew 
kann,  wenn  es  seine  von  kultnrhiseo  Massen  geformte  und  von  kultur- 
losen Zeitaltern  weiter  bearbeitete  Kirchenform  zur  Reinheit  di 
Sinnes  Jesu  emijorläutert.  Was  aber  in  tausend  Jahren  s(^ 
möge,  das  vermag  niemand  zu  wissi^i,  und  darum  brauchen  wir  ims 
nicht  zn  sorgen.  Wir  haben  uns  an  das  Cliristentum  zu  halteu», 
und  es  ist  tTcnng,  dass  Jedes  Jahrtausend  seine  eigene  iSorge  habe. 
Was  heute  Wahrheit  ist,  kann  ja  nie  völlige  Unwahrheit  werden, 
und  das  Christentum  muss  unter  allen  Umständen  ein  hervor-j 
ragender  Punkt  in  der  Manifestation  der  göttlichen  Welteutwicke^ 
hing  oder  der  Vorsehung  sein.  Dafür  bürgt  der  Theismus  der 
geschichtsjihilosophisehen  Betrachtung.  Dieser  Theismus  selbst  be- 
ruht auf  einer  axioniatischeo  iiersönUcheu  W^eltanschauung,  die  in 
ihrer  Deutting  der  Welt  aus  den  WVrten  des  persönlichen  Lebens 
oder  der  Freiheit  dem  t 'hristentiim  verwandt  ist  uud  für  Kaut  aus 
ihm  ent-spraug.  Er  sichert  eben  deshalb  eine  Auffassung  der  ge- 
schichtlichen Gesam tent. Wickelung,  die  im  Christentume  eine  die 
höchste  Vernunftnotwendigkeit  und  empirische  Aktualisierung  ver- 
einigeiiile  Manifestation  des  verborgenen  Weltgrundes  anerkennen 
muss.  Aber  freilich  steht  diese  Entwickelungslehre  in  einer  un- 
überwindlichen Spannung  zu  der  Grundidee  der  Kritik.  Der  aus 
dem  unerkennbaren  Grunde  die  Vernunft  uud  das  Thatsächliche 
hervorgehen  und  beides  in  immer  neuem  Kampf  sich  durchdringen 
lassende  Evolutionisnius  ist  nicht  zu  vereinigen  mit  dem  streng^ 
bewusstscins-immanenten  Ausgangspunkt  der  Kritik,  mit  ihrer  B]iu- 
schränkung  der  Zeit  auf  die  Phäuomenalitat  mui  ihrer  blossen 
Parallelisierung  der  iutelügibeln  Freiheit  und  phänomenalen  Kau- 
salität. Fis  mögen  das  Schwierigkeiten  sein,  die  unüberwindlich 
in  allem  menschlichen  Denken  liegen.  Aber  sie  dürfen  nicht  über- 
sehen und  nicht  wegretouchieil:  werden,  wenn  das  Problem  des 
Verhältnisses  von  Idee  uud  Geschichte  klargestellt  werden  soll. 
Der  blosse  Rückzug  auf  die  „systematische  Idee  der  Geschieht^** 
würde    den    vollen  Sinn  nicht  erkennen  lassen,    den  Kants  Arbeit 


A 


Das  Historisrhp  in  Kfiiits  Beligionsphilosophie. 


161 


an    einet  Vei*söhnuDg   des  Ideelleii    imd  Historischeu   in  der  Beli- 
flgion  hau 

Nur  weim  mau  alles  das  ziisaiiimerifasst,  versieht  niaü  die 
bekannte  Kantische  Formel  über  die  BedeiUuurr  ii^r  Geschichte 
für  die  Religion  richtig.  Kant  imterscheidet  den  Keligionsglauben 
vom  Kircheuglaubeu.i)  Der  Religioüsglaulve  alleia  hat  imbcdiügie 
\Vatu"heit,  Giltigkeit  und  Notwendigkeit  und  nniss  mit  allem  Histo- 
rischen uiiverworreij  bleiheu,  soweit  es  sieh  um  den  Beweis  für 
seine  Wahrheit  handelt.  Der  Kirchenglauhe  dagegen  enthält  zu- 
fällige, lïioiuentan  und  örtlich  bedingte  Eigeotümlidikeiten,  ist 
psychologisch  und  gehiul.  vom  Statuipuukt  der  Vernunft  xn  den 
„Adiaphora"*.  Aber  deswegeu  besieht  doch  nicht  zwischen  beiden 
ein  Verhältnis  der  Ausschliessung,  sondern  ein  Verhältnis  der 
inneren  Aufeinanderbeziohuug.  Der  reine»  seine  tjiltigkeit 
nur  in  sich  seihst  tragende  Veruuuftglauhe  bedarf  zur  bistorischeu 
Wirksamkeit  des  Kirchenglauhens  als  Vehikel,  und  der  Kiichen- 
glaube  geht  unbewusst  aus  der  im  Psychologischen  vvirkendeu  und 
in  ihm  sich  gestaltenden  religiösen  Vernunft  hervor.  Daher  gilt 
es  richtige  Einkleidung  des  Vcrnuuftghiubens  und  richtige  Auslegung 
des  Kirchenglanbens.  Die  kürzeste  nnd  schlagendste  Formel,  die 
Kanl  diesem  Gedanken  gegeben  hat,  findet  sich  auch  hier  auf 
einem  losen  Blatt:  „Das  Historische  dient  nur  zur  Illustration, 
üicht  zur  Demonstration"  Reicke  1(1,66,  Mit  Lessings  berühmtem 
Satze,  dass  „zufällige  Geschichtswalirheiten  nie  der  Beweis  von 
notwendigen  Vernnuftwabrheiten  werden  können**,  ^)  hat  Kant  das 
Motiv  gemein.  Kant  und  Lessing  und  alle  Männer  der  modernen 
ReUgionsphilosophie,  die  die  heilige  Geschichte  historisch-kritisch 
haben  liehandelu  lernen,  haben  zugleich  die  notwendige  Konseijuenz 
erkannt,  class  dann  auf  eine  solche  Geschiebte  sich  nicîit  mehr  die 
Geltung  des  religiösen  Glaubens  begründen  lasse.  Das  war  nur 
möglich,  solange  diese  Gescbichle  durch  das  Wunder  zu  einem 
direkten    Hereinragen   der    übersinnlichen  Welt   gemacht   und  aus 

*)  Kants  Äusseningen  shid  sein-  zahlreich  und  auch  durchaus  bis  auf 
die  Worte  ttbereinstimmend,  aber  selten  zu  kurzer  Fonnel  geprägt,  vgl. 
VI,  212,  256  f.,  262,  28Ü  f.,  Vil,  361,  367,  363  L,  VI,  479;  sehr  interefiÄant 
ist  der  Brief  an  Lavater  28.  IV.  1778  Briefw.  I,  167  ff.,  an  Mendelsohn 
über  sein  „Jerusalem"  Briefw.  L  S2b,  an  Bahrdt  I,  453,  an  Juii^  II,  10; 
nicht  minder  interessant  sind  die  Stell ujignahui en  der  Korrespondenten 
zu  dieser  Lehre,  die  von  begeisterter  Zustimmung  zu  vermittelnder  An- 
nähme  und  heftig-er  P<ilemîk  gehen. 


m 


11 


152  E.  Troeltscli, 

der  wirklichen  Geschichte  Yöllig  herausgehoben  war,  Sobald  ab* 
die  heilige  Geschichte  in  den  Strora  der  Geschichte  hineingestellt 
\iird,  \\ird  sie  etwas  Relatives  und  Bedingt<-s  und  kann  nicht  mehr 
der  Beweis  für  absolute  \^'ahrheiten  sein.  Alle  Unsicherheit  histo- 
rischer Foi^chung  und  alle  Bedingtheit  geschichtlicher  Erschein 
ungen  geht  dann  auf  den  religiösen  Glauben  selbst  über.  Das  h; 
Katit  in  klassischer  Weise  auch  gegen  Herders  ,.Älteste  Urkunde' 
geltend  gemacht,  die  versuchte,  mit  Historie  das  tlberhistorisch* 
zu  beweisen,')  Alles  das  ist  nicht  die  typische  Tendenz  d 
Ration alisnuis,  sondern  die  notwendige  und  selbstverständliche 
Folge  der  Historisierung  der  heiligen  Geschichte.  Das  ist  keiji 
Mangel  an  historischem  Sinn,  sondern  im  Gegenteil  ein  seh^^ 
fernes  Gefülil  für  die  Wirkung  des  historischen  Denkens  aaf  abso- 
lute Wahrheiten.  Lessing  ist  dann  freilich  von  hier  aus  den  ty- 
pisch-rationahstischen  Weg  gegangen,  die  Vernnnftreligion  überhaupt 
und  unbedingt  von  der  Geschichte  zu  emanzipieren^  indem  er  au 
die  Lockesche  Erziehung  des  MenschcDgeschlechtes  durch  Anteci- 
pation  der  Vernuuftwahrheit  die  Erwartung  des  evangelium  aeter- 
num  knüpft»  wo  die  reine  Veniunftreügiou  ohne  jede  historische 
Stütze  und  Beimischung  rein  aus  eigener  Kraft  die  Gemüter  er- 
füllen wird.  Dass  er  sie  hierbei  pantheistisch  und  gefühlsmässi 
belebt,  ändert  an  deui  reinen  Rationalismus  des  Gedankengang 
nichts,  Kant  dagegen  nimmt  prinzipiell  nur  die  Befreiung  des 
Beweises  von  aller  Historie  in  Aussicht,  nicht  aber  die  des  Lebens 
der  Religion  selbst.  Für  ein  historisch-denkendes  Zeitalter  giebt 
es  nur  den  inneren  Selbstbcweis  des  Glaubens,  aber  andererseits 
doch  auch  das  tiefe  Verständnis  für  die  Bindung  alles  religiöse] 
Lebens  und  aller  religiösen  Kräfte  an  die  historisch -psychologische] 
Realisationen  der  Idee.  Der  auch  hei  Kant  verbleibende  Resi 
des  Rationalismus  besteht  (abgesehen  von  den  Abirningen  zu  einer 
platonisierenden  Geringschätzung  und  Abscheiduug  des  Sinnlichen) 
in  der  Fassung  der  Idee  selbst,  die  für  ihn  zwai'  nm^  in  den 
Formen  des  Bewusstseins  begründet  und  daher  jeder  thatsäch*^ 
liehen  Ausfüllung  an  sich  fähig  ist,  die  ihm  aber  in  Wahrheit  doch 
zu  einem  abstrakten  allgemeingiltigen  Inhalt  der  Religion  wird, 
und  die  er  als  in  den  grossen  geschichtlichen  Bildungen  sich  inner 
Uchst  individualisiereud    nicht    zu  denken  vermag.  2)    Dafür  ist 


LUS 

] 


»)  Vgl.  Briefw.  I,  187  f.  an  Hamann  8.  l\\  1774. 

*)  Dieser  Rest  von  RationalisHins  isit    auch   hei   Schleiermacher    und 
Hegel  nicht  überwunden.    Die  so  redsehge  Schleiermacher-Litteratur  hätte 


É 


Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie.  153 

seiner  Geschichtsphilosophie  der  Gegensatz  des  Rationalen  oder 
Geltenden  gegen  das  Psychologisch-Thatsächliche  doch  zu  spröde 
and  liegt  seinem  ganzen  Denken  der  Begriff  des  Individuellen  viel 
zu  ferne. 

Es   ist   nicht   die  Absicht   dieser  Abhandlung,  die  Kantische 
Lehre  über  das  Verhältnis   von  Religion  und  Geschichte  zu  kriti- 
sieren.   Es   galt  vor   allem    einmal,   sie   zu  verstehen.    Dass  das 
bisher  noch  nicht  im  vollem  Umfang  geschehen  ist,  zeigt  ein  Rück- 
blick  auf    die    am   Anfang   charakterisierten    Darstellungen    von 
Kants   R«ligionslehre.    Kuno   Fischer   hat  zwar  mit  vollem  Recht 
üire  Beziehungen   zur  Geschichte   prinzipiell   als  charakteristische 
Aa Wendung  des  Kantischen  Entwickelungsbegriffes  bezeichnet;  aber 
in    der  Darstellung   der  Religionslehre   selbst  lässt  er  sich  viel  zu 
stark  durch  die  exoterischen  Elemente  des  Hauptwerkes  bestimmen 
üad    lässt    damit  einen  ungelösten  Widerspruch  zwischen  ihm  und 
der  Kantischen  Entwicklungslehre  stehen.     Pfleiderer  bindet  sich 
zwar  weniger  an  das  Hauptwerk;  aber  auch  er  durchschaut  den  Kom- 
promiss-Charakter  der  angeblichen  KantischenOff enbarungslehre  nicht 
fenügend  und  hat  andererseits  zu  wenig  umfassende  Anschauung  von 
Kants  Geschichtsphilosophie,  um  die  Zusammenstimmung  dieser  mit 
dem  Hauptwerk  zu  empfinden.    Schweitzer  und  Sänger  lassen  die 
Wstorischen  Elemente  völlig  bei  Seite  liegen  und  vermehren  damit 
den  irrigen  Eindruck,  als  dürfe  die  Kantische  Religionslehre  ohne 
prinzipielle  Beziehung  zur  Historie  gedacht  werden.  Von  den  theo- 
logischen Kantianern   vollends   wird   nunmehr   gänzlich  klar  sein, 
^e  weit  sie  aus  dem  für  Kants  Denken  wesentlichen  historischen 
ßvolutionismus  und   damit  aus  den  von  Kant  klar  erkannten  Vor- 
raussetzungen  des    historischen    Denkens    überhaupt   herausgehen. 
*^le  die  Beteiligung  historischer,  insbesondere  religionsvergleichen- 
^^r,  Erwägungen  an  der  Religionsphilosophie  der  Aufklärung  über- 
*^aiipt  gerne  unterschätzt  wird,  so  hat  sich  gezeigt,  dass  auch  für 
^Hut  eine  solche  Unterschätzung  üblich  ist.    Kants  Lehre  nimmt 
^^gativ   und   positiv   zu   einer  univei'salen,    wenn  auch   noch  sehr 
'Mageren,  Religionsgeschichte  Stellung.     Die  P^insatzpunkte  für  die 
f^tik   treten  dabei  von  selbst  zu  Tage.     In  der  Hauptsache  aber 
^^t    eine    Kritik   nicht   nötig.      Hier   liegt   alles   völlig   klar    und 
^Wingend.   Kants  Lehre  ist  weit  entfernt  von  dem  ihr  gewöhnlich 


^^  Schleiermachers  Geschichtsphilosophie    ein  äusseret  wichtiges  und  lelir- 
*^iches  Thema,  von  dem  sie  sich  bisher  stets  sorgfältig  fern  gehalten  hat. 


154     E.  Troe lisch,  Das  Historische  in  Kants  Religionsphilosophie. 

zugeschriebeuen  geschieh tsloseu  SiDue,  sie  zieht  vielmehr  geradezu 
die  Konsequenz  der  beginnenden  Historisiening  des  menschlichen 
Denkens  und  der  Einverleibung  der  heiligen  Geschichte  in  die  all- 
gemeine Religionsgeschichte.  Es  ist  der  Bruch  der  modernen 
Welt  mit  dem  auf  der  urchristlichen  Apologetik  beruhenden  Wissen- 
schaftssystem des  Katholizismus.  Wer  diesen  Bruch  vollzieht,  wer 
die  Quasi-Historie  des  Wunders  aufgiebt  und  die  reale  Historie 
der  Kritik  und  analogischen  Rekonstruktion  anerkennt,  für  den 
bleibt  nichts  anderes  übrig  als  die  Ausarbeitung  und  Vertiefung 
des  Kantischen  Satzes  :  „Das  Historische  dient  nur  zur  Illustration, 
nicht  zur  Demonstration." 


Immanuel  Kanis  philosophisches  Vermächtnis. 

\  Gedeiikblatt    zum    hmulcrtjährigon  Todestag   ilos   Philosophen. 
^L  Vtm  F.  He  m  an  in  BaseL 


Als  Kant  am  12.  Fehniar  1804  seine  Augeo  scliloss»  schien 
schon  seit  einer  ßeih«*  von  Ji^hren  seinen  Rnhm  liherlebt  zu 
)en.  Mehl  allein,  dass  Kant  schon  seit  fünf  Jahren  alter  öffeut- 
leD  Thätigkeit  hatte  entsagen  und  atif  alle  berufliche  Wirksam- 
t  hatte  Veracht  leisten  müssen,  sondern  Andere,  Jüngere,  waren 
getreten»  die  mit  der  Verwegenheit,  dei"  Jugend  noch  zu  seinen 
iizeiten  ihü  und  seine  Philosophie  für  veraltet  und  abgethan  er- 
rten,  mit  dem  Lorber  seines  Ruhmes  ihre  Stirnen  schmückten 
l  ihn  und  seine  Philosophie  nur  noch  als  Piédestal  ihrer  eigenen 
isse  woUteu  angesehen  wissen  und  gelten  lassen.  Und  ilie 
«se  Menge  war  ihnen  gefolgt;  sie  hatten  es  ja  verstanden,  die 
*l>e  Schärfe  der  kritischen  Philosophie  durch  ausgiebigen  Miss- 
.neh  ihrer  produktiven  Einbildungskraft  in  l>ei'auschend  süssen 
ktÄi"  umzuwandeln,  durch  den  die  Sterblichen  au  Erkenntnis  und 
ssen  den  Göttern  gleich  zu  machen,  sie  ruhmredig  sich  an- 
schig  machten.  Als  Kant  starb,  schien  auch  seine  Philosophie 
tgiltig  mit  ihm  t>egraben  zu  werden. 

Und  in  der  That,  ein  Menschenaltfr  hindurch  steigerte  sich 
ner  ärger  der  TaunuVl  des  absolnteu  Wissens  bis  zur  Selbstver- 
terung  der  Pliilosophie  und  ihrer  Koryphäen;  kein  Mensch 
^hte  mehr  an  den  bescheidenen  Kant  oder  wollte  sein  Wissen 
die  engen  Sclu*anken  des  Kantischen  Kritizismus  bannen  lassen. 
ar  brach  jählings  dann  das  Erwachen  herein  und  alle  Denken- 
i  waren  wie  aus  den  Wolken  gefallen,  als  sie  die  hochgernhmten 
Sterne  Ihrer  Philosophen  vor  der  Macht  der  Thatsachen»  welche 
Naturforscher  ins  Feld  führten»  wie  Spinngewebe  zerreissen 
en.  Allein  es  dauerte  noch  eiînnal  ein  Menschenalt^^r,  bis  nmn 
reuigen  Einsicht  in  die  Ursache  der  verfehlten  EntwickeUmg 


ir>(î 


F.  Hem  an, 


kaiîL  Ihi  t'iitUirh  im  Anfaiiß"  tier  serhziger  Jahro  des  rorigt^n 
.Fahrhïiiiilints  ertönte  immer  lauter  und  lauter  der  Ruf:  Zuriict 
zu  Kant!  Es  war  ein  triiter,  heilbringender  Knï  dei*  Selbstbe- 
sinnung, 

Man  grub  ihn  und  seine  grossen  Werke  aus  dein  Grab  ihrer 
Vergessenheit  wieder  aus;  es  entstand  ein  freudiges  und  eifriges 
Kantstudium.  Jetzt  erst  wurde  Kant  der  eigentliclie  Schulpbilo- 
soph  der  Dent.schen,  der  Meister  und  Lehrer  aller,  die  auf  philo- 
sopliisehe  Kenntnisse  Anspruch  machten.  Man  hegte  allenthalben 
die  besten  Hoffnungeu  und  Erwartuogen  einer  neuen  Blütezeil 
der  Philosophie;  die  Veraditung,  in  welche  einst  Kants  spekulativ* 
idealistische  Nachfolger  die  Philosopliie  gestürzt  hatten»  sollte  ei« 
Kiide  nehmen  und  ein  neues  Zeitalter  der  Glorie  anbrechen. 

Allein  trotz  allem  Eifer  und  aller  Mühe  wollte  keine  der 
Hoffnungen  in  Er-füllung  gehen.  Zwar  rühmteu  Einige,  wir  ver- 
stünden heute  Kant  besser,  als  er  sich  seiner  Zeit  selber  ver- 
standen habe;  es  erschienen  grosse  und  glanzende  Darstellunj2:en 
der  Kantischen  Philosophie,  eine  ganze  Flut  von  Monographien 
über  einzelne  Teile  und  Punkte  seiner  Philosophie  traten  zu  tage, 
aber  die  Philosophie  selber  verblieb  in  dem  wirren,  trostlosen  Zu- 
stand, in  den  sie  gestürzt  war.  Ja,  trotz  allen  Anstrengungen 
schien  durch  die  Ungunst  der  Zeit  ihr  gänzlicher  Verfall  nicht 
verhütet  werden  zu  können.  Selbst  einige  Kantianer  glaubten 
durch  Kant  genötigt  zu  sein,  die  Philosophie  auf  diiiTe  und 
uufruchthare  Erkenntnistheorie  reduzieren  zu  müssen.  Es  eut* 
standen  nicht  nur  endlose  Streitigkeiten  über  das  Verständnis 
und  die  Auslegung  der  Kautischen  Philosophie,  sondern  auch, 
w^as  noch  viel  schlimmer  war,  über  die  Möglichkeit,  die  Berech- 
tigung und  den  F^egriff  der  Philosophie  selber.  Man  stritt  der 
Philosophie  das  Recht  der  Existenz  ab  im  Namen  der  Kantischen 
Kritik.  Manche  kehrten  daher  auf  den  Humeschen  Staudpunkt 
des  Skeptizismus  zurück,  von  dnrn  ja  doch  Kant  die  l^hilosophie 
hatte  befreien  wollen.  Andere  warfen  sich  dem  Positivismus  in  die 
Arme.  Aber  dennoch  waren  diese  eifrigen  Kantstudien  nicht  um- 
soîist.  ThT  Sinn  für  echte,  die  Probleme  piinzipiell  bchandelndt* 
Philnsoidiie  wurde  dadurch  während  der  traurigen  Zeit  der  mate- 
riaUstischen  Hochflut  iu  Deutschland  wach  und  rege  gehalti^n. 
Der  Neukantiauisnuis  hat  das  grosse,  nicht  zu  unterschätzende 
Verdienst,  den  Zusammenhang  der  philosophischen  Entwickeliuig 
in  Üeut.schland    gewahrt   und    das  Erlöschen   rein  philosophischen 


Immanuel  Kants  philosophisches  Vermächtnis.  1Ö7 

Denkens  verhütet  zu  haben,  sodass  Deutschland  seinen  Ruhm  be- 
hielt, die  Pflegestätte  der  Philosophie  in  Europa  zu  sein.  Dies 
Verdienst  bleibt  ihm  unbestreitbar,  obwohl  es  ihm  damals  noch 
nicht  gelang,  dui-ch  die  Wiedererneuerung  Kante  die  Philosophie 
selbst  auf  eine  neue,  höhere  Stufe  zu  erheben  und  eine  neue  Epoche 
derselben  zu  inaugurieren. 

Wir  haben  zunächst  zwei  Fragen  zu  beantworten: 

1.  Warum  irrten  Kante  direkte  Nachfolger  so  weit  von  Kant 
ab,  dass  seine  Philosophie  in  Vergessenheit  geriet? 

2.  Warum  hat  die  Erneuerung  der  Kantischen  Philosophie 
noch  nicht  ihr  wirkliches  Ziel  erreicht? 

Dann  wollen  wir  das  betrachten,  was  Kant  selber  in  den 
allerletzten  Jahren  vor  seinem  Hinscheiden  uns  noch  als  Weg- 
leitung für  eine  künftige  Entwickelung  und  Weiterbildung  seiner 
Philosophie,  als  der  Philosophie  selbst,  hinterlassen  hat;  es  ist 
Kante  philosophisches  Vermächtnis  an  die  Nachwelt,  an  uns,  auf 
die  es  gekommen  ist. 


I. 
In  bezug  auf  die  erste  Frage  können  wir  kurz  sein  und 
brauchen  nur  an  Bekanntes  zu  erinnern.  Der  Punkt  in  Kante 
Philosophie,  der  Fichte  zum  Sprungbrett  diente,  um  kurzweg  über 
Kante  ganzes  System  hinwegzukommen,  war  „das  Ding  an  sich". 
Schon  Änesidemus-Schulze  hatte  das  Ding  an  sich  für  einen 
Widerspruch  in  der  Kantschen  Erkenntnistheorie  erklärt.  Wenn  es 
unerkennbar  ist,  dann  ist  auch  nicht  erkennbar,  ob  es  nicht  doch 
auch  Ursache  der  Form  unserer  Erkenntnis  ist  und  nicht  bloss 
des  Stoffes  unserer  Empfindung.  Auch  machte  Schulze  schon  da- 
rauf aufmerksam,  dass  sich  Kant  von  Berkeley  nur  dadurch  unter- 
scheide, dass  er  noch  unberechtigter  Weise  Dinge  an  sich  als 
ausser  uns  annehme,  während  Berkeley  nur  Geister  und  ihre  Vor- 
stellungen oder  Ideen  kennt.  Ziehe  man  bei  Kant  die  Selbst- 
täuschung mit  dem  Ding  an  sich  ab,  so  bleibe  nur  Hume  und 
Berkeley  übrig.  Auch  Maimon  machte  geltend,  dass  es  unmöglich 
sei,  dass  ein  ausser  unserem  Bewussteein  befindliches  Ding  in 
unserem  Bewussteein  rot,  süss,  sauer  bewirke.  Als  Erkenntnis- 
prinzip bleibe  einzig  unser  Bewussteein  übrig.  So  wenig  aber  der 
Stoff  der  Empfindung  aus  dem  Bewussteein  könne  abgeleitet  wer- 
den,  so    wenig  könne  das  aus  dem  Ding  an  sich  geschehen.     Aus 


158 


F.  Heraan, 


(Ifrii  Ding-  an  sich  lasse  sich  die  Empfindting  und  ihr  Stoff  in 
keiner  Weise  erklären.  Es  habe  ja  gar  keine  metaphysische  Rea- 
lität, sondern  sei  wirklich  mir  ein  Grenzhegriff.  Das  sei  die  wahre 
und  kouseifiiente  Theorie  der  Kritik  d,  r,  W  Mainion  forderte, 
dass  Kants  Theorie  als  voller  und  ganzer  Idealismus  niiisse  auf- 
gefasst  werden.  Auch  S!g:ismund  Beck,  nächst  Reinhold,  der  be- 
geistertste und  einsichtsvollste  Anhänger  Kants,  den  dieser  selbst 
mit  einer  Erläuterung  seiner  Philosophie  beauftragt  hatte,  glaubte 
Kants  Theorie  nicht  anders  verstehen  zu  können  als  im  Sinne 
des  vollen  Idealismus,  in  dem  das  Ding  au  sich  keinen  Platz  hat. 
Unter  der  Voraussetzung,  das  Ding  an  sich  bedeute  etwas  Wirk- 
liches, bleibe  die  ganze  Kritik  d.  r.  \.  unverständlich.  Das  Ding 
an  sich  soll  unvorstellbar  sein,  aber  stelle  man  es  als  Ursache 
des  Empfindungsstoffes  vor,  so  werde  es  ja  doch  vorgestellt.  Beck 
meint,  die  Kritik  d.  r.  V.  rede  nur  die  Sprache  des  Realismus  um 
des  Verständnisses  willen,  weil  dies  die  natürliche  Denkart  sei; 
aber  Alles  laufe  doch  auf  die  Behauptung  hinaus,  dass  nur 
Erscheinungen  und  Vorstellungen  existieren,  und  desivegen 
sei  die  Zusammenstellung  Kants  mit  Berkeley  vollkommen  zu- 
treffend. 

Es  nutzte  nichts,  dass  Kant  diese  Ausdeutung  seines  Phäno- 
menalismus iu  absoluten  Idealismus  für  „hyperkritisch**  erklärte; 
auch  seine  Erläuterungen  und  Zurechtstellungen  in  der  zweiten 
Auflage  der  Kritik,  zusamt  seiner  geharnischten  Erklärung 
gegen  den  Idealismus  darin,  fanden  weder  Glanbeu  noch  eingehende 
Beachtung.  Im  Jahre  1793  war  bei  allen  Anhängern  Kants  ebenso- 
sehr, wie  bei  seinen  Feinden  ausgemacht,  Kants  Theorie  habe  nur 
Sinn,  wenn  sie  rein  idealistisch  aufgefasst  werde,  und  das  „Ding 
an  sich"  sei  im  W^iderspruch  mit  der  recht  verstandenen  Theorie. 
Man  glaubte  es  einfach  nicht,  dass  Kant  kein  reiner  Idealist  sei 
und  hielt  alle  Proteste  Kants  für  blosse  Ausflüchte  und  für  Ac- 
commodation an  die  populäre  Meinung.  Daher  konnte  Fichte  im 
selben  Jahr  1793  sich  dahin  äussern,  die  Kritik  d.  r.  V.  würde 
eher  für  das  Werk  des  sonderbarsten  Zufalls  zu  halten  sein,  als 
für  das  Werk  eim^s  Kopfes,  wenn  man  das  Ding  an  sich  nicht  für 
eine  blosse  vorläufige  Annahme  in  der  Kritik  halte  und  wenn 
man  den  entschiedensten  Idealismus  der  Kritik  mit  dem  gröbsten 
Dogmatismus  des  Dinges  an  sich  zusammenstelle  und  verunstalte. 
Als  Kant  1799  dagegen  remonstrierte,  scheute  sich  Fichte  nichts 
hu  einen  ,,Dreiviertelskopf"  zu  schelten. 


I 


e»  Vermachtîii». 


Die  Grundlage  und  der  Ausgangspunkt  der  nachkantischen 
Philosophie  ist  also  die  reiu  idealistische  Auffassung  der  Kantisclien 
Kritik.  Die  FortentiivickeluDg  stützte  sich  nicht  auf  das  ganze 
System  in  seiner  Totalität,  sondern  auf  ein  einzelnes  Stück  der 
Kautischen  Philosophie,  das  überdies  noch,  ohne  Berücksichtigung 
des  oftmaligen  Protestes  Kant-s,  nicht  im  Kantischen  Sinn  aufge- 
fasst  und  ausgelegt  wurde. 

Freilich,  wenn  mau  die  ganze  Philosophie  Kants  rein  idea- 
listisch interpretiert  und  den  Wortlaut  der  ersten  Auflage  der 
Kritik  der  r,  \.  im  Gegensatz  zu  Kants  eigenen  Erklärungen  zum 
Kriterium  des  ganzen  Kantischen  Systems  macht,  dann  allerdings 
mass  die  Weitcrentwickelung  die  Richtung  Fichte,  ScheUing,  Hegel 
einschlagen.  Fichte,  Schelliug  und  Hegel  wären  unmöglich  ge- 
wesen, weun  man  nicht  Kaut  rein  idealistisch  aufgefasst  hätte, 
und  wenn  man  nicht  gemeint  hätte,  dadurch  ei*st  komme  der  Kau- 
tische Kritizismus  zur  strikten  Kouse(iuenz.  Kant  hat  bis  au  sein 
Lebensende  dagegen  protestiert.  Aber  mau  hatte  Kant,  noch  be- 
vor er  gestorbeu,  zu  den  Toten  gelegt,  und  so  konnte  man  nach 
Herzenslust  im  extremsten  Idealismus  schwärmen  und  fhegeu  und 
die  exorbitantesten  Systeme  ans  Licht  fördern,  und  konnte  dennoch 
meinen,  auf  dem  von  Kant  geschaffenen  Boden  zu  stehen. 

Die  Exstii^*ation  des  Dinges  an  sich  bedeutet  also  die  Um- 
wandlung der  Kautischen  Erkenntnistheorie  in  reinen  und  piu'eu 
Idealismus.  Dies  entsprach  aber  durchaus  in  keiner  Weise  den 
Absichten  Kants  bei  Aufstellung  seiner  Erkenntnistheorie. 

Bei  der  totalen  Verkennung  seiner  Absichten  und  dem  allge- 
meinen Missverständnis,  dem  seine  neue  Theorie  ausgesetzt  war 
durch  ihre  Umdeutung  in  puren  Idealismus,  fühlte  Kaut  das  Be- 
dürfnis, sich  über  die  innere  Entstehungsgeschichte  seiner  Kritik 
ausführlich  in  der  Vorrede  zur  zweiten  Auflage  auszusprechen. 
Hier  giebt  er  uns  deutlichen  Aufsclünss  über  die  innersten  Motive 
und  Gründe^  über  die  Absichten  und  Zwecke,  die  ihn  zur  Aufstel- 
lung seiner  so  durchaus  neuen  Theorie  des  Erkennens  geführt 
haben.  Er  thut  es,  um  darzuthuu,  dass  keinesw^egs  die  Aufstellung 
eines  puren  Idealismus  zu  diesen  Motiven  und  Zwecken  gehört 
habe,  vielmehi*  werde  dadurch  „zuletzt  auch  dem  Idealism  uud 
Skeptizism  seihst  die  Wurzel  abgeschnitten  werden/ 1)  Sein 
Motiv  ist  der  verworrene  Zustand  der  Metaphysik  der  theoretischeu 


»)  Kants  Kritik  der  reinen  Venuinft.    Ed,  Kehrbach,  2,  Aufl.    S,  28. 


F.  Hcman, 


Philosophie,  die  noch  nicht,  wie  die  Loß^k,  die  Mathematik  und 
die  Naturwissenschaften,  „üeu  sichern  Heeresweg  der  Wissen- 
schaft" gefunden  hahe>  sondern  immer  gleich  „ins  Stocken  ge- 
rate**, noch  „keine  Einhelligkeit  ihrer  Anhänger*"  besitze,  sondern 
„ein  KaiDpf platz  sei,  der  ganz  eigentlich  dazu  bestimmt  zn  seio 
scheint,  seine  Kräfte  im  Spielgefechte  zu  üben**,  ^)  Als  Grund, 
waruni  die  andern  Wissenscliaften  iri  gutem  Znstand  und  Fort- 
schritt begriff  en  *  seieu,  giebt  Kant  an»  dass  mau  auf  Logik  uüd 
Mathematik  von  Alters  her,  auf  Naturwissenschaften  seit  Oalilei 
den  (Truudsatz  augewendet  habe,  ,.(]ass  die  Vernunft  nnr  das 
einsieht,  was  sie  selbst  nach  ihrem  Entwürfe  hervor- 
l>riugt,  dass  sie  mit  Prinzipien  ihrer  Urteile  nach  beständigen 
Gesetzen  vorangehen  und  tlie  Natur  uutigen  müsse,  auf  ihre  Fragen 
zu  aiitwurtcn,  nicht  aber  sich  von  ihr  allein  gleichsam  am  Leit- 
bande  gängeln  lassen  müsse,  denn  sonst  hängen  'zufällige,  nach 
keinem  vorher  entwurfeuen  Plane  geumchte  Beohachlungen  gar 
nicht  in  einem  notwendigen  Gesetze  zusammen,  welches  doch  die 
Vernunft  sucht  und  bedarf,"*) 

„Woran  hegt  es  nun,  fragt  Kaut,  dass  für  die  theoretische* 
Philosophie,  die  reine  Vernunft  Wissenschaft,  noch  kein  sicherer 
Weg  der  Wissenschaft  hat  gefunden  werden  können?  Ist  er  etwa 
unmöglich*:?  Woher  hat  denn  die  Natur  unsere  Vernunft  mit  dvr 
rastlusen  Bestrebung  heimgesucht,  ihm  als  einer  ihrer  wichtigstcu 
Augelegenheiten  nachzuspüren?  Noch  mehr,  wie  wenig  haben  wir 
Ursache,  Vertrauen  in  unsere  Vernunft  zu  setzen,  wenn  sie  uns  in 
einem  unsrer  wichtigsten  Objekte  nnserer  Wissbegierde  nicht  bloss 
verlässt,  sundi^rn  durch  Vorspiegelungen  hinhält  und  am  Ende  be- 
trügt? Oder  ist  bisher  der  Weg  nur  verfehlt?  Welche  Anzeige 
konneu  wir  benutzen,  um  zu  hoffen,  dass  wir  glücklicher  seio 
werden,  als  andere  vor  uns  gewesen  sind?"^) 

Kants  Antwort  ist,  die  Metaphysik  muss  die  Beispiele  din^ 
Mathematik  und  Naturwissenschaften  nachahmen  und  jenen 
Grundsatz,  dem  diese  folgen,  auch  auf  sich  anwenden:  die  Ver- 
nunft sieht  nur  das  ein,  was  sie  selbst  nach  ihrem  EuU 
wurf  hervorgebracht  hat.  1 

Und  w^as  folgt  aus  diesem  Grundsatz  für  die  Theorie  unserer 
Erkenntnis  der  Pinge?    Kant  sagt  es  deutlich  :  „Bisher  nahm  man 

I)  Ebenda  S.  16. 
8)  Ebenda  S,  16  f. 
*)  Ebenda  S.  17. 


Immanuel  Kants  philosopldsches  Vermächtnis, 


161 


an,  alle  unsere  Erkenntnis  müsse  sich  nach  den  Gegenständen 
richten  ;  aber  alle  Versuche,  über  sie  a  priori  etwas  durch  Begriffe 
auszumachen  y  wodurch  unsere  Erkenntnis  erweitert  würde,  gingen 
unter  dieser  Voraussetzung  zu  nichte.  Man  versuche  es  daher 
einmal,  ob  wir  nicht  in  den  Aufgaben  der  Metaphysik  da- 
mit besser  fortkommen,  dass  wir  annehmen,  die  Gegen- 
stände müssen  sich  nach  unserem  Erkenntnis  richten/ 
Kant  war  also  zur  Einsicht  gekommen,  dass  unsere  Erkenntnis 
der  Dinge  durchaus  bedingt  sei  durch  die  Prinzipien  unserer 
Vernunft,  durch  die  Organisation  unseres  Bewusstsems,  durch 
die  Form  und  Wirkungsweise  unserer  Erkeuntuiskräfte.  Er 
konnte  das  so  ausdrücken:  unsere  Erkenntnis  der  Dinge  richtet 
sich  nicht  so  sehr  nach  den  Dingen;  als  vielmehr  nach  den  trans- 
scendentalen  Bedingungen  des  erkennenden  Subjektes.  So  kam 
Kant  auf  die  originale,  bisher  noch  vou  Niemand  entdeckte  Idee, 
die  im  Subjekt  liegenden  Erkenntnisbedingungen  aufzusuchen  und 
nachzuweisen,  dass  alle  uusei-e  Erkenntnis  der  Dinge  sich  inner- 
halb dieser  Formen  unseres  shinlichen  und  vernünftigen  Erkennt- 
nisTermögens  bewege  und  deren  Grenzen  nie  überschreiten  könne, 
Kant  hat  darum  ganz  recht,  wenn  er  sich  in  dieser  Hinsicht 
mit  Copernicus  veiglcicht  und  sagt:  „Es  ist  hiermit  ebenso,  als 
mit  den  ersten  Gedanken  des  Copernicus  bewandt,  der,  nachdem 
m  mit  der  Erklärung  der  Himmelsbewegungen  nicht  gut  fort 
wollte,  wenn  er  annahm,  das  ganze  Sternenheer  drehe  sich  um 
den  Zuschauer,  versuchte,  ob  es  nicht  besser  gelingen  möchte, 
wenn  er  den  Zuschauer  sich  drehen  und  dagegen  die  Sterne  in 
Ruhe  liess.  Tn  der  Metaphysik  kann  mau  nun,  was  die  Anschau* 
UDg")  der  (Gegenstände  betrifft,  es  auf  ähnliche  Weise  versuchen. 
Wenn  sich  die  Anschauung  nach  der  Beschaffenheit  der  Gegen- 
stände richte!)  müsste,  so  sehe  ich  nicht  ein,  wie  man  a  priori 
vou  ihr  etwas  wissen  könne,  richtet  sich  aber  der  Gegenstanii  {als 
Objekt  der  Sinne)  nach  dt^r  Beschaffenheit  unseres  Auschauuugs- 
vermögens,  so  kann  ich  mir  diese  Möglichkeit  ganz  wohl  vor- 
stellen*** Dasselbe  gilt  vou  der  Verstaudeserkenntnis  der  Gegen- 
stände durch  Begriffe,  Richten  sich  die  Begi*iffe  der  Dinge 
auch  nach  den  Dingen,  dann  sind  wh^  wiederum  in  derselben  Ver- 
legenheit wegen  der  Art,  wie  wir  apriori  etwas  davon  wissen 
können,  nehmen  wii*  aber  an,  die  Gegenstände,  oder  welches  einer- 


*)  Von  Kant  ôclion  ausdrücklich  imterstrichen* 

lUutotudien   IX, 


162 


P.  Heman, 


er- J 

im 

an        ' 


lei  ist,  die  Erfahrung,  in  welcher  sie  allein  (als  gegebene 
Öegenstände)  erkannt  werden,  richte  sich  nach  unsern  Begriffei 
so  sehen  wir  sofort  eine  leiühterri  Auskunft,  weil  Erfahrung  selhsi 
eine  Erkeuntnisart  ist,  die  Verstand  erfordert,  dessen  Regeln  ich 
in  mir,  noch  ehe  mir  Gegenstände  gegeben  werden,  niitiiiu  a  priori 
voraussetzen  rauss,  und  nach  denen  sich  also  alle  Gegenstände  der 
Erfahrung  notwendig  ricbten  müssen.  Die  veräudeite  Method*^ 
der  Denkungsart  besteht  also  dai"in,  dass  wir  näniUch  von  den 
Dhigen  nur  das  a  priori  erkennen,  was  wir  s^^lbst.  in  sie  legen.*) 
Beachten  wir  Kants  Vergleich  mit  Copernicus  genauer,  daiui 
werden  wir  Kants  Tendenz,  Zweck  and  Absicht  ganz  klar  ver- 
stehen, Gopernicus  hat  die  Eigenbewegung  des  Sternenhinnneli 
der  Fixsterne,  der  Sonne  und  der  Planeten  durchaus  nicht  leugnen 
wollen,  vielmehr  wollte  er  nur  sagen,  wenn  wir  diese  ihre  Be- 
wegungen richtig  erkcTinen  wollen,  dann  tniissen  wr  zuerst  imserr 
eigene  Bewegung,  d.  h.  die  Bewegung  der  Erde  erkennen  und  für 
die  Bewegnng  des  SternenhimmelK  in  Betracht  ziehen.  So  hat 
nun  auch  Kant  „durch  die  veränderte  Methode  der  Denkungsart" 
weder  die  Existenz  noch  Realität  dvr  Dinge  leugnen  und  aufliebeoÄ 
wollen,  sondern  hat  nur  gefordert,  dass  wir  bei  der  Erkenntnis 
der  Dinge  vor  allem  und  in  erster  Linie  unsere,  uns  eigentümlichen 
Formen  der  sinnlichen  Anschauung  und  des  begrifflichen  Denkens 
in  Betracht  ziehen  müssteu.  Die  Existenz  und  die  Realität  der 
Dinge  sollt4?n  wü'  „in  Ruhe  lassen**,  wie  Copernicus  die  Be- 
wegungen des  Sternenheeres  vorläufig  „in  Ruhe  Hess**,  um  die^ 
Bewegungen  der  Erde  in  ihrer  Beziehung  zum  Steruenheer  zu  eilfl 
foi^chcn.  Deswegen  hat  auch  Kant  oft  genug  erklärt,  dass  er 
den  Bestand  und  die  Wirklichkeit  der  Dinge,  ihre  empirische 
Realität  durchaus  nicht  leugne  und  aufhebe,  dass  er  die  Phäno- 
menalwelt durchaus  nicht  zu  einer  blossen  Scheinwelt  degradiei-en 
wolle,  sondern  nur  aufzeigen  wolle,  wie  viel  von  unserer  Erkenntnis 
dieser  nicht  bloss  realen,  sondern  sogar  empirisch  realen  Welt  auf 
den  transscendeutaleu  Bedingungen  unseres  Erkenntnisvermögens 
beruhe.  Er  wollte  zeigen,  wie  unsere  Erkenntnis  dieser  empirisch 
realen  Welt  bedingt  sei,  abhänge  und  erklärt  werden  müsse  aus 
der  Einrichtung  unserer  Sinnlichkeit  und  unseres  Denkvermögens. 
Dieser  transscendeutale  Idealismus  (eine  vieldeutige  und 
unglücklich  gewählte  Bezeichnung  seiner  Theorie)  ist  aber  j 


1)  Ebenda  S.  18. 


Immanuel  Kants  philosophisches  Vermächtnis. 


163 


btzlich  himmelweit  verscliieden  vom  eigentlichen  und  gewöhnlichen 
d.  h.  psychologischen  Idealisnins.  Aber  Kants  Zeitgenossen  und 
Nachfolger  haben  diesen  trausseendenUilen  Idealismus  Kauts  immer 
wieder  trotz  aller  Proteste  und  Erklärungen  Kants  mit  dem  psy- 
chologischen verwechselt  und  darnm  Kant  zum  reinen  und  blossen 
Idealisten  gestempelt  und  auf  seine  vermeintlich  ideahstische, 
dem  Berkeley  verwandte  Theorie  des  Erkenuens  idealistische 
Systeme  erbaut 

Ferner  hat  man  seither  imuier  gänzlich  ausser  Acht  gelassen, 
dass  an  dieser  wichtigen  Stelle,  wo  sich  Kant  über  sehie  Ab- 
sichten und  Zwecke  bezüglicb  seiner  Erkenntnistheorie  giiindsätz- 
lieh  auslädst,  Kant  zweimal  ausdrücklich  sagt,  dass  er  nur  durch 
feine  Theorie  erklären  wolle,  wie  viel  wir  a  priori  von  der 
Beschaffenheit  der  Gegenstände  etwas  wissen  können. 
Er  wolle  niu-  das  a  priori  unserer  sinnlichen  und  unserer  denkenden 
Erkenntnis  der  Dinge,  nicht  auch  das  a  posteriori  derselben  er- 
klären. Statt  diese  Einschriinknng  auf  das  a  priori  einzuhalten 
und  zu  beachten,  hat  man  Kant  innner  so  verstanden,  als  ob 
unsere  gesamte  Erkenntnis  der  Dinge  auf  transscendeutalen  Be- 
dingungen benihe  und  als  ob  auch  das  a  posteriori  unserer  Er- 
kenntnis, die  Empfindung  und  der  VorsteUuugsstoff  aus  dem  Be- 
wiisstsein  und  seinen  transscendentalen  Bedingungen  könne  oder 
müsse  abgeleitet  werden.  Diese  Möglichkeit  oder  gar  Notwendig- 
keit hat  Kant  nicht  nur  nie  behauptet,  sondern  immer  bestritten. 
Hätte  man  diesen  Protest  beachtet,  so  wäre  man  nie  darauf  ver* 
fallen,  aus  dem  Ich  ein  Xichtich,  aus  dem  Subjekt  ein  Objekt,  aus 
der  blossen  Idee  die  reale  Welt  ableiten  zu  wollen.  Man  gab  sich 
uicht  die  Mühe,  Kant  zu  vei^stehen,  wie  er  selbst  forderte,  dass 
man  ihn  vei^tehe,  sondern  hielt  ihn  für  den  „Dreiviertelskopf", 
den  jeder  normale  „Kopf**  leicht  zu  verbessern  imstande  sei.  Man 
glaubte  den  inkonset|uenten  Kant  konsequent  machen  zu  müssen, 
um  von  seiner  Piiiiosopliie  einen  tiewinu  ziehen  zu  können. 


IL 


^H_  Als  der  aus  dem  vermeintlichen  Ideahsmus  Kants  heiTorge- 
P^^iHieBe  wirkhche  Idealisinus  Fichtes,  Schellings  imd  Hegels  ab- 
f  gewirtschaftet  und  die  Philosophie  in  die  kläglichste  Verachtung 
herabgedrückt  hatte,  da  beschloss  man  freilich,  wieder  zu  Kant 
zurückzukehren,    um    einen   neuen   Ausgangspunkt   zu   gesunderer 

ir 


F,  Heman, 


Eut  Wicklung  zu  finden.     Aber  es  geschah  eiB  ganz  Merkwürdiges. 
Man   Hess   sich   durch   das  Erlebte  nicht  warnen.     Zwar  entstand 
wiedenuii,   wie  in  den  neunziger  Jahi^en  des  XVIIl.  Jahrhunderts, 
ein    heftiger  Streit    über   das    rechte  Vei'ständnis    der  Kantischeu 
Philosopliie,    aber   anstatt   die   Kritik   der   reiueu  Vernunft 
nach  Massgabe  und   in  Übereinstimnumg  mit  dem  ganzi^n 
System  Kants   auszulegen,   isolierte   mau  wiederum  die  Kritik 
vom  übrigen  System  und  kam  darum  wieder  dazu,  die  Kritik  rein 
idealistisch  zu  verstehen  und  alles  Nicht-idealistische  darin  für  in- 
konsequente   Eiuschit*bsel    dei'    2.  Auflage    zu   erklären.     Dadui'cb- 
wurde    wiederum    der   ganze  Gedankenbau    des   Systems    zerstört.^ 
Die    ganze    praktische    Philosophie    Kants,    nach    Kants    eigener 
Schätzung  der  wichtigste  und  wertvollste  Teil  des  Systems,  iuusste. 
als  mit  dem  Idealismus  und  Phänomeualismus  unverträglich,  gänzlich 
weggeschnitten  werden.     In  einer  reineu  und  blossen  Phanoraenal- 
welt  kann  sich  kein  apriorisches,  uoumeuales  Sittengesetz  geltend 
macheu*     Auch  das  Moralische  ist  nur  ein  a  posteriori,  ein  Phäno- 
menales,    Weil  aber  eine  Metaphysik  überhaupt  unmöglich  ist,  so 
muss  die  Philosophie  überhaupt  sich  auf  kritische  Erkeuntnistheorie 
reduzieren,    und   diese   hat  zum  Resultat,  dass  wir  a  priori  und  a 
posteriori,  durch  Vernunft  und  duj'ch  Erfahrung,  doch  niehts  wissen 
können,    als    unsere    eignen  Voi'stellungen,   dass    wir  uns  in  einer 
reinen  Vorsteüungswclt  bewegen,   deren  Sinn  und  Bedeutung  uns 
unfassbar  bleibt,    obgleich    oder   vielmehr    gerade    weil  wir  selbst 
durch  Sinnlichkeit  und  Verstand  sie  produzieren.    Dass  eine  solche 
Philosophie    keinen  Funken  Lebenskraft   besitzt,    nichts,    was    die 
Menschen  erheben,  begeistern  und  versittlichen  könnte,  nichts,  was 
eine  höhere  Kultur  zu  erzeugen   imstande  wäre,  liegt  offenkundig 
vor  aller  Augen.     Diese  Philosophie  konnte  ausserhalb  der  Schul- 
wäude  keine  Beachtung  finden.     Der  Grundfehler  war    also   der, 
dass  man  die  Kritik  nicht  als  blosse  Grundlage  des  Systems  Kants, 
sondern  nui*  als  Zerstörungsmittel  desselben  zu  gebrauchen  wusste. 
Kants  ganzes  öedankenleben  und  System  ist  aus  der  Kiitik  heraus- 
gewachsen   und    ruht   auf  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft    und 
wird  von  ihr  getragen;  man  daif  sie  also  vernünftigerweise  oicht 
so  auslegen,    dass    sie  diese  Tragfähigkeit  verliert  oder  gar,    dass 
sie  zum  Si>rengmittel  des  Systems  wird.    Dies  ist  ein  antik  antischer 
Missbrauch  der  Kritik, 

Doch   wir  müssen  gerecht  sein.     Wenn  die  alten  Kantianer 
sehou  und  dann  die  neuen  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  glau 


Immanuel  Kants  philosophisches  Vermächtnis. 


165 


!Uüd 
Wit' 


so  auslegi^i  zu  nuisseii,  dass  dabei  das  eî^2:cnt!iehe  System  Kants 
oicht  liest^hen  konnte,  sondern  preisg^egebeu  werden  nm.sst*',  dann 
kau  11  der  Fehler  doch  nicht  gam  an  d('n  Auslntrorn  Kants  liegen* 
Die  Kritik  der  reinen  Vernunft  ninss  Unind  und  Aiilass  dafür  geben, 
Uüd  dies  ist  in  der  That  der  Fall. 

In  der  Absiclit,  die  subjektiven  Bedingungen  des  Erkenntnis- 
izesses    darzulegen,    übersehroitet  Kant    weit  seitje  Aufgabe;  er 
beweist  zu  viel     Htatt  in  der  transst^eudentalen  Ästhetik  sieb  daran 
öijügen  zu  lassen,  die  Bedingungen  unserer  sinnlichen  Erkenntnis, 
!ie  Ansrhannngsfonnen,    nachzuweisen    und    zu    zeigen,    dass   wir 
die  Räumlichkeit  nud  Zeitlichkeit  der  Dinge  gar  nicht  aufzufassen 
und  zu  erkennen  verm^ichten^  wenn  diese  Formen  nicht  in  der  Ein- 
richtung unserer  Krkenntnisfähigkeiten  lägen,  weini  also  das  trans- 
scendentale  Subjekt    des  Erkennens    nicht  mit  diesen  Formen    der 
Anschauung    ausgeKtattet    wiire,    geht  Kaut    so  weit,  beweisen  zu 
wollen,    dass    diese  Formen    überhaupt   und    in    keiner  Weise  den 
Dingen    selbst»    sondern    nur  dem  betrachtenden,    d.  h.  sinnlich  er- 
^^euQenden  Subjekt  zukommen  könnten.     Weil  Kant  der  Copernicus 
^■er  Erkenntnis  sein   wollte,  Hess  er  sich  fortreissen,  viel  mehr  zu 
^■behaupten,    als  ('opernicus    auf  seinem  Gebiet  behauptete.     Dieser 
^behauptete   nur,    dass    das   Sternenheer   sich    nicht    um    die  Erde 
I     drehe,  aber  nicht,  dass  es  sich  überhaupt  nicht  drehe.     Kant  aber 
■Jiegnügte  sich  nicht  zu  beweisen,  dass  die  Anschauungsfornien  von 
^zeit  umi  Raum  in  nus  liegen  müssen,  wenn  wir  sie  an  den  Dingen 
erkennen  wollen,  sondern  dass  die  Dinge  selber  gar  keinen  Bezug 
zu  Raum    und  Zeit  hätten!     Damit  waren  iu  der  That  die  Dinge 
um    ihre  Realität    nud  Existenz    gebracht   und  der  reinste  Phäno- 
menalismns  und    der    absolute    Idealismus    zum    Erkenntnisprinzip 
erholien,     Die  Welt  ist  dann  rein  nur  und  kann  gar  nicht.s  andres 
mul  nichts  mehr  sein^  als  pure  Vorstellung,  als  eine  Phantasmagorie 
unserer  produktiven  Einbildungskraft,  als  eine  subjektive  ScheinweU, 
in  der  nichts  Wirkliches  erscheint.     Kant  sagt  in  der  zweiten  Auf- 
lage, 8.  73,  das    sei    nicht   seine  Meinung,  und  w^enn  man  ihn  so 
hyperkritisch  vei-stebe,  dass  die  Erschein uugs weit  zu  einer  blossen 

»Scheinwelt  herabsinke,  so  könne  das  nur  an  der  Ungeschicklichkeit 
Beiner  Darstellung  liegen.  Aber  statt  den  faulen  Fleck  zu  korri- 
frieren»  liess  er  ihn  auch  in  der  zw^eiten  Auflage  stehen  und  meinte, 
die  eingeschobene  Widerlegung  des  Idealismus  und  der  Protest  gegen 
die  idealistische  Auslegung  genüge  hinreichend.  Aber  darin 
täuschte  er  sich.    So  lange  die  irausscendentale  Ästhetik  so  stehen 


160  ^^^^^^^m        F.  Hetnan, 

bleibt,    wie    sie    lautet,    mag  Kaut    noch    sovi^^l  la-otestiereo;  man 
schenkt  ihm  keinen  Glauben.     Dc^nn  damit,  da-ss  Kant  grlaiiht,  be- 
weisen zu  können,  Raum  und  Zeit  komme  den  Dingen  absolut  und 
in    keiner    Weise    zu,    sondern    sei    nur    unsere    Anschaiiuujsrsfon» 
und    allein    dem    Subjekt    als    Bewusstseinsform    eifren,    hebt    er 
auch  offenbar  die   eiufiinsche  Realitiit  der  l)in*:?o  auf,  dir*  er  doch 
nicht   antasten   wollte,   sondern  immer  behauptet.     Mit  der  Häum- 
lichkeit    und    Zeitlichkeit    der    Dinge    schwindet    überhaupt    ma 
schlechthin    ihre    Wirklichkeit    und    Existenz,    und    die    von  Kaut 
immer    und    konstant    behauptete  „empirische  Realität''  der  IHn?»* 
wird  zum  inhaltlosi-n  Wort,  bei  dem  man  sich  nichts  denken  kann, 
denn  riatürlicher  und  vernünftiorer  Weise  besteht  ja  das  Kriterium 
der  empirischen  Reahtät  eines  Dinges  eben  darin,  dass  ihm  selbst 
und  nicht  mir  alleiu,  dem  bloss  erkennendeu  Subjekt,  die  Fähigkeit 
zakommt,  sich  in  Form  meiner  Räumlichkeit  und  Zeitlichkeit  geltend 
zu  machen.     Soll    ein  Ding    empirisch  real  sein,  dann  muss  es  in- 
soweit räumlich  und  zeitlich  sein,  dass  es  mein  Bewusstsein,  mein 
transscendentales  Ich  oder  Subjekt,  zur  Produktion  der  R^ium-  und 
Zeitauschauung  veranlassen  kann,  in  der  es  mir  erscheint.     Wenn 
mein  Subjekt  nicht  raumzeitlich  konstruiert  wäre,  könnte  ich  uiclit 
erkennen,   welchen  Kaum   und  welche  Zeit  die  empirischen  Dinge 
einnehmen.    Aber  weU  ich  raumzeitlich  konstruiert  bin,  folgt  noch 
nicht,  dass  Raum  und  Zeit  den  Dingen  selbst  absolut  und  in  keiner 
Weise  zukommen,  im  Gegenteil:  die  Ausstattung  des  Subjekts  mit 
den  Anschauungsfonnen   von  Raum    und  Zeit   liat  nur  Bedeutung, 
Sinn    und    Verstand,    wenn    diese    meine    Bew^usstseins-Konstruk- 
tion    mir    dazu    dienen  soll,  die  Räumlichkeit   und  Zeitlichkeit  der 
Dinge   selber   zu   erkennen.    Raum-    und    zeitlose  Dinge  räumlich 
und   zeitlich    anschauen    zu    müssen,    böte    keine   Erkenntnis    der 
Dinge,  sondern  pureu  Missverstaud  der  Dinge.     Unser  Erkenntnis- 
vermögen   wäre   höchst    unzweckmässig    und    sinnlos    konstruiert. 
Also  hätte  Kant  in  keiner  Weise  nötig  gehabt,  seine  Aufgabe  zu 
überschreiten  und  mehr  zu  beweisen  als   erforderlich  w^ar,  um  der 
Copernicus    der  Metaphysik   zu    sein.     Sind,    wie  Kant   immer  be- 
hauptet, die  Dinge   empirisch  real,  d.  h.  haben  sie  für  unsere  Er 
fahrung  Räumlichkeit  und  Zeitlichkeit,   so   würden   wir  diese  ihre 
empirische    Raumfülking   und    Zeitfiillung    gar   nicht  walirnehmen 
und    auffassen,    d.  h.  zu  einer  uns  bewussten,  von  uns  erkannten 
machen  können,  w^enn  nicht   unser  eignes  Bew^usstsein  und  unsre 
eigene  trausscendentale  Apperzeption  mit  den  Anschauungsforraen 


i 


I 


I 


J 


Immanuel  Kants  philosophisches  VermächtTib. 


167 


voo  Raum  uinl  Zeit    ausgestattet    wäre,   und    wenn    nicht    in    ims 
seihst  die  Gesetze  von  Raiini  und  Zeit  zu  entdecken  wären.    Dies 
^lar    und   deutlif*h    zu  lieweisen,  daran  hätte  sich  Kant  sollen  ge- 
Hßgen  lassen.     Statt  dessen  will  er  noch  darüher  hiiians  beweisen, 
Hkss,   weil   jene  Erkenntoisforinen    in    uns    liegen,    si«'  nicht  auch 
virtuelle    Wirklichkeit    in    den  Iviugen    hahen  kunîiten.     Weil    Co- 
pernicus behauptete,    die  Erdi*  bewege  sich  utii  die  Sonne,  hat  er 
^■ch    doch    nicht   fortreissen    lassen    zu    der  falschen  Behauptung, 
Hko  stände  das  ganze  Sternenheer,  Sonne,  Fixsterne  uinl  Planeten 
^dle,  ahsohit  still  und  seien  ohne  Bewegung.     Er  nu^inte  nicht,  die 
Erdbewegung    sei    die    einzige    Bewegung    und    erklärt-    jegliche 
Himmelshewegung,     Kant  aber  verfiel  in  die  Übertreibung,  zu  be- 
haupten, wril    unser  transsi*endentah'S  Snhjrkt  Tîanin-  und  Zeitan- 
schauung  produziert,    so    koniine    Raum    und    Zeit   nur  uns,  nicht 
auch  den  Dingen  zu.     Wie  unsere  Erde  sich  bew^egt,  abei*  zugleich 
^Ke  Planeteiu    die  Soinie    und    der   ganze  Fixstendiiminel  sich  be- 
"îregeu,    so    kounut    dem   erkennenden    Subjekt   Raum-  und  Zeitan- 
schaumig    zu,   aber    auch    den    erkannten  Dingen    in  ihrer  Weise, 
^Vie  aber  die  Planeten-,  Sonn-  und  Fixstern-Bewegungen  nicht  er- 
Kannt  werden  können  ohne  vorherige  Erkenntnis  der  Erdbewegung, 
so   können   auch   wir  die  Räumlichkeit  und  Zeitüchkeit  der  Dinge 
liicht  erkennen,  wenn  wir  nicht  zuvor  unsere  apriorische  Fälligkeit 
der  Raum-  und  Zeitanschanung  und    die    apriorischen  Gesetze  von 
Raum    und  Zeit,   die  in  [Uisneni  vernünftigen  Bewusstsein  liegen, 
erkannt  haben.     Das  und  nur  das  zu  erweisen,  w^ar  Kants  Aufgabe, 
wenn    er    beabsichtigte    zu    zeigen,    ^wie  viel  wir  a{iriori  von  der 
Beschaffenheit  der  Gegenstände  wissen  können"  und  wenn  er  das 
Prinzip,   „dass  die  Vernunft  nur  das  einsieht,  w*as  sie  seihst  nach 
ihrem  Entwurf    hervorliringt",    in    der   Metaphysik    zur    Geltung 
bringen  wollte.     Es    darf   aber   nicht   geleugnet  w^erden,  dass  die 
^^iuge  so  beschaffen    sind,  dass,   wenn  sie  unsere  Empfindung  er- 
Bkgen,  wir   veranlasst  und  genötigt  sind,  ihre  Raum-  und  Zeitvor- 
stellung  zu  produzieren. 

Reduziert  man  also  den  absokitan  und  excessiven  Phäno- 
metialismus  auf  den  relativen,  den  allein  Kant  hätte  zu  beweisen 
gehabt,  dann  bekommt  seine  Philosophie  die  gewünschte  Konse- 
quenz und  Zusammenstimmung,  dann  können  wir  ihm  glauben,  dass 
er  die  empirische  Realität  der  Dinge  nicht  leugne,  dass  sein 
Idealismus  nur  ein  formaler,  trau sscenden taler,  aber  nicht  wie  der 
Berkeleys  ein  psychologischer  und  materieller  sei;  dass  das  Ding 


F.  HemsTi^ 

au  sich  Ursache  uBsrer  Empfiiidimg  sei  uud  dass  der  lühalt,  der 
Kmpfiiidnngsstoff,  die  Materie  der  Euipfiiuluiig,  gegeben  und  vani 
Subjekt  rezipiert  werde.  Ihmn  gelten  seiue  Widerlegungen  des 
Idealismus  in  der  Vorrede  zur  zweiten  Auflage  und  in  der  syste- 
matischen Darstellung  allei-  Grundsätze  des  reiueu  VerstandesJ) 
Dann  giebt  es  eine  wahre,  oicht  bloss  scheinbare  empirische  Bea- 
lität  der  Dinge  und  dann  bedeutet  Kauts  transsrendeutaler  Idealis- 
mus nicht  inateriale,  sondern  nur  formale  Idealität  der  Dinge, 
weil  zwar  Dinge  ausser  mir  wirklich  da  sind,  aber,  um  sie  ausser 
mir  zu  erkennen,  ihre  Erkenntnisfornjeu  von  nur  produziert  werdeu 
müssen  uud  ohne  meine  apriorische  Erkenntuistornien  ich  niemals 
irgend  etwas  von  ihi^er  empirischen  Realität  wissen  und  niemals 
zu  ihrer  Vorstellung  gelangen  ktViinte.  Was  ich  also  von  den 
I>ingen  erkennen  und  wissen  kann,  ist  allenlings  nur  meine  Vor- 
stelluug^  aber  deswegen  sind  sie  doch  wirkliche  Dinge,  die^  abge-M 
sehen  von  meiner  Vorstellung  und  ausser  und  ohne  sie,  wirkliche 
Dinge  an  sich  sind,  _ 

Demnach  verhält  sich  die  Sache  so:  Alles  was  wir,  sei  esf 
sinnlich,  sei  es  begrifflich,  a  priori  von  den  Dingen  wissen,  stammt 
aus  uns  und  führt  uus  zur  Erkennttiis  ihrer  em(tirischen  Realität. 
Alles  aber,  was  wir  durch  Empfindung  a  posteriori  von  den  Dingen 
erfahren,  stammt  aus  den  Dingen  selbst  und  ist  Wirkung  der  Dinge, 
wie    sie    ausser  unserer  Vorstelhmg,  also  als  Dinge  an  sich,  sind. 

(liebt  es  aber  Dinge  an  sich,  Noumena,  nicht  bloss  Vor-_ 
st^ilungsbilder,  und  bin  ich  selbst  nicht  bloss  Sinnending,  nicht^ 
bloss  Vorstellung,  sondern  auch  Noumenon,  Vernuuftw^esen,  Ding 
an  sich,  dann  kann  auch  in  mir,  als  Vernunftwesen,  sich  der  nicht- 
sinnliche^  kategorische  Imperativ  geltend  machen;  uud  dann  wird 
auch  erklärlich»  wanim  ich  notwendiger  Weise  mir  die  Ideen,  Gott, 
Welt,  Freiheit,  Unsterblichkeit  u.  s.  w.  bilden  muss,  obgleich  ich 
weder   empirisch   noch    metaphysisch  ilire  Realität  erweisen  kann. 

Die  Concinnität  der  Kantischen  Philosophie  hängt  also  davon 
ab,  dass  die  Kritik  der  reiueu  Vernunft  gemäss  dem  iihrigeu 
System  ausgelegt,  und  demgeraäss  die  Extravaganz  des  absolute» 
Phänomenalisraus  auf  den  relativen  und  bloss  formalen  redu- 
ziert wk±  M 

Am  hundertjährigen  Todestag  Kant«  ist  also  die  Sachlage 
die:   entweder  fahren  wir  fort,  uns  nur  au  die  erste  Auflage  der 


^)  Bei  Kehrbach  S.31— S2;  208-^216. 


Immanuel  Kants  philosophisches  Verraichtnis, 


169 


Kritik  mit  ihrem  subjektiven  iiiiJ  cxcessiveü  Plmnomeualisnnis  zu 
halteo;  dann  musseri  wir  aber  1.  das  ganze  übrige  System  der 
Kaütisehen  Philosophie  verwerfen  und  2.  die  direktem  Nachfolger 
Kants  für  seine  legitimen  Fortsetzer  erklären  luid  3,  die  Kantische 
Philosophie  bleibt  steril,  d,  h,  wir  lassen  Kaut  bei  den  Toten  und 
entsagen  fürderhin  allen  Zitationen  seines  Gespenstes  —  oder 
aber  der  hundertjährige  Todestag  Kants  veranlasst  uns,  die  Philoso- 

Iphie  Kants  als  Ganzes,  als  zusanimenhängendes  System»  wieder  auf- 
zunehmen, indem  wir  die  erste  Auflage  der  Kritik  auf  sich  beruhen 
lassen  und  die  zweite  gemäss  dem  ganzen  System  und  der  Wider- 
lej^ung  des  hlealismus  interpretieren.  Dann  werden  sich  A nsgangs- 
punkte  finden  la,ssen  zur  Fottbilduug  der  Philosophie  auf  Grund  des 
ganzen  Systems.  Dann  dürfte  vielleieht  Kant  nicht  mehr  bloss  der 
Schulphilosoph  in  dem  Sinne  sein,  dass  jugendliehe  Geister  an  ihm 
ihren  Scharfsinn  iibcLi,  wie  Latt^iusehülej^  an  Julius  Caesar,  sondern 
dass  sich  eine  Schule  der  Kantischen  Philosophie  bildet.,  die  auf 
den  Pfaden  weitersehreitet ,  die  Kant  inauguriert  hat.  Dann  wird 
Kant  zu  neuem  Leben  erstehen. 

Daraufhin,  um  dies  zu  ermöglichen,  hat  auch  Kant  unemiüd- 
lich  an  der  Ausbildung  und  Fertigstellung  seines  Systems  bis  in 
die  allerletate  Lebenszeit  gearbeitet.  Und  gerade  seine  als  Manu- 
skript hinterlasseuen  Schriften  zeigen  deutlich,  nach  welcher  Rieh- 
^teng  hin  er  sein  System  ausgebaut  wissen  wollte,  im  Gegensatz  zu 
den  Systeuïeu,  die  das  Seine  für  veraltet  erklärten  und  sich  an 
seine  Stelle  setzten. 

Es  ist  eine  Ehrenpflicht  der  Dankbarkeit  geg<Hi  Kant,  der 
seiner  Zeit  die  Deut>schen  an  die  Spitze  der  Philosophierenden  ge- 
stellt hat,  dass  wir  dieser  letzten,  abschliessenden  Arbeit  Kaut«  die 
gebührende  Beachtung  schenken,  die  sie  verdient.  Was  der  grosse 
Philosoph  der  Deutschen  geschrieben  hat,  darf  nichts  wie  bisher 
geschah,  ignoriert  werden,  weil  es  foraiell  die  Spuren  des  Alters 
an  sich  trägt.  Denn,  was  er  da  produziert  hat,  bildet  den  ab- 
schliessenden Teil  seines  ganzen  Systems,  (Tehcn  wir  daher  formell 
und  materiell  auf  Kants  philosophisches  Vermächtnis  an  die  Nach- 
welt ein.i) 


*)  Nachdem  der   nachfolgende  Abschnitt  bereit-s  seit  Monaten  fertig: 
leben   und   der  Hedaktion    der  Kimt^itudien    zur  Verfügung   g^estelh 
habe  ich  erst  Bekanntschaft  mit  dem  Werke  A îb recht  Krauses  |^e- 
macht:  ,Die  letzten  Gedanken  Immanuel  Kants,  Aus  Kant^  hinterlassenem 
kosknpt^  Hamburg,  1902*'.     Es    freut    mich,   dass   wir  teilweise  zu  den- 


170 


F*  Hemaîi, 


III. 
Die  letzten  Manuskripte  Kants. 

Im  Jahre  1797  beschloss  Kant  seine  schriftstellerische  Tbäti( 
keit  mit  der  AbhaiuHiiti^^  ,,Voii  der  Macht  ties  Gemütes  durch  den 
blossen  Voi^atz  seiiit^r  kraiikliaftpn  (4efîihle  Meistt^r  zu  sein**  (zu- 
erst veröffentlicht  in  Huf  lands  Joiu-nal  für  praktische  Heilkunde, 
Bd.  V,  1797,  dann  wieder  abgedruckt  1798  iu  der  Schrift:  Der 
Streit  der  Fakultäten).  Es  macht  einen  ebenso  rührenden,  me 
peinlichen  t^iudruck,  wenn  hier  Kant  zum  „Beschluss"  der  \h- 
handhing:  seineu  eigenen  geistigen  tiesundlieits-  oder  Krankheits- 
stand mit  klarer  Urteilskraft  und  mit  vollem  Bewnsstseiu  seiuer 
sinkenden  Kräfte  also  beschreibt:  „Vie  krankhafte  Beschaffenheit 
des  Patienten,  die  das  Denken,  sofern  es  ein  Festhalten  eines 
Begriffes  (der  Einheit  des  Bewusstseins  verbundener  Vorstellungen) 
ist,  begleitet  und  erschwert,  bringt  das  (iefühl  eines  spastischen 
Zustandes  des  Organs  des  Denkens  (des  Gehirns)  als  eines  Druckes 
hervor,  der  zwar  das  Denken  und  Nachdenken  selbst,  ingleichea 
das  Gedächtnis  in  Ansehung  des  ehedem  Gedachten  eigentlich 
nicht  schwächt,  aber  im  Vortrage  (dem  mündlichen  oder  schrift^ 
liehen)  das  feste  Zusammenhalten  der  Vorstellungen  in  ihrer  Zeit- 
folge wider  Zei'strenung  s]<*hern  soll,  bewirkt  selbst  einen  unwill- 
kürlichen spastischen  Zustand  des  Geliirns,  als  ein  ünverniögeß, 
bei  dem  Wechsel  der  aufeiiumder  folgenden  Vorstellungen,  die 
Einheit  des  Bewusstseins  derselben  zu  erhalten.  Daher  be^epet 
es  mir,  dass,  wenn  ich,  wie  es  in  jeder  Rede  jederzeit  geschieht, 
zuerst  zu  dem,  was  ich  sagen  will  (den  Hörer  oder  Leser),  vorbe- 
reite, ihm  den  Gegenstand,  wohin  ich  gehen  will,  in  der  Aussicht, 
dann  ihn  auch  auf  das,  wovon  ich  ausgegangen  bin,  zurückge- 
wieseji  habe  (ohne  welche  zwei  Hinweisungen  kein  Zusammenhang 
der  Rede  stattfindet)  und  ich  nun  das  Tietztere  mit  dem  Ersterea 
verknüpfen  soll,  ich  auf  einmal  meinen  Zuhörer  {oder  stillschwei- 
gend mich  selbst)  fragen  muss:  wo  war  ich  doch?  wovon  ging  ich 
aus?  welcher  Fehler  nicht  sowohl  ein  Fehler  des  Geistes,  auch 
nicht  des  Gedächtnisses  allein,  sondern  der  Geistesgegenwart 
(im  Verknüpfen),  d.  h.  unwillkürliche  Zerstreuung  und  ein  sehr 

selben  Resultaten  über  die  Bedeutung  der  Kantiscben  Schrift  gekomifien 
siadj  und  ich  empfehle  das  Buch  von  Krause  teilweise  als  gute  Ergänz ang     , 
meiner  Arbeit^  teilweise  als  brauchbaren  Kommentar  zu  Kants  Gedanken. 
Nur  sind  Krauses  eigene  Spekulationen,   die    er    dazwischen    mischt,  wohl 
aiiszuscheiden. 


Immanuel  Kants  j»iTilosf>phisches  Vermächtnis. 


171 


igeuder  Fehler  ist;  dem  man  zwar  in  Rdiriftc^ii  (zumal  »Irii 
)hilosophischèu»  weil  mau  du  nicht  imtiMT  so  leicht  ziiriiekseheii 
Eaim,  wovon  mau  ausging)  mühsam  vorbougeu,  obzwar  mit  aller 
Ifihe  nie  vöUiier  verhüten  kann."*  Bei  einem  Srhriftsteller,  wie 
fant^  der  selbst  in  seinen  besten  Jahren,  nur  in  mächtigen  Feri- 
Kleu  zu  schreiben  gewohut  war,  und  da  schon  nicht  immer  den 
i'aden  der  üedankeu-  uinl  Satzfolge  konsequent  festzuhalten  ver- 
öocht-e,  musste  dieser  „peinigende  Kehh^r"  mit  dem  Alter  je  länger, 

ËJ  mehr  zunehmen,  und  der  erst**  wenigstens  von  jenen  beiden 
en,  in  denen  Kant  sein  Leiden  beklagt,  ist  selbst  ein  deut- 
r  Beweis  der  nicht  mehr  zu  verhütenden  Schwäche.  Das 
Aller  brachte  ihm  jedoch  nicht  jenen  marasmus  senilis,  der  in 
fcinmpfer  vegetierender  Gedankenlosigkeit  besteht  Die  Einleitung 
kur  obgenanuten  Abhandlung  zeigt,  dass  er  auch  noch  in  geist- 
reichen Wendungen  seine  (Tedanken  ausdrücken  konnte,  und  die 
ilini  in  besondei'em  Masse  eigene  Vorüebe  für  präcises  Definieren, 
pistinguieren  und  Systematisieren,  was  den  eigentlichen  Schul- 
ßhilosopheu  charakterisiert,  blieb  ilnn  bis  zum  Ende  ungeschmälert. 
^*iir  die  konsequente  Durchführung  des  Zusammenhanges  seiner 
(btedanken^  was  ihn  Zeitlehens  Mühe  gekostet  hatte,  litt  Schadet», 
BO  dass  er  sie  nur  ./mühsam*'  und  notdürftig,  schliesslich  gar  nicht 
IBiehr  zustande  brachte.  Ausser  einer  ganz  kurzen  „Vorrede"  und 
leiner  ebenso  kurzen  „Xaehschrift**  zur  Etnpfehhing  zweier  fremder 
fechriften  bat  darum  Kant  nichts  mehr  veröffentlicht  nach  1797. 
ßleichw^ohl  blieb  ihm  das  Bedürfnis,  sehie  Gedanken  schriftlich  zu 
fixieren.  Denn  Kaut  ging  es  mit  der  Philosophie  nicht  etwa  wie 
^nem  Industriellen,  der  sich  vom  Geschäft  zurückzieht,  um  dann 
«uch  in  seinem  inneren  Leben  gar  nichts  mehr  damit  zu  thun  zu 
àaben*  Philosophieren  w-ar  das  Leben  seines  Geistes,  wie  er  in 
fiben  jener  Abhandlung  es  aussprach,  dass  „das  Philosophieren  die 
ïiebenskraft  nicht  stocken  lässt**,  selbst  wenn  es  um*  als  Spiel 
Äes  Gemütes,  w^elches  in  seine  Beschäftigung  Interesse  bringt,  be- 
trieben wird.  „Dagegen  Philosophie,  die  ihr  Interesse  am 
Ganzen  des  Endzwecks  der  Vernunft  hat,  ein  Gefühl  der  Kraft 
bei  sich  führt,  welches  die  körperlichen  Schwächen  des  Alters  in 
gewissem  Masse  durch  vernünftige  Schätzung  des  Wertes  des 
ILebeos  wohl  vergüten  kanu*\  Er  konnte  aus  Erfahrung  davon 
teden,  dass  echte,  reine,  w^ahre  Philosophie  auch  eine  mächtige 
CODSolatio  senectutis  ist. 


172 


F.  Heman, 


r 


Diese  Aufzeichuiiiïg-i.^ii  aus  Kants  letzt<3U  Lebensjahren,  die 
nur  für  sich  selbst  iiiaelite,  belaufen  sich  auf  etwa  l(Mi  Foliobogeti. 
welche  alle,  ausser  ein  paar  Bogen,  von  Kants  Hand  selbst  ge- 
schrieben sind.  Sie  verteilen  sich  anscheinend  in  12  Convolute, 
(1.  h.  je  eine  Anzahl  Bogen  sind  in  einem  besonderen  Umschkg 
zusammengefasst.  Einige  dieser  Convolute,  w4e  z,  B,  das  10., 
IL  und  12.  gehören  nach  Inhalt  und  Bezeichnung  zusammen. 
Fast  alle  sind  von  Rudolf  Reicke  als  Manuskript  herausgegeben 
worden,  iudem  er  sie  in  der  Altpreussischeu  Monatsschrift,  Band 
XIX— XXI,  1HH2— 1884,  zum  Abdruck  brachte  unter  dem  Titel: 
Ein  uugedrucktes  Werk  von  Kant  aus  seinen  letzteü 
Lebensjahren,*)  Zwanzig  Jahre  früher  hatte  Reicke  schon  in 
der  AUpreuss.  Monatsschrift  eine  ^Xa<-*hricht  von  Kants  nach^ 
lassener  Handschrift"  veröffentlicht,  und  dieser  Titel  wäre  zutref- 
fender, als  der  ^ein  ungedrnektes  Werk"",  denn  ein  eigentliches 
„Werk**,  worunter  man  doch  gewöhnhch  ein  in  sich  zusammen- 
häügendes  und  abgeschlossenes  Ganzes  versteht»  ist  die  Handschrift 
durchaus  nicht;  es  sind  nur  Materialien  und  zwar  nicht  bloss  zu 
einem,  soudern,  wie  sich  zeigen  wrird,  zu  zwei  ganz  verschiedenen 
Werken,  Reicke  wurde  wohl  veranlasst,  von  einem  nachgelassenen 
Werk  zu  reden,  w^eil  ihm  eine  „Anzeige,  den  Nachlass  des  sei 
Kaut  betreffend**  vorlag,  in  welcher  es  hiess:  „Der  Tit€l  des 
Werkes»  zu  welchem  sie  nur  Materiaüen  enthalten,  sollte  seio: 
Übergang  von  den  metaph.  An  f.  ihr.  d.  N.  \\.  zur  Physik**.  Aber 
in  dieser  Anzeige  war  übersehen,  dass  das  erste  Convolut,  w^elches 
der  Abfassung  nach  das  letzte  ist,  in  höchst  ermüdender  Weise 
mehr  als  60  mal,  wie  Reicke  nachher  selbst  berichtet,  versucht, 
noch  einen  anderen  Titel  aufzustellen  für  ein  ^System  der  reinen 
Philosophie  in  ihrem  ganzen  Inhegriffr*^,  wie  schon  1804  Hasse 
in  seinen  ,,Merk\vüi'dige  Äusserungen  Kants  (Königsberg)*'  erzählt 
Von  eint^ni  opus  postunuim  kann  also  nur  insofern  geredet  werdeü, 
als  mau  die  ca,  1(K)  oranzc  und  halbe  Bogen  im  allgemeinsten  Sinn 
ein  Opus  nennen  kann. 

Betrachten  wir  nun  Reickes  Veröffentlichung,  so  ist  sie  höchst 
verdienstlich,    w^eit    sie    mit    ganz    ausserordentlicher  Sorgfalt  und 


1)  Von  diesem  Abdruck  in  den  emxelnen  Heften  der  Âltprems. 
Monatsschrift  sind  hucIi  Sepsirat^ibzöge  gemacht  worden,  die  zusammen 
einen  Ktattlichen  Oktavband  bilden.  Durch  die  dankenswerte  Güte  des 
Herrn  Prof  Dr.  H.  Vaihin^er  in  Halle  a.  S.  stand  mir  dessen  Exemplftf 
von  zusammengebundenen  Separat«bzûgen  zur  Verfügung, 


Immanuel  Kants  philosophisclies  Vermächtnis, 


173 


Zuverlässigkeit  veranstaltet  ist,  soweit  sicli  Jas  aus  der  Ver- 
üffentlichung  selbst  ohne  Einsicht  nahm  e  der  Manuskiipte  beurteilen 
lässt.  Wir  dürfen  annt^hnieti,  dass  das  von  Reicke  nicht  zum 
Druck  gebrachte  (die  (-ouvolute  4,  6,  8)  nichts  enthäU,  w^is  nicht 
schon  im  (Gedruckten  sich  findet  Doch  wird  es  innnerhin  wiltisch- 
bar  sein,  dass  die  neue  Gesamtausgabe  aller  Kautischen  Werke 
auch  einen  vollständigen  Abdruck  dieser  zurückgelassenen  Manu- 
skripte bringe.  Die  Veröffentüchung  geschah  uicht  in  der  zufäl- 
ligen Reihenfolge,  wie  die  Convolute  aufeinander  lagen,  und  auch 
nicht  innerhalb  eines  jeden  Convolutes  nach  der  Reüu^nfolge  der 
Blätter,  denn  Reicke  ging  darauf  aus,  dass  den)  Inhalte  nach  Zu- 
sammengehörige auch  zusammen  zu  ordnen. 

Wann  die  einzelnen  Bogen  und  Convolute  von  Bogen  abge- 
fasst  und  aufgezeichnet  wurden»  lässt  sich  nicht  durchweg  mit 
Sicherheit  angehen.  Die  bedruckten  Papiere  und  Zeitungen,  die 
als  Con volut Umschläge  benutzt  sind,  tragen  die  Jahreszahlf^n  1799, 
1801  und  180B.  Nur  ein  einziges  Convolut  giebt  an  drei  Orten 
genaue  Daten  an,  wann  Kant  daran  gearbeitet  hat.  Nämlich  das 
erste  Convolut  ist  in  einem  Umschlag  gehüllt,  auf  dessen  erster 
Seite  unten  links  Kant  notiert:  „Im  HOsichsechsten  Jahr 
meines  Alters".  „Nach  dem  die  70  sechsicher  und  auch  die  70 
siebscher  verlaufen*".  Demgemäss  hat  er  noch  iju  letzten  Lebens- 
jahr an  den  Bogen  dieses  Couvoluts  geschrieben.  Sodann  auf  der 
dritten  Seite  des  10.  Bogens  dieses  Convoluts  findet  sich  unten 
die  Bemerkung:  „den  22,  April  trat  in  mein  79.  Jahr.  Mein  Ge- 
burtsjahr ist  1724,  den  22,  April".  Der  10.  Bogen  ist  also  im 
Jahre  1802  geschrieben  worden,  während  die  Notiz  auf  dem  Um- 
schlag aus  dem  Jahre  1803,  dem  letzten  Lebensjahre  Kants 
stammt.  Wir  wissen  also  ganz  genau,  womit  Kants  Geist  sich 
bis  zuletzt  beschäftigt  hat.  Eine  weitere  Notiz  findet  sich  noch 
auf  Bogen  U  Seite  4  (hei  Reicke  S,  417),  wo  Kant  einen  am 
Donneretag,  den  3.  Juni  abgeschickten  Brief  notiert.  Aus  diesem 
Datum  ergiebt  sich  gleichfalls  das  Jahr  1802.  Auch  inhaltlich 
zeigen  die  Bogen  dieses  (îoiwolutes  die  traurigsten  Spuren,  dass 
Kant  damals  an  der  Grenze  seiner  Kraft  und  seines  liebens  an- 
gelangt war. 

Trotzdem  ist  dieses  Convolut  für  uns  gerade  das  allerwich- 
tigste.  Es  enthält  allerdings  in  höchst  fragmentarischer  und  unge- 
i  nügender  Form  Gedanken,  die  in  einem  andern  Werk  zum  Aus- 
druck kommen  sollten»    als  das  in  den  übrigen  Convolnteu  Aufge- 


F.  He  m  an. 


zeichnete;  ja  vielfach  müheü  sie  sich  nur  damit  ab,  den  rech 
Titel  für  das  neue  Werk  zu  finden  und  zu  fixiereu.  Es  soll  eine 
TrausscendeTitalphilosoi>hi<>  werden  und.  wie  Roicke  narli- 
gezählt  hat,  niüht  sich  Kant  miodestt*ns  eiiihuudertfüutzig  mat 
damit  ab,  eine  Definition  dieser  Wissenschaft  zu  ^ebeii  und  ihreo 
Gegenstand  zu  bestimmen. 

Nicht  bloss  weil  diese  Bogen  die  letzten  sind,  die  Kaut 
schrieben  hat,  sondern  weil  sie  etwas  ganz  Anderes  enthalten  als 
alle  übrigen,  hätte  dieses  ('onvolut  ganz  zuletzt  zum  Abdruck 
konimen  sollen.  Statt  dessen  bescliliosst  Reicke  seinen  Abdruck 
(iiit  dem  siebenten  ('ouvolut.  Wahrsclieiulich  that  er  das,  weil 
dieses  Convolut  die  Bezeichnung  „Beilagen''  trägt  und  verschiedenf 
Bettierkungen  über  Gegenstände  aus  der  Naturwissenschaft  und 
aus  der  Transsceiidontalphilosophie  enthält.  Allein  die  Aufschrift 
^7.  Convolut  Beilagen"  rührt  nicht  von  Kant  selbst  her,  und  weim 
Reicke  ferner  bemerkt,  dass  dies  Convolut  kaum  früher  als  äos 
den  Jahren  1799  und  IHOO  geschriebeîï  sein  dürfte,  so  fügen  wir 
hiir/;u,  dass  es  wohl  auch  nicht  später  und  gewiss  nicht  nach  de^ 
ersten  Convolut  gesclirieben  ist,  weil,  wie  Reicke  selbst  augieb^H 
die  Niederschrift  der  einzelneu  Bogen  viel  weniger  Schwierigkeit 
bietet,  als  das  ei^te  Convolut,  das  aus  den  beiden  letzten  Lebens- 
jahren Kants  herrührt.  Obwohl  es  also  auch  Bemerkungen  über 
(legeustände  aus  der  TransscendentalphUosophie  enthält»  so  bilden 
diese  doch  keine  „Beilagen''  zum  ei^teu  Couvolut,  sondern  siüd 
für  Vorläufer  desselben  zu  halten.  Während  nämlich  sich  Kâul 
noch  mit  der  Abfassung  der  Physik  beschäftigte,  diiingten  sicli 
ihm  schon  Gedanken  auf,  die  Um  bald  veranlassten,  die  Physik 
ganz  liegen  zu  lassen  und  sich  mit  der  Idee  einer  Transscendeutal* 
philosophie  zu  tragen.  Dies  kommt  im  Gemisch  des  7.  ('onvulats 
zimi  Ausdruck,  in  welchem  die  Bogen  I— IV  vom  Ding  an  sieb 
und  der  Möglichkeit  von  s^Tithetischen  Sätzen  apriori  handeln,  die 
Bogen  V — \^II  aber  ausschliesslich  niu*  von  der  Transscendentali 
philosophie  und  ihren  Objekten. 

Weil  also  das  erste  Convolut  von  Reicke  erst  gegen  im 
Schluss  hin  und  doch  noch  zwischen  den  übrigen  veröffentlicht 
wurde,  so  ist  dies  w^ohl  mit  ein  Grund  gewesen,  warum  gerade 
dieses  allerletzte  unter  Kants  Erzeugnissen  keine  besondere  Be- 
achtung gefunden  und  man  immer  nur  ^)  von  Kants  uaturwissen- 

1)  Ick  werde  nachträglich  vom  Herausgeber  der  Kanststudien  darauf 
aufmerksam  gemacht,   daes   er  selbst  schon   erkannt  hat,   dass  es  sich  um 


Immanuel  Kants  philosophisches  Vermächtnis.  175 

chaftlichem  opus  postumum  bisher  geredet  hat.  Dazu  kommt, 
lass  der  Herausgeber  die  besondere  Bedeutung  des  Inhalts  dieses 
îonvoluts  nicht  erkannt  hat,  vielmehr  nur  beklagt,  dass  bei 
ceineni  der  Convolute  man  so  sehr  an  den  altersschwachen  Kant 
remahnt  werde,  wie  bei  diesem;  keines  gewähre  einen  so  traurigen 
^blick,  wie  dieses,  schon  äusserlich,  denn  nirgendwo  sonst  sei  so 
riel  ausgestrichen,  über-  und  zwischengeschrieben,  und  mit  so 
deiner,  bisweilen  unleserlicher  Schrift,  so  dass  das  Ganze  bunt- 
scheckig aussehe  und  das  Auge  beim  Lesen  ermüde.  Ebenso  er- 
mädend  wirke  auch  der  Inhalt,  u.  s.  w.,  u.  s.  w.  Die  einzige 
Elrholung  in  diesem  Einerlei  gewährten  noch  die  hie  und  da  ein- 
gestreuten Allotria,  allerlei  zufällige  Gedanken  über  die  verschie- 
denen Gegenstände,  wie  sie  ihm  bei  seiner  Lektüre  und  bei  seinen 
Gesprächen  mit  seinen  Tischgenossen  aufgestossen  seien,  wirt- 
schaftliche Notizen  und  allerhand  Sachen,  die  nicht  vergessen 
werden  sollten.  Der  Leser  wird  also  geradezu  von  der  Lektüre 
dieses  Couvolutes  abgeschreckt,  als  ob  eigentlich  gar  nichts  be- 
deutendes darin  stehe  und  nichts,  was  die  Mühe  des  Lesens  lohne 
und  uns  einen  neuen,  unerwarteten  Einblick  in  Kants  Denken 
biete.  Der  Inhalt  ist  aber  von  besonderem  Interesse,  weil  er  so 
anders  ist,  als  der  der  übrigen  Convolute,  und  weil  Kant  uns  hier 
zeigt,  wie  er  diesen  neuen  Gegenstand,  die  Transsceudentalphilo- 
sophie,  in  einer  eigenartigen,  originellen  und  genau  aus  seinem 
System  hervorwachsenden  Weise  aufgefasst  hat.  Es  ist  zu  ver- 
wundem, dass  es  überhaupt  noch  dem  altersschwachen  Greis  ge- 
langen ist,  wenn  auch  nur  mühsam  und  schwerfällig,  eine  seinem 
eigenen  früheren  Denken  entsprechende  und  mit  den 
Grundgedanken  seines  Systems  übereinstimmende  Idee 
einer  Transscendentalphilosophie  zu  erzeugen.  Nicht  zu 
verwundern  ist  aber,  dass  auch  nur  diese  Idee  zu  produzieren  den 
abgearbeiteten  Denker  die  allergiösste  Anstrengung  kostete;  hatte 


zwei  ganz  verschiedene  Werke  handelt;  es  geschah  dies  in  der  Anzeige 
der  Kranse'schen  Ausgabe  des  „Nachgelassenen  Werkes^'  (1888)  im  Archiv 
für  Geschichte  der  Philosophie,  Band  IV  (1891),  S.  731—736.  Es  heisst  da- 
selbst auch  ausdrücklich:  „Das  aUgemeine  transscendentalphilosophische 
Werk  ist  viel  interessanter,  als  jenes  spezielle  naturwissenschaftliche,  auf 
welches  man  bis  jetzt  aUein  die  Aufmerksamkeit  gerichtet  hat."  Da  ich 
unabhängig  von  Yaihinger  zu  derselben  Anschauung  gelangt  bin,  freue  ich 
mich  umsomehr  über  die  Übereinstimmung  mit  demselben  in  diesem 
Punkte. 


176 


F,  HeiTiÄn, 


or  doch  schon  1798 1)  den  „Tantalischen  Schmert-z'*  beklagt,,  deu 
es  ihni  bereite,  „den  völligen  Abschluss  seiner  Rec.huiing  in  Sachei 
welche  das  Ganze  der  Philosophie  betreffen,  vor  sich  liegen  utii 
es  noch  itniuer  nicht  vollendet  zu  sehen".  Dieser  Ausspruch  be* 
zieht  sich  auf  die  übrigen  Convolute,  deren  Inhalt  der  „tîbergang 
von  den  metaph.  Auf  ür.  d.  N.  W.  zur  Physik"  bildet.  Wie 
gi'oss  nun  aber  dieser  tan  talis  che  Schmerz  gewesen  bei  Abfas- 
sung des  letzten  Convolutes,  davon  geben  die  mehr  als  60  Titel- 
versuche  und  mindestens  150  Definitionsversuche  unzweideutige 
Kunde,  Wir  ehren  das  Andenken  Kants,  wenn  wir  diese  seiii«^ 
letzte  mit  so  qualvoller  Anstrengung  erzeugte  Idee  in  ihrer 
ganzen  Grosse    und  Bedeutung   uns   vor  Augen  zu  stellen  suchen* 

Zuvor  sei   aber   noch    ein  Wort    über  die  VeranJassung  und 
das  Motiv  gesagt,  die  Kant  bestimmten,    seine    anfängliche  Arbeit 
über    die  Physik    abzubrechen    und    sich   die  neue  Aufgabe  vorzu-    - 
setzen,  eine  Trausscendentalphilosophie  zu  ersinnen.  ^Ê 

Unter  Kants  Sclmfteu    kann  man  nämlich  zwei  Arten  unter-^ 
scheiden,  solche,  die  gleichsam  spontan  ohne  direkten  Anstoss  vou 
aussen    entstanden    sind,    und  solche,    zu  deren  Erzeugung  irgend 
ein  Ereignis  oder  eine  Erscheinung  seiner  Zeit  Veranlassnnjs^  gal>, 
Es    war    kein    Tagesereignis»  das    im    Jahre  1781    die  Kritik   der 
reinen  Vernunft  zu  Tage  brachte;   daher   fiel  sie  wie  eine  Bombe 
in    das  Lager   der   zeitgenössischen  Popnlarphilosophie.     Dagegen 
seine    Schrift    „Von    den  Ursachen  der  Erderschütterungen"  1756 
entstand,  wie  der  Titel  schon  bemerkt,    ,,bei  Gelegenheit    des  Un- 
glücks»   welches    die    westlichen   Länder   von    Europa    gegen   di 
Ende    des    vorigen  Jahres    betroffen    hat".     Zu    den   spontan  eut 
standenen    gehören    offenbar  seine  grossen  philosophischen  Haupt- 
werke,   die  ieweilen  dann  eî'st  ans  Lieht  traten,    wenn  sein  Nach- 
denken iil»er  die   betreffenden  Probleme,    die  er  selbst  und  nur  er 
sich  gestellt  hatte,  zu  einem  seinen  Geist  und  seine  Gesinnung  be- 
friedigenden   Abschluss    gelangt    war.      Nachdem    aber    die    di'ei 
grossonKi'itiken  mit  den  dazu  gehörigen  kleineren  Schriften  erschienen 
waren,  und  so  die  iuneie  Arbeit  eigentlich  abgeschlossen,  und  da- 
mit  auch    der    innere,    spontane  Trieb  zur  Arbeit  mehr  und  mehr 
zur  Ruhe  gekommen  war,  so  Hess  Kant,  je  länger,  desto  mehr,  sicli 
durch  Erscheinungen    des  Tages   und    der  Zeit   veranlassen,  über 


56 


J)  Siehe   bei  Reicke,    Altpreuss.  Monatshefte  XX,  1883,  S.  342 
einem  Brief  Hanta  au  Garve. 


Immanuel  Kants  pliilosophisclies  Vennäcbtnis. 


177 


weitere  Probleme  seiner  Wissenschaft  üachzudenken  und  sicli  da- 
riiber  zu  äussern  oder  wenigstens  seine  Gedanken  darüber  schrifl- 
ich  zu  filieren. 

1790  erschien  die  Kritik  der  Urteilskraft,  das  letzte  der 
systematisch  aufgebauten  Werke,  in  welchem  er  das  letzte  der 
drei  Probleme,  die  er  sich  selbst  zur  Begründung  einer  neuen 
Philosophie  gestellt  hatte,  zu  lösen  unternahm:  wie  sind  ästhe- 
tische UHeile  a  priori  möglich?  Damit  war  die  kidtische  Philo- 
sophie vollkommen  begi^ündet  und  in  ihren  Prinzipien  und  Konse- 
quenzen hinreicheud  dargelegt  Sich  über  weitere,  einzelne  Punkte 
seiner  Denkart  auszusprechen,  blieb  uun  gleichsam  dem  Zufall, 
d,  h.  den  Umständen  und  der  Gelegenheit  überlassen.  Und  der 
rege  Geist  Kants  benutzte  jede  Veranlassung;  jede  neue  Erschei- 
nung auf  dem  Gehiete  der  Philosophie  regte  ihn  an,  die  betroffeu- 
deo  Gegenstände  in  seiner  Weise  zu  überdenken,  1791  erschien 
Fi  cht  es  Versuch  einer  Kritik  aller  Offenbarung;  dies  veranlasste 
Kant  im  folgenden  Jahre  1792  die  erste  Abhandlung  seiner  „Re- 
ligiou  innerhalb  der  Grenzen    der  blossen  Vernunft"  erscheinen  zu 

■blassen.      1796    folgte   Fichtes    Grundlage    des   Naturrechts;    ihr 

Fstellte  1797  Kant  seiue  „Metaphysischen  Anfangsgründe  der 
Rechtslehre''  gegenüber.  So  sind  auch  die  100  Bogen  des  Nach- 
lasses auf  Veranlassung  von  Schriften  verfasst,  welche  gerade  da- 

'     mais  in  philosophischen  Kreisen  Aufsehen  erregten. 

Neben  Fichte  war  es  nämlich  Sehe  Hing,  dessen  Schrifteu 
Kant  veranlassten,  zu  den  neu  aufgeworfenen  Problemen  Stellung 
zu  nehmen.     1797  führte  sich  Schelliug  als  selbständigen  Denker, 

'  der  auf  ein  eigenes  System  lossteore,  bei  der  philosophischen  Welt 
durch  die  Scbrift:  „Ideen  einer  Philosophie  der  Natur"  ein.  Dies 
war  der  Grund,  dass  nun  Kant  seine  11  Jahre  früher  (1786)  er- 
schienenen ^Metaphysischen  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft** 

,  hervorholte  und  sich  daran  machte,  daraus  eine  spekulative  „Phy- 
sik" abzuleiten,  d.  h.  die  dort  aufgestellten  apriorischen  Grund- 
sätze  auf   die  Physik    zur  Erklärung  der  Natur  anzuwenden.     So 

I     entstanden  die  Foliobogen   der  l'On volute  2 — 12;    keiner  dei'selben 

I  ist  vor  1798  niedergeschrieben;  die  meisten  in  den  Jahren  1798 
—99.  Im  12.  Convolut  findet  sich  die  Einleitung,  von  der  drei 
Bogen  soweit  gediehen  waren,  dass  Kant  eine  Abschrift,  konnte 
anfertigen  lassen,  mit  der  Reicke  seine  Veröffentlichung  beginnt. 
Diese  Einleitung  trägt  den  Titel:  „Von  dem  auf  Prinzipien  a  priori 
gegründeten    Übergänge    von    den    metaphysischen    Anf   Gr,    der 


17B 


F.  Heman, 


Naturwissenschaft  überhaupt  zur  Physik".  Es  liegt  am  Tage, 
das8  für  Kaut  keio  anderer  Griiüd  vorlag,  sicli  von  der  praktischen 
und  Religionsphilosopiiie  wieder  der  Naturphilosophie  zuzuweudeD, 
al8  weil  er  von  seinen  eigenen  Prinzipien  aus  ein  Gegen- 
stück zn  Schellings  „Ideen"  liefern  weilte.  Er  empfand  das  Be- 
dürfnis, sich  darüber  klar  zu  werden,  wie  von  seinem  eigenen 
Standpunkt  aus  eine  Naturphilosophie  sich  gestalten  ^iirde.  Und 
in  diesem  Streben,  eine  Natui-phUosophie  zu  produzieren,  wnirde 
er  noch  mehr  bestärkt,  als  8chelling  1799  seinen  ^Ersten  Ent- 
wurf  eines  Systems  der  Naturphilosophie"  herausgab. 

Aber  der  allzeit  lange  überlegende»  wohlbedächtige  und  bereits 
bedenklich  altersschwache  Kant  konnte  seinetu  jugendlich  eilfertigen» 
in  neuen  Produktionen  sich  wahrhaft  überstürzeuden  Genossen 
Scbelling  niclit  nachkommen.  Schon  im  Jahre  1800  überraschte 
Schelling  die  Welt  mit  seinem  „System  des  transscendeutaleD 
Idealismus*.  Im  selben  Jahre  schrieb  Kant  au  den  Bogen,  die  im 
7,  Convolut  zusammengelegt  siud;  darum  miscbeu  sich  hier  bereits 
Gedanken  zu  einer  Trausscendeutalphilosophie  ein.  Und  die  Lek- 
türe der  Schellingschen  Schrift  packte  ihn  so,  dass  er  nun  die  Physik 
ganz  nnd  gar  liegen  liess  und  sich  iuuerlich  gedrängt  fühlte,  von 
seinen  Prinzipien  aus  dasselbe  Problem,  wie  Scbelling,  zu  bearbeiten. 
So  entstanden  die  letzten  Oedankenproduktionen  Kants,  die  er  nur 
noch  mit  allergt^össter  geistiger  und  physischer  Anstrengung  zu 
Papier  bringen  konnte.  Die  so,  man  möchte  sagen,  zusanmieuge- 
kritzelten  Bogen  (es  sind  10  ganze  und  2  halbe),  entstanden  .in 
den  Jahren  1801  —  1803.  Hasse  in  seinen  „merkwürdigen 
Äusserungen  Kants''  (Königsberg  1804)  berichtet  darübei*  (siehe — 
Heicke  a.  a,  0.  XXI,  S.  309),  dass  das  Werk  den  Titel  hätte  er-^ 
halten  sollen:  System  der  reinen  Philosophie,  und  in  den 
Bogen  selbst  kommt  ja  der  notierte  Titel  an  mehreren  Stelleu  an- 
nähernd so  vor.  t3lerade  dieser  Titel  aber  beweist,  dass  das  ge- 
plante Werk  ein  Gegenstück  zu  Schellings  System  des  trans- 
scendentalen  Idealismus  hatte  w^erden  sollen.  Der  letzte  Zweifel 
aber  wird  dadurch  gehoben»  dass  Kaut  selber  zweimal  (bei  Keicke 
a.a.O.  XXI,  S.  375  nnd  S.  383)  ausdrücklich  Schellings  Schrift 
mit  vollem  Titel  erw^ahnt,  wälirend  sonst  nui*  einzelne  Namen 
wie  Spinoza,  Lichtenberg,  Zoroaster  in  ganz  unbestimmter  Weise 
hervorgehoben  werden.  Ausserdem  ward  aber  auch  mehrmals  auf 
die  1798  erschienene  Schrift  Schellings  „von  der  Weltseele"  mit 
deutlichen   Worten    angespielt,    nämlich    a.  a.  0.    S.  323,  S.  378» 


Immanuel  Kants  philosophisches  Vermächtnis.  179 

S.  406,  S.  576,  S.  574.  So  also  erklärt  es  sich,  warum  Kant  um 
1797  sich  plötzlich  von  der  Religions-  und  Moralpbilosophie  wieder 
zur  Naturphilosophie,  und  dann  um  1800  von  dieser  wieder  zum 
Idealismus  gewandt  hat;  das  Motiv  war  die  Zeitphilosophie,  ins- 
besondere die  Schriften  des  allseitiges  Aufsehen  erregenden 
Schelling,  dessen  Gestirn  im  glänzenden  Aufstieg  begriffen  war. 

Über  den  inneren  Wert  der  auf  Physik  sich  beziehenden 
Bogen  zu  urteilen  möge  einem  kompetenteren  Betrachter  überlassen 
bleiben ;»)  ich  beschränke  mich  auf  das  erste  Convolut,  welches 
das  Letzte  ist,  was  Kant  geschrieben  hat,  und  welches  von  der 
Transscendentalphilosophie  handelt,  und  auf  die  dazu  ge- 
hörigen Bogen  V— Vni  des  siebenten  Convolutes. 

Wenn  es  nun  aber  auch  Schelling  war,  der  Kant  zu  seinen 
letzten  Gedankengängen  veranlasste  und  Kants  Schrift  ein  Gegen- 
stück zu  der  Schellings  werden  sollte,  so  wäre  es  doch  ein  grosser 
Irrtum,  wenn  jemand  glauben  würde,  es  sei  Kant  dabei  ergangen, 
wie  es  den  meisten  begegnet,  welche  auf  irgend  einem  Gebiet  zu 
einer  bereits  vorhandenen  Sache  ein  Gegenstück  herstellen  wollen. 
Solchen  Gegenbildem,  die  sowohl  einen  Gegensatz  zum  Urbild 
darbieten,  als  auch  die  Vorzüge  des  Urbildes  noch  übertreffen 
wollen,  leiden  allermeist  an  einem  gründlichen  Defekt.  Es  fehlt 
ihnen  die  Originalität  und  Selbständigkeit.  Man  sieht  ihnen  Zug 
für  Zug  an,  dass  sie  im  Gegensatz  zu  einem  Andern  entstanden 
sind,  dass  sie  ein  Anderes  übertreffen  wollen,  mit  einem  Wort, 
dass  dem  Urheber  beständig  noch  etwas  Anderes  vor  Augen 
schwebt,  als  das,  was  er  produziert.  Das  Gegenstück  hat  nur 
Bedeutung  und  Verstand  im  Vergleich  und  Gegensatz  mit  dem 
Urbild.  Nicht  so  ist  es  bei  Kant.  Er  besitzt  ein  eigenartiges 
Denken,  einen  Geistesbesitz,  der  seit  Jahren  ausgereift  ist  und  die 
kompakte  Substanz  seines  Bewusstseins  ausmacht.  Zu  diesem  ur- 
eignen Gedankenbesitz  gehört  auch  die  Idee  einer  transscenden- 
talen  Philosophie,  die  ja  zuerst  von  ihm  erdacht  und  aufgestellt 

1)  Albr.  Krause  hat  das  Verdienst,  die  auf  Physik  bezüglichen 
Bogen,  inhaltlich  geordnet  und  mit  einem  wertvollen  Kommentar  versehen, 
noch  besonders  herausgegeben  zu  haben  unter  dem  Titel:  „Das  nachge- 
lassene Werk  Kants:  Vom  Übergange  von  den  metaphysischen 
Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft  zur  Physik  mit  Be- 
legen populär-wissenschaftlich  dargestellt^,  Frankfurt  a.  M.  und 
Lahr,  Moritz  Schauenburg.  1888.  Doch  unterliegt  sein  Verfahren  auch 
manchen  Bedenken,  welche  Vaihinger  in  der  oben  erwähnten  Anzeige 
im  Archiv  für  Geschichte  der  Phil,  zum  Ausdruck  gebracht  hat. 

12* 


180 


F,  He  man, 


worden  war.    Und  seine  Denkart  ist  ihm  in  Fleisch  und  Blut  über- 
gegangen.    Wenn   ihn    nun    ein  Anderer   zum  Denken    anregt, 
denkt  er  den  Gegenstand  doch  immer  nur  in   seiner  ihm  selbst 
eigentümlichen    Weise    und    kann    ihn    gar  nicht  mehr  aoden 
denken.      Sein  Denken    bleibt    sich   treu.      Hat    ihn    daher    aud 
Schelling   durr.h  sein  System  des  transscendcntalen  Idealismus  ai 
den  Gedanken    geführt,    ein  System    der   reinen  Philosophie   oderj 
der    TransseendenUilphilosophie    auszuarbeiten,    so    verarbeitet   er! 
diesen  Gedanken  doch  auf  seine  eigene  W^eise,  nach  seinen  eigeneil 
Prinzipien;   es   entsteht  etwas  Eigenartiges,  Originales.     Das  wirf 
Niemand   leugnen   können,   der  diese  mühsam  erzeugten  Gedanken , 
genauer  betrachtet  und  sie  mit  dem  ganz  anders  gearteten  Geist« 
Produkt  Hchellings    vergleicht.     Es    ist   genau   so,    wie  bei  Kants 
spekulativer  Physik;  obwohl  auch' von  Schelling  veranlasst,  ist  siej 
doch    himmelweit   von    dessen   Naturphilosophie   verschieden.     Um' 
Kants  Gedanken  zu  verstehen   und  zu  wüi^digen,  bedarf  es  daher 
in  keiner  Weise   eines  genaueren  Eingehens  auf  Schellings  trans- 
scendentalen  Idealismus. 


IV. 
Die  letzten  Gedanken  Kants  nach  ihrem  Inhalte. 

Kant  bemühte  sich  ausserordentlich,  den  richtigsten  und  be-j 
zeichnendsten  Titel  für  sein  Werk  zu  finden.  Bald  nannte  er  es 
einfach  „Trausscendeutal-Philosophie'',  bald  „Systeoi  der  reinen 
Philosophie  nach  ihrem  ganzen  Inbegriff",  zuletzt  scheint  er  sieb 
für  den  Titel  entschlossen  zu  haben:  „Der  Transscendentalphiloso- 
phie  höchster  Stiindpunkt,  von  Gott,  der  Welt,  und  dem  Menschea— 
als  moralischem  Wesen  in  der  Welt."  f 

W^ährend  Kants  Nachfolger  den  Begriff  der  Transscendental- 
philosophie  gänzlich  verändert^en  und  darunter  eine  Philosophie 
verstanden»  die  ihre  Quelle  in  der  intellektuellen  Anschauung  habe,,^ 
dem  Vermögen,  auch  ohne  Erfahning  rein  durch  produktive  EiiiH 
bildungskraft  des  Intellekts  ein  System  aller  Dinge  im  Himmel 
und  auf  Erden  auszuhecken,  blieb  Kant  dem  eigentlichen  Begriff 
der  Transscendentalphilosophie,  so  ^ie  er  ihn  entdeckt  und  in  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  aufgestellt  hatte,  und  wie  er  allein  ver- 
nünftigen Sinn  hat,  treu.  Er  bezeichnete  damit  diejenige  Philosophie, 
welche  die  Bedingungen  unserer  Erkenntnis,  sofern  sie  in  der 
Organisation  unseres  „Gemütes"  liegen,  aufsucht,  aufzählt,  ordnet. 


Immanuel  Kants  philosophisches  VermachtniB. 


181 


ihre  Anwendung  auf  die  Erkenntnis  darlegt  und  damit  zeigt,  was 
lUes  an  imsereiii  Erkennen  a  priori  und  von  der  Beschaffenheit 
anseres  Erkenntnisvermögens  aWiängig  ist.  Diese  transscenden- 
talen  Bedingungen  sind  die  Formen  zur  Aufnahme  und  Auffassung 
dessen,  was  die  Eii'ahrung  uns  durch  die  Empfindung  darbietet. 
Ohne  die  Spoutaueität  des  Subjekts  und  seiner  apriorischen  Er- 
kenntnisforoien  wäre  die  Rezeption  des  durch  die  Erfahniiig 
a  posteriori  Gegebenen  gar  nicht  möglich.  Die  Transscendental- 
philosophie  hat  es  aber  in  keiner  Weise  mit  dem  Stoff  der  Er- 
fahrung zu  thuii,  kann  diesen  Jiicht  herbeischaffen,  kann  ihn  nicht 
aus  dem  Subjekt  herausspinnen,  kann  also  die  Erfahrung  weder 
ignorieren  noch  ersetzen,  wie  Kants  Nachfolgiîr  teilweise  wähn- 
ten,  Kants  Absicht  beim  Niederschreibon  seiner  letzten  Ge- 
danken war  alsoj  dem  falschen  Begriff  der  Transscendentalphiloso- 
pliie  gegenüber  wieder  den  walireu  zur  Gelluug  zu  bringen. 
Während  HcheOing  in  seinem  System  des  transscendentaleu  Idealis- 
nuis  von  der  vermeintlich  trausstendentalen,  iutellektuelleu  An- 
schauung» der  Identität  von  Subjekt  und  (Hijekt  aus  ein  Welt- 
system deduzierte,  wollte  Kant  nur  ein  System  aller  Begriffe 
apriori,  als  Bedingungen  zum  Erkenntnissyst-em  der  gesamten 
Erfahrung  der  Dinge  aufstellen.  Schelliugs  Trausscendentalphilo- 
sophie  war  nicht  „reine  Philosophie",  weil  er  ebeu  die  wirklichen 
Dinge  selbst  zu  deduzieren  unternahm,  die  doch  nur  durch  Er- 
fahrung a  t^osterioii  uns  zur  Erkenntnis  kommen.  Daher  wollte 
Kant  sein  projektiertes  Werk  „System  der  reinen  Philosophie** 
nennen.  Weil  aber  nicht,  wie  in  seinen  früheren  Schriften,  nur 
einige  dieser  transscendentaleu  Formen  der  Erkenntnis  sollten  auf- 
gezählt, sondern  systematisch  alle  sollten  deduziert  werden,  machte 
er  beim  Titel  den  Zusatz:  ,,in  ihj'eni  ganzen  Inbegriffe'*.  Daher 
sagt  er  uns:  „Transscendentale  Philosophie  ist  das  philosophische 
Erkenntnissystem,    welches    a  priori    die   Gegenstande    der   reinen 

ruuft  in  einem  System  notwendig  verbunden  dai^stellt". 
Ein  solches  System  transscendeu taler  Philosophie  erreicht  zu- 
gleich den  höchsten  Standpunkt  apriorischen  Erkennens,  für  den 
tUe  früheren  Standpunkte  sich  nur  als  Voiistufeü  zu  erkennen 
geben.  Was  die  Kritik  der  reijien  Verutinft  begonnen,  soll  liier 
bis  zum  höchsten  Standpiuikt  geführt  werden. 

Die  erste  Stufe,  der  niederste  Standpunkt  der  Erkeuotuis  ist 
nämlich  die  theoretische,  die  Erkenntnis  der  durch  sinnliche  Er- 
fahrung  uns   gebotenen  Naturdinge*     Wie   kommen   wir  zur   Er- 


181 


F.  Heman, 


< 


keimtttis  von  Sinneiidingeii?     Was  bringt  unsre  Vernunft  a  priori 
tVL  den  Siunendiügeu  hinzu,  damit  wir  sie  erkennen  können? 

Die  Kritik  der  reinen  Vernunft  nämlicli  legt  sieb  daher  die 
Frage  vor,  wie  ist  Mathematik  und  wie  ist  reine  Natui*wissenschaft 
möglich?  d.  h,  nach  Kants  eigener  Erklärung:  Was  bringt  die 
Vernunft  nach  ihrem  eigenen  Entwurf  (a  prioii)  hervor  als  Grund- 
bedingungen aller  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Er- 
kenntnisse? Und  er  hatte  geantwortet:  Für  alle  mathematischrü 
Erkenntnisse  ist  die  Grundvoraussetzung,  dass  wir  die  Auschanungs- 
form  des  Baumes  besitzen.  Vermöchte»  wii^  nieht  Rauuianschauung  zu 
produzieren,  so  wiissten  wir  oichts  Mathematisches,  könnten  desseü 
nicht  bewusst  werden,  es  nicht  erkennen  und  keine  Erfahning  davon 
machen.  Und  ebenso  könnten  wir  keine  Naturdinge  denkend  be* 
greifen  und  ihrer  empirischen  Reahtät  bewusst  werden,  wenn 
nnser  Verstand  nicht  befäiiigt  wäre»  sie  nach  gewissen  Grundsätzen 
zu  beurteüen,  die  er  a  i>riori  aus  seineni  ,, eigenen  Entwurf' 
hervorbringt  und  auf  sie  anwendet.  Diese  Grundsätze  des  Ver- 
standes sind  die  Axiome  der  Anschauung,  die  Aotizipationen  der 
Wahrnehmung,  die  Analogien  der  Erfahrung  und  die  Postulate  des 
empirischen  Denkens  überhaupt.,  ohne  die  wir  die  Dinge  nur  er- 
kenntnis-  und  verständnislos  anstarren»  aber  nichts  von  ihnen  uds 
zum  Bewusstsein  bringen  könnten.  Alle  diese  Grimdsätze  beniheû 
aber  wieder  auf  Grundbegriffen,  die  unser  Verstand  spontan  und 
sofort  von  selbst  sich  zu  bilden  befähig t  ist,  sobald  Dinge  sich  ihni 
empfindlich  machen.  Niu^  mittels  der  Verstandesbegriffe  und  ihrer 
Grundsätze  können  wir  die  verworrene  Masse  der  recipierten  Em- 
pfindungen auffassen,  ordnen  und  denkend  als  so  und  so  beschaffene 
Dinge  begreifen,  ^Wir  machen  Alles  selbst",  sagt  also  Kant  mit 
Recht  in  seinen  letzten  Gedanken,  denn  alle  unsere  Erkenntnis 
der  Natiu^dinge  beruht  auf  dem  Entwurf  unseres  Vei'standes,  aetM 
a  priori  seine  Kategorien  und  Grundsätze  airE  sie  anwendet. 

Vom  niederen  Standpunkt  der  theoi-etischen  Erkenntnis  steigeu 
wir  dann  zur  zweiten  Stufe  empor;  es  ist  der  praktische  Staud- 
punkt. Wie  ist  richtiges  Handeln,  d.h.  Moralität  möglich?  Wie 
kommt  der  Mensch  überhaupt  dazu,  des  Moralischen  sich  bewusst 
zu  werden?  Welches  sind  die  transscendentalen  Gründe  alles 
moralischen  Handelns? 

Diese  Fragen  beantwortet  Kant  Lu  der  zweiten  Kritik,  der 
Kritik  der  praktischen  Vernunft.  Da  legt  er  uns  dar,  dass  Moral 
nur   möglich  ist,   weil   der  Mensch  keiu  blosse«  Sinnen-,   sondern 


i 


I 


1 


à 


Immanuel  Kants  philosopbisches  Vermächtnis. 


183 


^^ernunftwescD  ist,  das  spoiitaü  und  a  priori  sich  oiii  (lesetz  auf- 

^Blegen  vermag    für    all    sein  Thun    und  I.assf»ii.     Die  Autonomie 

^Ics  Vernaiiftwosens    beweist    seine  transsceudentak^  Freiheit^   sich 

gemäss    dem    kategorischen    Imperativ    des   a  priori    sieh    gidiend 

macheiiden    Gesetzes    bestimmon    zu    könuen.       Es    gäbe    keine 

R lichten-  und  keine  Keehtslehre,  keine  sittlichou  PersÖnlichkeiteu 
d  keine  sittüidK^n  Oesetlschaftslornien  ohne  das  moralische,  kate- 
gorisch und  apodiktisch  gebietende  Geselz,  das  die  Vernunft  auto- 
nom, aus  sich  selbst  produziert  und  demgomass  das  Vernunftweson 
selbst  sich  kraft  seinr^r  transscen dentalen  Freiheit  zu  bestimmen 
^Uirmag.  l)i<'  Vernunft  bringt  ^nach  eigenem  Entwurf*  das  Sitt- 
^bhe  zu  ihrem  Handebi,  und  darum  können  wir  im  Menschenleben 
'  gut  und  br>s  unterscheiden  und  Sittliches  und  Unsittliches  beur- 
teilen und  thun.  Auch  die  Moral  hat  ihr  a  priori,  durch  das  allein 
sie  möglich  uiul  erkeinibar  wird, 
mß  Aber  auch  dei*  i^raktische  Standpunkt  ist  noch  nicht  der 
Tiôchste.  iJer  hat  es  mit  dem  Höchsten  uiul  Grossten  zu  thun, 
was  der  Mensch  zu  denken  befähigt  und  geuidigt  ist  Der  Philo- 
sophie höchster  Staudpunkt  hat  es  mit  den  drei  Maxima  menscïi- 
licheo  Denkens  zu  thun.  Das  Grösste,  was  der  Mensch  zu  denken 
Termag,  über  das  hinaus  auch  der  erhabenste  und  weitest<3  Ge- 
dankenfhig  nicht  hinausrcicht,  sind  die  drei  Ideen:  Gott,  Welt  und 
der  Mensch  selbst,  der  Gott  unti  die  Welt  uod  sich  selbst  zu 
denken  vermag.  Diese  drei  Ideen  sind  keine  zufälligen  Produkte 
menschlicheo  Denkens,  welche  etwa  nur  da  und  dort  sporadisch 
im  Gedaukenleben  der  Menschen  auftauchen,  oder  von  denen  etwa 
nur  das  Eine  oder  das  Andere  ihm  zum  Bewusstsein  käme,  sondern 
es  sind  die  drei  Ideen,  welche  die  menschücbe  Verounft  sich  all- 
gemeiu  und  notwendig  bildet,  welche  also  in  allem  vernnnftigeji 
Denken  die  allgemeinsten  und  notwendigen,  also  apriorischen  Be- 
standteile sind,  auf  die  das  menschliche  Bewusstsein  spontan  und 
Ion  selbst  kommt.  Es  giebt  keine  vornünftigeu  Menschen,  denen 
bse  drei  Ideen  fehlten.  Die  Menschen  können  hinterher  leugnen» 
ft8S  etwas  diesen  Ideen  Entsprechendes  in  Wirklichkeit  vorhanden 
ri,  aber  die  Ideen  selbst  bleiben  ihnen  nicht  fremd, 
lu  diesen  Ideen  offenbart  sich  das  Grösste,  was  das  raensch- 
liche  Denken,  die  menschliche  Vernunft  zu  leisten  vermag.  Sie 
sind  zugleich  der  umfassende  Abschluss  menschlichen  Vernunft- 
lebens. r>urch  sie  wird  es  der  Vernunft  möglich,  ihr  gesamtes 
Gedaukenlebeü    zu   einem    systematischen    Gauzen    zusanimen    zu 


H  email, 

schliessen  lUid  ein  einheitliches»  geordnetes  Geistesleben  zu  MhrenJ 
Auf  diesem  höchsten  Standpunkt  der  Ideen  ist  also  „das  System 
der  reinen  Philosopiiie  in  ihrem  ganzen  Inbegriff"  erst  möglich. 
Dabei-  ist  die  transscendentale  Philosophie  „das  philosophische  Er- 
kenntnissystem,  welches  a  priori  die  Gegenstände  der  reinen  Ver- 
nunft in  Einem  System  notwendig  verlniüdcn  darstellt**.  Dies< 
System  handf^It  „vom  AU  des  Wesens*\  „Ihre  Gegenstände  sind 
Gottj  die  W'^elt  und  der  dem  Pflichtbegriff  imtei-worfene  Mensch 
in  der  Welt**. 

Dieses  System  hat  aber  f^ine  doppelte  Aufgabe  ;  es  soll  „eben- 
sowohl die  Subjekte  als  das  Ühjekt  in  einem  ganzen  Inbegriffe 
der  reinen  synthetischen  Erkenntnis  a  priori  befassen."  Damit 
fordert  Kant  erstens,  dass  dieses  System  die  ganze^  einheitliche, 
alle  apriorischen  Elemente  der  Vernunft,  alle  transscendentalen 
Bedingungen  der  menschlichen  Erkenntnis  umfassende  Organisation 
des  Menscheugeistes  systematisch  darlege.  Das  Subjekt  in  seiner 
transscendentalen  Beschaffenheit  als  theoretisch  erkennendes  und 
moralisch  handehides  Vernuuftwesen  soll  der  Selbsterkenntnis  dar- 
geboten werden.  Zum  Andern  aber  soll  dieses  System  auch  ob- 
jektive Erkenntnis  bieten.  Das  heisst:  sie  stellt  die  Objekte  der 
menschlichen  Erkenntnis  dar,  sofern  ihre  |diilosophische  Erkenntnis 
erreicht  ist  durch  Anwendung  unserer  apriorischen  Erkenntnis- 
bedingungen  auf  sie»  Es  enthält  also  das  System  der  Transcen- 
dentalphilosophie  nicht  bloss  eine  Erkenntnistheorie  de^s  mensch- 
lichen Geistes,  worauf  soviele  Kantianer  die  Philosophie  reduzieren 
wollten,  sondern  auch  eine  Philosophie  der  Objekte  des  mensch- 
lichen Geistes,  eine  Metaphysik  der  Natur,  der  Moral  und  der 
Theologie.  Sie  ist  der  Inbegriff  aller  menschlichen  Erkenulms. 
sofern  sie  nicht  empirisch,  sondern  ein  System  synthetischer  Er- 
kenntnis aus  Begriffen  a  priori  ist.  Die  Einzelwisseuschaften  sind 
empirisch  und  hahen  es  mit  der  empirischen  Erkenntnis  der  Dinge 
zu  thun;  die  Philosophie  ist  transsceudental  und  hat  es  mit  der 
philosophischen  Erkenntnis  der  Dinge  zu  thnu,  d.  h.  mit  der  Er- 
kenntnis, welche  die  apriorischen  Prinzipien  der  Vernunft  auf  tlie 
Dinge  anwendet  und  uns  zur  vernünftigen  Einsicht  in  das  Wesen 
und  die  Bedeutung  der  empirischen  Dinge  bringt.  Die  systema- 
tische Ordnung  der  Prinzipien  und  Grundbedingungen  alles  ver- 
nünftigen Erkennens  bietet  uns  dann  auch  die  notwendigen  Formen 
und  das  erkenntnistheoretische  Schema,  um  die  erlangten  i^hiloso- 
phischen  Erkenntnisse   der  Objekte   in   die   Einheit   eines  philoso- 


*r- 

4 


Immanael  Kants  philosophisches  Vermächtnis.  185 

jhischen  Systems  zu  einer  einheitlichen,  vernünftigen  Weltanschau- 
ODg  zu  ordnen. 

Das  ist  Transscendental-Philosophie  in  ihrem  eigentlichen, 
ursprünglichen  Sinn,  wie  ihn  ihr  Entdecker  Kant  gemeint  hat. 
Zu  diesem  Begriff  der  Philosophie  müssen  wir  zurückkehren,  wenn 
unsere  Philosophie  gesunden  soll.  Die  Missdeutung  und  Umbiegung 
des  Begriffes  unter  den  Händen  Fichtes,  Schellings  und  Hegels 
hat  die  Verachtung  und  Zerstörung  der  Philosophie  verschuldet. 
Es  ist  das  philosophische  Vermächtnis  Kants,  das  er  in  den  letzten 
Produktionen  seines  Geisteslebens  niedergelegt  hat,  auf  das  wir 
zurückkommen,  das  wir  annehmen  und  ausführen  müssen,  wenn 
die  Philosophie  wieder  zu  Blüte  und  Fruchtbarkeit  gelangen  soll. 
Unsere  Gegenwart  zeigt  lebendiges  philosophisches  Interesse,  eine 
Sehnsucht  nach  einheitlicher  Weltanschauung,  nach  einem  System 
des  Denkens  und  Handelns.  Es  dringt  der  Gedanke  durch,  dass 
ohne  Metaphysik  keine  Philosophie  möglich  ist,  aber  uns  mangeln 
die  Prinzipien  dazu.  Der  sterbende  Kant  hat  sie  uns  noch  gezeigt, 
indem  er  zwar  nur  fragmentarisch  und  abrupt  die  Grundlinien  eines 
Systems  der  Philosophie  aufzeichnete  und  ihren  Begriff  bestimmte 
im  Gegensatz  zu  den  herrschend  gewordenen  falschen  Bestim- 
mungen. 

Eine  solche  Philosophie  und  Metaphysik  besteht  dann  nicht 
iu  allerlei  subjektiven,  die  Erfahrung  ignorierenden  Gedanken- 
fespinsten  und  mit  der  Erfahrung  im  Widerspruch  stehenden  Kon- 
struktionen, sondern  trägt  die  Garantie  der  Festigkeit  und  Sicher- 
keit in  sich,  weil  ihre  Prinzipien  auf  den  objektiven,  allgemeinen 
und  notwendigen  Bedingungen  alles  Vernunfterkennens  beruhen, 
i  h.  auf  den  apriorischen  Bedingungen  der  Möglichkeit  des  Er- 
kennens  selber.  Sie  erklärt  die  Masse  der  sich  immer  unter  den 
Händen  der  Forscher  mehrenden  Thatsachen  der  Erfahrung  syste- 
matisch und  methodisch  aus  den  Prinzipien  der  Möglichkeit  der 
Hrfahmng,    die    in    der   Konstruktion   des   erkennenden   Subjekts 


Wenn  nun  das  Subjekt  in  Folge  recipierter  Empfindungen 
sich  selbst  konstituiert  kraft  seiner  Spontaneität  zur  Produktion 
von  Anschauungen  der  Dinge;  und  wenn  es  dann  die  geschauten 
Dinge  denkt  kraft  der  Spontaneität  seines  Verstandes  und  so  zum 
Begreifen  der  Dinge  gelangt,  so  sind  das  doch  immer  nur  erst 
^nzeldinge,  die  es  anschaut  und  denkt.  Das  Subjekt  erkennt 
noch  keinen  Znsammenhang  der  Dinge.    Wie  und  wodurch  können 


186 


F.  H  email, 


wir  mill  abor  ilie  Masse  der  Dinge  onlmiO  zu  einem  zasanfimeiir 
liängfcnden,  eiiiheitlicheii  Ganzen?  Wie  wii-d  atis  der  Meng«*  der 
vorpftîst  eilten  und  gedarbt  en  Dînge  eine  wolilgeordnete  Welt,  ein 
Kosmos?  Audi  dazu  muss  das  Subjel^^  dnrch  die  Kotistruktion 
seiner  selbst  befähigt,  sein.  Und  nur  weun  dies  der  Fall  ist,  ist 
Trausseeudental-Philosophie  möglich  „als  Wissenschaft  der  Formen, 
sich  selbst  zu  eiuem  Ganzen  der  Anscbauung  und  des  Deukejis 
synthetisch  nach  einem  Prinzip  zum  (»bjekt  zu  machen*".  I>**r 
höchste  Htandpuukt  der  Philosophie  ist  also  der,  welcher  nach  dem 
TViuzip  der  Kinheit  all  unsers  Änschauens  und  Denkens  sucht, 
wodurch  wir  das  Ganze  der  Dinge,  das  All  der  Wesen  denkend 
erfassen  können.  Die  Menge  der  Eiuzeldinge  ordnet  sich  uns  zu 
einem  systematischen  Ganzen  iliirch  ihre  Unterordnung  unter  die 
drei  Maxima  menschliehen  Denkens,  unter  die  drei  Ideen  :  Gott, 
Well,  Mensch  (in  dor  Kritik  d.  r.  V-  hiessen  sie  Gott,  Seele,  Welt). 
Unsere  Vernunft  entninimt  dies**  drei  Ideen  nicht  der  Erfahrung, 
denn  sie  shtd  keine  ansehanlichen  (Gegenstände,  sondern  produziert 
sie  spontan  aus  sich  selbst  als  ihre  höchsten  Ideen  eben  zu  dem 
Zweck,  alle  empirischen  Dinge  durch  sie  zur  Einheit,  Ordnung 
und  Zusammenhang  zu  bringen. 

Die  Objekte    der  Philosophie    auf   dem    höchsten  Standpunkt 
sind  also  die  Ideen  Gottes,   der  Welt  und  des  Menschen,  letztere! 
aber    nur,    sofern  er  yerniuiftwesen,    d,  h.  moralisches  Wesen  ist. 
iSie  bilden   die  drei  Teile  des  Inbegriffs  aller  Erkeuntnis,   das  All 
der  Wesen   oder   das  Allwesen.     Denn    es  giebt  keine  Wesen^  die 
nicht    einem    dieser  Drei   könnten  zugeordnet  werden.     Es  ist  er- 
weisbar,   „dass    es    nicht    mehr  oder  weniger  Elementarprinzipiea 
der   Transscendental-Pbüosophih    gebe,    als    die    drei    genannten." 
Das  „All  der  Winsen",  „das  Allwesen     besteht  also  nicht  ans  eineiu 
Einzigen  Wesen,    aus    einem  Wesen    aller  We^n,    oder   einer  all- 
seienden vSubstanz,   sondern  da.s  „All  der  Wesen"*  oder  „Allwe«;eü" 
besteht  ans  den  drei  Wesen:    Gott,  Welt,  Mt^nscli,    die  nicht  uiil- 
eiuander   identisch,    nicht    einerlei   sind.     Aber   diese  Drei    bilden 
kein  blosses  Aggi'egat  von  Wesen,  denn  „Transscendental-Philoso- 
phie  ist  nicht  ein  Aggregat,    sondern   ein  System  nicht  von  objek- 
tiven   Begriffen,    sondern    von  subjektiven  Ideen,  welche  die  Ver- 
nunft  selbst   schafft,    nud  zwar  nicht  hypothetisch  (problematisch 
oder    assertorisch),    sondern    apodiktisch,     indeuï    sie    sich    selbst 
schafft/*     Die    Schöpfung   und    Produktion    dieser   drei    Ideen    ist 
also   zugleich  die  Selbstkonstitution  der  Vernunft,    denn    das  Sein 


Immanuel  Kante  philosophisches 


187 


und  Leben  der  Verüunft  besteht  in  der  Produktion  dieser  drei 
Maxima  des  Denkeus.  Üadurcli,  dass  der  Mensch  diese  drei  Ideen 
prodnziert,  wird  er  vernünftig  und  erweist  er  sich  als  Vernunft- 
wesen. Er  dichtet  sie  selbst,  daher  sii^t  Knut:  „Trauss<!endenial- 
Philosophie  ist  das  ganze  System  der  Ideen.  Dichtungen  der  reinen 
Philosophie**  und  ^absohite  Einheit  des  Systems  der  Ideen  (Pich- 
tungen) der  reinen  Yernunft  bezieht  sich  auf  Einheit  möglicher 
Erfahrung,"  Das  Subjekt  dichtet  sie  nicht  zufällig,  sondern  not- 
wendig als  Formen  der  Einheit  des  Systenis  der  Erfahrangen,  so 
notwendig,  wie  die  Foraien  der  Anschauung  und  die  Formen  des 
Terstandes,  denn  die  Ideen  sind  die  höclisten  Ei'kenntnisformen 
der  Verniinft,  durch  welche  sie  die  Masse  ihrer  Erkenntnisse  zur 
Einheit  eines  Systems  zu  einem  Univei^suni,  zum  AU  der  Wesen 
ordnet,  Damm  sagt  auch  Kant:  „Ideen  sind  selbstgeschaffeu«^ 
subjektive  Prinzipien  der  Derikkraft",  ,Jdeen  sind  nicht  Begriffe, 
sondern  reine  Anschauungen,  nicht  discursive,  sondern  intuitive 
Vorelellnugeu,  denn  es  ist  nur  Ein  solcher  Gegenstand  (Ein  Gott, 
Eine  Welt  univers,)  und  in  dem  Freiheitsgesetz  nur  Ein  Prinzip 
der  Verehrung  aller  Meiischenjifiichteu  als  Giittlicher  Gebote  durch 
Menschen  in  der  Welt.'* 

Was  nun  Kant  über  die  drei  Ideen  aufgezeichnet  hat,  ist 
wenig,  aber  grundlegend  nud  lichtnnggebend.  Wir  nehmen  niu* 
einige  fragmentarische  Sätze  heraus.  Die  von  der  Idee  Gottes 
handeln,  um  daraus  zu  schtiessen,  nach  welcher  Richtung  hin  Kant 
sein  System  auszubauen  gedachte. 

„Der  Begriff  von  Gott  ist  der  von  einem  Wesen  als  obersten 
Ursache  der  Weltwesen    und  als  eine  Person.     Wie  Freiheit  eines 
Weltweseus  möglich  sei,  ist  direkt  nicht  zn  l>eweisen;  nur  im  Be- 
griff   von  Gott*    wenn    der  angenommen  wird,    wäre  es  thnnlieh". 
„Es    ist   ein  Gott,    nicht   als  Weltseole  in  der  Natur,   sondern  als 
persönliches    Prinzip     di'r   menschlichen    Vernunft    (ens    summum» 
summa  in  teiligen  tia,  summum  bouum),    welches  als  Idee  eines  hei- 
ligen Wesens  völlige  Freiheit  mit  dem  Pflichtgesetze  in  dem  kate- 
lyrischen    Imperativ   verbindet/*     „Gott  ist  nicht  W\^ltseele;    Spi- 
^^las  Begriff  von  Gott  und  Mensch,    nach  welchem  der  Philosoph 
^Bl  Dinge  in  Gott  anschaut,   ist  schwärmerisch  (conceptus  fanati- 
rus)",     „Der  erete  Gegenstand   (Gott)  erhebt  sich  über  Dinge  als 
Sachen  durch  Persönlichkeit,    mithin    durch  die  erhabene  t^na- 
Utat  der  Freiheit  selbst,  ursprünglich  Ursache  zn  sein,    eine 
Eigenschaft   und  Vermögen,    deren  Möglichkeit    direkt  gar  nicht 


188 


F.  Heraan, 


bewiesen    imil  orklärt  werden  kann,    aber  indirekt  durch  uni^ider- 
sprechlichc  Diktatt*  der  Vernauft  im  kategorischen  Iraperativ  seine 
Realität  volljafiltijsr  macht."     „Ans  der  Idee,    die  wir  iids  von  üott 
selbst  {lenken,  kann  zwar  nicht  die  Existenz  eines  solchen  Wesens 
gefolgert  werden,  aber  doch  mit  i^hnchem  Nachdmck,    als  ob   ein 
solches    (dicta men    ratiouis)    in  Substanz   nut    unserm  Weseo  ve^ 
blinden     wäre".       „Dieses    Gebietende     Wesen     ist     nicht 
ausser   dem  Menschen    als    vom    Menschen    verschiedene 
Substanz  das  Gegenstück  von  der  Welt  als  Inbegriff  aller 
Sinnenwesen."     „Was    nötigt   uns   die    Idee    von  Gott    ab?     Kein 
Erfahrnngsbegriff,  keine  Metaphysik.     Was  diesen  Begiiff  a  priori 
darl>ietetj  ist  der  Pflichtbegiiff.     Dieser  aber  setzt  den  Begriff  der 
Freiheit    eiin^r  Kausalität   voraus,    deren  Möglichkeit  nicht  erklart 
werden    kann."      ,,Gott    ist    nicht    ein  Weltbewohncr,    sondern 
Inhaber.      Als    das    Elftere    wmi  er  die  Weltseele,   zur  Natur 
gehörend."     Die    merkwürdigste  Stelle,    die  Kant  geschiieben  hat, 
ist  aber  wohl  die:  „Es  ist  ein  Wesen  in  mir,  was  von  mir  uIlte^ 
schieden   im  Kausat-Verhältnis  der  Wii'ksamkeit  (nexus  effectiviis) 
auf    mich    steht,   (agit,  facit,  operatur),    welches   selbst  frei,   d,  h. 
ohne  vom  Naturgesetz  in  Raum  und  Zeit  abhängig  zu  sein,   mich 
innerlich     richtet    {rechtfertigt    oder    verdammt],    and    ich    der 
Mensch    bin    selbst    dies    Wesen,    und    dieses   nicht  etwa 
eine  Substanz    ausser    mir,    und    was    das  Befremdlichste  ist: 
die  Kausalität   ist    doch    eine    Bestimmung   zur  That    in    Freibeil 
(nicht    als  Naturnotwendigkeit)".     „Wenn  auch  Gott  bloss  als  Ge- 
dankeuding    (ens   ratiouis)    in    der  Philosophie    angesehen    werden 
soll,    so    ist   es   doch    notwendig,    dieses    und    alle  ihm  beigelegte 
Prädikate    der   reinen   Vernunft   aufzustellen,    die    analytisch   aus 
dieser  fdet*  hervorgehen:  **s  mag  auch  |mussl  eine  solche  Substanz, 
die  in  ihrem  Begriff  die  Idee  von  einer  Person  die  höchste  sowohl 
techniseh    praktische,    als    ancli   moralisch  praktische  Vollkommeu- 
heit  und  ihr  gemässe    Kausalität  vereinigt,  doch  notw^endig  auf  ge- 
stellt und  kann  nicht  ilbei-sehen  werden»  man  mag  nun  annehmeu, 
sie   existiere,    oder    nicht.     Wenn    es    gleich  Thoren   sind,    die  in 
ihrem  Herzen  sagen,  es  ist  kein  tiott,  so  mögen  sie  immer  unweise 
sein,  es  liegt  ihnen  doch  ob,  über  diesen  Begriff  und  das,  w^as  er 
in    sich    enthält,    nicht    vorsätzlich    unwissend    sein    zu   wollen/ 
^ Der  Begriff  oder  die  Idee  von  Gott  ist  1,  die  von  einem  höchsten 
Wesen  fens  entium\  2.  von  einem  höchsten  Verstandeswesen,  d,  i. 
einer  Person  (summa   inteiligentia),   3.  dem  Urquell   alles    dessen, 


Immannel  Kants  philosophisches  Vennachtiiis.  189 

was  unbedingt  Zweck  sein  mag  (summum  bonum),  das  Ideal  der 
moralisch-praktischen  Vernunft  und  allem,  was  diesem  zur  Regel 
dienen  kann,  das  Urbild  (Archetypen)  und  Architekt  der  Welt  aber, 
obzwar  nur  in  unendlicher  Annäherung,  dienen  kann  (sie).  Wir 
schauen  Ihn  an,  als  in  einem  Spiegel:  nie  von  Angesicht  zu  An- 
gesicht." „Die  Vernunft  schafft  sich  unvermeidlich  selbst  Objekte. 
Daher  jedes  Denkende  einen  Gott  hat".  „Ein  lebendes 
Wesen,  das  sich  seiner  selbst  bewusst  ist,  enthält  ein  immaterielles 
Prinzip  und  ist  Person."  „Gott  ist  also  keine  ausser  mir  be- 
findliche Substanz,  sondern  bloss  ein  moralisches  Verhältnis 
in  mir"*.  „Gott  wird  als  eine  Person  gedacht:  d.  h.  als  ein  Wesen, 
welehes  Rechte  besitzt." 

Suchen  wir  uns  Kants  Gedanken  klar  zu  machen.  So  wenig 
wir  wissen,  was  die  Dinge  an  sich  sind  und  abgesehen  von  ihrer 
Erscheinung,  so  wenig  wissen  wir,  wer,  was  und  wie  Gott  an  sich, 
in  sich  und  seinen  Wesen  nach  ist,  abgesehen  von  seinem  Ver- 
hältnis zu  uns.  Sobald  aber  das  menschliche  Subjekt  Empfindungs- 
stoff recipiert,  wird  seine  Spontaneität  erregt  zur  Erzeugung  einer 
Erscheinungs-  und  Vorstellungswelt,  die  das  notwendige  Produkt 
der  in  Thätigkeit  geratenen  Erkenntniskräfte,  der  Formen  der 
Anschauung  und  der  Formen  des  Verstandes  ist.  So  erfahren  wir 
sinnlich  und  begreiflich  die  Welt  der  Dinge. 

Der  Mensch  ist  aber  auch  Vernunftwesen,  nicht  bloss  Sinnen- 
wesen. Sobald  er  daher  seiner  selbst  bewusst  wird  und  vernünftig 
zu  handeln  sich  anschickt  und  sich  Rechte  in  Anspruch  nehmend 
als  Person  in  seiner  Welt  der  Dinge  geltend  macht,  macht  sich 
auch  in  seiner  Vernunft  das  dictamen  rationis  mit  apodictischer 
ünausbleiblichkeit  als  kategorischer  Imperativ  geltend,  er  erfährt, 
recipiert  das  Pflichtgebot,  das  seiner  sinnlichen  Natur  entgegen- 
tritt. Kraft  seiner  transscendentalen  Freiheit  als  Vernunftwesen 
und  Person  ist  der  Mensch  autonom,  d.h.  er  kann  das  sich  in  ihm 
geltendmachende  Sittengesetz  sich  selbst  auflegen,  es  annehmen, 
oder  aber  sich  ihm  entziehen  und  dawiderhandeln.  So  ist  der 
Mensch  durch  die  Apprehension  und  Reception  des  kategorischen 
Imperativs  ein  moralisches  Wesen. 

Aber  diese  moralische  Erfahrung  erregt  auch  die  Spontanei- 
tät seiner  Vernunft  als  Denkkraft  zur  notwendigen  Erdichtung 
und  Erzeugung  nicht  hypothetischer,  sondern  apodictisch  sich  ihm 
aufdringender  Ideen.  Diese  sind  das  Höchste  und  Grösste,  was 
der  Mensch   zu   denken   vermag.    Die   erste  dieser  notwendig  im 


190 


F.  Heman. 


Bewusstsein    sich    et-zeugeuden  Ideen   ist    die  Gottes.     Es   ist  die 
Idee   einer  Person,    die  Rechte  hat,  zu  befehlen  und  zugleich  All* 
gewalt   liai,    seinen  Beft-lilen  Geltung    zu   schaffeu  und  die  Dinj^e 
zu   einem  von  ihr  gesetzten  Endzweck  zu  leiteu.     Wie  also  Silin- 
hchkeit    und  Verstand    die  Stätten    sind,    wo  die  Welt  der  Ding? 
ei-scheint    und    sich    offenbart,   so  ist  die  Vernunft  die  Stätte,  wo 
(jfütt  als  Ideal  der  Vernunft  erscheint  und  sich  offenbart.     Gleich- 
wie   das  Was    uud  Wie    der  Siunenwelt    zwar    auf  Anregung  der 
ï-ecipierten  Empfindungen  doch  ganz  und  gar  nach  den  dem  Sul 
jekt  eiuorgauisieileri  Fürmeii   der  Anschauung  und  des  Verstanden' 
beschaffen    ist,    also   ein    blosses  Erzeugnis   der  Sinnes-  und  Ver» 
standesthätigkeit  des  Subjektes  ist,  —  so   ist   auch   das  Was  und 
Wie  Gottes  zwar  auf  Anregiing  des  übermenschlichen  kategorischi 
Imperativs,    aber    doch    ganz    und  gar  nach  den  dem  Subjekt  eüi- 
orgauisierten  Vernunftiormeu  beschaffen,  also  ein  blosses  Enteugnis 
der  Veriiuuftthätigkeit  des  Subjekts,  eine  Idee  und  Ideal. 

Wie    aber   die    Ei^cheiunngswelt    keiü    blosser    Schein    ii 
sondern    auf   Dinge    an    sich  deutet,    und    wie  nur  selbstherrlii 
Einbildung    diese    Erscheinnngswelt    für    blosse     Phautasmagoii 
des  Subjektes,    für  eine  blosse  Scheinwelt  erklaren  kann,  gerade 
so   ist   auch   die  Gottesidee   zwar  nui*  Dichtung  unserer  Veraunft, 
diHitet  aber  doch  auf  ein  Wesen  aller  Wesen,  das  real  sein  musa, 
so   dass   nur  die  Thoren  in  ihrem  Herzen  sprechen  können,  es  ist 
kein  Gott.     Wie  es  sinnlos  ist,  die  ReaUtät  der  Welt  zu  leuguen, 
so    ist   es  sinnlos,    die    Realität  Gottes    zu    leugnen.     Die  Gottes- 
leuguung   hat   nicht    inehr    Berechtigung    als    die   Lengnung   der 
Dinge    der  Welt.     Wie    der  Ei'scheinungswelt    empirische  KealitM 
zukommt,  so  kommt  der  Gottesidee  moralische  Idealität  zu.    Diese 
Welt  ist  nur  Erscheinungswelt,   aber  auf  Grund  der  Empfindnog: 
Gott  ist   nur  Ideal   der  Vernunft,    aber   auf  Grund  des  Sittenge- 
setzes.    Die  Empfindungen,    die    nicht   ans  uns  stammen,  sondern 
sich  uns  unabweislich  aufdrängen,  veranlassen  uns  zur  Ei'zeuguug 
dieser  Ei^cheinungswelt,   und  das  Sittengesetz,  das  nicht  aus  uns 
stammt,    aber    im  Gewissen    sich  unabw^eislich  uns  aufdrängt,  ver- 
anlasst  uns    zur    Erzeugung    der    Gottesidee.     Als    Sinnenweseu 
müssen    wir   uns   die  Welt   vorstellen,   als  Vernunftwesen  raüsseti 
wir  Gott  denken.     Darum  „haben  alle  Denkenden  einen  Gott"  und 
giebt  es  nie  und  nirgend  Menschen,  die  nicht  ii*gendwie  der  Gottes- 
idee bewusst  wären. 


Immannel  Kants  philosophisches  Verm&chtnis.  191 

Wie  verhält  es  sich  also  mit  der  Existenz  Gottes?    Wie  die 
Welt   nur  Dasein  hat  kraft  unserer  Sinnlichkeit  und  in  unseren 
Sinnen,  so  hat  auch  Gott  nur  Dasein  kraft  unserer  Vemünftigkeit 
imd   in  unserer  Vernunft.    Die  Tiere  haben   keinen  Gott,  für  sie 
existiert   er   nicht,   obgleich  sie  nicht  ohne  ihn  existieren  können. 
Das   menschliche  Subjekt   ist   aber   so    organisiert,   dass   es   not- 
wendiger Weise  sich  die  Idee  Gottes  bildet.    Das  menschliche  Be- 
wusstsein,  sofern  es  vernünftige  Denkkraft  und  moralische  Persön- 
lichkeit ist,   ist   die   alleinige  Stätte,  wo  Gott  offenbar,    manifest 
wird,    wo  das  Wissen  seiner  als  moralisch  gesetzgebenden  Person 
erzeugt  wird,   wo  er  sich  Existenz  und  Präsenz  giebt  in  geistiger 
Weise,  als  Idee  und  Ideal  der  Vernunft.    Der  Mensch  erzeugt  und 
schafft  sich  selbst  Gottesbewusstsein,  aber  in  diesem  Gottesbewusst- 
sein  ist  Gott  selbst  präsent  und  bezeugt  seine  persönliche  Präsenz 
durch  den  kategorischen  Imperativ  des  Vernunftgesetzes.    Im  ver- 
nünftigen Selbst  des  Menschen  tritt  Gott  dem  persönlichen  Ich  des 
Menschen  gegenüber  als  persönlicher  Gesetzgeber,  der  Macht  und 
Befugnis  hat,  dem  Menschen  durch  seine  ihm  eigene  Vernunft  zu 
gebieten.    Das  ist  die  wahre,  allein  wirkliche  Immanenz  Gottes  in 
der  Welt,  seine  Immanenz  im  menschlichen  Selbstbewusstsein,  das 
notwendiger  Weise   sich   die  Gottesidee    einerzeugt.    Als  Idee  ist 
Gott   mein  Gemachte,  Dichtung  meiner  Vernunft,   aber  mein  ver- 
nünftiges Bewusstsein  wäre  in  keiner  Weise  veranlasst,  sich  diese 
Idee   als  Ideal   der  Vernunft   zu  bilden,  wenn  es  nicht  dazu  ver- 
anlasst würde  durch  die  präsente  moralische  Wirkung  Gottes,  wie 
mein  Bewusstsein  in  keiner  Weise  veranlasst  wäre,  sich  die  Welt 
vorzustellen,  wenn  nicht  Dinge  präsent  wären,  die  Empfindungen  in 
mir  wirken.    Gott  macht  sich  geistig  in  meinem  vernünftigen  Ich 
präsent,    wie    die  Dinge  sich   sinnlich   meinem   körperlichen   Ich 
präsentieren. 

Diese  geistige  Präsenz  Gottes  im  menschlichen  Bewusstsein 
als  Gottesbewusstsein  ist  auch  die  einzig  Gottes  würdige  Immanenz 
in  der  Welt.  Es  ist  eine  Depravation  und  Diminution  der  Gottes- 
idee, Gott  nur  als  Substanz  der  Welt  oder  nur  als  ihre  Seele  zu 
denken,  denn  dann  ist  er  nicht  mehr  Ideal  der  Vernunft  d.  h.  nicht 
mehr  Idee  einer  summa  intelUgentia,  summa  potestas  und  summum 
bonum,  sondern  sinkt  herab  zu  einem  unbewussten,  nicht  mit 
Freiheit,  sondern  nur  mit  Naturgewalt  wirkenden  Naturwesen; 'er 
wird  Teil  der  Natur,  beschränkt  auf  die  Naturwirksamkeit,  unfähig 
des  persönlichen  und  moralischen  Handelns.    Das  menschliche  Be- 


192 


F.  Hemaii, 


wusstseiii  aber  ist  der  rechte  Thron  Gottes.  Da  kann  er  sid 
seiner  ganzen  Idee  nach  manifestieren,  und  die  Entwickelnng  und 
Bildnng  des  menHchÜclieu  Bewusstseius  iimss  von  Stufe  zu  Stnf^ 
fortschreiten,  bis  die  ganze  Idee  Gottes  theoretisch  und  praktisch  in 
idealer  VoUkomnienheit  in  ihm  erzeug^t  ist»  bis  das  ganze  Menschen- 
hewusstsein  theoretisch  und  praktisch  davon  erfüllt  ist  und  gaM 
und  gar  dem  Gottesbewusstsein  sich  ergebeü  hat,  damit  GoU 
wirkhch  in  ihm  Alles  in  Allem  sei, 

Von  diesem  Standpunkt  aus  eröffnen  sich  die  weitesten  Per* 
spektiven  beziiglidi  des  Menschen. 

Die  Transscondental-Phjlosophie    sucht   die    dem  Subjekt  zu- 
kommenden   transscendentalen   Bediugungen    der    Erkenntnis   aaf. 
Wir  haben  Naturwissenschaft;  welches  sind  die  im  Subjekt  liegeo- 
den  Bedingungen,   dass  es  sich  Natiu-  voi-stellen  kann?     Wir  sind 
moralische  Wesen;   welches  sind    die   in  unserem  Selbst  liegenden 
Bedingungen,    dass    wir   moralisch    handeln    können?     Wii'   habea 
Gotteshewusstsein,  welches  sind  die  im  Selbstbewusstsein  liegenden 
Bedingungen,    dass    es  Gottesbewusstseiu    erzeugen    und    sich  die 
Gottesidee  bilden  kann?    Dass  ist  die  letzte  und  höchste  der  den 
Menschen  betreffenden  Fragen,  die  Kant  sich  zui"  Lösung  gestellt 
hat     Die  Lösung   dieser  Fragen    muss    die  ganze  Bedeutung  d<s 
Menschenwesens  Gott  und  der  Welt  gegenüber  darlegen   und  m 
Licht  setzen. 

„Der  Mensch  ist  Verbindungsmittel  von  Gott  und  Welt,  dfl 
als  Natiu'wosen  doch  zugleich  PersönUchkeit  hat,  um  das  Sinnen* 
prinzip  mit  dem  übersinnlichen  zu  verknüpfen".  „Gott  und  die 
Welt  sind  Ideen  —  nicht  Substanzen  ausser  meinen  Gedanken; 
wir  sind  der  gedachten  Gegenstände  subjektiv  Selbstschöpfer". 
„Gott,  die  Welt  und  Ich,  der  beide  Objekte  in  Einem  Subjekt  ver 
bindet". 

Der  Mensch  ist  seiner  Idee  nach  auch  ein  Maximum,  m 
Grösstes,  über  das  hinaus  nichts  Grösseres  gedacht  werden  kann. 
Gott  ist  die  Idee  des  allerweisesten,  mächtigsten,  gütigsten  PersoQ- 
wesens,  die  erste  Ursache  und  der  letzte  Zweck  aller  Wesen  Mi 
alles  Seins»  ens  entium  und  ens  realissimum.  Die  Welt  ist  die 
Idee  des  geordneten  Zusanimenhangs  aller  Sinnendinge»  das  Grösstß, 
was  in  Raum  und  Zeit  gedacht  werden  kann,  von  dem  auch  der 
Meusch  als  Naturweseu  nur  ein  sehr  minimaler  Teil  ist.  Der 
Mensch  aber  als  Vernunft wesen  ist  darum  auch  ein  Grossies, 
weil  er  durch  seine  Denkkraft,  durch  sein  selbst thatiges  Bewtisst- 


Immanuel  Kants  philosophisches  Vermächtnis.  193 

sein  eben  jene  beiden  andern  Grössten  ihrer  ganzen,  allergrössten 
Idee  nach  in  sich  selbst  erzeugen  und  beide  miteinander  in  Be- 
ziehung setzen  kann. 

Der  Mensch  ist  seiner  Vernunft,  Denkki*aft,  seinem  Geiste 
nach  die  einzige  Stätte  in  der  Welt,  wo  Gott  seinem  wahren 
Wesen  nach  als  geistige  Person  präsent  d.  h.  gegenwärtig  da  ist; 
zugleich  ist  der  Mensch  das  einzige  Welt-,  Natur-  und  Sinnen- 
wesen, das  sinnlich  materiell  auf  die  Welt  der  Dinge  einwirken, 
zwecksetzend  sie  gestalten  und  umordnen,  verbrauchen  und  ver- 
wenden kann.  In  seiner  Vernunft  ist  Gott  gegenwärtig  und  durch 
seine  Vernunft  zugleich  wirkt  er  auf  die  Dinge  nach  seinen  geistigen 
Zwecken.  Wenn  nun  seine  Vernunft  ganz  von  Gott,  dem  Ideal 
der  reinen  Vernunft,  erfüUt  wird,  wenn  also  sein  Bewusstsein  ganz 
Grottesbewusstsein  geworden,  und  sein  Ich  ganz  dem  göttlichen, 
allerhöchsten  Ich  sich  hingegeben  und  unterworfen  hat,  —  dann 
wird  der  Mensch,  als  der,  in  dem  Gott  ganz  präsent  ist,  der 
wahre  Repräsentant  Gottes  in  seiner  Welt  sein  und  diese  ganze 
Welt  gemäss  dem  göttlichen  Endzweck  des  Guten  zu  einem 
^yReiche  Gottes^  wirksam  umgestalten  und  ordnen,  so  dass  dann 
Gott  wirklich  in  der  Welt  existiert  und  die  Welt  die  wirkliche 
Behausung,  der  Tempel  des  lebendigen  Gottes  ist.  Dann  wird 
von  der  Welt  das  Wort  giltig  werden,  nicht  bloss:  Siehe  da,  eine 
Hütte  Gottes,  sondern:  „Siehe  da,  eine  Hütte  Gottes  bei  den 
Menschen".  Denn  der  Mensch  ist  ein  Maximum,  weil  er  das 
Mittelglied  zwischen  Gott  und  der  Welt  ist,  durch  das  Gott  in  der 
Welt  existierend  wird. 

Diese  Giiindlinien,  die  Kant  hinterlassen  hat,  zu  einem  System 
der  Transscendental-Philosophie  ausgebildet,  dürften  das  System 
Spinozas  weit  an  Tiefe  und  Grösse,  Kraft  und  Sicherheit  über- 
treffen. Und  das  war  auch  Kants  Absicht.  Daher  wird  der  Name 
Spinoza  in  diesen  letzten  Aufzeichnungen  sehr  oft  genannt,  wenn 
auch  immer  in  polemischer,  nie  in  zustimmender  Absicht.  Damals 
war  ja  Spinozas  Name  in  aller  Munde,  und  besonders  Schelling 
bemühte  sich,  seine  Denkart  zu  Ehren  zu  bringen.  Man  war  nicht 
bloss  des  orthodoxen  Supranaturalismus  müde,  sondern  auch  der 
seichte  Rationalismus  und  Deismus  befriedigte  Niemanden,  während 
des  Spinoza  Pantheismus  ebenso  tiefsinnig  wie  poetisch,  rationell 
wie  religiös  schien.  Unter  Schleiermachers  Führung  schickten 
sich  sogar  die  Theologen  an,  Spinoza  auf  ihre  Altäre  zu  heben 
und    ihm    „eine  Haarlocke  zu  opfern".     Kant  aber  war  und  blieb 

KanUtadiao  £Z.  |3 


r,  Heiïïan, 


unerschütterlich  bis  ans  Ende  der  festen   tTberzeugung,    dass  der 

Spiüozismiis    und   aller  Pantheismus  irrig  sei.     Beständig  weist  er 
darum    in    seineu  letzten  Gedanken  den  Pantheisraus  ab:    Gott  ist, 
nicht  die  Substanz  der  Welt  und  nicht  Weltseele,  nicht  ein  unper-| 
sönliches  Wesen  ohne  Verstand   und  Willen,   sondern  vernünftiger 
Geist,    Person    mit    höchstem   Wissen     und    höchster    Macht    uudl 
höchster  Güte. 

Andererseits  aber  erkannte  Kant  sehr  gut,  dass  man  nur 
darum  dem  Pantheismus  so  sehi-  huldige,  weil  er  ein  Element  ent- 
halte, das  weder  beim  daftialigen  Theismus  noch  Deismus  zu  findtii' 
war;  die  Immanenz  Gottes  in  der  Welt.  Kants  Bestrehen  geht 
daher  dahin,  eine  Immanenz  Gottes  aufzustellen,  die  nicht  pan- 
theistiseh  ist,  d.  h.  die  nicht  den  Gottesbegriff  zerstörende  Konse- 
quenzen hat.  Er  stellte  daher  eine  Imnmnenz  Gottes  im  uienscb- 
licheo  Bewusstsein  auf,  tiefsinnig  und  grossartig,  die  zugleich  dem 
transscendentalen  Idealismus  der  kritischen  Philosopliie  aufs  ge*  J 
naueste  entspricht  und  in  kemer  Weise  die  Gottesidee,  wie  alle" 
Menschen  sie  sich  bilden  müssen,  schädigt.  Gott  an  sich  ist 
transscendent,  für  uns  absolut  unerkennhar.  Er  existiert  nirgends 
als  Substanz,  auch  nicht  als  Weltseele;  er  hat  überhaupt  keine 
Existenz  m  der  Natur  und  Sinnenwelt;  er  ist  kein  äusseres  Ob- 
jekt der  Erfahrung.  Existenz  hat  er  allein  im  trausscendeutalen 
Ich,  im  Vernunftwesen  des  Menschen;  indem  er  sich  hier  als  mo- 
ralisch gebietende  Persönlichkeit  geltend  macht,  wird  sieh  der 
Mensch  Gottes  bewnsst.  Weil  also  Gott  dem  menschlichen  Be- 
wusstsein immanent  ist,  setzt  der  Mensch  Gott  als  seiend  auch  inj 
die  Welt  seines  Bewusstseins  und  stellt  sich  seinen  Gott  vor  als' 
in  oder  ausser  oder  über  seiner  Welt,  je  nach  den  Gedanken 
seines  Herzens.  Die  Menschen  wüssten  wieder  von  Gott  öocb 
Göttern,  hätten  kein  Gottesbewusstsein,  wenn  nicht  Gott  im  mora- 
lischen Bewnisstseiu  wirksam  gegenwärtig  wäre.  Die  Immanenz 
Gottes  in  der  Welt  ist  also  keine  physische,  wie  bei  Spinoza, 
sondern  eine  moralische^  geistige,  ideelle,  wie  sie  der  Idee  Gottes 
allein  entspricht.  So  ist  der  Pantheisnnis  der  substanziellen  Im- 
manenz überwunden,  und  die  rein  geistige  theistische  an  ihre 
Stelle  gesetzt.  Die  wahre,  von  der  Vernunft  geforderte  Imnianenï 
entspricht  genau  den  Prinzipien  des  Kritizismus  und  befriedigt 
ebensosehr  das  religiöse  Gefühl, 

Möchte   diese   kurze,    unvollständige  Angabe  der  letzt-en  G 
danken   Kant«  hundert  Jahre    nach    ihrer    ei*steu    Produktion  A 


Immanuel  Kants  philosophisches  Vermächtnis.  195 

regnng  geben,  Kants  Philosophie  von  diesem  letzten,  höchsten 
Standpunkt  aus  eingehend  zu  betrachten  und  verstehen  zu  lernen. 
Möchte  ein  Denker  erstehen,  Kant  kongenial,  der  das,  was  Kant 
wohl  beabsichtigte,  aber  nicht  mehr  ausführen  konnte,  mit  scharfer 
und  tiefer  Denkkraft  als  System  ausdenken  und  systematisch  dar- 
legen könnte!  Der  Philosophie  der  Gegenwart  würde  reicher  Ge- 
winn daraus  entspringen.  Wir  dürften  hoffen,  zu  einer  Natura 
philosophie  und  zu  einer  Geistesphilosophie  auf  sicherer  kritischer 
Grundlage  zu  gelangen,  zu  einer  Philosophie,  die  auch  praktisch 
die  kulturellen  und  religiösen  Probleme  der  Gegenwart  mit  ihrem 
Licht  zu  erleuchten  befähigt  und  im  Stande  wäre. 


13* 


Die  Persönlichkeit  Kantsj) 

Von  Bruno  Baucli  in  Halle  a.S.. 


„Der  Mensch  wirkt  alles,  was  er  vermag,  auf  den  Menschen 
durch   seine   Perslînlichkeit."     Dieses  Wort  Goethes    passt   sicher  i 
auf   den  Dichter   selbst,    es   passt  auf  einen  Napoleon,  einen  Bis- 
marck;   einen    Jesus,    einen    Luther.  —  Passt   es    aber   auch  ui 
Kant? 

Die  wirksamen  Persönlichkeiten  scheinen  eine  ganz  eigene! 
Sphäre  für  sich  zu  haben:  Das  Thathaft-tTcwaltige  scheiut  ihr 
Bereich,  sei's  im  Leben  der  grossen  Öffentlichkeit  ihres  eigenen  _ 
Volkes,  sei's  in  der  Bestimniuug  und  Richtunggabe  für  VolkerH 
und  Nationen  überhaupt,  von  Geschlecht  zu  Geschlecht.  Der 
Mensch  jedoch,  der  seiüe  Kraft  im  schlichten  Rahmen  der  Gesell- 
schaft aufbraucht,  nach  Aussen  und  nach  seiner  äusseren  Wirk- 
samkeit lediglich  als  deren  Glied  unter  Gliedern  erscheint,  nicht 
hervortritt  an  die  Hebpunkte  der  breiten  Öffentlichkeit,  nicht  ein- 
tritt in  die  weiteste  Weite  des  öffentlichen  Lebens,  ja  vielleicht, 
einem  Descartes  und  Spinoza  vergleichbar,  sich  davon  zurückzieht 
und  ferohält,  der  scheint  den  Goetheschen  Satz  leicht  umstosseu 
zu  können.  Denn  auf  der  einer»  Seite  wird  es  möglich  sein,  dass 
ein  Plus  von  Persönlichkeit  über  die  Wirksamkeit  überwiegt  und 
nicht  in  sie  eingeht,  Anderei^eits  scheint  die  Wirksamkeit  auch 
ein  Plus   der  Persönlichkeit    gegenüber  erlangen  zu  können.     Di 


1 


1)  Unser  Thema  ist  gewiss  oft  ^enug  in  Gesamtdarstellungen  von 
Kants  Leben  und  Wirken  erörtert  worden.  Und  doch  erscheint  es  nm 
durch  die  besondere  Gelegenheit  als  gerechtfertigt,  ja  als  Pflicht  ehr- 
furch t.s voller  Pietät,  auch  an  dieser  Stelle  das  Andenken  an  die  Persön- 
lichkeit eines  der  Grössten,  die  je  gelebt,  zu  erneuen.  Dieser  Gedanke 
mag  der  vorhegenden  Darstellung  ilir  Daseinsrecht  gehen,  und  manchem 
Leser  mag  sie  vielleicht  gerade  darum  etwas  geben  können,  weil  ihr 
C^egenstand  nicht  einfach  in  die  Gesamtheit  eines  Lebensbildes  ' 
ist,  sondern  selbständig  für  sich  auftritt. 


is  verflochte^H 


Die  Persönlichkeit  Kant«, 


197 


iivaleüz  von  Pers*1nlidikHt  rind  Wirksamkeit  wäre  aber  m 
keinem  der  beiden  Fälle  herg-estellt.  Vniov  die  letzte  Kategorie 
IScheint  der  Mann  der  strengen  Wissenschaft  —  die  erwähnten 
Descartes  nnd  Spinoza  waren  vielleieht  nur  die  eklatantesten  Bei- 
spiele dafür  —  am  ehesten  zu  geh(>ren  ;  ihr  scheint  auch  Kant 
einzuordnen  zu  sein. 

L  Allein  wer  auf  diese  Weise  den  (^oetheschen  Satz  urazu- 
en  gedächte,  würde,  trotz  aller  formalen,  disjunktiven  Richtig- 
keit seiner  Argumentation  den  Dichter  gar  nicht  treffen.  Er 
würde  unter  Persönhchkeit  etwas  anderes  verstehen  wie  jener. 
^A  Das  , Voilà  un  honiiiie*,  das  selbst  dem  thatgewaltigen  Napo- 
Wn  die  Persönlichkeit  Goethes  abnötigte,  bezeichnet  die  Wudit 
des  Eindrucks,  den  der  Dichter  auf  den  Gewaltigen  gemacht  hatte. 
Und  es  ist  bekannt,  wie  sehr  auch  dieser  Gewaltige  mit  seiner 
personlichen  Wucht  auf  den  Dichter  gewirkt  hatte.  Dieses  .Voilà 
un  homme',  das  einem  ganz  impulsiv  der  Eindruck  eines  Menschen 
abnötigen  kann,  bezeichnet  gewiss  die  überragende  Bedeutung  eben 
schon  des  äusseren  Eindrucks,  der  sicherlich  vorzüglich  thatge- 
waltigen,  thathaften  Charakteren  eignet.  Und  die  Persönlichkeit 
Ib  diesem  bereits  sehr  prägnanten  Sinne  hat  der  Einwurf  gegen 
den  Goetheschen  Ausspruch  vor  Augen.  Aber  so  hoch  gerade 
Goethe  auch  die  Personlichki'it  in  diesem  Sinne  schätzte,  so  hat 
doch  sein  hier  in  Rede  stehender  Satz  die  Persönlichkeit  in  einer 
■bz  anderen  Bedeutung  zum  Gegenstände:  Die  einniaUge  und  be- 
sondere, ihrei-selbst  bewusste  Eigenheit,  die  Individ nalität,  die 
ihrcrselbst  inue  wird,  hat  vr  hier  gemeint»  Auch  sie  ist  schon 
^hftchstes  Glück  der  Erdeukhider'*.  Sie  eignet  der  menschlichen 
Gattung  allein.  Nur  eignet  sie  im  Gegensatz  zur  Persönlichkeit 
im  eminenten  Siune  des  Wortes  allen  Ghedern  dieser  Gattung; 
wenngleich  mit  mehr  odei"  minder  scharfer  Prägung  ihrer  Eigcnlieit. 
^B  Die  Persönhchkeit  in  dieser  aüerallgemeinsten  Bedeutiuig 
^M^ert  keineswegs  jenen  s])ezifischen  Eindruck  des  Gewaltigen 
SBirlifiichtvollen  nach  Aussen  hin,  sondern  lässt  für  die  Spezifi- 
kationen der  Individualität  überhaupt  einen  unendüchen  Raum. 
Sie  wird  unter  sich  befassen  Naturen  des  machtvollsten,  wirkungs- 
reiehsten  Eindrucks,  deren  Kraft  in  unendliche  Weiten  reicht; 
Naturen,  deren  blosse  äussere  Erscheinung  auch  schon  ihi^e  innere 
Bedeutsamkeit  zu  diagnostizieren  verstattet;  diese  ebenso,  wie  die 
Rchlichtesten,  äusserlich  und  innerlich  schlichtesten,  Naturelle.  Sie 
aber  auch  unter  sich  belassen  Individualitäten,  deren  innerer 


198  ^^^m  B.  Bauch, 

Reichtum  sich  weder  in  Jie  Weite  und  Breite,  noch  in  die  änssei-e 
Erscheinung,  den  offenbaren  Kindruck  restlos  ergiesst,  deren 
Grösse  still  und  deren  Erhabenheit  Einfalt  ist,  die  erst  auf  dea 
för  Charaktere  geschärftereu  and  dnrcli  Übung  auf  sie  eingestell- 
teren Blick  T^irken,  auf  ilin  aber  wirken,  wie  nach  Winkelniaiui 
die    pîechisehen    Meisterstücke    in    der    Malerei    und    Bildhaui^r- 

knnst.V) 

Alle  diese  Eigenarten  mit  ihren  unendlich  mannigfaltigen 
Zwischenstufen  fallen  unter  den  Begriff  der  Persönlichkeit  in 
diesem  weiten  Sinne.  Und  darum  bewahrheitet  sich  Goethes  Wort 
doch.  Sein  Sinn  ist  kein  anderer  als  der:  Wie  ein  Mensch  auf 
und  für  Menschen  wärkt,  hängt  davon  ab,  was  er  selbst  für  ein 
Mensch  ist.  Hier  ist  das  Wort  „Wirken"  in  ebenso  umfassender 
Bedeutung  gebraucht,  wie  das  Wort  ^Mensch"  oder  vorhin  »,  Per- 
sönlichkeit'', und  besagt  nichts  Anderes,  als  die  ßethätigung  inner- 
halb des  Vernunftreichs  der  Menschheit»  Und  in  diesem  Sinne  gilt 
es  auch  von  Kant. 


i 


^ 


Es  mag  gewiss  richtig  sein,  dass  seine  Eigenart,  sich  nach 
Aussen  hin  nicht  in  jenon  wuchtigen,  niederhaltenden  Eindruck  zu 
erpessen  vermochte,  dass  sie  nicht  die  Prägnanz  eines  Plüs 
gegenüber  ihrem  Wii^ken  besass,  dass  vielmehr  diesem  Wirken  im 
Verhältnis  zur  Persönlichkeit  im  eminenten  Sinne  des  Wort^ 
ein  Phis  zustehen  mag.  AUein  ihre  Besonderheit  ist  —  soweit 
man  eben  überhaupt  bei  der  jeder  Individualität  zustehenden  und 
in  ihrem  Wesen  liegenden  Besonderheit  so  reden  könnte  —  keine 
alltägliche.  Zwar  nicht  jene  wuchtige  Grösse  historischer  Helden^ 
naturen  ist  ihr  eigen.  Edel-einfältig  und  still  ist  ihre  Grösse. 
Aber  Grösse  besitzt  auch  sie,  eminente  Grösse.  Und  in  ihr  bietet 
die  Persönlichkeit  Kants  das  adäquate  Abbild  zu  seiner  Wirksam- 
keit, sodass  wir  in  Wahrheit  sagen  können:  Was  Kant  auf  mis 
gewirkt  hat,  das  wirkt«  er  durch  seine  Persönlichkeit,  weil  er  war, 
der  er  w^ar  und  so  war,  wie  er  war:  Nicht  die  grosse  extensive 
That  charakterisiert,  sein  Wesen  und  Wirken,  sondern  die  stille, 
intensive,  absolut  nachhaltige  Bethätigung.  Kant  hat  nie 
sein  Wirken  in  die  Weite  des  allgemeinen  Lebens  erstreckt  und 
wird  schw^erlich  je   die   Allgemeinheit   der  Menschen    mit    seiner 

1)  Ich  darf  hier  vielleicht  daran  erinnern,  dass  Schiller  einmal  be- 
tont: Das  Genie  habe  ,,mit  der  architektonischen  Schönheit  viele«  ge- 
mein," 


1 


Die  Persönlichkeit  Kant«,  199 

Wirkung  ergreifco,  wie  das  im  Wesen  timtgewaltig'er  Naturell 
liegt,  die  die  Führerstellon  im  Leben  und  ti«scljîck  ganzer  Völker 
und  Nation^u  inne  haben*  Wo  er  aber  mit  seiner  Wirkung  ein- 
sotzt,  da  üborlnetet  er  jene  vielieieht  ebenso  an  Tiefe,  wie  sie 
ihn  an  Weite  der  Wirksandîeit  übertreffen.  Nicht  ganzen  Völkern 
bestimmt  er  dujTb  seine  Füiirerschaft  ihr  Geschick.  Aber  auf 
Einzebie,  Wenige  wirkt  er  bestimmend,  und  diese  Wenigen  bilden 
selbst  eine  von  der  Masse  abseits  stellende^  ihr  in  ihrer  Ali  un- 
endlich überh»gene  Sonderlieit. 
^^  „Edle  Einfalt    und   stille  Grösse"  —  so  ist  sein  Wirken,    so 

^■Mieh  sein  Wesen. 

^P  Dnreh  die  intensive,  in  die  Tiefe  greifimd»'  Wirksamkeit  Kants 
f  haben  wir  auch  bereits  den  allgemeinsten  Zug  seiner  Persöidichkeit 
I  für  die  Charakteristik  gewonnen.  Intensiv  und  tief  wirkend  ist 
alle  Thätigkeit  des  (lenies.  Beim  staatsmauni.scben  und  religiösen 
GteDie  konnnt  dazu  noch  die  extensive  Wirksamkeit,  die  Wirkung 
in  die  Bnnte^  Wo  aber  die  Wirkung  allein  durch  Tiefe  und  In- 
tensitüt  bestimmt  ist,  da  haben  wir  es  entweder  mit  dem  künst- 
lerischen oder  dem  wissenschaftlichen  (irenie  zu  thun.  In  Kunst 
und  Wissenschaft  ist  die  wahre  Wirkung  des  wahren  Genies 
still  und  ruhig.  Das  unterscheidet  es  von  den  blossen  „Talent^ 
niannern"  in  ihren  Bethätigungsgebieten  ebenso,  wie  vou  dem 
wahren  Genie  ausserhalb  dieser  ihrer  Bethätigungsgebiete;  oder 
von  jenen  seltenen  Naturen,  die,  wie  G.  Bruno,  in  ihrem  Wiesen 
einen  Komplex  geiualer  It^igenarteu  —  Bruno  ist  ebenso  wissen- 
scbafUiches  und  künstlerisches,  wie  religiöses  Genie  —  be- 
schliessen. 

8tül  und  ruhig  ist  auch  die  Wirksamkeit  Kants,  und  wie 
»ehr  solche  Wirkungsweise  von  d(^r  praktischen  Seite  des  Menscheu 
bestimmt  wird,  wie  sehr  also  das  Genie  nicht  bloss  eine  intellek- 
tuelle, sondern  eine  sittliche  Bestimmung  ist,  das  zeigt  die  Per- 
sönlichkeit unseres  Philosophen  ganz  evident. 

Der  am  22,  April  1724  als  einfacher  Sattlerssohu  Geborene 
behalt  die  itim  gleichsam  von  iieburt  mitgegebene  Einfachheit  und 
stille  Hcbiichtheit  sein  ganzes  Leben  im  Kern  seines  Wesens  bei. 
Er  war  und  wolllt(%  wie  Kuno  Fischer  mit  treffender  Verstandnis- 
iiiaigkeit  liemerkt»  nie  etwas  Anderes  sein,  als  ein  deutscher  Pro- 
fessor, Es  ist  gewiss  walir:  Kant  besass  auch,  was  mau  welt- 
männische Bildung  neuntp   er  wusste  sicli  in  der  vornehmsten  — 


200 


B.  Bauch, 


im  Siiine:  der  durch  Geburt  aiis;^ezeichnetsteu  —  Gesellschaft,  wie 
Diir  einer  zu  benehmen  uud  zu  bewegen,  er  war  in  dieser  Gesell- 
schaft, eiu  Fiel  begehrter,  gern  gesehener  und  überaus  geschätzter 
Gast.     Es   ist   weiter  wahr^  dass  Kant  vornehme  Gesellschaft  unü 
Stand   nicht  verachtete,  ja  sogar  über  Orden  uud  Titel  nicht  gar 
zu  geringschätzig  dachte  und  alles  dies  in  seiner  sozialen,  allerdings 
nur  zeitlichen  Bedeutung  nicht  verkannte,  wie  es  Gelehrtendünki"! 
leicht   thut.     Dazu   war  Kant  eben   viel  zu  wenig  Gelelirter,  nml 
viel    zu   viel  Weiser*     Aber  eben    darum  hat  er  für  seine  Person  ■ 
auch  weder  hohe  Stellung,  noch  Orden,  noch  Titel   erstrebt.     Ibni 
war    es    genug,    ein    deutscher   Professor    zu    sein.      Die    sozial*^  j 
Stellung  war  ihm  ja  nur  das   Mittel  zu  höherem  Zweck;  die  Posi-B 
tion,  von  der  aus,  das  Medium,  innerhalb  dessen  ein  jeder,  seiuer  " 
Individualität    entsprechend»    am    besten    nntwirken  könnte  an  (kr 
Verwirklichung  des  sittlichen  Endzwecks. 

Der  sittliche  Endzweck  aber  war  der  Leitstern  seines  Lebens. 
Unter  tlieseni  Zeichen  —  wir  haben  nun  den  Zentralpunkt  von 
Kants  Persöuliclikeit  ergriffen,  von  dem  aus  wir  sein  Wesen  bis 
ins  Einzelne  verstehen  können  —  steht  seine  ganze  Lebensfühningt 
und  seinem  Dienste  weiht  er  seine  eigene,  die  seiniT  ludividuaütät 
gemässe  höchste  Lebensaufgabe:  die  menschliche  Erkenntnis  in  ^ 
ihrem  Weile  zu  ergründen  uud  ihren  Wert  zu  begründen.  Es'^ 
hat  wohl  nie  ein  Mensch  gelebt,  der  gerade  dieses  Ziel  mit  solcher 
Schärfe  ins  Auge  gefasst,  und  mit  solcher  Koncentration  aller 
Kräfte  itim  nachgestrebt  hat,  wie  gerade  Kant. 

Das    also   müssen   wir   festhalten:    Sittliches   Ideal    und  Er- 
kenntuisideal  durchdringen  sich  in  Kants  Wesen  so,  dass  zwar  das 
erste    iumier    das    übergeordnete    bleibt,    aber   doch  da.s  zweite  sa — 
innig  iimschliesst  und  in  es  eingeht,  dass  dem  Weisen  die  Erkeuntnii^ 
zur   sittlichen,  ja   religiösen  Lebensaufgabe  selbst  wird,  und  dass 
seine  Sache    auf   beide    Ideale    und    ihre   Durchdringung    zugleick 
ganz    uud    gar   gestellt    wird.     So    vereinigt  sein  Wesen  genialen 
Tiefsinn    und    kritische  Schärfe    mit   der  gewattigen  Schaffenslust 
und  Schaffenskraft    im   Dienste    der  Wahrheit,    dei'   ihm    zugleich 
einen    Dienst    des   sittlichen    Zweckes    bedeutet.     Der    moralische 
Faktor   seiner  Persönlichkeit    ist   von  derselben  Kraft  und  Stärke 
wie  der  intellektuelle,  der  Mensch  verdient  die  gleiche  Bewunderung 
wie  der  Philosoph,     P'ine  gewissenhaftere  Ausnutzung  der  Talente, 
wie    wir    sie   durch  Kaut  vollzogen  sehen,  ist  kaum  denkbar.    Die 
Persönlichkeit   des  Philosophen,    der   den   kategorischen  Imperativ 


É 


Die  Persönlichkeit  Kants.  201 

als  Formel  des  Moralprinzips  aufstellte,  bildet  auch  dessen  Ver- 
körperung im  Leben,  im  Dienste  der  Sache,  die  Kant  zur  Sache 
seines  Lebens  gemacht  hatte.  So  lebte  er  praktisch  seine  Lehre 
Tom  Praktischen. 

Wie  er  seine  Haupt-  und  Lebensaufgabe,  den  Dienst  der 
Wahrheit  und  Erkenntnis  als  einen  sittlichen,  ja  religiösen  Dienst 
fasste,  wie  er  die  Hauptbethätigung  seiner  Kraft  unter  den  Wert- 
gesichtspunkt des  Sittlichen  rückte,  und  als  einen  Dienst  dieser 
letzten  und  höchsten  Bestimmung  des  Menschen  betrachtete,  so 
ordnete  er  auch  alle  übrigen  Angelegenheiten  seines  Lebens,  grosse 
und  kleine,  dem  nach  seiner  Auffassung  höchsten  und  allein  abso- 
luten Zwecke  des  Sittlichen  und  seiner  sittlichen  Berufsaufgabe 
unter. 

Das  Ideal  des  pflichtgetreuen  Lebens  im  Allgemeinen  und  das 
ffir  seine  Individualität  unter  jenes  letzte  und  höchste  Ideal  zu 
liebende  Ideal  der  Wahrheit  und  Erkenntnis  im  Besonderen, 
lern  zu  dienen  er  für  seinen  sittlichen  Beruf  erkannte,  —  sie 
^eide  erklären  und  tragen  das  Leben  unseres  Philosophen  als 
fenschen. 

Im  Hinblick  auf  sie  verstehen  wir  den  ganzen  Plan,  die 
^dnuug,  die  sein  Leben  beherrschen,  wir  verstehen  sein  Leben 
Is  ein  Leben  im  Dienste  des  Zwecks. 

Denn  das  Leben  in  den  Dienst  des  Zweckes  stellen  heisst 
.  an  sich  schon  nichts  Vergebliches,  nichts  Unnötiges  thun  wollen, 
lin  Handeln  planvoll  ordnen  ist  darum  gleichbedeutend  mit  der 
Brfolgnng  des  Wertvollen  und  der  Vermeidung  des  Wertlosen  und 
[iQÜtzen;  einen  Lebensplan  haben  wollen,  gleichbedeutend  also 
it  Nutzung  der  Zeit.  Diese  aber  lässt  sich  voll  und  ganz  nur 
reichen  in  einer  strengen  Durchführung  von  praktischen  Grund- 
tzen,  die  sich  ihrerseits  in  der  Maxime  planvoller  Zeitanweudung 
reinigen.  In  dem  ,carpe  diera*  müssen  also  als  in  einer  Art 
m  oberer  Maxime  eine  Reihe  einzelner  besonderer  Maximen  zu- 
mmenfliessen,  die  alle,  ebenso  wie  jener  obere  Grundsatz,  selbst 
ren  letzten  Ursprung  haben  in  dem  obersten  und  höchsten  Grund- 
.tz,  der  Selbstbestimmung  durch  das  Sittengesetz  und  seiner  Ver- 
nigong  mit  dem  Erkenntnisideal  als  der  sittlichen  Benifsbe- 
immung  Kants.  Ethisches  Ideal  und  Erkenntuisideal  machen  also 
Ewh  Kant  und  für  seine  Persönlichkeit  eine  Reihe  von  Einzel- 
rundsätzen notwendig,  und  wie  allgemein  logisch,  so  bedingen  sie 


2(12 


B.  Bauchf 


aurh  insbesoüdere  für  die  Itidividiialität  Katits  als  einen  zwische 
iliiieii  und  deu  besonderen  Grundsätzen  vermittelnden  Grundsatz  i 
Maxime:  benutze  die  Zeit.  In  der  That  erreichte  Kant,  vorlän 
noch  ahj^esehen  von  allem  Erspnessliclien  oder  UnerspriesslieheD  ii^ 
Einzelnen  des  Inhaltes  seiner  besonderen  Maîduien  durch 
grundsätzliches  Handehi  überhanpt,  eine  absolut«  Herrschaft  üb 
die  Zeit.  Wenn  wir  nns  sein  Tagewerk  ansehen,  so  müssen 
wahrhaftig  sagen:  es  ist  geordnet  nach  der  rhi%  Bestiramt  ist 
die  Stunde  des  Aufstehens  am  Morgen,  bestimmt  nicht  blos  die 
Zeit  seiner  Vorlesunpreu,  sondern  auch  seiner  Vorbereituugszeit 
die^e;  bestimmt  die  Zeit  der  Arbeit  an  seinen  epochemachende 
Werken,  die  Zeit  des  Mahles,  der  Ruhe  und  Erholung  in  aüg 
nehmer  Gesellschaft,  die  Stunde  des  Spazierganges,  seiner  nihigeo, 
ohne  Aufzeichnung  gehaltenen  Meditation,  seiner  Lektüre  und  de 
Schlafes.  So  musste  Kaut  mit  der  Zeit  umgehen,  um  der  Phibsoph 
der  philosophische  Schriftsteller  zu  werden,  der  die  copernicaoisch 
Umwälzung  im  philosophischen  Denken  hervorbringen  könnt« 
hinter  die  zurück  alle  kommende  Philosophie  wird  ebensowenig 
gehen  können,  wie  die  Astronomie  auf  den  vorcopemica- 
Mischen  Standpunkt  T^-ird  zoruckschreiten  können.  So  musst« 
schliesslich  auch  der  akademische  Lehrer  sein  und  leben,  derohce 
alle  Rhetorik,  die  kleinsten  rednerischen  Kuustmittel»  die  Paiadoxe 
ebenso  wie  den  Witz  vermeidend,  allein  durch  die  Sache  wirkt«? 
und  doch  einer  der  gefeiertsten  Lehrer  war,  die  je  auf  dem 
Katheder  unserer  Hochschulen  gestanden  haben.  Die  philosophische 
Schriftstellerthätigkeit  und  das  akademische  Lehramt  aber  erfüllten 
den  sittlichen  Beruf  des  Menschen«  erfüllten  sein  Wesen  und 
Wirken. 

Wie  dieses  sein  berufliches  Wirken  dnrch  und  durch  bestimmt 
ist  und  getragen  von  seinen  Idealen,  so  bestinimen  und  bedingmi 
diese  mch  dnrchalts  sein  attsserl»erufliches  Sein  und  Sich-Haben 
m  seineo  besood^nen  Maximen:  Sein  oberer  unter  den  besonderen 
Gnmdsâueo,  den  allein  vnr  bishejr  beUachlet  haben,  und  den  wir 
kxn  in  die  Worte  fassten  .carpe  diem',  der  die  zweckvoUe  Be- 
anixung  der  Zeit,  die  Vermeidung  aUes  Unnützen  und  Yergeb- 
lichm  £um  Inhall  hatte^  involvierte  aber  für  ihn  eine  doppelle 
Pfltehi:  einmal«  wie  wir  sdiea  gos^hm  hâbea,  seine  eigene  Zeit 
md  nilabar  «nniwenden.  daaa  aber  anch  gegen  den 
Dieseni  die  nutabare  Anweadia;  der  Zeit  nicht  zu  er- 
Sek vereu»  die  auch  filr  ihn  Pflichl  ist  ;  seine  Zeil  m  «rMPM^^,  ihn 


Die  Persönlichkeit  Kant«. 


203 


reder    unutitz    zu   störeu,  noch  ihn  zu  uötigeü,  seine  Zeit  leer  zu 
m.     Piiüklliebkeit   iiud   absulutt!  persöolklie  Zuverlässigkeit  iü 

len  Diogeu^    im    Kleinen    wie    im  Grossen,    sind    darum    hervor- 

chende  Charakteristika  Kauts.    Er  belraditete  ja  uieht  hlos  sich 

einen    Diener   des    sittlictieu  Eudzwei-ks,    soudern    auch    den 

Nächsten,  da  er  die  Menschenwürde  überhaupt  in  tier  sittlichen 
Bestimmuug  einer  jeden  Persönlichkeit  erkannte.  Wa8  er  darum 
aber  als  seiue  Pflicht  gegeuüber  dem  Nächsten  ansah,  von  dem 
war  er  wenigstens  nach  der  hier  in  Rede  steheuden  Rücksicht  hin 
iBUch  überzeugt,  dass  es  der  Nächste  ihm  selbst  gegenüber  als 
Pflicht  zu  respektieren  hätte.  So  verlangte  er  die  selbst  so  pein- 
lich beobachtete  Pünktlichkeit  und  Zuverlässigkeit  auch  vom 
Anderen. 

Einer  der  ersten  Biographen  Kants,  Borowski,  berichtet  davon 
ein  kleines  ebenso  bezeichnendes,  wie  ergötzliches,  übrigens  auch 
recht  bekannt  gewordenes  Geschichtchen:  Kant  hat  eine  Verabredung 
mit  einem  Studenten.  Dieser  verspricht,  sich  zu  einer  festgesetzten 
Zeit  bei  dem  Philosophen  einzufindeu,  bleibt  aber  unentschuldigt 
aus.  Als  darauf  der  Student  bei  einer  öffentlichen  Disput4ition 
die  Rolle  eines  Opponenten  übernehmen  will,  weist  Kant  sein  An- 
suchen ab,  mit  der  Begründung;  „Sie  möchten  doch  wohl  nicht 
Wort  halten,  sich  nicht  zur  Disputation  einfinden  und  dann  alles 
jrerderben/' 


^ 


Pünktlichkeit  und  Zuverlässigkeit  sind  also  die  treibenden 
Faktoren  zur  planvollen  Anwendung  der  Zeit,  die  selbst  eine  Be- 
ßtlniniung  der  höchsten  sittlichen  Zwecke  der  Kantischen  Persön- 
lichkeit ist.  Nun  sind,  wie  bereits  bemerkt,  nach  Kants  Lebens- 
auffassung, wonach  das  Leben  nur  einen  Dienst  für  höhere  sitt^ 
liehe  Zwecke  bedeutet,  eben  zu  deren  Erreichung  auch  besondere 
ürundsätze  nötig.  Denn  die  allgemeine  Regel-  und  Gesetzmässig- 
keit der  Lebensführung  lässt  sich,  wie  ebenfalls  betont,  praktisch 
mir  diUThfuhren  vermittels  besoiulerer  Maximen.  Und  der  Grund- 
satz, den  Kant  in  der  Ausnützung  der  Zeit  bethätigte,  bildet  Ja 
hur  den  vermittelnden  Übergang  von  den  allgemeinsten  Idealbe- 
Utimmnugen,  wie  sie  das  Sittengesetz  im  Allgenieinen  und  das 
Erkenntnisideal  für  die  persönliche  sittliche  Berufsbestimninng 
Kants  enthielt,  zu  eben  diesen  besonderen  noch  konkreteren 
Grundsätzen.  Sie  finden  wir  darum  auch  bei  Kant  bis  in  die  ein- 
zelnsten Einzelheiten  seiner  individuellen  Verhältnisse  durchgebildet' 


204  B.  Bauch, 

Nach  praktischen  Grundsätzen  nmsste  alles  in  seinem  Leben  ge- 
rogelt sein  ;  nicht  nur,  wie  bereits  erwähnt,  seine  hochbedeutsamen 
Berufsarbeiten,  nicht  nur  seine  alltägliche  Lebenseinrichtung.  Sie 
erstreckten  sich  sogar  bis  in  die  Gesundheitspflege,  die  Kant,  wie 
sein  Aufsatz  „über  die  Macht  des  Gemütes,  durch  den  blossen 
Vorsatz  seiner  krankhaften  Zustände  Meister  zu  sein""  zeigt,  als 
sein  eigener  Arzt  besorgte,  indem  er  kein  anderes  Heilmittel  an- 
wandte, als  seine  Willenskraft,  den  „blossen  Vorsatz".  Ja  bis  in 
die  einfachsten  Angelegenheiten  des  Haushaltes  wirkte  die  Be- 
stimmung seiner  praktischen  Grundsätze. 

Je  weiter  wir  sie  nun  ins  Individuelle  verfolgen,  desto  deut- 
licher zeigen  sie  uns  freilich  den  Menschen  Kant  von  zwei  Seiten. 
Einerseits  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  seine  Lebensführung  durch 
sie  einen  Stich  ins  Pedantische  erhielt.  Wenn  wir  sehen,  wie  der 
Weise  gleich  die  Maxime  fasst,  niemals  mehr  in  seinem  Leben 
einen  Wagen  zu  besteigen,  über  den  er  nicht  allein  frei  verfügen 
kann,  bloss  weil  er  einmal  durch  die  Annahme  einer  fremden  Ein- 
ladung zur  Wagenfahrt  seine  Heimkehr  über  die  gewohnte  Stunde 
hinaus  verzögert  hat,  »)  oder  wenn  er  sich  zum  Grundsatze  macht, 
„Lampe  niuss  vergessen  werden",  weil  er  seinen  Diener  Lampe, 
den  er  länger  als  dreissig  Jahre  bei  sich  gehabt,  wegen  der  gröb- 
sten Vergehungon  hat  entlassen  müssen,  sich  aber  infolge  der  Ge- 
wöhnung schwer  von  ihm  trennen  kann,  —  wenn  wir  das  sehen, 
so  muten  uns  solche  allzumenschliche  Züge  zwar  ganz  ergötzlich, 
aber  doch  auch  kleinlich  an.  Auf  der  anderen  Seite  jedoch  zeigen 
uns  die  Maximen  den  Menschen  in  einer  geradezu  vorbildlichen 
Art.  Es  ist  genugsam  bekannt,  wie  sehr  er  aus  reiner  lauterster 
Wahrheitsliebe  die  Tiüge,  selbst  die  Notlüge  verwarf,  wie  sehr  er 
grundsatzlich  (-îenK'htinfkeit  übte,  wie  bereitwillig  er,  aus  Grund- 
satz, würdigiMi,  der  Unterstützung  bedürftigen  Menschen  hilfreich 
zur  Seit(»  stand.  S(ûnp  ersten,  ihm  selbst  noch  befreundeten 
Biographen,  Rorowski,  Wasianski,  Jachraann  geben  davon  rührend 
Zeugnis. 

Gegen  dieses  maximcMihafte  Handeln  mag  sich  genug  ein- 
wenden lassen:  Es  mag  dagegen  zu  bedenken  sein,  wie  wenig  es 
den  unl)er<»chenbaren,  absolut  individuellen  Situationen  des  Lebens 
gerecht  zu  werden  vermag,  in  denen  die  beste  Entscheidung  doch 

M  Zuerst  von  .iHclimann  berichtet,  daiin  in  mannigfache  Darstel- 
lungen von  Kants  Leben  und  Philosophie  übergegangen. 


Die  Persi^nliclikeit  Kant«.  205 

Bm  momeutaneû»   sittlichen   Impuls   überlassen  bleiben  muss;    es 

zu    erwägen  sein^    wie  sehr  es  überhaupt  das  ursprüngliche, 

îipulsÎTe  Leben  unterbiiideu  niuss;   ja  endlich»  wie  es  gerade  ans 

ritischer  Rücksicht  jeder  Verallgeiiieinenuig  unfähig  ist,  und  wie 

Kant,    bei   dem    Wunsche    nach    Verallgemeinerung    hätte    wenig 

^Rücksicht    nehmen    können   auf  sein  kritisches  Prinzip  und  wie  er 

1  dessen  formale  Bedentnng  hätte  einfach  durchbrechen  müssen  —  er  für 

[seine  sittliche  Person  bleibt  davon  unberührt.  Praktiscli,  sittlich 

fei  er   seinem  Prinzip    ebenso  sehr  gerecht  geworden»    wie  wetiig 

er  auch  der  Formel   dieses  Prinzips  theoretisch  entsprochen  hätte. 

Ihn  bat   eben  nur  eines  geleitet:    eine  edle,    erhabene  Gesinnung, 

mid  auch    die    oft  vielleicht   schnillenhaften  Maximen  flössen  aus 

ihr  nicht    minder   wie    seine    schönsten    nnd  vorhikllichsten  Züge. 

Sein  sittliches  Wesen    steht  rein  und  gross  und  erhaben  vor  uns. 

Heiligkeit  ist  dem  Menschen,  nach  des  Philosophen  eigener  Lehre, 

yersagt      Das    Höchste,    was    er   danach    erreichen  kann,    ist  ein 

*:utPr  Lebenswandel,    ein  makelloses  Erdenleben.     Dieses  Höchste» 

was  der  Philosoph  lehrte,  liat  er  erreicht,  iüdem  er  es  lebte. 

Wir  können  uiclit  alle  alles.  Es  wurde  bereits  vorhin  darauf 
hingewiesen,  wie  ein  durchgängig  maxim  en  haft  bestinnntes  Leben 
der  impulsiven  Urspriinglichkeit  keinen  Raum  geben  könne.  Das 
heisst:  Die  rein-gemütliche  Seite  des  Menschen  umss  durch  die 
st^tig^eReflektiertheit  des  Handeins  beschränkt  und  beengt  werden, 
und  Kant  selbst  bat  das  an  seinen)  eigenen  Wesen  erfahren 
'ttiissen.  Das  üebot  der  praktischen  Vernunft  ward,  ohne  dass 
dies  in  der  Konsequenz  seiner  Ethik  lag,  dunii  die  persönliche 
^Waxifuisierungssucht  einseitig  überspannt  nnd  zu  denî  gemacht» 
^^  wir  im  gemeinen  Leben  vemunftmässig  im  Sinne  von  ver- 
*^Unr}esmässig  nennen.  Kaut  selbst  Hess  so  eine  Seite  seines 
^^'Sens,  die  des  rein-Gemtitlichpn,  schon  für  seine  Person  nicht 
*'îiîï  v'ölligen  Ausleben,  zu  vollkommener  Kiit Wickelung  gelangen, 
^iiti  ebeu  danmi  versperrte  er  sich  sogar  das  VerstJindnis  für  die 
^"?f*/rioiiie,  Bedeutung  dieser  uienschlichen  Ijebensäusserung.  In 
^J^iïi  ßestreben,  am  sittlichen  Werte  alles  zu  messen,  alles  sogar 
'"  ei£ie?ïii  stark  rationalistischen  Bedürfnis  zu  nuiximisieren,  ver- 
*%/^o  ^î*  einerseits,  dass  es  nocb  neue  \Verte  ontologischer  Natur 
^H  0fi^t>4l ecken  galt,  dass  also  im  sittlichen  Werte,  trotzdem  sie 
^//e^J^^^^^^^ine  Ausstrahlungen  sind,  nicht  alle  Werte  beschlossen 
-%^'ûraiif     ihn   schon    sein  eigenes  Erkenntnisideal  hätte  hin- 


S06 


B.  Bau  ell. 


weisen  konoen;  andererseits,  dass  manches  gerade  erst  dann  aaeh 
sittliche  Kraft  und  sittlichen  Wert  erlangen  kannte,  wenn  die 
maximisierende  l'berspannnng  des  Vernünftigen  zum  Verständigeü 
—  and  diese  (Tïerspiannung  Ih^  in  der  Konsequenz  der  allgremeioeD 
Maximisierungsteodenz,  ja  deckt  sieb  mit  ihr  sogar  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  —  davon  ferngehalten  würde.  Es  gilt  dies  von 
allen  Gefühls-  nnd  Gemütswerten.  Sie  mussten,  mitsamt  dem  Ver- 
ständnis für  sie,  in  Kant  bis  zu  einem  gewissen  Grade  infolge  é 
Umbiegung  des  Vernünftigen  zum  VerstÄndigen  hintangehaltenj 
ja  unterdrückt  werden.  Dass  es  ein  charakterlogiseher  VVertmitei 
schied  von  eminentester  Bedeutung  ist,  ob  einer  seine  von  d< 
sittlichen  Bemfspflichten  freie  Zeit  dem  Genuss  von  Kunstwerkea 
widmet,  oder  sie  beim  harmlosen  Dämmerschoppen  zubringt  — 
beides  eventuell  sittlich  ganz  gleichwertige,  d.  h.  irrelevante,  ii 
différente  Handlungen  —  diese  Überzeugung  konnte  sich  in  Einl 
bei  seiner  einseitigen  Betonung  des  Ethischen,  jedenfalls  nicht  zu 
genügender  Starke  und  Klarheit  durcJiringen,  Ebenso  musste  ihffl 
mancher  sittliche  Wert  des  Gefühlslebens  verborgen  bleiben,  gerade 
weil  er,  nach  Sokratischera  Vorgang,  dem  Sittlichen  —  nicht  in 
setner  Ethik,  aber  für  seine  Person!  —  die  Bedeutung  des  Tei 
sUlndigen  vindizierte.  Und  wie  es  in  ihrem  Plane  lag,  rausst€tt' 
die  Maxinjen  auch  in  die^r  Weise  auf  Kant  menschlich  zurück- 
wirken, Kants  Ehelosigkeit  und  seine  ganze  Stellung  zur  Ehe 
überhaupt  wird  uns  auf  diese  Weise  durchaus  verstandlich.  E&. 
ist  ge\iiss  zuzugeben,  was  Kuno  Fischer')  in  seinem  mit  Künstlei 
hand  gezeichneten  Lebensbilde  unseres  Philosophen  sagt:  dass  die 
Ehe  in  Kants  gleichförmigen  Plan  sich  nicht  harmonisch  eingefiigkj 
hatte.  Wir  selbst  haben  auf  die  strenge,  zu  dem  höheren  ZwecWfl 
seinen  idoalen  Aufgaben  zu  dienen,  unternommene  Zeiteinteilung 
und  Zeitausnutzung  zur  Genüge  hingewie^ien,  wir  verstehen  sei 
wohl,  Tiiie  sie  durch  die  Ehe  mannigfach  durchbrochen  word 
Wftre«  wie  die  Ehe  der  ganzen  Richtung  der  Kantischen  Lebens- 
fühnuig  zuwider  und  liinderlich  gewesen  wäre»  Es  ist  femer  zu- 
zugeben, dass  Kantiî  Hagestolzentuni  sein  Unverständnis  für  die 
Ehe  verschuldet  hat.  Aber  ebenso  gewiss  ist  der  Gegensatz 
richtig,  dass  Kants  Mangel  an  Vexst&ndnis  für  „die  Tiefe  dieser 
Leheusgemeinschaft  •  sein  Hageslolzentum  mit  verschuldet  hat. 
Beide  bedingen  sich  wechselseitig,  Dass  Kant  aber  die  Ehe  nur 
Kant 


*)  Immanuel 
114  u.  115. 


und  seine  Lehre.    Heidelberg  1898. 


Die  Persönlicbkeit  Kants. 


207 


m  Begriff  des  bürgerli<^hen  Reditsveitrages  unterzuordöeii  wusste, 
lediglich  aus  ökonomischen  Gründen  für  beg:ehrenswert  ansehen 
ite.  kurz  überhaupt  nur  die  ,,Vet'nunfteliè*'  kannte,  das  geht 
tiefer.  Das  weist  zurück  auf  dit*  durch  seiti  Muximisiereii 
eriolg:te  Unterdrückung  der  tjefühlswerte  und  die  auf  deren  Kosten 
begÜQStJgte  Verstau (lesniässigkeit  im  Wesen  Kants. 

Es  wäre  natürhi  h  grundfalsch,  nun  in  Kant  etwa  das  sehen 
m  wollen,  was  man  einen  gefühllosen  Menschen  nenul.  Wie  ge- 
fuhlstief  er  von  Natur  veranlagt,  war,  das  hat  sieb,  nach  dem 
Zenguis  seiner  Freunde,  oft  genug  in  seinen  Vorlesungen  an  den 
Tag  gerungen;  wohl  am  besten  zeigen  es  seine  Freundschaften 
Beltet,  die  er  herzlich  und  innig  hegte.  Aber  gerade  an  ihnen 
wird  auch  wieder  klar,  wir  sehr  er  die  imtuïiiche  (Tcfühlsanlage 
»liircli  die  Kunst  der  Maxime  in  Schranken  zu  s|ierren  bemüht  war. 
In  rührend  hei"zlicher  Weise  erkundigt  er  sich  tagtäglich  während 
lier  Krankheit  eines  F>eundes  nach  dessen  Befinden,  Sobald  er 
aber  verschieden  ist.  darf  mit  seinem  Andenken  auch  nicht  mehr 
tlL^r  Schmerz  erneuert  werden.  Also  nicht  an  Gefühl  und  der  ge- 
mütlichen Seite  überhaupt  fehlt  es  Kant,  sondern  nur  an  der  im 
Verhältnis  zur  intelh^ktuellcn  Eigenart  harmonischen  Eiilfaltung, 
da  er  sie  nicht,  wie  diese  —  was  wir  von  vornherein  bemerkten  — 
sich  auswirken  und  mit  ihr  gleichen  Schritt  lialten  lässt,  sondern 
zu  deren  Gunsten  tuaxiniisierend  niederhält. 

Hier  sind  wh*  auf  einen  Zug  im  Wesen  des  Philosophen  ge- 
stossen,  der  zu  einem  lange  gehegten  Missvei-ständnis  seiner  Lehre 
Veranlassung  gegeben  hat,  Kant  hat  wohl  in  seinem  Leben  oft 
genug  empfunden,  wie  sehr  ilm  gemütliche  Neigungen  von  seinen 
Maximen  abzugehen  versucht  haben.  Fast  macht  er  es  sich  zur 
Maxime,  sich  allein  von  Maximen  und  so  wenig  wie  möglich  von 
iKeignngen  bestimmen  zu  lassen,  Neigungen  geraten  aber  nicht 
tloss  in  Widersprach  mit  persönlichen  Maximen,  sondern  nit^bt 
feiten  auch  in  etwelche,  manchmal  conträre  Beziehung  zur  Pfliclit, 
^mm  objektiven  Gebote.  Der  Philosoph  muss  dies  Verhältnis  in 
der  Ethik  scharf  und  genau  i^rüfen  untl  herausarheiten.  Dass  er 
persönlich  im  Leben  in  ziendich  rigoroser  Art  die  Neigungen  zu 
Gonsten  der  Maxiiaen  beschränkt,  ist  keine  Frage.  Deutlich  geimg 
jhaben  wir  es  gesehen,  Unwillkürlich  klingen  aber  hie  und  da  auch 
»einer  Ethik,  deren  prinzipieller  Gruudton  absolut  nicht  rigoristisch 
immt  ist,  persönliche  Obertöne  rigoristischer  Htimmung  mit, 
ie  Logik   des  Sittengesetzes   erfordert   ohnehin,    dass  der  Pflicht 


208 


B.  Bauch, 


der  Vorzug  vor  der  Neigung»  sofern  beide  roUidiereD,  gegeben 
wird,  was  au  sich  jederuiaon  als  richtig  einleuchtet.  Aber  flags 
wird  für  viele  luterpreteu  nun  Kauts  Ethik  selbst  rigoristiscj], 
willirend  der  Rigorismus  doch  lediglich  ein  pei-sonlicher,  weûfi 
auch  stai'k  eut\iickeU«r  Zug  des  Menseheu  Kant  ist.  Es  vvini 
behauptet,  jede  Handlung  aus  Neigung,  alles  Streben  niic-h  <^' 
si'ligkeit  habe  Kaut  für  verwerflich  in  seiner  Ethik  erk..::, 
während  er  doch  beides  nur  der  sittlichen  Bestiniuiung  und  zwar 
mit  absoluter  logischer  Notwendigkeit  untergeordnet  hat  Wir 
gering  Kant  allerdings  den  Glückseligkeitswert  auch  als  ^k'li*^ii 
nicht  blos  gegenüber  dem  sittlichen  Werte  bemass,  wie  ireffeu<J 
er  die  ganze  Schwäche  und  Haltlosigkeit  des  Eudainionismus  gerade 
durch  die  Aufdeckung  seines  logischen  Widersiuues  und  des  meusi 
liehen  Uuveriuögeus,  das  endamonistische  Ziel  zu  erreichen,  an 
Tag  gebracht  bat,  das  wissen  wir.  Wenn  man  Kaut  daram  eil 
Pessimisten  nennen  will,  weil  »'r  erkannte,  auf  welch  haltloi 
saudigen  Grunde  alle  Sucht  nach  Glückseligkeit  basiert  ist^ 
weitai»  sie  von  ihrem  erstrebten  Zieh?  bleibt  und  mit  logisc 
Konsequenz  bleiljen  niuss,  so  läüst  sich  gegen  die  Bezeichnung  ni^ 
einw*'udeu.  Allein  es  lässt  sich  eben  auch  uui"  solange  nichts 
gegen  eiuweudeu»  wie  man  sich  der  von  vornherein  gemachten  Ei 
schränkung  auf  oint^  besondere  Spezifikation  des  Begriffs  „Ve^^i- 
niistuus''  bewusst  bleibt.  In  der  Einschränkung,  wie  sie  R  von 
Hartmann  statuiert,  dass  Kant  «^irdischer  eudämouologischer  Pe&^i• 
mist  sei/' ^)  wird  man  es  gelten  lassen  können;  aber  zugleich  aüct 
jedeu  Gedanken  an  einen  ethischen  oder  metaphysisclien  Pessij 
mus»  nach  Art  Schopenhauers  etwa,  fernhalten  müssen. 

Dieser  „eudauionologiscbe  Pessiiuismus**  ist  übrigens  auch 
sich  schon  ein  Beweis  dafür»  wie  wenig  Kants  Persünlichkeit  die 
Gefülilsaulage   gefehlt   hat,    und    dass   sie    nur   durch  seiue  pi 
tische  hUelh'ktualität  in  allzuengeu  Schranken  gehalten  war. 

iJass  aus  solcher  Charakter ologiscb er  Konstitution  Stimmaugeu 
füessen  können,  die  der  Mclancholin  ahnlich  seheu,  ist  sehr  be- 
greiflich. In  gewisser  Abliängigkeit  von  Platon  sieht  schon  Arist«> 
teles,  der  wohl  gerade  in  dieser  Konstitution  die  Konstitution  des 
Genies    erkannt   zu   liaben  glaubt^^,    in  der  Mi4ancholie,    wie  nach 


die    , 


1)  Kantstudien  V.  S.  21  ff.    vergl.    aucli   die    hier   zitierten  Schriften 
„Zur   Gesch.    u.   Begr.  tL  Pes»,  1.  Aufl.  S.  26  f.  u.  ±  Auf],  8   IHTi  f   u. 
Fragen  der  Gegenwart  8.113  ff,** 


Immanuel  Kant. 
Original  im  Städtischen  Museum  in  KiViiigsber^. 


Ult  C^Drhmliraüff  tob  J.  J    Wtb«r  in  Lfttpxlf. 


KitntetndleD  Bd.  IX, 


1 


210  B.  Bauch,  Die  Penönlichkeit  Kant». 

Die  Gesamtheit  seines  Wesens,  die  Totalität  seiner  Persön- 
lichkeit mag  ihre  Schranken  haben,  —  ebendarum  ist  sie  Persön- 
lichkeit, —  so  hat  sie  doch  die  Besonderheit  ihres  Wesens  zur 
Einheit  entwickelt,  zu  gleicher  Vorbildlichkeit  gestaltet  die  Er- 
habenheit des  Geistes  und  die  Erhabenheit  ihrer  sittlichen  Eigen- 
art. Und  ebendarum  ist  die  Persönlichkeit  Kants  doch  eine  Per- 
sönlichkeit im  eminenten  Sinne  des  Wortes;  für  jeden,  der  sie 
versteht 


K^ants  Bedeutung  für  die  Pädagogik  der  Gegenwart. 

Zum  Streite  Natorps  mit  den  Herbartianern. 
Von  F.  Staudinger  in  Dannstadt. 


Wenn  wir  über  Kants  Bedeutung  für  die  Pädagogik  der 
Gegenwart  reden,  so  werden  wir  selbstverständlich  nicht  viel  über 
die  Bedeutung  von  Kants  Pädagogik  zu  reden  haben.  Denn  diese 
Disziplin  ist  bei  Kant  nicht  ausgebildet  worden.  Sein  Büchlein 
über  Pädagogik  enthält  Abrisse,  Schemata  und  Einzelbemerkungen 
zum  Behuf  pädagogischer  Vorlesungen,  aber  keine  systematische 
Durcharbeitung  aus  dem  Grundgedanken  seines  Systems  heraus. 

Bei  der  Pädagogik  sollte  man  zwei  Dinge  scharf  auseinander 
halten,  das  Erziehungsziel  und  die  Erziehungsart,  d.  h.  die 
»Summe  der  Mittel,  dadurch  man  sich  diesem  Ziele  annähert.  Es 
ist  offenbar,  dass  die  letzte  in  sehr  hohem  Masse  durch  die  erste 
bedingt  ist,  in  so  hohem  Grade,  dass  die  Erziehungsmethoden  viel- 
fach geradezu  entgegengesetzt  werden  müssen,  je  nachdem  man 
z.  B.  ein  in  bestimmten  Fertigkeiten  geübtes,  fremdem  Wollen  dienst^ 
willig  fügsames  Wesen  abrichten,  oder  eine  zu  mannigfaltiger  Thätig- 
keit  befähigte,  vernünftig  sich  selbst  bestimmende  Persönlichkeit 
erziehen  wül.  Zu  ersterem  ist,  wie  Kant  sagt,  Dressur,  zum 
anderen  Disziplinierung,  Kultivierung  (Belehrung  und  Unterweisung), 
Zivilisierung  und  vor  allem  Moralisierung  nötig.  Die  letztere 
muss  „gründen  auf  Maximen,  nicht  auf  Disziplin^. 

Dass  dies  letzte  Erziehungsziel  richtig  sei,  ist  für  Kant 
selbstverständlich.  „Kinder  sollen  nicht  dem  gegenwärtigen,  son- 
dern dem  künftig  möglich  besseren  Zustande  des  menschlichen  Ge- 
schlechts, das  ist:  der  Idee  der  Menschheit  und  deren  ganzer  Be- 
stimmung angemessen  erzogen  werden.  Dies  Prinzip  ist  von 
grosser  Wichtigkeit.  Eltern  erziehen  gemeiniglich  ihre  Kinder  nur 
so,   dass   sie  in   die   gegenwärtige   Welt,   sei   sie   auch  verderbt, 

14* 


212 


F.  Standinger, 


P 


passen.  Sie  sollten  sie  aber  besser  erziehen,  damit  ein  zukünf- 
tiger besserer  Zustand  dadurch  hervorgebracht  werde."  ^VVir 
leben*'  eben,  so  sagt  er  etwas  später,  Jm  Zeitpunkte  der  Dis/J- 
plinierung,  Kultur  und  Ziviüsiening,  aber  noch  lange  nîtîht  in  dem 
Zeitpunkt  der  MoraLisiernug."  Aber  „wie  kann  mau  Menschen 
glücklich  macheu,  wenn  man  sie  nicht  sittlich  und  weise  macht  V***) 

Man  könnte  hier  freilich  vorlaut  genug  sein,  zu  fragen, 
wer  denn  die  Erzieher  dazu  erziehen  könne,  dass  sie 
solches  Ziel  wollen  und  die  Mittel  dazu  zu  erkeuneu  und 
anzuwenden  yermögen?  Diese  PYage  aber  wollen  wir  nicht 
ansclmeiden.  Im  übrigen  ist  das  Ziel  durch  Kants  Fest- 
stellung wenigstens  im  allgemeinen  gegeben.  Es  handelte 
sich  nur  noch  darum,  es  genauer  zu  bestimmen  und  dessen 
objektive  theoretische  wie  praktische  Bedingungen  zu  er- 
forschen* Davon  redet  nun  freilich  Kant  in  seinem  Vorlesung**- 
hefte  nicht;  diese  Arbeit  hat  er  in  seinen  drei  grossen  Kritikan 
geleistet,  soweit  er  sie  für  seiue  Zeit  leisten  konnte.  In  jenem 
Werkchen  ist  bloss  von  der  Eraehungsart,  der  physischen,  wie 
der  praktischen  die  Bede. 

Auf  diese  Erziehungsart   legt  denn  auch  die  folgende  Päda- 
gogik   das    Hauptgewicht.      Freilich    der  Erziehungszweck    wurdi^ 
von  Kautiî    Nachfolgern    mehr    oder    weniger  im  Sinne  Kants   ge- 
fasst,    als    wäre    das    selbstverständlich.     Sehr    schön    formuliert 
z*  B.  Stephens  :    „Behandle    deinen  Zögling  als  ein  freies  Weseu, 
welches   seinen    Willen    nach    den  Vorschriften    der  Vernunft   ge- 
brauchen   lernen    soll."-)     Diesen    Gedanken    vertritt    denn   auch* 
dem  Worte  nach  diejenige  Pädagogik,  die  auf  Kant  fussend  heut« 
am  meisten  Bedeutung  und  Einfluss  gewonnen  hat,  die  Pädagogik 
Johann    Friedrich    Herbarts.      Er   vertritt  schembai^  ebenso  ent- 
schieden   als  Kant    die   sittliche  Autonomie    und  verw^irft  alle  die- 
jenige Erziehung,    die    ihi-eu  letzten  Zweck  ausserhalb  des  Indiri- 
duums  steckt,  und   ihn  gewissen  anderen  Zielen,  z*  B.  Glücksehg- 
keit,  Nutzen,    Familie,    Staat,   Kirche   unterordnet*     Aber  die^e 
Nachfolge  Kants   ist  denn  doch  nicht  so  sehr,    wie  Herbait  selbst 
glaubt,    wirklich    dem    angeführten   Prinzip   gemäss.     Es  befinden 
sich  ganz    wesentliche  Elemente   in  ihr,  die  diesen  Grundsatz  ver- 
dimkeln    und   trüben.      Und  ihnen   gegenüber   ist   es    am  Platzej 


1)  Alis  Kants  Pädagogik. 

»>  Nach  Sclimidts  Gesch.  d,  Pädagogik.    2.  Auü.    IV,  860, 


Kants  Bedeutung  für  die  Pädagogik  der  Gegenwart. 


213 


2ts  wahre  ivtid  echte  Oniudgedatilteu  hervorzuheben  uod  diesen 
Trübimgen  gegenüberzustellen.  Diese  Trübung-en  sind  freilich 
nicht  bloss  in  Ht-rbarts  Päd^igogik  vorhanden.  Im  Gegenteil,  diese 
ist  relativ  vielleiclit  vollkommener  als  die  meisten  anderen.  Aber 
gexade  darum,  weil  sie  deo  Anspruch  macht,  Kants  Frei- 
heitjslehre  weiter  zu  entwickeln,  weil  sie  also  massgebende  Ver- 
treterin der  Erziehung  zur  sittlichen  Autonomie  zu  sein  bean- 
sprucht, ist  es  notwendig,  zu  zeigen,  dass  sie  nicht  leisten  kann, 
was  sie  leisten  müsste.  Gewiss  hat  Herbart  ebenso,  wie  Kant,  den 
guten  Willen,  gegen  jede  Hetm'onomie  Front  zu  machen.  Der  er- 
folgreiche Kaiiïpf  gegen  die  phantastischen  Seelen  vermögen,  die 
Ueterstelluog  des  Unterrichts  unter  die  Konzentration  im  Denken, 
das  Bewusstseiu,  dass  ein  grosser,  in  all  seineu  Teilen  ijmigst 
verknüpfter  Gedankenkreis  vor  die  jugendliche  Seele  gebracht 
werden  müsse,  dass  er  das'  Meuschsein  auf  den  Aufgaben  der 
Menschheit  gi^ündet,  dies  und  vieles  andere  ist  freudig  und  dank- 
bar anzuerkennen. 

Gerade  darum  aber  muss  umsoschärfer  auf  die  Elemente  hin- 
gewiesen werden,  die  trotz  alledem  von  dem  W^ge  zu  dem  ge- 
steckten Ziele  ablenken*  Indeoi  die  autoritären  Trübungen  bei 
Herbait  blossgelegt  werden,  ist  die  Kritik  seines  Systems  zugleich 
eine  Kritik  des  Autoritarismus  in  der  Erziehung  überhaupt. 

Der  Kampf  gegen  die  trübenden  Elemente  in  Herbart  wnrde 
Tor  allem  mit  Energie  aufgenommen  von  Paul  Natorp  in  Mar- 
burg. Zunächst  geschah  dies  mehr  negativ,  aber  doch  unter  An- 
knüpfung an  die  positiven  Grundlagen  Kant-s  in  einer  Reihe  von 
acht  Vorträgen,  die  er  in  den  Marburger  Ferienkursen  1H97  und 
1898  ;^'êhalten  und  sodann  veröffentlicht  hat,  ^)  und  sodann  hat  er 
den  positiveu  Gnmdbau  selbst  in  einem  gleichzeitig  erschienenen 
grösseren  Werke»  seiner  „ Sozialpädagogik, ^)  ausgeführt. 

Von  anderen  Seiten  her  ist  Ja  die  Pädagogik  Herbarts  und 
besonders  die  seiner  Fortbildner  schon  öfters  bekämpft  worden. 
Natorp  selbst  nennt  Dittos,  Ostermann,  wozu  noch,  besonders 
gegen  die  oeuesteeFoilbildner  Herbails,  in  erster  Linie  Oskar  Jäger 
und  Salwürk  zu  treten  haben. 


*)  Herbart,  Pestalozzi  imd  die  heutigen  Aufgaben  der  Erziehunge- 
lehre,  Stuttgart.  ^Frommann)  1Ô99. 

*)  Sozia Ipädagrogik,  Theorie  der  Willenserziehung  auf  der  Grundlage 
der  Gemeinschaft.    Ebenda  erschienen.   2.  Aufl.,  1904. 


M 


214  P.  Staudinger, 

Von  speziell  Kantiseheii  Gruodanschauiingen  aus  ist  da 
noch  kaiini  anjafokämpft  worden.  Event,  wäre  hier  herzusetzen 
Otto  BröhnieP)  in  einer  Progranimschrift  des  Marburj^er  Real- 
gymnasiums, der  gegt^niiber  der  Herbartschen  Ableitung*  und  den 
Interessen  die  Kantische  Korrehition  von  vernünftiger  Persönlich- 
keit und  Gemeinschaft  betont,  und  von  hiei*  aus  gegen  Herbarts 
Ideenlehre  und  dessen  Wahl  der  Bildungsstoffe  polemisiert. 
Umen  gegenüber  betont  er,  was  in  Natur,  Sittlichkeit  und  Kunst 
den  inneren  Gesetzescharakter  am  reinsten  zum  Ausdi'uck  bringt. 
—  Ebenso  habe  ich,  freilich  nicht  so  sehr  gegen  Herbart  selbst, 
als  gegen  die  Übeilreibungeu,  insbesondere  die  willkürlichen  Syn* 
thesen  der  sog.  „modernen  Pädagogik**,  eine  kleine  Arbeit  ver- 
öffentlicht. Dieser  Pädagogik  der  Lehr|>rüben  und  Lehrgänpe 
gegenüber,  die  vor  andeithalb  ilahrzehnten  mit  einigem  Unfehlbar- 
keitsauspruche  auftrat,  suchte  ich  die  Notwendigkeit  der  objek- 
tiven Zusammenhänge  von  wesentlich  Kantischen  GesichtspuDktje« 
aus  geltend  zu  machend) 

Eine  umfassende,  den  Kern  der  Sache  in  Augriff  nehnieüde 
Kritik  von  Kants  Grundlage  aus  hat  aber  zuerst  Natorp  ge- 
liefert. 

Der  Grundgedanke  seiner  Kritik  besteht  etwa  in  Folgendem: 
ThatsächUch  ist  heute  neben  Pestalozzi  Herbart  als  Ausgangspunkt 
wissenschaftlicher  Pädagogik  anerkannt;  aber  welche  achtungge- 
bietende Vorzüge  dieser  Mann  auch  hatte  und  wie  fruchtbar  sich 
seine  Pädagogik  praktisch  erwiesen  hat,  ilie  theoretische  Grund- 
lage, die  er  gegeben  hat,  ist  weder  auf  Seiten  der  Ethik  nochfl 
auf  Seiten  der  Psychologie  haltbar.  Die  Ethik  ist  vielleicht  diiî 
schwächste  Seite  seines  Systems;  aber  die  Pädagogik  rauss  doch 
z.  T.  darauf  ruhen.  Die  Psychologie  aber,  obwohl  sie  bei  Herhart 
trotz  „verfehlter  Theorie"  „auf  reicher  und  richtiger  Beobachtung 
i  ruht",  vermag  „überhaupt  nicht^  die  „primären  Grundlagen  der 

1  Pädagogik    zu    liefern".     Die  Entscheidung    liegt  „in  der  objek- 

I  tiven  Analyse  des  Bewusstseinsinhalts".     Was  Pestalozzi  dag^egea 

Psychologie  nennt,    ist   vielmehr    wirklich  Gesetzlichkeit   des  Auf- 
baues des  Bildungsiuhalts. 

I         4 

L  *)  Otto  Bröhmel,  Der  prinzipieUe  Gegensatz  in  den  pädagogisch  en 

I  Anschauungen  Kants  und  Herbarts,    Marburg-,  ünivercitütsdnickerei,  1891. 
)  2)  F.  Staudinger,   Die   objektive   Apperception   und   üire  pädago-j 

f  gische  Bedêutung.    Wormser  Gymnasialprogramm  1897. 


Kants  Bedeutung  für  die  Pädagogik  der  Gegenwart. 


215 


Diese  Gesichtspunkte  sind  im  ersten  der  acht  Vorträge  ent- 
halten, aus  denen  das  kritische  Büchlein  »Herbart,  Pestalozzi"  etc, 
besteht.  Von  ihnen  ans  wird  dann  in  den  folsfenden  vier  Vor- 
trägen, dem  zweiten  bis  fiiuften,  Herhart  kritisiert,  die  hetzten, 
die  wesentlich  von  Pestalozzi  handeln,  überg-ehen  wir  hier. 

Die  Bildung  des  sittlichen  Willens,  die  nach  Herbart,  wenn 
auch  nicht  klar,  für  das  letzte  Ziel  der  Erziehung  erkläil  wird, 
mht  bei  Kant  auf  der  „Autonomie  des  Willens'\  d,  h.  in  „der 
Form  des  Willens",  seinem  „Üesetzescharakter",  der  ^strengen 
und  durchgängigen  Einstimmigkeit  des  Wollens  mit  sich 
selbst**.  Das  Bewusstsein  hat  also  die  letzte  Entscheidung  über 
das  Wollen.  Bei  Herbart,  dagegen  soll  der  Wille  nicht  über  den 
Willen  luteilen  können,  tiarum  setzt  er  den  Geschmack  als  Richter 
darüber,  d.  h.  den  willenk)sen  Beifall  oder  das  willenlose  Miss- 
faUen^  das  sich  im  uninteressierten  Beobachter  mder  die  zu  be- 
mteilende  Willenshandlnng  erhebt. 

Herbart  will  ferner  einen  bestimmten  Inhalt  der  Sittlichkeit 
finden,  und  darum  stellt  er  seine  fünf  Ideen  der  Freiheit,  der 
Vollkommenheit,  des  Wohlwollens,  des  Rechts  und  der  Billigkeit 
auf,  Ideen,  die,  wie  wir  hinzufügen  möchten,  abgesehen  von 
deren  methodisch  unhaltbarer  Ableitung  bei  Herbaii,  soweit  sie 
richtig  sind,  aus  dem  sittlichen  Grundgesetz  abgeleitet  werden 
müssen,  nicht  aber  auf  Grund  von  Geschmacksnrteilen  zu  ihm  hin- 
zutretven  dürfen. 

Sodann  aber  bedarf  es,  bevor  wir  in  der  Psychologie  die 
Mittel  kennen  lernen,  wie  man  die  Abirrungen  vom  normalen  Wege 
kennen  und  verhüten  soll,  eine  Kenntnis  dessen,  was  normal  ist. 
Die  aber  kann  keine  Psychologie  geben,  sondern  nur  die  Logik 
bezw.  Erkenntniskritik.  Und  wenn  in  der  Psychologie  selbst 
Herbails  Ablehnung  der  Seelenvermögen  ein  grosses  Verdienst  ist, 
80  hat  er  doch  nicht  Denken,  Fühlen  und  Wollen  als  drei  un- 
trennbare Momente  in  dem  einen  ununterbrochenen  Strome  des 
psychischen  Lehens  erkannt,  sondern  macht  das  Bewusstsein,  das 
doch  „konzentrische  Einheit"  ist,  zu  einer  Operation  von  Vorstel- 
lungen als  Kräften,  wir  möchten  sagen  zu  einer  Mechanik  von 
einzelnen  Vorstellüngsatomen,  die  sich  abwechselnd  vor  das  Guck- 
loch des  Bewusstseins  zu  drängen  suchen. 

Von  solchen  Gesichtspunkten  aus  betrachtet  Natorp  die 
eigentlich  pädagogische  Frage,  das  Verhältnis  von  Willens-  zur 
Verstandesbildung,  von  Erziehung  zum  Unterricht.    Die  Scheidung 


216 


F.  Staudîn^i^er, 


Ton  Erzieliuüg  uail  Zucht  wird  verworfen  und  wenn  schon  Sitfc 
lîclikeit  des  WoUens  der  letzte  Zweck  der  Erziehung  ist,  so  habeo 
doch  nach  dem  Vorgange  Pestalozzis  hannouische  Bildung  von 
„Kopf,  Herz  und  Hand"  oder  genauer:  wissenschaftliche,  tech- 
nische, ästhetische  Bildung  ihr  eigenes  Recht.  Man  könnte  sagfen, 
sie  gehörten  genau  ehenso  in  die  zentrale  Einheit  zusaoinien,  wî^^ 
Denken^  Fühlen,  Wollen  incL  Handeln.  Auf  sie  müssen  denn  auch 
die  „Interessen "  konzentriert  sein.  Betreffs  ihrer  zeigt  Natorp, 
Herbart  fordere  zwar,  dass  man  ihre  Einheit  nie  zu  verlieren 
habe,  aber  die  gesetzraässige  Einheit  weise  er  nirgends  nach;  eben- 
sowenig habe  erden  Gedanken,  dass  die  GemeiDschaft  erziehe,  ge- 
nügend durchgebildet.  Die  Gemeinschaft  erziehe  viel  mehr  als  difl 
Schnlf,  die  w^eseutlich  unterrichte«  Zur  Erziehung  des  Willeos  kan 
sie  das  Hire  nui"  leisten,  wenn  sie  ihre  Wirknug  ^vereinigt  mit 
der  Erziehung,  die  das  ganze  Leben  dem  Jüngling  angedelheD 
lässt**.  Die  massgebliche  Stellung,  die  dem  WoUeu  in  der  Erziehung 
gebühre,  das  „Selbstschöpferische"  in  ihm  übersehe  Herbait.  Auch 
die  Gemeinschaft  würdige  er  nur  in  der  matten  Form  der  „Teil- 
nahme", die  durch  „Umgang"  geweckt  werde;  die  auf  Herstellung 
von  Gemeinschaft  gerichtete  organisierende  Thätigkeit,  die  aus 
dem  Zusaniraenlebeu  quillt,  verkenue  er. 

Damit  hat  Natorp  den  tiefsten  und  grundlegendsten  Mangel 
getroffen,  der  freilich  nicht  bloss  ein  Maugel  Herbarts  ist,  sondern 
ein  Maugel  einer  ganzen  Zeit,  deren  wirtschaftliche  Tendenz  zum 
Individuahsnms  auch  von  einer  mehi*  oder  weniger  geistig  und 
sittlich  individualistischen  Tendenz  begleitet  war  und  die  notwen^H 
dige  Biaheitsbeziehung,  die  in  der  „Gemeinschaft  frei  wollender 
Menschen",  wie  Stammler  sie  nannte,  verkennt;  die  Korrelation 
nämlich,  die  zwischen  vernünftiger  Persönlichkeit  und  der  sowohl 
auf  sie  gegründeten  wie  sie  ihrerseits  bedingenden  Gemeinschaft 
besteht.  „Erziehung  zum  Menschentum"  heisst  nicht  bloss  Er- 
ziehung zur  Sittlichkeit  als  letztem  Ziel,  sondern  zu  der  Einheit 
des  Gesanitlebens,  iu  der  Einheit  des  Wollens  und  Handelns,  Ein- 
heit des  Denkens  und  Einheit  des  ästhetischen  Fühlens  und 
Bildcns  (Lebenskunst)»  wie  Form,  Farbe,  Schwere  am  physischen 
Körper   auseinandertreten  und  doch  untrennbar   zuKammengehöreürÄ 

Im  Anschluss  hieran  w^erfen  wir  noch  einen  km-zen  Blick  auf 
Natorps  ,,Sozialpadagogik",  welche  neben  die  Kritik  die  positive 
Begriindung  setzt.  Sie  baut  sich  auf  die  bedingungslose  For- 
derung  der  Einheit  alles  Mannigfaltigen  oder    der  Gesetzlichkeit 


Kants  Bedeutung  für  die  Pädagogik  der  Gegenwart.  217 

überhaupt  auf.  Von  dieser  Forderung  aus  entwickelt  Natorp  im  An- 
schluss an  eine  frühere  Auf satzserie^)  die  Willensentwickelung  vom 
Trieb   zum  Einzelwillen   und  zum  Vemunftwillen,    welch  letzterer 
auf  den  Ausbau   einer  Welt   der  Zwecke   und   damit  auf  die  Ge- 
meinschaft übergreift.     „Erhebung   zur  Gemeinschaft  ist  Erweite- 
rung des  Selbst".    Das  soziale  Leben  folgt  denselben  allgemeinen 
Gesetzen  wie  die  Entwickelung  des  Individuums.     Dieser  Satz,  der, 
natürlich  mutatis  mutandis,  mit  dem  von  Haeckel,  dass  die  Ontogenie 
eine  abgekürzte   Phylogenie   sei,    eine   gewisse  Analogie   befolgt, 
sollte  im  Grund  vor  dem  so  oft  erhobenen,   aber  geradezu  wider- 
sinnigen Vorwurfe   schützen,   als   ob   der  Kantianismus  starr  und 
entwickelungsfeindUch  sei,»)  während  gerade  er  erst  die  innersten 
Grundlagen  der  Entwickelungsgesetze  blosslegt.    Damit  ermöglicht 
^  gerade  das  diesen  Bildungsgesetzen  Entsprechende  von  fremden 
Elinflüssen  ebenso   zu   sondern,   wie   man   die  normale  Entwicke- 
lung einer  Pflanze  von  den  durch  schlechte  Ernährung,  Schmarotzer 
Und  Krankheiten   hervorgerufenen  Wandlungen   erst   dann   unter- 
scheiden kann,  wenn  man  ihre  normale  Struktur  kennt. 

Von  hier  aus  werden  nun  bei  Natorp  die  besonderen 
sittlichen  Ideen,  oder  —  nach  Plato  —  Kardinaltugenden 
entwickelt,  die  bei  Herbart  von  aussen  her  an  das  allge- 
meine Gesetz  angehängt  werden:  die  Wahrhaftigkeit,  die  sitt- 
liche Thatkraft,  das  Mass,  die  Gerechtigkeit.  Diese  letztere  führt 
zam  sozialen  Gesetze  hinüber,  das  sich  von  einer  gewissen  — 
labilen  —  Tendenz  sich  ins  Gleichgewicht  zu  setzen  (161)  zur 
Forderung  durchgängig  vernünftiger  Regelung  der  sozialen  Thätig- 
keit  (165)  fortschreitet. 

Von  hier  aus  wiederum  werden  die  Tugenden  auf  die  Ge- 
meinschaft angewendet,  und  daraus  deren  Grundlagen  abgeleitet, 
die  gleichheitliche  Teilnahme  Aller  an  menschlicher  Bildung,  die 
Ordnung  der  regierenden  Funktionen  vom  Standpunkt  der  Gleichheit 
und  die  Gemeinschaft  und  durchgängige  Organisation  der  Arbeit 
auf  demselben  Boden;  womit  der  Gerechtigkeit  genüge  gethan  ist. 
Das  „wesentlichste  Mittel  zur  Willenserziehung  ist  die  Orga- 
nisation der  Gemeinschaft"  als  „Organisation  der  Arbeit",  „recht- 
liche Organisation",  Organisation  der  Bildung.  Deren  „wirtschaft- 
liche,  regierende,   bildende  Thätigkeit   muss   sich  den  Stufen  der 

*)  Arch.  f.  systematische  Philosophie,  Bd.  I— UI. 
*)  So  sagt  z.  B.  E.  Lange,  Über  Apperzeption,  4.  Aufl.,  Plauen  1891, 
S.  90  :  „Kant  kennt  eine  solche  Entwickelung  des  geistigen  Lebens  nicht'^. 


218 


F,  Staudinger^ 


Willeusliilduiig  zugesellen  in  der  Erziehung  in  Hans,  Schule 
Leben,  d.  h.  organisierter  Geiueinsriiaft.  In  diese  hoehinteressanten 
Ausführungen  des  dritten  Buches  kann  hier  nicht  eingegangen 
werden.  Nur  das  Wort  sei  noch  als  für  unsere  zu  bt^haudeUiden 
Fragen  wesentlich  herbeigeholt,  das  Natorp  gegenüber  dem  er- 
ziehenden und  Gesinnungsuntürricht  ausspricht:  „Je  reiner  die 
Verstandesbildung  ihre  Eigenart  bewahrt,  um  so  reiner  vermag 
sie  zur  Willensbildung  beizutragen.  Zugleich  fordert  die  Wahrheit 
der  Gesinnung  selbst,  dass  man  sich  grundsätzlich  davor  hüte,  Ge- 
sinnung zu  machen**  (274).  Dass  Natorp  den  Pestalozzischen  Ge- 
danken, von  der  Arbeitsbildung  zum  Erkennen  aufznsteigeD, 
diesen  wichtigen,  aber  in  unserer  heutigen  Schulerziehung  fast 
unmöglichen  Gedanken  vertritt,  sei  nur  beiläufig  erw^ähnt. 

In    Bezug   auf   die  praktischen    Einzelvorschläge    kann  mau 
manchmal    zweifeUiaft   sein    oder    Natorps   Standpunkt   bestreiten. 
Ebenso  treten  wir  ihm  keineswegs  darin  bei,  dass  er  mit  Kant  die 
Elemente,  welche  der  Erfahrung  zu  gründe  liegen,  durchweg  „für 
eigene  Erzeugnisse  des  Denkens"   ansieht  (S.  26),    dass  also  z.  B. 
„die  geometrische  Form  der  Objekte  nicht  von  gegebenen  Gegen- 
ständen abgeleitet"  sei,  dass  diese  vielmehr  als  urspriingliche  Entr 
würfe   des    anschauenden  Geistes    zu    gelten  haben*     Er  steht  da 
unserer  Überzeugung  nach  unter  dem  Banne  von  einem  psycholo- 
gischen  Vorurteile    Kants,    wonach  die  grundlegenden  Formen  der 
Erfahrung   in    der  Seele   erzeugt  sind;    während  es  sich  doch  der 
Erkenntniskritik  zunächst  gar  nicht  auf  die  Frage  nach  dem  Ent- 
stehungsort  und    der   Eotstehungsart    dieser  Formen,  sondern  um 
ilire   objektive    Bedeutung   handehi    darf,   —    Der    Kein    von 
Natorps  Buch  verfolgt  dagegen  durchaus  einheitlich  und  konsequent 
die  Aufstellung  einer  Erziehungslehre  vom  Standpunkte  einer  Ge- 
meinschaft  vernünftiger    Wesen    aus,    unter   strenger   Vermeidung 
all    der  Trübungen,    die    durch  bewusste  oder  uubewusste  Herein- 
mengnng    irgend    welchen    Sonderinteresses    und    irgend    welchen 
autoritären  Erziehungsziels  zu  entstehen  pflegen. 

Dass  eine  Sozialpädagogik  wie  die  Natorps  heute  nicht  sehr 
ausgedehntem  Verständnis,  dagegen  ziemlich  ausgedehnter  Ab- 
neigung begegnet,  ist  selbstverständlich.  Die  Zeit  für  die  sieg- 
reiclie  Durchsetzung  solcher  Ideen  ist  heute  ebensowenig  schon 
gekommen,  wie  die  Zeit  für  den  Siegeszug  der  Herbartschen  Ideen 
schon  zu  seinen  Lebzeiten  vorhanden  war.  Wie  damals  die 
seinen,  so  müssen  sich  heute  diese,  nach  unserer  Überzeugung  für 


Kants  Bedeutung  für  die  Pädagogik  der  Gegenwart. 


219 


die  Zokiinft  massgebendereu  Ideen  mit  spärlichem  Beifall  einiger 
tiefierschaaenden  Geister  begnügen.  Die  fruchtbaren  wissenschaft- 
lichen Gedanken  Kants  müssen  erst  heraus-  und  fortgebitdet 
werden,  so  dass  sie  auch  ein  massig  begabter  Mensch,  falls  sein 
Geist  noch  nicht  durch  andere  Gedankengänge  besetzt  ist,  leicht 
und  einfach  begreifen  kann.  Und  um  das  zu  erreichen,  muss 
freilich  das  schon  genannte  psychologische  Voruileil  Kants,  dass 
die  apriorischen  Fonneu  in  uns  erzeugt  sintl,  dieses  Vorurteil,  um 
das  sich  das  ganze  vorige  Jahrhundert  herum  gebalgt  hat,  und 
das  heute  noch  den  meisten  als  wesentliches  Fundament  von 
Kants  Denken  erscheint,  in  die  Ecke  gestellt  werden. 

Auch  ein  so  feinsinniger  und  gegen  das  ,, Phrasendreschen 
und  Gesinnungstrompeteu*',  das  gerade  manchen  eifernden  Neueren 
so  unvorteilhaft  auszeichnet,  so  überaus  wohlthätig  abstechender 
pädagogischer  Autor  wie  Rudolf  Lehmann  ist  in  seinem  Buch 
„Erziehung  und  P>zieher"  über  das  heute  von  den  Meisten  Kant 
gegenüber  gehegte  Vonuleil  nicht  liinausgekommen,  obwohl  er 
ihm  seiner  ganzen  Oesinnungs-  und  Gedankenrichtung  näher  stehen 
dürfte,  als  er  selbst  glaubt* 

Mit  Recht  w^eist  er  —  ohne  damit  den  Wert,  psychologischer 
Beobachtung  und  deren  Anwendung  zu  bestreiten  —  die  psycho- 
logische Grundlegung  zurück.  Das  Problem  der  Charakterbildung 
ist  ihm  das  Erziehuugsziel,  wobei  er  freilich,  weil  ihm  eben  das 
Verständnis  für  Kants  ethische  Leistung  fehlt,  Gemeinschaftsgefühl 
und  Individualismus,  (richtiger  Persönlichkeit  und  Gemeinschaft) 
nicht  als  sich  bedingend,  sondern  als  sich  ergänzend  und  heil- 
sam einschj'änkend  ansieht.  Die  Erziehung  selbst  ist  ihm  eine 
Knnst,  die  freilich  der  lehrbaren  Technik  nicht  entraten  kann. 
Ganz  nahe  an  Kant  rückt  er  (254)  heran,  indem  er  das  philoso- 
phische Streben  empfiehlt,  ^  einen  gi-ossen  und  allgemeinen  Zu- 
sammenhang herzustellen,  und  die  einzelnen  Thatsachen  und  Dinge 
in  diesem  Zusammenhange  zu  überblicken,  wie  andererseits  die  Ge- 
setze dieses  allgemeinen  Zusammenhangs  in  jeder  einzelnen  Er- 
scheinung wiederzufinden**.  Dieser  Gedanke  sollte  nun  freilich 
nicht  bloss  in  einer  philosophischen  Propädeutik  gelehrt;  ihm  ge- 
mäss sollte  der  ganze  IJnterrichtszusammenhang  von  vorn  herein 
aufgebaut  werden,  und  so  sollte  auf  Kantischem  Fundamente  sich 
tlieser  philosophische  Gedanke  aufbauen.  Die  bloss  begiiff liehe, 
abstrakte  Philosophie  muss  schliesslich  nur  das  Seibstbewusstsein 
des  konkreten  Inhalts  sein,  der  sich  bereits  von  Kindesbeinen  auf 


F.  Staa'dinger, 


gemias  dein  Ziisammenhange  aufgebaut  hat.    Da  Lehmann  dv 
Gedanke D,   der  eigentlich  in  semer  Grandauschaaong  liegt,   DJ( 
kJar   erkennt,    so  bemerkt  er  au  Natorps  Bach    nur  die  ^system»-' 
tische  Begriffsentwickelong",    die    er    für    nicht    stichhaltig   hält^ 
Die  Kraft  und  Tiefe  der  Gesinnung,  die  es  ihm  sympathisch  machl 
bewandert  er.    Immerhin  stellt  er  es  als  ^bedeutendsten  Ausdra< 
des   soztaipädagogjschen  Strebeus  hin,   und  meint:    „Fiir   die   Ge-' 
schichte  des  deutschen  Geistes  möchte  kaum  ein  Zug  bezeichnender 
»ein,  als  dass  am  Anfang  und  am  Ende  des  19,  Jahrhunderts  zwei 
Werke    stehen,    die    bei    mancher  Verwandtschaft  der  Anlage  von 
so   entgegengesetztem  Kthos    getragen    und  duichzogen  sind, 
Herbaris  Allgemeine  und  Natorps  Sozialpädagogik**  (341)* 

Wetio  Lehmann  freilich  glaubt,  sie  suche  der  EinseitîgkëS" 
des  Individualismus  gegenülier  den  sozialen  Pflichten  .  ,  .  in  ge- 
wissem Sinne  ausschliesslich  Rechnung  zu  tragen,  so  yerkennt 
er  eben  die  oben  schon  berührte  gegenseitige  Bedingtheit  von 
sittlicher  Persönlichkeit  und  sittlicher  Gemeinschaft.  Die  Per- 
sönlichkeit ist  schliesslich  gerade  so,  wie  beim  Individualismus 
letztes  Ziel,  nur  in  ihren  inneren  und  äusseren  Bedingimgen  rich- 
tiger begriffen  als  von  diesem.  ^Ê 

Von  anderem  Gesichtspunkt  aus  bestreitet  Paul  Berge-^ 
mann  in  seiner  „Sozialen  Pädagogik  auf  erfahningsviissenschaft- 
licher  Grundlage**  (Gera  1900)  die  Positionen  Natorps.  »)  Auf  ihn 
könnte  jeuer  ebengenannte  Satz  R.  Lehmanns  passen,  dass  er  dem 
Sozialeu  zu  ausschliesslich  Rechnung  trage.  „Es  giebt  keine  Ein- 
zelnen"; so  mft  er  aus.  Der  „einzelne"  Mensch  ist  ein  blosses 
leeres  Abstraktum.  Jeder  ist  bis  in  die  feinsten  Fasern  seines 
geistig  leiblichen  Organismus  hinein  ein  geschichtliches  Wesen. 
Wir  hängen»  wir  „zappeln  alle  am  historischen  Faden,  wie  der 
Fisch  an  der  Angel**  ^| 

Er  wendet  sich  auf  das  schärfste  gegen  Natorps  bezw^. 
Kants  auch  von  uns  verworfene  Theorie  über  den  inneren  Ur- 
sprung des  Apriori;  aber  leider  nicht  nur  hiergegen;  er  yerkennt 
die  wirklich  grundlegende  Bedeutung  von  Natorps  Position  und 
meint  (Vorrede  iX):  nNi<^ht  aus  irgendwelchen  kritisch-philosophi- 
schen oder  sonstigen  Voraussetzungen  werden  pädagogische  Priu- 


1)  Seine  Beurteilung   von   Natorps  Werk   in   der  Leipziger  Lelirer^ 
Zeitung  VI  No.  17  und  18,  ist  ihm  in  A.  Diesterwegs  Rheinischen  Blüttem 
Er/Jehung^   nnd    Unterricht   ed     Bartels  1901,    Heft  V  und  VI    durch   eu 
scharfe  Kritik  seines  eigenen  Werkes  von  Natorp  beantwortet  worden. 


Kants  Bedeutung  Mr  die  Pädagogik  der  Gegenwart. 


221 


zipieo  hergeleitet,  sondern  die  für  die  Erziehuugslehre  in  Betracht 
kommenden  Giiindsätze  werden  gewonnen  als  Ergebnisse^  als 
Konseqnenzen  von  Erfahning^thatsachen  und  zwar  von  Thatsachen 
|4er  äusseren  Ertalirung.**  Wenn  Bergenianu  analysieren  wollte, 
Mis  Erfahning  lieisst,  dann  würde  er  vielleicht  auch  einmal  den 
Blick  gelegentlidi  auf  tîen  Punkt  richten,  auf  den  Natorp  ihn 
richtet,  auf  das  Gesetz  der  Einheit,  das  er  S.  265  so  verächtlich 
abthut^  Er  müsste  sozusagen  handgreiflich  wahrnehmen,  dass  ilitti 
selbst  in  jedem  Moment  diese  „Einheit**  zu  Grunde  liegt.  So, 
wenn  er  die  vei-scliiedeuen  Gedanken  eines  Satzes  in  einem  Zu- 
sanunenhaüg  erfasst,  wenn  er  ein  Mittel  als  zu  einem  Zwecke  er* 
forderlich  erkennt,  ja  schon,  wenn  er  das  Tintenfass,  in  das  er 
vorhin  und  nachher  seine  Feder  taucht,  für  dasselbe  Tintenfass 
ansieht  Er  scheint  sich  unter  der  ^Einheit  des  Bewusstseins*" 
Gott  weiss  welche  Ungeheuerlichkeit  vorzustellen,  weil  er  die 
schlichte  Tb  a  ts  ache  nicht  bemerkt,  dass  er  fortwährend  selbst 
damit  oiierieren  niuss,  auch  weun  er  nur  zwei  psychisch  vei-schie- 
deue  Bewnsstseinselemente  als  zu  demselben  Gegenstiinde  gehurig 
bezeichnen  will,  Zusammenhang,  objektiv  giltigen  Zusammenhang 
in  das  Mannigfaltige  zu  bringen,  ist  doch  offenbar  auch  sein 
Streben.  Wozu  schriebe  er  sonst  ein  Buch,  darin  er  mît  Sperr- 
druck „das  Sittliche  im  höheren  und  weiteren  Sinne'*  für  dtni 
^Gegenstand"  erklärt,  darauf  alles  zu  beziehen  ist  Aber  auf 
mese  Betracht ungsart  ist  sein  geistiger  Blick  noch  nicht  einge- 
Htellt;  und  so  kann  ihm  Biologie  und  Kulturgeschichte  alles  sein, 
und  er  kann  verkennen,  dass  der  Erkenntnis  auch  von  Biologie 
eben  die  Bedingungen  des  Erkennens  überhaupt  zu  Grunde  liegfih 
Deshalb,  weil  er  nicht  sieht,  dass  diese  Instanzen  auch  ein 
Gegenstand  der  Untei^uchung  sein  müssen,  muss  sein  Urteil  über 
Natorp,  trotz  all  seiner  Belesenheit  einseitig  ausfallen,  darum  kann 
ihm  Natur i»  mit  Recht  den  Vorwurf  machen,  dass  er  alles  zu 
änsserlich  nimmt,  und  dass  ihm  bei  alledem  eine  Reihe  un- 
kritischer metaphysischer  Voraussetzungen  unterlaufen,  die  ihm 
schwerlich  begegnet  wären,  wenn  er  vor  aller  Biologie  nntl 
Historie  ein  wenig  objektive  Analyse  unseres  thatsächlichen 
Erkeuntuisverfahreus  vorgenommen  hätte.  Es  ist  jaumier- 
schade,  dass  dadurch  Leute,  die  im  Grund  nach  einer  Zielrichtung, 
dem  Aufbau  des  Kulturlebens  auf  der  Basis  freier,  vernünftiger 
Persönlichkeit,  hinsti^eben,  sich  methodisch  befehden  müssen,  statt 
sich  ergänzen  zu  können. 


F.  Staudinger, 


Eine  mehr  zustimniende  SteUuog"  zu  Natori>  nimmt  F. 
HerrmaiHi  iu  seiner  kleinen  Schrift,  über  „Die  neueste  Wendung: 
im  preussischen  Schiilstreite  und  das  Gymoasium  etc."  (Berlin, 
Reuther  Sz^  Reichard  1901)  ein.  Er  tadelt  iiui*  an  Natorp,  dass  er 
dem  Einzelnen  das  Ganze  zu  unmittelbar  gegeutiberstelle  und  die 
thatsachlichco  Zwischenglieder  nicht  berücksichtige.  Dieser  Tadel 
beweist,  dass  auch  er  das  Wesentliche  au  Natorp  bei  aller  Zq- 
Stimmung  nicht  klar  erfasst  hat.  Der  Einwand  klingt,  wie  wenn 
Jemanden,  der  eine  Plauetenhahn  aus  Centrifugal'  und  ( 'entripetal- 
kraft  berechnet  hat,  der  Einwand  erwüchse,  er  habe  dabei  die 
Ablenkung  durch  andere  Gestirne  niidit  in  Betracht  gezogen.  Die 
Untersuchung,  wie  das  Wij*kliche  ?on  dem  normalen  Gang  abweicht, 
hat  eben  erst  nachher  zu  kommen.  So  muss  auch  die  gegen- J 
seitige  Bedingtheit  der  veniünftigen  Pereönlichkeit  und  der  Gê*^ 
ineiuschaft  zuerst  logisch  fixiert  sein,  ehe  wir  fragen  können,  wie 
sich  die  Wirklichkeit  dazu  verhält  und  wie  etwa  die  dadurch  be- 
dingten Abweichungen  unabänderlich  oder  zu  beseitigen  sind. 
Wenn  dies  dem  Verfasser  vorschweben  sollte,  —  was  er  freiÜcli 
nicht  klar  zum  Ausdruck  gebracht  hat  —,  so  Uesse  sich  darüber 
reden.  Hier  bedarf  Natorp  zweifellos  der  Erganznng.  nicht  aber 
der  Bestreitung;  und  die  Ergänzung  wii'd  er  sich  wohl,  wenn  sie 
methodisch  stichhaltig  ist,  genie  gefallen  lassen.  H 

Alle  diese  Bestreitungen  aber  haben  nicht  die  Wucht  ußd 
den  Nachdruck,  wie  diejenigen,  mit  denen  sich  die  Herbartschc 
Schule  in  ihren  massgebenden  Häuptern  gegen  Nat^jrp  wendet 
Diese  Schule  fühlte  sich  selbst  durch  die  Angriffe  Natorps  auf 
den  Meister  verletzt,  spricht  das  auch  ausdrücklich  aus;  imd  ant-« 
weitet  in  zum  Teil  recht  erregter  Weise.  f 

Zunächst  trat  Otto  Will  mann  auf  den  Plan  in  zwei  Kritiken, 
erstens  in  dem  von  Ziller  begründeten,  von  Theodor  Vogt  heraus- 
gegebenen Jahrbuch  des  Vereins  für  wissenschaftliche  Pädagogik» 
im  sechsten  Stücke  einer  Übersicht  „Über  Sozialpädagogik''  und 
sodann  im  zweiten  Heft  des  sechsten  Jahrgangs  der  von  O,  Flügel 
und  W.  Kern  herausgegebenen  „Zeitschrift  für  Philosophie  und 
Pädagogik"  unter  dem  Titel:  „Der  Neukantianismus  gegen  Herbarts 
Pädagogik''.  M 

Wenn  wir  diesen  Autor  behaupten  hören,  das  Verständnis 
dafür,  dass  „Aut^ïnoniie  und  Sittlichkeit  sich  ausscliliessen**, 
sei  durch  die  Konsequenzen,  die  Friedrich  Nietzsche  aus  Kants 
Moral  zog  und  die  sie  ad  absurdum  führen,  angebahnt  (Zeitschrif 


Kants  Bedeutung  für  die  Pädagogik  der  Gegenwart.  223 

S.  105),  wenn  wir  vernehmen:  „die  moralische  Bildung  beruhe  auf 
der  Yerinnerlichung  des  dem  Zögling  von  aussen  kommenden  Ge- 
setzes, und  eine  solche  sei  bei  Kant  ausgeschlossen,  da  das  Gesetz 
nnr  von  innen  kommen  dürfe"  (ebenda  S.  106),  wenn  uns  mit- 
geteilt wird,  die  Wahrheit  im  Sinne  Piatons  sei  „Konformierung 
des  Geistes  an  die  geistigen  Inhalte"  der  „Ideenwelt",  bei  Natorp 
aber  werde  die  Wahrhaftigkeit  zur  Herrschaft  des  Bewusstseins 
verflüchtigt;  wenn  endlich  die  „autoritätslose  Fürsorge"  als  hölzer- 
nes Eisen  und  viereckiger  Kreis  verspottet  wird  :  so  verstehen  wir 
nnr  allzudeutUch,  dass  hier  Grundsätze  zu  Tage  treten,  die  zu 
den  „unverrückbaren  Grundlagen"  modemer  Wissenschaft  und 
modernen  Kulturlebens  in  ausschliessendem  Gegensatze  stehen. 

Konformierung  des  Geistes  an  bestimmte  autoritäre  geistige 
Inhalte  war  ja  die  Forderung  aller  Dogmatik  und  Kirchenautorität, 
die  sich  für  den  Mittelpunkt  und  Massstab  der  wissenschaftlichen 
Wahrheit  auszugeben  bestrebt  war.  Ebenso  war  auf  dem  Gebiete 
der  Ethik  die  Yerinnerlichung  des  von  aussen  kommenden  Gesetzes 
die  Forderung  derselben  Autorität,  die  den  Menschen  in  ihre 
Zwangsgesetze  bannen  wollte.  Die  moderne  Wissenschaft  erkennt 
jene  Konformierung  nicht  mehr  an.  Sie  verlangt,  dass  sie  sich 
auf  einzig  durch  ihre  Logik  zwingenden  Folgerungen  aus  realiter 
nachweisbaren  Thatsachen  begründe.  Und  das  moderne  Kultur- 
leben, das  freie  Menschen  zur  Beschlussfassung  über  die  Gesetze 
der  Gemeinschaft  beruft,  ist  mit  einer  Ethik,  die  ein  von  aussen 
konunendes  Gesetz  nur  aneignen  lassen  will,  grundsätzlich  unver- 
einbar. Sie  verlangt  Schaffung  des  Gesetzes  nach  den  innersten 
Grundlagen  des  vernünftigen  Bewusstseins,  d.  h.  nach  einer  Ord- 
nung, die,  nach  Kants  angeblich  ^selbstzufriedener,  völlig  indivi- 
dualistischer und  geschichtsloser  Moral"  (Willmann,  Jahrbuch  S.  318) 
macht,  „dass  jedes  Freiheit  mit  der  anderen  ihrer  zusammenbestehen 
kann"  (Krit  d.  r.  V.,  2.  Aufl.,  372). 

Dass  ein  Standpunkt,  wie  der  Willmanns,  solchen  „Kuckucks- 
eiem  des  modernen  Radikalismus"  keinen  Geschmack  abgewinnen 
kann,  verstehen  wir  sehr  wohl.  Wir  können  unsererseits  den 
Forderungen  der  gebundenen  sittlichen  Anschauung,  die  Willmann 
vertritt,  keinen  Beifall  spenden.  Hier  ist  einfach  die  Wahl  zu 
treffen  zwischen  Schwarz  und  Weiss,  wie  es  Natorp  treffend  in 
einem  offenen  Briefe  an  Rein  (Die  deutsche  Schule  ed.  Rissmann 
1899,  4.  Heft,  S.  231  f.)  ausdrückt.  Natorp  stellt  hier  nämlich, 
ohne  weiter  auf  Willmann   einzugehen,   an  die  Herbartianer   die 


224 


F.  Staudinger, 


Frage,  ob  „der  Wille  seine  Güte  und  Würde  iu  sich  selbst''  habe, 
wie  es  eio  Herbartianer,  Dötiler,  iu  einer  Lehrerzeitung  Natorp 
gejcenüber  als  Herbartiseh  bezeirhuet,  oder  ob  „die  Verinnerlichung 
des  dem  Zögling  von  aussen  koni ni enden  Gesetzes,  die  WiUmami 
als  Leitsatz  erhebt,  für  Ethik  und  Pädagogik  gnmdlegend  sein  soOe/ 

In  der  That!  Freies  oder  gebundenes  Menschentum?  das  ist 
die  Kernfrage,  um  die  der  ganze  Streit  sich  dreht  und  drehen 
niuss.  Mögen  in  der  Praxis  heute  noch  so  oft  beide  Prinzipien 
vermengt,  sein,  mag  es  auch  dem  Einsichtigsten  und  Tüehtiptea 
heute  oft  unmöglich  sein,  die  Scheidung  zwischen  beiden  Lebens- 
grundlagen in  allem  eiuzehien  durchzuführen:  die  Richtlinien,  nach 
denen  wir  wirken  wollen,  müssen  klar  und  zweifelsohne  festgestellt 
werden. 

Und  um  diese  Feststellung  der  Richtlinien  di^eht  sich  der 
Streit,  den  Natorp  entfacht  hat.  Kant  hat  diese  Richtlimen, 
wenn  auch  noch  in  allzu  abstrakter  W^eise  im  Sinne  freier 
menschlicher  Selbstbestimmung  festgelegt.  Und  diese  Grand- 
lagen sind  im  wesentlichen  die  Wurzeipunkte  jedes  Yerfa^sungs- 
lebens,  in  dem  das  Gesetz  durch  das  freie  Zusammenwirken  der 
Staatsbürger  entstehen  soll  Herbart  dagegen  hat  diese  Orund- 
lagen  eklektisch  verwässert;  das  ist's,  was  ihm  Natorp  vorwirft, 
und  wie  ulr  glauben,  wesentlich  mit  Recht.  Das  wollen  Herbarts 
Freunde  nicht  einsehen.  Nicht  darum  handelt  es  sich,  dass  etw 
Herbail  auch  von  Selbständigkeit,  von  Freiheit  redet,  dass  auci 
er  den  Eudämonismus  bekämpft,  von  „allen  aussen  liegendett 
Motiven",  wie  Just  sagt,  frei  bleiben  will:  sondern  ob  er  wirklich 
die  Grundlagen  festhält,  die  auf  dies  Ziel  hinweisen,  oder  oh  tir 
Elemente  hereiugemengt  hat^  die  der  anderen  Zielrichtung  eni 
noramen  sind. 

Mag  Natorp  im  einzelnen  zu  scharf  geuileilt  haben,  mag 
Herhart  gegenüber  Pestalozzi  in  übertriebenem  Masse  zui-ückgesel 
haben,  ja  mag  er  selbst  in  manchen  Punkten  positiv  irren:  in  der 
Grundfrage,  um  die  es  sich  handelt,  hat  er  Herbart  und  seinen 
Anhängern  gegenüber  zweifellos  das  Rechte  getroffen.  Und  gerade 
inhetreff  der  Grundfrage  verstehen  ihn  die  Herbartianer  iu  keiner 
Weise,  sondern  kritisieren  ebenso  an  ihm  vorbei,  wie  seiner  Zeit 
die  Reid,  Beattie,  Priestley  u.  a.  an  Hume  vorbeikritisierten. 

Diese  Qegenkritik  haben  nach  Willmann  die  drei  Häupter  der 
Herbartschen  Schule,  0.  Fïugel,  Pastor  in  Wansieben,  Direkior 
K.  Just  in  Altenbiirg und  Prof.  W,  Rein  in  Jena  in  der  „Zeitschrift 


er 


Kants  Bedentnng  für  die  Pädagogik  der  Gegenwart, 


für  Philosophie  und  Pädago^k'*  ilHWX  4.  Heft,  S,  257  ff.)  in  einem 
Kollektivaefsatze  geübt,  darin  der  erste  Herbarts  Psychologie,  der 
swoite  dessen  Ethik,  der  diitte  die  Pädagogik  des  Meisters  ver- 
teidigen soll. 

Für  deu  ersten  der  drei  Gegetikritiker,  den  Pastor  Flügel, 
ist  es  charakteristisch,  dass  er  sich  um  seine  Hanidanfgahe,  die 
Verteidigung  von  Herbarts  Psychologie,  ziemlich  wenig  kiiinniert; 
eine  Erörterung  speziell  über  den  Willen  nimmt  fast  den  ganzen 
Aufsatz  ein  und  davon  wieder  handelt  etwa  ein  Drittel  von  „der 
sittlichen  Würde  des  Willens",  also  vo[i  einem  Thema,  das  man  als 
zur  Aufgabe  des  zweiten  Kritikers  gehörig  aniiehnien  sollte.  Und 
f^erade  der  Kernpunkt  von  Natorps  Angriff  wird  fast  gar  nicht 
berührt.  Dieser  war:  Nicht  die  subjektiv  psychologische  Einheit 
des  Bewusstseins,  sondern  die  objektive,  d.  h.  die  den  gegen- 
gtändlichen  Natur-  und  Kulturzusamnienhang  darstellende  Einheit 
hat  die  Grundlage  der  Pädagogik  zu  bilden;  die  Psychologie  eben 
kann  nicht  Grundlage,  sondern  nur  Hilfswissenschaft  sein.  Es 
wäre  interessant  gewesen,  zu  hören,  was  Natoi'ps  Kritiker  gerade 
auf  diesen  Kern,  der  die  Pädagogik  auf  eine  ganz  andere  Basis 
stellt,  als  es  Herbart  thut.  zu  sagen  hätten.  Natorp  hatte  doch 
diesen  Kern  seiner  Kritik  mehrfach,  besonders  deutlich  aber, 
Herbart,  Pestalozzi  etc.  S.  11  hervorgehoben,  wo  er  geradezu 
sagt:  „Ich  könnte  mich  in  einigen  Streitfragen  der  Psychologie ..  * 
sogar  auf  Herharts  Seite  stellen  und  gelange  doch  zu  einer  nicht 
minder  radikalen  x\blehnnng  seiner  Pädagogik,  da  ich  die  Eut* 
Scheidung  eben  nicht  in  der  Psychologie,  sondern  in  der  ob- 
jektiven Analyse  des  Bewnsstseinsinhalts  sehe.  Der  über- 
aus dürftige  Hinweis  Flügels  darauf,  dass  die  Psychulogie  der 
Herbartscheu  Schule  noch  den  Markt  beherrsche  (a.  a.  0,  S,  258), 
dass  Herbarts  Schule  mit  grosser  Energie  die  Untei'suchung  über 
das  Verhältnis  von  Physiologie  und  Psychologie  aufgenommen 
habe  (259)  etc.  sind  doch  nichts,  was  auf  obige  t>age  eingeht, 
geschweige  denn  Widerlegung.  Und  wenn  er  S.  271,  Natorps 
Satz:  „Wie  verschiedenes  Bewusstseiu  dennoch  ein  Rewusst- 
sein  sein  könne,  das  ist  eben  das  Wunder"  damit  bemängelt,  dass 
er  auf  Herbarts  Lehre  von  dem  Widerspruch  zwischen  Einheit  und 
Vielheit  hinweist,  so  ist  damit  erst  recht  nichts  geschehen;  die 
genannte  Frage  hat  er  damit  erst  recht  nicht  angeschnitten.  Es 
fragt  sich  ja,  ob  nicht  Herbarts  Metaphysik  eben  blosse  Begi'iffs- 
klitterung  statt   thatsächhcher  Analyse  des  wissenschaftlicheu  Be- 

KAiil«tadJ»a  IX.  15 


226 


F.  Staudinger, 


I 


wusstseins  ist,  Und  auch  dann,  wenn  dies  wäre,  so  wäre  da 
„Wunder"  des  Bewusst-seius  und  erst  recht  des  Selbstbewnsstsein 
nicht  beseitigt. 

Dass  aber  Flügel  dies  thatsächliche,  wenigstens  mit  den 
heutigen  Erkenutnismittehi  imauflöshare  Wuiiiler  beanstandet,  lia- 
gegen  bald  nachher  Natorp  den  ganz  aus  der  Pistole  gesell osseueu 
theologischen  Vorwurf  luacht,  er  sehe  in  seiner  „Religion  inner* 
halb  der  Grenzen  der  Humanität"  „nicht  allein  vom  positiven 
Christentum,  sondern  auch  vom  Glauben  au  einen  persönlichen 
Gott  ganz  ab'\  das  ist  überaus  charakteristisch.  Ob  und  wieweit 
das  positive  Christentum  haltbai-  ist,  das  ist  eine  Frage  der 
Untersuchung;  es  ist  nicht  so  ohne  weiteres  als  gegeben  hiiizn- 
nehmeu,  wie  das  Bewusstsein,  mittelst  dessen  wir  alles,  auch  das 
Bewusstseiu  selbst  untersucheu.  Ich  bestreite  damit  keineswegs 
den  religiösen  Gehalt  des  Christentiinis;  wohl  aber,  dass  man  es 
so  dogmatisch  einem  Denker  zum  Vorwurf  machen  darf,  wenn  er 
etw^as  davon  bestreitet.  Hier  giebt,  wie  es  scheint,  der  PMiosoplil 
dem  religiösen  Dogmatiker  den  Vortritt, 

Im  Ganzen  aber  zeigt  Flügel,  dass  er  den,  den  er  bestreiten' 
will,  nicht  begreift.  Und  daraus,  nicht  etwa  aus  Übelwollen, 
möchten  wir  die  z.  T.  allerdings  zahlreichen,  recht  merk- 
würdigen Missverstäudnisse  und  fehlerhaften  Citate  zurückführen, 
die  Natorp  in  seinen  späteren  Gegenltritiken  Flügel  mit  Recht  zui* 
Last  legt,  üb  er  ihn  nicht  begreifen  w^ill,  diese  Frage  muss  man_ 
in  sein  eigenes  Gewissen  schieben. 

Die  gleichen  Mängel  treten  denn  auch  in  überaus  drastische 
Weise  bei  der  Kritik  von  Kants  Ethik  hervor.  Hier  hat  Flüge 
wie  gesagt-,  etwas  vorausgenommen,  w^as  eigenUich  Justs  Aufgabe 
war  und  was  dieser  nochmals  in  No,  2 — 8  seiner  Entgegnungen 
S.  279—284  variieit.  Und  im  Wesentlichen  fussen  dann  auch, 
trotz  einzelner  Verschiedeuheiteu,  beide  Kritiken  auf  der  nämUchen 
Gruudlage.  Beide  verstehen  in  gleicher  Weise  nicht,  was  KanH 
und  was  Natorp  will,  polemisieren  also,  Herbart  einfach  nach- 
redend, gegen  Dinge,  die  nur  in  ihrem  eigenen  Kopfe,  keineswej 
aber  in  dem  ihres  Gegners  vorhanden  sind. 

Daraus,  dass  Kant  die  Ethik  in  der  Gesetzmässigkeit  des 
von  Furcht  und  Hoffnung,  Lust  und  Unlust  unbeeinflussten  Willens 
gründet,  folgert.  Flügel,  der  Wille  werde  „nicht  normiert**  (262); 
also  könne  sich  auch  jemand  den  angenblickUchen  Gelüsten  hin- 
geben, wenn  der  Wille  keine  andere  Norm  hat,  als  mit  sich  selbst 


lan 


«^ 


fSnfs  Bedeutung  fttr  die  Pädagogik  der  Gregenwart, 


227 


in  Einklang  zu  stehen  (263),    Und  Just   meint  genau  ebenso,   die 
Autonomie    als    absolute  Selbstbestiramuug  sei  Willkür,  der  durch- 
aus nichts  Sittliches    inne    wohne  (280),     Die  Würde    des  Willeus 
I  liege    allerdinj^s    in   der  Form,    aber   diese  Form   müsse  erst  be- 
stimmt sein  (2H1),     Und    da   die    philosopliisdie  Ethik   nidit  wie 
I  der  biblische  lïekalog  autoritär  gebiete,  soiuleni  vou  jeder  aussen- 
r  stebendeu  Autorität  absehe,  0  so  müsse  die  Bestimmung  der  Form, 
lllielehe    dem  Willen  Würde   verleiht,    „in  ihm  selbst  gesucht  und 
l^funden    werden"  (282).     Dazu    genüge    aber   die    Allgemeinheit 

»d  Einstimmigkeit  des  Willeus  uiclit  (282). 
Damit  treffeu  wir  gerade  auf  den  charakteristischen  Kern 
des  Gedankenkreises  dieser  Herren.  Hier  tritt  die  totale  Verschie- 
denheit ihrer  Denkweise  von  moderner  wissenschaftlicher  Denkart 
drastisch  zu  tage-  Was  wüt'de  mau  heute  vou  einem  A'aturwisseu- 
schafter  sagen,  der  behauptete  :  Der  Gedanke,  die  Thatsachen  nach 
einheitlicher  Methode  zu  verbinden,  genüge  nicht,  mau  müsse  diese 
Methode  selbst  festlegen.  Wenn  das  gelieu  soüte,  so  würden  wir 
noch  etwa  am  ptolemäischeu  System  festhalten,  Oder  wie,  wenu 
ein  Techniker  behauptete,  es  sei  nicht  die  Aufgabe,  unter  thun- 
lichster  Erkenntnis  der  Naturgesetze  diejenigen  praktischen  Me- 
thoden zu  finden,  die  einer  gegebenen  technischen  Aufgabe  am 
vollkommensten  genügteu,  sondern  es  müsse  die  Form  bestimmt 
werden,  in  der  das  technische  Verfahren  ein-  für  allemal  abzulaufen 
habe*  Es  zeigt  sich  hier  die  ganze  Rückständigkeit  der  festge- 
frorenen Methode,  über  deren  Bannkreis  man  bei  Leibe  nicht  hin- 
ausgehen darf.  Keine  Spur  von  Einsicht  darein,  dass  Kants 
gn^sstes  Verdienst  auf  dem  Gebiete  der  Ethik  gerade  darin  be- 
steht, dass  er  an  Stelle  der  starren  Eiuzelmethode  ein  Gesetz  der 
Methodik  setzt,  ein  Gesetz,  danach  jeder  neue  Eotwickelungs-, 
jeder  neue  Erkenntnis-,  jeder  wechselnde  soziale  Zustand  die  ihm 
^eniiissen  vollkommensten  Methoden  zu  suchen  hat 
^m  Dieser  Glaube,  der  sittliche  Wille  müsse  noch  durch  etw^as 
"nderes  als  durch  seine  Allgemeinheit  und  innere  Gesetzmässig- 
keit (Einstimmigkeit)  bestimmt  werden,  ist  ein  Rudiment  jener 
autoritären  Auffassung,  die  Wilhuanu  so  entschieden  vertritt,  wenu 
er  von  der  Aneignung  eines  von  aussen  kommenden  Gesetzes  redet. 
Just  kommt  nur  insofern  dem  Rechten  etwas  näher,  als  er  die  sitt- 
liche Würde    des  Willens   in   ihm   selbst    suclien  und  finden  will. 


')  Dan  ist  wi>hl  schön  gegen  Willmann;  aber  lange 


nicht  genug. 
15* 


F.  StaiidingeïV 


Aber   er   verdirbt   diesen    richtigen  Gedanken  sofort  wieder  durch 

sein    Zuiiickj2:elieü     auf    Herbarts    Gesclinmcksurteile,     d**nii     sie 
heben    eben   jene  Willkür,    die    beide    Besireiter  Kants    von    dem      i 
^ Gesetzescharakter"    fürchten,    in    der  That    auf   den  Thron;    derfl 
hentigen    Praxis    entspriclit   das   freilich  nur    zu   oft.     Heute  ent-     ' 
scheiden    die  meisten  Leute  wirklich  nach  dem  ihrem  anerzocrenen 
oder   unorzogeneu    Willen    eutspringendeu    Gesclimacksmteil    über 
das,   was   sittlich  richtig  sein  solL     Und  das  geschieht  gerade  da- 
rum,   weil    die  tiefere  Selbstkritik,  die  an  Stelle  des  Geschniarks- 
iirteils    eine    logisch   begründete   Entscheidung   setzen  könnte, 
gänzlich  fehlt. 

Es  mag  schwer  sein^  dem  noch  derart  in  seinem  Geschmacks-] 
urteil    befangenen  Denker    den   springenden  Punkt  überhaupt  klar 
zu  machen;  wohl  ebenso  schwer  wie  dem,  der  da  meint,  die  Erde 
müsse  doch  noch  durch  dnen  anderen  Faden,  als  den  im  Gravita- 
tionsgesetz bezeichneten,    an   der  Sonne  festgehalten  werden,    deuj 
wahren  Sachverhalt  zum  Verständnis  zu  bringen.     Er  müsste  dochi 
mindestens    erst    eine  Ahnung   davon    haben,    dass   er   hier  nicht 
streiten,  sondern  ei-st  einmal  verstehen  lernen  darf. 

Es  seien  wenigstens  einige  Momentj?  berührt,  die  vielleicht 
dazu  mitwh'ken  können,  wenigstens  dem,  dessen  Wille  nicht  wider- 
strebt, den  Blickijunkt  zu  zeigen,  von  dem  aus  die  Frage  betrachtet 
werden  rauss. 

Zunächst  ein  paar  triviale  Analogien,  die  dazu  dienen  sollen, 
den  Blick  auf  die  Stelle  zu  richten,  auf  die  es  ankommt.  Wir 
haben  tausendfache  Arten  z.  B.  von  Thürschlössern,  von  Ma- 
scliinen  etc.  Die  einen  sind  gross,  die  anderen  klein,  die  einen 
kompUziert,  die  anderen  einfach,  die  einen  dienen  diesen,  die  an- 
deren jenen  Zwecken.  Aber  gleichviel  wie  klein  oder  gross,  oder 
einfach  oder  zusammengesetzt,  oder  welchen  Zwecken  dienstbar: 
wer  sie  fertigt,  hat  vor  allem  eines  im  Auge  zu  haben  :  Die 
Teile  müssen  so  zueinander  passen,  dass  das  Ganze  rich- 
tig funktioniert,  ^ 

Diesen  (Gesichtspunkt  müssen  wir  ehimai  von  den  übrigen,  die  da™ 
in  Frage  kommen,  abgesondert  betrachten.  Natürlich  nicht  so,  dass 
wir  nun  glaubten,  die  Abstraktion  sei  schon  für  sich  etwas. 
Denn  das  ist  sie  so  wenig,  wie  das  Fallgesetz,  losgelöst  vom  fal- 
lenden Körper,  etwas  ist.  Wir  müssen  hier  von  den  Besonder- 
heiten der  fallenden  Körper  und  der  sonstigen  Einwirkungen  auf'^ 
sie  einmal  absehen  und  bloss  die  Gesetzesform  für  sich  betrachten 


Kants  Bedeutung  für  die  Pädap^oßrik  der  Gegenwart.  229 

lernen,  um  zu  sehen,  wie  die  Gesetzmässigkeit  beschaffen  ist.  Wir 
betrachten  also  den  Umstand,  dass  die  Teile  einer  Maschine,  eines 
Schlosses,  eines  sonstigen  Werkzeugs  zu  einander  passen  müssen, 
einmal  für  sich  und  denken  gar  nicht  daran,  was  sonst  mit  dem 
Werkzeug  geschehen  soll.  Da  finden  wir  denn  sofort:  diese  For- 
derung des  Zusammenpassens  gilt  von  dem  besonderen  Zwecke 
unabhängig  völlig  allgemein.  Eine  Maschine,  die  nicht  ineinander- 
greift, ist  nichts  wert.  Das  drückt  eine  Forderung  an  den  Werk- 
meister aus,  der  er  seinen  Willen  unterwerfen  soll;  es  enthält 
die  Idee  der  inneren  Vollkommenheit.  Diese  Idee  wird  also 
Richtmass  und  Zweck  für  den  Werkmeister.  Er  muss  ohne 
sonstige  Nebenrücksichten  das  Richtige  erkennen  und  die 
Fertigkeit  üben,  diesem  Ziele  thunlichst  zu  entsprechen. 
W'enn  er  dies  versäumt,  wenn  er  hudelt,  wenn  er  Fehler  ver- 
schleiert, so  trifft  ihn  nicht  etwa  bloss  von  aussen  her,  sondern 
auch  vor  allem  von  der  Sache  selbst  aus  der  Tadel.  Sein  Werk 
wird  nicht  vollkommen.  Wenn  er  aber  neue  Formen  und  Zu- 
sammensetzungen schafft,  bessere  Materialien  auswählt,  und  in 
Folge  dessen  das  Gerät  besser  funktioniert,  so  gereicht  es  ihm  im 
Gegenteil  zum  Lobe.  Das  ist  der  Unterschied  alten  und  neuen 
Verfahrens,  dass  dort  die  Methode  und  Form  fest  bestimmt,  starr 
gefordert  war,  dass  dagegen  heute  kein  Gesetz  gilt,  als  das, 
welches  aus  der  Forderung  thunlichst  vollkommenen  Funktionie- 
rens  folgt.  Das  ist  äusserst  einfach;  aber  -  es  muss  eben  zum 
Selbstbewusstsein  kommen. 

Nun,  was  hier  für  die  äussere  Technik  gilt,  das  gilt  in  der 
Ethik  für  den  Zusammenhang  menschlichen  Handelns  überhaupt. 
Auch  hier  haben  wir  viele  verschiedene  Materialien,  tote  und 
lebendige.  Wir  haben  Gedanken,  Gefühle,  Bedürfnisse,  Ziele  und 
Zwecke;  wir  haben  Elemente  und  Stoffe  der  Aussenwelt;  lebende 
und  tote,  die  teils  als  Mittel  zu  diesen  Zwecken  dienen,  teils  als 
Hindemisse  entfernt  werden  müssen.  Hiervon  redet  die  Kultur- 
lehre. 

Und  nun  stehen  wir  als  bewusste,  d.  h.  als  denkende,  fühlende, 
wollende  Wesen  diesem  gesamten  Getriebe  gegenüber  und  suchen 
es  natürlicherweise  unseren  pei'sönlichen  Wünschen  gemäss  zu  ge- 
stalten. Soweit  da  die  tote  Natur  und  vemunftlose  Wesen  in 
Frage  kommen,  scheint  demObjekt  gegenüber  allenthalben  nur 
jene  bereits  besprochene  technische  Frage  hervorzutreten.  Je 
sorgsamer  wir  in  der  Bearbeitung,  Handhabung  und  Ordnung  des 


230 


F.  Stauding:er, 


toten  Materials  sind,  umso  vollkommener  wird  es  iu  unserer  Hand 
funktionieren,  —  natürlich  auch  unsere  Bedürfnisse  am  besten  be* 
friedig:en;  aber  von  dieser  Frage  hatten  wir  ja  eigens  abgesehen. 
Nur  auf  den  einen,  von  Kant  betonleu,  nicht  uuwiditigeu  Umstand 
wollen  wir  aufmerksatu  machen,  dass  sehon  hier  die  vollkoinnvene 
Bedürfnisbefriedigung  von  der  vollkommenen  technischen  Ordnung 
abhängig  ist,  nicht  umgekehrt.  Wer  Ursache  und  Bedingimg  nicht 
unterscheiden  kann,  der  kann,  beiläufig  bemerkt,  freilich  einwenden, 
der  Wunsch  nach  Bedürfnisbefrieiligung  sei  doch  die  Ursache  davoi 
dass  wir  jene  Veranstaltungen  träfen.  Solch  billige  Weisheil 
schenken  wir  uns;  denn  weun  auch  gewiss  das  Redüi'fnis  nach  Brot 
die  Kunstmühle  verursacht,  so  bliebe  unerfiudbar,  w^ie  dies  Bediü^f- 
nis  auch  nur  den  geiîiigsten  Beitrag  zu  der  technischen  Zusammen* 
Setzung  der  Miihle  liefern  könnte.  i 

Dagegen  ist  etwas  anderes  höchst  wesentlich.  l>ie  genannte 
Beherrschung  der  Natur,  deren  Ordnung  luul  Formung  unserem 
Zwecke  gemäss  kann  nicht  geschehen,  ohne  dass  unsere  Thätig- 
keiten  selbst  dem  entsprecheud  geordnet  und  geformt  sind.  Und 
das  kann  wiederum  nicht  geschehen  ohne  Einsicht,  Fertigkeit  und 
Wille.  Die  Ordnung  unserer  Handlungen  genuiss  der  Einsicht  ist 
Willensthat.  Und  der  der  ordnenden  Einsicht  gemässe  Wille  heisst 
vernünftiger  Wille.  Was  da  noch  anderes  hinzukommen  soll,  das 
sich  nicht  aus  dem  Gesetz  dieses  Willens  selber  zu  entwickelu 
hätte,  um  ihm  den  Obarakter  und  die  Würde  eines  Veniünftigen 
zu  geben,  ist  unei-findlich.  Wahrhaftigkeit  im  Streben  nach  rich- 
tiger Einsicht,  Thatkraft,  Masshaltung  all  das  fliesst  aus  der 
Grundf orderung  des  vernünftigen  Willens  selbst;  es  bedarf  keiner 
„Ideen'*,  die  von  sonstwoher  dazu  kämen.  Denn  sie  f Hessen  aus 
dem  Grundgesetz  selbst.  Und  es  bedarf  keiner  Geschuiacksurteile, 
die  da  sonstw^oher  autorisiert  wären,  den  Richter  zu  spieleo.  Im 
Gegenteil,  die  Geschmacksuiteile  werden  ihi*erseits  gerichtet» 
nachdem  sie  der  Vernünftigkeit  entsprechen  oder  ihr  im  Wej 
stehen. 

Damit  wäre  die  Moral  zu  Ende,  wenn  nur  ein  einziger  vei 
nünftiger  Wille  wäre!  Aber  in  Wirklichkeit  sind  viele  Willen; 
und  da  fragt,  es  sich,  wie  es  nun  steht;  ob  sich  dadurch  unser 
Ergebnis  modifiziert.  Eine  grosse  zweite  Reihe  tritt  uns  ausser 
der  genannten  entgegen,  Nebenmenschen,  die  uns  teils  helfen,  teils 
hindern,  unsichtbare  und  sichtbare  durch  die  Jahrtausende  ge- 
spoüneue  Fäden,  die  uns  mit  ihnen  verbinden,  ein  Netz,  in  dessi 


i 


Im 

I 


Kant«  Bedeutung  für  die  Pädagoßfik  der  Gegenwart.  231 

Maschen  wir  hineiDgeboren  werden,  zwischen  denen  wir  einige 
Freiheit  haben,  während  wir  dadurch  andererseits  unser  Leben  ge- 
bunden sehen  und  nur  selten  und  im  kleinen  Masse  mit  unserer 
Individualkraft  an  dem  Netzwerke  etwas  biegen  oder  zerreissen 
oder  unserem  Belieben  gemäss  knüpfen  können. 

Mit  diesem  Gedanken   treten    wir   an    das    zweite  von  Kant 
und  mehr  noch  von  Natorp  betonte  sittliche  Moment,  das  Moment 
der    Gemeinschaft    heran.       Und    hier    versagen   unsere    Her- 
tartianer   wieder   völlig.     Natorp   hat   gesagt,    das  Kriterium   des 
Sittlichen   bestehe   in   der  duichgängigen  gesetzmässigen  Überein- 
stimmung der  Zwecke,  nicht  bloss  des  einzelnen  Subjektes,  sondern 
aller   in   einem  fieiche   der  Zwecke   vereinigt   gedachten   willens- 
fähigen Subjekte.     Dem    gegenüber  meint  Flügel:    „Solange  jedes 
der  Subjekte    keinen    anderen  Zweck  hat,    als  vermittelst  der  Ge- 
meinschaft  seine   besonderen   Zwecke    zu    en-eichen,  .  .  .  solange 
besteht   kein  sittliches  Band  der  Gemeinschaft"  (a.  a.  O.  S.  267). 
„Der  soziale  Zusammenschluss    ist    zunächst  eine  Naturnotwendig- 
keit, ein  Streben  nach  Bedürfnisbefriedigung."     .  .  .  „Auch  Recht, 
Sitte  und  Gesetz  sind  auf  dieser  Stufe"  (auf  welcher?)  „nur  Hilfen 
ziir  Bedürfnisbefriedigung.     Bei    Herbart   hätte  Natorp    dies    alles 
finden  können;  nicht  allein  aber  dies,  nämlich,  was  die  Gesellschaft 
ist,    sondern   auch   das,    was   die  Gesellschaft  zumal  in  Form  des 
Staates  sein  soll.     Um   dies  letztere  zu  bestimmen,    dazu  gehören 
^ber    selbständige    ethische  Normen,    die  Natorp   nicht   kennt  und 
öie    unverträglich   sind   mit   dem,    was   er   als    das   Sittliche   be- 
stimmt" (268). 

Wir  haben  die  wesentlichsten  Entgegnungen  Flügels  auf 
Natorps  erstgenannten  Satz  wörtlich  zitiert,  um  die  Methode 
seiner  Polemik  klar  vor  Augen  zu  führen.  Von  einer  Widerlegung 
des  Gedankens  vom  Keich  der  Zwecke  findet  sich  keine  Spur. 
Dagegen  wird  betont,  dass  wir  einem  solchen  Keich  der  Zwecke 
noch  recht  weit  entfernt  sind,  so  lange  die  Subjekte  mittelst  der 
Gemeinschaft  ihre  besonderen  Zwecke  erreichen  wollen,  eine  Wahr- 
heit, die  Natorp  am  allerwenigsten  bezweifeln  wird.  Sodann  wird 
der  soziale  Zusammenschluss,  was  Natorp  jedenfalls  ebensowenig 
bestreitet,  zunächst  als  Naturnotwendigkeit  gekennzeichnet  und 
dann  wird  autoritär  auf  Herbart  verwiesen,  der  das  alles  schon 
beantwortet  habe.  Das  ist  ja  völlig,  wie  wenn  man  einem  Theo- 
logen alten  Stils  einen  Widerspruch  in  der  Bibel  zeigt.  Er  ant- 
wortet  kühnlich:   Die  Bibel   enthält  keinen  Widerspruch,  sondern 


taudmgr^r, 


I 


ist  Gottes  Woit,  wie  mau  in  der  Bibel  selber  nachlesen  kaOD. 
Dieselbe  Log*ik  int.  hier  verübt.  Freilich,  wenii  Herbari  schon  Bibel- 
antorität  besitzt,  so  muss  aller  ICinwiirf  schweioren. 

Just  da^rgen  führt  Herbarts  ^esellsehaftlielte  Ideen  ins  Feld. 
die  die  Willensverhaltnisse,  die  beim  Kiozeloeii  «fefiiuden  sind, 
wiederholen.  Iti  Wiiklidikeit  wiederholen  sie  niciit.  Die  Urideeu 
des  Wohlwollens,  des  lleehts,  der  BiUigkeit  setzen  die  Gesellschaft 
ja  schon  voraus;  das  Knltnrsystein  Herbarts  briüg^t  ein  Element 
herein,  das,  so  enge  es  praktisch  mit  der  Ethik  verbunden  ist, 
theoreMscli  doch  nbenso  scharf  davon  zu  trennen  ist,  wie  die  Ge- 
setze der  Elektrizität  von  der  elektrischen  Batterie. 

Bei  beiden  Bestreiten)  Natorps  spukt,  wie  freilich  auch  bei 
Herbart  selbst,  die  lieute  noch  laudesiib liehe  Ai't  der  Gegenüher- 
steJluug  von  Staat  bezw.  Gesellschaft  und  ludividoum,  welche 
dann  zu  dem  Streben  nach  einem  Kompromiss  zwischen  den  An* 
Sprüchen  beider  führt.  Man  zerbricht  siidi  dm  Kopf  darüber,  wo 
die  Grenzen  der  Herrschaft  des  Individuums  und  der  Gesellschaft 
liegen  (St,  Mill).  Das  Gemeinwesen  ist  aber  weder,  wie  Man- 
chestertnm  und  Auarcîiismus  g^lauben,  eine  Idtisse  Summe  von  In- 
dividuen, noch  ist  es  etwas,  was  als  eine  heterogene  Miicht  über 
den  ludividuen  steheji  dürfte;  es  ist  thatsächlich  eine  bestimmte 
Verknüi>fung  der  Individuen,  deren  —  meist  unsichtbare  —  Ver^] 
bindungsfäden  ebenso  stark  und  ebenso  real  sind,  wie  die  mate- 
riellen (Tehäude  und  Schienenwege  und  Arsenale,  deren  sie  sich 
bedienen.  Diese  Verknüpfung  ist  entweder  so,  dass  die  Fäden 
dem  Erwerbs-  nnd  Machtinteresse  einzelner  (j nippen  gemäss  sind; 
dann  entstellt  für  die  übrigen  Menschen  der  Anblick  von  einem 
Gemeinwesen,  das  über  üinen  steht,  mit  dem  sie  nur  auf  dem 
Wege  des  Kampfes  oder  des  Kompromisses  auch  ihre  Interessen-^J 
fäden  in  Einklang  bringen  können.  Oder  aber  das  Gemeinwesen 
verknüpft  sich  gemäss  der  Idee  frei  sich  selbst  bestimmender 
Menschen;  dann  sind  seine  Fäden  eben  die  Bedingungen  der 
Freiheit  der  Einzelnen  selbst,  oder,  um  mit  Kant  zu  reden,  Ge- 
setze, welche  machen,  dass  des  einen  Freiheit  mit  der  anderen  _ 
ihrer  zusammenstimme.  f 

In  jedem  Falle  aber  ist  das  Gemeinwesen  weder  ein  Organis- 
mus, in  dem  die  Individuen  bloss  Zellen  wären,  noch  eine  blosse 
Summe  wie  ein  Sandhaufen,  sondern  eine  Organisation,  also 
etwas,  das  in  der  Natnr  höchstens  schwache  Analoga,  aber  kein 
Ebenbild    zeigt.     Denn    Organisation   ist,    selbst   wenn    sie  so  zu 


I 


Kants  ßedeutixiig  für  die  Pttdajîopfik  der  Gegemvait,  233 

Ug^tï  îinhewusst  uihI  naturwüclisipf  oîitstaïideii  wäre,  dptinoch  die 
Beïidiimgr  denkender  lUid  wolleiuler  Wesrn;  sie  ist  sleis  das, 
sei  es  bewusst  gewollte,  sei  es  uiibewiisst  sich  er^^ebende  Produkt 
be w  u  s 8 1  e  i*  Thät ij^'^k*:;it  m . 

Wenn  wirklich,  wie  Flügel  sag^t,  der  suziale  Zusanimeiischliiss 
eine  Naturnotwendigkeit  ist,  so  muss  denn  doch  vor  allein  elumal 
—  gerade  im  Hinblick  auf  Pädagogik  -  die  Art  dieses  Zusammen- 
schlusses klar  erkannt  werden,  damit  man  wisse,  wozu  nuiti  zu 
^rzipheu  bal>e;  damit  «lie  t  Organisation  nielit  unbewusstes  Ergebnis 
bewiisster,  aber  in  ihri^ii  Konsequenzen  unbegriffener  Handluugen 
bleibe,  sondern  selbst  bewnsst,  einen»  bestimmten  Ziele  gemäss 
erstrebt  werde.  Es  muss  eiugesehen  werden,  tlass  die  Gemein- 
schaft und  das  Individuum  eine  unzertrennliche  Korrelation 
'^flJeii,  derail,  dass  der  8tand  des  Gemeinwesens  für  die  Ent- 
i*1ckeluug  der  Individuen,  deren  Entwirkelung  aber  rückwirkend 
för  die  Vorwärts-  oder  Knckwärt>sbilduüg  des  (Gemeinwesens  mass- 
gebend ist 

Was  aber  Vorwärtsbildnug,  was  Riickwärtsbihhing  zu  heisseu 
li*t»  das  ist  niclit  so  eiufach  zu  bestimmen.  Da  ktmimi  einerseits 
^ö  Mannigfaltigkeit  und  der  Keichtum  der  Lebeusfunktionen  in 
Frage.  Die  blosse  Hirten-  und  ßanerugemeinschaft  ist  von  diesem 
^^ichtspuukt  aus  rückständiger  als  ein  moderner  Kulturstaat, 
t%ser  Gesichtspunkt  ist  der"  Gesichtspunkt  der  Kultur, 

Dagegen    kanu    die  Frage  auch  auf  die  Geschlossenheit,  das 

löeinandergi-eifen    der  Leiieusfuuktioueu    gehen    und   auf   die  Art, 

Wodui'ch    solche  Geschlossenheit,    solcher  Zusammenhang  der  Ord- 

NUügen    und   der  Handlungen    und    des  Woliens    hergestellt   wird. 

Das  ist  der  Gesichtspunkt  der  Ethik.     Da  kann  es  sein,  dass  ein 

elementares  Gemeinwesen    freiere  Selbstbestimmung    und    grossere 

Geschlossenheit    eutwickelt    als    ein  Kulturstaat.     lu  diesem  Falle 

stände    das   kulturell  unentwickeltere  Gemeinwesen  sittlich  höher. 

Penn  sittlich    ist    eben  nichts  als  das  ans  freier  Selbstbestimmung 

^  hervorgehende  geschlossene  Ineinandergreifen  der  Lebeusfunktionen. 

Wir  haben  dies  vorhin  betrachtet,  als  wir  den  geschlossenen 

Zusammenhang,  wie  ihn  etwa  ein  einziges  Vernunftwesen  in  seinen 

Beziehungen    zur    veniuuftlosen    Natur   haben    möchte,    ins    Ange 

fassten. 

Wenden  wir  uns  zu  diesem  zurück.     Wir  sehen,   dass  dieser 
(  Zusammenhang  vollkommen  wird    durch  die  Ordnung  seiner  Funk- 
tionen, nicht  durch  die  Abhängigkeit  von  der  Bedürfnisbefriedigung, 


a 


\ 


234  F.  Staudinger, 


die  nur  —  wie  bei  der  Koriimühle  —  Folge  aber  nicht  bedingender 
Umstaud  ist.  Die  vernünftige  Ordnung:  darin  lag  der  ganze 
Zauber  beschlossen.  Und  nun  fragen  wir,  wird  die  Gesetzmässig- 
keit solch  vernünftiger  Ordnung  in  ihrem  Wesen  auch  nur  um  ein 
Haar  anders,  ob  ein  oder  zwei  oder  zwanzig  oder  alle  vernünf- 
tigen Wesen  sich  in  ihr  befinden,  von  ihr  geleitet  werden  und  sfe 
ihrerseits  aufrecht  erhalten?  Schwerlich.  Auf  diese  ganz  objek- 
tive, von  Willkür  völlig  freie  üesetzesgestaltung  kommt  also  alles 
allein  an,  wenn  wir  von  Sittlichkeit  reden. 

Da   könnte    man   nun   freilich   nach  Flügel  sagen,  derartige 
Gesetzmässigkeit    sei    nicht   vorhanden.     Dass  sie  nicht  rein  yot- 
handen    ist,    dies  ist  zweifellos.     Aber  darum  ist  sie  immerhin  ^ 
was  vorhanden  ;  und  in  ihrer  Reinheit  ist  sie  doch  Noim  und  Ziel, 
wenn  wir  eben  vernünftige  Wesen  sein  wollen.    Denn  sie  drückt 
ja,    wie    wir   gesehen    haben,   die   eine  Gesetzmässigkeit  des  Ver- 
nünftigen   aus.     Was   eben    hiermit   nicht  stimmte,  ist  eben  noch    I 
nicht   oder   nicht  mehr  vernünftig.     Vernunft wesen  müssen  ihrer    | 
inneren  Art  gemäss  die  Ordnung,  in   der  sie  ihre  Bedürfnisse  b^    , 
friedigen,  in   vernünftiger  Gesetzmässigkeit  gestalten.     Nur  soweit 
sie  das  thun,  sind  sie  Vernunftwesen.  \ 

Daraus  folgt  nun  ohne  weiteres  eine  ganze  Reihe  von 
Sätzen,  die  die  Beziehungen  des  Einzelnen  zum  Einzelnen,  zur 
sittlichen  Gemeinschaftsidee  und  zur  unvollkommenen  wirklichen 
Gemeinschaft  betreffen,  und  die  schliesslich  die  Fortentwickelung 
der  wirklichen  Gemeinschaft  zur  sittlichen  Gemeinschaft  zur  Auf- 
gabe haben. 

Davon  seien  einige  angeführt.  Der  Mensch  muss  sich  ve^ 
nünftig  selbst  bestimmen  können;  d.  h.  er  muss  schon  äusserlich 
frei  sein,  seine  sittliche  Entschliessung  darf  nicht  durch  Zwang, 
durch  Angst  ums  Brot,  durch  Sondervort^^ile  gebeugt  werden.  Die 
direkt<3  Sklaverei  wie  die  indirekte  des  Mammons  ist  also  unsitt- 
lich, Kant  drückt  dies  dadurch  aus,  dass  er  fordert,  das  Ver- 
nunftwesen dürfe  niemals  —  wie  die  vernunftlose  Natur  —  bloss 
als  Mittel,  sondern  müsse  zugleich  stets  als  Selbstzweck  behandelt 
werden.  Die  sämtlichen  Pflichten  des  Menschen  gegen  den  an- 
deren erwachsen  zwanglos  aus  diesem  Prinzip. 

Nun  geht  Kant  freilich  allzurasch  dazu  über,  zu  fordern, 
dass  die  Willensentscheiduugen  stets  direkt  dem  Prinzip  der  all- 
gemeinen Gesetzgebung  gemäss  seien.  Das  können  sie  nicht.  Der 
Richter   z.  B.    kann   nicht   dem  Prinzip  des  allgemeinen  Gesetzes 


KaTits  Bedenttiîig  für  die  PftdH^oprik  der  Gegenwart, 


235 


pemäss  richten,  sondern  er  muss  dem  ipfegeben  en  Gesetze  ^eniäiss 
iandeln;  selbst  wenn  dies  bloss  aus  dem  Bestreben  einzelner 
Volksgruppen,  mittelst  der  Oemeinschaft  ihre  besonderen  Zwecke 
zn  erreichen»  hervörp:eganjs:en  wäre.  Was  er  thnn  kann  und 
rauss,  das  ist,  dass  er  die  Änderung*  unvoUkotnmener  und  niimora- 
fecher  Gesetze  ersti'ebt. 

Und  hier  erscheint  nnu  das  Korrelat  zu  der  ersten  Fuixle- 
ma^  vernünftiger  Gesetzmässifrkeit:  die  Ausbildunpf  der  Ord- 
nunj^.  (Inrrh  die  das  Zusaiinnenwirken  frei  sieh  selbstbestinunt'nder 
Menschen  mr»g:lich  ist  Hierfür  ist  ja  in  unseren  Verfassungen 
wenigstens  der  (Trnmi  gelegt;  es  ist  also  für  uns  diese  Forderung 
nichts  Neues  und  Unerhörtes  mehr. 

Um  dem  Ziel  freilich  näher  zu  kommen,  bedarf  es  zuneh- 
ïoeuder  Einsicht  und  zunehmenden  sittlichen  Willens.  Uiid  hier 
Setzt  die  Frage  der  Erziehung  ein.  Von  hier  aus  wird 
deren  Ziel  ganz  direkt  bestimmt:  Es  gilt,  den  GesirJitspunkt 
Vernünftiger  Ordnung,  die  durch  frei  sich  selbst  bestimmende  Ver- 
nunftwesen weiterzubilden  ist,  in  den  Mittelpunkt  zu  rücken  und 
I  2i\r  Khirbeit    zu   bringen;    so   dass  sie  der  Massstab  sei»    an  dem 

•  auch  die  Gesetzmässigkeit  des  gegebenen  Gesetzes  selber  zu 
'  messen  ist. 

Die  Herren  Herbartianer  werden,  wenn  sie  wirklich  ernstlich 

*  diesen  Gedankengang  durchdenken,  zugeben  müssen,  dass  ihr 
;  Meist^er,  in  so  viel  Einzelnem  er  sich  auch  an  Kant  anlehnt,  doch 
'  gerade  die  tiefsten  und  reifsten  Gedanken  Kants  nicht  zn  erkennen 

vermochte.  Darum  müssen  wir  Natoq)  durchaus  recht  geben, 
wenn  er  bei  aller  Anerkennung  der  treffhchen  Einzelgedanken 
Herbarts  sein  Schlussurtcil  über  dessen  Etliik  doch  dahin  abgiebt; 
„Sie    hat   die  von  Kant  gewonnenen  Fundamente  wieder  preis- 

I  gegeben".     Es   ist  Eklektizismus   ohne  solidi^n  inneren  Znsanimeu- 

Ihang. 

Herbarts  Ideen  bilden  nur  schwache,  im  einzelnen  haftende, 
ans  keiner  gemeinsamen  Wurzel  strebende  Fäden  dazu,    1st  schon 
harmonische  Verhältnis    zwischen  Wille  und  Urteil  ^^  innere 
it,    so    kann    auch    der  Wille    der   rücksichtslosen    Egoisten 
„frei*    genannt    werden.     Ist  der  stärkere  aber  nicht  der  mit  dem 

jl  allgemeinen  Vernunft gesetz    übereinstimmende  Wille   das  Vollkom- 

tmene,  so  könnte  ja  wohl  Herbart  nicht  ohne  Grund  von  unseren 
modernen  Kraft männem  angezogen  werden.  Und  wenn  zum 
Wohlwollen    schon   das  harmonische  Verhältnis  meines  Willens  zu 


M 


F.  StandÎTi^er, 


dem    f^etliicliteii    fi<*m<lt'U  ^enii^^t,    so  könote  es  ja  wolil  schon  da 
Verliällnis    zweier    liicksiçlilslosiii  VertTrtrr    dor  Macht    sein,  da«1 
(li<^s  Wülilwolh^ii  hcj»TiiiiLlete.. 

Aber  da  koninit  die  vierte  Idee  Herbarls,  die  uus  sairt,  da 
der  Streit    niissfällt,    und    dass   zu    dessen  Verrueidung  das  Recblj 
gesetzt  werden  inuss.     Bloss  zur  Vernieidiiiifr  des  Streites?  frage 
wir    da  zunächst.     Nicht  ancli  ziii-  Regeluiï^r  iiositiveii  Zusaiiiroeii«^ 
Wirkens?  —  Sodann  aher  ist  noch  gar  nicht  ansgeniacht,  dass  de 
Streit    missfiillt;    in    der   That    missfäHt    nicht  jede!"  Streit.    Dft 
nämlich    nicht,    wehlier    zur    Durchsetzniig  und    Krhaltnug   freie 
Lebensgemeinschaften  geführt  wird.    Von  der  fiiuften  Idee  Herbarts 
der  Billigkeit,   wollen  wir  Heber  schweigen.     Natorp  hat  deu  \vi 
geltungsgedanken,    der    in    ihr    steckt,    hinreichend    als    unsittlirJ 
gekennzeichnet. 

Diese  fünf  Ideen  sind  aber,  ganz  abgesehen  von  ihrer  inneren 
Mangelhaftigkeit,    dwrch    kein    gemeinsames  Band  vereinigt.    Just 
behauptet  zw^ar  (287)  :  „Jeder  IJabefangeue  muss  tue  Griiudlictikeit 
und    Schärfe    des    Denkens    bewundeni,    mit    der    Herbart    diese| 
Musterbikler  des  Willens  aufsucht  und  koustrniert,  so  dass  eine  au 
die    andere    mit    zwingender  lugischer  Notwendigkeit  sicli  aureiht, 
bis    die    Reihe   geschlossen  ist  und  eine  Fortsetzling  logisch  nicht 
mehr  möglich  erscheint,"    Aber  ich  bedauere,  dieser  „Unliefaugene 
nicht  sein  zu  können,  so  gerne  ich  es  möchte.     Öder  ist  vielleicW 
Jeder    Unbefangene**    nur   in  Herbarts  Lager  zu  finden?     Jedea-, 
falls    verlange    ich    etw^as    niehrp    w^enn    von  zwingender  logische 
NotW'endigkeit  die  Rede  sein  soll. 

Muss  mau  diese  Ethik  als  durchaus  rückständig  ansehen,  b<l 
achtet  sie  gerade  Kants  wesentlichste  Krrungenschaften  nicht, 
ist  damit  auch  festgestellt»  dass  sie  nicht  der  Pädagogik  zu  gründe 
liegen  kann,  wt^nigstens  nicht  einer  Pädagogik,  welche  klar  und 
zweifelsoline  den  frei  sich  selbst  bestimmenden  Menschen  als  Er- 
ziehungsziel aufstellt,  eines  Menschen  also,  wie  er  theoretisch  dem 
Jiegriffe  dfis  Verniinftigeu,  wie  er  praktisch  einer  Verfassung  ent- 
spricht, welche  die  Gesetze  durch  die  Gesamtheit  der  Staatsbürgerin 
bezw.  deren  Beauftragte  schaffen  lässt.  Sagt  mau,  das  ebe^l 
wolle  mau  nicht»  gut!  Danu  steht  mau  auf  dem  Standiïunkte 
Willmanns,  der  ganz  konsequenterw^eise  bewirken  will,  dass  der 
Menscli  sicli  von  aussen  her  autoritär  gegebene  Gebote  innerlich 
aneignet,  ihnen  also  Einsicht  und  Willen  anbequemt.  Das  ist  we- 
nigstens  ein   klarer  Standpunkt,   w^euu    auch  nicht  einzusehen  ist, 


ea- 

I 


Kants  Bedeutung  für  die  Pädagogik  der  Gegenwart.  237 

rie  vernünftige  Wesen,  falls  ihre  Vernunft  nur  einmal  ein  wenig 
r^vacht  ist,  sich  derart  zu  Mitteln  für  autoritäre  Zwecke  benutzen 
issen  werden.  Sie  werden  mder  solche  Zumutung  sich  aufbäumen 
ad  sagen,  dass  ein  Vernunftwesen  nicht  das  Recht  habe,  das  an- 
ere  als  blosses  Mittel  zu  benutzen  und  werden  eine  Ordnung 
ordern,  in  der  sie  gleichermassen  als  Vernunftwesen  geachtet  und 
»nerkannt  werden;  oder  vielmehr:  sie  brauchen  das  nicht  erst  zu 
hun,  sie  haben  es  in  den  Kulturstaaten  bereits  gethan,  und  sie 
>ratichen  bloss  zu  erhalten  und  konsequent  durchzuführen,  was 
îchon  gilt.  Es  dürfte  schwerlich  möglich  sein,  die  alte  autoritäre 
Ethik  wieder  allgemein  zur  Anerkennung  zu  bringen,  wenn  auch 
ihre  völlige  Überwindung  noch  manchen  Kampf  kosten  mag. 

Wenn  aber  nicht  Erziehung  zur  Autorität,  so  bleibt  nur  Er- 
ziehung zur  Vernunft  und  zur  allgemeinen  Erkenntnis  ihrer 
strengen  objektiven  Gesetzlichkeit  übrig.  Sonst  erhalten 
wir  statt  Ordnung  nur  Willkür,  wobei  dann  die  an  dieser  oder 
jener  Ordnung  Interessierten  die  Ideen  der  Gesetzmässigkeit  aus 
ihren  zufälligen  Geschmacksurteilen,  d.  h.  nach  teils  unbewussten 
Und  verborgenen,  teils  aber  auch  noch  offen  und  zynisch  verkün- 
deten Gruppen-  und  Einzelinteressen  entwickeln.  Das  Ergebnis  ist 
dann  ein  zufällig  aus  dem  Vertragen  und  Streiten  egoistischer 
Gruppen  hervorgehender  Majoritätswille,  der  sich  der  Minorität 
aufdrängt,  ohne  auch  nur  im  geringsten  danach  zu  fragen,  ob  das 
sogenannte  Gesetz  auch  durch  den  Grundgedanken  vernünftiger 
Gesetzmässigkeit  zu  sanktionieren  ist.  —  Wohlgemerkt,  es  ist 
fi-eilich  nicht  anzunehmen,  dass  jemals  völlige  Übereinstimmung 
zwischen  den  Menschen  über  all  das  herrschen  werde,  was  ver- 
nünftiger Ordnung  gemäss  ist.  Das  wechselt  ja  auch  mit  der 
Entwickelung  selbst;  neue  Erfindungen  und  deren  Folgen  z.  B. 
machen  neue  Ordnungen  nötig.  Aber  wesentlich  ist,  dass  die 
Schaffung  dieser  Ordnung  nicht  dem  Geschmacksurteil  bezw.  den 
Interessen  entspringt,  sondern  ernst  und  gewissenhaft  auf  der  Er- 
kenntnis fusse,  dass  auch  das  Interesse  selbst  endgiltig  am  besten 
damit  gewahrt  werde,  wenn  es  bei  Schaffung  der  Ordnung  als 
solches  gar  nicht  mitspricht. 

Wenn  die  Schule  Herbarts  sagen  kann,  sie  habe  diesen  Ge- 
sichtspunkt bisher  ihrer  Erziehung  zu  Grunde  gelegt,  sie  habe 
den  Gedanken  objektiver  Gesetzmässigkeit,  der  sich  unmittelbar 
ams  dem  Gedanken  freier  Vernunft  begründet,  gelehrt  und  gepflegt, 
ïann    müssen   wir  Abbitte  leisten.    Aber  es  ist  doch  merkwürdig. 


F.  Staudinger, 


dass  dieser  Gedanke  dann  so  ausserordentlich  wenig  auch  nur  be- 
kannt ist,  obwohl  Herbails  Richtung  im  Wesentlichen  die  Schüie 
beherrscht. 

Wohl  sagt  ja  Wilhelm  Rein,  der  dritte  und  vorgeschrittenste 
der  ßestreiter  Natorps  (314),    Sittlichkeit   gedeihe    nur  auf  freiem 
Boden,  wo  Zwang  herrsche,  da  sei  sie  verloren.    Er  nimmt  ausser- 
dem   erfreulicherweise    gegen  Willmanu,    gegen    die  autoritär  voa 
aussen    kommende  Ethik   entschieden    Paitei.     Und    er   sagt  gaiH 
anstlriicklich:    „Hier  liegt  das  Problem:    Wie  vereinigt  sich  innere 
Schöpferkraft    mit  objektiv  gegebenen  sitttichen  Ideen?*"     Man 
sollte   meinen,    diese    Problemstellung   erlaube    logisch    einzig  unil 
allein  die  Antwort:    Sie  sind  nur  zu  vereinigen,  wenn  sie  ans  der 
inneren  Schöpferkraft   der    freien  Yerauiift,  aus  ihrem  Gesetz»  als 
dessen  eigenster  geseizmassiger  Ausdruck  erwachsen. 

Aber   da   biegt  auch  Rein,    statt   handfest   auf   diese  einzig 
mögliche  Lösung  loszusteuern,  ab,  und  nun  kommt  er  zu  dem  Ge* 
danken:    ^ Woher   will    der  Einzelne    das  Recht   nehmen,    dass  er 
nicht  bloss  formell  sondern  auch  inhaltlich  die  Massstäbe  für  Ge- 
sinnung und  Handlung  festlege?"  ™  Auch  inhaltlich?     Die  Frage 
ist  allerdings  sonderbar.     Sittliche  „Inhalte"  giebt  es  nicht,  wenig- 
stens nicht  nach  dem,    was    wir   als  Inhalt  zu  vei-stehen  gewohnt 
sind.     Das  ist  ja  eben  der  Gnmdunterschied  alter  autoritärer  UDd 
neuer   freier,    entwickelungsfähiger  Ethik,    dass  erst  ere  bestimmte 
inhaltliche  Gebote  ein  für  allemal  festlegen  will,   während  letztere 
sagt:  Jede  Handlung  ist  richtig,  sofern  sie  sich  einstimmig  in  den 
Zusammenhang  fügen  lässt,    falsch,  sofern  dies  nicht  der  Fall  ist. 
Ich  vermute,  dass  Rein  hier  ein  wenig  Kulturinhalte  mit  sittlichen 
Beziehungen    vermengt.      Wenn    er  (S.  313  t)  ganz   richtig    sagt, 
„die  Form  verdanken  die  sittlichen  Maximen  der  Autonomie,   aber 
der  Inhalt   fliesst   der  gestaltenden  Arbeit  von  aussen  zu"*,   so  ist 
damit  doch  eigentlich  gesagt,    dass  der  zu  gestaltende  Inhalt  an 
sich  weder  sittlich  noch  unsitUich  sei,    sondern   es  erst  durch  die 
gestaltende  Arbeit    werde;    ebenso    wie  ein  Eisenstück  noch  nicht 
funktionsfähiger  Maschinenteil  ist^  sondern  es  erst  wird  durch  das 
formende    Schaffen.     Aber    es   scheint   ihm    vorzuschweben,    dass 
dieser  von  aussen  kommende  Inhalt   bis  zu  einem  gewissen  Masse 
schon  sittlich  gestaltet  ist;  denn  er  setzt  hinzu,   der  Inhalt  fliesse 
„aus  der  sitthchen  Gemeinschaft  zu". 

Wenn  hier  Rein   etwa   daran  denken    sollte,    dass    die  auto- 
nome Vernunft   trotz   allem    ihre   sittlichen    Ideale    uicht    un  ver- 


Kants  Bedentang  fttr  die  Pädagogik  der  Gegenwart.  239 

mittelt  verwirklichen  kann,  so  wäre  darüber  zu  reden.  Immerhin 
moss  die  durchgängige  Gesetzmässigkeit  als  Endziel  trotzdem 
ebenso  anerkannt  werden,  wie  dies  vollkommene  Ineinandergreifen 
der  Teile  bei  einer  Maschine.  Völlig  werden  wir  ja  nie  das  Ideal 
erreichen.  Aber  das  ist  wieder  ein  Unterschied  alter  und  neuer 
Ethik,  dass  jene  die  Schlechtigkeit  des  irdischen  Jammerthaies 
hinnmimt  und  das  Ideal  als  Troststück  daneben  stellt,  während 
fur  diese  das  Ideal  der  Wegweiser  ist,  der  die  Aufgaben  zeigt  und 
die  Richtlinien  dazu  angiebt.  Für  die  Aufstellung  dieses  Ideals 
aber  ist  das  Vemunftgesetz  durchaus  autonom;  und  ihm  das 
Wirkliche  zuzubilden  —  ist  eben  die  sittliche  Aufgabe. 

Hierauf  muss  die  Pädagogik  also  begründet  sein,  wenn  sie 
Erziehung  zu  vernünftigem  freien  Menschentum  sein  soll,  wenn 
sie  den  Menschen  zu  dem  befähigen  soll,  was  heute  schon  ver- 
fassungsmässig seine  Aufgabe  ist,  zum  freien  Mitgesetzgeber  im 
Gemeinwesen. 

Zu  diesem  Zwecke  muss  allerdings  der  Unterricht  eine  andere 
Richtung  erhalten,  als  sie  ihm  Herbart  geben  kann.  Vor  allem 
iat  Natorp  darin  recht,  wenn  er  gegen  die  Begriffe  vom  erziehen- 
den Unterricht  und  vom  Gesinnungsunterricht  sich  ablehnend  ver- 
hält Denn  diese  Zusätze  sind  entweder  reine  Pleonasmen,  oder 
es  verbirgt  sich  dahinter  die  Tendenz,  den  Schüler  in  der  That 
zu  einer  inhaltlich  bestimmten  Überzeugung  und  sittlichen 
Auffassung  zu  erziehen,  also  nicht  etwa  zu  einem  wahrhaftigen, 
in  dem  Gedanken  sittlicher  Gemeinschaft  gefestigten  Menschen, 
sondern  in  erster  Linie  zu  einem  Anhänger  eines  bestimmten 
Glaubens,  oder  eines  exklusiven  Patriotismus,  wo  nicht  gar  zu 
einer  bestimmten  Parteigesinnung.  Die  „inhaltliche  Erfüllung"  des 
sittlichen  Prinzips,  so  meint  Rein  (313),  kann  nirgends  anders 
woher,  als  aus  dem  sittlichen  Bewusstsein  der  Gemeinschaft  ge- 
schöpft werden.  Das  ist  richtig,  wenn  damit  gemeint  ist,  dass 
ein  folgender  Zustand  nur  auf  Grund  des  vorherigen  erwachsen 
kann;  aber  es  ist  sehr  bedenklich,  wenn  sich  damit  die  Meinung 
verbindet,  in  der  gegebenen  Gemeinschaft  und  deren  Bewusstsein 
liege  irgendwelche  Begründung  für  das,  was  ich  für  richtig 
halten  soll.  Auch  die  Mathematik,  die  Naturwissenschaft,  die  das 
Individuum  lernt,  ruhen  ja  auf  der  Arbeit  der  Vergangenheit, 
können  nur  aus  dem  wissenschaftlichen  Bewusstsein  der  wissen- 
schaftlichen Geraeinschaft  hervorgehen.  Aber  der  Grund,  warum 
ein  mathematischer  oder  physikalischer  Lehrsatz  als  richtig  an  er- 


240  F.  Staudinger, 

kannt  wird,  kann  nur  aus  der  Logik  des  betreffenden  Zusammen- 
hanges, nirgend  woandersher  sich  ergeben.  So  auch  in  der  Ethik, 
wenn  man  das  sittlich  Richtige  feststellen  will.  Sonst  l&uftman  | 
doch  stets  Gefahr,  statt  wirklich  wissenschaftlicher  Gemeinschafts-  \ 
ethik  nur  die  Geschmacksurteile  eines  Parteimilieus,  etwa  des 
Milieus  der  sogenannten  guten  Gesellschaft  vorzntragen.  Dassder 
Lehrer  sich  davon  nicht  ganz  loslösen  kann,  mag  ja  zugegeben 
werden,  dass  er  sich  aber  nach  Kräften  verselbständigen  soll, 
dass  es  ihm  zur  sittlichen  Aufgabe  gemacht  werden  muss,  das 
zu  thun,  das  ist  doch  wohl  zweifellos.  Hierüber  aber  hat  sich 
auch  Rein  nicht  klar  und  unzweideutig  ausgesprochen,  wenn  er 
auch  wohl  sachlich  auf  diese  Seite  neigt. 

Aber  noch  etwas  anderes  ist  zu  bemerken.  Es  handelt  sich 
darum,  ob  trotz  dem  Gesagten  die  Ethik  für  sich  den  Kern  und 
das  Centrum  des  Untenichtes  bilden  soll.  Rein  erkennt  zwar  eine 
relative  Selbständigkeit  der  wissenschaftlichen,  ästhetischen  und 
technischen  Bildung  an;  er  möchte  sie  aber  in  Beziehung  znm 
Cent  rum  der  Persönlichkeit,  zu  den  sittlichen  Ideen  setzen.  Damit 
scheint  er  —  es  bleibt  ja  zweifelhaft,  wieweit  die  Schwierigkeit 
des  Ausdrucks  hier  Missverständnisse  schaffen  kann  —  die  sitt- 
lichen Ideen  als  so  eine  Art  Pfosten  zu  betrachten,  an  denen  aller 
Unterricht  angebunden  werden  soll.  Das  wäre  dann  eben  falsch. 
In  diesem  Sinne  ist  die  Ethik  nicht  Centrum  des  Unterrichts, 
sondern  nur  ein  Teil  des  Unterrichts,  sofern  sie  ein  Teil  der 
Wahrheit  ist;  und  der  Lehrer  wird  nur  dann  an  sie  anknöpfen, 
wenn  es  der  Gegenstand  mit  sich  bringt,  wie  er  gegebenen  Falls 
ebenso  an  andere  Uuterrichtsteile  anknüpft,  wo  sich  ungezwungen 
Beziehungen  bieten.  Der  Unterricht  selbst  ist  dem  Ziel  nach  nur 
dazu  da,  Erkenntnis  zu  schaffen,  also  intellektuell  zu  erziehen. 
Sofern  er  dies  thun  will,  muss  er  wahrhaftig  sein,  und  er  wird 
den  Sinn  für  reine  Wahrhaftigkeit  dadurch  wecken,  also  ohne 
weiteres  Gesinnungsunterricht  sein.  Eis  muss  Zucht  und  Ordnung 
herrschen,  regelmässige  Arbeit,  Aufmerksamkeit  etc.  gefordert 
werden.  Somit  wird  er  ohne  weiteres  auch  erziehend  wirken, 
wenn  auch  nicht  so  allumfassend,  wie  es  Lehrerstreben  und  oft 
Lehrerhochraut  in  Anspruch  nehmen  möchte. 

Darum  sind  die  Worte  erziehender  Unterricht  und  Gesinnungs- 
unterricht, das  sei  nochmals  gesagt,  entweder  eine  leere  und  fiber 
flüssige  Phrase,  oder  es  verbergen  sich  besondere  Tendenzen  da- 
hinter, Rudimente  altautoritärer  Gesinnungsmacherei,  die  im  Inter 


Kants  Bedeutung  für  die  Padagrogik  der  Gegemvart. 


esse  gerade  der  Wahrhaftigkeit  und  Sittlichkeit  auf  das  Schärfste 
zurückgewiesen  werden  müsseiL 

Auf  die  Streitfrage  über  den  Zusammenhang:  von  Begierung 
and  Zucht  sei  hier  nicht  eingegangen,  da  sie  minder  wesentlich 
sein  dürfte.  Wenn  man  unter  Zucht  die  Lenkung  der  noch  nicht 
vernünftig  selhstbeherrschten  Antriebe,  unter  Regieren  g  die  Weiter- 
bildung der  bereits  entwickelten  vernünftigen  Strebungen  versteht, 
80  ist  doch  wohl  nichts,  was  diese  Unterscheidung  anfechtbar  er- 
scheinen lassen  könnte. 

Dagegen    muss    ein   anderer   Einwand   erhoben  werden,    der 
Mch  gegen    den  (8.  304)  von  Beiu  aufgestellten  Satz  richtet,    das 
I  »»Interesse'*  sei  der  Fundamentalbegriff  der  Lehre  vom  erziehenden 
'  Ijnterricht,       Zwar    gegen     dies    mehrdeutige   Wort    als    solches 
^SolJ    nicht    angekämpft    worden,    da    sonst    vielleicht    nur   Woilr 
pitreit     herauskäme.       Mit     der     Herbartschen     Auffassung     des 
îïiiteresses  aber  scheint   ein  anderer  Satz  von  Rein  auf  das  engste 
zusammenzuhängen,   der  da  lautet:    „Gesetzmässiger   Aufbau    des 
Jtildungsinhalts   gemäss   dem    gesetzmässigen  Aufbau   der  Geistes- 
iräfte  war  das  Ideal  Pestalozzis,   Herbarts  und  seiner  Nachfolger" 
(305).     Diesen  Satz  müssen  wir,  um  den  Gegensatz  unserer  päda- 
gogischen   Grundrichtung     klar    herauszuschälen,     geradezu    um- 
stülpen: Gesetzmässige  Entwickelung  der  Geisteskräfte 
gemäss  dem  gesetzmässigen  Zusammenhange  des Bildungs- 
inhalts:   das    muss   das    Ideal    der   Erziehung,    also  auch 
des  Unterrichts  sein. 

Der  gesetzmässige  Zusammenhang  des  Bildungs- 
inhalts  muss  also  das  erste  Ziel  sein,  das  wir  ei'streben  müssen, 
ein  unendliches  Ziel,  in  dem  wir  noch  nicht  sonderlich  weit  ge- 
kommen sind  trotz  unserer  überaus  leistungsfähigen  E*ahriken  von 
Einzelerkenntnissen  und  unserer  gewaltigen  Warenhäuser  voll 
Wissen.  Wir  dürften  hier  im  Gegenteil  noch  recht  sehr  in  den 
Elementen  stecken,  wie  unser  heutiges  Herumtasten  zwischen 
Gymnasien,  Realgymnasien,  Realschulen,  Reformgymnasien  etc.  aufs 
deutlichste  kennzeichnet  Aber  die  Verschiedenheit  dieser  Anstalten 
gründet  sich  nicht  etwa  darauf,  dass  man  etwa  aus  einer  ver- 
schiedenen Auffassung  der  psychologischen  Geisteskräfte  verschie- 
dene Bildungsinhalte  abgeleitet  hätte,  sondern  umgekehrt,  weil 
eine  verschiedene  Auffassung  des  Wertes  der  Bildungsinhalte  und 
ihrer  Zusammenhänge  zu  einer  verschiedenen  Erziehung  der 
Geisteskräfte   geführt   hat.     Damit  soll    diese  Verschiedenheit  der 


ffaat0tii(ll«D  IX 


16 


F,  Standln^er, 


Schulen  ja   nicht  etwa  getadelt  werden,     Wir  müssen  heute  noc 
tasten,  suchen  und  versuchen;  und  sowohl  was  die  hi *st mogliehe  Zn-' 
sammensetzung  des  Bildungsinhalts,  als  was  die  bestmögliche  Art  ihn, 
zu  vermitteln,  angeht»  sind  wir  noch  auf  langehiu  auf  das  Experi- 
ment  angewiesen.     „Man  muss  Experimentalschulen  errichten,  eh|| 
man  Normalschulen  errichten  kann,"     Dies  Wort  aus  Kants  Päda- 
gogik   gilt    noch    heute.     Das   einzige,    worüber  Einhelligkeit  und 
Klarheit   hen^chen  sollte  und  müsste,    ist  das  Bildungsziel.     Gefl 
rade    dies    ist   aber    heute    noch    dem  Streite   der  Parteien  unter- 
worfen,   da   es    mit   der   gesamten  Richtung    der  Weltanschauung 
unzertrennlich    zusammenhängt.      Vollblutautoritarier,     eklektischÜ 
Halb-  und  Viertelsautoritarier  und  Anhänger  der  verniinftigen 
meinschaft   kämpfen    hier    noch  —  nicht    so  sehr  um  die  Art 
um  das  Ziel,  danach  das  Leben,  danach  also  auch  der  ünterricbt 
organisiert   werden    soll.     Und   dieser  Streit  erschwert  sich  durch 
die  Unklarheit,   darin  sich  viek^  Veilreter  der  freien,  vernünftige 
Selbstbestimmung    über    das    Gesetz    ihres    eigenen    Willens   be 
finden. 

Bei  der  Suche  nach  dem  richtigen  Aufbau  des  Bildungsinhaltil 
aber    wird    nach  unserer  Überzeugung  wiedenim  der  prinzipieller 
Vertreter   freien   vernünftigen    Menschentums   früher   oder   späte 
den  Sieg,  den  Sieg  auch  über  den  Eklektiker  Herbail  davontrageiK 
Statt   sich   mit   der  mindestens  überflüssigen  Scholastik  der  sechs 
Interessen,  der  „Formalstuf eu"  zu  belasten,  wird  man  seinen  Flei», 
mehr  darauf  richten,  wie  man  den  Unterrichtsstoff  so  wählt,  da 
am  Schlüsse  eine  einfachere  oder  zusammengesetztere  aber  jede 
falls    klare  Überschau   über  den  auf  jeweiliger  Stufe  begreifba 
gesetzmässigen   Zusammenhang   von  Welt   und  Leben   ins  Selbste 
bewusstsein    der    Zöglinge    eingeht.      Die    Psychologie    ist   nicht 
Urundlage,  sondern  Hilfsmittel  für  den  Unterrichtenden;  ein  zwar 
wichtiges,  aber   mit  Vorsicht  zu  benutzendes   Hilfsmittel,    das  vc 
allem    zu    keiner    Schematisierung,    zu  keiner    Einzwängung    de 
Stoffs    tn   psychologische    Schubfächer  führen    darf.      Die  Fra 
wie  kann   ich   etwas   dem    Geist  und  Herzen  des  Schülers   nahe 
bringen,    wie  kann  sein  Wille  am  besten  zur  Arbeit,    zur  Einsicht 
in   das  Wahre    und    Rechte   bestimmt  werden,    das  ist,   wie  auch 
Lehmann  betont,   vielmehr   eine  Frage  der  Kunst  als  der  Wissen- 
schaft.    Technische  Handgriffe    sind    da   recht  nützlich;    aber  di^ 
für  den  einen  taugen,   taugen  oft  nicht  für  den  anderen,   und  dH 
Art,  wie  man   heute   einen  bestimmten  Stoff  der  einen  Klasse  mit 


Kants  Bedeatang  fflr  die  Pftdagogik  der  Gegenwart.  243 

Leichtigkeit  beibringt,  kann  morgen  bei  einer  anderen  gleichalte- 
rigen  völlig  versagen. 

Als  grundlegend  aber  müssen  wir  festhalten;  und  das  wollen 
wir  am  Anschluss  an  Natorp  (Herbart  und  Pestalozzi  S.  10)  folgender- 
massen  ausdrücken  :  Das  positive  Bilden  geschieht  nach  den  Gesetzen, 
nach  denen  sich  der  menschliche  Bildungsinhalt,  d.  i.  der  gesetz- 
mässige  Inhalt  des  theoretischen,  des  ethischen,  des  ästhetischen 
Bewnsstseins  folgerichtig  aufbaut;  die  psychologische  Erwägung 
dagegen  richtet  sich  wesentlich  auf  die  Überwindung  der  Hemm- 
nisse, die  sich  —  infolge  der  besonderen  Geartung  und  Entwickelungs- 
stuf  e  von  Lehrer  und  Schüler  —  gegen  die  Übermittelung  und  Er- 
fassung dieses  Bildungsinhaltes  auftürmen. 

In  drei  Hauptpunkten  ist  also  Herbarts  Pädagogik  vom  Stand- 
punkte kantischer  Grundgedanken  und  ihrer  Fortentwickelung  im 
modernen  Denken  zu  beanstanden:  erstens  darin,  dass  an  Stelle 
des  Strebens  nach  objektiv  einheitlicher  Gestaltung  des  Bildungs- 
inhaltes das  Streben  nach  einem  psychologisch  einheitlichen  und 
damit  oft  zu  Schematismus  führenden  Verfahren  tritt;  zweitens 
darin,  dass  die  Ethik,  statt  einfach  die  durchgängige  Gesetzmässig- 
keit im  Zusammenhange  alles  menschlichen  Wollens  und  Handelns 
zum  Ziel  zu  setzen,  die  Form  selber  bestimmen  will,  und  damit 
notwendig  zu  erstarrendem  Formalismus  und  Dogmatismus  führen 
moss,  darin  endlich,  dass  diese  so  zugerichtete  Ethik  einseitig  in 
den  Mittelpunkt  des  Unterrichts  gestellt  wird,  statt  eine  Seite 
bezw.  ein  Teil  des  gesamten  Menschen  bildenden  Unterrichts  zu 
sein.  Hand  in  Hand  damit  wird  dann  die  Bedeutung  der  Schule 
gegenüber  dem  Leben  und  seinen  praktischen  Einflüssen  überspannt. 

Dass  darum  nun  Herbart  abgesetzt,  Kant  auf  den  Thron  ge- 
hoben werde,  diese  Forderung  ist  keineswegs  in  obiger  Kritik  ein- 
geschlossen. Das  viele  Tüchtige  und  Treffliche,  das  Herbart  im 
Einzelnen  geleistet  hat  und  noch  leistet,  soll  nicht  verkannt  werden, 
wenn  auch  selbstverständlicherweise  bei  einer  Kritik,  die  speziell 
die  Fehler  aufzudecken  unternimmt,  die  Erörterung  der  guten  und 
bewahrenswerten  Seiten  zu  kurz  kommen  muss.  Diese  können  ja 
auch  erst  dann  mit  Erfolg  aufgesucht  und  eingefügt  werden,  wenn 
die  prinzipielle  Kritik  zum  Ziel  geführt  ist. 

Dass  auf  der  anderen  Seite  Kant  so  ohne  weiteres  über- 
nommen werde,  kann  ebenfalls  nicht  die  Absicht  sein.  Gewiss 
muss  auch  er  in  gar  manchem,  sowohl  in  seiner  Erkenntnislehre 
als  in  seiner  Ethik  verbessert  werden,  und  zwar  in  fundamentalen 

16* 


tandingefi 


Punkten.     Zu  denen  rechne  ich,   wie  schon  angeführt,    in  der  E^j 
kenntnislehre,  —  worin  ja  Natorp  allerdings  heute  noch  nicht  zu- 
stimmen wird  —  das   Ahstreifen    des    erkenntniskritiscben,    Töltig 
unbegründet   hereingeschneiten    Vonurteils,    dass   Raum,    Zeit  und 
Kategorien  deshalb,    weil   wir  psychologisch   unser  Weltbild  damit 
aufbauen,    auch    in    ihrer  Bedeutung  ,, subjektive  Bedingungen  derj 
Anschauung   und    des    Denkens*"  blieben    und   nicht  für  eine  Well 
der  Dinge    an   sich    Geltung   beanspruchen  dürften^  ja  niüsstea 
Mit   diesem    thatsächlicb  aus  psychologischen  Erwägungen  hervor-^ 
gegangenen    Irrtum    hat    Kant    selbst    die    psychologischen    Auf- 
fassungen seiner  im  Wesen  durchaus  nicht  psychologisch  gemeinte». 
Entdeckungen  verschuldet.     Ebenso  hat  er  in  der  Ethik  zwar  da^M 
Gesetz  der  Einheitlichkeit  vernünftiger  menschlicher  Handhmgei^P 
aufs  schärfste  betont  und  es  als  Gesetz  fur  ein  Reich  der  Zwecke 
freier  Wesen    gekennzeichnet;    aber   er    hat   es  völlig  unniittelbair^ 
auf  das  menschliche  Handeln  für  anwendliar  gehalten;  er  hat  nicht- 
gesehen,    dass   es    nui'  Ziel  und  Richtlinie  sein  kann,  wonach  wic^ 
die  praktischen  Ordnungen  des  Lebens  selbst  ausgestalten  mtisseH  y 
dass  diese  Ausgestaltung  notwendig  ist,  wenn  es  auch  nur  möglich  seiim 
soll,  das  individuelle  Handehi  diesem  Gesetz  gemäss  zu  gestalten:  i) 
und  er  hat  mit  seinem  „Du  kannst,    denn  Du  sollst!**  einen  Rigo- 
rismus —  sehr    wider  seine  Absicht  —  gelehrt,    der   thatsächlicb 
Ideal    und    Wirklichkeit    unüberbrückt    lässt    und    den    Einfluss 
seines    Sittengesetzes    auf   das    wirkliche   Handeln    und    wirkliche     , 
Ordnen    der  Gesellschaft   verkümmern   musste.      Damit   erwächst 
ihm  kein  grosser  Vorwurf.     Zu  seiner  Zeit  gab  es  noch  nicht  die 
Anfänge  eines  Verfassungsstaates    in  Deutschland  und  somit  noch 
nicht  die  praktische  Aufgabe  aller  Staatsbürger,  das  Gesetz  der 
Einhelligkeit   zum    Leitfaden    ihrer  gesetzgeberischen  Willensent- 
scheidungen   zu    machen.     Aber  ein  grosser  thatsächlicher  Schade 
war   es    doch,    denn   umso    leichter    konnten    in    den  rückläufigen 
ersten  Jahrzehnten  des  vorigen  Jahrhunderts  seine  Gedanken  ver- 
schüttet  und   vergessen  werden,    und  auch  dann  noch  nnbegriffen 
und  unangewandt  bleiben,    als  die  Anfänge  des  Verfassnngslebeus 
die  altautoritäre  Normativethik  prinzipiell  unmöglich  machte.     Als 
es  dringend  erforderlich  gewesen  wäre,  einen  Leitfaden  aufzustellen, 


1)  In  sfiiner  Schrift  zum  „ewigen  ïYieden"  Anhang  H  spricht  Kant 
betr.  des  Völkerrechts  aUerdings  davon,  die  Voraussetzung  sei,  dass  ein 
rechtlicher  Zustand  existiere«  Das  wäre  für  unseren  Fall  in  seine  Konse- 
queiuc  zu  V erfolgen. 


KanU  Bedeutung  für  die  PiLdagogik  der  Qegeiiwart. 


245 


danach    die  Willensentiicheiilttiig  bei    gesetzg-eberischer  Thätig"keit 
hätte  stattfiadeu    sollen,    fehlte    das  Bewusstselu    von  Kants  Vor- 
arbeit    So  begründete  sich  auch  voe  hier  aus  —  abgesehen  von 
dea  Einfliisseo    der  rohen  Triebe  —  an  Stelle  der  Einheitlichkeit 
des    Zusammenwirkens    eiii    durch    Kompromisse    zeitweilig  ober- 
^rückt^r    Interessenkampf,    ein   Streit    der    Geschmacksurteile,    in 
dessen  bedenklicher  Entwickehing  wir  mittea  inne  stehen* 

In  dieser  Hinsicht  ist  das  Wort  Liebmanns  auch  heute  noch 
»m  Platz,  »»Also  muss  auf  Kant  zurückgegangen  werden".  Und 
^bcsnso  ist  es  auf  theoretischem  Gebiete  der  wissenschaftliche,  von 
allem  Zwange  der  Methodik  und  des  G!au!»cns  YöUig  freie  Gedanke 
<ler  vernünftigen  Einhelligkeit  aller  Erkenntnisse  und  aller  Er- 
'^onntnismethoden,  der  noch  heute  sowohl  gegenüber  den  „leoni- 
Hischen"  Gelüsten  eines  Willmann,  als  auch  gegenüber  den  Platti- 
tiiden  der  Mr.  Gradgriuds  und  ihrer  engen  „Thatsachen"gelehr- 
samkeit  den  Ruf  notwendig  macht:  Also  muss  auf  Kant  zmück* 
gegangen  werden. 

Uud  da  unsere  Kultur  au  einem  Schwebepmikte  angelangt 
ist,  w^o  es  sich  ernsthch  fragt,  ob  nicht  die  destniktiveu  Mächte 
eines  heute  immer  anarchischer  sich  entwickelnden  Autoritarier- 
und Interessent  ums  wieder  über  die  bildenden  Kuttiu^mächte  siegen 
uud  uns  wiederum  um  einige  Stufen  herabdriicken  sollen:  so  tritt 
vor  allem  auf  das  dringendste  die  Frage  heran,  ob  diejenigen 
wissenschaftlichen  Grundsätze,  auf  denen  die  ernste  Wissenschaft 
bereit«  niht,  dit^jenigeu  sittlichen  Grundsätze,  auf  denen  imser 
Rechts-  und  Verfassiuigsleben,  wenn  es  nicht  ein  Spott  sein  soll, 
ruhen  niuss,  nicht  auch  bewusst  und  folgerecht  die  Grundlagen  der 
Jugenderziehung  bilden  sollen  un*!  müssen.  Denn  auf  der  Jugend 
heniht  unsere  Zukunft.  Gl»  wir  es  durchsetzen  können,  dass  sie 
zu  völlig  vorurteilsloser,  von  keiner  Dogmeuscheii  angekränkelter 
Wahrhaftigkeit  und  zu  einer  von  keiner  Menschenfurcht  getrübten 
sittlichen  Selbstb^'stimmung  erzogen  werden,  das  ist  die  Haupt- 
frage, um  die  si(*h  in  den  nächsten  Jahrzehnten  geradezu  alles 
dreht  Und  insoweit,  als  Herbails  psychologischer  Schematismus 
und  erkenntniskritischer  Eklektizismus,  ebenso  wie  sein  ideal  ge- 
färbter Halbautoritiirismus  diesem  Ziel  im  Wege  stehen,  handelt 
es  sich  auch  auf  dem  Gebiete  der  Pädagogik  und  vor  allem  auf 
ihm  darum,  ihn  zu  überwinden.  Hier  vor  allem  also  müssen  wir 
den  Ruf  erheben:  Also  muss  auf  Kant  zurückgegangen  werden! 


Herder  und  Kant 

an    ihrem    100jährigen    Todestage. 
Von  Eugen  Kühnemann  in  Posen. 


Der  huiidertj ährige  Todestag  Kants  ist  ein  echter  Jubiläums- 
tag,  —  ein  Tag,    der  jeden  mssenschaftliehen  Mann  zur  Einkehr 
zwingt.    Denn  es  ist  iinmögiich,    über  ihn  zu  schi-eiben,    ohne  ein 
Bekenntnis    abzulegen  —  und    ein  Bekenntnis  nicht  nur  über  den 
Begriff,  den  wir  von  der  Wissenschaft  haben,  sondern  über  unser« 
ganse  Art,  zu  Leben  und  Welt  zu  stehen*     Dies  ist  das  Ruhmes- 
Zeugnis  für  ihn,   wie    es  in  der  Geschichte  des  wissenschaftlichen 
Geistes  einzig  dasteht.    Das  Werk  Kants  bedeutet  diejenige  Klar- 
heit des  Menschen    über   sich    selbst,    nach    der   die  intellektuelle 
Geschichte  der  modernen  Menschheit  drängt,    und   damit   zugleich    , 
den  Ausgangspunkt  einer  unendlichen  weiteren  Arbeit.  M 

Es  ist  aber  auch  eine  ganz  seltsame  Fügung,  die  die  Todes- 
tage Herders  und  Kants  so  nahe  zusammengerückt  hat,  zweier 
Männer,  die  in  der  Jugend  Herders  als  Lehrer  und  Schüler  in  innigster 
Gemeinsamkeit  verbunden  waren  und  am  Lebensende  in  tötlicher 
Feindschaft  von  Herders  Seite  zum  Ausdruck  wurden  für  zwei 
entgegengesetzte  Sichtungen  des  Geistes,  —  der  Mann  der  grossen, 
mitlebenden  und  mitfühlenden  Phantasie,  der  Seher  der  Geschichte 
und  prophetische  Erwecker  eines  neuen  Dichtungsfrühlings  und  der 
Mann  des  logischen  Gewissens,  dem  kein  Leben  möglich  ist  als  in 
wissenschaftlich  zweifellosen,  ihrer  Begründung  gewissen  Begriffen»— 
zugleich  der  letzte  geniale  Ausläufer  der  alten  metaphysisch  dich- 
tenden Philosophie  und  der  erste,  ganz  reine  Tj^ïus  des  spezilisch 
modernen  Geistes,  für  den  das  Wissen»  das  wirkliche  Wissen 
Inbegriff  seiner  Sehnsucht  und  die  bestimmende  Macht  im  Leben 
geworden  ist. 

um  diese  Dinge  wieder  zum  Austrag  zu  bringen,  scheint  der 
Augenblick   sehr  günstig   zu  sein.    Schon  bei  den  vielen  Herder- 


Herder  und  Kant 


247 


{eîeni  glaubte  man  etwas  mehr  zu  spiireii  als  iitterarische  Mode, 
Hache  und  Neugier,  Es  wirkte  etwas  mit  wie  ein  Zug  nach  jener 
Zeit»  deren  führender  Genius  Herder  gewesen  ist,  wie  ein  Be- 
dürfnis, w^eoigstens  sich  in  eine  neue  Beziehung  zu  setzen  zu  dem 
innersten  Geiste,  der  die  Blütezeit  unserer  grossen  Dichtung  be- 
seelt hat.  Vollends  für  Kant  ist  die  Epoche  eines  neuen  Xantia- 
nisnius  gekommen,  in  der  aber  nun  der  letzte  Anschein  einer 
philosophischen  Schulbildung  abgestreift  wird.  Der  Geist  seiner 
Methodik  arbeitet  sich  aus  allen  tradition i?ilen,  bloss  historischen 
Formen  heraus.  Es  handelt  sich  nicht  mehr  um  das  System  mit 
seinen  Theorien  in  allen  Einzelheiten,  das  als  etwas  Fremdes 
neben  die  spezial wissenschaftliche  Arbeit  tritt  Sondern  die  Grund- 
gedanken Kants  erscheinen  als  der  Ausdruck  der  tiefinnerlichsteu 
gemeinsamen  Überzeugung  in  der  wissenschaftlichen  Arbeit  der 
^|rschiedenen  Wissensgebiete  selber,  wobei  dann  der  Gegensatz 
^pd  die  entschiedene  Bekämpfung  der  einzelnen  Positionen  des 
Systems  sehr  wohl  möglich  bleiben.  Kant  soll  wieder  einmal  und 
auf  neue  Weise  der  Zeit  seinen  Dienst  erweisen  als  der  Punkt 
der  Orientierung  für  alle  die  auseinandergehenden  Tendenzen  des 
Tag;es.  So  gilt  uns  seine  Jubiläumsfeier  noch  mehr  als  diejenige 
Herders   nicht   als  ein  Gedächtnistag,    sondern  als  eine  Sache  für 

t  Leben. 
Mit  wenigen  Andeutungen  möchten  wir  bei  dieser  Fügung 
yerweilen,  die  die  beiden  Männer,  die  sich  so  nahe  gestanden 
und  schliesslich  soweit  von  einander  rückten,  hundert  Jalire  nach 
ihrem  Tode  noch  einmal  zusammenbringt  und  zu  Nachbarn  macht. 
Nicht  nur  für  jene  Zeit  sind  sie  uns  zwei  typische  Richtungen 
des  Geistes  und  der  Wissenschaft.  Auch  in  dem  Ringen  unserer 
Tage  um  eine  Weltanschauung  klingt  es  oft,  als  setzten  die  beiden 
grossen  Gtdster  ihre  Zwiesprache  fort.  Für  den  Reichtum  der 
^ktschen  Bildung  ist  nichts  so  charakteristisch,  als  dass  sie  das 
^^stige  Leben  beider  in  sich  aufnehmen  konnte.  Vielleicht  tritt 
in  keiner  anderen  Betrachtung  so  deutlich  hervor,  wie  sehr  die 
Todestage  dieser  Männer  feiern  heisst  der  Gegenwart  dienen. 

^m  Hf^der  ist  der  Mann  der  grossen  schauenden,  mitfühlenden 
Iftd  mitlebenden  Phantasie.  Ihm  hat  die  Natur  die  Gabe  ver- 
làehêo,  sich  hinein  zu  versetzen  in  dàë  Lebensgefühl  eines  Dickters 


L 


248 


K.  K  ü  h  n  e  m  H  n  n  î 


oder  eines  Volkes,  wie  es  etwa  iu  den  wahrhaft  empfiii 
Liedern  zu  ihm  spriclit.  Daher  der  starke  Zug  seiner  Seele  zu 
der  aus  orsprünglichem  Gefiihl  hervorbrechenden,  lebendigren,  inner- 
lich w^ahren  Dichtang,  weil  er  heinah  der  erste  ist,  der  sie  in 
ihrer  ganzen  Bedeutung  als  menschliches  Zeugnis  versteht,  indem 
er  die  Tiefen  seelischen  Lebens  herausliest,  die  sich  in  ihr  offeo- 
baren.  Ks  ist  dasselbe  nienschheitliche  Leben,  das  da  überall 
hervortritt,  in  den  nordischen  Urvölkern  wie  in  den  reichen  Kul- 
turen des  Südens,  iu  uralter  Zeit  wie  in  den  grossen  Geschichts- 
epochen und  in  der  Gegenwart,  In  allen  den  tausend  so  ver- 
schiedenen Klängen  erkennt  er  die  eine  Stimme  der  Menschheit. 
Den  Begriff  der  Menschheit  hat  er  mit  eigentümlichem  Leben  er- 
füllt. Auf  diesem  Wege  wird  er  der  grosse  Kündiger  des  mensch- 
lichen ^Seelenlebens  in  der  Geschichte,  da  er  zugleich,  iu  einer 
und  derselben  Kraft,  besitzt  den  Sinn  für  die  Mannigfaltigkeit  der 
Völker  und  für  die  Kinheit  des  Menschengeschlechts,  Er  versteht* 
ein  jedes  in  seiner  Art  und  in  allen  zusammen  Erscheinungsformen 
derselben  raenschheitlichen  Anlagen,  Aus  diesen  Gedanken  bestehl 
die  Herdersche  Geschichtsphilosoi*hie.  Wie  sie  aber  im  wahrstett 
Sinne  des  Wortes  für  ihn  erlebte  Gedanken  sind,  —  denn  sie  sind 
nur  der  Ausdruck  der  mit  ihm  geboreneu  Art  zu  sehen,  zu  ver- 
stehen, zu  erfahren  —,  so  ist  ihm  diese  ganze  B'orschiing,  dieses 
Finden  der  Menschheit  in  ihrem  K  eich  tum  von  Lust  und  Freudi 
erfüllt.  Und  dies  ist  der  eigentliche  Inhalt  der  Herderschea 
Menschenliebe,  seiner  inbrünstigen  Liebe  der  Humanität,  Sie  i 
nichts  anderes  als  die  Freude  am  lebendigen  Eeichtuni  di 
Menschheit. 

Das  Charakteristische  hei  Herder  aber  liegt  in  der  allge- 
meinen Weltanschauung,  die  sich  bei  ihm  im  Gefolge  der  erlebten 
Gedanken  herausbildet.  Diese  Weltanschauung  findet  üire  völlige 
Krklärung  darin,  dass  er  der  Philosoph  des  Lebens  und  zunächst 
des  seelischen  Lebens  ist.  Die  Menschheit  begreift  er  als  eine 
einheitliche  Kraft,  die  sich  in  so  vielen  Erscheinungen,  in  jeder 
aber  ganz  und  ungeteilt  offenbart.  Die  Menschheit  selber  aber 
ist  eine  der  unendlich  vielen  Formen  des  Lebens  in  der  Natui*. 
tlberall  in  der  Welt  entfaltet  sich  das  Leben  in  den  i'ormen,  wi 
sie  nach  den  jeweiligen  Bedingungen  möglich  sind,  —  in  allen 
unendlich  verschiedenen  Formen  also  dieselbe  zahlloser  Wand- 
lungen fähige,  doch  immer  gleiche  Lebendigkeit.  Und  so  erhebt 
er  sich   zu   der   letzten  Anschauung   der  unendlichen  Gotteskrafi 


a 


Herder  und  Kant* 


249 


tlio  sich  in  Natur    iinil  Meosnliheit    ibr*^  Formen   schuf,    iu  unetid- 
licheu  Kräften  auf  iiiieiulliclü^  Weisen  /Aim  Austlnick  konmU.     IHi> 
zaUloseo  Wesen  alle  drückeü  iü  ilirer  Selbstäüdigkeit  die  Ur-  und 
Allkraft,  aus.     In    der   Organisation    eines   jeden  hat  die  Gottheit 
sich  selbst    nach  ewigen  (resetzeo  beschrankt.    Jedes  beruht  und 
hat  seinen  Bestand  in  einem  gewissen  Gesetz  des  Masses  und  der 
Proportion,    das    überall  die  Welt  regiert.     Die  innere  Notwendig- 
keit Jer   göttlichen  Natur  erscheint  in  der  inneren  Notwendigkeit 
aller  der  zahllosen  Wes^'U  im  Universum. 

Die  ganze  Weltauffassung  Herders  durchdringt  sich  /Jigieicb 
*i[iit  Naturinnigkeit  und  Gottseligkeit.  Die  Einheit  des  unendlichen 
Xiébens  in  der  Vielheit  der  Dinge  erfüllt  ihn  mit  dem  Gefühl  un- 
endlicher Schöne,  Der  Reichtum  Gottes  und  der  Natur,  wde  er 
^iberall  Leben  schafft  und  überall  dasjenige  lieben,  das  sich  bier 
'lîDd  so  entwickeln  konnte,  erscheint  ihm  als  weiseste  Güte,  Darum 
ist  ihm  die  höchste  Mat^ht  die  weiseste,  eine  nach  inneren  ewigen 
Gesetzen  geordnete  unendliche  Güte.  Jedes  Geschöpf  hat  eine 
ihm  wesentliche  Wahrheit,  Harmonie  und  Schönheit»  auf  die  seine 
Existenz  mit  so  innerlicher  Notwendigkeit  gegründet  ist,  als  auf 
welcher  unbedingt  und  ewig  das  Dasein  Gottes  ruht.  Die  ganze 
Welt  ist  eine  grosse  Predigt  und  Erziehung  zur  Harmonie.  Sie 
entdeckt  sich  in  jedem  Gedanken  Herders  zugleich  als  Erkenntnis, 
als  Kunstwerk,  als  Gottesdienst  und  als  Schule.  AUe  diese  Ein- 
sichteu  al»er  fühlt  er  ausdrücklich  als  einen  (-Jewinn  seiner  um  die 
Tiefen  der  Dinge  bemühten  Wissenschaft,  die  sich  nicht  an  Wort- 
Schemen  berauscht.  Ein  bescheidener  Naturforscher  will  er  sein, 
—  nichts  w^eiter.  Die  Physik^  die  sich  schlicht  um  die  innere 
Natur  der  Dinge  bekümmert,  führt  uns  hinein  in  dieses  Reich  der 
'Weisesten  Notwendigkeit,  einer  in  sich  selbst  festen  Güte  und 
Schönheit. 

Es  ist  ilie  Idee  des  Monismus,  die  in  diesen  Gedankengängen 
einen  eigenartigen  Ausdruck  gefunden  hat.  Natur  und  Menschheit 
sind  gedacht  als  Erschein ungsfoiTnen  eines  grossen,  unendlichen, 
einheitUcben  Lebens.  Es  ist  die  gleiclie  gi^osse  Gesetzlichkeit»  dii^ 
in  beiden  gesucht  und  anerkannt  wird,  die  gleiche  innere  Not- 
wendigkeit des  Daseins.  Diese  gesetzlich  wirkende  Kraft,  diese 
innere  Notw^eudigkeit  des  Daseins  heiast  Gott.  Seine  geistigen 
Kräfte  offenbai'en  sich  organisch  in  der  Welt.  Durch  eine  eigene 
Wendung   des    Gedankens    wird    diese  gesetzlich  wirkende  Gottes- 


E.  Klthnemann, 

Mlar  KUgleich   der   Inbegriff   der   höchsteo  SchöDheit,    Harmouif 
«ml  Giit^. 

Dieser  Monismus  will  durchaus  für  einen  uaturwissenschaft- 
üdien  gehalten  sein.  Der  ganze  Stolz  des  Thatsachenwissens 
uud  der  Naturerkenntnis  spricht  überall  aus  Herders  Gedanken, 
Thatsachen,  Wirklichkeit,  das  Dasein  selbst  in  seiner  Gegebenheit, 
Natnreinsicht,  —  nicht  Wortschemeu,  leere  Begriffe»  Illusion,  tote 
Tradition  —  dies  ist  der  immer  wieder  betonte  Gegensatz,  der  in 
«Huor  doppelten  Richtung  zum  Ausdruck  kommt.  Einmal  gegen 
die  Metaphysik  mit  ihren  miissigen  Spekulationen.  Ihr  gegen- 
über haben  wir  das  Wissen  von  der  Natur.  Andererseits  gegen 
dit^  überlieferte  Religion  der  Dogniatik.  Wir  haben  den  in  Natur 
lind  Welt  sich  bezeugenden  lebendigen  Gott. 

Herders  Weltansicbt  ist  der  Monismus  der  modernen  grossen 
philosophischen  Systeuie  in  der  ganz  eigentümlichen  Brechiuig 
durch  das  Medium  des  geschichtlichen  Geistes^  wie  er  sich  in 
diesem  ästhetisch  auffassenden  Üeuter  des  seelischen  Lebens  ent- 
wickelt hat.  Alle  in  der  Biologie  wurzelndeu  monistischen  Ver- 
suche  haben  in  Herder  ihren  Ausgangspunkt  und  ihren  Typus»  — 


2, 

Kant  ist  der  Mann  des  logischen  Gewissens.  Ihm  ist  es 
möglich,  Begïîffe  zu  gebrauchen,  die  er  nicht  nach  ihrer  Not- 
wendigkeit für  das  Gebiet  der  Erkenntnis,  dem  sie  dienen,  ab- 
geleitet und  begründet  hat.  Auf  dieser  seiner  Eigentümlichkeit^ 
beruht  seine  revolutionierende  Wirkung  für  die  Wissenschaft. 

Diese  revohitionierende  Wirkung  kann  in  keinem  anderen 
Zusammenhange  gimser  herauskommen  als  in  der  Auseinander- 
setzung mit  Herder  und  seinem  naturalistisch-reügiösen  Monismus, 
Die  Gewissheit,  die  für  Herder  als  die  ei-ste,  ganz  unzweifelhafte 
sich  herausstellt,  war  die  jenes  letzten,  in  sich  selber  seligen  Da- 
seins, Gottes^  der  in  unendlichen  Kräften  auf  unendliche  Weisen 
überall  sich  offenbart.  Die  Natur  ist  ihm  ein  imendliches,  in 
schöpferischer  Fülle  sich  beweisendes,  göttliches  Wesen.  Hier  er- 
hebt sich  nun  die  Kantische  Frage  zum  eisten  Mal  in  ilirer 
Schärfe.  Welche  Begriffe  gehen  als  notwendige  in  den  Naturge- 
danken ein?  Da  finden  sich  dann  wohl  solche  wie  der  Begriff 
der  Grösse,  der  Substanz,  der  Kausalität,  der  Kraft,  der  Wechsel- 
wirkung.    Aber   es   findet   sich    in    keiner  Form   der  Begriff  der 


Herder  iind  Kant. 


Göttlichkeit,  Höchstens  liegt  als  Zielpimkt  imserf^r  Forscliungen 
7or  ans  die  Idee  des  Ganzen  der  NaliU'  als  eines  imbedia^ten 
Daseins.  Aber  auch  dies  ist  im  Grunde  nur  die  Idee  einer  letzten 
systematischen  Einheit  unserer  Erkenntnisse.  Darüber  hinaus  giebt 
es  keine  Möglichkeit  religiöser  Behan[>tnngen  in  der  theoretischen 
Wissenschaft  von  der  Natnr.  Die  Natur  als  Gegenstand  der  Wis- 
senschaft kennt  Gott  nicht. 

Das  göttliche  Dasein,  das  als  letzte  Gemssheit  allen  Ge- 
danken Herders  zu  gründe  liegt,  ist  ferner  eine  nnendüch  weise 
und  nnendlich  gütige  Kraft.  Alle  Güte  im  Leben  der  Menschen 
ist  eine  Nachahmung  Gottes.  Auch  wir  sollen  das  Gesetz  des 
Hasses,  der  Ordnung,  der  Proportion  beobachten,  auf  das  seine 
Welt  gegründet  ist,  und  sollen  uns  nach  seinem  Vorbild  halten  in 
gutiger,  reicher,  belebender  Liebe.  Die  sittlichen  Gesetze  sind  für 
Herder  eins  mit  den  Weltgesetzen  der  göttlichen  Natur.  Aber 
auch  hier  wiederholt  sich  die  bescheidene  Kantische  Frage.  Das 
sittliche  Urteil,  die  praktische  \'ernunft,  nach  deren  Vorschrift  wir 
unser  Leben  einrichten,  ist  eine  ganz  zweifellose  Gewissheit. 
Welche  Begiiffe  nun  gehen  mit  Notwendigkeit  ein  in  unsern  Be- 
griff der  sittlichen  Vernunft?  Ist  der  Begriff  Gottes  darunter? 
Kant  verneint  es.  Das  sittüche  Gesetz  gebietet  als  ein  unbe- 
dingtes, —  als  das  Gesetz,  durch  welches  eine  Gemeinschaft  der 
Menschheit  hergestellt  und  erst  möglich  wird,  —  als  ein  der 
menschlichen  Vernunft  allein  entspringendes  Gesetz.  Der  Gedanke 
der  sittlichen  Autonomie  der  Vernunft  ist  im  Sinne  der  Kultur- 
geschichte der  stärkste  und  modernste  Gedanke  der  Kantischen 
Philosophie.  Er  stellt  die  menschliche  Sittlichkeit  auf  ihren 
eigenen  Grund.  Auch  die  Sittlichkeit  in  Uirem  Ginnde  kennt 
Gott  nicht. 

Das  Herdersche  Reich  Gottes  und  der  Natur  war  endlich 
nicht  nur  das  Reich  des  unendlichen  Lebens,  der  Weisheit  und 
Güte,  sondern  auch  das  Reich  der  Schönheit  und  Haimonie. 
Wenn  irgendwo,  scheint  hier  jedes  menschliche  Gefühl  den  Herder- 
schen  Gedanken  zu  bezeugen.  Denn  was  ist  offenbarer  als  die 
Hen'licbkeit  und  Schönheit  der  Natur?  Die  Physik  führt  uns 
nach  Herder  in  das  Reich  der  weisesten  Notwendigkeit,  einer  in 
sich  selbst  festen  Güte  und  Schönheit.  Aber  nach  Kant  enthält 
der  Gedanke  der  menschlichen  Wissenschaft  in  sich  so  wenig 
I  âBthetische  Elemente  wie  religiöse  und  etlüsche.  Die  Physik  führt 
in    das  Reich   der    Gesetze,    aber   nirgends    darüber  hinaus.     Alle 


2Ö2  E.  Kühnemann, 

jene  anderen  Züge  der  Weisheit,  Güte  und  Schönheit  sind  nicht 
in  der  Natnr  als  dem  Gegenstände  der  Wissenschaft,  sondern  sie 
sind  allein  in  der  menschlichen  Betrachtungsweise.  Wei?  sie  aber 
in  den  Begriff  der  Natur,  soweit  der  Verstand  sie  durch^fingen 
will,  aufnimmt,  der  verdirbt  die  Wissenschaft.  — 


3. 

Ks  wird  schwor  sein,  einen  Gegensatz  auszufinden,  der 
grösser  wäre  als  der  zwischen  diesen  beiden  Denkweisen.  Greifen 
wir  sogleich  den  Punkt  heraus,  an  dem  der  Nerv  des  Auseinander- 
gehens  zu  erkennen  ist  Für  Herder  ist  die  letzte  Gegebenheit 
und  der  Ausgangspunkt  aller  Wissenschaft  eine  grosse,  aas8e^ 
geistige,  für  sich  bestehende  Thatsache,  die  Thatsache  des  grossen, 
auf  ewigen  Gesetzen  beruhenden  Naturdaseins,  welches  wir  wiede^ 
spiegeln  in  unserem  Geiste.  Für  Kant  giebt  es  an  keiner  Stelle 
eine  Möglichkeit,  hinauszukommen  über  die  Grenzen  unseres 
Geistes,  des  Bewusstseins.  Ausserhalb  unserer  Vorstellungen 
kennen  wir  eben  nichts.  Vom  Wesen  der  Dinge  in  der  Herde^ 
sehen  Weise  und  in  der  Weise  der  alten  Metaphysik  zu  reden  ist 
uns  versagt.  Aber  der  Gedanke  der  Natur  als  der  gemeinsamen 
objektiven  Wahrnohniungswelt  der  Menschen  ist  ganz  gewiss  eine 
Aufgabe  der  Erkenntnis.  Wir  können  feststellen,  welche  Begriffe 
mit  Notwendigkeit  in  den  Naturgedanken  eingehen.  Diese  sind 
dann  die  konstituierenden  Elemente  der  Natur.  Das  ewige  Wesen 
der  Natur  in  sich  selber  entzieht  sich  unserem  Können.  Jene  Be- 
griffe dürfen  freilich  behauptet  werden  als  der  Natur  notwendige. 
Von  der  Natur  zum  Geiste  führt  der  Weg  nicht,  wohl  aber  vom 
Geiste  zur  Natur.  Schiller  hat  dies  in  die  kühne  Prägung  ge- 
bracht: die  Natur  steht  unter  dem  Verstandesgesetze.  Es  ist  der 
Gegensatz  des  Naturalismus  und  des  Idealismus,  der  hier  als  der 
Grundgegeusatz  in  den  menschlichen  Weltanschauungen  sich 
aufthut. 

Nichts  kann  charakteristischer  sein,  als  dass  dieser  Gegen- 
satz zwischen  Herder  und  Kant  gerade  am  Problem  der  Geschichte 
zur  ersten  P>örterung  kam,  —  in  jenem  litterarischen  Streit  um 
Herders  „Ideen  zur  Philosophie  der  Geschichte  der  Menschheit*", 
zunächst  in  den  beiden  Rezensionen  Kants,  die  von  Herder  sofort 
als  der  tötliche  Stoss  in  das  Innerste  seines  Lebens  empfunden 
und  von  ihm  niemals  verschmerzt  worden  sind.    Das  Problem  der 


Herder  und  Kant. 


2Ô3 


Geschichte  —  das  ist  das  Problem  des  Menschen.    Dobii  der  Mensch 
fct  eis  Wesen,  welches  Geschichte  hat.     Es  ist  das  log-isch  feinste 
Problem  der  menschlichen  Wissenschaft,   weil  an  ihm  das  Verhält- 
nis zwischen  Naturgesetzliehkeit  und  KulturgesetzUchkeit  zur  Ent- 
scheidonç    kommt.     Zwei    diirchschlag:ende  Einwürfe    richtet  Kant 
gegeo  Herder.     Einmal,  dass  bei  ihm  die  Geschichte  als  eine  Ein- 
bit  der  Entwicklung  garnicht  begriffen  werden  kann.    Denn  wenn 
jedes  Volk    auf  seine  Art   und    mit  seinem  Recht   die  Menschheit 
darstellt,    so    gieht    es    keinen  Massstab  der  Wertabschätzung  für 
ik  Arbeit  der  Kultur     Aber  noch  tiefer  trifft  der  Einwurf  gegen 
den  Herderschen  Naturbegriff.    Diese  letzte  gewisse  That  sache  des 
j§fötUichen  Daseins  mit  seinen  geistigen,  sich  überall  offenbarenden 
Kräften  ist  —  —  keineswegs  eine  zweifellose  Thatsache,  vielmehr 
eine  Erdichtung   dogmatischer  Metaphysik.    Es    ist   eine  metaphy- 
sische Erdichtung,  von  der  Gleichartigkeit  des  Lebens  in  vei'schie- 
denen  Erscheinungen    zu  schliessen   auf  die  Einheit  der  bildenden 
feistigen  Kraft. 

Kein  Schlag  konnte  vernichtender,  für  Herder  verblüffender 
sein.  Der  grosse  Entdecker  der  Geschichtsphilosophie  hat  keine 
Handhabe  zur  Lösung  des  Geschichtsproblems.  Uie  gewisse^  selige 
Thatsache,  die  er  mit  Inbrunst  umklammert,  ist  —  metaphysische 
Erdichtung,  Einbildung. 

Jede  Vei-ständigung  war  ausgeschlossen.  Es  ist  der  Gegen- 
satz der  beiden  Richtungen  des  Geistes,  zwischen  denen  die  Ver- 
stündigung  überhaupt  ausgeschlossen  ist.  Genau  in  dem  Sinne 
wie  bei  Herder  und  Kant  stehen  sie  sich  heute  gegenüber.  Herder 
ist  der  grosse  Forscher,  der  grosse  Empiriker,  der  aus  seinem 
Kreise  der  Erfahrung  sich  die  allgemeinen  Weltliegriffe  bildet,  und 
da  sie  für  ihn  nur  der  allgemeine  Ausdruck  sind  für  die  vielen 
Einzelerkeniitnisse,  die  ihn  beglücken,  so  gelten  sie  ihm  so  gewiss 
wie  diese  Erkenntnisse  selbst.  Kant  ist  der  philosophische  Kopf, 
für  den  das  alles  beheiTSchende  Interesse  das  eine  ist  an  der 
Gewissheit  der  Begriffe,  die  er  gebraucht.  Jenem  der  Empirie 
entstammenden  Naturalismus  wird  aber  an  dieser  Stelle  eine  grosse 
Lehre  zu  teil.  Heute  wie  damals  fühlt  er  sich  als  die  von  Natur- 
wissen gesättigte  Philosophie  überlegen  der  naturfremden  müssig 
dichtenden  Spekulation.  Aber  er  ist  selbst  nicht^s  anderes  als  dog- 
matische Metaphysik.  I>as  ist  jede  Lehre,  die  das  vermeintliche 
Wesen  des  Wirklichen  in  seiner  ewigen  Gesetzlichkeit  meint  aus- 
sprechen   zu    können.     Heute    wie    damals  nimmt  der  monistische 


254 


E.  Kühn  emann, 


Naturalismus  gern  im  Geg^ensatz  zur  traditionelleD  Beligion 
Forijï  einer  neuen  frohen  Botschaft  an.  Heute  wie  damals  fällt' 
die  kritische  Eatscheidung  über  ihn  bei  dem  Problem  der  Ge- 
schichte. Nur  der  kritische  Idealismus,  der  keine  audereo  Begriffe 
ansetzt  als  diejenigen,  die  für  die  unabweisbaren  Aufgaben  der 
Vernunft,  sich  als  notwendige  erweisen,  ist  wirklich  frei  von  aller 
Metaphysik  und  jenseits  von  aller  —  auch  religiösen  —  Dogmatit  , 
Der  Empiriker,  der  philosophiert,  wird  immer  Dogmatiker  sein,    fl 

So  —  darf  man  sagen  —  handelt  es  sich  noch  heute  M 
lien  Lebensfragen  der  Wissenschaft  und  Weltanschauung  um  eins 
Fortsetzung  des  Zwiegesprächs  zwischen  Herder  und  Kant. 


Hier  wie  stets  ist  der  brennende  Punkt  für  die  AuseiuaIlde^ 
Setzung  der  Lebens-  und  Weltanschauungen  die  Frage  Gottes. 

Das  ganze  Oegeusatzgefühl  Herders  gegen  das  Kautiscbe 
Denken  möchten  wir  in  seiner  Schärfe  au  diesem  Punkt  zum  Aus- 
druck bringen  --  um  so  mehr,  da  auch  heute  noch  die  Einwand 
hier  am  stärksten  sein  werden,  —  gerade  hier  also  —  in  die» 
Gnmd-  und  Hauptfrage  des  Lebens  —  jene  Zwiesprache  zwischei 
Herder  und  Kant  sich  fortsetzt.  Und  nirgends  tritt  so  sehi*  he 
vor,  dass  die  Kantische  That,  scheinbar  so  paradox,  widersinni|j 
und  zerstörend,  thatsächtich  befreiend  ist  und  Leben  aufbaut. 

Wie  musste  Herder  zu  Mute  sein  bei  den  Darlegungen  Kants  1 
Für  ihn,  für  Herder,  ist  Gott  das  erste,  das  allergewisseste,  die 
grosse  Grundthatsache,  ohne  die  keine  andere  Thatsache  ist,  der 
Mittelpunkt  der  ungeheuren  Kugel  des  Daseins.  Es  ist  der  Gott 
des  Reichtums,  des  Lebens,  der  Liehe  und  der  Kraft.  War  es 
ihm  überhaupt  möglich  einzugehen  auf  die  Gedanken  Kants?  Die 
Natur  kennt  C^ott  nicht.  Die  Sittlichkeit  in  ihrem  (irunde  kennt 
Gott  nicht.  Die  Natur  als  Gegenstand  des  Verstandes  kennt  keine 
Schönheit  War  das  nicht  eine  fi^evelhaft  entgötterte  Welt?  Konnte 
es  eine  lächerlichere  Anraassung  geben  als  die  des  kleinen  mensch- 
lichen Sonderlings,  der  vor  die  offenbaren  Bezeugungen  der  un- 
endlichen Gotteskraft  in  der  Welt  hintritt  und  mit  seinem  blinden 
Auge  erklärt:  sie  sind  nicht  da?  Wir  gehen  noch  einen  Schritt 
weiter.  Giebt  es  etwas  Dürftigeres  und  Verstiegeneres  als  dieses 
ganze  Unternehmen,  aus  der  Vernunft  heraus  diese  Welt  zu  ent^ 
wickeln,    von  den  Begriffen    aus  zu  den  Dingen  zu  gehen,  welche 


Herder  und  Kant.  2ÔÔ 

waren  und  wirkten,  ehe  eine  Yemunft  und  ehe  Begriffe  waren? 
So  mochte  die  Sache  für  Herder  stehen.  Der  heutige  Mensch  ist 
vielleicht  mehr  gewöhnt  an  den  idealistischen  Ausgangspunkt  der 
Wissenschaft.  An  dieser  Stelle  wird  es  auch  ihm  schwer  werden 
mitzugehen.  Wenn  wir  nach  Kant  nirgends  hinauskommen  können 
über  den  Bereich  unserer  Vorstellungen  zu  einer  aussergeistigen, 
für  sich  seienden  Wirklichkeit,  —  aber  Gott  soll  doch  mehr  sein 
als  ein  Gebilde  des  menschlichen  Denkens.  Wir  wollen  den  leben- 
digen Gott,  der  war  und  ist  und  sein  wird  und  dessen  Geschöpfe 
wir  sind. 

Nirgends  zeigt  sich  die  Grösse  in  der  Konsequenz  des  Kan- 
tischen Denkens  mächtiger  als  hier  und  nirgends  grösser  die  be- 
freiende Kraft  seiner  Philosophie  für  die  Kultur.  Er  giebt  den 
Gedanken  seiner  Methode  nicht  auf.  Auch  bei  der  Frage  Gottes 
handelt  es  sich  um  ein  Motiv  des  Bewusstseins  und  um  nichts 
anderes.  Aber  er  weist  nun  auch  das  religiöse  Motiv  als  ein  in 
allem  menschlichen  Leben  enthaltenes,  notwendiges  nach  und  ent- 
deckt damit  die  eigentliche  treibende  Kraft  in  allen  religiösen 
Bildungen  des  Menschen.  Wie  die  Natur,  so  entdeckt  sich  Qott 
bei  ihm  in  seinem  Grunde.  Hier  wenn  irgendwo  beweist  sich 
seine  Philosophie  als  die  Pfadfinderin  auch  in  das  historische 
lieben  des  Menschen. 

Den  religiösen  Bestandteil  des  Menschenlebens  findet  Kant 
in  dem  Moment  des  Glaubens,  ohne  den  menschliches  Leben  so 
^enig  zu  denken  ist  wie  ohne  Verstand  und  sittlichen  Willen,  und 
der  —  als  mit  dem  menschlichen  Vemunftleben  notwendig  ge- 
geben —  im  Unterschied  von  allem  historischen  konfessionellen 
Glauben  Vemunftglaube  heisst.  Seine  Wurzel  hat  er  im  sittlichen 
^öin  der  Menschen.  Wir  leben  allein  durch  den  Glauben.  Denn 
*Ues  sittliche  Handeln  ist  auf  das  unendliche  Ziel  gerichtet,  — 
^^klich  zu  machen  das  Keich  der  vollendeten  Menschheit,  das 
^^ich  der  Menschen,  die  sich  dem  Zwang  der  natürlichen  Be- 
gierden entrungen  haben^  und  die  sich  nun  selbst  bestimmen  nach 
^er  Idee  der  Sittlichkeit.  Alles  sittliche  Handeln  steht  unter  dem 
besetze  einer  anderen  Menschheit,  als  die  da  ist,  einer  Mensch- 
^^it,  die  sein  soll.  Diese  andere  Welt  nun,  der  wir  entgegenleben, 
b^t  niemand  gesehen,  und  kein  Verstand  kann  sie  beweisen.  Den- 
noch ist  sie  uns  so  gewiss,  dass  wir  ihr  unser  Leben  unterwerfen. 
^4t  anderen  Worten:  wir  glauben  an  sie.  Denn  eine  Gewissheit, 
^î^  nicht  eine   solche  der  Wahrnehmung  und  des  Verstandes  ist, 


256  E.  Kfihnemann, 

und   die   durch   sich   unmittelbar   und  unzweifelhaft  gilt,   ist  dne 
Gewissheit  des  Glaubens. 

In  allem  sittlichen  Handeln  lebt  eine  geglaubte,  andere, 
höhere  Welt.  Sie  ist  der  Zielpunkt  der  Sittlichkeit  selber.  Das 
sittliche  Gesetz  ist  durch  sich  selbst  gewiss.  Nicht  Grand,  aber 
Folge  und  Form  der  Sittlichkeit  ist  der  Glaube.  Inhalt  und  Aus- 
druck des  Glaubens  ist  die  sittliche  That.  An  seinem  Glanbeo 
erkennen  wir  die  Intensität  des  menschheitlichen  Lebens  im 
Menschen.  Und  dies  ist  der  notwendige  Bestandteil  des  Glaub^is 
im  Menschenleben,  das  in  allem  Leben  notwendig  enthaltene  reli- 
giöse Motiv. 

Nun  wird  freilich  zuerst  der  religiöse  Mensch  in  aUem  dem 
das  nicht  erkennen,  was  er  Gott  nennt,  und  was  ihm  Religion  ist 
Wir  wollen  zu  zeigen  versuchen,  dass  er  etwas  anderes  daront« 
gamicht  verstehen  kann.  — 

Zunächst  bestimmt  sich  hier  der  Sinn  des  Göttlichen  im 
Gegensatz  zum  bloss  Natürlichen.  Es  ist  ein  höheres  Dasein,  was 
in  unserem  Glauben  lebt  und  in  dem  vom  Glauben  beseelten 
Handeln  wirklich  wird,  —  die  höhere  Welt  der  Liebe,  der  Gute, 
der  Heiligkeit.  Es  ist  der  Inbegriff  dessen,  was  wir  unter  dem 
Göttlichen  zusammenfassen.  Im  Laufe  der  Geschichte  sind  frei- 
lich noch  viele  andere  Vorstellungen  mit  dem  Gottesgedanken 
verknüpft  worden,  Vorstellungen  theoretischer  Art.  Aber  alle 
diese  werden  von  der  fortschreitenden  Entwickelung  auflöst 
Die  sittlichen  Momente  allein  bleiben. 

Femer  aber  ist  dieses  Göttliche  eine  lebendige  Kraft,  und  in 
diesem  Sinn  sprechen  wir  vom  lebendigen  Gotte.  Er  lebt  in  un- 
sereoi  Glauben  und  Handeln  als  die  Kraft,  die  die  höhere  Mensch- 
heit herbeiführt  trotz  alles  Widerstandes  der  Traditionen,  trotz  er- 
starrender Formeln  und  der  erstickenden  Macht  der  Trägheit 
Auf  dem  „Lebendigen"  liegt  der  Akzent.  Wo  menschheitliches 
Leben  wächst,  da  ist  Gott.  Und  wo  das  Leben  erstarrt,  da  ist 
er  nicht,  und  würde  sein  Name  tausendmal  genannt.  Je  inten- 
siver das  Lichtwerden  im  Sinne  der  vollendeten  Menschheit,  um 
so  offenbarer  die  Kraft  des  Göttlichen.  In  diesem  Sinne  kann  er 
mächtig  sein  auch  im  Handeln  des  Atheisten.  Er  beweist  sich 
als  eine  praktische  Gewalt  auch  in  dem,  der  ihn  leugnet. 

Er  ist  die  Erfahrung,  die  sich  uns  in  jedem  neuen  Tage  sitt- 
licher Arbeit  neu  offenbart.  Dies  ist  das  dem  religiösen  Leben 
wesentliche   Wort.    Ein  Gott,  der  nicht  erfahren  wird,  ist  keiner. 


Herder  una  Kant 


257 


Und  was  für  eine  Existenz   wollen  wir  für  ihn  ausserhalb  miserer 

Erfahrung? 

Oder  will  der  religiöse  Mensch  doch  noch  mehr?  Er  will 
ftir  Gott  ausser  unserem  Denken  und  Glauben  die  Wirklichkeit, 
die  Realität.  Diese  —  scheiut  ihm  —  fehlt  in  allem,  was  wir  da 
sa^en.  Aber  das  ist  ein  blosses  ifissverständnis  im  Begriff  des 
Realen.  Das  ist  ganz  gewiss  eine  Realität,  was  als  die  höchste 
Gewalt  alles  Menschenleben  beherrscht  und  lenkt.  Nichts  ist 
ï^îaler  als  die  Ideen,  da  unser  Leben  ihnen  gehört.  Kant  hat  da- 
für den  grossen  Ausdruck  geprägt;  die  Idee  Gottes  hat  nicht 
theoretische,  sondern  praktische  ReaUtät,  d.  h.  sie  ist  kein  Gegen- 
staod  des  theoretischen  Wissens  und  Beweisens,  aber  in  unserem 
Handeln  lebt  sie  als  das  Ziel  unserer  Arbeit,  Die  Kantische  Re- 
ügionspliilosophie  ist  die  grossartige  Begründung  des  Gedankens 
ron  den  freien  Kindern  Gottes.  Das  Prinzip  der  sittlichen  Be- 
stimmung tragen  wir  in  uns  selbst,  als  freie  Wesen.  In  diesen 
Freien  aber  lebt  imd  ist  dann  Gott. 

Endlich  bekommt  auch  der  Begriff  der  Offenbarung  in  diesem 
Zusammenhang  allein  einen  verständlichen  8inn.  Die  Gedanken 
der  Offenbarung  wollen  etwas  anderes  sein  als  die  Einsichten 
des  Verstandes*  Nun  treten  die  rehgiösen  Ideen  hervor  in  den 
prophetischen  Genien  als  unmittelbare  Gewissheiten^  über  Sinn 
und  Verstand  hinaus,  als  mächtige,  den  ganzen  Menschen  zwin- 
gende Erfahrung.  Dies  ist  aber,  was  wir  Offenbarung  nennen. 
In  den  Gesichten  des  prophetischen  Genius  mrd  das  göttliche 
Wesen  offenbar,  das  bis  dahin  dunkel  blieb.  Der  offenbare  Gott 
ist  das  Ziel  der  Geschichte. 

Alle  Begiiffe  des  religiösen  Lebens  werden  durch  Kant  deut- 
lich in  ihrem  Sinn.  Wir  erkennen  sie  nach  ihrer  Notwendigkeit 
and  nach  ihrem  Ort  im  Leben  des  menschlichen  Bewusstseius.   — 

Wir  haben  dies  in  aller  Kürze,  aber  auch  in  aller  Schärfe 
herausstellen  wollen,  um  zu  zeigen,  wie  füi'  die  Lebensfragen  der 
Gegenwart  bei  Kant  der  Boden  der  Verständigung  gewonnen  wild. 
Die  befreiende  That  tritt  gerade  im  Gegensatz  zu  Herder  hervor. 
Wenn  dieser  von  der  Natui'  als  dem  göttlichen,  uneudUch  weisen 
und  nnendhch  gütigen  Wesen  sprichti  so  sind  das  ja  Glaubens- 
begriffe, Aber  er  trägt  sie  in  das  Gebiet  des  theoretischen  Wissens 
hinein  genau  so  wie  die  künstlerischen  Begiiffe.  Und  da  gieht 
es  dann  Verwirrung,  Widerspruch,  Streit.  Der  Protest  darf  nicht 
ausbleiben. 


Kantitudivn,  iZ. 


i7 


268  E.  Eühnemann, 

Dagegen  beschränkt  Kant  die  Wissenschaft  auf  die  ihr  not- 
wendigen Begriffe.  Aber  er  begründet  auch  die  Sittlichkeit  unab- 
hängig von  Religion,  —  den  Gedanken  der  rein  weltlichen  Sitt- 
lichkeit, der  die  grosse  Errungenschaft  der  modernen  Geschichte 
und  das  Erongut  der  modernen  europäischen  Völker  ist.  Endlich 
sichert  er  den  religiösen  Begriffen  ihren  tie&ten  Sinn  und  ihre 
unverlierbare  Stelle  im  Menschenleben.  Aber  jede  Kollision  mit 
Wissenschaft  und  Sittlichkeit  ist  nun  ausgeschlossen.  Und  in  dieser 
Zusammenordnung  der  Lebensmächte  ist  Kants  Werk  die  Philo- 
sophie und  zugleich  das  Glaubensbekenntnis  der  modernen  Kultnr, 
des  modernen  Menschen. 

Darum  wirkt  auch  auf  den  in  der  Welt  des  Kantischen 
Geistes  Vertrauten  so  kläglich,  arm  und  dürftig  der  Yerstandes- 
stolz  derer,  die  von  den  vermeintlichen  Errungenschaften  der  Natur- 
wissenschaft aus  sich  erhaben  dünken  über  die  Religionsgedanken, 
—  etwa  mit  dem  Bekenntnis  der  Prachtphrase,  dass  jetzt  die 
Naturwissenschaft  mit  ihrer  Helligkeit  an  die  Stelle  der  früheren, 
dunkeln,  religiösen  Begriffe  getreten  sei.  Was  diese  Meinung 
eigentlich  will,  ist  bei  Kant  ja  längst  entschieden  und  ist  für  den, 
der  es  verstanden  hat,  kein  Gegenstand  der  Diskussion  mehr:  die 
Wissenschaft  von  der  Natur  kennt  Gott  nicht.  Dies  ist  der  denk- 
bar radikalste  Ausdruck  für  den  Gedanken  jener  sogenannten 
„Freien".  Jene  Position  ist  daher  nach  Kant  wirklich  nur  Un- 
bildung, Rückständigkeit.  Kant  ist  weit  gründlicher  revolutioniert 
und  viel  freier  als  jene.  Es  ist  die  ïYeiheit  der  wahren  Bildung, 
die  auch  das  Verständnis  des  Religiösen  in  seinem  tiefeten  Sinn 
in  sich  aufgenommen  hat. 

Die  Religion  —  in  Kants  Geiste  verstanden  —  ist  das  G^e- 
meinsame  und  Wesentliche  in  allen  den  verschiedenen  und  sich 
befehdenden  religiösen  Richtungen.  Nur  hier  ist  der  Boden  der 
Verständigung.  Jeder  Schritt  darüber  hinaus  ist  der  Schritt  ins 
Dogma.  Mit  jedem  solchen  Schritt  kommt  Streit  und  unversöhn- 
licher Gegensatz.  Jene  Grundauffassung  enthält  das  Gemeinsame, 
das  wahrhaft  Religiöse. 

Schliesslich  kann  ja  in  allem  Streit  um  den  rechten  Glauben 
nur  darum  gestritten  werden,  wer  denn  nun  Gott  wahrhaft  hat 
Wahrhaft  aber  hat  ihn  der,  in  dem  er  lebt  als  die  sein  ganzes 
Dasein  durchdringende  Kraft.  Es  kommt  alles  endlich  hinaus  auf 
den  schlichten  Kantischen  Begriff  der  praktischen  Realität.     Reli- 


Herder  und  Kant. 


269 


giou   ist   im  ThuB  und  Handeln,  nicht  aber  in  den  Worten.    Das 
Bekenntnis  Gottes  ist  die  That. 

Kants  Religion  ist  die  Religion  des  reinen  Glaubens.  Sie  ist 
ûîchts  und  enthält  und  behauptet  nichts  ausser  dem  Glauben,  der 
io    unserem  Handeln  Sprache  und  Ausdruck  hat. 

In  diesem  Gedanken,  das»  das  Wesen  der  Religion  im  Handeln 
liegt,  nicht  aber  in  den  Bekenntnisworten,  den  Lehrmeinungen  und 
Q-ebräuehen,  ist  der  grosse  Theologe  und  Prediger  Herder  völlig 
eitiig  mit  dem  Philosophen  Kant.  — 


6. 

Der  Gegensatz,  in  dem  sich  Herder  zu  Kant  fühlt€%  ist  jedoch 
^tircb  die  Unverträglichkeit  der  geistigen  Grundrichtung  beider 
ï^och  nicht  ganz  zu  Ende  erklärt.  Sehr  wesentlich  wirkte  bei 
Seiner  Stimmung  mit  der  Gegensatz  garnicht  so  sehr  gegen  Kant 
Wie  gegen  die  Kantianer 

Das  Gebahren  der  unreifen  Schiller  war  es,  das  ihn  mit  Ent- 
rüstung   und    zugleich    mit  Sorge    erfüllte.     Junge  Menschen,    bei 
denen   die   Kantischen   Begriffe   nun   wirklich    leicht    zu   blossen 
Worten  wurden,  die  das  abschliessende  Urteil  zu  besitzen  glauben 
über  alle    letzten  Fragen    der  Kultur  ohne  die  Begabung  des  Be- 
rufenen,   ohne  den  Tiefblick  des  iilrklichen  Kenners  —  dabei  mit 
der  ganzen  Tendenz    zur   Klique  —   und   jede   Klique  verleumdet, 
lügt  und  heisst  —,    diese   buchte    er   der   neuen    Philosophie   ins 
Sündenkonto.    In   dieser  ihrer  Folge  meinte  er  üiren  eigenen  Un- 
segen    bestätigt    und   an  den  Tag  gebracht.     Gegen  sie  ging  sein 
steter  Ruf:  Sachen,  nicht  Worte!    Geschäftsmänner  sollt  ihr  werden, 
nicht  Wortmenschen.     Es  ist  von  einer  anderen  Seite,   der  unsere 
ganze  Sympathie  gehört,  der  Gegensatz  des  Mannes,  der  mit  einer 
grossen    FüUe    durchgeistigter   Thatsachen    lebt,    gegen  die  bloss 
begrifflichen  Köpfe,  die,  so  oft  sie  ohne  innere  erlebte  Vertrautheit 
mit  den  Dingen  reden,  in  Wahrheit  der  dürftigste  Menschenschlags 
vor  allem  aber  für  die  Philosophie  selber,    der   sie    immer  wieder 
die  alten  abgeleierten  Vorwürfe  zuziehen,  das  grösste  Unglück  sind. 
Im  Grunde  war  es  der  Gegensatz  des  Menschen  von  reicher 
älsthetisch-geschichtlicher  Bildung  gegen  das  aprioristische  Gerede 
der  kunst-  und  Weltgeschichtsfremden  Burschen ,  die  mit  ein  wenig 
Schulung  in  Kantischer  Methode  alle  Weisheit  besitzen,     Ist  doch 
Herder   der   vollendete   Ausdruck   der  ästhetisch-gerichteten  deut- 

17* 


260  B.  Etthnemann,  Herder  und  Kant. 

sehen  Bildung  der  damaligen  Zeit!  Dies  bringt  nns  zur  Âner 
kennong  dessen,  was  an  Herders  Lebensleistang  doch  onyerUeibar 
bleibt.  Wir  wünschen  für  unsere  philosophische  Bildung  nicht  nur 
die  begriffliche  Klarheit  über  die  Grundlagen  des  Wissens,  sondern 
auch  das  grosse  universale  Verstehen  der  Dichtungs-,  Seelen-  und 
Völkerformen,  das  wir  Herder  verdanken. 

Die  Einheit  des  geschichtlich-ästhetischen  Geistes  mit  dem 
philosophischen  ist  das  grosse  Kennzeichen  der  deutschen  Bildung 
jener  Epoche.  Möchten  wir  sie  als  herrliches  Erbe  bewahren. 
Unsere  litterarische  Büdung  sollte  von  philosophischer  Tiefe,  unsere 
philosophische  von  weltlitterarischem  Geiste  gesättigt  sein.  Die 
Verbindung  ist  für  uns  Deutsche  etwas  Grosses  gewesen,  was 
wir  nicht  verscherzen  sollten.  So  giebt  es  denn  doch  eine  Mög- 
lichkeit der  Zusammenfassung  beider  Männer,  —  auch  bei  so 
grossem  Unterschied  der  Richtungen.  Wir  dürfen  sie  beide  mit 
einander  feiern  und  thun  es  am  würdigsten,  wenn  sie  in  unserer 
eigenen  Arbeit  beide  lebendig  sind. 


Helmholtz  in  seinem  Verhältnis  zu  Kant. 

Von  A.  Rie  hl. 


Bei  der  Feier  zu  Kants  Gedächtnis  darf  Helmholtz  nicht  ver- 
gessen werden.    Er  war  der  Erste,   der  es  aussprach,  dass  Kants 
Ideen   noch   leben.     Der  Vortrag,   in   welchem   diçse  Worte   sich 
finden  —  er  handelt  über   das   Sehen   des  Menschen  —  stammt 
aas   dem  Jahre  1855.    Eine   ältere  Rede   von  Weisse   (über  die 
Frage,  in  welchem  Sinne  die  deutsche  Philosophie  wieder  an  Kant 
sich  zu  orientieren  habe,)  konnte  keinen  Eindruck  machen  und  der 
Erfolg,   den  Schopenhauer  hatte,   der  sich  selbst  zum  Thronerben 
Kants   proklamierte,   fällt  ungefähr  gleichzeitig  mit  dem  Vortrage 
von  Helmholtz.    Kant  blieb  eine  Zeit  lang  der  „Mann  der  Physio- 
logen";  man  brachte  die  Lehre  von  den  apriorischen  Formen  der 
Erfahrung  in  Verbindung   mit   den  Fortechritten  der  Physiologie 
der  Sinne.    Allein,   nicht  in  dieser,   durch  Helmholtz  begründeten 
physiologischen  Auffassung  Kante,  welche,  wie  wir  heute  erkennen, 
den  Gesichtepunkten  der  transscendentalen  Methode  unangemessen 
ist,   liegt  für  uns   das   eigentliche  Verdienst  des  grossen  Natur- 
forschers;  wir  erblicken  es  vielmehr  darin,   dass  Helmholtz  über- 
haupt auf  Kant  aufmerksam  gemacht  und  so  die  durch  die  speku- 
lativen Systeme  von  Schelling  und  Hegel  unterbrochene  Verbindung 
zwischen   Philosophie   und   Wissenschaft  wieder  angeknüpft  hat. 
,.Die   prinzipielle   Spaltung,   welche  jetzt  Philosophie   und  Natur- 
wissenschaften  trennt,   schreibt  er  1855,  bestand   noch  nicht  zu 
Kante   Zeiten.     Kant  stand  in  Beziehung  auf   die  Naturwissen- 
schaften mit  den  Naturforschem  auf  genau  denselben  Grundlagen, 
—  wie  am  besten  seine  eigenen  naturwissenschaftlichen  Arbeiten 
Zeigen**.     Auch    der   physiologischen    Auffassung    der  kritischen 
Lehren  soll  übrigens  ein  bedingter  Wert  nicht  abgesprochen  wer- 
ben, bildet  sie  doch  für  den  Noch-Aussenstehenden  den  bequemsten 
Sogang  zu  dem  Werke  Kante.    Schopenhauer  hat  sie  durch  die 


262  A.  Biehl, 

ihm  eigene  lichtvolle  Darstellung  populär  gemacht  und  aach 
Albert  Lange  in  dem  viel  gelesenen  Buche:  die  Geschichte  des 
Materialismus  teilt  ihren  Standpunkt. 

Das  Interesse  für  erkenntnistheoretische  Fragen  hat  Helm- 
holtz  durch  sein  ganzes  wissenschaftliches  Leben  hindurch  be- 
gleitet. Wie  frühe  es  ihm  aber  eingeprägt  ward  —  schon  im 
Vaterhause  —,  und  wie  sehr  es  ihn  beschäftigte,  so  dass  er  sogar 
finden  konnte,  das  viele  Philosophieren  mache  zuletzt  die  Ge- 
danken lax  und  vage  und  er  müsse  sie  erst  wieder  einmal  durdi 
das  Experiment  und  durch  Mathematik  disziplinieren,  haben  wir 
erst  aus  dem  biographischen  Werke  von  Eoenigsberger,  diesem 
Denkmal  bewundernder  Freundschaft,  erfahren.  In  brieflichen 
Stellen  und  selbst  grösseren,  zusammenhängenden  AufzeichnoDgen 
bringt  dieses  Werk  neues  Material  für  das  genauere  Verständnis 
der  Beziehungen,  die  Helmholtz  zur  Philosophie  hatte,  und  auch 
die  folgende  Darstellung  muss  daraus  schöpfen. 

Die  ersten  philosophischen  Anregungen  empfing  Helmholtz 
von  seinem  Vater.  Dieser  hatte  in  Berlin  Fichte  gehört  und  wäre, 
da  er  für  die  Philosophie  ebenso  starke  Neigung  wie  entschiedene 
Begabung  besass,  am  liebsten  selbst  Philosoph  geworden,  musste 
sich  aber  der  Philologie  zuwenden  und  wirkte  als  Lehrer  an  dem 
Gymnasium  in  Potsdam.  Er  blieb  Anhänger  der  Lehre  Fichtes, 
in  ihrer  zweiten,  reiferen  Gestalt,  und  der  Sohn  konnte  ihn  oft 
mit  Kollegen,  die  Hegel  oder  auch  Kant  vertraten,  streiten  hören. 
Irre  ich  nicht,  so  haben  wir  es  dem  Eindruck  dieser  Debatten  zu- 
zuschreiben, dass  Helmholtz  von  seinem  Verwerfungsurteil  gegen 
die  nachkantische  Philosophie  Fichte  stets  ausgenommen  hat;  er 
fügt  freilich  hinzu,  soweit  er  ihn  verstanden  habe.  Fichtes  Nicht- 
Ich  z.  B.  erschien  ihm  noch  zuletzt  als  der  „ganz  zutreffende 
negative  Ausdruck  für  die  Beobachtungsthatsache,  dass  der  Kreis 
der  uns  zur  Zeit  wahrnehmbaren  Gegenstände  nicht  durch  einen 
bewiissten  Akt  unseres  Vorstellens  oder  Willens  gesetzt  ist**. — 
Fichte  konnte  in  einen  Gegensatz  gegen  die  Naturwissenschaften 
nicht  geraten;  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  er  sich  gar  nicht 
mit  ihnen  berührte. 

Das  Studium  Kants  begann  Helmholtz  mit  siebzehn  Jahren, 
als  er  Eleve  des  Friedrich- Wilhelms-Institutes  geworden  war;  er 
setzte  es  fort,  als  er,  im  zweiten  Semester,  bei  Johannes  Müller 
Physiologie  hörte,  und  aus  dieser  gleichzeitigen  Beschäftigung  mit 
den  Lehren  des  Philosophen  und  des  Physiologen  muss  schon  da- 


18  EU  Kant. 


263 


mais  die  Verbindimg  heiTorgegangeu  sein,  die  seiue  Auffassung  Kants 
trauernd  bestimmt  hat,  die  Verbindung  der  Kantiscbeo  Ptiilosophie 
iiit   der   Physiologie    der   Sinne.      Neben    Kant   tritt   unmittelbar 
J^obannes  Müller.     Wie  dieser  „in  den  Sinneswahmehmungen  den 
Eiiifluss  der  besonderen  Thätigkeit  der  Organe  nachwies",  so  habe 
K^nt  nachgewiesen j    „was   in    unseren  Vorstellungen  von  den  be- 
sonderen und  eigentümlichen  Gesetzen  des  denkenden  Geistes  her- 
'^lirt**.     Die  Folgen  dieser  Auffassung  haben  wir  noch  za  prüfen, 
öie  kritische  Untersuchung  der  Erkenntnis»  der  Nachweis  der  Be- 
Düngungen  und  der  Grenzen  ihrer  objektiven  Giltigkeit,  verwandelt 
Bich  durch  sie  in  eine  nativistische  Theorie  des  Ui'Sprnngs  unserer 
Vorstellungen,    me    dies   in   Beziehung   auf   die    Raumvorstelhiug 
darch    J.  Müller    geschah;    und  je   mehr  Helmholtz  selbst  zu  der 
entgegengesetzten    Seite    neigte,   je  konsequenter  und  ausschliess- 
licher  er   in   der   enipiristischen  Richtung   fortging,    umso  weiter 
fçlaubte  er  sich  damit  allein  schon  von  Kant  entfenien  zu  müssen. 
Sein  Verhältnis   zu   Kant   hat  eine  Entwickelung,    die  mit  dieser 
Abwendung  vom  Nativismus  Schritt  hält. 

In  Einem  aber  blieb  er  Anhänger  Kants,  in  der  Ablehnung 
jeder  traosscendenten  Metaphysik  und  der  damit  in  Zusammenhang 
stehenden  Begrenzung  der  Aufgabe  der  theoretischen  Philosophie, 
„Kant^  Philosophie,  äussert  er  in  dem  Vortrag  über  das  Sehen 
des  Menschen»  beabsichtigte  nicht,  die  Zahl  unserer  Kenntnisse 
durch  das  reine  Denken  zu  vermehren,  denn  ihr  obei^ter  Satz 
war,  dass  alle  Erkenntnis  der  Wirklichkeit  aus  der  Erfahrung  ge- 
schöpft werden  müsse;  sondern  sie  beabsichtigte  nur,  die  Quellen 
unseres  Wissens  und  den  Grad  seiner  Berechtigung  zu  unter- 
suchen, ein  Geschäft,  fügt  Helmholtz  mit  Nachdruck  hinzu,  welches 
(ur  immer  der  Philosophie  verbleiben  wird  und  dem  sich  kein 
Zeitalter  ungestraft  wird  entziehen  können."  Beinahe  wörtlich 
damit  übereinstimmend  heisst  es  in  der  Rede  von  1862;  über  das 
Verhältnis  der  Naturwissenschaften  zur  Gesamtheit  der  Wissen- 
schaften: „Kants  kritische  Philosophie  ging  nur  darauf  aus,  die 
ynellen  und  die  Berechtigung  unseres  Wissens  zu  prüfen  und  den 
einzelnen  übrigen  Wissenschaften  gegenüber  den  Massstab  für 
Uire  geistige  Arbeit  aufzustellen.  Ein  Satz,  der  a  priori  durch 
reines  Denken  gefunden  wai',  konnte  nach  seiner  Lehre  immer  nur 
eine  Regel  für  die  Methode  des  Denkens  sein,  aber  keinen  posi- 
tiven und  realen  Inhalt  haben.**  Wir  werden  an  Aussprüche  in 
der  Kritik    der   reinen  Vernunft   erinnert,    die    diesen  Sätzen  von 


264 


A.  Riehl, 


I 


HeliDlioltz  zur  Bestätigung  dienten  Diögen.  ^In  dem  blossen  Be- 
griff eines  Dinges,  erklärt  Kmi,  kaüu  gar  kein  Charakter  seines 
Daseins  angetroffen  werden.  Denn  dass  der  Begriff  vor  der 
Wahruehninng  vorhergeht,  bedeutet  dessen  blosse  Möglichkeit,  die 
Wahrnehmung  aber,  die  den  Stoff  zum  Begriffe  hergiebt,  ist  der 
einzige  Charakter  dei'  Wirklichkeit.  Fangeu  wir  nicht  von  der  m 
Erfahrung  an,  oder  gehen  wir  nieht  nach  Gesetzen  des  empiri-  " 
sehen  Zusammenhanges  der  Erscheinungen  fort,  so  machen  wir 
uns  vergeblich  Staat,  das  Dasein  irgend  eines  Dinges  erraten  oder 
erforschen  zu  wollen."  —  Erst  die  „Identitätsphüosophie*"  Schel- 
lings  und  Hegels  hat  den  „gesunden  Standi*tinkt  von  Kant**  ver- 
lassen p  und  es  ist  von  Interesse  das  Urt^^il  zu  vernehmen,  das 
Helmholtz  in  der  genannten  Schrift  gegen  sie  richtet.  Diese  Phi- 
losophie^ welche  jeden,  nicht  aus  dem  Geiste  stammenden  Inhalt 
der  Erkenntnis  leugnete,  „ging  von  der  Hj^pothese  aus,  dass  auch 
die  wirkliche  Welt,  die  Natur  und  das  Menschenleben,  das  Resul- 
tat des  Denkens  eines  schöpferischen  Geistes  sei,  welcher  Geist 
seinem  Wesen  nach  als  dem  menschlichen  gleichartig  betrachtet 
wurde**.  So  musste  sie  darauf  ausgehen,  die  wesentlichen  Resol- 
tatve  der  übrigen  Wissenschaften  a  priori  zu  konstruieren,  —  „neue 
aber  konnte  sie  nicht  ableiten".  Mit  Recht  sieht  nun  HelrahoUz 
das  entscheidende  Prüfungsmittel  für  die  Richtigkeit  jener  Hypo- 
these nicht  in  der  mehr  oder  weniger  gelungenen  Konstniktion  der 
Hauptergebnissse  der  ü eist eswisseuschaf ten,  in  Gebieten  also,  wo 
wir  mit  Thätigkeit^äusserungen  des  menschlichen  Geistes  zu  thun 
haben,  sondern  in  den  Thatsachen  der  äusseren  Natur.  Ist  die 
Natui'  das  Resultat  eines  Denkprozesses,  so  mussten  sich  mindestens 
ihre  einfacheren  Formen  und  Vorgänge  dem  Systeme  einordnen 
lassen.  „Aber  hier  gerade  scheiterten  die  Anstrengungen  der 
IdentitÄtsphilosophie".  Und  damit  schien  die  Philosophie  selbst  ge- 
scheitert zu  sein,  „Sie  hatte  Alles  in  Anspruch  nehmen  wollen, 
jetzt  war  raan  kaum  noch  geneigt,  ihr  einzuräumen,  w^as  ihr  w^ohl 
mit  Recht  zukommen  möchte",  das  Misstrauen  gegen  ihre  jüngsten 
Systeme  wurde  auf  die  ganze  Wissenschaft  übertragen.  Helmhnltz 
aber  warnte  die  Naturforscher  davor,  mit  den  ungerechtfertigten 
Ansprüchen,  welche  die  Identitätsphilosophie  erhob,  nicht  auch  die 
berechtigten  Ansprüche  der  Philosophie  überhaupt  über  Bord  zu 
werfen,  die  Ansprüche  nämlich,  wie  er  wiederholt,  die  Kritik  der 
Erkenntnisqnellen  auszuüben  und  den  Massstab  der  geistigen  Arbeit 
festzustellen. 


Helmholt«  in  seinem  Verhältnis  zu  Kant.  265 

Die  Auffassung:  der  Philosophie  „als  Lehre  voü  den  Wissens- 
HUellen**,  wie  sie  in  einem  Schreiben  aus  dem  Jahre  1856  g^enannt 
wird,  kehrt,  in  den  Schriften  von  Helmholtz  immer  wieder,  ebenso 
die  Unterscheidung   der  Philosophie    von    der  Metaphysik.     Nichts 
schien   ihm    der  Philosophie   so    verbän^isvoll  geworden  zu  sein, 
als  ihre  immer  wiederholte  Verwechslung  mit  der  Metaphysik;  wir 
werden  ihm  hierin  Recht  geben  müssen;    denn    er  beschränkt  den 
Nanien   der  Metaphysik  auf  „diejenige  vermeintliche  Wissenschaft, 
dereu  Zweck    es   ist,    durch   reines  Denken  Aufschlüsse   über  die 
letzten  Prinzipien   des  Zusanimenhauges    der  Welt   zu  gewinnen". 
Ber  Prozess  gegen  diese  Metaphysik  ist  ausgetragen  und  die  Akten 
desselben    sind    in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  niedergelegt  — 
ffSni  Verhütung  künftiger  Iixnngen  ähnlicher  Ait",     Es  giebt  eine 
Metaphysik   auch    in  der  Naturwissenschaft.     Helmholtz  aber  war 
^'eit  eutfi'rnt,  materialistisehen  Anschauungen  zu  huldigen;  er  redet 
gelegentlich,    in  einem  Briefe  an  seinen  Vater,  „von  den  triirialen 
Tiraden  von  Vogt  und  Moleschott"  und  tadelt,  bei  einem  anderou 
^Uliiss,    wenn   Naturforecher,    „die    sich    am    meisten   in  der  Auf- 
•fcJ^ng    vorgeschritten    zu   sein    dünken*',    aus   den    überlieferten 
*^f)nnen    der    Begriffe    der  Materie,   der  Kraft,    der  Atome    „neue 
•Metaphysische    Stichworte**    machen.     Was    wir   erreichen  können, 
*«^iitet  ein  Satz  von  ihm,    ist    die  Kenntnis    der    gesetzlichen  Ord- 
nung   im    Reiche   des  Wirklichen,  —  dargestellt    in  dem  Zeicheu- 
^jsteme  unserer  Sinneseindrücke. 

In  der   grössten  Annähening  an  Kant  troffen  wir  Helmholtz 
In  einem  Entwurf,    der   der  Abhandlung    „über  die  Erhaltung  der 
Kraft**    voranging    und    die   Umrisse    seiner  friihesten  Philosophie 
Ijringt.     Sogar  der  Ausdruck   ^  reine  Naturwissenschaft**    wird  hier 
gebraucht,  jedoch  in  der  Mehrzahl,    weil  Helmholtz  auch  Zeitlehre 
nod    (jeometrie   zu    den    „allgemeinen    oder    reinen    Naturwissen- 
schaften" zählt.   Es  wird  eiue  doppelte  Aufgabe  der  Naturforschung 
unterschieden:  die  geordnete  Übersicht  des  Empirischen  —  Natur- 
beschreibung —  und  die  wissenschaftliche  Physik,   welche  die  Be- 
griffe   sucht,    aus   denen    sich    die    einzelnen    bestimmten    Walir- 
nehmungen    ableiten  lassen,    also  das  Wirkliche  zu  verstehen  hat. 
Von  den  allgemeinen  Naturbegriffen  aber,  die  allein  aus  dem  Fak- 
tum, dass  es  fiherhanpt  bestimmte,  nicht  durch  unsere  Selhstthätig- 
keit  herv^iirgebrachte  Wahrnehmungen  giebt,  erschlossen  sind,  wird 
erklärt,  dass  sie  und  ihre  Folgerungen  aller  Naturanschannng  zum 
l  Grunde  liegen  und  ohne  sie  keine  gedacht  werden  kann,   dass  sie 


266 


A.  Riehl, 


1 


also  die  „allgoiiioiiie   und  notwendige  Form"  der  Natiiraüschauiit] 
sind,  daher  auch   die  Gewisslieit    ihrer  Sätze  abvSolut  ist  —  W 
Sätze  sind,    wie  mau    sieht,    Kants  Grundsätze  der  Erfahrung. 
Jene  Begriffe,  fährt,  Helndioltz  foil,   dürfen  ferner  nicht  die  Affif«' 
lichkeit  irgend  einer  empirischen  KonibiTiatiou  der  Wahmehmun^PB 
lïéschriinken,    d.  h,    es   daH   aus  ihnen  durchaus  kein  empirisches 
Faktum    oder   Gesetz  ableitbar   sein,    sondern  sie  können  uns  dut 
eine  Norm    für   unsere  Erklärungen    geben.     Wir  glauben  in  dem 
ersten    Teile    dieses    Zusatzes   schon   den  Keim    der  späteren  Be- 
denken   gegen    die    Notwendigkeit    der   geometrischen  Axiome  zu 
sehen.  —  Ihrem    wesentlichen  Inhalte   nach  sind  diese  allgeraein- 
wissenschaftlichen  Anschauungen   in   die  Einleitung  zu  der  Schrift 
über  die  Erhaltung  der  Kraft  übergegangen,   der  Schrift,   die  den 
26  Jährigen  Forscher  iu  die  erste  Reihe  der  mathematischen  Physikfiij 
stellte.     Als  Aufgabe  der  experimentellen  Teile  der  ph3^sikaliscln 
Wissenschaften   erscheint    hier    die    Aufsuchung    der    allgemein 
Regeln    für   die    einzelnen  Vorgänge  in  der  Natur,    der  GattUBgs- 
begriffe   des   Geschehens.     „Der  theoretische  Teil  derselben  sucht 
dagegen  die  unbekannten  Ursachen  der  Vorgänge  aus  ihren  sicht- 
baren Wirkungen  zu  finden:  er  sucht  dieselben  zu  begreifen  nach 
dem    Gesetze    der    Kausalität."     Dazu    bemerkt  Helmholtz    später 
(1881),  die  philosopliischen  Erörterungen  der  Einleitung  seien  durch 
Kants  ei^kenntnistheoretische  Ansicbtea  stärker  beeinflusst,    als  er 
es  jetzt    noch    für    richtig    halte.     Er  habe    sich  ei^t  später  klar 
gemacht,    dass    das   Prinzip    der   Kausalität   in    der    That    nichts 
anderes  ist,    als   die  Voraussetzung   der  Gesetzlichkeit  der  Natur- 
erscheinungen,   Dies  aber  ist  genau  die  Ansicht  Kants.    Helmholtz 
muss  also  unter  „unbekannten  Ursachen*'  früher  noch  etwas  Pm- 
tiveres,  W\^senhafteres  verstanden  haben,  als  die  Kritik  unter  Ur- 
sache  zu    verstehen    erlaubt.      Dennoch   besteht   zwischen   seiner 
früheren  Philosophie    und    der  si>äteren  ein  Gegensatz,  namentlich 
in  Beziehung  auf  das  Kausalprinzip,  und  die  erkeuntnistheoretischeu 
Anschauungen,    zu    denen  Helmholtz    schliesslich  gelangte,  zeigen 
mehr  Verwandtschaft    mit    Hume    und    Mill,    als    mit    Kant.     Wir 
haben    den  Gnind    für   diese   veränderte  Stellung  zu  Kant  iu   der 
physiologischen  Auffassung    der   kritischen  Philosophie   zu  suchen. 
Den   leitenden  Gesichtspunkt  für  diese  Auffassung  bildet  bei 
Helmholtz    die    Analogie    der   Formen   des    Anscliaueus    und    des 
Denkens    mit   den  „spezifischen    Energien"  der    Sinne»     „Es  war, 
heisst   es   im  Vortrag   über  das  Sehen  des  Mensehen,  der  ausser- 


Helmholte  in  seinem  Verhältnis  zu  Kant.  267 

ordentlichste  Fortschritt,  den  die  Philosophie  durch  Kant  machte, 
dass  er  das  angeführte  Gesetz  (der  Kansalität)  und  die  übrigen 
Formen  der  Anschauung  und  Gesetze  des  Denkens  aufsuchte  und 
als  solche  nachwies,  und  damit  für  die  Lehre  von  den  Vorstellungen 
dasselbe  leistete,  was  in  einem  engeren  Kreise  für  die  unmittel- 
baren sinnlichen  Wahrnehmungen  auf  empirischem  Wege  die  Physio- 
logie durch  Johannes  Müller  leistete/  Und  in  der  physiologischen 
Optik  nennt  Helmholtz  das  MüUersche  Gesetz  „in  gewissem  Sinne 
die  empirische  Ausführung  der  theoretischen  Darstellung  Kants 
von  der  Natur  des  menschlichen  Erkenntnisvermögens."  Bei  dieser 
Art,  die  „EMtik"  zu  betrachten,  musste  alles  Gewicht  auf  den 
subjektiven  Ursprung  der  Erkenntnisse  a  priori  fallen,  Kants  Vor- 
haben dagegen  ist  der  Beweis  der  objektiven  Giltigkeit  dieser 
Erkenntnisse,  obgleich  sie  a  priori  sind.  „Es  ist  in  der  Kritik 
die  Aufgabe  zu  zeigen,  welche  Gesetze  die  objektiv  giltigen  sind 
and  wodurch  man  berechtigt  ist,  sie,  als  von  der  Natur  der  Dinge 
geltend,  anzunehmen,  d.  i.  wie  sie  synthetisch  und  doch  a  priori 
möglich  sind."  (Kant  an  C.  L.  Reinhold.)  Erkenntnisse  sind  femer 
nicht  deshalb  a  priori,  weil  sie  aus  dem  Subjekte  stammen,  oder 
„die  besonderen  und  eigentümlichen  Gesetze  des  denkenden  Sub- 
jektes" ausdrücken.  Es  kann  manches  seinen  Ursprung  im  Sub- 
jekte haben,  z.  B.  der  Zweckbegriff,  ohne  darum  schon  a  priori 
zu  sein.  Die  Merkmale  der  Apriorität:  wahre  Allgememheit  und 
strenge  Notwendigkeit  sind  innere  Merkmale  gewisser  Erkenntnisse 
selbst,  nicht  blosse  Folgen  ihrer  Entstehung  aus  dem  Subjekte. 
A  priori  im  Sinne  Kants  bedeutet  kein  zeitliches,  sondern  ein  be- 
griffliches Verhältnis  zur  Erfahrung.  Und  die  Giltigkeit  von  Er- 
kenntnissen a  priori  auch  über  den  blossen  Bereich  der  Beziehungen 
der  Begriffe  hinaus  zu  beweisen  und  die  Grenzen  dieses  ihres  ob- 
jektiv-giltigen Gebrauches  festzustellen:  dazu  ist  die  „transscen- 
dentaie"  Methode  bestimmt.  Zwar  müssen  wohl  Erkenntnisse,  die 
nicht  aus  der  Erfahrung  abzuleiten  sind,  weil  sie  mehr  behaupten, 
als  reine  Erfahrung  lehren  kann,  auf  irgend  eine  Art  dem  denken- 
den Subjekte  entstammen,  also,  wenn  man  so  will,  subjektiv 
a  priori  sein.  Die  Berufung  aber  auf  ihren  Ursprung  aus  der 
Organisation  unseres  Geistes  ergäbe  immer  nur  eine  subjektive 
Notwendigkeit:  weil  wir  so  eingerichtet  sind,  können  wir  nur  so, 
nicht  anders  vorstellen.  Dieses  Unvermögen  kann  aber  kein  Argu- 
ment der  Wahrheit  irgend  einer  Vorstellung  sein.  Auch  würde 
es  an  solchen  nicht  fehlen,    „die  jene   subjektive  Notwendigkeit, 


268 


A.  Riehl, 


der« 
it" 


die  gefühlt    werden    nuiss,    von   sidi  nicht  gestehen  würden;   zum 
wenigsten  könnte  man  mit  Niemandem  über  dasjenige  hadern,  was 
hlös   auf   der   Art   beruht,    wie    sein    Subjekt   organisiert    ist 
Kants  Frage  ist  nicht:  wie  kommt  der  Mensch  zu  Elrfahning  und 
Wissenschaft,  kraft  welcher  Organisation   seines  Geistes,    obsch< 
was   er   gelegeotlich    auch   zu  dieser  ».subjektiven  Deduktion"  4 
Erfahrung    beibringt,    tiefes    psychologisches    Verständnis    verrät 
Seine  Frage  ist:  wie  ist  Erkenntnis  überhaupt  möglich   und  unter 
welchen  Voraussetzungen  ist  Erfahrung  Erkenntnis.    Durch  Schlüsse 
aus  Beobachtungen,    auf   dem  Wege    der  Physiologie  und  Psycho-^ 
logie  alsoj    gelatigt    man  wohl   zu  einer  Analyse  der  Prozesse  des:" 
Bewusstseins  und  damit  zu  einer  P'olgerung  über  die  thatsächlidie 
Organisation  des  menschlichen  Geistes,  die  sieh  der  Emiiirist  oirht 
einfach    genug   denken    kann;    aber,   um  beurteilen  zu  können;  ob 
und    innerhalb    welcher  Grenzen    unsere  geistige  Organisation  ziir_ 
Erkenntnis  ausreiche,  das  Vermögen  unseres  Geistes  also  wirklic 
ein  Erkenntnisvermögen  ist,  müssen  wir  zuvor  wissen,   was 
kenntnis  ist  und  was  ihr  Begriff  vorschreibt. 

In  der  Auffassung  von  Helraholtz  fliessen  beständig  «lie  Be*^ 
griffe:  a  priori,  dem  Subjekte  eigentümlich  und  transscendental  in 
einander  über.  Der  ganze  transscendentale  Beweis  fällt  damit  ans, 
und  er  ist  auch  in  der  That  für  die  Physiologie  und  Psychologie 
des  Erkennens  nicht  vorhanden,  noch  mit  den  Mitt-eln  ilirer  Methode 
zu  führen. 

„Kurz  vor  dem  Beginn  des  neuen  Jahrhunderts,  schreibt 
Helmholtz  in  der  physiologischen  Optik,  hatte  Kant  die  Lehre  von 
den  vor  aller  Erfahrung  gegebenen  oder,  wie  er  sie  deshalb  (!) 
nannte,  transscendentalen  Formen  des  Anschauens  und  des  Denkens 
ausgeliüdet,  in  welche  aller  Inhalt  unseres  Vorstellens  notwendig 
aufgenommen  werden  muss,  wenn  er  zur  VomteUnng  werden  soll. 
Für  die  Qualitäten  der  Empfindung  hatte  schon  Locke  den  Anteil 
geltend  gemacht,  den  unsere  körperliche  und  geistige  Organisation 
an  der  Art  hat,  wie  die  Dinge  erscheinen.  In  dieser  Richtnug 
nun  haben  die  Untersuchungen  über  die  Physiologie  der  Sinne, 
welche  namentlich  Johannes  Müller  vervollständigte  und  dann 
in  das  tTesetz  der  spezifischen  Sinneseuergieu  zusanimenfasste,  die 
vollste  Bestätigung,  man  könnte  fast  sagen,  in  einem  unerwaTteteii 
i^rade  gegeben  und  dadurch  zugleich  das  Wesen  und  die  Bedeutung 
einer  solchen  von  vornherein  gegebenen  subjektiven  Form  des  Em- 
pfindens in  einer  sehr  einschneidenden  und  greifbaren  Weise  zur  Au- 


Helmholtz  in  seitiem  Verhältnis  zu  Kant. 


269 


scUauung   gebracht.  —  Die    Qualitäten    der   Empfiudiing   erkennt 
also  auch    die  Physiologie    als    blosse  Form    der  Anschaimng   aii. 
tÜbereiostiEiraeiid    in    dem    Vortraof    über   Goethe    1892:    „Solche 
Formen  der  Anschauung,    wie    sie  Kaut   für   deu  gauzen  Umfang 
ttß&eres  Vorstelluugsgebietes    nachzuweisen    sucht,    giebt   es   auch 
für  die  Wahniehmiingen    der   einzelnen  Sinne".)     Kant  aber  ging 
Weiter,    auch    Zeit   und  Raum    spricht    er   als    gegeben  durch  die 
Eigentümlichkeiten    unseres   Ansclmuuugsveruiugens    aus.     Er   be- 
zeichnete die  Zeit  als  die  gegebene  uod  notwendige,  trausscenden- 
Ule  Form    der    inneren^    den    Raum    als    die    ents[irechen(le    der 
äossereu  Anschauung.     Selbst  hier  wii'd  die  naturwissenschaftliche 
Betrachtung   bis  zu  einer   gewissen  Grenze  mitgehen  köniien'',  — 
Es  genügt,  Kants  eigene  Erklärung  damit  zu  vergleichen:  ,, weder 
ti^r  Raum,    noch    irgend    eine   geometrische  Bestimmung  desselben 
^  Jiriori  ist  eine  transscendentale  Vorstellung,  sondej'n  nur  die  Er- 
'tennlnis,  dass  diese  Vorstellungen  gar  nicht  empirischen  Ursprungs 
^eien  und  die  Möglichkeit,    wie    sie  sich  gleichwohl  a  priori  auf 
Üegenstiüide    beziehen    können,    kann    transsceudental    heissen"*. 
(Kr,  d.  r.  V*  B.  8L)     Man  denke  nicht,  es  sei  dies  ein  Streit  nur 
Um  ein  Wort,  das  Wort  transscendental  ;    es  ist  ein  Streit  um  die 
Sache,  das  heisst  hier  die  Methode.    Anschauungsformen  und  Arten 
des    Empfindens   ferner   werden    von    Kant    nicht    gleich   gesetzt, 
sondern  untei'schiedeo.     Und  gewiss  mit  Recht;  deun  wir  gelangen 
ziir  Kenntnis  jener  Formen  eben  dadurch,    dass   wir  von  den  Em- 
pfißdungen  abstrahieren.    Was  bei  einer  solchen  Abstraktion  Gegen- 
stand unseres  Bewusstseins  bleibt,    was    wir  dann  noch  vorstellen 
iät  ausser  dem  Begriff  eines  Dinges  die  Form  seiner  Anschauung, 
z.  B.  die  Gestalt  eines  Körpers,  abgesehen  von  seiner  Härte,  Farbe 
tt.  dgl-     Die  Vorstelking   des    absoluten  Raumes  aber  (und  analog 
die  der  absoluten  Zeit)  bezeichnet  Kant  als  reine  Anschauung^  um 
sie  von  einem  reinen  Verstandesbegriff  zu  unterscheiden;    ihr  ent- 
spricht  nach    seiner  Lehre    kein  wirklicher  Gegenstand,    noch  ein 
an  sich  reales  Verhältnis  der  Dinge  selbst,  sondern  die  allgemeine 
Form,   oder  wie  Kant  auch  sagt,    das  Gesetz  unseres  Anschauens. 
Die   Absicht   von    Helmholtz    ist   klar.     Er   will    die   „theo- 
retische" Darstellung  Kants,  soweit  sie  ihm  richtig  erscheint,  durch 
sinnesphysiologische   Ausführungen    sicher   stellen,  —  und  sie  er- 
scheint ihm  richtig,  soweit  sie  sich  durch  solche  Ansführiingeu  er- 
läutern   lässt.      Damit   hat   er   sie    aber   nur   mit   niemals   völlig 
idchereu  empirischen  Anschauungen  in  Verbindung  gebracht.     Das 


A.  Hiehl, 


MUlloi-sclie  Gesetz,    das   ihr   zur    Stütze   und   Bestätigung   dienen 
iollte,  ist  nicht  unbestiitten  geblieben,  und  gerade  Helniholtz  selbst 
hat  es  in  eiuer  Weise  fortgebildet»   die   beinahe  seiner  Aufhebiii] 
^Uiielikommt     Man    kann   nicht   die  ^Modalität"    eines  Sinnes 
Htisscliliesslich  subjektiv  erklären  und  zugleich  jede  einzelne  Quali- 
tät als  auch  von  der  Form  des  äusseren  Reizes  abhängig  denken. 
Denn    die    Modalität    ist   ein  AbstraktuoK     Es   giebt    kein    Sehen 
überhaupt,    sondern    nur    das  Sehen  dieser  oder  jener  bestimmten 
Helligkeit,    dieser    oder   jeuer   bestimmten   Farbe,  —  kein   Hören,! 
das  nicht  das  Hören  eines  bestiuiniteu  Geräusches,  oder  eines  Tones 
von   bestimmter  Höhe    wäre.     Sind    also   die  Qualitäten  durch  die 
Beschaffenheit    des    Reizes     mitbedingt.,    so    muss    es    auch   ihre 
Summe:  die  Modalität  sein. 

Auch    von    dem    allgemeinen  Kausalsatz  giebt  Helmholtz  (in 
dem   Vortrag    über    das  Sehen    des  Menschen)    eiuen    Beweis   aus 
physiologischen  Gesichtspunkten,     Der  Beweis  geht  von  dem  Satze 
aus:    „Was    wir   wahrnehmen,    sind  Wirkungen    der   OegenstäQde 
auf   unsere  Nervenapparate "*,    —    was  gewiss  richtig  ist  von  dem 
Standpunkte  der  wissenscliaftlicheu  Erfahrung  des  Pliysiologen  aus 
und    ebenso    gewiss    nicht   richtig,    soll    damit    eine  ursprüngliche 
Thatsache  des  Bewusstseins  ausgedrückt  sein.    In  diesem  letzteren 
Sinne  aber  muss  Helmholtz  den  Satz  genommen  haben,  weil  er  die 
Frage  daran  anknüpft:    „auf   welche  Weise  sind  wir  denn  zuerst 
aus  der  Welt  der  Empfindungen  unserer  Nerven  Mnübergelangt  in 
die  Welt   der  Wirklichkeit?**  —  In  Wahrheit   gelangen    wir  über 
die  Welt   unserer  Empfindungen   überhaupt    nicht  hinaus,  sondern 
nur   innerhalb    dieser  Welt   zu   immer  genauerem  Verständnis  der 
gegebenen  Empfindungskomplexe,  zu  denen  auch  die  Wahrnehmung 
Ton  Nerven  gehört,  und  zur  Beziehung  dieser  Komplexe  auf  Objekte, 
welche    aber   nicht   mehr   Inhalt   unseres    Wahruehmens,   sondern 
Gegenstand   unseres  Denkens  sind.     Von  dieser  Beziehung  ist  bei 
Helmholtz    nicht   die  Rede,    seine  Frage    zielt   vielmehr   auf   die 
Umwandlung  der,  nach  seiner  Annahme,  ursprünglich  als  Nen^en- 
erregungen    gegebenen  Empfindungen    in  Bestandteile   der  Siunes- 
wahrnehmungen.    Und  seine  Autwort  lautet:  dies  geschieht  „offen- 
bar  durch    eiuen  Schluss,    wir   müssen   die   Gegenwart   äusserer 
Objekte    als    der  Ursachen    unserer   Nerven erregung  voraussetzen^ 
denn  es  kann  keine  Wirkung  ohne  Ursache  sein".    „Woher  wissen 
wir,  fährt  Helmholtz  fort^  dass  dem  so  sei?    Ist  das  ein  Erfahruugs- 
satz?    Man    hat   ihn  dafür  ausgeben  wollen,  aber  wir  sehen  hier» 


A 


Heimholt«  in  seinem  Verhftltiüa  zu  Kant. 


271 


wir  braucheo  den  Satz,  ehe  wir  uoch  irgeiitl  eine  Kenntnis  von 
den  Dingen  der  Ausseowelt  haben.  Wir  brauchen  ihn»  um  über- 
kapt  zü  der  Erkenntnis  zu  kommen,  dass  es  Objekte  im  Räume 
fleht,  zwisehen  denen  ein  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung 
vortomnven  kann.  Die  Untersuchung  der  Sinneswahrnehmungen» 
so  schliesst  Heimholtz  in  sehi'  bezeichnender  Weise  seine  Ausführung, 
fökt  uns  also  auch  necli  zu  dei'  schon  vun  Kant  gefundenen  Er- 
kenntnis, dass  der  Satz:  keine  Wirkung  ohne  Ui*sache  ein  vor 
ftUer  Erfahrung  gegebenes  Gesetz  unseres  Deukens  sei,** 

Auf  den  Priorttätsslreit,  der  sich  um  diesen  Beweis  erhoben 
hat,  brauchen  wir  uns  nicht  einzulassen.  Schopenhauer  beschukligte 
durch  einen  seiner  Schüler  Heimholtz  des  Plagiates^  und  die  Be- 
schuldigung niusSj  wie  aus  Briefen  von  Heimholtz  hervorgeht, 
einiges  Aufsehen  gemacht  haben.  Hie  ist  jedoch  gegenstandslos, 
da  sich  die  Beweise»  genauer  butrachlet,  gar  nicht  decken.  Während 
nämlich  Schopenhauer,  von  seiner  idealistischen  Gmndansicht  aus 
das  Objekt,  das  zuvor  noch  gar  nicht  vorhanden  sein  soll,  durch 
einen  Kausalitäts-Schluss  erschaffen  werden  lässt,  lässt  es  Heimholtz 
durch  einen  solchen  Sclduss  nur  zu  unserer  Kenntnis  gelangen. 
Beide  Denker  übersahen  aber  bei  ihren  Beweisen,  dass  sich  das 
Gesetz  der  Kausalität  nur  auf  Veränderungen  bezieht,  nicht  auf 
Objekte.  Nach  diesem  Gesetze  lässt  sich  also  wohl  von  einer 
Veränderung  im  Subjekte,  die  nicht  aus  diesem  stammt,  auf  eine 
vorangegangene  Veränderung  eines  Objektes  schliessen  ;  das  Objekt 
selbst  aber  wird  dabei  nicht  erschlossen,  es  ist  vielmehr  dem 
Schlüsse  notwendig  vorausgesetzt,  Miisste  ferner  nicht  ein  unbe- 
wusster  Schluss  auf  das  Objekt,  wie  Heimholtz  ihn  annimmt, 
physiologisch  betrachtet  eigentlich  ein  Fehlschluss  sein,  da  er  uns 
zwingen  würde,  aus  der  Wirkung  die  Ursache  zu  maclien?  Die 
Physiologie  belehrt  uns,  dass  die  Emi>findung  Blau  z.  B,  ein  Er- 
regungszustand unseres  Sehnei-ven  ist,  jener  Schluss  aber  macht 
daraus  ein  blaues  Ding.  ^  Unser  Wissen  von  den  äusseren 
Erschemungen  {nicht  das  Wissen,  dass  es  Erscheinungen  sind)  ist 
anmittelhar  und  das,  was  wir  Empfindungen  nennen,  sind  seine 
Elemente. 

Kants  wesentlich  anders  gerichteter  Beweis  des  Prinzipes 
der  KausaUtät  kann  hier  nur  zur  Vergleichung  herangezogen, 
nicht  analysiert  werden.  Vor  allem:  das  Ziel  des  Beweises  ist 
nicht,  die  Apriorität  des  Kausalsatzes  zu  zeigen,  diese  steht  für 
Kant  bereits  fest  durch  die  „metaphysische''  Deduktion  des  Satzes 


272 


A.  Biehl, 


aus    lier  Foriii    des    hypothetischen    Urteils,    dem    Verhältnis   vo 
(Ti'imd  und  Folge.    Das  Ziel  ist,  die  objektive  Gütigkeit  des  Satzes  m 
erweisen,  ob  g  1  e  ic  h  er  a  priori  ist.   Das  Pi  inzip  der  Kausalität  wendet 
deu  wSatz  vom  Grunde  auf  die  zeitliche  Abfolge  der  VeräiideniDgen  äu,  ^ 
es  behauptet   die  Notwendigkeit  lu  dieser  Abfolge,     Wir  urteilei 
nach  diesem  Prinzip  a  priori  über  eiu  Verhältnis  der  Dinge.    Nud  ist 
es    nicht    möglich,    über  Dinge    uumittelbar   a  priori    zu   urteilen 
Wenn    sich    aber   zeigen  iässt,  dass  hrgend  ein  Grundsatz  a  priori, 
der  etwas  von  deu  Dingen  behauptet  (in  Kants  Sprache  synthétisa 
ist),  notwendig   von    der  Erfahrung   der  Dinge  gilt,  so  ist  auch 
gezeigt,    dass    er    mittelbar    vou    den  Diugen    selbst  gelten  muss; 
soweit   sie   nämlich   Dinge    der   Erfahrung,    d,  i,    soweit    sie  Bf^l 
scheiuungen  der  Dinge  sind.    Und  aus  diesem  allgemeinen  Gesichts- 
punkte   der  „transscendeutalen"  Deduktion   wird  auch  der  Beweis 
des  Kausalsatzes  geführt.     Wie   es  sich  eigentlich  von  selber  vei 
steht,    tritt    dieser  Satz    erst    in  Funktion,    weniî  und  so  oft  eine 
Veränderung  eintritt.     Denn  dass  Veränderungen  etwas  Wirkliches 
siud,  leugnet  Kant  so  wenig,  als  er  die  Wirklichkeit  der  Körper  be- 
zweifelt.   Was  einer  Veräudenmg  vorangeht,  zeigt,  wie  diese  selbst, 
die  Wahrnehmung  durch  ihren  gegebeneu,  rein  empirischen  InhalV 
dass    in    dem   Vorangehenden    der  Grund    füi*   das  Folgende   ent- 
halten sein  muss,  die  Veränderung  also  notwendig  eintritt,  ist  die  Vor- 
aussetzung,    unter    welcher    allein   jener    empn^ische    Inhalt    zur 
Erfahrung  wird.     Der  Kausalsatz   ist  das  Prinzip  der  Möglichkeit 
der   Erfahrung   von    Veränderungen    im    Unterschiede    vou    ihrer 
blossen  Wahrnehmung.     Dieses  Prinzip    begründet  nicht  etwa  nur 
die  Wissenschaft    vom  Geschehen   in  der  Natur,  es  begründet  deu 
Gegenstand   der  Wissenschaft,  die  Erfahrung  selbst.     Aus  der  be- 
ständigen und  objektiven  Folge  unserer  Wahrnehmungen  lässt  sich 
der  Kausalsatz  nicht,  wie  Hume  wollte,  ableiten;  denn  wir  brauchen 
diesen  Satz,  um  zu  erkennen,  welche  Folge  überhaupt  objektiv  ist 
Die    besonderen  Verknüpfuugeu    der  Vorgänge    in   ihrer  zeitlichen 
Folge    müssen   und   können  nur  aus  der  Wahrnehmmig  geschöpft 
werden,    nur   die    allgemeine  Foini  dieser  Verknüpfung:  die  Kau- 
salität  ist   a  priori  zu   erkennen,   und  sie  ist  objektiv  giltig,   weü 
sie  eine  der  Formen  ist,  durch  Wahrnehmungen  ein  Objekt  zu  be- 
stimmen, eine  der  Formen  der  Eiiahrung  als  solcher. 

Hehuholtz    war   im  Rechte,    zu   sagen,    das  Denken  a  pru 
kann   nur    formal    richtige    und    notwendige  Sätze  ergeben,    die 
niemals  irgend  eine  Folgeriuig  über  Thatsac heu  einer  möglichen 


j 


Hei  mho)  tz  in  seinem  Verhältpi»  zu  Kant. 


273 


Erfahrung  zulassen  können;  nur  hätte  er  hinzufügen  müssen: 
aos^enomiiien  die  Folgerung  über  die  Mtiglichkeit  der  Erfahrung 
selbst. 

Auf  seinen  Beweis  des  Kausalsatzes  ist  Helmholtz  später 
uicht  wieder  /jinickgekoninien;  er  jnuss  ihn  selbst  nicht  mehr  für 
zwingend  betrachtet  haben.  Auch  hat  er  seine  Auffassung  des 
Prijizipes  in  der  Folge  geändert,  und  den  Anstoss  dazu  galieu  ihm 
Studien  über  erkeimtnistheoretische  und  psychologische  Fragen, 
bald  nach  dem  Vortrag  von  1855,  über  deren  Gegenstände  wir 
darch  eine  briefliche  Aufzeichnnng  aus  dem  Jahre  IH57  unterrichtet 
sind.  Es  handelte  sieh  für  ihn  ^,nni  eine  speziellere  Durcharbeitung 
gewisser  Fragen,  die  ganz  auf  dem  von  Kant  in  seinen  Umrissen 
erforschten  Felde  der  a  priorischeu  Begriffe  liegen,  so  die  Ab- 
leitung der  geometrischen  und  niechanischen  Grundsätze,  den  Grund, 
wanim  wir  das  Keale  in  zwei  Abstraktionen,  Materie  und  Ki'aft, 
logisch  auflösen  müssen,  —  dann  wieder  um  die  Gesetze  der 
unbewussten  Analogieschlüsse,  durch  welche  wir  von  den  sinnlichen 
Empfindungen  zu  den  Wahrnehmungen  gelangen/*  Es  ist  das 
Programm  seiner  ferneren  Thäligkeit,  so  weit  sie  sich  den  allge- 
meia  wissenschaftlichen  Fragen  zuwandte,  und  uamentlich  die 
zuletzt  genannte  Frage  führte  ihu  zu  seiner  neuen  Fassung  des 
Kausalproblems.  „Der  erste  Schritt  in  der  Erfahrung,  heisst  es 
in  der  phj^siolugischeu  Optik,  ist  uicht  möglich  ohne  luduktions- 
fichlüsse/  Da  solche  Schlüsse  auf  der  Wiederholung  ähnlicher 
Dinge  und  Vorgänge  aufgebaut  werden,  so  erscheint  der  Kausal- 
satz uicht  länger  mehr  als  das  Prinzip,  woraus  die  Existenz  der 
Dinge  gefolgert  werden  raüsste,  er  wird  zum  regulativen  Prinzip, 
zum  Obersatz  der  Induktionen.  Die  frühesten  Induktionsschlüsse» 
die  den  ersten  Schritt  in  der  Erfahrung  leiten,  müssen  unbewusst 
erfolgen,  nur  ihr  Resultat,  die  sinnliche  Wahrnehmung,  tritt  ins 
Bewusstsein  ein.  Daraus  folgt,  dass  die  Regel  der  luduktions- 
schlüsse  überhaupt  nur  den  Ausdruck  eiues  dem  Bewusstsein 
ursprüughcheu,  ihm  eigentümlichen  Verfahrens  bilden  kann,  das 
uns  bestimmt,  das  Gesetzliche  in  den  Thatsachen  aufzusuchen. 
Unbewusste  Induktionsschlüsse  sind  unbewusstc  Kausalitätsschlüsse. 
Noch  immer  aber  glaubt  Helmholtz  in  wesentlicher  Übereinstimmung 
mit  Kant  zu  stehen.  Das  Kausalitätsgesetz,  erklärt  er  noch  iu  der 
physiologischen  Optik,  ist  „wirklich  ein  a  priori  gegebenes  (und, 
was  für  ihn  dasselbe  bedeutet)  ein  transsceudentales  Gesetz**. 
Von    einer  weiteren  Wendung  in  seiner  Auffassung  des  Prinzipes, 


274  ^         A.  Eiehl, 

die   uns   erst   ein  Blatt  aus  deio  Nachlasse  zeigte,  hat  noch  kau 
die  Rede  zu  sein. 

Auch  die  natar wissenschaftliche  Betrachtniig,  hatte  Helmholtz 
erklärt,  könne  mit  Kants  Raumlehre  bis  zu  einer  gewissen  Grenze 
mitgehen.     Die  Lehre  von  den  a  priori  gegebenen  Formen  der  An* 
schauung  sei  „ein  sehr  glücklicher  und  klarer  Atisdruck  des  Sach- 
verhältnisses",   Diese  Formen  aber  miissteo  „inhaltsleer  und  frei  gt*- 
uug  sem,  um  jeden  Inhalt,  der  überhaupt  in  die  betreffende  Form  I 
der  Anschauung  eintreten   kann,    aufzunehmen.      I>iè   Axiome  der 
Oeometrie  aber  bescliränken  die  Ansehauungsform  des  Raumes,  so 
dass  nicht  mehr  jeder  denkbare  Inhalt  darin  aufgenommen  werden 
kann.    Lassen  wir  sie  fallen,  so  ist  die  Lehre  von  der  „Transsceu-^J 
dentalität**  (gemeint  ist  der  A  Priorität)  der  Anschauung  des  Raumetl 
ohne  Austüss."     „Der  Raum  kann  transscendental  sein,  ohne  dassfl 
es  die  Axiome  sind/'     Kant  aber  habe  auch  die  Axiome  für  trans- 
scendental gehalten;   er  habe  sie,  und  zwar  wie  Helmhol tz  meint, 
um  einen  Ausweg  für  die  Metaphysik  offen  zu  lassen,  als  a  priori 
vor   aller   Erfahrung  gegebene   iSätze   angesehen,    gegeben    durch 
„transscendentale*^' Anschauung.     Seitdem  sie  die  reine  Anschauung 
der  Ankerplatz   der  Metaphysiker   geworden.      „Sie    ist   noch   be- 
quemer als  das  reine  Denken,"  —   Augenscheinlich  hat  Helmholtz 
die  reine  Anschauung  Kants  mit  der  intellektuellen  Schelliugs  und 
der  metaphysischen  Naturphüosophen  verwechselt;   er   hätte   sonst 
nicht  jener  nachgesagt,    was  nur  von   dieser  gesagt,  werden  kann, 
dass   sie    bequemer  sei    als    das    reine  Denken.     Kants  reine  An- 
schauung  bezieht    sich  ausschliesslich    auf  die   reine  Mathematik, 
und  auch  in  dieser  nur  auf  die  Grundbegriffe,   nicht  auf  das  Ver- 
fahren des  Beweises.     Dieses  Verfahren  ist  nach  Kant  Konstniktion 
der  Begriffe:    Begriffe    konstruieren   aber   heisst  nach   ihm,   siM 
auf  solche  Objekte  (Grössen,  Lagen,  Verhältnisse)  beziehen,  die  in 
der    Anschauung  möglich   sind.      Diese  Beziehung    ihrer   Begriffe 
auf  mögliche  Anschauung  unterscheidet  die  reine  Mathematik  von 
der  Logik.     Auch  der  Geometer,  der  Kants  prinzipielle  Auffassung 
von   dem   Wesen    des   Raumes   teilt,    ist   also   genötigt,    ^sich  in 
Schlussketten  hineinzubegeben."     In  die  Metaphysik  aber  führt  die 
reine  Anschauung  so  wenig  hinein ,  dass  sie  viehmehr  das  Mittel 
ist,  jede  theoretische  Erkenntnis  des  Metaphysischen  abzuschneiden 
und  zu  zeigen,   ,,dass  alle  Erkenntnis  aus  reinem  Vei-stande,  oder 
reiner  Vernunft  lauter  Schein  ist,    und  Wahrheit   nur  in  der  Er- 
fahrung.''    „Kant,  erfahren  wir  endlich  von  Helmholtz,  hatte  Raum 


L 


Heimholte  in  seinem  Verhältnis  äu  Kant. 


275 


und  Zeit  kurzweg  (!)  als  gegebene  Formen  der  Anschauung  hinge- 
stellt, ohne  weiter  zu  uutei'ïjuchen,  wie  viel  in  der  näheren 
Ausbildung  der  einzelnen  räumlichen  und  zeitlichen  Anschamiugen 
aus  der  Erfahrung  hergeleitet  sein  könnte.  Diese  Untersuchung 
lajs:  auch  ausserhalb  seines  Weges.  ^  Sie  konnte  auf  seinem  Wege 
mcht  liegen,  weil  sie  Aufgabe  empirischer  Wissenschaften  ist,  der 
Physiologie  und  der  Psychologie.  Diese  haben  die  Bedingungen 
und  Wege  zu  ermitteln,  welche  zur  Erwerbung  der  besonderen 
räuiitlichen  Anschauungen  führen  und  zur  Anpassung  der  Eindrücke 
und  Thätigkeiten  der  betreffenden  iSinneswerkzeuge  an  empirisch 
gegebene  Dinge  und  Verhältnisse.  Kant  dagegen  sucht  die  tiefer 
liegpeodeu  Voraussetzungen  zu  zeigen,  unter  denen  Dinge  und  deren 
Verhältnisse  zu  empirischen  werden.  Kür  die  Naturwissenschaften 
siod  die  Erscheinungen  die  Dinge  selbst;  ihr  Gebiet  ist  die  Sinnen- 
^'elt.  Das  allgemeine  Verhältnis  der  Sinnenweit  zu  einem  Sinnen- 
Wesen  zu  betrachten»  ist  dagegen  Aufgabe  der  Philosophie. 

Wenn    ich    die   Auffassung    von   Helmholtz  in   wesentlichen 
»  ï^unkten  zu  berichtigen  suche,   so    mochte   ich    damit   an    meinem 
.J'^'eiie  verhindern,  da,ss  unter  seiner  grossen  Autorität  Anschauungen 
penimgegeben  werden,  die  dem  thatsächlicheu  Bestände  der  Lehre 
•îants  widerstreiten.     So  hat  erst  jüngst  ein  namhafter  Geometer 
whauptet,    es  sei  Kants  Meinung,   dass   dem  Geist*  eine  „fertige 
Rind    exakte    Anschauung"    innewohne.      Er    kann    dabei    nur    an 
Uelmholtz'   „vor   aller  Erfahrung  gegebene  Sätze,  gegeben  durch 
feransscendent4Üe  Anschauung**,  gedacht  haben;  in  Kants  Schriften 
■^'ürde    er    vergeblich    nach   einem    Beleg    für   seine    Behauptung 
teuchen,    wohl    aber    Beweise   für   das  Gegenteil    derselben   finden 
;^ônnen.     Zwar   werden   die  Sätze  der  Geometrie  unabhängig  von 
der  Erfahnuig  demonstriert,    ihre  Begriffe  aber  sind  erst  auf  An- 
lass  der  Erfahiiing  entwickelt,  was  auch  von  ihrem  ttrundbegriffe 
gilt,  der  reinen  Anschauung  des  Raumes  selbst.     Auch  diese  An- 
schauung  ist   nicht   „vor   aller  Erfahrung  gegeben",   sie   wird  in 
Verbindung    mit    Walu'uehmungen    dem    Gesetze    des  Anschauens 
gemäss  erworben.    „Die  Zeit  —  erklärt  Kant,  und  entsprechendes 
gilt  auch  vom  Räume   —    geht  zwar    als  formale  Bedingung  der 
:  Veränderungen   vor   diesen  objektiv   (dem  Ik^griffe  nach)  vorher, 
aber  subjektiv  und  in   der  Wirklichkeit  des  Bewusstseins 
list  diese  Vorstellung,   sowie  jede  andere,  durch  Veranlassung 
der  Wahrnehmungen  gegeben."     Kant  wusste,   er  hebt    es  selbst 
hervor,  dass  der  wissenschaftUchen  Geometrie  lange  Zeit  (bei  den 

18' 


276 


A.  EiehL 


EgypterD)  eine  rein  empirische  voranging,  ehe  der  Erste»  der  ^den 
gleichscheukeligen    Triangel    demonstrierte",     eine    RcvolutioD 
der  Denkart  hervorrief  und  dem  „Herunitaiipen*'  in  der  Erfahrung 
ein  Ende  machte.     Wie  sollte  er  also  die  Sätze  der  Geometrie  nxt^m 
„fertige  und  exakte**  Anscliannug  zurückgeführt,  oder  die  AriomdH 
als  „vor  aller  Erfahrung  gegebene  Sätxe**  angesehen  haben.     Wohl 
aber  unterscheidet   sich  die   CTeonietrie,    und   überhaupt   die    reine 
Mathematik,  darin  von  jeder  induktiven  Wissenschaft,  dass  bei  i! 
die  einzelnen  anschaulichen  Fälle  nur  zur  Exemplifikation  der  Gi 
setze  dieneu,  nicht  zu  deren  Beweis.     Dies  v^'Ül  jedoch  nur  sagen: 
ihre  Begriffe   und  Sätze  gehen  in  der  Ordnung  der  Methode  deo 
besonderen  räumlichen  Wahrnehmungen  voran,  ein  zeitliches  Voran- 
gehen auch  bei  dor  Entwicklung  der  geometrischen  Kenntnisse  soll 
daraus    nicht   gefolgert   werden.      Sogar   die  erste    Kenntnis  de^H 
Unterschiedes  der  Ürnndrichtungen  iiu  Riiume  führt  Kant  auf  ß^B 
obachtungen  an  empirisch  gegebenen  Objekten  zurück.     Jenes  me- 
thodische Vorangehen   der  geometrischen  Begriffe   aber  hat  Helm 
holtz  selbst  so  präcis  und  klar   wie  möglich  mit  den  Worten  a 
gesprochen  :  „dass  wir  darüber,  ob  ein  Korper  fest,  ob  seine  Flächi 
eben»    seine    Kanten    gerade    sind,    erst   mittelst    derselben   gi 
metrischen  Sätze   entscheiden,  deren  thatsächliche  Richtigkeit  wir 
prüfen  woollen."     Und  damit  ist  Alles  eingeräumt,   was  Kant  mi 
der  Apriorität  der  Geometrie  wirklich  behauptet  hat. 

Es  sind  hauptsächlich  zwei  Einwendungen,  die  Helraholl 
gegen  die  Raumlehre  Kants  gerichtet  hat,  —  eine  von  prinzipieller 
Natur  und  eine  zweite  thatsächlicher  Art.  Von  der  ei-sten  wirf 
Kants  Lehre  nicht  getroffen,  durch  die  zweite  nicht  widerlegt. 
Dass  die  Axiome,  welche  die  Vorstellung  des  Raumes  bestimmen, 
keine  „Denknotwendigkeiten"  sind,  ist  völlig  im  Sinne  Kants;  anders 
hat  auch  er  nie  gelehrt,  war  er  doch  der  Erste,  der  die  mathe- 
matischen Uiteile  von  rein  begrifflichen  Sätzen  unterschied.  Auch 
der  Folgerung,  die  sich  daraus  ergiebt,  dass  „andere  S3^steme  der 
Rauramessung",  als  das  durch  die  Axiome  unserer  Geometrie  cha- 
rakterisierte, „logisch  denkbar  seien",  würde  er  nicht  wider* 
sprochen  haben,  Er  hat  sie  auf  gewisse  Weise  selbst  gezogen. 
In  seiner  Erstlingsschrift  („von  der  wahren  Schätzung  der  leben- 
digen Kräfte")  beschäftigte  ihn  der  Gedanke  einer  „höchsten  Geo- 
metrie von  allen  möglichen  Raumesarten",  und  noch  in  der  „Krittt^ 
nachdem  er  inzwischen  die  Konsequenzen  der  Newtonschen  Theorie 
des  absoluten  Raumes  (und  der  absoluten  Zeit)   entwickelt  hatt^ 


^hefl 

trîf  " 


Helmholtz  in  seinem  Verhältnis  zu  Kant.  277 

wird  die  Möglichkeit  anderer  Formen  der  äusseren  Anschauung 
als  die  in  unserer  sinnlichen  Vorstellungsart  begründete,  ausdrück- 
lich zugestanden.  „Wir  können  nur  ans  dem  Standpunkt  eines 
Menschen  vom  Räume  reden,  —  es  mag  sein,  dass  alle  endlichen, 
denkenden  Wesen  hierin  mit  dem  Menschen  übereinkommen  müssen, 
wiewohl  wir  dieses  nicht  entscheiden  können.*"  Auch  nach  Kant 
ist  die  Geometrie  auf  Grundthatsachen  aufgebaut,  wie  sie  die  selbst 
thatsächliche  Form  unserer  äusseren  Anschauung  vorschreibt.  So 
weit  also  besteht  kein  Gegensatz  zwischen  seiner  Lehre  und  den 
Untersuchungen  von  Helmholtz  über  „die  Thatsachen,  die  der  Geo- 
metrie zu  Grunde  liegen".  Die  analytische  Betrachtung  der  alge- 
braisch möglichen  Formen  einer  „Mannigfaltigkeit",  der  möglichen 
Systeme  der  Gruppenbildung  gleichzeitig  gegebener  Elemente,  Iftsst 
sogar  das  spezifische  Wesen  des  Raumes  und  den  Ursprung  seiner 
Axiome  aus  der  Anschauung  auf  das  deutlichste  hervortreten;  sie 
gestattet  überdies  die  Tragweite  jedes  einzelnen  Axiomes  für  sich 
zu  bestimmen.  Helmholtz,  und  vor  ihm  Riemann,  leitete  aus  ihr 
auch  noch  die  Möglichkeit  eines  Krümmungsmasses  des  „Raumes^' 
ab,  das  von  dem  Werte  Null  verechieden  sein  kann.  Gegen  die 
Berechtigung  dieses  Schlusses  lässt  sich  jedoch  ein  logisches  Be- 
denken nicht  unterdrücken,  und  die  Gesetze  der  Logik  stehen  noch 
über  den  Gesetzen  der  Mathematik.  Dem  Gauss'schen  Mass  der 
Flächenkrümmung  (dargestellt  durch  den  reciproken  Wert  des  Pro- 
duktes der  beiden  Hauptkrümmungsradien)  entspricht  nur  in  dem 
einzigen  Falle,  von  dem  es  hergenommen  ist,  eben  der  Fläche, 
eine  mögliche  Anschauung.  Als  Ausdruck  für  die  Krümmung  des 
Ranmes  dagegen  verliert  es  jeden  anschaulichen  Sinn  und  wird  zu 
einer  analytischen  Bezeichnung  eines  gleichfalls  nur  analytischen 
Verhältnisses  innerhalb  einer  „Mannigfaltigkeit".  Aus  rein  Ana- 
lytischem aber  kann  nur  wieder  Analytisches,  es  darf  daraus 
nichts  spezifisch  Geometrisches  gefolgert  werden. 

Die  thatsächliche  Form  unserer  äusseren  Anschauung  ist  zu- 
gleich die  notwendige  Form  der  angeschauten  Dinge.  Denn  „man 
kann  a  priori  wissen,  wie  und  unter  welcher  Form  die  Gegen- 
stände der  Sinne  werden  angeschaut  werden:  nämlich  so,  wie  es 
die  subjektive  Form  der  Sinnlichkeit,  d.  i.  der  Empfänglichkeit  des 
Subjekts  für  die  Anschauung  jener  Objekte,  mit  sich  bringt".  Ist 
also  der  Raum  die  gegebene  Form  unserer  äusseren  Anschauung, 
so  kann  nichts  zur  Anschauung  kommen,  was  dieser  Form  wider- 
spricht, so  moss  alles,  was  wir  anschauen  oder  anschauen  können. 


A.  Hiehl» 


TIB 


dieser  Form   völli/^   gemäss   sein,   deuu    iiiir   durch    sie   prscheiût, 
was  überhaupt  üeceusiaud  unserer  äusseren  Ansdiauim^  ist,  oder 
sein  kaon.     ,,Es  wird  allemal,  sclu-rdbt  Kaot,  —  und  seiue  Wort« 
sind  iDZT^ischen   wieder   zeitgemäss  gewordeu,  —  ein  bemerkungs- j 
würdiges  Pliäuomeu  bleiben,    dass   es   eine   Zeit  gegeben    hat,  dt 
selbst  Mathematiker,   die  zugleich  Philosophen   waren»   zwar  nicht j 
an  der  Richtigkeit  ihrer  geometrischen  .Sätze»    sofern  sie  blos  den 
Raum  betrafen»  aber  an  der  objektiven  Gültigkeit  und  Aowendniig 
dieses  Begriffes  und  aller   geometrischen  Bestimmungen  desselben 
auf  Natur  zu  zweifeln  anfiiigeiL     Hie  erkannten  nicht,   dass  dieser 
Raum  in  Gedanken  den  physischen  selbst  möglich  ma':he/'  —  Und 
damit    sind  wir   zu   dem   zweiten   Punkt    der   Einwendungen  von 
Helmholtz  gelangt. 

„Dass  ilie  Axiome  unserer  Geometrie  in  der  gegebenen  Form 
unseres  Anschauiingsvei-mögens  begründet  wären,  oder  mit  eine 
solchen  irgendwie  zusammenhiugen'\  will  Helmholtz  nicht  zugeben 
Sie  gelten  ihm  für  Anschauungsgewohnheiten,  die  aus  der  Er 
fahniug  stammen  und  möglicherweise  durch  anderartige  Erfalu*ungeS^ 
widerlegt  und  überwunden  werden  könnten.  Zum  Beweis  dafür 
lässt  uns  Helmholtz  in  Gedauken  in  einen  „pseudosphärischen 
Raum"  blicken  (eigentlich  nur  durch  eine  Schicht  con  vexer  Flächen) 
nnd  zeichnet  mit  anschaulicher  Phantasie  den  Eindruck,  den  dl^fl 
Gestalt  der  Dinge  in  einem  solchen  Räume  auf  uns  machen  müsste. 
Er  schliesst  daraus,  „wir  können  uns  den  Anblick  einer  pseudo- 
sphärischen Welt  ebenso  gut  nach  allen  Richtungen  ausmalen,  wie 
wir  ihren  Begriff  entwickeln  köunen"".  Der  Raum,  den  die  Geo- 
metrie zum  Grunde  legt,  wäre  demnach  nicht  die  notwendige  Form  h 
unserer  äusseren  Auschauungj  weü  sie  nicht  die  einzige  wäre;9 
ausser  ihr  gäbe  es  noch  einen  Raum  an  sich  und  von  diesem  eine 
„physische*"  Geometrie,  die  mit  der  reinen  nicht  übereinzustimmen 
brauchte,  da  wir  sie  ja  als  von  dieser  verschieden  vorstellen  können.  — 
Können  wir  dies  wirklich?  Die  Visierlinien  mindestens,  längs 
welcher  allein  wir  in  jenen  imaginierten  Raum  hineinblicken  könnten, 
müssten  gerade  sein;  also  ist  es  nicht  möglich,  uns  den  Anldick 
einer  pseudosphärischen  Welt  nach  allen  Richtungen  auszumalen, 
eben  die  Richtung,  die  unser  anschauendes  Subjekt  selbst  zu 
jener  Welt  einnimmt,  bliebe  davon  ausgenommen.  Wir  wollten 
den  ^ebenen"  Raum  umgehen  und  es  zeigt  sich,  dass  wir  ilin 
brauchen,  um  einen  „gekriimmten"  vorzustellen:  auch  vermögen 
wir   von  diesem   anderen  Raum    genau  so   viel,   nicht   mel 


Helmholiz  in  seinem  Verhältnis  su  Kant. 


279 


scJiaulich  vorzustellen,  als  sich  von  ihm  in  dem  ^euklidischen" 
liiime  abbilden,  oder  populär  zu  reden,  in  ihn  hineinerstrecken 
^ünli*.  Bedarf  es  norh  eines  weiteren  Beweises,  dass  der  Kaum 
unserer  Geometrie  die  unuui^äugiiche  Fonn  unserer  äusseren  An- 
schaunner  zum  Ausdruck  brin$:t?  Statt  zur  Widerlegung  der  Lehre 
Kms  7Äi  führen,  dient  ihr  das  Argument  von  Helmholtz  vielmehr 
«nr  Bestätigung. 

Dass  kein  System  von  Flächen  konstant  negativer  Krümmung 
dt!M  Riium  vollständig  erfüllen  kann,  ist  anschaulich  gewiss.    Durch 
dje   neuesten    Untersuchungen    von    Hilhert    scheint    es    überdies 
"fraglich    geworden    zu    sein,    ob   sich  auch  nur  der  Begriff   eines 
tiseudosphärischen  Raumes   anal}lisch   entmckeln  lässt.     Es  giebt 
nach  diesen  Unten^uchnngen    keine  singularitätenfreie   und  überall 
^•eguläre  analytische  Fläche  von  negativer  konstanter  Krümmung, 
jälso  ist  die  Frage:  ob  sich  auf  die  Beltramisclie  Weise,  oiul  diese 
wollte    eben  Helmholtz   veranschaulichen»   die   ganze   Lobatschefs- 
kysche  Geometrie  verwirklichen  lasse,  zu  verneinen.    (Unter  Singu- 
larität  einer  Fläche    ist   eine  Linie  zu  verstehen,  über  die  liiuaus 
eine  stetige  Fortsetzung  mit  stetiger  Änderung  der  Tangentialebene 
nicht   möglich  ist.)  —  Wer  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  von 
Kigenschaften   des  Raumes  redet,   muss  dem  Raum  eine  Existenz 
au    sich    znschreiben,  also  den  absoluten  Raum  Newtons  für  vor- 
handen  auch   ausser  unserer  Vorstellung   und  abgesehen  von  der- 
selben  annehmen.     Und  wer  überdies  diesem  Newtonschen  Räume 
andere  Eigenschaften  zusckreibt  als  diejenigen,  des  *, euklidischen**, 
k&Du  ihm   nur  physikalische  Eigenschaften  zuschreiben.     Er  muss 
den  Raum  als  widerste.bendos  Mittel  denken,  oder  Kräftig  von  ihm 
ausgehen  lassen,  denn  nur  so  wäre  es  begreiflich,  dass  dasGalileische 
B**harrungsprinzip  sieh  in  ihm  nicht  verwirklichen  könnte,  der  be- 
wegte Punkt  \ielmehr  gezwungen  wäre,  statt  der  Geraden  „geradeste** 
Bahnen    einzuschlagen.      Dann   aber   würde   er  nicht   länger  vom 
^Raume"    reden,   sondern   von  einer  Realität,  die  ihn  erfüllt;  und 
um    diese  Realität   vorstellen    zu  können,  braucht  er  wieder  den 
euklidischen  Raum.    Kurz  er  kann  über  diesen  Raum  nicht  hinaus, 
er   muss  immer  wieder,  so  lange  er  anschaulich  vorstellt,  auf  ihn 
aurückgreifen.     Wie  will  er  also  bezw^eifeln,  dass  der  Raum  über- 
haupt   „blos   die  Form    der   äusseren  Anschauung  ist,    aber   kein 
wirklicher  Gegenstand,  der  äusserlich  angeschaut  wird**? 

.\üch    Helmholtz   tässt   den   „enklidisehen''    Raum  in   der   Er- 
fahrung gelten;  nur  bestreitet  er,  dass  er  iu  der  Erfahrung  gelten 


A.  Rîehl, 


I 


musSi    weil    er    von    ihr    gilt.     Er  beruft   sich  auf  astronomischf 
Messungen  ihn*  Winkel  geradliniger  ebener  Dreicke;  diese  Messiiii^**ii 
haben    (bisher,     wie    wir    hinzufügeu    müssen)    deu    Wert   des 
„Krilmmuügsjtiasses    des  Raumes**    gleich  Null,    d.  h.    die  Winkel- 
summe    gleich    zwei    Rechten    ergeben.      Dies    sind    aber    keine 
Messungen  des  Raumes,  sondern  solche  von  Abständen  von  Dingen 
im  Räume.     Auch   wird   in   der  Geometrie  die  Winkelsumme  nicht 
gemessen,    sondern   demonstriert.     Die  Geometrie    ist   die   Wissen- 
schaft nicht   der  Ramnmessung,  sondern  der  Gesetze  der  Messung 
räumlicher  Dinge,     Die  geonietrisdie  Messung  beniht  daher  nicht» 
wie  die  physische,  ^auf  der  Voraussetzung,  dass  unsere  Messwerk- 
zeuge  wirklich  Körj>er  von   unveränderlicher  Forïii  sind**.     Da  es 
solche  Korper  thatsächlich  nicht  giebl,  so  wäre  eine  geometrische 
Messung  iiberhau[»t  nicht  möglich  und  die  Genmetrie  bliebe  in  der 
ägyptischen  tlusternis   „des  Herumtappens"  in  der  PMahrnng  ein- 
geschlossen. 

Kants  kritische  Lehre,  nach  welcher  der  Rauo]  überhaupt: 
der  absolute  Raum  Newt^ins  und  der  Geometrie,  die  Form  unserer 
äusseren  Anschauung  ist,  sichert  die  objektive  Gültigkeit  der  Geo* 
metrie  und  macht  sie  zugleich  begreiflich. 

Die  fernere  Entwickelung  der  erkenntnistheoretischen  An- 
schauungen von  Helmholtz  lernen  wir  aus  der  Rede:  „die  That- 
Sachen  in  der  Wahrnehmung*'  und  den  damit  übereinstitnmendeo 
Stellen  in  der  zweiten  Bearbeitung  der  physiologischen  Optik  kennen, 
die  letzte  Phase  ihrer  Entwickelung  aus  einem  Blatte  des  Nachlasses.  ^1 

In  seiner  Ansicht  über  den  Ursprung  des  Wissens  schränkt 
Helmholtz  den  Nativismus,  die  Annahme  angeborner  Fähigkeiten 
des  Geistes»  so  weit  ein,  als  es  mit  den  Thatsachen  vereinbar  ist, 
vielleicht  noch  über  diese  Grenze  hinaus.  Als  Wirkungen  ange- 
borner  Organisation  lässt  er  beim  Menschen  nur  noch  Reflex- 
bewegungen und  Triebe  gelten,  letztere  die  Gegensätze  des 
Wohlgefallens  an  einzelnen  Eindrücken,  des  Missfallens  gegen 
andere  umschliessend.  Der  Satz  der  Kausalität  beruht  also  jetzt 
nicht  mehr  auf  einer  Eigentümhchkeit  des  Subjektes,  er  ist  kein 
a  priori  gegebenes  Gesetz  des  Denkens  mehr,  wie  Helmholtz  ihn 
zuerst  aufgefasst  hatte;  denn  Niemand  wird  ihn  unter  den  ange- 
bornen  Reflexbewegungen  suchen  wollen.  Auch  Prinzip  der  In- 
duktion kann  er,  vom  Anfang  an  wenigstens,  nicht  sein;  da  die 
Induktionsschlüsse,  von  denen  Helmholtz  sagt^  dass  sie  bei  Bildung 
von  Anschauungen  eine  hervorragende  Rolle  spielen,  durch  ^unbe- 


I 


Helmholtz  in  seinem  Verhältnis  zu  Kant.  281 

wusste  Arbeit  des  Gedächtnisses"  gewonnen  sein  sollen.  Wird  er 
dennoch  anch  weiterhin  als  das  regulative  Prinzip  der  Erfahrungs- 
schlüsse betrachtet,  so  kann  er  diese  Bedeutung  erst  nachträglich 
und  in  Folge  vorangegangener  unbewusst  erworbener  Erfahrungen 
erhalten  haben.  Denn  „der  Urquell  alles  Wissens  ist,  wie  Helmholtz 
jetzt  erklärt,  die  Übertragung  des  bisher  Erfahrenen  in  das  künftig 
zu  Erfahrende".  Ob  freilich  die  empiristischen  Annahmen  von 
Helmholtz  ausreichen,  alle  ,.im  Vorstellungskreise  der  Erwachsenen 
überhaupt  vorkommende  Kenntnisse^  daraus  herzuleiten,  erscheint 
zweifelhaft.  Der  empiristische  Denker  vergisst,  dass  „der  Intellekt 
in  gewissem  Sinne  sich  selbst  angeboren  ist"  und  Einheit  in  der 
Verknüpfung  der  Sinneseindrücke  und  Vorstellungen  bewirkt.  Und 
aus  dieser  Urquelle  werden  im  letzten  Grunde  jene  Einheitsbe- 
griffe a  priori  herstammen  müssen,  die  in  der  Erfahrung  nicht 
gegeben  sind. 

Bei  der  Frage  nach  „der  Art  der  Übereinstimmung  zwischen 
den  Vorstellungen  und  ihrem  Objekte",  der  Hauptfrage  der  Er- 
kenntnistheorie, legt  Helmholtz  alles  Gewicht  auf  den  Begriff  der 
Gesetzlichkeit.  „Das  Auge  kann  nichts  sehen,  was  ihm  nicht  als 
Licht  und  Farbe  erscheint,  ebenso  kann  der  Geist  nichts  begreifen, 
in  dem  er  kein  Gesetz  findet".  „Was  wir  unzweideutig  und  als 
Thatsache,  ohne  hypothetische  Unterschiebung  finden  können,  ist 
das  Gesetzliche,  zunächst  die  gesetzliche  Verbindung  zwischen 
unseren  Bewegungen  und  den  dabei  auftretenden  Empfindungen." 
Und  wiederum:  „was  wir  direkt  wahrnehmen,  ist  nur  das  Gesetz: 
das  gleichbleibende  Verhältnis  zwischen  veränderlichen  Grössen". 
Schillers  Wort  von  dem  „ruhenden  Pol  in  der  Erscheinungen  Flucht" 
war  ein  Lieblings  wort  von  Helmholtz.  Und  wenn  es  ferner  heisst: 
„das  Gesetzmässige  ist  die  wesentliche  Voraussetzung  für  den 
Charakter  des  Wirklichen",  so  ist  dies  völlig  im  Sinne  der  kritischen 
Philosophie.  Ebenso  auch  der  Satz:  „die  besondere  Art  einer 
ursächlichen  Verbindung  wird  immer  nur  in  hypothetischer  Weise 
gefunden  werden  können".  Auch  nach  der  Lehre  der  „Kritik" 
beruht  jedes  inhaltlich  bestimmte  Kausalverhältnis  nur  auf  Er- 
fahrung und  diese  kann  niemals  mehr  als  „komparative"  AUge- 
meingiltigkeit  lehren. 

Auch  die  Begriffe  Ursache,  Kraft  führt  Helmholtz  auf  den 
Begriff  des  Gesetzlichen  zuriick.  „Sofern  wir  das  Gesetzliche  als 
ein  unabhängig  von  unserem  Vorstellen  bestehendes  anerkennen, 
nennen  wir  es  Ursache;  wir  nennen  es  Kraft,  insofern  wir  es  als 


282 


A.  Riehl, 


das    , 
ûmM 


eine  unserem  Willen  gleichwertige  Macht  anerkennen*'.  Der  Be- 
ginff  der  Substanz  dagegen  bleibt  nach  Helmholtz  „immer  proble- 
matisch'', sofern  bei  der  Anwendung  desselben  „weitere  Prüfung 
vorbehalten  bleibt".  Auch  der  allgeiueine  Kausalsatz  endlich  wird 
in  die  engste  Verbindung  mit  der  Aufgabe  gesetzt,  die  Erscheinungen 
zu  begreifen,  d,  h.  ihre  Gesetze  aufzusuche.n.  ^Setzen  wir  voraas. 
dass  das  Begreifen  zu  vollenden  sein  werde,  so  nennen  wir  das 
regulative  Prinzip  unseres  Denkens,  was  uns  dazu  treibt,  das_ 
Kansalgesetz", 

Schliesslich  (in  dem  Nacblass)  ist  das  Kausalgesetz,  o< 
„die  vorausgesetzte  Gesetzmässigkeit  der  Natur"*  uinr  noch  eii 
^Hypothese",  Helmholtz  wiederholt  das  Argument  llumes;  „Keiue 
bisherige  Gesetzmässigkeit  kann  künftige  Gesetzmässigkeit  be- 
weisen*^. Der  einzige  Beweis  aller  Hypothese  aber  sei  immer: 
,4)rüfe,  ob  es  so  ist  und  du  wirst  es  finden*'.  Allerdings  habe  das 
Kausalgesetz  den  übrigen  Hypothesen,  welche  besondere  Nattu> 
gesetze  aussagen,  gegenüber  eine  AusnahmestelUmg,  da  es  die 
Voraussetzung  der  Giltigkeit  aller  anderen  sei  und  die  einzig 
Möglichkeit  für  uns  gebe,  überhaupt  etwas  nicht  Beobachtetes  zo 
wissen.  Ausserdem  bilde  es  die  notw^eudige  Grundlage  für  ab- 
sichtliches Handeln  und  endlich:  wir  werden  darauf  hiogetriebeu 
durch  die  natürliche  Mechanik  unserer  VorstellungsverbindungeD, 
d,  h.  es  ist  subjektiv  notwendig.  „Denken  heisst,  die  Gesetz- 
mässigkeit suchen,  urteilen  heisst,  sie  gefunden  haben.  Ühue 
Kausalgesetz  also  kein  Denken.  Kein  Denken  ohne  Anerkennung 
des  Kausalgesetzes  ist  also  enie  'l'autologie;  es  fragt  sich,  ob  wir 
zum  Dijuken  berechtigt  sind"".  Dies  eben  war  die  Frage  der  Kritik  d< 
reinen  Vernunft  Das  Kausalgesetz,  dies  steht  nach  Humes  Unt 
suchungen  zweifellos  fest,  ist  kein  Denkgesetz,  kein  anal3^1sch( 
Satz;  denn  es  behauptet  etwas  von  den  Objekten  des  Denkens 
und  es  behauptet  dies  a  priori;  HeJniholtz  selbst  hatte  früher  zn*j 
gegeben:  ,*das  Strebeu,  alle  Erkenntnis  auf  Empirie  zu  giiiudei 
endete  hei  Hume  in  der  Leugnung  aller  Möglichkeit  von  objektir^ 
P^rkenntuis". 

Von    der  Gesetzlichkeit   im  Sinne  eines  allgemeinen  Inhali 
der  Erfahrung   ist   zu  nnteiscbeiden  die  Gesetzlichkeit  der  Erfah- 
rung    als    solcher,    die   Gesetzlichkeit    ihrer  Form:    diese   letztei 
allein,    nicht    die    erste   sagt   der  Kausalsatz    a  priori    aus.     EÎJ 
Verändernng  bleibt  gesetzlich,  d.  i.  mit  einer  vorangehenden  Vei 
änderung    notwendig  verknüpft,    auch  wenn  sie  sich  nicht  wieder 


Helmholtz  in  seinem  Verhältnis  zx%  Kant. 


283 


holt,  d.  h.  wf'Hii  ihre  Ursache  nicht  wieder  eiu tritt,  und  deshalb 
gehölt  sie  zar  Eriahnmg",  kann  sie  Objekt  eines  allgeiiieiiigiltigeii 
Yorstellens  werden.  Dass  es  gleiche  l^rsacheu  in  der  Natur  giebt, 
folglich  auch  die  Wirkungen  gleich  sind,  ist  eine  durch  die  Er- 
fiihrong  in  sehr  weitem  Umfange  bestätigte  Thatsache,  die  zur 
H)T)othese  wird,  wenn  sie  auf  alle  künftige  Erfahruug  übertragen 
winl  Streng  genommen  machen  wir  selbst  erst  die  Ursachen  so 
weit  als  möglich  gleich  dnrch  Abstraktion  und  durch  das  Experi- 
ment Dass  aber  jede  Veränderung,  sie  mag  eine  einmalige  sein, 
oder  sich  wiederholen,  von  einer  ihr  vorangegangenen  Yerändening, 
Wflchc  immer  es  sei,  abhängig  seni  muss,  ist  keine  Hypothese, 
sondern  eine  Bedingung  der  Erfahrung,  ohne  welche  es  unserem 
Erkennen  an  einem  Objekte  fehlen  würde.  Gewiss  bleibt  es 
immer  denkbar,  dass  die  bisherige  Gleichförmigkeit  in  der  Natur, 
die  empirische  Gesetzmässigkeit  in  ihr,  künftig  eine  Veränderung 
erleide,  nnd  wir  haben  dies  bereits  zugegeben;  ausgeschlossen 
inrdi  das  Kausalprinzip  ist  aber,  dass  eine  solche  Veränderung 
ohne  Ui^acbe  erfolgen  könne,  denn  damit  fiele  sie  aus  den  Grenzen 
i^  überhaupt  Erfahrbaren  heraus,  sie  würde  aufhören,  ein  mög- 
''chfif  Gegenstand  des  Erkennens  zu  sein. 

Wie  von  Hume  zeigen  sich  die  philosophischen  Anschauungen 

^ou  Helmholtz  in  ihrer  letzten  Gestalt  auch  diuxb  MÎ11  beeinflussl. 

|pie  Lehre    von   den  „ Konnotationen "*  ist  in  die  Einleitung  zu  den 

r^Orlesungen  über  theoretische  Physik  aufgenommen  worden,  ebenso 

Mills  Alignment  gegen  den  Syllogismus,  und  in  einer  Aufzeichnung 

^tes  Nachlasses  erscheint  auch  der  Begriff  der  „permanenteo  Mög- 

''«^hkeiten".      ,.Uer    Begriff   eines    daseienden    Dinges,     heisst    es 

^mUch,  enthält  die  Zuversicht  ausgesprochen,  dass  ich  bei  geeig- 

*^teu  Bedingungen  der  Beobachtung  stets  wieder  dieselben  Sinnes- 

^ùidriicke   empfangen   würde'',  —  vorausgesetzt,  fügen  wir  hinzu, 

5    das  Ding   selbst  sich  nicht  inzwischen  geändert  habe.     Was 

'^gen  diese  Anschauung  zu  erinnern  ist,  soll  hier  nicht  wiederholt 

erden;    sicher    ist,    dass   das   blosse  Wiederkehren   gleicher  Eni- 

induugen   einen    Schfuss    auf   die    Konstanz    des  Objektes  nicht 

chtfertigen,    die    „permanente  Möglichkeit**    mithin    den    Begriff 

ilies  Dinges  nicht  erschöpfen  kann.  — 

„Deduktion    der    Grundbegriffe,    die    aus    der  Natur  des  Be- 

reifeüs  und  der  vorausgesetzten  Möglichkeit  vollständiger  Lösung 

lt?r  Aufgabe    heifhessen**,  —  so    hat  Helmholtz    die  Aufgabe   der 

l^hilosophie   für    die  Naturwissenschaften  bestimmt,    und  damit  ist 


j 

m 


284 


A.  Riehl, 


dem  Interesse»  das  der  Naturforscher  als  solcher  au  philosophisclw 
Untprsiichiiiig:eii  zu  nehmen  hat,  auch  wirklich  genügt.  Werdi 
aus  der  Aufgaho  der  Naturforschuug»  die.  Erscheiimugen  zu  \\^ 
greifen,  die  Bediugungen,  noter  denen  sie  hegreiflich  sind,  her- 
geleitet, 80  gelangt  man  zu  Postulaten  des  Erkeiineus,  und  ein 
Fehler  kauu  bei  diesem  Verfahren  nicht  unterlaufen,  sofern  diese 
Postulate  imr  innerhalb  der  Erfahrung  gebraucht  werden.  Das 
I Uteresse  der  Iiiiloso|diie  fiihi't  weiter.  Sie  sucht  aus  dem  Begriff 
der  Erkenntnis  die  Bedingungen  abzuleiten,  unter  denen  die  Er- 
scheinungen selbst,  die  Objekte  des  Natnrerkennens,  gegebeo 
werden,  und  gelangt  auf  ihrem  Wege  zu  Grundsätzen  der  Er- 
fahrung; sie  beweist,  dass  es  Dinge  geben  müsse,  die  mit  den 
Postulaten  des  Krkeunens  notwendig  übereinstimmen,  eben  die 
(Objekte  der  Erfahrung*  Diese  Aufgabe  hat  erst  Kant  der  theore- 
tischen Philosophie  gestellt,  der  Philosophie  der  Wissenschaft»  iiud 
darum  eröffnete  sein  Werk  eine  neue  Epoche  in  der  Geschichte 
der  Philosophie. 

Es  war  ein  ausserordentliches  Verdienst  von  Helmholtz  zur 
Zeit  der  Hegemonie,  oder  dürfen  wir  vielleicht  im  Rückblick  aaf 
die  sechziger  und  siebziger  Jahre  sagen;  Tyrannis  der  Natur- 
wissen  Schäften,  auf  die  Berechtigung  der  Philosophie  und  ihre  Be- 
deutung auch  für  die  naturwissenschaftliche  Forschung  selbst 
nachdrücklich  und  mit  dem  Gewichte  seiner  Autorität  hingewieseo 
zu  haben.  Ihm  schien  es  selbstvei-stäudlich,  „dass  das  Interesse 
an  den  berechtigten  Aufgaben  der  Plüiosophie  in  der  Menschheit 
nie  dauernd  erlöschen  kann",  und  er  empfand  die  Befriediguog, 
die  nur  dem  philosophisch  gesinnten  Naturfoi-scher  zu  Teil  wird, 
„den  nugeheuren  Reichtum  derNatui"  als  ein  gesetzmässig  geordnetes 
Ganze,  als  ein  Spiegelbild  des  gesetz massigen  Denkens  tinsere.^ 
eigenen  Geistes  zu  überschauen".  Durch  seine  eigenen  erkenntßis- 
theoretischen  Arbeiten  trat  er  überdies  in  ein  unmittelbares  Ver- 
hältnis zur  Philosojihie.  Ihm  kam  es  darauf  an,  das  Instminenl 
genau  kenuen  zu  lernen,  womit  der  Naturforscher  arbeitet.  Und 
wenn  ei^  Kants  „Kritik''  mit  dem  Auge  des  Physiologen  las,  so 
ist  es  der  nachfolgenden  philosophischen  Forschung  nicht  schwer 
geworden,  seine  Auffassung  zu  berichtigen.  In  der  allgemeineD 
Richtung  aber,  die  er  ihr  gezeigt,  bewegen  sich  auch  heute  noch 
ihre  Bestrebungen.  Auch  wir  verfolgen  das  Ziel,  Philosophie  und 
positive  Wissenschaft,  Kntik  inid  Forschung,  in  fruchtbare  gegen- 
seitige Verbindung  und  Wechselwirkung  zu  bringen*   Die  erkenntnis- 


Heimholte  in  seinem  Verhältnis  zu  Kant.  28Ö 

theoretischen  Probleme  aber  erschöpfen  den  Beruf  und  die  Aufgabe 
der  Philosophie  nicht.    Auch  Helmholtz   hat  es   stets   anerkannt, 
„dass  die  Geisteswissenschaften  sich  ganz  direkt  mit  den  teuersten 
Interessen  des  menschlichen  Geistes  befassen".    Ausser  ihrem  Ver- 
h&ltnis  zu   den  exakten  Wissenschaften   der  Natur  hat  die  Philo- 
sophie  ein  nicht  minder  wesentliches  Verhältnis  und  eine  analoge 
Angabe  in  Beziehung  auf  die  Wissenschaften  der  geistigen  Insti- 
tutionen und  des  menschlichen  Handelns.    Wie  sie  die  methodischen 
Begriffe   der  Erfahrung   und  Wissenschaft   aufsucht,    so  prüft  sie 
auch  die  Gesetze  und  Normen  des  Handelns.    Aus  beiden  Aufgaben 
zumal  erwächst   ihr   in   immer  klarerer  und  bestimmterer  Gestalt 
das  Bild    der  Welt   und    des  Lebens:    die  philosophische  Weltan- 
schauung,  welche  nicht   ihren  Gegenstand  bildet,   wohl   aber  das 
Ziel,  dem  sie  zustrebt. 


Zum  hundertjährigen  Todestage  Kants.') 

VoTi  Fr.  Paulsen. 


Ein  Jahrhundert  ist  da!iiug<?j2:angeo,  seitdem  Kant  die  helleOi 
Augen,  die  so  lauge  strahlend  mn  geistigen  Himmel  des  deutschec 
Volkes  gestanden  hatten,  im  Tode  schloss.     Die  tiefen  Wirkungean 
die    von    seinem  Leben    ausgegangen    sind,    dauern  bis  auf  diesen 
Tag;    na€h    vorübergehender    Verdunkelung   ist    seine  Gestalt 
letzten  Menschenalter  wieder  beherrschend  her\T>rgetreteD. 

Fragen  wir,  was  ihm  die  überragende  Bedeutung  giebt,  so 
wird  die  Antwort  keine  andere  sein  können  als  die,  worauf  Schüler 
nicht  lange  vor  seinem  Tode  in  einem  Brief  an  W.  v.  Humboldt 
hindeutet:  ^Die  spekulative  Philosophie,  wenn  sie  mich  je  gehabt 
hat,  liat  mich  durch  ihre  hohlen  Formeln  verscheucht,  ich  habe^ 
auf  diesem  kahlen  Gefilde  keine  lebendige  (Quelle  und  keine  Nah- 
rung für  mich  gefunden;  aber  die  tiefen  Grundideen  der  Ideal- 
philosophie bleiben  ein  ewiger  Schatz,  und  schon  allein  um  ihrel-- 
willen  muss  man  sich  glückUch  preisen,  in  dieser  Zeit  gelebt  zu. 
haben."  —  —  — -  ,,Ani  Ende  sind  wir  doch  beide  Idealisten  und 
würden  uns  schämen,  uns  nachsagen  zu  lassen,  dass  die  DiogaÄ 
uns  formten  und  nicht  wir  die  Dingo."  Kant  ist  es,  der  dies<^^ 
„Idealphilosophie"  liegründet  hat,  Kant  der  Begründer  des  Idea- 
lismus in  der  Gestalt,  in  der  er  ein  unverlierbares  Ingrediens  des 
deutschen  Geisteslebens  geworden  ist. 

Drei  Momente  sind  darin  gesetzt: 

I.  Der  praktische  Idealismus:  Die  Gewissheit,  dass 
praktische  Ideen,  Ideen  von  dem,  w^as  sein  soll,  das  Leben  zu  be- 
stimmen berufen  sind.  Kaut  gehört  zu  den  Vertretern  des  for- 
dernden Idealismus,  nicht  des  schönfärbenden  und  quietistiscbeo. 
Die  Aufgabe   des  Lebens  ist:   Ideen  zu  verwirklich  eu,    im  Einzel- ■ 

Ï)  Zugleich   als  Vorwort  zur  vierten  Auflage  meines   „T.  Kant,   sein 
Lehen  und  seine  Lehre '^;  Stuttgart  1904, 


Zum  hundertjährigen  Todestage  Kante. 


287 


3beD  und  im  Gesamtleben:  im  Staat  die  Idee  der  Gerechtigkeit, 
iletzt  eines  vollendeteû  Rechtszustatides  der  Menschheit  auf 
Irden;  in  der  Kirche  die  Idee  einer  vollendeten  ethischen  Gemeiii- 
thaft,  worin  jeder  als  Glied  eines  Gottesreiches  sein  Leben  zu 
lestalten  und  für  das  Ganze  thätig  zu  wirken  vermag. 

2.  Der  erkeuntnis  theo  retische  Idealismus:  Die  Ge- 
fissheit,  dass  Erkenntnis  nicht  von  aussen  in  den  Geist  hinein- 
umrat,  sondern  von  innen  lieraus  dnrch  die  schöpferischen  Kräfte 
H Geistes  erzengt  wird.  In  Kants  Sprache:  Sinnlichkeit  und 
erstand  enthalten  Prinzipien  a  priori,  wodurch  überhaupt  ei^t 
rfahrong  und  Wissenschaft  möglich  wird.  Und  die  letzte  vorwärts- 
"Äugende  und  Richtung  gebende  Triebki'aft  für  die  wissenschaft- 
'be  Arbeit  ist  wieder  eine  Idee,  die  Idee  eines  vollendeten 
eltsysteins,  zuletzt  eines  Systems,  das  die  ganze  Wirklichkeit 
»  V'erwirklichaug  einer  alhimiassendeii  Idee  darstellt,  Damit  ist 
Ion  das  dritte  gegeben: 

3.  Der  metaphysisch^^  Idealismus:  Die  Gewissheit,  dass 
*eii  nicht  bloss  im  Handeln  und  Erkennen  des  Menschen,  des 
krokosmos,  sondern  auch  in  der  grossen  Wirklichkeit  Bedeutung 
ben,  oder  dass  Ideen  die  scböpferischeii  Prinzipien  der  Wirklieh- 
t  selbst  sind.  FreiUch  die  gOttlich-kosmischen  Ideen  Hegen 
M,  wie  der  alte  theologische  und  philosophische  Dogniatismus 
scbljch  annahm,  im  Gebiet  unserer  wissenscliaftlichen  Erkeuntnis; 
i  sinnlich  beschränkte  Erkenntnisvermögen  des  Mensclieii  vermag 
i  Umkreis  der  Erscbeinungswell  nicht  zu  übersteigen.  Doch 
iinmern  die  Ideen  durch  die  Erscheinungen  hindurch,  besonders 
der  Welt  der  Lebewesen  und  zuhöchst  in  der  geschichtlichen 
ilt,  so  dass  auch  die  spekulative  Vernunft  nicht  umhin  kann, 
'  Aiiffassuog  jener  Gebiete  Ideen  zu  Gnuide  zu  legen.  Und  die 
tktische  Vernunft,  die  uns  Ideen  zu  verwirklichen  verbindlich 
cht,  für  die  in  der  Krscheinungswelt  nicht  Baum  ist,  giebt  der 
wissbeit    der  Idealwelt    die  letzte  und  zuverlässigste  Gmndlage 

praktisch-religiösen  Glauben,  der  nicht  auf  erfahrungsmässigem 
issen  oder  logischem  Vernünfteln  ruht,  sondern  im  tiefsten 
ßseii  des  Menschen,  in  seinem  vernünftigen  Willen  verankert  ist. 
Dies  sind  die  gi^ossen  und  dauernden  Gedanken,  womit  Kant 
m  geistigen  Leben  des  deutschen  Volks,  und  nicht  bloss  des 
ntschen,  sich  unauslöschlich  eingeprägt  hat  Seine  Philosophie 
H  in  diesem  Sinne  als  die  letzte  und  tiefste  Lösuug  des  letzten 
d  tiefsten   aller  Probleme  bezeichnet  werden;  die  Notwendigkeit 


Fr.  Paulseiif 


m 


in    der  Wirklichkeit   als    eine   vernünftige  Notwendigkeit  za 
begreifen. 

Als   <lie   vorige    Auflage   meines   Bnches    erschien,    war  dî(» 
Kritik    noch    kaum   z»  Worü^    gekommen.     Inzwischen  hat  sie  mit 
ihm    sich  oft  und  eingehend  beschäftigt     Neben  Zustimmung  und 
Anerkennung  ist  auch  Zweifel  und  Widerspruch  laut  geworden 
richtet  sicli  hauptsächlich    gegen    die  Darstellung   der    Kantisch« 
Metaphysik:  die   kritiscln*  Philosophie  sei    allzu  nahe    an  Platö_ 
und    Leibniz    herangerückt,    so    naiie»    dass    ihr    der   Rang   eini 
originalen  Philosophie  dal)ei  eigentlich  verloren  gehe. 

Für    eine    eingehendere  Erörterung    dieser    Fragen    ist   hii 
nicht   der  Raum:    ich  darf  auf  eine  Abhandlung  verweisen,  woi 
ich    meine  Auffassung    ein    wenig   näher  bestimmt  und  begründet 
habe:  „Kants  Verhältnis    zur    Metaphysik"  (Kantstudien,  IV,   413. 
bis  447,    auch    als  Sonderdruck).  ^  Hier    mochte    ich    nur    mit 
paar    Sätzen    meine    Auffassung    jenen  Einwendungen    gegenüber 
bezeichnen, 

Kants  Metaphysik  ruht  in  zwei  Angeln: 

L     Die  Gruudstrnktur   unserer    sinnlichen    Anschauung    uud 
unseres  Vei'standes  bildet   das  Grundsehenui  der  Wirklichkeit, 
sie    für    uns    ist;    dadiwch  ist  Metaphysik  als  „reine  NaturuisseB- 
Schaft",  gegenüber  der  empirischen  Physik,  möglich. 

2.  Die  Grundstruktur  unserer  Vernunft,  der  denkenden, 
zwecksetzenden,  Ideen  verwirklichenden  Vernunft,  giebt  das  Grund- 
schema der  Wirklichkeit,  wie  sie  als  an  sich  seiende  von  uns 
zwar  nicht  wissenschaftlich  erkannt,  wohl  aber  notwendig 
gedacht  und  im  praktischen  Glauben  aJs  wirklich  voraus- 
gesetzt wird.  Dadurch  ist  Metaphysik  als  Erfassung  der  inteUi 
giblen  Welt  möglich. 

Ich  denke,  der  Abst-and  der  Kantiscben  Metaphysik  von  der 
Platonischen  und  Leibnizischen,  der  reinen  Verstandeserkennlnis 
der  übersinnlichen  Welt^  ist  in  beiden  Bedeutungen  sichtbar  genug. 
Andererseits  ist  freilich  nicht  minder  sichtbar,  dass  Kant,  was  die 
Sumoie  seiner  Weltanschauung  anlangt,  sich  auf  die  Seite  dflfl 
Piatonismus  stellt,  nicht  auf  die  Seite  des  alle  Metaphysik  leuj^* 
nenden  und  bloss  die  Physik  anerkennenden  Naturalismus,  nicht  auf 
die  Seite  Epikurs:  mögen  dessen  Voraussetzungen  für  die  Physik 
ausreichend  sein,  für  die  Weltanschauung  sind  sie  es  nicht.  Und 
ebenso  ist  einleuchtend,  dass  Kaut  in  der  Erkenntnistheorie,  in 
der  Bestimmung  des  Ui'spruugs  und  der  Methode  der  Erkenntnis, 


-lU 


Zum  hundertjährigreD  Todestage  Kants. 


289 


sieh  Dicht  den  ,. Empiristen**,  nicht  Huriit%  sondern  den  „Noologisten** 
aureiht,  als  deren  Haiiptvertret^r  in  der  modernen  Philosophie  üur 
Leibniz  gilt. 

Was    die   Metapliysik    angeht,    so    bezeichnet  Kant    als    die 
Summe  seiner    Bemühungen:    die   wahre    Methode    der   Meta- 
hpysik,  ihre  wissenschaftliche  Begründung  zu  finden.     Ohne  alles 
Schwanien  kehrt   diese  Bestimmung  dtirch   alle   Schriften  wieder, 
VüD  jenen  Briefen   an  Lambert  und  Mendelssohn   aus  den  Jahren 
1765  und  66   bis   zu   den   Rückblicken   aus   den  90  er  Jahren,  die 
dujth  die  akademische  Preisfrage   nach  den  Fortschritten  der  Me- 
taphysik veranlasst  wurden.     Die  Durchfahrt   vom    mundus  seusi- 
Ijilis  zum  mnndus  intelligibilis  zu  entdecken,   darauf  ist  sein  8inn 
gerichtet.     Und    wenn    er   in    der   kritischen  Philosophie  nur  noch 
für  ihe  praktische  Vernunft  die  völlig  gesicherte  Durchfahrt  offen 
fmdet,   so   fügt   er   gleich    hinzu:   darum    gebührt  der  praktischen 
Veniunft,  welche  uns  über  die  Erscheinungswelt  hinaus  in  die  in- 
teüigible  Welt  der  Freiheit  emporhebt,  der  Primat  vor  der  spekula- 
tivefi.    Dass   aber   auch   die  spekulative  Vernunft,  trotz  der  Ana- 
lytik und  Dialektik,   durch  mehr  als   einen  Spalt    einen    Schimmer 
^'eöigsteus  der  intelligiblen  Welt  zu  erhoffen   weiss,   ist  niemand 
Wûbekaont,  d^r  Kants  Lehre  von  den  Ideen  und  ihrem  spekulativen 
'Gebrauch  eine  etwas  eindringendere  Aufmerksamkeit  gewidmet  hat. 
^^h   einigen    seiner   Interpreten    sollte    er   von   der   intelligiblen 
^elt  nichts  sagen,   als   dass   sie   für  uns  x  sei,    ein  in  aller  und 
J^der  Hinsicht  unbekanntes  x,    und  dies  noch  mit  einem  Vorbehalt 
^Bgen  des  Seins,     Aber  Kant  gestattet  sich   manches   zu  denken, 
^^  ihm  von  den  Kantianern  zu  denken  nicht  erlaubt  wird.     Seine 
^^danken  bewegen  sich  in  seinen   eigenen  Bahnen;   und  das  Zen- 
^^O.m,   um   das  sie  kreisen,  bleibt  die  Ideenwelt;  seine  Metaphysik 
^öd  seine  Epistemologie,   seine  Ethik  und  seine  Geschichtsphiloso- 
phie, seine  Natur-   und   seine   Kuostphilosophie   gravitieren  gegen 
diesen  Mittelpunkt,   w^ie   ich   in    der  genannten  Abhandlung  näher 
PBsseigt  habe.     Und   wie  konnte   er  iu  der  Moraltheologie,  in  dem 
Pi*Hktischen  Glauben  die  Krönung  des  Werkes  sehen,  wenn  nicht 
''u.rch    vernünftiges    Denken    das   Objekt   des   Glaubens   bestimmt 
^ftre?     Kann   auch  jemand   an    ein  x,    an   ein   irgend  etwas,  ich 
^<Biss  nicht  was,  glauben  und  in  iliesem  Glauben  das  Heil  finden? 
Was  aber  die  Erkenntnistheorie  anlaugt,  so  ist  für  Kant 
'Ot  allem  charakteristisch:  der  Glaube  an  die  Vernunft.     Keine 
m  über  die  natürliche  Schwäche  und  die  engen  (Trc^nzen  des 

llnUtodlttii  IX,  |a 


290 


ïfe  Paulsen, 


menschlicheû  Erkeüotnisvermögens,  wie  bei  Locke,  keine  aus 
trauen  gegen   die   Vernunft    stammende   Provokation   an   die 
fahruog,  wie  bei  Hume,  keine  Flucht  in  eine  mystische  Gläubigkei 
wie  bei  Hamann  oder  Jacobi,  sondern  überall  die  Zuversicht,  d; 
die  Vernnnft  im  Staude  sei,  aus  sich  selbst  heraus  das  Lebe» 
die  Weltanschauung   nach   festen   Prinzipien   zu   bestimmen.    Ntir 
Eineji  kann  sie  nicht:  allein  ans  sieh  selbst  heraus  wissenschaftlichi' 
Erkenntnis  hervorbringen;    dazu   gehört   beim  Menschen  auch  Au* 
schauung.      Aber   das,    was    die    Wissenschaft    zur   Wissenschaft 
macht,  ist  nicht  der  ans  der  „Erfahrung^  stammende  Anteil,  sunderri 
der  apriorische  Faktor   ist   in   letzter  Absicht   die  Vernunft.    Seit 
Plato   hat   wohl    nicht   leicht  ein  Philosoph,    es  sei  denn  SpiuozÄ, 
geringischätziger   von    dem    „Pöbel  der  Erfahrung"  gesprochen 
Kant. 

Warum  wird  es  Vielen  so  schwer,  dies  zu  sehen?  Ich  meiße, 
ein  subjektives  Moment  ist  dabei  im  Spiel:  sie  kommen  mit  Vi 
Stellungen  ans  der  dogmatis<rhen  Metaphysik,  sei  es  der  Metaphysik 
der  Kircheulehre  oder  der  „Kraft-  und  Stoff" -Bücher,  an  Kant 
heran.  Der  erste  starke  Eindruck,  den  sie  von  der  Kritik  empfaiigeu, 
ist  die  Vernichtung  dieser  Vorstellungen.  Kant,  ob  sie  nun  dafür 
ihm  als  Zerstörer  fluchen,  oder  ihn  als  Befreier  segnen,  der  Zerstörter 
der  Metaphysik!  80  war  der  erste  Eindruck,  den  seine  Zeitge- 
nossen empfingen:  die  lieibniz- Wolffische  Metaphj^sik  liegt 
trümmert  am  Boden.  vSo  war  wieder  der  Eindruck,  als  man  in 
den  6yer  Jahren,  die  Hegelsehe  Philosophie  noch  in  frischer  Ei- 
innening,  zum  Studium  Kants  zurückkehrte:  Kant  der  Warner  vor 
überfliegender  Spekulation,  der  die  Grenzsteine  der  mensehüciieii 
Erkenntnis  unverrückbar  aufgerichtet  hat,  gegen  Hegel  wie  gegm 
Buchner,  Es  war  auch  der  erste  Eindrack,  den  ich  empfing,  als 
ich  vor  vielen  Jahren  die  Kritik  zum  ersten  mal  las. 

Und    natürlich,    er    ist  nicht  überhaupt  falsch;  die  Ne^atioa 
und  Destruktion  ist  auch  darin.    Auch  bleibt  es  jedem  unbenonmieü, 
das,  was  ihm  Kant  leistet,  für  das  Wesentliche  und  Wichtige  aii 
ihm   zu    erklären.    Nur,  es  ist  nicht  der  ganze  Kant,  nicht  Kant 
selbst,  sonderu  ein  selbstgemachter  Kant.    Der  wirkliche,  historisch«j 
Kant  ist  ein  anderer,  für  ihn  war  die  „Grenzbestimmung'*  blos  eiifl 
Moment   und    nicht   das  Wichtigste.     Und    erst,  seit  ich  dies  sah, 
seit  ich  begann,  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  historisch,  d.  h.  im 
Zusammenhang  mit  deu  vorkritischen  Schriften,  im  Zusammenhang 
der  Eütwickeluugsgeschidite  Kants,  im  Zusammenhaug  mit  Hume 


4 


Zum  hundertjährigen  Todestage  Kants.  291 

ZU  studieren,  wurde  sie  mir  als  Ganzes  verständlich,  verschwand 
Yor  allem  jener  Eindruck  seltsamer  Umständlichkeit,  den  sie  auf 
jeden  machen  muss,  der  als  ihr  grosses  Ergebnis  die  Einschränkung 
der  menschlichen  Erkenntnis  auf  Erfahrung  ansieht.  Vom  Ge- 
danken des  mundus  intelligibilis  aus,  den  die  Vernunft  notwendig 
denkt,  kann  man  auch  die  „Grenzbestimmung"  verstehen,  nicht  aber 
von  der  Grenzbestimmung  aus  den  mundus  intelligibilis. 


19* 


Emerson  und  Kant 

Von  Profeseor  D.  Dr.  Geo  Runsse. 


Erstaunlich  und  beschämend  nicht  nur  für  die  Freunde,  son- 
dern auch  für  die  sachkundigen  Gegner  der  Philosophie  Kants  ist 
die  Tliatsache,  dass  ein  Denker  und  Litterat  von  der  BedeutuDg 
Ralph  Waldo  Eniersous,  der  für  so  manche  geistige  Grössen  der 
deutschen  Kultnrwelt  volles  Verständnis  zeigt  und  dessen  uuiver 
seile  Belesenheit  ausser  Frage  steht,  an  der  Persönlichkeit  Kanti 
und  seiner  Lehre  stumm  vorübergeht,  Luther,  Jakob  Boehme, 
Goethe  Bind  ihm  vertraute  Geister,  unter  den  Pliilosophen  Eng- 
lands und  Frankreichs  kennt  und  nennt  er  nicht  bloss  die  führen- 
den, sondern  auch  sehr  sekundäre  Autoren,  und  nichts  entgeht 
ihm,  was  auf  die  intellektuelle  und  raoraUsc.he  Kultur  der  Neuzeit 
irgend  hahnbrechend  eingewirkt  hat:  über  Kant  schweigt  er 
sich  aus. 

Als    Kant    am    12.  Februar   1804    seine   irdische   Laufbahn 
schloss,  hatte  Emerson  (geb.  am  25.  Mai  1803)  das  erste  Lebens- 
jahr noch  nicht  vollendet.     Er  ist  ein  Sohn  des  19.  Jahrhunderts, 
ein  typischer  Vertreter  der  Neuen  Welt,    des  jugendfrisch  aufstre- 
benden amerikanischen  Bürgertums,  —  freilich  einer  der  wenigen, 
denen    es    am    Herzen    lag,   die    produktiven  Kräfte,    welche    sein 
grosses    und    mächtiges  Heimatland    in  originellen  Köpfen  zu  ent- 
fesseln vermag,  mit  den  vielseitigen  Anregungen  zu  bereichern  und 
zu   verschmelzen,    die    aus   der  langsameren    aber  methodischeren 
Kulturentwickeluug  der  Alten  Welt  stammen.     Aber  gerade  darum, 
sollte    man    meinen,   musste   er   dem    Genius    eines  Kaut   gerecht 
werden.    Als   Emerson   am  27.  April  1882  starb,   hatte  doch  die 
in  Deutschland  durch  den  jüngeren  Fichte,   Carl  Fortlage  und  be- 
sonders   durch    Schopenhauer   eingeleitete,    in    Liebmanns    Arbeit 
über  „Kant   und    die  Epigonen"    und   in  Friedrich  Albert  Langes 
„Geschichte    des  Materialismus'*    zum  Durchbruch   gekommene  eedj 
nente  Wertschätzung  Kants  als  des  „Einzigen",  vor  dem  nuomehr 


Emenon  und  Kant.  293 

Fichte,  Schelling  und  Hegel  verblassen,  selbst  in  Frankreich  und 
England  bereits  ihr  Echo  gefunden;  auf  französischen  Gymnasien 
wurde  schon  vor  1870  allgemein  Kantische  Philosophie  im  Umriss 
doziert.  Und  die  philosophische  Schulbildung  in  den  Vereinigten 
Staaten  hatte  doch  weder  mit  einem  nationalen  Gegensatz,  wie 
er  zwischen  Frankreich  und  Deutschland  besteht,  noch  mit  einer 
litterarischen  Vergangenheit,  wie  sie  die  Geschichte  der  englischen 
Philosophie  aufzuweisen  hatte,  zu  rechnen!  Wie  erklärt  sich  die 
völlig  negative  Haltung  des  philosophischen  Essayisten  gegenüber 
einer  epochemachenden  Weltanschauung,  die  noch  dazu  manche 
Berührungspunkte  mit  den  in  jenen  Essays  erörterten  Grundge- 
danken hat?  Man  wird  leicht  ausreichende  Erklärungsgründe  da- 
für entdecken.  Einfache  Unwissenheit,  —  dass  etwa  Emerson  der 
grossen  Wertschätzung,  welche  Kant  seitens  der  Grossesten  genoss, 
unkundig  gewesen  sei,  —  ist  nicht  anzunehmen.  Aber  er  wird 
den  deutschen  Denker  entweder  nicht  verstanden  haben  oder  nichts 
Neues,  von  dem  er  sich  wesentlichen  Zuwachs  zu  seinen  eigenen 
Ideen  versprochen  hätte,  in  ihm  gefunden  haben.  Für  beide 
Fälle  giebt  es  Analogien.  Oft  gehen  zwei  Denker  oder  Dichter 
in  gegenseitigem  Ignorieren  neben  einander  her,  weil  sie  innerlich 
einander  fremd,  des  Verständnisses  für  einander  bar  und  unfähig 
sind.  Wer  wird  sich  wundem,  dass  Schopenhauer  von  seinem 
Lehrer  Fichte,  dem  er  doch  seinen  Grundgedanken  „Kein  Objekt 
ohne  Subjekt,  kein  Subjekt  ohne  Objekt^  entlehnt  haben  könnte, 
nichts  wissen  will;  —  dass  Hegel  und  Herbart  einander  kühl  und 
gleichgiltig  aus  dem  Wege  gehen,  dass  Friedrich  der  Grosse  für 
die  deutsche  Poesie  und  Philosophie  seiner  Zeit  so  wenig  Ver- 
ständnis hatte?  Merkwürdig  aber  und  weniger  leicht  erklärlich 
sind  die  zahlreichen  Beispiele  für  das  Gegenteil,  dass  innerlich  nah 
verwandte  Geister  sich  gegenseitig  ignorieren.  Haben  Laotse  und 
der  Eönigssohn  von  Eapilavattu,  haben  Micha  und  Jesaja,  Demo- 
krit  und  Sokrates  irgend  merklich  auf  ehiander  Bezug  genommen? 
Wie  ängstlich  gehen  sich  manche  christliche  und  neuplatonische 
Denker,  wiewohl  Zeitgenossen,  aus  dem  Wege!  Schelling  geht 
wie  Baader,  und  durch  ihn  veranlasst,  auf  Jakob  Boehme  zurück, 
aber  er  berücksichtigt  die  ihm  kongeniale  Theosophie  des  älteren 
Zeitgenossen  kaum.  Schleiermacher  und  Hegel,  beide  Romantiker, 
beide  Zierden  der  Berliner  Hochschule,  führen  keinen  offenen 
Kampf  mit  einander,  aber  durch  beredtes  Schweigen  gräbt  einer 
dem  andern   den  Boden  ab,  obwohl  —  oder  vielleicht  weil  —  die 


294 


G.  Rnnze, 


Verwandtschaft    zwischen    ihueu  grösser  ist,  als  die  beiderseitigem 
Schalen    es    zugestehen.     Lessing   starb  leider  In  dem  Jahre,  als 
Kants  Kritik  erschien;    ob  er  das  Werk  seines  Geistesvenv^andtem 
mehr  geschätzt  hätte  als  jene  Erstlingsschrift  über  die  lebendigen 
Kräfte,   die  ihm   das  bekannte  witzige  Epigramm  entlockte?    Wie 
scheinen     uns     heute    Schiller    und    Schleiermacher    als    ethische 
Fackelträger    und    praktische    Idealisten    kongenial,    und    wie    ab- 
sprechend hat  der  philosophische  Dichterfürst    die  bahnbrechenden 
„Reden   über    die  Religion'',    diese   in  Poesie  und  Philosophie  ge- 
tauchte Ausgeburt  edelster  Begeisterung,    beurteilt!     Man  braucht 
nicht    daran    zu    erinnern,    das«    auch  in  grossen  Geistern  niedere 
Motive  —  Eifersucht,  Neid,  Herrschsucht,  Médisance  —  gleichsam 
unter  der  Asche  glimmen:  es  genügt  die  Thatsache,  dass,  w^ähreiidi 
die  Gegensätze    sich   anziehen,    gleichgerichtete  Bestrebungen   oft  H 
gerade    die    kraftvollen    Kapazitäten    kalt  lassen,    dass  —  als  Er- 
gänzung des  Gauss'schen    Gesetzes    vom    geringsten  Widerstände 
und    des    Mach-Avenarius'schen   {denkökonomischen)  Prinzips    des 
kleinsten     Kraftmasses    —     die     grösstmögliche     Erhaltung    der 
geistigen    Kraft   zwei    ähnliclien  Intelligenzen  oder  Charaktereü 
oft  zu  gebieten  scheint,  durch  Ignorierung  der  Verwandtschaft  sich 
selbst  zu  behaupten;  sie  haben  einander  nichts  zu  sagen. 

Man  hat  Nietzsche,  Tolstoi  und  Maeterlinck  mit  Emerson 
verglichen,  Nietzsche  zitiert  öfters  Emersons  Essays  und  ist 
zweifellos  positiv  von  ihm  beeinflusst;  Maeterlinck  hat  Emerson 
in  seinem  Trésor  des  Humbles  (31.  Aufl.  8.  129— 1Ô3)  einen 
Aufsatz  gewidmet,  der  von  innerlichstem  Verständnis  zeugt,  und 
schon  der  Stil  des  ganzen  Buches  verrät  Eraersonschen  Geist  in 
französischem  Idiom.  Aber  kulturell  steht  Emersou  höher  als  die 
drei  Genannten;  er  ist  frei  von  jeglichem  Symptom  der  Decadence, 
Äeine  Mahnung  zur  Gesundheit  ist  nicht  wie  bei  jenen  durch  den 
Verdacht  getrübt,  dass  der  Arzt  selbst  von  der  Seuche  infiziert 
sei.  Er  verkennt  nicht  die  Mängel  und  Leiden  der  Menschheit, 
die  Tiefen  der  Bosheit  und  die  sittlichen  Lirefahren  des  Kultur- 
lebens der  Gegenwart;  aber  die  lebensfreudige  Weltansicht  siegt 
über  jeglichen  Pessimismus,  ohne  dass  er  zu  geistigen  Narkotika 
greifen  müsste  wie  Nietzsche  und  Tolstoi.  Darin  gleicht  er  viel- 
mehr dem  nüchternen  Philosophen  des  schlichten  Pflichtgedankens, 
Kant,  den  Nietzsche  seinerseits  als  zopfigen  Chinesen  charakterisiert 
hat.  Eduard  von  Hartmann  hat  versucht,  auch  in  Kants  Philo- 
sophie eine  pessimistische  ünterströmung  nachzuweisen,  aber  Kants 


Emenon  und  Kant.  295 

tiefe  Einsicht  in  das  radikale  Böse,  in  die  Unlauterkeit  und  Ver- 
derbtheit des  empirischen  Willens,  sowie  seine  Ablehnung  der 
Leibnizschen  Begründung  des  Optimismus,  wird  mehr  als  wett- 
gemacht durch  das  Bekenntnis  der  unfehlbar  fröhlichen  Stimmung, 
wie  sie  den  unter  allen  Umständen  möglichen  Akt  der  Befolgung 
des  Pflichtgebotes  notwendig  begleite.  Emerson  aber  ist  positiver 
Optimist:  jeder  Pessimismus  scheint  ihm  auf  Schwäche  des  Willens 
und  Mangel  an  Gedankenkraft  zu  deuten;  der  gesunde  Charakter 
„lässt  sich  gar  nicht  herab,  etwas  ernst  und  schwer  zu  nehmen";  — 
und  Nietzsches  Empfehlung  der  „tanzenden  Weisheit",  seine  Mahnung 
zur  weltfrohen  Gesundheit,  knüpft  an  dieses  Motiv  unmittelbar  an, 
aber  es  gelingt  ihm  nicht,  jenen  schmerzlichen  Grundzug  seines 
Schönheitskultus,  der  seinen  gegenteiligen  Anspruch  Lügen  straft, 
zu  verleugnen.  Emersons  Optimismus  dringt  verklärend  durch  alle 
Poren  auch  der  ästhetischen  Weltbetrachtung.  Wenn  JohnRuskin 
klagt  über  das  prosaische  Netz  der  Schienenwege,  das  selbst  in 
die  Waldeseinsamkeit  den  Rauch  und  Lärm  des  Verkehrslebens 
trage,  so  sieht  Emerson  auch  in  der  Technik  „Kunst";  er  preist 
die  Poesie  „der  Fabrikstädte  und  der  Eisenbahnen"  und  weiss, 
dass  der  wahre  Dichter  auch  darin  ewige  Natur  schaut,  indem  er 
liebevoll  „den  glattgleitenden  Zug  auf  dem  Schienengeleise"  in  die 
grosse  Ordnung  der  Dinge  einreiht. 

Sollte  nun  nicht  zwischen  Kant  und  Emerson  eine  conspiratio 
ingeniorum  zu  entdecken  sein,  die  als  Schlüssel  zur  Beantwortung 
unserer  obigen  Frage  dienen  möchte?  Die  Verschiedenheiten  treten 
freilich  zunächst  mehr  hervor.  Dort  ein  schwerfälliger^  pedantischer 
Stil,  ein  mühsam  durch  die  Klippen  der  Sprache  sich  windender 
Gedankenfluss,  —  hier  der  breite,  kraftvoll  und  klar  dahingleitende 
Strom  reicher  und  schöner  Ideen.  Dort  der  Mittelzweck:  Ge- 
nauigkeit, Sorgfalt,  schneidende  Schärfe,  die  dann  freilich  öfters 
^schartig  macht",  —  das  Ziel:  Erkenntnis  der  Wahrheit  in  den 
höchsten  und  letzten  Problemen  des  Menschengeistes,  und  Stärkung 
des  Glaubens  an  die  ewigen  sittlichen  Grundlagen  der  Vemunft- 
ordnung.  Hier  hingegen  das  Mittel:  vielseitige  Unterhaltung, 
Häufung  der  rednerischen  Bilder,  Überschüttnng  des  Lesers  mit 
mannigfaltigem  Wechsel  von  naturwissenschaftlichen,  historischen, 
psychologischen  Details;  und  —  was  das  Ziel  anbelangt:  niemals 
verweüt  der  Autor  beharrlich  bei  einer  der  grossen,  tiefgreifenden 
Fragen,  wiewohl  er  sie  kennt;  —  er  streift  sie,  verliert  sich  in 
Nebendinge,  kommt  wieder  auf  sie  zurück  und  eutlässt  uns  dann 


act 

1 
I 

r 


296  ^^^^^  G.  H«nz 

freilich   am  Schluss   in  einer  Stimmung,  die  ähnlich  erhebend  und 

befriedigend    nachwirkt»    wie    weüu  wir  ein  streng  philosophivschi 
Buch  gelesen  hätten. 

Aber   dies    eben    ist   der  Hauptpunkt;   Emerson  ist  wirkli< 
nicht  blos  Dichter,  soudern  auch  Philosoph.    Ja,  er  ist  in  der  Regi 
nur  Dichter,  weil  er  Denker  ist;  der  Ernst  seines  Gedankenleben! 
steht  ausser  Frage.     Und   es  Terlohnt  sich  wohl,  ihn  au  Kaut  zo 
messen. 

Zunächst    einzelnes.     Was    au    Kants   Philosophie    am    deut 
liebsten  in  die  Augen  fällt,  ist  seine  Unterscheidung  der  theoretischeü 
und   der  praktiscln-^n  Vernunft,  der  Sinnen  weit,   die  jene,  und  der 
sittlichen,  die  diese   zum  Üegenslande   hat.     Emei-son   nimmt,  als 
Dicliter,   scheinbar  seinen  Standpunkt   über  jener  Zweiheit;  die 
grossen  Erscheinungen  in  der  Menschenwelt,  die  Heroen  der  Macht 
und  des  Gedankeus,  stehen  ihm  jenseits  von  Gut  und  Böse.     „Ich 
bewundere   die  grossen  Männer  jeder  Art,  die  des  Gedankens  wie 
die  der  That,   die  rauhen  und  die  sanften,  die  Gottesgeissehi  und 
die  Wohlthäter  und  Lieblinge  der  Menschheit"  —  Cäsar,  Karl  V. 
und  Karl  XTI,  Richard  HL  und  Bonaparte,  —  So  in  der  EinleitUD^ 
seiner  Essays  über  „Typische  Vertreter  der  Menschheit"  (on  repre- 
sentative men).     Das  klingt  ethisch  neutral,  und  scheint  den  Geist 
zu   atmen,    aus   dem  Nietzsches  Heroenkult   geboren   ward.     Auch 
Nietzsches  Ausspruch    von  der  „fernsten  Liebe**,    die  er  an  Stelle 
der  „Nächstenliebe^    empfiehlt,   hat  --  nicht   der  Form,   aber  der 
Stimmung  nach   -    in  Emersons  satirischem  Apercu  sein  direktes 
Vorbild:     ^Deine  Liebe    in    der  Ferne    ist  Bosheit  in   der  Nähe**. 
Aber  nie  hat  Emerson  die  sittlichen  Tugenden  den  Kraftattributeu 
nachgesetzt;  er  rügt  an  Napoleon,  dass  dieses  „glänzende  Gemälde" 
seine  dunklen  Nachtseiten  hat;  es  ist  ihm   „die  unerquickliche  Er- 
scheinung bei  jedem  Streben  nach  Macht,  dass  es  auch  eine  düstere 
Seite   hat   und    mit  einer  Unterdrückung    oder   doch  Erschlaffung 
des  feineren  sittlichen  Gefühls   verbunden  ist".     Und  von  dieser 
Doppelart  sind  im  letzten  Grunde  alle  Menschen.     „Gemeine  und 
niedrige  Menschen"  —   in  dem  Nietzsche*schen  Sinne  —  „giebt  es 
überhaupt  nicht**,   sagt  er  in  den  einleitenden  Uses  of  great  men. 
Der  Übermensch    der  Zukunft,    der  „Riesengeisf*,    den    die  Welt 
hoffen    dürft«     dereinst    zu    gebären,    müsste   jene     leuchtenden 
Tugenden  in  sich  vereinigen,  welche  die  Bestimmung  des  Menschen 
ausdrücken:   das  Chaos  zu  zähmen,  die  Saat   der  Erkenntnis  und 
der  Poesie  auszustreuen,  die  Keime  der  Liebe  und  des  Wohlthuns 


J 


Emerson  und  Kant.  297 

zu  vervielfältigen  und  mit  der  Veredlung  der  Menschheit  auch  die 
niedere  Natur  zu  verklären  und  ihre  Härten  zu  mildern.  Aber 
nicht  von  einem  Einzelnen  soll  man  das  Höchste  erwarten.  Auch 
die  Grössten  sind  nur  dazu  da,  die  noch  Grösseren  vorzubereiten, 
damit  die  Welt  sittlich  vervollkommnet  werde.  In  dem  Essay  über 
Montaigne  stellt  er  Sinnenwelt  und  sittliche  Welt  in  einen  Gegen- 
satz, der  nur  dadurch  auf  eine  Einheit  zurückführbar  wird,  dass 
wir  als  unbefangene  Zuschauer  —  mit  ästhetischer  und  teleo- 
logischer Urteilskraft  —  allenthalben  sowohl  die  eine  wie  die  andere 
Welt  anerkennen  müssen,  sodass  weder  von  den  Aufgaben  der 
Moral  noch  von  den  Objekten  der  Naturerkenntnis  irgend  etwas 
ausgeschlossen  sei.  „Jedes  Objekt  hat  einerseits  zur  Sinnenwelt, 
andererseits  zur  sittlichen  Sphäre  innere  Beziehungen;  wo  wir 
eine  der  beiden  Möglichkeiten  antreffen,  da  gilt  es,  durch  Nach- 
denken die  andere  zu  finden^.  Das  Leben  gleicht  einer  Münze, 
die,  auf  die  Erde  geworfen,  entweder  auf  die  Kopf-  oder  auf  die 
Wappenseite  zu  liegen  kommt.  „Dieses  Spiels  werden  wir  nie 
müde,  weil  uns  bei  dem  Innewerden  des  Kontrastes  stets  ein 
leichter  Schauer  der  Überraschung  überkommt". 

Einerseits  giebt  es  nichts  im  ganzen  Umkreis  des  geistigen 
Lebens,  was  nicht  den  sinnenden,  wägenden,  rechnenden  Intellekt 
beschäftigte;  keine  erscheinende  Wirkung  ohne  reale  Ursache,  „die 
wahre  Bedeutung  des  Geistigen  ist  das  Wirkliche".^)  Wir  sollen 
alle  Vorurteüe  durch  strengen  Realismus  ersetzen  und  es  wagen, 
den  Schleier  zu  lüften  von  den  einfachen  und  doch  so  gewaltigen 
Naturgesetzen,  die,  „sichtbar  oder  unsichtbar,  alles  durchdringen  und 
beherrschen".  Wenn  Kant  sagte,  die  freien  Handlungen  des 
Menschen  würden,  bei  vollkommener  Durchschauung  der  Trieb- 
federn des  Seelenlebens,  ebenso  sicher  vorher  zu  berechnen  sein, 
wie  dem  Astronomen  eine  Mondfinsternis,  so  entspricht  dem  genau 
der  Determinismus  Emersons.  Selbst  das  Innerlichste  im  Charakter 
des  Genius  erfüllt  erst  dann  seine  wahrhafte  Bestimmung,  wenn 
es  nicht  etwa  bloss  als  Fähigkeit  eine  neue  Kausalreihe  anzu- 
fangen, sondern  als  „Exponent  eines  höheren  Geistes  und  Willens" 
wirksam  wird.  Das  Dunkel  wird  durchsichtig,  wenn  das  Licht 
absoluter  Erkenntnis  darauf  fällt. 

Aber  andererseits  wird  Emerson  nicht  müde,  den  ergänzenden 
Gedanken  zu  betonen,  dass  erst  in  der  sittlichen  Welt  die  physische 


1)  Essays  I,  Übersetzung  von  Schölermann,  S.  180. 


G,  Rtinze, 


sich  vollendet,  dass,  so  sehr  os  die  Weisheit  and  Zweckinässic:keil 
der  Weltoinrichtuiïg  keorizcichuet,  wenn  wir  aUeuthalben  beobachten, 
dass    s^rrade    der  Kj^oismus    und    das  Konkutrenzstrebei)   zur  Ver- 
vollkonnnmiug  der  Kultur  beiträgt  (ein  tTedanke,    den  Kant  mehr- 
mals ausfiîhrlich  erörtert,')  —  doch    nichts  in  der  Welt  wahrhaft 
gilt  ist  als  allein  der  gute  Wille  des  Veruunftweseîis,  nnd  dass  in 
allen  Vorgängen    des  sozialen    und   des    individuellen  Lebens  eiue 
innere    Oercchtigkeit    waltet^    eine    sittliche   Weltordnnng,    die   in 
ihrer  Weise  so  sicher  funktioniert  wie  die  Gesetze  der  physikalisch- 
mathematischen  Sphäre.     In    diesen  Thesen    stimmt    er   ganz    rait 
Kaut  iiberein.    Er  streift  auch  die  Kantische  Idee,  wonach  schliess- 
lich die  Aufgabe  des  Welterkennens  dahin  geht,  die  letzten  Zwecke 
des  veniiinftigen  E>aReins  zu  ermitteln  (Teleologia  rationis  hunianae) 
nnd    durch    eine  Kritik    der    theoretischen  Vernunft    die    Grenzen 
ihrer  Leistungsfähigkeit    festzustellen,    durch    die  Kritik    der  Ver- 
nunft überhaupt  aber  den  so  freige  worden  en  und  vom  eiDgebildetea 
Wissen    gesäuberten  Platz    nunmehr  für  den  Glauben  zu  rekla- 
mieren und  seine  Tragfähigkeit  als  Stütze  für  die  sittlichen  Werte 
zu  prüfen.     Dass    die    iTlaubenssätze   der  Religion   an  der  Moral 
ihren    Jlassstab    haben,    dass    das    bloss    statutarisch-cerimonielle 
Reiigionswesen  wertlos  ist,    falls    es   nicht  den  sittlichen  Zwecken 
(und    den    sonstigen    geistigen  Idealen)    dient,    hebt  Emerson  aas- 
driicklich  hervor.     Gunsthuhlerei    bei  Gott,    Flehen    um  besondere 
individuelie  Vergünstigungen  erscheint  ihm  wie  niedriger  Diebstahl. 
Die    Mitarbeit    an    der  Ausrottung   veralteter   römischer   Kircheß- 
dogmen    soll    in    weltfrohem,    zukunftsgewissem    Sinne    gescheh 
fröhlich  wie  der  Gesang  des  Kanarienvogels,  —  ein  Ausfkiss  nicW 
bloss  der  Wahrhaftigkeit,  sondern  echter  Frömmigkeit.     Selbst  di 
Dogmen    der   Unitarischen    Kirche,    deren    theologischer   Spredu^ 
Emerson    bis    zu    seinem    29.  Jahre   gewesen    w^ar,    sind    diesel 
Prediger   der  ewigen  Weltharmonie  und  der  unerschöpflicheiiJIl 
vollkommuungsfähigkeit.   noch  zn  eng.     Ja,    „die  ganze  Lit|^^ 
soll  noch  geschrieben  werden,  die  Poesie  hat  kaum  ihr  erstes  Um 
gesungen.      Die   unausgesetzte    Mahnung   der    Natnr    h'  ^ 

Welt   ist   neu,    unaufgedeckt;   glaubt    der  - 

Ohne  im  Hinblick  auf  die  sittliche  V«  ^M 

etwa    nach    einer   ewigen    Fortdan  ^1 

geradeswegs   als  „ein  Bekenntnis  ^Ê 

1)  Atithropiilogie  (VII,  647  ^H 

d.  Gesch.  in  Weltbürger  1,  Aba  ^B 


'  EmersoD  and  Kant.  299 

Mensch  stellt  solche  Fragen;  in  dem  Fluten  der  Liebe,  in  der 
demütigen  Verehrung  giebt  es  kein  Fragen  nach  solcher  Unsterb- 
lichkeit." Wo  Wahrheit,  Gerechtigkeit  und  Liebe  walten,  da  ist 
mit  ihnen  wesentlich  verbunden  die  immanente  Unvergänglichkeit. 
Die  echte  Seele  bleibt  sich  selbst  getreu,  und  der  Mensch,  in 
dessen  Wesen  die  Kraft  der  Allseele  sich  ergiesst,  „kann  nicht 
von  einer  Gegenwart,  die  endlich  ist,  in  eine  Zukunft  fortschreiten, 
die  endlich  wäre**.  „Jesus,  indem  er  in  diesen  Anschauungen 
lebte,  unbekümmert  um  irdisches  Glück,  machte  nie  den  Versuch, 
den  Gedanken  der  Fortdauer  von  dem  Wesen  der  sittlichen  Eigen- 
schaften zu  trennen."  —  Schon  aus  diesen  Zeilen  wird  ersichtlich, 
wie  auch  Emerson  dem  Kantischen  Gedanken  der  Autonomie  hul- 
digt; freilich  in  einem  vorwiegend  pantheistischen  Sinne,  worin 
seine  Weltansicht  mehr  der  Fichte-Schellingschen  Romantik  sich 
annähert.  Dass  Freiheit  und  Notwendigkeit  im  letzten  Grunde 
eins  sind,  dass  nur  der  wahrhaft  frei  ist,  der  sich  in  Gott  ge- 
bunden weiss,  und  das  höchste  Gebot  des  ewigen  Sittengesetzes 
dahin  zielt,  uns  innerlich  frei  zu  machen,  ist  ein  Gedanke,  den 
Emerson  in  Piaton  findet  und  aus  vollem  Herzen  selber  bekennt.  0 
Sein  Glaube  an  das  All-Ich,  die  oversoul,  deckt  sich  viel  mehr  mit 
Giordano  Brunos  und  J.  G.  Fichtes  Idee  der  Gottheit,  als  mit  dem 
Zarathustraideal,  dessen  Name  „Übermensch"  nur  als  positivistische 
Verflachung  der  Emersonschen  „Überseele"  anmutet.  Dem  Yankee- 
philosophen ist  es,  ähnlich  wie  Hermann  Lotze,  gelungen,  den 
Mikrokosmosgedanken  der  Leibnizischen  Philosophie  mit  der  Innig- 
keit and  Poesie  eines  religiös  gestimmten  Monismus  zu  verschmelzen: 
eine  ästhetisch-metaphysische  Parallele  zu  dem  nur  mehr  ethisch 
gedachten  und  erkenntniskritisch  durchdachten  Fundament  der 
praktischen  Vernunftlehre  Kants,  dessen  „Autonomie"  doch  auch 
ebenso  dem  persönlichsten  Individualismus  wie  dem  Universalismus 
des  Glaubens  an  eine  AUvemunft  gerecht  wird,  so  dass  selbst 
Hermann    Cohen,     einstmals     mit    voller    Zustimmung    aner- 

1)  In  der  Jubiläumsnammer  der  New-Yorker  Zeitschrift  fftr  ethische 
Koltur  „The  Ethical  Record"  (Juli  1903)  erklärt  Prof.  Eduard  Dowden 
diesen  Gedanken  ffir  das  Leitmotiv  des  Emersonschen  Denkens.  Das  Un- 
persönliche, Göttliche  im  Individuell-Menschlichen,  das  Sittengesetz  im 
Inneren  der  Seele,  ist  das  wahre  Centrum  unseres  Seins.  Im  Gewissen 
oder  dem  sittlichen  Selbstbewusstsein  ist  das  Bindeglied  zwischen  dem 
universellen  Gesetz  und  der  individuellen  Willensfreiheit  gegeben:  das  sei 
der  wahre  und  bleibende  Gedanke,  der  in  Emerson  sein  Organ  ge- 
funden hat 


G.  Bunze, 


kaniit    hat.    dass    in    jen^pr    Lehre     die     rhristliche    Idee    de 
„Mensfliwnrdung  (TOttes''  .sicl^    wiederspiegelt     Und  gerade  solch 
Ausführungen,  wif  tiie  obeu  erwähnten,  lassen  weiterhin  erkennen, 
dass  auch  Koiersoiis  religiös- nieiaphysische  AnschamiDgen  in  einer. 
wenn    auch   nur  andeutungsweise  hinge worfenen,  doeh  nnverkemifl 
bar  idealistisrhen  P'rkenutnisthenrie  wurzeln,  die  der  Kanl^ 
Fichtescheu  verwandter  ist   als    beispielsweise  der  von  Locke  iiüd 
Hume.     Es   klingt   gewiss    nicht   Ivanlisch,    wenn    Emerson    sagt: 
rtOffeuharung  ist  die  Erschliessung  der  Seele,    das  Einfliessen  des 
göttlichen  iteistes  in  unseren  Geist,  ein  Ebben  des  kleinen  Stronies, 
persönlichen  Lebens  vor  der  Flutwelle  des  Alllebens,    Jedes  Heran*^ 
nahen  dieser  Kraft  weckt  in  uns  Ehrfurcht  und  Entzücken."    Eher 
schon  die  weitere  Bemerkung:  ^Für  die  Seele  gieht  es  noch  etwas  i 
anderes   als    Ausgleichung,    nämüch    ihr   eigenes  Wesen.     Die  (üiJ 
der  Tiefe   der  Seele    wurzelnde)  Liehe  verwandelt    die   berghoheii| 
Ungleichheiten  zwischen  den  Individuen).     Wer  liebt,   macht  drt5,j 
was  er  liebt,    zn    seinem  Eigentum.     Jesus    und   Shakespeare  sind^ 
Teile  der  Allseele,    und  durch  Liehe  erobere  ich  sie  gleichsam  für 
meinen  eigenen  geistigen  Besitz.    Ihr  Geist  wäre  kein  Geist,  wemj 
er  nicht  der  meinige  werden  könnte/ 

In  derartigen  Ideen  klingt  bereits  der  Grundgedanke  de 
transscendentalen  Idealismus  leise  an:  die  Stammformen  des 
vernünftigen  menschlichen  Wesens  geben  der  ganzen  Aiisseo- 
welt  ihren  HtempeL  Der  Verstand  schöpft  seine  Gesetze  nicht 
aus  der  Natur  der  Dinge»  sondern  schreibt  sie  dieser  vor.  Die 
eigentümliche  Wendung  aber,  die  Emerson  diesem  Gedanken, 
woher  auch  immer  er  ihn  haben  möge,  giebt,  ist  etwa  dieselbe, 
wie  die,  welche  Schelling  dem  Kant- Ficht  eschen  Idealismus  gegeben 
hatte:  in  der  Natur  selbst  liegt  Verwandtschaft  mit  der  Vernunft; 
sie  ist  nicht  bloss  ein  Erzeugnis  des  schaffenden  Vernunft-Ich, 
sondern  die  ihr  immanenten  Gesetze  erzeugen  als  ihre  reichste, 
Blüte  und  reifste  Fnicht  das  vernünftige  Leben  des  Geistes, 
menschlichen  Geistesleben  kommt  der  schlummernde  Rieseng 
der  Natur  zum  Selbstbewusstsoin,  und  auf  den  höchsten  Stufeff^ 
seiner  Entwickking  lässt  der  wollend-denkende  Menschengeist  das 
wirkliche  Werden  der  Natur,  gleichsani  nachschaffend  ihre  Elemente 
Krnfte  und  Gesetze,  nun  noch  einmal  —  in  voller  Klarheit  und 
Wahrheit  —  aus  dem  unbewussten  Ursein  und  blinden  Urwilleu 
stufenweise  entstehen,  regressiv-analytisch  vorarbeitend  durch  den 
Verstand,  progressiv-synthetisch  gestaltend  durch  die  künstlerische 


ichsto— 
igeM 


Emerson  und  Kant, 


3Ô1 


TbÄtigkeit  der  Einbiidiingskraft.     Diese   Achtung   vor  den  gewal- 
tigen Urkräften  des  Willeos   in   der  Natur,   diese   Versenkung'  iu 
das  Eigeolebeu  jener  schaffetideo  objektiven  Mächte,  die  schon  un- 
abiiängig   von   dem   vemünftehiden    Ich    da   siod   und   wirken,  — 
also  der  Grundgedanke  der  Schellingscheu  Philosophie,  der  ebenso 
ID  Schopenhauers  Willenslehre   wie   in    üarmns   Descendenz-   und 
Selektionstheorie  weiter  ausgebaut  ist  und  —  wohl  durch  Coleridges 
Vennittelung   —    auch   auf   Herbeil    Spencer    eingewirkt   hat:   er 
fiüdet  in  Eniei-sons  Anschauung  von  Natur  und  Geist  eine  eigen- 
tümliche Ausprägung.      Was  ScheUiug   die  „Odyssee  des  Geistes" 
i  Jiaunt^,  das  Sichselbstbesinnen  der  Vernunft  auf  ihre  wahre  Heimat 
Jm  Zurücksehnen   und   -streben    in  jene   traussceutlentale   Einheit, 
4lie  nur  durch  intuitive  Totalfassung  erreicht  w^erden  könne,  dann 
nber  unter  Anwendung  des  reflektierenden  Bewusstseins  das  Eine 
iTlicht  in  der  Mannigfaltigkeit  farbenprächtigen  Glanzes  erstrahlen 
lässt    und    die   Entwicklung    der   Einen    Urkraft    in    den    reichen 
Formen  wirklichen  Werdens  ausgebreitet  darhagt:   solche  liebevolle 
Hingabe  an  das  Erkennen  der  Geschichte  der  ganzen  Natur  und 
au  das  Verstehen    der  ganzen   Geschichte    des   Meuschengeistes 
Atmet  Jeder  Eniersonsche  Essay,  ob  er  nun  „Lebensführung"  oder 
^Heldentum",  Gegenwart  oder  Vergangenheit,  Ideal  oder  Wirklich- 
ieit  zun»  Vorwurf  hat.     Die  ewige  Natur,    im  Kosmos  wie  in  den 
Geschicken  der  Menschheit,  ist  ihm  gleicherweise  die  Mutter,  Lehr- 

tete^in  und  Erzieherin  des  Geistes,  und  ehrfürchtig  bewundernd 
ft  er  sich  der  Allmacht  ihrer  Gesetze.  Aber  das  hindert  ihn 
nicht  —  abweichend  von  Schopenhauer  und  von  Herbert  Spencer, 
die  in  der  menschlichen  Psyche  einen  mehr  passiven  Tummelplatz 
der  Vorstellungen,  Motive,  Empfindungen  sehen  — »  die  sittliche 
Energie  des  vernünftigen  WoUeus  und  die  intellektuelle  Freiheit 
des  Denkens  zu  betonen.  In  der  Liebe  zur  Wahrheit  bethätigt 
sich  nicht  nur  die  Lauterkeit  und  Aufrichtigkeit  der  Gesinnung, 
sondern  die  edelste  Schaffenski'aft  des  Willens.  Der  Intellekt 
schreibt  seine  Gesetze  der  Natur  vor.  Ohne  die  aktive  synthetische 
Funktion  des  Verstandes  würde  das  Weltbild  io  undeutlichen 
Scheinvorstellungen  verschwimmen.  „War  nicht  das  Auge  sonnen- 
baft,  die  Sonne  könnt'  es  nicht  erblicken",  gesteht  er  mit  Platon 
nnd  Goethe;  aber  er  kennt  auch  den  ergänzenden  Gedanken,  dass 
„des  Gottes  eigne  Kraft ^*,  die  uns  zur  Bewunderung  des  Göttlichen 
befähigt,  durch  unsere  mitschaffende  Denk-  und  Willensautonomie 
gelbst  erst  zu  vor  stellbar  er  Objektivität  geformt  wird.     Kein  Ob- 


302 


6.  Bunze, 


P 


jekt  ohne  Subjekt;  würde  nicht  die  Sonoe  durch  unser  Aoj^e  aaj 
liaft,  ja   mehr,   würde   nicht  das   äussere   Hinnesorgan   durch  die 
Energie   der   thätigen   Psyche   seelenhaft,    so   wäre  jene   nirbt 
die  Sonne,  uüd  dieses  nicht  Auge,     Und  damit  siud  wir  im  Zentrum     i 
des  kautischen,  kritischen,  transscendentaleu  Idealismus.  ■ 

In  allen  Natufwesen,  im  Ganzen  wie  im  Kiuzelnen,  liegte 
mehr  oder  weniger  verborgen  oder  verhüllt,  nur  dem  Geiste  sich 
enthüllend,  etwas  Geistiges.  „Die  Fähigkeit,  die  Natur  eines 
Dinges  zu  erkennen  und  zu  erklären,  beruht  auf  der  seelischeo 
Verw^andtschaft  des  Erklärers  mit  dem  zu  erklärenden  Gegenstande. 
Jedes  materielle  Ding  hat  auch  eine  geistige  Seite  und  lässt  sich, 
durch  menschliches  Zutun,  in  eine  Sphäre  des  Geistigen  und  Noi 
wendigen  erheben,  wo  es  dann  eine  ebenso  uuvergäDgliche  Rolle 
spielt  wie  irgend  ein  anderes.  Und  auf  diesen  ihren  Endzwed 
streben  alle  Dinge  beharrlich  zu.  Die  Gase  strömen  am  festen 
Firmament  zusammen,  der  chemische  Klumpen  gelangt  in  die 
Pflanze  und  wächst  mit  ihr;  er  gelangt  in  das  Tier  und  bewegt  sicli 
mit  ihm;  er  gelangt  endlich  auch  in  den  Menschen  —  und  denkt/') 
„Jedes  Ding  in  der  Natui'  sehnt  sich  so  lange  nach  seiner  Kenntßis- 
nahnie  durch  den  Menschen,  bis  es  endlich  seineu  Wunsch  erfüllt 
sieht  und  von  der  Menschheit  in  ihren  Dienst  genommen  wird." 
^Es  bedeutet  einen  erheblichen  Fortschritt  für  die  Arithmetik, 
Anatomie»  Architektur  und  Astronomie,  wenn  sie,  durch  Intellekt 
und  Willen  begünstigt,  in  das  praktische  Leben  emportanchen  und 
in  der  Unterhaltung,  im  Charakter  und  in  der  Politik  zum  Aus* 
druck  gelangen.^  ^Ê 

An  dieser  praktischen  Nutzanwendung,  als  greifbarer  Konse- 
quenz des  (so  zu  sagen)  transscendentaleu  Idealismus,  erkennt  m&n^ 
den  Amerikaner,  den  modernen  Denker  überhaupt.  Eraereon  6^1 
gänzt  aber  den  Grundgedanken  noch  durch  eine  andere  Betrachtuug, 
welche  dem  Realismus  der  Entwickelungslehre  entspricht  und  jener 
berechtigten  Kritik  an  Kant,  wie  sie  Friedr,  Alb.  Lange,  Huxley, 
Spencer,  du  Prel  geltend  gemacht  haben,  gerecht  wird:  dass  die 
Konstruktion  des  Menschengebirnes  und  der  Sinnesorgane,  A 
unsere  gegenwärtigen  Verstandes-  und  Anschauungsfonmeu  ent 
sprechen,  selbst  ein  allmählich  erst  im  Lauf  der  Jahrtausende  ge> 
wordenes  Produkt  der  Natur  ist,  sowie  dass,  auch  heute  noch, 
nicht  alle  Menschen  gleich  denken  und  anschauen,    dass  vielmehr, 


1)  Ich  zitiere  nach  der  Übersetjsiing  von  Oskar  Dähnert. 


Emer:äoti  und  Kant. 


aoB 


wenn  anch  vielleicht  nicht  io  die  allgempioen  Gesetze  der  Logik, 
fto  doch  sicherlich  in  die  besonderoa  Ausprägungen  der  psychischen 
Vorst-ellungsbildung  und  der  ethisrheu  Weiinrteile  das  Recht  der 
Individualität  eiufliesst.  Ein  weiteres  Morueut  endlich,  das  Emersons 
Auffassung  charakterisiert,  ist  eine  gewisse  Mystik»  wie  er  sie  in 
den  Beziehungen  zwischen  Natur  und  Menschengeist  voraussetzt 
und  in  deren  Deutung  er  dem  von  ihm,  wenn  auch  keineswegs  Icritik- 
los,  bewniuierlen  „Geistei'seher*'  Swedeub*»rg  beipflichtet.  Kr  hat 
Immannet  Swedenborg  einen  besonderen  Essay  gewidmet  und  zitiert 
ihn  oft;  dass  er  auch  bei  solchen  Gelegenheiten  an  dem  Königs- 
berger Innnanuel,  deu  die  ^.Träume  eines  Geistersehers**  freilich 
zeitweise  in  Verlegenheit  gesetzt  haben  mögen,  ohne  Seitenblick 
vorübergeht,  muss  wiederum  unsere  Verwunderung  erregen, 

„Jeder  Mensch,"  sagt  Emerson,  ^ist  durch  eine  geheime 
Sympathie  tuit  einer  bestimmten  Gattung  der  Naturdinge  verwandt, 
deren  Vertreter  und  Ausleger  er  zu  sein  bestimmt  ist,  so  Linné 
fur  die  Pflanzen,  Hnber  für  die  Bienen,  Fries  für  die  Flechten, 
Van  Mons  für  die  Birnen,  Daltou  für  die  Atomfornien,  EukUd  für 
die  Planimetrie  und  Newton  für  die  Differenzialrechnung.  —  Jeder 

rseh  stellt  ein  Centrum  in  der  Natur  dar,  von  der  aus  Strahlen 
Verknüpfung  und  Verwandtschaft  nach  einem  jeden,  festen 
©der  flüssigen,  sichtbaren  oder  unsichtbaren  Dinge  hinleiteu.  Da- 
durch, dass  die  Erde  eine  Drehnug  vollführt,  gelangt  jedes  Stück 
Erde  und  jeder  Stein  an  deu  Meridian.  In  gleicher  Weise  steht 
auch  jedes  Organ,  jede  Fraktion,  jede  Säure,  jedes  Krystall»  jedes 
Staubkorn  iu  verwandtschaftUcher  Beziehung  zum  menschhchen 
Gehirn.  Vielleicht  müssen  sie  alle  lange  wailen,  aber  einmal 
kommt  auch  an  sie  die  Reihe.  Wie  jede  Pflanze  ihren  Parasiten^ 
so  hat  auch  jedes  erschaffene  Ding  seinen  Bewunderer  und  Ver- 
herrlicher. Der  Dampf  ist  schon  zu  seinem  Recht  gekommen, 
ebenso  das  Eisen,  das  Holz,  die  Kohle,  der  Laststein,  das  Jod,  das 
Korn  und  die  Baum  wo  Ue,  aber  wie  viele  andere  Stoffe  harreu 
noch  der  Ausbeutung  und  zweckvollen  Verarbeitung!  Die  unge- 
heure Masse  des  Erschaffenen  und  die  Unzahl  der  Kräfte  ruhen 
in  ihrer  Mehrzahl  noch  unerschlosseu  und  hari-en  des  Tages  der 
Erweckung.  Jedes  von  ihnen  scheint  gleich  der  verzauberten 
Märcheuprinzessin  auf  den  ihm  bestimmten  Befreier  in  Menschen- 
gestalt zu  warten.  Ein  jedes  Ding  iu  der  Natur  muss  in  dieser 
Weise    eine    Entzauberung    erfahren    und   in    der    Gestalt    eines 


Menschen  an  den  Tag  treten.     Wenn  wir  die  Geschichte  der  Ent- 


304 


G.  Runse, 


deckîingen  durchgehen,  so  will  es  uns  bediinken,  als  ob  die  reife, 
aber  noch  verborgene  Wahrheit  sich  selbst  ein  Menschenhira  zu 
ihrer  Verkündigung  schaffe.  Der  Magnet  muss  Gestalt  und  Leih 
gewinnen  in  einem  Gilbert,  Swedenborg  oder  Oei-stedt:  erst  da- 
diircli  erlangt  die  Allgemeinheit  die  Verfügung  über  die  ihm  inne- 
wohnenden Kräfte.**  —  „An  jenen  herrlichen  Tagen,  da  Himmel 
und  Erde  einander  zu  küssen  und  zu  schmücken  scheinen,  dünken 
wir  uns  arm,  weil  wir  alle  diese  Herrlichkeit  nur  einmal  genies^fl 
dürfen,  wünschen  uns  tausend  Köpfe  und  Leiber,  um  all  diesêi 
Schönheiten  auf  verschiedene  Weise  und  an  verschiedenen  Orten  ^ 
bewundern  zu  können.  Und  —  thatsächlich  lassen  sich  unsere 
Kräfte  durch  Benutzung  von  „Vertretern"  vervielfältigen;  leicht  i 
und  gern  eignen  wir  uns  die  Früchte  des  Fleisses  dieser  Vertreter 
und  Vorarbeiter  an.  Jedes  nach  Amerika  segelnde  Schiff  verdankt 
seine  Schiffskarte  dem  Entdecker  Amerikas,  und  jeder  Roman 
macht  eine  Anleihe  bei  Homer.  —  So  ist  der  Boden  überall  um- 
schlungen von  einem  wahren  Gürtel  vou  Erfindungen,  der  Bei- 
steuer von  Männern,  die  dereinst  in  dem  Bestreben,  durch  ihres 
Geistes  Licht  unsere  Unwissenheit  aufzuhellen,  den  Tod  nicht  ge- 
scheut haben  .  .  ,  All  diese  Pfadfinder  bereichern  uns." 

Aber   wie   von  solchen  Höhepujikten  der  geistigen  EapazitHl 
belebende    Kraft    und    offenbarendes    Licht    auf   die  Mitwelt   aus- 
strömt,  so  sind  sie  selbst,  die  Entdecker  und  Erfinder,  die  Denker 
und  Propheten,  jene    „typischen  Repräsentanten    des  Menschenge-j 
schlecht^**,    eine  Wirkung,   ja  ein  Teil  jenes  grossen    Kosmos   de^ 
Natur,   die    den    Geist   latent   schon  tu   sich    barg  und  deren  auf- 
steigende Kräftereihe  im  Menschen  ihren  relativen  Abschlass  fand. 
^Die  Komponenten    bestimmen    auch    das  Denken   und  Thun  ihrer 
Resultante,  Uires  Vertrnters.    Er  vertritt  jene  nicht  nui\  er  ist  auch 
ein  Teil    von    ihnen.     Gleiches   kann    nur  durch  Gleiches  erkannt 
werden*".      Ist  jemand    mit    dem  Wesen    der   Dinge    vertraut,   so 
kommt  dies  daher»  weil  er  selbst  ein  Stück  von  ihnen»   aus  einem 
dem  ihrigen  gleichen  Stoff  gebildet  ist     ^Belebtes  Chlor  weistfl 
von    der  Existenz  und   dem  Wesen  des  Chlors;    belebtes  Zink  von 
der  Existenz    und   dem    Wesen    des    Zinks"".      „Der    Mensch,    a 
irdischem   Staub    gefügt,   vermag   seinen  Ui-spning   nicht  zu  v< 
leugnen,  und  so  wird  alles^  was  jetzt  noch  nnbeseelt  raht,  einnii 
Sprache  und  Denkfähigkeit  erlangen.     Dann  wird  die  Natur,  soweit 
sie  bisher  noch  nicht  gesprochen  hat,  ihre  sämtlichen  Geheimnisse 
offenbart  haben''. 


? 


Emerson  und  Kant. 


Man  wird  Heimann  Grimm  und  Maurice  Maeterlinck  Recht 
geben  dürfen,  wenn  der  eiiie,  dem  in  Deiitscliland  um  die  Er- 
weckuBg  des  Verständnisses  für  die  Emerson-Litteratur  das  Haupt- 
verdienst gebührt,  den  weltfrohen,  lebensfreudigfen  Amerikaner  den 
rtmodeiiisten  aller  Scbriftsteller**  nannte,  und  wenn  der  andere  von 
ihm  sagt:  „Er  steht  unserem  gewohnten  Leben  so  nah  wie 
niemand  sonst;  er  ist  der  Weise  des  Alltags**.  Aber  sobald  man 
sich  bemüht,  die  psychologischen  und  historischen  Wurzeln  seiner 
Denk-  und  Urteilsweise  aufzudecken,  so  stösst  man  auf  eine  Reihe 
von  Nat m^beobach tern,  Dichtern  und  Denkern,  deren  geistiger 
Mittelpunkt  und  zum  Teil  anregender  Ausgangsputïkt  Kant  ge- 
wesen ist.  Als  Emerson  sein  erstes  Werk  „Nature"  veröffentlichte 
(1836),  waren  in  Deutschland  Hegels  und  Schleiermachers  Ideen 
schon  in  die  Metamorphose  der  Umbildung  durch  die  Schale  der 
Anhänger  eingetreten.  Schelling  lebte  noch,  aber  seine  Glanzzeit 
war  vorüber,  während  die  uaturphilüsophischen  Ideen  seiner  an 
Kant  und  Hchte  anknüpfenden  Identitätslehre  durch  Burdach, 
Okeo,  Cams,  Victor  Cousin,  Coleridge  bei^eits  angefangen  hatten, 
ein  xri]juct  êç  aV/,  ein  dauerndes  Element  der  gebildeten  Weltbe- 
trachtung zu  w^erden.  Und  selbst  Schopenhauer  gesteht  gelegent- 
lich verschämt  ein,  dass  ein  Grundgedanke  seiner  Philosophie,  wie 
ihn  seine  (von  Fortlage  schon  1840  gerühmte)  Schrift  „Über  den 
Willen  in  der  Natur"  enthält,  deren  eiiste  Auflage  in  jenem  selben 
Jahre  1836  erschienen  war,  auch  in  Schellings  Philosophie  zum 
Ausdruek  komme.  Dass  Emerson  damals  von  Schopenhauer  keine 
Ahnung  hatte,  ist  zweifellos;  ebenso  abei*  auch,  dass  die  Grund- 
gedanken der  Schellingschen  Naturphilosophie,  die  in  gerader  Linie 
auf  Kant  zurückführen,  damals  längst  Gemeingut  der  Dichter-  und 
Deukerwelt  geworden  wai'en.  Einem  direkten  Einflüsse  muss  er 
daroni  noch  nicht  zugänglich  gewesen  sein;  es  ist  vielleicht  be- 
züglieb Schellings  anzunehmeu,  dass  er  einer  indirekten  sich  be- 
misst  w^ar.  War  ihm  doch  wenigstens  Goethes  Weltanschauung 
vollkommen  geläufig,  dessen  Vei-ständnis  für  das  Weben  und 
Walten  der  Natur  und  für  den  harmonischen  Einklang  zwischen 
Idee  und  Wirklichkeit  er  dem  seinigen  kongenial  empfinden  musste. 
Aber  vor  allem  war  er  ja  Angelsachse  und  Amerikaner;  was  sollte 
für  ihn  jene  auf  deutschem  Boden  im  Zeitalter  vor  der  Revolution 
entstandene,  der  Form  nach  pedantisch-scholastische,  dem  Gegen- 
stande nach  einseitig  auf  die  höchsten  Probleme  beschränkte,  jeder 
farbreichen,    vielseitigen    Füllung,  jeder   poetisch    verklärten    Ab- 

K»olatadi«D   IX.  20 


306 


G,  Runzei  Emerson  und  Eant, 


rundung   eatbehrende   Philosophie   Kants   für   einen  Reiz   habea? 
Deren  Ideen   waren   längst  durchgesickert  bis  in  die  entlegensten 
Schichten    der  Wissenschaft    und    des  Lebens,    auch    in  Emersons 
Wehbild    sind    ihre  Züge  zu  entdecken;    aber  ihm  selbst  versage 
vielleicht   ein    gesunder    psychischer   Instinkt,    gerade    ans   dieser 
Quelle    zu    trinken:    unter   seinen  „typischen    Bepräsentanten  der 
Menschheit",  von  Piaton  bis  Goethe,  finden  Montaigne,  der  Skep- 
tiker,   und  Swedenborg,    der  Träumer,    ihre    eingehende    Analyst»; 
Kant,    den   Alles  zermalmenden,    hat    dem    Auge    des    schönheitä- 
trunkenen    „Weisen  von  Old  Manse"    sein    poetischer  Genius   wie 
mit  einem  Schleier  verhüllt.     Eniei^sons  Essays  sind  Dichtung  mid 
Wahrheit;    Kants   Kritik    wollte   Wahrheit    allein.     Die    Lektüre 
Emersons  ist  Erbauung  für  das  Gemüt,    Anregung   für  die  Phan* 
tasie,    Unterhaltung    für    den    Geist;    der    Verstand,    der    in  deu 
Baluien  schulgerecht^r  Methodik  wandeln  muss,   um   zum  Ziele  zu 
gelangen,   kommt   nicht    zu   seinem    Recht.     Man    wird    auch  \m 
Emerson    manchen    reizvollen    Gedanken,    manch    überraschendes 
Problem    aufbUtzen    sehen,    das    die  Verstandeskräfte    zum    Nach- 
denken lockt;    aber  jene    ernste  Vertiefung  in  die  Grundprobkme 
der  Metaphysik,  jene  radikale  Kritik  des  Erkenntnisvermögens,  ai 
die  jedes  philosophische  Denken    anknüpfen    muss,    wofern   es  auf 
erfolgreiche    Mitarbeit     am    wissenschaftlichen    Erkenntnisprozess 
Anspruch   erheben    will,    lag   ausserhalb    der  Bahn,    die   ihm  sein 
Genius  wies.     Lehnt  er  doch  jede  geistige  Abhängigkeit  ab,  aucli 
von  denjenigen  Denkern,  die  ihm,  den  obigen  Darle-guugen  gemäss, 
vielleicht  am  sympathischsten  waren:  Leibniz  und  Schelling.   Ein* 
gehender    gewürdigt   hat   er    von    den  deutschen  Geistesgrössen 
nur  wenige,  aber  dann  solchc\  die  nicht  in  erster  Linie  methodiscb 
forschende    Denker    wareni    so    Martin    Luther,    den   philosophas 
teutonicus  Jakob  Boehme,  vor  aUem  den  Dichterheros  von  Weimar; 
sie  zählen   ihm  zu  den  originalsten  Tj^en  der  Menschheit.     Aber 
gelegentlich  verrät  er,    in  wem  unter  den  Philosophen  er  allen- 
falls  seine   eigene  Gedankenwelt  wiedererkennen  würde,    wenn  er 
sagt:    „Es   giebt    einen   besseren  Weg,    als    dieses   gedankenarme 
Aneignen   fremder   Arbeit.     Lasst   mich    in   Ruh;    zwingt    mich 
nicht,    aus  Leibniz   und    Schelling  zu  lernen;    ich  will  das 
alles  schon  selber  herausfinden/ 


Kant  im  Spiegel  seiner  Briefe. 

Von    Friedrich    Alfred    Seh  mid   in    Freiburg   i.  Br. 


Wahre  öHisse  unmittelbar  zu  fühlen  nnû  anzuerkennen,  wo 
sie  hervortritt,  ist  jedem  mit  offenen  Sinnen  Begabten,  natürlicli. 
Aber  eben  diese  Grösse  in  ihren  Tiefen  und  Wurzeln,  in  dem  ge- 
heimnisvollen Zusamuienfluss  elementarer  Kräfte  und  launischer 
ZiifäLligkeiten  zu  verstehen  und  von  innen  heraus  nachzuerleben, 
ist   sehr  schwer. 

Denn  gewaltige  Persönlichkeiten  haben  wohl  ohne  Ausnahme 
die  Eigentümlichkeit»  nach  aussen  die  wuchtigen  und  einfachen 
Ltioien  zu  zeigen,  in  denen  sich  das  Werk  ihres  Lebens  darstellt, 
während  die  eigensten,  intimen  Äusserungen,  Erlebnisse  und  Wir- 
kungen ihrer  Daseinsintensität  eine  Fülle  schillernder  Gegensätze, 
ein  verwirrendes  Spiel  sich  suchender  und  fliehender  Charakter- 
mächte  ven-aten,  durch  das  alleiu  der  feinste  und  verständnisvollste 
Beobachter  sich  annähernd  hiudurchzufinden  vermag.  Und  auf 
Schritt  und  Tritt  muss  dieser  Beobachter  seinem  Gegenstaude 
folgen  können^  wenn  er  nicht  tausend  Spuren  verlieren  und  nicht 
in  jedem  Augenblick  einen  abgeiissenen  Faden  in  den  Hrinden 
halten  will.  In  jedem  Tag,  in  jeder  Stunde  müsste  ihm  das  Leben 
seines  Helden  zugänglich  sein. 

In  diesem  Sinne  ist  aus,  angesichts  der  riesengross  aus  der 
Niederung  aufsteigendeu  Gestalt  Kants,  das  „fruchtbare  ßa^oc  der 
Erfahrung**,  die  sicherste  Basis  zu  einer,  Zug  um  Zug  getreuen 
Wiederaufrichtung  seines  (Charakterbildes  verloren. 

Der  Kant,  den  wir  kennen,  zeigt  ein  zweifaches  Angesicht. 
Das  eine  trägt  die  grossen  Züge  seiner  unsterblichen  Werke,  das 
andere  ist  die  gut  gemeinte,  aber  herzlich  stümperhafte,  oft  aus 
Unfähigkeit  in  die  Karrikatur  verfallende  Zeichnung  einiger  Bieder- 
männer, die  das  Glück  genossen  hatten,   dem  alternden  Kant  per- 

20* 


808 


F.  A,  Schmid, 


etur 


sönlich  nahe  gestanden  zu  haben.    Diese  Borowski,  Jach  mann  nni 
Wasianski   waren   wohl    von  der  Art,   zu  fühlen,   dass   ihnen  in 
Kant   ein    unfassbar  Grosses  die  kleinen  Pfade  ki-euzte,    aber  ihr< 
instinktive  Bewunderung  dieser  Grösse  vermochte  sich  am  innigstej 
doch    nur  in   der   andächtig    genossenen    und    weiter    gegebeneiL 
Anekdote  Luft  zu  machen. 

Und  zwischen  dein  Charakterbild  seiner  Werke  uud  dei 
seiner  Freunde  klafft  eine  Lücke,  die  mau  meist  mit  Wunderlich  — 
keiteu  und  Paradoxieen  zu  überbrücken  liebte.  Als  ob  eine  Per^ 
sönlichkeit  von  der  ehernen  Geschlossenheit,  wie  sie  in  Kant  vo^»- 
uns  steht,  sich  aus  Kleinlichkeiten  uud  Beschränktheiten  ihre  Fua^ 
damente  erbaueu  konnte.  ^! 

Eine  einzige  Art  seiner  Wirkungen  kann  den  eigenartigen 
Menschen  auch  nach  seinem  Tode  noch  in  unmittelbarer  Lebendig^- 
keit  wiederspiegeln:  Das  ist  nicht  die  Spur  seines  Wesens  in 
seinem  Werk.  Denn  vor  seinen  Büchern  verschüesst  sich  der 
persönliche  Geist  zur  möglichsten,  fremden  Objektivität.  Das  sind 
\ielmehr  die  augenblicklich  uud  ohne  Reflexion  auf  die  üffeot 
iichkeit  und  die  Zukunft  liiugeworfenen  Äusserungen,  die  Regungen 
lebendiger  Stimmung  und  Laune,  der  Charakter  in  seinem  nnbe- 
lauschten  sich  Haben  und  Geben»  wie  er  sich  zwischen  den  Zeilen 
seiner  flüchtigen  oder  beschaulicheu  Briefe  bewegt. 

öerade  diese,  nächst  der  persönlichen  Bekanntschaft  mit  dem 
Leben  des  Helden  wichtigste  Quelle,  floss  bisher  der  Kant- 
forschung,  soweit  sie  sich  auf  den  Menschen  Kant  bezog,  am 
spärlichsten.  Und  die  heute,  nach  hundert  Jahren,  berufensten 
Darsteller  seines  Lebens  litten  sichtbar  unter  diesem  Mangel,  der 
sie  zw^aug,  häufig  genug  den  grossen  Gegenstand  itn^er  Darstellung 
durch  geistvolle,  aber  nichts  desto  weniger  manchmal  gewagte 
Konstruktionen  plastisch  zu  machen.  M 

Das  ist  seit  dem  Erscheinen  des  Briefwechsels  Kants  in  der 
Ausgabe  der  preussischen  Akademie  durch  das  arbeitsreiche  Be- 
mühen Rudolf  Reickes  um  vieles  besser  geworden,  Kuno  Fischern 
zählt  in  der  Jubiläumsausgabe  seines  „Kant**  ungefähr  80 — ^ItK) 
bekannte  Briefe  von  Kant  Der  erste  der  drei  Bände,  welche  in 
der  königl.  preussischen  Akademieausgabe  den  Briefwechsel  Kants 
bringen,  zählt  allein  schon  mehr.  Im  ganzen  ist  die  Zahl  der 
Kantbriefe  mehr  als  verdreifacht,  und  dazu  kommen  die  Briefe  an 
Kaut,  in  denen  sich  oft  genug  am  un  verhülltesten  die  eigenartige 
Wirkung  der   Kautischen  Persönlichkeit   auf   seine  Umgebung 


I 


Kant  im  Spiegel  seiner  Briefe.  309 

kennen  und  sich  ein  leichter  und  sicherer  Schluss  auf  diese  zu- 
rückziehen lässt:  Ein  Verfahren,  welches  das  bisher  so  knapp 
und  kalt  umrissene  Bild  des  flössen  Mannes  mit  den  nötigen 
Halbtönen  und  individuellen  Lichtern  und  Schatten  reichlich  ver- 
sieht. Es  kann  mir  nun  keineswegs  beikommen,  mit  dieser  Skizze 
nur  annähernd  das  leisten  zu  wollen,  was  das  neu  erschlossene 
Quellenmaterial  dem  Kenner  an  eigenartigen  Aufschlüssen  ver- 
spricht und  wozu  der  ganze  Reichtum  dieser  drei  Briefbände  auf- 
fordert. Es  muss  an  dieser  Stelle  bei  der  Absicht  bleiben,  in 
kurzen  Andeutungen  einige  von  den  vielen  Farbentöuen  aufleuchten 
zu  lassen,  die  uns  das  Bild  Kants  nur  zu  beleben  geeignet  istJ) 
Wie  auch  aus  seinen  Briefen  dem  nachdenklichen  Beschauer  der 
Mensch,  der  Denker  und  der  Heros  Kant  vor  die  Augen  tritt  und 
zu  einsamer  Grösse  emporwächst,  dies  mehr  zu  behaupten,  als 
auszuführen,  ist  die  Aufgabe  der  folgenden  Blätter. 


2. 

Kant  hat  niemals  jene  innere  Befreiung  erlebt,  die  demjenigen 
zu  begegnen  pflegt,  der  mit  einem  Mal  aus  den  vertrauten  Umgebungen 
seiner  Jugendzeit  herausgerissen,  sich  seinem  eigensten  Wesen  allein 
gegenübergestellt  sieht,  darauf  angewiesen,  mit  sich  und  einer  fremden 
Welt  fertig  zu  werden.  Aus  sehr  bescheidenen  und  beschränkten 
Verhältnissen  heraus  trat  der  Studiosus  Kant  in  eine  kaum  ver- 
änderte Atmosphäre  von  Beschränktheit  und  Bescheidenheit,  in 
welcher  preussische  Professoren  und  Prediger  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  die  ersten  Bollen  inne  hatten.  Zur  Schlichtheit  er- 
zogen als  Pietist  und  als  Kandidat  der  Theologie,  jeder  lästigen 
Beunruhigung  seines  stark  zur  Kontemplation  neigenden  Gemütes 
abhold,  niemals  energisch  zur  Betonung  seiner  Persönlichkeit  durch 


^)  In  dieser  Absicht  spricht  sich  wohl  anch  klar  genug  ans,  was 
diesen  Aufsatz  prinzipiell  von  der  Aufgabe  trennt,  die  sich  die  gleich- 
falls an  diesem  Orte  veröffentlichte  Abhandlung  von  Bruno  Bauch:  „Die 
Persönlichkeit  Kants^,  gestellt  hat.  Es  kann  mir  nicht  darauf  ankommen, 
das  CharakterbUd  Kants,  wie  es  in  seiner  Totalität  für  die  Geschichte  fest- 
steht^ zu  wiederholen.  Ich  muss  vielmehr  die  Kenntnis  der  Persönlichkeit 
Kants,  und  somit  gewissermassen  jene  Abhandlung  voraussetzen,  um  einen 
Teü  meines  Zweckes  zu  erreichen. 

Anch  muss  ich  mir  inzwischen  die  weitere  Bearbeitung  meines  be- 
«»onderen  Themas,  in  ausführlicherer  Darstellung,  für  eine  andere  Gelegen- 
heit vorbehalten. 


310 


F.  A.  Schmid. 


das  Schicksal  auf g^ef ordert,  so  entwickelte  sich  allmählich  dio  be- 
kannte Bescheidenheit  des  Herrschers  im  Reiche  der  Spekulation, 
dem  doch  das  eigentlich  wesentliche  Moment  der  Bescheidenheil 
fremd  war:  die  Neigung,  den  Wert  seines  Daseins  fremden  \^Vrtf^n 
hint anzusetzen. 

Es  ist  diarakteristisch  genug:,   dass  Kant   hrieflich   im  Alter | 
von  fiinfuudzwauzig  Jahren  selhstbewusster  \^on  seinen  LeistunjEren 
zu  reden  wagte,   als  es  der  Verfasser  der  drei  Kritiken  gemeinhin 
zu  tun  pflegte.    Es  waren  noch  viele  andere  Keime  in  dem  jungen 
Manne  lebendig,    die  in   der  Einförmigkeit  seines  Lebens  zurück- 
traten,   sich  kümnjerlich  anpassten   oder   ganz  zu   Grunde    giugeöi 
auf  Kosten  derjenigen  Züge,    die  in  das  Kult  Urbild  der  alten  Uni- 
vei-sitas  Regioniontana  besser  sich  zu  schicken  schienen.     Und  eiaj 
Zug,   dem  durch  das    friedliche  Provinzlertum  zu  Königsberg  aller 
Voi'schulF  geschîih,  steckte  tief  in  Kants  Natur  und  wuchs  deshalb 
unverhältnismässig  in  die  Breite:  Das  war  seine  bis  zur  Ängstlich- j 
keit   gesteigerte   Furcht    vor    der    persönlichen  Öffentlichkeit,   die 
empfindliche   Unlust,  in   seinen   geschlossenen   Zirkeln  durch  laut« 
Anerkennung,   durch   einen   persönlichen  Lebenslauf  grossen   Stils  I 
irgendwie   gestört   zu   werden.     Es   ist   ihm    peinlich,    wenn   mafl 
seinen  Namen  neben  dem  Lessings  nennt,  so,  als  oh  darin  für  ihn 
eine  Art  von  Verpflichtung  läge,  sich  von  nun  ab  auch  „denigemäss 
zu  betragen,**     Es  ist  ihui  lästig,   dass  man  eine  Medaille  auf  ihn 
schlagen  will  [und  es  ist  ihm  dabei,   als  ob  der  Prägehamraer  auf 
ihn  selber  fiele  und   er   müsse   nun   einen  hellen  Klang  von  sich 
gehen].     Und  es  ist  ihm,   höchst  bezeichnend,  ein  Gräuel,  denkeo 
zu  müssen,  dass  man  seine  Intimitäten,  seine  Briefe  oder  die  DateaJ 
seines  Lebens  dem  Publikum  auf  irgend  welche  Weise  preisgebe.! 
Mit  den  Jahren  heftet   sich   diese  Scheu  vor  dem  lauten  Ton  desf 
Marktes  mit  Hartnäckigkeit  auch  an  das  Kleinste.     Im  Jahre  1792 
schreibt  Kant  z,  B.  an  seinen  Verleger  F.  Th.  de  la  Garde:  ,.Was^ 
die  Benennung    auf  dem  Titel   (der  Kritik   der  Urteilskraft),  vp^^ 
besserte  Auflage  betrifft,    so   hat  das  im  Grunde  wenig  zu  be- 
deuten ....    wenn   es   mir  gleich   ein    wenig  prahlend    zu  seiilfl 
scheint."  " 

Die  Diminutiva,  mit  denen  Kant  schliesslich  aus  einer  Art 
von  Gewohnheit  seine  Leistungen  zu  belegen  pflegt,  stehen  all- 
mählich in  einem  offenen  Kontrast  zu  der  uIp  zweifelhaften 
Selbstklarheit>  Kants  über  die  Tragweite  und  den  absoluten  Wert 
seiner  Mission   und  seiner  Leistungen.      Ich   berühre  damit  einen 


I 


Kant  im  Spiegel  seiner  Briefe. 


311 


PtmU  in  dem  l'harakterbilde  Kants,  ilt-n  zu  übf*rseheii  oder  partei- 
JSt'h   zu  Kants  Gunsten   auszulegen    man   gerne   bereit   ist.     Kant 
K'ar  bei  aller  natürlidien  Oeradiieit  seines  Wesens  und  kategorischen 
Sittliehkeit     seiner    Maxiineij     gelegeutlidi    jeuer    eigentüni liehen, 
-Spitzfindigen  Neigung,    mit   den  Begriffen   von    Recht   und  Pflicht 
^^^g^isch  zu  Spieleu,  nicht  abliokl      Es  hat  manchen  gesunden,  sîtt- 
^<^lieû    Instinkt   in   der   Foigezeit   verletzt,^)    was   Kant   von   der 
^'Qicht,  die  Wahrheit  zu  sagen,   zu  bekennen  für  gut  befand,  der- 
*^lbe  Kant,  welcher  theoretisch  und  iiraktisch  die  Notlüge  so  sehr 
^^rfemte,       Dieser    Zug    erscheint    unverkennbar    als    ein    cha- 
**^kt erologischer  Akt  der  Notwehr   seines   schliesslich   bis   zur  Hy- 
pochondrie    und     Verzärtelung     ausgebildeten     Euhebedürfnisses, 
Seine  Wurzeln  hingegen  hat  dieser  Zug  iu  eiuem  der  am  meisteu 
Verkümmerten    Talente   Kants,    nämlich    in   seiner   offenbaren   Be- 
g'abung  zum  Weltmann,   zum  kühl  durchs(!hanendent   geistesgegen- 
Wärtigeu  und  scharfsinnigen  Diplomaten.     Eleganz    der  Rede  und 
des  Benehmens,    Menschenkenntnis,   Ironie   und   selbst    Glätte  und 
Menschengeriugschätzung  standen  seiner  Natur  reichlich  zu  Gebote 
und    Hessen   es   leicht   begreiflich   erscheinen,    wie   ihn   stets  eine 
heimliche  Verwandtschaft   des  Geistes    mit  Hume   und   Leibniz  an 
den    vernaclilässigten  Weseusteil    seines    Charakters  mahnte.     Die 
Art  zum   Beispiel,   wie    er  den   eitlen    Crichton   seinen  Absichten 
gefügig  zu  machen  weiss,*)   macht  seiner  Gewandtheit  alle  Ehre 
und  köstlich  liest   sich    das  Wort  der  bittersten  Ironie  aus  seiner 
Feder:  „Denn,  die,  so  ihren  Bej^faU  verweigern,  so  lange  sie  nur 
die  zw^ejrte  Stimme  haben,  werden  gemeiniglich  ihre  Sprache  ändereu, 
wenn  sie  das  erste  und  grosse  Wort  führen  können.**   —  Folglich 
gestattet  Kant  dem    ('richton   das  grosse  W'ort   mit  einer  höchst 
1      schmeichelhaften  Wendung, 

I  Aber    wie  bei   Kant    alle  einmal  erkämpft^en  Entscheidungen 

l     sich  zu  Maximen  zu  verhärten   geneigt    sind,    so    nimmt  er   daher 
f    tuch  in   der  Folge    keinen  Austand,   bei   passenden   Gelegenheiten 
sein  Wort   von    der   reservatio   mentalis   beim    Verschweigen   von 
Wahrheiten  zur  Nachahmung  angelegentlich  weiterzuempfehleu. 

^)  Es  ist  nicht  uninteressßnt ,  zu  hören,  was  ein  Grübler,  wie 
Friedricli  Hebbel  im  Jahre  1848  aussprach:  ,  .  .  „So  meinte  damals  auch 
Kant>  er  werde  über  gewisse  Dinge  nie  etwas  Falsches  sngon,  aber  manches 
Wahre  zurückbehalteTi.  Da  die  Wahrheit  kein  Privateigentum 
ist,  sn  kann  die  Richtigkeit  dieses  Prinzips  bestritten  werden." 
(Kritisehe  Arbeiten.     „Schillers  Briefwechsel  mit  Kömer**.)  v 

■)  P.  Akad.  Ausgahe  der  Briefe,  Bd.  I,  S.  217  ff. 


¥,  A.  Schmid. 


Es  ist  ihm  schliesslich  in  allen  schwierigen  Leheaslageo,  iu 

beisst  überall  dort,  wo  er  seine,  oder  die  bequeme  Musse  seiner 
Freunde  gestört,  sieht,  wie  eine  erlösende  ZauberformeL  So  in 
seinem  Briefe  an  IL  Herberts)  Ebenso  an  Fichte,*)  Wo  man  sich 
dnrch  Reden  UnjsreleiGrenheiten  zuzuziehen  Gefahr  läuft  —  schweif 
man  besser.  Kant  verliert  zuerst  an  sich,  dann  bald  auch  für 
Andere  den  Massstab,  mit  dem  man  den  Wert  des  Wahrheits- 
känipfers,  im  empirischen  Wortsinn,  zu  messen  pflegt,  Kant, 
Tou  Hans  ans  keineswegs  ungeoi^et,  den  harten  Bekennermîit 
eines  Luther  zu  bethätiieren,  versank  in  dem  ruhigen  Abfluss  seines 
Lebens,  viel  zu  lange  unbehelligt  vom  feindlichen  und  daher  auf- 
rüttelnden Schicksal,  in  einen  stillen  Quietismus  gegenüber  den 
äusseren  Mächten  des  Lebens,  der  ihn  auf  der  eijien  Seite  ebenso- 
sehr das  Bewusstsein  einer  wirklichen  KleiuLeit  empfinden  liess^ 
wie  er  auf  der  anderen  Seite  bewirkte,  dass  die  zum  Machtvollen 
geborene  Herrschernatur  in  ihm  andere  Wege  zu  ihrer  Entfaltmig 
suchte  und  diese  schliesslich  in  der  strengen  Geschlossenheit  der 
wissenschaftlichen  und  empirischen  Lebeusökonomie  fand.  Man 
hat  diese  einzigartige  Konsequenz  der  Kantischen  Lebenskunst 
weidlich  beTinindert.  Ihre  besondere  Grosse  anzuziveifeln,  kannte 
Keinem  einfallen.  Aber  sollte  auch  noch  Keinem  der  tiefe  Zug 
der  Resignation,  der  darin  beschlossen  ruht,  ins  Bewusstsein  ge- 
tretnen  sein?  „Wenn  die  Starken  in  der  Welt  im  Zustande  eines 
Rausches  sind,  *  ,  ,  so  ist  einem  Pygmäen,  dem  seine  Haut  lieb  > 
ist,  zu  rathen,  dass  er  sich  ja  nicht  in  ihren  Streit  mische,  soUtêiB 
es  auch  durch  die  gelindesten  und  ehrfurcht vollsten  Zureden  g«* 
schehen,"  schreibt  Kaiît  im  März  179S  an  Carl  Spener. 

Es  ist  in  diesen  Worten  eine  wehmütige  Mischung  von 
letzten  Resten  eines  untergegangenen,  und  von  erstarrten  Maximea 
eines  müde  gewordenen  Kant. 

Es  zuckt  etwas  von  dem  ironischen  Diplomat^nlächeln  un' 
die  Lippen  des  gewaltigen,  „in  ganz  Eui-opa  berühmten*'  Deuker- 
fursten,  der  sich  —  unter  die  Pj^gmäen  rechnet.  Wenn  Kant  au 
einer  anderen  Stelle  schreibt,  dass  er  sofort  seine  Professur  nieder* 
gelegt  hätte,  wenn  ihn  Wollner  zum  ausdrücklichen  Widermf 
hätt«  zwingen  ivollen,  so  ist  ihm  das  aufs  Wort  zu  glauben.  Aber 
das  beweist  gerade,  dass  der  alte  Kant  das  Zeug  zu  einem  stand- 
hafteu  Märthyrer  wohl  behalten  hatte,  dass  er  aber,  um  den  Preis 

»)  Vgl.  a.  a,  O.  Bd.  n.  S.  819. 

«)  Ebenda.  S,  309  f. 


I 


Kant  im  Spiegel  seiner  Briefe.  313 

seiner  persönlichen  öeschütztheit  vor  jedem  rauheren  Luftzug  der 
Öffentlichkeit,  gänzlich  das  Gefühl  dafür  verloren  hatte,  etwa  prak- 
tisch für  die  Durchsetzung  seiner  als  heilsam  erkannten  Über- 
zeugungen eintreten  zu  müssen.  Lieber  mochte  sich  Kant,  der 
genau  wusste,  welche  Macht,  vernichtende  Blitze  und  nieder- 
werfende Donnerkeile  unter  seine  Zeitgenossen  zu  schleudern, 
in  seine  Hände  unwiederbringlich  gelegt  war,  einen  Pygmäen 
nennen  und  den  allgemein  verachteten  und  verhassten  Wöllner  zu 
„den  Grossen  dieser  Erde"  zählen,  als  dass  er  auch  nur  daran 
gedacht  hätte,  von  seiner  gewaltigen  Macht  den  geringsten  Ge- 
brauch zu  machen.^) 

In  diesem  Verhalten  liegt  keine  Bescheidenheit;  ebensowenig 
weitschauender,  weiser  Patriotismus.  Man  darf  nie  vergessen, 
dass  Kant  seiner  Erziehung  nach  Rationalist,  seinem  politischen 
Glauben  nach  also  noch  viel  mehr  Kosmopolit,  als  Nationalist  war, 
oder  dass  er  doch,  bei  allem  erwachenden  Verständnis  für  das 
Wesen  der  historischen  Bildungen,  mindestens  in  der  bestehenden, 
preussischen  Verfassung,  im  Absolutismus,  keineswegs  sein  Staats- 
ideal erblickte.  Alle  diese  Erwägungen  hätten  ihn  bei  seinem  an 
sich  übermenschlichen  Gestaltungsdrang  schliesslich  ebensowenig 
an  der  praktisch  kämpfenden  Arbeit  verhindern  können,  wie  Luthers 
Frommheit  an  der  Verletzung  ursprünglich  noch  in  Ehrfurcht  ge- 
achteter Formen  und  Überlieferungen  Anstoss  nahm. 

Sondern  was  allein  die  Triebfeder  zu  allen  diesen  kasuisti- 
schen Reservationen  im  tiefsten  Grunde  war  und  blieb,  das  war 
der  rücksichtslose,  kühle  und  offene  Drang  des  Genies,  nun 
einmal  nichts  anderes  sehen  noch  hören  zu  wollen,  als  was  seiner 
Entwickelung  und  Reifung,   mehr  oder  minder  instinktiv,  zusagte. 

Dieser  Drang  trifft  gemeinhin  nicht  irgend\^ie  die  Sache, 
sondern  immer  nur  die  Idee  und  steht  ganz  im  Dienste  der  Idee. 
Deshalb  wäre  es  sicher  falsch,  ihn  mit  Notwendigkeit  so  das 
Leben  Kants  heraufführen  zu  lassen,  wie  es  sich  wirklich  ge- 
staltete. Nur  das  Was  entscheidet  dieses  Streben  mit  unerbitt- 
licher Konsequenz.  Das  Wie  überlässt  es  dem  Schicksal.  Als 
daher  Kant  von  seinem  Schicksal  einmal  dahin  geführt  war,  unter 


^)  An  direkten  Aufforderungen  hiezu,  von  verschiedenen  Seiten  und 
in  den  verschiedensten  Formen,  hat  es  nicht  gefehlt.  Aber  entweder  weiss 
Kant  sich  mit  seinem  hohen  Alter  zu  entschuldigen,  oder  er  schweigt  die 
Notschreie,  die  aus  bedrücktem  Gewissen  und  beleidigtem  Freiheitsinn  ihm 
zu  Gtehör  kommen,  gänzlich  tot.    Vgl.  a.  a.  O.  Bd.  III,  S.  11  u.  s.  w. 


i,  Scbmid, 


Verzicht    auf   eine    reiche    Fülle   grossziig'iger  Kraftbethätigungej 
im    breikren  Strom    <!es  Lebeus,    in    eügstem  Kreise  zu  beha 
aus  der  Stille  und  F^insamkeit    heraus    seine  Grösse    aufzutünntüi, 
da  tnusste  dieser  Drang,  gewissermassen  eiu  Egoismus  des  Geni 
sich  uaturgemäss  gegen  jede  Störung  der  einmal  festgelegten  Baal 
mit  allen  Mittein  sträuben.     Das  Fnndameut  vei-schobeu,  erweitert 
oder  verzerrt,   und   das  ganze  Lebensgebaude  des  Denkers  war  in 
Gefahr,     Auf  diese  Weise  konnte   es  geschehen,  dass  das  Syi^tm] 
einer   gronseu   Philosophie    den    unerschütterlichen    Bestand   eifli 
Sj^stems  des  Daseins  gebieterisch  forderte. 

Und  aus  dieser  Einsicht  heraus  fällt  eine  bemerkensweite 
Beleuchtung  auf  eine  Fülle  von  Einzelziigen.  die  mit  einem  ilale 
alles  Paradoxe  verlieren  und  sich  achtungsgebietend  in  den  ganz<^n, 
unentrinnbaren  Schieksalsbau  eines  grossen  Daseinszweckes,  der 
sich  aus  innerem  Zwange  selber  vollenden  muss,  einfügen»  selbst 
auf  die  Gefahr  hin,  dass  die  schöne  Seele  der  gewaltigen  Aufgabi?, 
wenigstens  teilweise,  zum  Opfer  fällt. 

In    diesem  Lichte    erscheinen   alle  die  scheinbaren  Züge  roo 
Nüchternheit,    (Temütsarnmt,   Pedanterie,  Misstraueu,  Kechthaberei 
uud    hagestolzmässigen    Sonderbarkeiten    plötzlich    verflogen,   iiiu-— 
gewandelt  oder  unwahr.     Uud  wieder  die  Beleuchtung  gewechselte^ 
verbinden   sie   sich  leise   zu   einem   tief  nachdenklichen    Bilde  Toll 
ungenannter  Schmeraen  und  geheimer  Tragik.    Doch  davon  nachher 

Kant  hat  wahrscheinlich  die  Liebe  nie  gekannt,  das  ist  wahr. 
Aber    seine    Kindheit    war   hart,    sein    Studium    anstreugeud  Qnd 
äusserlich  armselig,  sein  Hauslehrertum  immerhin  für  seinen  inner- 
lich durchaus  betonten  Stolz  drückend  und  seine  LebeusanssichteD 
trüb.      Gewissenhaft,    wie    er   war,    hatte   er,    zudem    bei   seinPT 
Kränklichkeit,    wohl   keine  Zeit   noch  Lust,    ausführlichen   Liebes- 
gedanken   nachzuhängen.     Übrigens    wissen    wir   hierüber   so  gut 
me    nichts,    und   jeder  Vermutung   bleibt  Thnr    und    Thor   offeu. 
Was    wii*   aber    wissen  uud  aus  mehr,  als  nur  einer  Stelle  seiner 
Briefe  herauslesen  können,    das    ist   die  Tb  at  sache»  dass  Kaut  Ins 
iüs  hohe  Alter  hinein  eine  Sehnsucht  nach  pei^sönlichem  Verständnis, 
nach    hingebeodor    Neigung    empfand,    die   in    ihrer    kaum    3ng^- 
deuteten  Zartheit,  in  ihrem  nie  ausgesprochenen  und  zum  eigenen 
Bewusst-sein   gebrachten  Gestand  ïiis   ganz   sonderbar  rührend   an- 
mutet.    Und    wenn  Kant   das    eine  und  anderemal  für  diese  ha!b- 
bewusste,    leise  aufzitterude  Sehusucht   einen  Namen  finden  muss 
und  dabei  auf  das  Wort  Freundschaft  verfällt,   so  ist  der  intinifn 


Kant  im  Spiegel  seiner  Briefe.  315 

Psychologie  dieses  verschleierten  Qui  pro  quo  allzu  leicht  nach- 
sugehen,  als  dass  ich  es  an  diesem  begrenzten  Oite  thun  müsste. 
Dass  übrigens  Kant,  der  jugendliche  Weltmann,  Spötter  und 
tfenschenkenner  auch  Weiberkenner  genug  war,  um  gelegentlich 
iie  graziösesten  Briefe  an  Damen  zu  schreiben  und  ebenso  graziös 
brieflich  übei'sandte  Grüsse  entgegenzunehmen,  ist  hinreichend  aus 
seinen  Briefen  aus  früherer  Zeit  nachweisbar,  wenn  dem  Einwand 
begegnet  werden  sollte,  dass  Kant  sich  dem  weiblichen  Geschlechte 
gegenüber  prinzipiell  ablehnend  verhalten  hätte.  In  der  Jugend 
Fehlte  ihm  die  Gelegenheit,  später  nahm  ihn  seine  höhere  Be- 
stimmung gefangen.  Was  übrig  blieb,  war  die  leise  und  allmählich 
Etusklingende  Sehnsucht,  die  sich  wohl  gerne  am  Ende  selber  nicht 
mehr  verstanden  haben  mag  und  sich  allen  Ernstes  auf  einen 
Reinhold  oder  auf  noch  unbedeutendere  und  unwürdigere  Freunde 
zu  beziehen  glaubte.  Und  durchaus  ebenso  ging  es  mit  jener 
Gabe,  das  Leben  lebendig  anzusehen,  selbst.  Die  Lebenslust  und 
Erfahrenheit  des  Weltmannes  trat  in  den  Dienst  der  alles  ver- 
zehrenden Selbstheit  der  grossen  Zwecke.  Klugheit  wurde  zur 
Vorsicht  und  Ängstlichkeit,  welche  letztere  Eigenschaft  bei  Kant 
nur  zu  deutlich  das  Gepräge  einer  gewissen  Verzärtelung,  die  sich 
mit  seiner  angeblichen  Bescheidenheit  verband,  und  keineswegs 
den  Stempel  einer  moralischen  Schwäche  trug.  Die  skeptisch- 
ironische  Weltbetrachtung  des  Diplomaten  trat  in  den  dunkleren 
Schatten  von  gelegentlicher  Menschenverachtung  und  von  Misstrauen, 
welches  eine  zunehmende  Verschlossenheit  unmittelbar  im  Gefolge 
hatte.  Und  es  konnte  ja  auch  nicht  ausbleiben:  jemehr  Kant 
selber  ins  Riesenhafte  über  seine  Umgebung  hinauswuchs,  umso- 
weniger  hatte  ihm  diese  auch  im  Grunde,  trotz  aller  brieflicher 
Geschäftigkeit,  zu  sagen  oder  abzufragen:  Das  kühle  Schauern 
der  geistigen  Einsamkeit  hat  Kant  oft  genug  auch  rein  mensch- 
lich erfahren,  davon  reden  seine  Briefe  nicht  selten  eine  klagende 
Sprache.  Wie  alle  grossen  Männer,  so  trieb  auch  ihn  manchmal 
seine  Bestimmung  widerwillig  zu  seiner  Grösse  empor.  Die 
Beaktion  auf  solche  namenlosen,  inneren  Erlebnisse  konnte  bei 
seiner  von  Grund  aus  zum  Herrschen  geborenen,  offenen,  geist- 
reichen und  zur  Klarheit  drängenden  Natur  kaum  anders  ausfallen: 
Sie  musste  sich  auslösen  in  einem  stoischen  Sichzurückziehen  auf 
den  Schwerpunkt  der  eigenen  Persönlichkeit,  in  einem  Sinkenlassen 
der  zu  seiner  Höhe  nicht  berufenen  menschlichen  Beziehungen  und 
menschlichen  Interessengemeinschaften«   Extrem,  wie  überall,  streifte 


F.  A.  Scîiïnîd, 


auch    iu   ihm  das  Daimonioii  des  genialen  Berufes  die  Grenze 

mensehlichen  Goftiblshediirfnissp    und    der   grossp  Abstand  machö 
den  Blick    vuu    oben   herab  geueiçt,  den  Abstand  noch  grösser  li 
sehen,    als  er  Yielleicht  war.     So  lenien  wir  verstehen,  wie  Kaut( 
der   feinsinnig^e  Ethiker,    aSeine    Beziehungen    zu    seinen    nächste 
Verwandten,   in  den  Briefen  an  diese,  kaum  anders  zu  seheu  v^r-' 
mochte,  als  noter  dem  Gesicht  spun  kt  seiner  posthumen  Alimentations- 
lifücht.     Es  drän^   sich  dem  Gefühl  des  Beschauei's  dieser  That- 
sache    fast    nnwillkülich   die  Parallelo   jener  Worte  anf,  die  jeder 
nachdenkliche  Mensch    zuerst    auch    einmal    mit  einem   leisen  Er- 
schrecken   au   sich    hat   vorbeigehen    lassen    müssen,   ehe   er  sie 
recht    verstand:    ,,Wer   ist    meine  Mutter?    Und    wer   sind   meioe 
Brüder?       Und    recket e    die   Hand   aus    über   seine  Jünger,   imd 
sprach:  „Siehe  da,   das  ist  meine  Mutter  und  meine  Brader.**    Es 
klingt   so    einfach   und    birgt   doch    sicher  einen  ganzen  Friedhof 
durchgekämpfter  Lockungen  und  in  der  Stille  begrabener  Neigungen, 
wenn    man    von    einem   grossen  Manne  sagt.:  Er  ist  seinem  hoch- 
gesteckten Ziele    in  jedem  Augenblick   gerecht  geworden.  —  Uüd 
über  Kant  lässt  sich  dieser  Ausspruch,  wie  Ober  wenige  Andere,  thnn 
Kant    hat   seinem  Lebenswerk,  bewusst  oder  unbewusst,  ûî-û 
ganzen,  möglichen  Reichtum  seines  Lebens  geopfert.     Es  war  «or 
billig,  dass  ihm  dafür  seine  Göttin  Wissenschaft  auch  jenen  glück- 
lichen Optimismus  verlieh,   der  iu  der  Jugend  die  Zukunft  geiÄ*iss 
und    im   Alter    den  Geist  jugendlich    erhält.    Die    pessimistische 
Klagen    seiner  l?Veunde    über    die   bösen  Zeitläufe  nach  dem  Tode 
des   grossen  Friedrich    prallen    stets  an  seiner  Zuveracht  auf  deo 
unherambaren  Fortschritt   der  Welt,    an    seinem   Glauben    ao  die 
Unzerstörbiirkeit  seines  eigenen  Werkes  ab.    Sind  die  mit  der  Zeit 
gealterten  Zeitgenossen  nicht  mehr  stark  genug,  um  dem  Ansturm 
der  Reaktion  standzuhalten,  so  w*endet  sich  die  Zukunftsfrendigkeit 
Kants    an   die  Jugend.     Im  Jahre  1786   schreibt  Kant   in   diese» 
Sinne    an  Jacob:     „Ich    hoffe,    es    solle  Sie    künftig  nicht  renen» 
diese  Partey  ergiiffen  zu   haben.  .  .  .  Denn  es  liegt  in  der  Natur 
der  Menschen,  sich  solange  als  möghch  bey  einem  Wahne,  in  dem 
sie  alt  geworden,  zu  vertheidigeu  und  man  kan  nur  von  jungen 
kraftvollen  Männern  erwarten,  dass  sie  sich  davon  los  zu  macheu 
Denkungsfreyheit  uud  Herzhaftigkeit  genug  haben  werden." 
Sein  Briefwechsel  bestätigt   es,   in  wie  ununterbrochenem  Verkehr 
er   bis   zu  seinem   Ende    mit    der  Jugend    bleibt.     Noch    in   den 
letzten    Lebensjahren    nehmen    die   Briefe    von   jungen  Studenten 


Kant  im  Spiegel  seiner  Briefe.  317 

und  an  solche  einen  breiten  Raum  ein.  Und  diese  frische  Jugend- 
lichkeit bewahrt  sich  Kant  auch  in  seinem  wissenschaftlichen 
Arbeiten  bis  zuletzt.  Das  schöne  Zeugnis,  das  ihm  Schiller  darüber 
aasstellte,  als  er  un  September  1797  den  Traktat  „zum  ewigen 
Frieden**  gelesen  hatte,  lautet:  „Es  ist  in  diesem  alten  Herrn 
noch  etwas  so  wahrhaft  jugendliches,  das  man  beinah  ästhetisch 
nennen  möchte.  .  .  ."0  Und  Goethe,  der  Ewigjunge,  fühlte  sich 
angesichts  der  jugendlichen  Energie,  mit  der  Kant  gelegentlich 
seine  Gegner  durch  wuchtigen  Ernst  und  vernichtende  Satire  in 
Grund  und  Boden  zu  kritisieren  imstande  war,  zu  der  bewundernden 
Anerkennung  hingerissen:  „Es  gefällt  mir  an  dem  alten  Manne, 
dass  er  seine  Grundsätze  immer  wiederholen  und  bei  jeder  Ge- 
legenheit auf  denselben  Fleck  schlagen  mag.  .  .  .  Der  ältere, 
theoretische  (Mensch)  muss  niemanden  (seiner  Gegner)  ein  unge- 
schicktes Wort  passieren  lassen.  Wir  wollen  es  künftig  auch  so 
halten.**«) 

Frisch,  nach  „Neuigkeiten**  aller  Art  bis  zuletzt  bei  seinen 
auswärtigen  Freunden  anzufragen  unermüdlich,  von  kindlichem 
Optimismus,  bei  aller  weltweisen  Resignation,  bis  zum  Tode,  eine 
merkwürdige  Mischung  von  Menschenyerächter  und  Menschenfreund, 
beides  aus  tiefer  Menschenkenntnis  heraus  —  so  blieb  sich  Kant 
zeitlebens  selber  treu  auf  seine  Art,  indem  noch  am  letzten  Tage 
seines  Lebens  galt,  was  er  im  Jahre  1767  seinem  Schüler 
J.  J.  Haberkant  ins  Stammbuch  schrieb: 

Homo  sum,  nihil  humani  a  me  alienum  puto. 


3. 
Die  Fülle  des  Materials  zu  einer  genauen  Analyse  des  Kan- 
tischen Grundwesens  auf  grund  der  Briefe  ist  überreich.  Nirgends 
hat  Kant  so  sehr,  direkt  und  indirekt,  seine  innersten  Meinungen, 
seine  Hoffnungen  und  Abneigungen  so  unmittelbar  verraten,  wie 
in  diesen  Briefen,  deren  anscheinende,  kühle  Ruhe  dem  tieferen 
Blick  sehr  rasch  ganz  andere,  warme,  ia  leidenschaftliche  Seelen- 
bilder  gewährt.  Diese  Briefe  sind  ebenso  persönlich  in  ihrer  ge- 
legentlichen, merkwürdig  glatten  Unpersönlichkeit,  wie  sie  an 
charakteristischen  Stellen  den  Ausbruch  einer  allzustark  einge- 
dämmten Menschlichkeit,   oft  plötzlich   und  unerwartet,   mit  sich 

1)  Schiller  an  Goethe,  Jena  d.  22.  Sept.  1797. 
s;  Goethe  an  Schiller,  Weimar  d.  28.  Juli  1798. 


318 


F.  Â.  Schmidt 


führeo.     Das    j»i^<ff^    dya%*    lag    wohl    tief   m   der  innersten  Nati 
Kants;    aber  die  eigentliche  Resignation  auf  die  geistigen  und 
zialen  Zusammenhänge    mit    einer  grösseren  Welt,    als  sie  die  nie 
veiiasseiie  Heimat  darstellte,    wai*  für  Kant  doch  sein  Leben  lang 
ungleich  mehr  ein  Moment  des  inneren  Kampfes  als  das  eines  im- 
gemessenen  Bedürfnisses, 

Hier  und  zum  Schlüsse  möchte  ich  die  Betrachtung,  die  sicL 
au  diesen  Umstand  knüpft,  noch  einmal  aufnehmen.     Kantjs  Brief- 
wechsel spann  sich,  rein  geographisch  genommen,  über  eine  scharf 
begi*euzte    Fläche.      Königsberg,    Ostpreusseii    und    die    baltischen 
Proriuzen    iiu    Norden,    Gottîngen    und    Marburg    im    Süden  und 
Westen,  Leipzig  und  Schlesien   im  Süden  und  Osten  —  damit  ist 
der  Kreis  geschlosseu.     Seiten  genug,    dass  ihn  einmal  ein  verein- 
zeltes Schreiben  aus  Wiirzburg,    Zürich,    Leyden    oder  8t,  Peters-     \ 
bürg   durebbricht      Der   Briefwechsel  Kants    wird    von    solchen     i 
Ausserordentlichkeiten  nicht  biTÜhrt.     Und  die  Männer,  uiit  deoeo 
Kaut    korrespondieit?     Kaut    selbst    hat    einmal    in    einem    seiner 
Briefe  seiue  Zeit  eine  Zeit  der  l*'äulnis,  der  vallkommensten  Selbst- 
auflösung  genannt,  in  der  Witzlinge,  die  ermüdende  Schwatzhaflig- 
keit  der  itzigen  Skribenten  und  ein  geschmackloser  Ton  das  Rejari- 
ment   führen,    welche   im  Begriff  ist,  in  „läppischen  Spielwerkea^J 
zu   ersterben.     Freilich    redet   Kant    hier   nur   von   den  „falsche^B 
Philosophen**    seiner   Zeit,      Aber   anderen    Uuigang,    als   den  mit 
(belehrten    einerseits    und  mit  guten  Bürgern  ohne  alle  Prätensioa 
andererseits»    hat  er  uie  gekannt.     Üb  nie  gesucht?  —  Das  w^i 
ich  nicht,  zu  behaupten. 

Kaut,  den  so  viele  Briefe  erreichten,  in  denen  er  von  seiner 
europäischen  Berühmtheit  lesen  konnte,  hat  seinen  Verkehr  auf 
den  geographischen  Umkreis  des  östlichen  Preussens  nahezu  be- 
schränkt. Kant,  der  Zeitgenosse  Schillers  und  Goethes,  hat  mit 
Lambert j  GaiTe,  Reiuhold  und  Anderen  eine  Zeitlang  als  mit 
Ebenbürtigen  verkehrt,  denn  mit  Herder  hatte  er  sich  bald  gernif 
wissenschaftlich  entzweit.  Kant,  dem  Goethe  noch  in  seinein 
Alter  das  gewichtige  Zeugnis  gab,  dass  er  auch  in  direkt  küust- 
ierischen  Fragen  ästhetischen  Feinsinn  zu  beweisen  vermöge,') 
hat  zeitlebens  als  Paradigmata  poetischer  Vollendung  uicbts 
Anderes,  als  die  Werke  Popes  und  î^ontenelles  in  steter  Bereit- 
schaft gehabt. 


1)  Gespräche  mit  Eckermann  aus  dem  Jahre  1827. 


Kant  im  Spiegel  seiner  Briefe.  319 

Wenn  man  dies  alles  recht  betrachtet,  so  drängt  sich  aufs 
neue  der  deutliche  und  bittere  Zug  von  einer  tiefen,  tragischen 
Ironie,  der  durch  das  ganze  Leben  Kants  geht,  unwidersprechlich 
auf.  Die  Grossen,  mit  denen  der  alternde  Kant  etwa  hätte  leben 
mögen,  Hume  und  Leibniz,  waren  tot.  Der  ihm  unter  den  Dich- 
tem am  nächsten  verwandte  Lessing  gleichfalls.  Die  Blüte  Weimars 
hat  den  einsamen  Philosophen  in  Königsberg,  der  nur  durch  die 
„Kanäle^  höchst  belangloser  Köpfe  eine  nähere  Kunde  von  dem 
Leben  in  der  weiten  Welt  etwas  vernahm,  niemals  berührt.  Die 
in  Deutschland  zur  Zeit  seiner  Jugend  mächtige  Aufklärung  mit 
ihren  Vorzügen,  aber  auch  mit  all  ihren  seichten  Schwächen  war 
längst  dem  Zeitalter  des  Klassizismus  gewichen,  der  Klassizismus 
wieder  von  den  Anfängen  der  Romantik  überwuchert«)  —  :  in 
Königsberg  kamen  und  gingen  die  Briefe  stets  in  dem  gleichen, 
altvaterischen  Tone  eben  jener  Aufklärerzeit,  deren  Todesurteil 
Kant  selbst  doch  mit  so  scharfen  Worten  gesprochen  hatte,  als  er 
das  Zeitulter  der  Witzlinge  und  schwatzhaften  Skribenten  ver- 
achten lernte.  Das  Schicksal  Friedrichs  des  Grossen  wiederholt 
sich  auf  eine  besondere  Weise  an  Kant.  Während  er  in  Deutsch- 
land nichts,  als  ästhetische  Unfähigkeit  erblickt,  gehen  Schiller 
und  Goethe  schon  ihren  höchsten  Zielen  entgegen. 

Die  Ironie  wird  noch  bitterer,  wenn  der  Leser  der  Briefe 
Kants  die  Namen  der  Männer  überdenkt,  denen  Kant  in  ehrlichem 
Anerkennen  und  Bewundern  die  Unsterblichkeit  prophezeit,  währeud 
er  selber  von  seinen  „geringen  Bemühungen''  spricht,  mit  denen 
er  sich  stereotyp  „schmeichelt",  etwas  „nicht  ganz  Belangloses  im 
Felde  der  spekulativen  Wissenschaft"  geleistet  zu  haben.  Wer 
weiss  heute  noch  etwas  von  Christian  Heinrich  Wolke?  Von 
Ludwig  Heinrich  Jakob,  und  Anderen  mehr?  —  Als  ihn  aber  die 
kongeniale  Grösse  seiner  Zeit  streifte,  und  Schiller  den  flüchtigen 
Versuch  machte,  mit  dem  alten  Olympier  in  Königsberg  in  Fühlung 
za  treten,  da  war  es  schon  zu  spät  und  Kant  konnte  für  Schiller 
keine  andere  Anrede  mehr  finden,  als  diese:   „Die  Bekanndtschaft 


^)  Dass  dem  alten  Kant  gar  die  Romantik,  wo  sie  ihm  von  ferne 
zu  begegnen  schien,  eine  gänzlich  unverständliche  Sache  geworden  war, 
darf  ihm  wohl  am  wenigsten  verübelt  werden.  Sein  ehrlicher  WiderwiUe, 
der  sich  in  Ausdrücken  wie  „Gaukeley**  und  „Genieseuche''  Luft  machte, 
ist  ihm  übrigens  von  der  Romantik  mit  Zinsen  vergolten  worden. 
Friedrich  v.  Hardenberg  fand  dafür  die  Formel  von  „Kants  Advokaten- 
geist*^  (vgl  Materialien  zur  Encjklopädie.) 


lehn  id,  Kant  im  Spiegel  aemer  Briefe. 


,,,  mit  einem  Gelehrteo  und   talentvollen  Mann,   me   Sie  ...zu 
ciiUiviren  kann  mir  nicht  aiidei-s  als  sehr  erwünscht  seyn,**  — 

Nicht  einmal  die  Höflichkeit  des  Tones  darf  in  Anschlag  ^ 
bracht  werden.     Denn    höflich  war  Kant  in  seinen  Briefen  immer. 

Es  ist  unnütz,  zu  fragen,  wie  sich  Kant  entwickelt  hätte»  wenn 
ihm  das  Schicksal  den  g:eheimsten  Wnnsch  erfüllt  hätte,  dessen 
Erfüllung,  ihm  unbekannt,  vorübergehend  so  nahe  lag,  und  wenn  es  ihn 
in  eine  lebendige  Beinahrung  mit  der  ^ neuen  Zeit**  in  Deutschland 
gebracht  hätte.  Eüimal,  als  Kant  den  dringenden  Ruf  nach  Halle 
bekam,  stand  er  dieser  Erfüllung  vermutlich  sehr  nahe.  Er  schlug 
den  Ruf  aus.  Der  Grund  war  auch  hier  das  schon  mächtig  ge- 
steigerte Ruhebedürfnis.  Das  Insichselbstvei^enken  seines  Genies 
schlüss  ihm  das  Thor  zu  einer  Welt,  nach  der  sich  der  jimgt*re 
Kant  und  der  Mensch  auch  im  alternden  Kant  sehnte  und  wies 
ihn  auf  sein  Seihst  zurück,  —  üb  ihn  eine  Freundschaft  mit 
Schiller  oder  mit  Goethe  aus  seiner  Bahn  gedrängt  hätte,  als  er 
selber  noch  jung,  elegant  und  weltfroh  war? 

Jedenfalls  hat  ihn  sein  Genie  so  geführt,  dass  er  durch  Eia- 
samkeit,  Unvei-staudenheit  und  Selbstbeschränkung  gezwungeu 
war,  in  die  eigenen  Tiefen  zu  steigen.  Mit  einer  wunderbarea 
Gefasstheit  schickte  sich  der  Mensch  Kant  in  den  Drang  seinet; 
Schicksals,  in  dem  ihm  nicht  Goethes  sonnig  verklärte  Spruch- 
Weisheit,  sondern  ein  scholastischer,  gymnasialer  Extemporahéo- 
Dichter  aus  der  römisclien  Zeit  das  Motto  leihen  nuisste,  uul^r" 
dem  er  sich  selber,  den  Sinn  seines  Daseins  und  seine  eigenas 
Grösse  verstand; 

Quüd  petis  in  te  est  —  Ne  te  quaesiveris  exti-a, 

(Persius.) 


I 

4 

( 


Knuts  Wfihiihsius  in  Krxiigsberg. 


^it  ^«»«hmifranf  tod  J.  J.  Weber  in  L«ipai|r. 


KAntttudlea  Bd,  IX. 


Die  Neue  Kant-Ausgabe  und  ihr  erster  Bani 

Von    Dr   Ernst  v.  Aster  in  Berlin, 


Nachdem   ein  von  Nicolovins,  dem  Verleger  Kants  in  seinen  letzten 
Irebensjahren^   geplantes  Unternehmen   nicht   zitr  Ausführung   gekommen 
War,  erschien  die  erste  Ausgabe  der  gesammelten  Werke  Kants^  die  erste 
Hartenstein  sehe  Ausgabe,   im  Jahre  1838;   ihr  folgte  fast  uninittelbar  die 
Zweite  Gesamtausgabe,    in  Königsberg  von  Rosenkranz  und  Schubert  ver- 
Anstaltet^   die  noch  in  demselben  Jahr  183Ö  begonnen,  4  Jahre  später  zum 
Abschluâs    gelangte.    Beide  Ausgaben   beschränken   sich  im  Wesentlichen 
auf  die  gedruckten  Schriften.    Von  einer  Verwertung  des  handschriftlichen 
Nftehlasses  kann^  von  dem  Wenigen  abgesehen,  das  Schubert  dem  Druck 
zugänglich   machte,   noch   keine  Rede   sein;   von    den   mit   abgedruckten 
Briefen   war  der  Brief«^echsel   mit  Lambert   schon    fräher  herausgegeben 
TTorden,    während    die   Veröffentlichung   der   Briefe    an   Marcus  Herz   ein 
Verdienst   der  Künigsherger  Ausgabe   ist,    im  tïhrigen   ist  auch   Mer  die 
Ausbeute  gering.    Aber  auch  die  Wiedergabe  der  gedruckten  Schriften  ist 
keine   absolut  vollstÄrtdige,    Auf  die  Herstellung  des  Textes  ist  zweifellos 
sehr  viel  mehr  Mühe  verwendet,  als  in  den  oft  mit  geringer  Grtlndlichkeit 
hergestellten  Außgaben  der  kleineren  Schriften  Kants,  deren  in  den  voranf- 
gehenden  Jahren  eine  ganze  Reihe  erschienen  war,  aber  das  Resultat  ist 
keineswegs  einwandfrei.     Endlich  fehlt  bei  beiden  die  historische  Anord- 
nimg  der  Schriften  --  wohl   ein   Zeichen   dafür,   dass   es   nicht   in   erster 
Linie  das  historische  Interesse,  das  Interesse  an  der  Entwicklungsgeschichte 
der   kritischen  Philosophie  seibat  war,  das  die  Herausgeber  mit  Kant  ver- 
knüpfte. 

Ein  wesenthch  andres  Bild  zeigt  dann  die  schon  aus  der  zweiten 
Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderte,  ans  den  Jahren  1867/68,  stammende  zweite 
Hartensteinsche  Ausgabe.  Inhaltlich  ist  die  Ausgabe  zwar  nur  in  Bezug 
auf  die  Sammlung  der  Schriften  selbst  bereichert  worden  ^  ich  erinnere 
an  die  erste  Abhandlimg  über  das  Erdbeben  von  Lissabon  —,  wälirend 
weder  die  Mitteilungen  aus  dem  Nachlass,  noch  die  Briefe  von  Hartenstein 
vermehrt  worden  sind*  Aber  vor  allen  Dingen  ist  der  Text  der  einzelnen 
Schriften  sorgfältiger  behandelt  und  zunächst  mit  Rücksicht  auf  die  Ori- 
ginaldmcke  festgestellt.  Dazu  ist  zum  ersten  Mal  eine  streng  chronologische 
Ordnung  aller  Schriften  durchgeführt. 

Kaatat«<Un  IX.  21 


322 


E.  V.  Aster, 


rd- 


Nach  dem  Âbschluss  der  HartensteînBchen  Gesamtausgabe,  die  all 
solche  zweifellos  vorderhand  den  ersten  Platz  behauptete  ^  hat  dann 
dem  Wachsen  des  historischen  Interesses  an  der  Kautischen  Philosophil 
und  ihrer  Entwicklung  die  Hinterlassenschaft  Kants  immer  lebhafter 
Philosophie  der  Gegenwart  beschîiftigt.  Abgesehen  von  den  verschiede: 
liehen  Sondereditionen  einzelner  Schriften  und  der  durch  sie  bedingten 
nenten  Textrevisionen  %vnrde  naraentlich  der  ungedmckte  Nachlass  in  An-' 
griff  genommen.  I'm  nur  die  wichtigsten  Ergehnisse  dieser  Arbeit  zu 
nennen,  erinnere  ich  an  die  Heranjsgabe  der  .Reflexionen**  durch  B.  Erd 
mann  1882,  der  ,Josen  Blätter"  durch  Reicke  18^9  und  9ô,  des  Briefwecb( 
mit  Beck  durch  Reicke  (Ô5)  und  Dilthey  (89) ;  an  die  Bearbeitung  der  V( 
lesungen  durch  Heiiize  und  an  die  teilweise  VerilffentLichung  des  bekannt 
Manuskripts^  das  die  metaphysischen  Anfangsgründe  der  Naturwissenachj 
bis  zum  Anscliluss  an  die  empirische  Physik  vervolktändigen  sollte. 

So  hat  sich  die  Arbeit  an  der  Sichtung  und  Sammlung,  an  der  exakten 
Herstellung  dea  Kantischen  Lebenswerks  schliesslich  über  ein  volles  Jah^ 
hundert  erstreckt.  Und  je  tiefer  die  einzelnen  Arbeiten  drangen,  je  mekr 
ate  vor  allen  Dingen  über  das  Material  der  gt^druckten  Schriften  hinaus- 
gingen, desto  mehr  musst«  sich  die  Notwendigkeit  einer  einheitlichen  end- 
gütigen  Überarbeit  ung^  einer  Zusammenfassung  des  bisher  Erarbeiteten  in 
quantitativer  und  qualitativer  Beziehung,  kurz  die  Notwendigkeit  einer 
Gesamtausgabe  im  umfassenden  uivd  abschliessenden  Sinn  des  Wortes 
geltend  machen.  Dass  die  bisherigen  Gesamtausgaben  sich  von  diescia 
Ideal  sehr  weit  entfernten,  ist  ohne  Weiteres  klar  —  ebenso  aber  auch, 
dass  ein  solches  die  Arbeit  eines  Jahrhundert«  umfassendes  and  zum  Ab-, 
schluss  bringendes  Werk  überhaupt  nicht  die  Aufgabe  eines  EinEelnen  S( 
konnte.  Um  so  erfreulicher  ist  es,  dass  der  Plan  dieser  Ge^umtausgabe 
dem  Kopfe  eines  Mannes  entstand,  der  zugleich  imstande  war,  seine  Ai 
filhrung  in  dem  notwendigen  Massstabe  zu  sichern.  Durch  seinen  Nanii 
und  sein  perstinliches  Eintreten  hat  W.  Dilthey  die  wissenschaftli( 
dadnrch  dass  er  es  verstand,  die  Berliner  Akademie  der  Wissenschafl 
für  den  Pku  zu  interessieren,  die  materielle  Durchführung  des  Unternehme 
ermöglicht. 

So  stehen  wir  denn  heute,  100  Jahre  nach  dem  Tode  Kants,  mil 
in  den  Arbeiten  an  der  neuen  Ausgabe  der  „gesammelten  Schriften  Kani 
von  der  wir  angesichts  des  Stils,  in  dem  sie  betrieben  wird  und  der  Mit 
die  ihr  zu  Gebote  stehen,  in  der  That  erwarten  dürfen,  dass  sie  die  kantpl 
lologifiche  Arbeit  im  engern  Sinn  zum  Absclüuss  bringt.    Denn  der  Zw* 
der  Ausgabe  ist   die    „chronologisch    geordnete   und    vollständi 
Darbietung*  des  ganzen  Materials  kantischer  Gedankenarbeit 
die   Verwandlung   seines    Lebenswerks    in    ein    unzerstörbares    geial 
Kapital. 

Dass  eine  solche  Aufgabe  in  misrer  Zeit  mit  Aussicht  auf  Erfolg 
gestellt  und  in  diesem  MassstAbe  in  Angriff  genommen  werden  konnte,  ist 
von  vom  herein  nur  dadnrch  möglich  gewesen,  dass  die  philosopliiscbe  Be- 
wegung nnsrer  Tage  in  vielfacher  Beziehung  im  Zeichen  der  Kantischen 
Gedanken  steht,  dass  die  Frage  nach  dem  Sinn,  dem  Wesen,  der  Wahrheit 
dieser  Gedanken  einem  Interesse  von  so  staunenswerter  Allgemeinheit  und 


É 


Die  Neue  Kant-Ausgabe  und  ihr  erster  Band.  323 

Intensität  begegnen.  Es  ist  ja  kein  Zweifel,  dass  diese  ganze  neue  kan- 
tische Bewegung  —  das  Wort  im  weitesten  Sinn  genommen  —  aus  der 
Behandlung  sachlicher,  nicht  historischer  Probleme  entstanden  ist,  ent- 
standen ist  aus  dem  Bedürfnis,  gegenüber  materialistischem  Dogmatismus, 
metaphysischer  Unklarheit  und  utilitarischer  Pseudoraoral  einen  Führer 
zu  kritischer  Klarheit  und  Tiefe  zu  gewinnen.  Aber  die  sachlichen  Prob- 
leme führten  hinüber  zu  den  Fragen  der  Interpretation  Kantischer  Lehren 
and  diese  wiederum  weckten  das  Bedürfnis  nach  einer  exakten  Feststellung 
und  Sicherung  des  zu  Grunde  liegenden  Textes.  So  musste  der  Plan  dieser 
neuen  Gesamtausgabe  allenthalben  Teilnahme  wecken  und  Mitarbeiter 
heranziehen.  Indem  aber  diese  neukantische  Forschung  sich  und  den  ihr 
zu  Gebote  stehenden  wissenschaftlichen  Apparat  in  den  Dienst  jenes  Unter- 
nehmens stellte,  hat  sie  schliesslich  sehr  viel  mehr  geschaffen,  als  einen 
blossen  Ausgangspunkt,  eine  objektive  Grundlage  für  die  Interpretations- 
fragen und  -Streitigkeiten  der  Gegenwart,  nämlich  einen  wichtigen  Beitrag 
zur  Geschichte  des  deutschen  Geisteslebens  überhaupt,  der  als  solcher 
Wert  und  Bedeutung  behalten  wird  auf  unabsehbare  Zeiten  hinaus. 

Dass  die  Zeit  für  das  Unternehmen  eine  günstig  gewählte  war, 
zeigen  Zahl  und  Namen  der  Herausgeber.  Sehen  wir  von  den  weiter  unten 
von  uns  aufgezählten  Mitgliedern  der  eigentlichen  Kant-Kommission  der 
Akademie  der  Wissenschaften  ab,  so  werden  unter  den  Herausgebern  der 
einzelnen  Schriften  16  Namen  aufgeführt,  unter  ihnen  eine  ganze  Anzahl 
solcher,  die  in  der  philosophisch-historischen  Wissenschaft  mit  grosser 
Achtung  genannt  werden.  Nicht  zuletzt  gehören  zu  ihnen  auch  Männer, 
wie  Rudolf  Beicke,  für  die  die  Beschäftigung  mit  Kant  Lebensarbeit  und 
Lebensaufgabe  geworden  ist.  Aber  die  Genannten  sind  nicht  die  Einzigen 
gewesen,  die  dem  Unternehmen  ihre  Unterstützung  gewährt  haben:  Die 
Herausgeber  waren  in  hohem  Masse  angewiesen  auf  die  Hilfe  von  Privat- 
personen und  Bibliotheken,  von  Besitzern  von  Briefen  Kants,  von  Hand- 
schriften, Originaldrucken  und  Vorlesungsheften  und  dergl.  Auch  hier 
würde  ohne  die  Zauberkraft  des  Kantischen  Namens  das  Werk  nicht  das 
dankenswerte  allgemeine  Entgegenkommen  gefunden  haben. 

Aber  die  Zeit  war  nicht  nur  günstig,  es  war  auch  dringend  not- 
wendig, sie  zu  benutzen,  wenn  man  hoffen  wollte,  das  noch  vorhandene 
Material  einigermassen  vollständig  zusammenzubringen  und  zu  verwerten. 
Denn  gerade  bei  Kant  begegnet  der  Herausgeber  in  dieser  Hinsicht 
Schwierigkeiten,  wie  bei  wenigen  deutschen  Schriftstellern.  Ich  eitlere 
das  gleich  zu  erwähnende  Diltheysche  Vorwort:  „Über  seinem  Nachlass 
waltete  ein  unglückliches  Schicksal.  Mit  welcher  Pietät  ist  der  von  Goethe 
und  von  Leibniz  erhalten  worden  und  wie  unvollständig  sind  dagegen 
Kants  Handschriften  auf  uns  gekommen!  Als  er  starb,  waren  wahr- 
scheinlich die  seinen  Schülern  übergebenen  Papiere  nicht  wieder  in  seiner 
Hand.  Und  auch  was  nach  seinem  Tode  sich  in  seinem  Nachlass  befand, 
ist  allmählich  immer  mehr  zerstreut  worden.  So  ist  das  von  seinen  Hand- 
schriften noch  Erhaltene  in  verschiedenem  Besitz,  und  einzelne  der  losen 
Blfttter  und  der  Briefe  treten  bald  hier  bald  dort  auf,  so  dass  trotz  sorgfäl- 
tigster Nachforschung  auch  die|gegenwärtige  Ausgabe  nicht  hoffen  kann,  das 
Ehrhaltene  vollständig  zu  bieten.    Diese  Thatsachen  sprechen  deutlich  genug 

21* 


324 


E.  V.  Aster, 


Sie  erweisen f  wie  notwendig  eine  Gesamt^nsgabe  Kants  war  —  und  fu- 
gleich  lassen  sie  die  aussergewöhnlichen  Schwierigkeiten  gewahren,  welche 
eine  ausreichende  Lösung  dieser  Aufgabe  so  lange  verzögert  haben.*  Mui 
wird  sagen  dürfen,  dasa  bei  diesen  Schwierigkeiten  tmd  Hindernissen  der 
Erfolg  »  soweit  er  in  den  3  Bänden  des  Briefwechsels  schon  vorliegt,  eijj 
sehr  gtnstiger  ist*  Unsere  Kenntnis  ist  um  wichtige  und  intéressante  Stücke 
vermehrt  worden  ujid  der  Veröffentlichung  des  handschriftlichen  Nach- 
lasses durch  Adickes  dürfen  wir  wohl  mit  denselben  Erw^artongen  ent- 
gegensehen, m 
Was  nun  die  Umstände  angeht,  denen  wir  trotz  aller  Schwierigkeiteir' 
das  Zustandekommen  des  Werkes  schliesslich  zu  verdanken  haben,  so  habe 
ich  auf  die  günstigen  Zeitverhältnisae  schon  hingewiesen.  Die  Einsicht 
in  die  gilnstige  Lage  dieser  Umstände  nicht  minder  wie  ihre  nutzbringende 
Verwertung  aber  verdanken  wir  Dilthey,  ohne  dessen  Initiative  die  Aqb- 
gäbe  in  der  That  nicht  zu  Stande  gekommen  wäre.  Dass  der  Plan  dtt^ 
ganzen  Unternehmens  von  ihm  stammt,  habe  ich  schon  erwähnt.  Sein 
Ausführung  zu  beschleunigen  wurde  er,  \\ie  er  selbst  mitteilt,  ver 
durch  die  Erfahrungen,  die  er  in  der  Beschäftigung  mit  den  Handschriftö 
deutscher  Schriftsteller  gesammelt  hatte^  und  der  dadurch  gewonnenen 
Einsicht  in  die  Leichtigkeit,  mit  der  ein  solches  ungeordnetes  Material 
der  Zerstörung  oder  gänzlichen  Zerstreuung  unterliegt.  Die  Arbeit  wurde 
dalier  auf  seine  Veranlassung  hin  begonnen  mit  einer  Enquete,  durch  die 
zunächst  festgestellt  werden  sollte,  was  überhaupt  an  verwertbarem  Mate- 
rial,  an  Handschriften,  Vorlesungsheften  und  dergl,  vorhanden  war.  Indem 
aber  dieses  Material  in  der  Hand  der  Kommission  vereinigt  wurde,  sollte 
es  zugleich  benutzt  werden,  um  aus  den  „Veränderungen  der  Handschrift, 
aus  andern  äussern  Merkmalen,  wie  aus  inhaltlichen  Übereinstimmung 
und  Unterschieden  die  chronologische  Bestimmung  derselben  berbeizufüb 
und  die  inneren  Beziehungen  zwischen  Werken,  Handschriften  und 
lesuügen  aufzuklären"* 

Der  äussere  Entwickelungsgang  der  Angelegenheiten  ist  bekannt 
Im  Jahre  1893  legte  Düthey  der  Akademie  und  dem  Unterrichtsministeriu 
den  Plan  mit  der  zugehörigen  Begründung  vor;  1Ô94  wurde  auf  Antr 
von  Zeller  und  DÜthey  von  der  Akademie  der  Beschluss  gefasst,  die  Ausgabe 
zu  veranstalten  und  zugleich  die  Kommission  eingesetzt,  die  die  Leitung 
in  die  Hand  nehmen  sollte,  Vorsitzender  wurde  Düthey,  ihre  Mitglieder 
dnd  jetzt,  nach  dem  Ausscheiden  von  ZeEer,  Mommsen  und  Weinhold  noch 
Diels,  Heinze,  Erich  Schmidt,  Stumpf  und  Vahlen,  als  Sekretär  fungiert 
Menzer.  Der  Fortgang  der  Arbeiten  wurde  durch  regelmässige  Berichte 
seitens  der  Kommission  bekannt  gegeben,  die  auch  den  Lesern  der  „Kanfe 
Studien"  jeweils  zur  Kenntnis  gebracht  worden  sind. 

Von  der  Ausgabe  ist  in  den  Jahren  1900  und  1902  der  von  Rcic 
herausgegebene   Briefweclisel  Kants,  Band  X  bis  XII  füllend,  volkt 
erschienen.     Er   hat  im  V.,   VI.   und  VIII.   Bande   der  ^ Kantstudien'*  eine" 
ausführliche  Würdigung  erfahren»     Heute  liegt,  der  1.  Band  der  Ausgabe 
vor.    Er  enthält  sachlich   den   1.    Teil   der   vorkritischen  Schriften 
(1740—1756);  ausserdem  aber  ein  Vorwort  zu  dem  ganzen  Werk  aus 
Feder  Diltheys,   eine   allgemein   orientierende    „Einleitung  in  die  AI 


Die  Nene  Kant-Ausgabe  and  ihr  erster  Band.  325 

teilnng  der  Werke^,  endlich  die  Anmerkungen  der  einzelnen  Her- 
ausgeber zu  den  Schriften  dieses  1 .  Bandes  und  die  nötigen  Bemerkungen 
über  ihre  Eigenart  in  philologischer  Beziehung,  verfasst  von  dem  germa- 
nistischen Mitarbeiter  der  Kommission,  Dr.  Frey.  Durch  das  Vorwort 
Diltheys  und  die  erwähnte  Einleitung  erhalten  wir  genauer,  als  es  bisher 
möglich  war,  einen  Überblick  über  die  Anlage  und  die  Ziele  des  Ganzen, 
durch  die  Anmerkungen  (Band  XIII,  der  die  Anmerkungen  Reickes  zu  den 
Briefen  bringen  soll,  steht  noch  aus)  und  die  philologischen  Berichte  einen 
Einblick  in  die  Arbeitsweise  und  den  Weg,  den  die  Herausgeber  einge- 
schlagen haben.  Über  Beides  wird  an  dieser  Stelle  Einiges  zu  sagen  sein, 
wenn  auch  das  Wichtigste  schon  von  Vaihinger  anlässlich  des  Erscheinens 
des  1.  Bandes  vom  Briefwechsel  hervorgehoben  und  besprochen  worden 
ist.    (Kantstudien,  V,  73  ff.) 

Die  Ausgabe,  deren  Umfang  auf  22  bis  25  Bände  geschätzt  ist,  glie- 
dert sich  bekanntlich  in  4  Abteilungen.  Die  erste  derselben  soll  die 
Werke  Kants  enthalten,  die  Band  I  bis  IX  füllen  werden.  Leiter  dieser 
Abteilung  ist  Dilthey,  als  Mitarbeiter  werden  genannt:  Erich  Adickes, 
Benno  Erdmann,  Paul  Gedan,  Max  Heinze,  Alois  Höfler,  Karl  Kehrbach, 
Oswald  Külpe,  Kurd  Lasswitz,  Heinrich  Maier,  Paul  Menzer,  Paul  Natorp, 
Johannes  Bahts,  Rudolf  Stammler,  Wilhelm  Windelband.  —  Die  zweite 
Abteilung  wird  vom  Briefwechsel  eingenommen,  welchen  Reicke  be- 
sorgt, die  dritte  umfasst  den  von  Adickes  herausgegebenen  hand- 
schriftlichen Nachlass.  Die  vierte  endlich  soll  den  aus  erhaltenen 
Nachschriften  hergestellten  Text  der  Vorlesungen  Kants  bringen.  Ihr 
Leiter  ist  Heinze,  Mitarbeiter  sind  Gedan,  Heinze,  Külpe,  Menzer  und 
Stammler. 

Bezüglich  der  Abgrenzung  der  Abteilungen  gegen  einander  sind  be- 
stimmte Grundsätze  befolgt  worden,  die  Dilthey  in  seinem  Vorwort  mit- 
teilt. In  die  Abteilung  der  Werke,  die  uns  hier  vor  allem  beschäftigt, 
sind  alle  wissenschaftlichen  Arbeiten  Kants  aufgenommen,  „von  den 
kleinsten  Joumalartikeln  und  den  Beiträgen  zu  Schriften  Anderer  bis  zu 
den  grossen  Werken^,  die  von  ihm  selbst  oder  in  seinem  ausdrücklichen 
Auftrag  zum  Druck  befördert  sind.  Ausgeschlossen  bleiben  nach  diesem 
Princip  einmal  Veröffentlichungen  Kants  nichtwissenschaftlichen  Inhalts, 
also  öffentliche  Erklärungen  und  dergl.  Sie  findet  der  Leser,  soweit  sie 
überhaupt  aufgenommen  sind,  im  Schlussband  des  Briefwechsels,  dem  schon 
erschienenen  Band  XH  der  Ausgabe.  Zweitens  finden  in  die  Abteilung 
der  Werke  keine  Aufnahme  Aufsätze  wissenschaftlichen  Inhalts,  die  nicht 
▼on  Kant  ausdrücklich  zur  Veröffentlichung  bestimmt  worden  sind.  Was 
an  solchen  gefunden  wurde,  ist  alles  der  Abteilung  des  schriftlichen  Nach- 
lasses überwiesen  worden.  Von  den  hierher  gehörigen  Arbeiten  Kants 
werden  von  Dilthey  namentlich  die  Vorreden  zur  „Religion  innerhalb  der 
Grenzen  der  reinen  Vernunft'  und  die  Einleitung  zur  Kritik  der  Urteils- 
kraft, deren  Manuscript  vor  einigen  Jahren  in  Rostock  aufgefunden  ist, 
genannt.  So  nahe  diese  Arbeiten  formell  und  inhaltlich  den  Werken  stehen, 
so  sind  sie  doch  aus  diesem  Zusammenhang  weggelassen  worden,  weil 
ihnen  die  letzte  Entschliessung  Kants  mangelt,  sie  zum  Druck  zu 
bringen. 


E.  V.  Aster, 


Vor   die  schwierigste  Aufgabe  ist  die  Leitung  der  Aufgabe  in  ge- 
wisser Weise  mit  der  4.  Abteilung  gestallt  worden.     Kant    hatte  sich  be- 
kanntlich  noch   selbst  entschlossen,   einzelne  seiner  Vorlesan^eu  heraaszn- 
geben.    Die  Anthropologie  hat  er  1798  noch  selbst  veröffentlic!it,  die  Vor- 
lesungen über  Logik,   physische    Geographie    und    Pädagogik    aber  seiDea 
Schülern  Jââche   and  Rink   zur   Bearbeitung   übergeben.     Sie   erschieotjn 
noch  zu  Kants  Lebzeiten,   in   den  Jahren    1800   bis  1803.     Da   diese  Vor- 
lesungen in  KantÄ  ausdrücklichem  Auftrag   veröffentlicht  sind,   so  sind  sie 
gemäss   dem    obigen    Priucip    in    die   Abteikiug   der  Werke    übeniomniei» 
worden,    wie    sie   auch   in    allen     bisherigen    Gesamtausgaben    enthaltet*- 
waren;  mit  der  4.  Abteilung   haben  sie  also  nichts  zn  tun.     Wa«  hier  ge— - 
boten   wird,     ist    das    Ergebnis    einer    zusammenfassenden     Über- 
arbeitung   von    Nachschriften    aus    den     Vorlesungen    Kants^ 
die   erfreulicherweise   in  grösserer  Anzahl   in   die  Hände  der  Kommission- 
gelangt  sind.    Dabei  erstreckt  sich  die  Arbeit  der  Herau.sgeber  auf  alle  er- 
reichbaren Vorlesungen^  auch  auf  diejenigen  Disciplinen,   die  schon  in  dej 
Bearbeitung  von  Jftsche  und  Rink  vorliegen» 

NatfirUch    liegt   die   Frage   nahe,   ob   ein   so    erarbeitetes   Bild  dei 
Vorlesungen   denn   noch    als   ein    integrierender  Bestandteil  der  Schriften 
Kants  ange-«ehen  werden  kann.     Die  Veröffentlichung  seiner  Vorlesungen 
lag  ja  zweifellos  in  der  Absicht  Kants,  er  musste  sie  wtinschen,  schon 
den  systematischen  Abschluss  und  Zusammenhang  seiner  Gedanken  w^eiterei 
Kreisen  zugänglich  zu  machen.     Das  zu  seinen  Lebzeiten  Herausgekommeni 
aber  konnte  dieser  Absiclit  nicht  genügen,  da  Jäsche  und  Rink  ihrer  Aufgab 
nicht  gewachsen  waren.     Insofern    kann   die  Herausgabe  der  4.  Abt^ilunj 
in  der  That^  wie  Dilthey  es  ausdrückt,  dazu  dienen,  ^eine  Intention  Kantj 
vollständiger  zu  verwirklichen,   als  ea  unter  den  Umständen  seiner  letztei 
Leben^ahre  möglich  gewesen  ist,"     Indexen  liegen   die   Schwierigkeiten 
die  dieser  Verwirklichnug  heute  entgegenstehen,   auf  der   Hand,     Einma 
ist  das  gesprochene  Wort  Kants   von   vom   herein    für   uns  nur   in    eineiBc: 
Form   vorhanden,   die   ihm   die   Auffassung   Anderer   gegeben   hat     Unc^ 
zweitens  ist  das  Ergebnis  des  Ganzen,   wie  es  in  den  letzten  Bänden  de^^c" 
Anagabe  niedergelegt  sein  soü,  notwendigerweise  sehr  viel  mehr  von  dent:^*^ 
persönlichen  Urteil  und  der  Auffassung  der  Herausgeber  abhängig,  als  iw.m. 
einer  der  früheren  Abteilungen*    Aus  den  verschiedenen  Kollegheften  solJ 
etwa  mit  Zuhilfenalime  handschriftlicher  Notizen  Kants  natürlich  ein  m&^ — 
liehst  einheitliches  Bild   des  Inhalts  jener  Vorlesungen  entworfen  werde»  — 
Dabei  muss  auf  jeden  Fall  unter  dem  Gegebenen   eine  Auswald  getroffeim  ^ 
das  dem  Geiste  Kants  nicht  Entsrprechende  möglichst  ausge8chi«?den  werdeim  - 
Wie  weit  sonstige  Verändenmgen  sich  als  nötig   erweisen,    lässt  sich  vo«3 
vom  herein  nicht  tibersehen.     Bei    alledem    aber  wird    es  unmöglich  sein» 
den  Fragen  nach  dem  Sinn,  dem  Inhalt,  kurz  der  Interpretation  der  Kant^ 
ischen  Philosophie  gegenüber  eine  so  neutrale  Stellung  einzunehmen,   wie 
es  die  Herausgeber  der  Werke  oder  des  Briefwechsels  thun  können.    Die 
Schwierigkeiten  werden  durch  den  ITmstand  vermehrt,  dass  die  Vorlesungen 
Kants  sich  fast  über  den  eranzen  Zeitraum  seiner  wisse nschaftli eben  Thätig^ 
keit   erstrecken    und   daher    alle    Wandlungen    seines    Standpunkts   mehr 


Die  Neue  Kant-Ausgabe  und  ihr  erster  Band.  327 

oder  minder  wiederspiegeln.    Eine  genaue  Zeitbestimmung  der  aufgefun- 
denen Nachschriften  wird  dadurch  notwendig. 

Trotz  solcher  MissstHnde  und  Bedenken  hat  man  sich  entschlossen, 
die  schwierige  Aufgabe  zu  unternehmen  und  das  Ergebnis  der  Kantaus- 
gabe einzuverleiben.  Der  Grund  mag  zum  Teil  die  Überlegung  gewesen 
sein,  dass  eine  so  günstige  Gelegenheit,  eine  grössere  Anzahl  von  Nach- 
schriften zusammenzubringen,  kaum  einmal  wiederkehrt.  Ausschlaggebend 
aber  ist  nach  den  Ausführungen  Diltheys  jedenfalls  die  Bücksicht  auf  den 
sehr  bedeutenden  Wert  gewesen,  den  die  Kenntnis  der  Vorlesungen  in 
jedem  Fall  für  das  volle  Verständnis  der  Lebensarbeit  Kants  besitzen 
muss.  Abgesehen  davon,  dass  uns  die  Persönlichkeit  des  Philosophen  durch 
den  Einblick  in  seine  Lehrtliätigkeit  in  grössere  Nähe  gerückt  wird,  macht 
Dilthey  hier  auf  zwei  Punkte  aufmerksam.  Einmal  gewinnt  das  Studium 
der  Entwickelungsgeschichte  Kants  durch  die  Vorlesungen  eine 
breitere  Grundlage  —  inwiefern,  das  brauche  ich  nach  dem  oben  Gesagten 
nicht  näher  auszuführen.  Dabei  ist  natürlich  der  Umstand  in  Rechnung 
zu  setzen,  dass  der  Standpunkt  einer  solchen  Vorlesung  nicht  notwendig 
mit  dem  gleichzeitig  in  innerer  Gedankenarbeit  erreichten  zusammenfallen 
muss.  Und  zweitens  sollen  die  Vorlesungen  dienen,  „die  Druckschriften 
Kants  zum  Zusammenhang  seines  Systems  zu  ergänzen.^  Was 
diesen  letzten  wichtigsten  Punkt  angeht,  so  scheint  aus  Diltheys  Worten 
hervorzugehen,  dass  hier  die  Arbeit  der  Herausgeber  in  der  That  nicht 
vergeblich  gewesen  ist.  —  In  Bezug  auf  das  Vorgehen  der  Herausgeber 
der  Vorlesungen  im  Einzelnen  und  die  bei  der  Überarbeitung  der  Hefte 
im  Allgemeinen  befolgten  Grundsätze  und  Gesichtspunkte  wird  eine  „Ein- 
leitung^ von  dem  Leiter  der  4.  Abteilung,  Heinze,  in  Aussicht  gestellt. 


Ich  gehe  über  zur  Einrichtung  der  Abteilung  der  Werke,  die  uns 
ja  hier,  da  sie  durch  den  1,  Band  eröffnet  wird,  im  Besondren  beschäftigen 
muss.  Wie  die  erwähnte  Einleitung  am  Schluss  des  Bandes  erkennen  lässt, 
sind  die  einzelnen  Schriften  auf  die  angesetzten  9  Bände  in  folgender 
Weise  verteilt: 

Bd.         L  Vorkritische  Schriften  I.     1747—1766. 
Bd.       n.  Vorkritische  Schriften  II.    1767—1777. 
Bd.      ni.  Kritik  der  reinen  Vernunft  1787.    (2.  Aufl.) 
Bd.      IV.  Kritik  der  reinen  Vernunft  (1.  Aufl.  bis:  Von  den  Paralogismen 
der  reinen  Vernunft  incl.)  1781. 

Prolegomena  1783. 

Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  1785. 

Metaphysische  Anfangsgründe  der  Naturwissenscliaft.    1786. 
Bd.       V.  Kritik  der  praktischen  Vernunft.    1788. 

Kritik  der  Urteilskraft.    1790. 
Bd.      VI.  Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft.    1793. 

Die  Metaphysik  der  Sitten.    1797. 
Bd.    VU  Der  Streit  der  Fakultäten.    1798. 

Anthropologie  in  progmatischer  Hinsicht.    1798. 
Bd.  VUL  Abhandlungen  nach  1781. 


E.  T.  Aster, 


Bd.     IX.  Vorlesiingen  über  Logik.    1800. 
Physisebe  Geographie.  1802. 
Fidago^k.    1803. 

Wie  man  sieht,  ist   —   mit  einer  Aufnahme    —   die   chronologiack 
Eeihenfolge  der  Schriften  beibehalten.     Da   dieselbe  aocb  für  die  Anord- 
nung der  vorkritischen  Schriften  in  den  beiden  ersten  Banden  massgebend 
ist,  so  wird  die  Ausgabe  nicht  umhin  können,  acu  einigen  noch  immer  nicht 
ganz  erledigten  Streitfragen  Stellung  zu  nehmen  —  ich  denke  «pecieU  in 
die  Reihenfolge  der  kleinen  Schriften  Kants  aus  den  Jahren   1763  64^    Es 
ist  kaum  zu   bezweifeln,   dass   wir   auch   in  dieser  Hinsicht  von   dem  Er- 
scheinen des  n.   Bandes   endgiltige  Klarheit   erhoffen   dürfen.     Aujs  prak- 
tischen Granden  ist  man  von  der  chronologischen  Anordnung  insofern  ab- 
gewichen, als  die  kleineren  Abhandlungen  Kants,  die  nach  der  I.  Auflage 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft  erschienen  sind,  von  den  kritischen  Haupt- 
werken  getrennt  und  in  einem  besondren  Band^  dem  achten  der  Ausgabe- 
vereinigt  sind.     In  Bezug  auf  eben  diesen  Band  ist  zu  bemerken,  dass  di& 
beiden  wenige  Seiten  umfassenden  Aufsätze,  die  unter  dem  Titel  „Über  die 
Schwärmerei  und   die   Mittel    dagegen**   und   ^Zu  Sömmering.      Über  da» 
Organ  der  Seele"  in    den  bisherigen  Gesamtausgaben  zu  den   Werken  ge- 
stellt wurden,  ihrem  Ursprung  gemäss  unter  die  Briefe  aufgenommen  sind* 
(Vergl.    im  XI,   Band   der  Ausgabe  S,  138  ff.  den  Brief  an  Borowski  und. 
Band  XII,  S.  31  ff.  den  Brief  an  Sömmering,  bezw.  die  ^Beilage*^  desselben,> 
Ganz  fortgeblieben  ist  die  Abhandlung  von  Beck  „Über  Philosophie  Über- 
haupt**, Diese  Abhandlung  war  bekanntlich  von  Rosenkranz  und  Hartenstein^ 
aufgenommen   worden,    weil  sie    ein   von   Beck   hergestellter  Anazug  aus 
einem  Kantischen  Manuscript  war.    Da  dieses  Manuscript,  die  schon  erwähnte 
Einleitung  zur  Kritik  der  Urteilskraft,  inzwischen  in  Rostock  auigefunderm 
ist  und   daher  im    handschriftlichen    Nachlass   erscheinen   wird,    war   di^^ 
Becksche  Schrift  überflClssig.  —  Sehr  erfreulich  ist   es   endlich,    dass   mar^ 
dch  entschloftsen  hat,  die  beiden  Auflagen  der  Kritik  der  reinen  Vemunf 'Ä^ 
im  Zusammenhang  wiederzugeben.     Die  bisherige  Methode,  eine  der  Au^ — 
lagen  zu  Grunde  zu  legen  und  die  Abweichungen  der  andern  unter  ode:^ 
g&r  im  Text  durch  andern  Druck  kenntlich  gemacht)  hinzuzufügen,  iat  fd.:K' 
den  Leser  äusserst  verwirrend  und   macht  den  Vergleich  der  beiden  Au^'- 
lagen  im  Ganzen  fast  zur  Unmöglichkeit,     Im  Interesse  dieses   Vergleicbs 
ist  es  auch  zu  begrüssen,  dass  die  beiden  AuOagen  auf  verschiedene  Band« 
verteilt  sind. 

Von  den  Schwierigkeiten  mannigfacher  Art,  mit  denen  die  Heraus- 
geber des  Briefwechsels  und  des  handschriftlichen  Nachlasses  in  der  Samm- 
lung und  Ordnung  ihres  Materials  zu  k&mpfen  haben,  ist  schon  gesprochen 
worden.  Aber  auch  die  Abteilung  der  Werke  ist  von  solchen  Schwierig- 
keiten nicht  frei,  insofern  es  sich  um  die  Gewinnung  eines  einwandfreien 
Textes  handelt.  Mit  welch  geringer  Sorgfalt  Kant  selbst  den  Text  seiner 
Schriften  behandelt  hat*  ist  bekannt.  Die  Korrektur  seiner  grösseren 
Schriften  ist  wahrscheinlich  gar  nicht  von  ihm  selbst  besorgt  worden.  Die 
späteren  Auflagen  seiner  Schriften  sind  zumeist  unveränderte  Abdrucke 
der  früheren,  nicht  selten  nur  durch  neue  Druckfehler  von  ihnen  unter- 
schieden.    Vor   nicht   langer  iSeit  erst  ist  dies    Verhältnis   von   B,  Eid- 


Die  Neue  Kant-Aus^be  und  ihr  erster  Band. 


329 


mann  ffir  die  3.  imd  4,  im  Vergleich  zur  2.  Auflajere  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft  festgestellt  worden.  Dadiirch  werden  dann  die 
i&hlreichen  Kontroversen  verständlich»  die  sidi  namentlich  um  den 
Teit  der  kritischen  Hauptwerke  entspönnen  haben  und  deren  Diskussion 
kcineiweg»  auf  Fachleute  beschränkt  ^ebheben  ist,  die  sicli  mit  der  Her- 
•OBf^be  dieser  oder  jener  Schrift  beschäftigten  —  man  denke  an  die 
Kon-ekturen  Schopenhauers  znr  Kritik  der  reinen  Vernunft,  Die  Werke 
der  kritischen  Periode  sind  in  dieser  Hinsicht  bevorzugt  worden,  weil  hei 
ilinen  die  Fragen  natürlich  am  brennendsten  waren ,  aber  an  Unsicherheit 
des  Textes  werden  sie ,  wie  man  sich  leicht  denken  kann ,  durch  die  vtir* 
kritischen  Schriften  noch  erheblich  übertroffen.  Ihr  Dnick  ist  überhaupt 
ßor  einmal  unter  seiner  Aufsicht  vorgenommen  worden,  was  später  an 
Sammlungen  erschien,  war  zumeist  unberechtigter  Nachdruck,  und  an  der 
mit  seiner  Erlaubnis  hergestellten  ^ächten  und  vollständigen  Ausgabe** 
Kines  Schülers  Tieft  run  k  hat  Kant  aller  Wahrscheinlichkeit  keinen  direkten 
AüteÜ  genommen,  zumal  er  von  einer  Neuauflage  der  vor  1770  erschienenen 
Schriften  eigentlich  überhaupt  nichts  wissen  wollte»  Das  Maximum  der 
Unsicherheit  dilrftent  ebenfalls  leicht  verständlich,  die  im  1.  Band  ent- 
haltenen lateinischen  Dissertationen  erreichen. 

Um  in  der  Ermittlung  eines  authentischen  Textes  möglichst  sicher  zu 

g^hen,  sind    die  Heransgeber  der  Berliner  Kantjiuggabe   zunächst  überall 

^wUckgegangen  auf  die   Originaldrucke  (bezw,  auf  die  ersten  DnickCi 

*enn  es  sich  um  Artikel  in  Zeitschriften  oder  in  Werken  Andrer  handelte). 

^Up  far  die  Schrift  „Gedanken   bei   dem  frühzeitigen  Ahleben  des  Herrn 

•'öh.  Fr.  V.  Funk»  1760  ist  der  Originaldruek  nicht  mehr  auffindbar  gewesen, 

"^i  den  Schriften,  die  in  mehreren  Auflagen  ei*schienen  sind,  hat  man  sich 

^f^^h   der   letzten    gerichtet,   in   der  Änderungen  enthalten  sind,  „die  mit 

°*<iberheit  oder  mindestens  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  auf  Kant  äu- 

^^kgeführt  werden  können,"     Daher   ist   auch    die  2,  Auflage  der  Kritik 

*^r  reinen  Vernunft  vollstitndig  und  vor  der  1,  Auflage  wiedergegeben. 

Erwies  sich  eine  Stelle  des  Textes  als  zweifellos  komimpiert,  so 
JtlMte  natürlich  zu  einer  sinngemässen  Verbesserung  geschritten  werden. 
^C»e  wurde  vorgenommen  ^auf  önind  einer  Vergleichung  der  Lesarten  etwa 
^Oirhandener  anderer  Originaldrucke  unter  Hinzuziehung  sachlicher  Gesichts- 
^*lnkt4î  und  mit  der  erforderlichen  Berücksichtigung  der  für  die  Verbesserung 
l^s  Textes  wertvollen  neueren  Ausgaben  oder  sonst  veröffentlichter  Erneu- 
te tions  vorschlage.**  Die  berücksichtigten  Ausgaben  werden  in  dem  Nachwort, 
las  der  Herausgeber  der  von  ihm  bearbeiteten  Schrift  hinzugefügt,  ausdrücküch 
genannt;  für  alle  Schriften  kommt  die  Rosenkranzsche  und  die  2,  Ausgabe 
t>n  Hartenstein  in  Betracht.  Eben  diesem  Nachwort  ist  dann  ein  Abschnitt 
n^efügt,  „Lesarten"  überschrieben,  in  dem  jede  Abweichung  des  veröffent- 
lebten  Textes  von  dem  tiberlieferten  verzeichnet  ist  mit  dem  Namen  ihres 
Irheberg  und  wenn  nötig,  den  Gründen,  die  den  Anlass  der  Veränderung 
lÜdeten.  Auch  findet  der  Leser  hier  die  von  andrer  Seite  gemachten 
ferftBdernngsvorschläge  angegeben,  die  die  Akademie-Ausgabe  nicht  be- 
blgt  bat,  ev.  ebenfalls  mit  der  entsprechenden  Begründung.  Interessant 
»t  die  Beobnchtungr,  dass  die  Ausß-ahe  an  verschiedenen  Stellen  gegenüber 
Verändenmgen   Hartensteins    den    nrsprÜugUchen    K  an  tischen  Text 


E.  V.  Aster, 


Haederhergestellt  hat,    —  Mit  welcher  Sorgfalt  die  Heransgeber  hier  m\ 
Einzelnen  zu  Werke  gpegangen  sind,   davon    erliÄlt    der   Leser   am  b^skü 
einen  Befj-riff,    wenn   er   sieb    die  erwÄhnten,    in  gedrängtester  Kürze  ^1 
gebenen   Referate  über   die    verschiedenen  Lesarten    der   im    L   Band  e!»-| 
schienenen  Schriften   näher   ansieht.     Namentlich   die    Anmerkungen  vt« 
Lflsswitz  können  in  dieser  Hinsicht   als  Muster  dienen.     Man  kann  wo! 
annehmen^   dass   luich   für  diese  Anfff^be,    die  Herstellung  eines  möglichil"* 
den  Gedanken  des  Verfassers  entsprechenden  Textes,  es  sehr  förderlich  ge- 
wesen   inl,   dass   die    Herausgeher   eine   dem  Gegenstand   der  ihnen  lug«- 
wiesenen    vSchriften   entsprechende  f  a  clnnlinnische    Schulung    hentzcn. 
Im  Besondren  gilt   das  für  die  n  a  t  ti  r  w  i  a  s  en  s  c  li  a  f  1 1  i  c  h  e  n    und  n  a  tu  r  - 
philosophischen  Schriften,  die  den  l.Band  ja  fast  durchweg  füllen.  Die 
Herausgeber  sind  hier   Lasswitz   und    Eahts  und  zwar  hat  letz trer  die 
Schriften  rein   naturwissenscliaftlichcn  Inhalts,   LEtsswitz   diejenigen  meh^H 
oder  minder  naturphiloROphijschen  Inhalts  übernommen,  eine  Verteilung,  <l^^l 
in  jeder  Beziehung  erfreulich  Lst.     Nach  den  Mitteilungen    der  Einleitun^T 
wix'd  dasselbe  Prinzip   auch   für   die  späteren   Bände  fe^'tgehalten  werden  ^ 

Einen  besondren  Abschnitt  verlaugt  die  Behandlung  der  Sprach^s» 
und  dessen,  was  dazugehört,  kurz,  die  philologische  Redaktion  der  Werk^^ 
im  engeren  8inn.  Hier  vor  allen  Dingen  ist  mit  einer  Gründlichkeit  uncÄ 
Umsicht  gearbeitet  worden^  die  die  Akademie-Ausgabe  weit  über  «U^^ 
früheren  Kantausgaben  erhebt. 

Die  Aufgabe,  vor  die  sich  die  Herausgeber  in  dieser  Hinsicht 
stellt  sahen,  war  keineswegs  eine  leichte.  Zunächst  lässt  sich  leicht  zeigei 
dass  ein  blosser^  roher  und  tm korrigierter  Abdruck  des  Originals  mit  allen 
lauthchen  und  orthographischen  Eigentümlichkeiten  und  dersehrwecliseindeit 
Interpunktion  eine  viUlige  Sinnlosigkeit  wäre  und  dem  Leser  ganz  unnütze 
und  störende  Schwierigkeiten  bereiten  wftrde.  Das  ist  auch  von  Rosen- 
kränz»  wie  von  Hartenstein  in  den  Vorreden  zu  ihren  Ausgaben  ausdrud 
lieh  anerkannt  worden.  Vor  allen  Dingen  würde  eine  solche  „historisd 
Treue*  bei  dem  Mangel  an  einer  sicheren  Schreibweise  zu  jener  Zeit,  bei 
der  Willkür^  mit  der  jeder  Verlag  seine  eigene  Orthographie  zu  benutzen 
pflegte  und  bei  dem  Fehlen  grosser  Kantischer  Eeinschriften  eine  grosse 
Anzahl  von  Inkorrektheiten  erhalten,  die  rein  zufällig  sind  und  auf  Kotitoj 
des  jeweiligen  Setzers  fallen.  Damm  hat  sich  auch  keine  Ausgabe  : 
moderner  Zeit  mit  einem  solchen  blossen  Abdnick  begnügt,  sondern  ; 
hat  sich  stets  bemüht,  hier  zu  glätten  und  auszugleichen^  um  dem 
allzugrosse  Unbequemlichkeiten  zu  ersparen»  Aber  diese  Veräudenin^n 
von  Rosenkranz  und  Hartenstein  sind  rein  prinziplos  und  willkürlich  vor- 
genommen worden  und  der  Erfolg  war  eine  wnssenschaftlieh  nicht  ï^ 
rechtfertigende,  nur  nach  einem  vagen  Gefühl  für  den  Augenblick  j^- 
schaffene  und  melir  oder  minder  weitgehende  Modernisierung,  Demgej^en- 
über  hat  sich  nun  die  Akademie- Ausgabe  zum  ersten  Mal  die  Aufgab* 
gestellt,  in  der  Behandiung  der  Sprache  nach  einem  bestimmten  und 
senschaftUch  haltbaren  Prinzip  vorzugehen. 

Vor   allen    Dingen  wird    im   Gegensatz    zu   Hartenstein    und   seinen" 
VorgÄngern  und  Nachfolgern  derGnindsatz  aufgestellt:  ^Wir  dürfen  nicht 
nach  jeweiligem  Gutdünken    ein   paar   Störungen   wegschaffen   oder  dem 


,bei~ 
taen 
grosse 

beaaS 
n  inüfl 


Die  Neue  Kant- Ausgabe  und  ihr  erster  Band.  331 

yergänglichen  Durchschnitt  der  Gegenwart  anpassen,  so  dass  Kants  Werke 
Yon  Zeit  zu  Zeit  umgeschrieben  (ja  übersetzt)  würden,  sondern  sie  müssen 
.  .  .  als  Denkmäler  eines  Schriftstellers  des  18.  Jahrhunderts 
volle  Rücksicht  auf  seinen  eigenen  Brauch  und  die  Gewohn- 
heiten jener  sprachlich  erst  halbvergangenen  Zeit  erfahren" 
(S.  512).  Das  angestrebt«  Ziel  ist  damit  ein  doppeltes.  Einmal  sollen  die 
Schriften  Kants  als  solche  des  18.  Jahrhunderts  kenntlich  und  charakte- 
ristisch sein  —  jede  Modernisierung,  die  nicht  auf  dieses  Ziel  Rücksicht 
nimmt,  ist  verwerflich  —  und  zweitens  soll  uns  in  ihnen  der  Schriftsteller 
Kant  als  eine  scharf  umrissene  und  markierte  Persönlichkeit  entgegen- 
treten. Mit  Rücksicht  auf  diesen  letzten  und  wichtigsten  Zweck  hätte 
man  auf  den  Gedanken  kommen  können,  noch  weiter  zu  gehen  und  je 
nach  der  Abfassungszeit  der  einzelnen  Schriften  eine  verschiedene  Redak- 
tion anzuwenden,  um  so  einzelne  Perioden  in  der  Formbehandlung  hervor- 
treten zu  lassen.  Man  hat  dies  unterlassen,  wesentlich,  weil  die  Über- 
lieferung für  die  Unterscheidung  solcher  Perioden  keinen  sicheren  Anhalt 
gewährte.  Dadurch  ist  zugleich  eine  einheitliche  Redaktion  ermöglicht 
und  der  einheitliche  Charakter  des  ganzen  Werkes  gewahrt  worden,  ein 
Umstand,  der  auch  im  Interesse  des  philosophischen  Lesers  zu  be- 
grflssen  ist. 

Von  solchen  Gesichtspunkten  geleitet,  bezeichnen  die  Herausgeber 
als  £ndziel  ihres  Werkes  eine  Ausgabe  der  Kantischen  Schriften  in  der 
Form,  wie  sie  etwa  der  Philosoph  selbst  in  den  90er  Jahren,  also  nach 
Massgabe  des  Sprachgebrauchs,  der  sich  damals  nach  dem  Erscheinen  der 
kritischen  Hauptwerke  für  ihn  herausgebildet  hatte,  veranstaltet  haben 
würde.  Die  genaue  philologische  Durchforschung  der  Schriften  und  „losen 
Blätter"  aus  jener  Zeit  hat  gezeigt,  dass  hier  „die  Schwankungen  verhält- 
nismässig gering  bleiben  und  eine  wesentliche  Annäherung  oder  Überein- 
stinminng  hervortritt,  wenn  wir  sie  mit  dem  heutigen  Brauch  vergleichen". 
Es  ist,  wie  man  sieht,  ein  klar  und  sicher  bezeichnetes  Ziel,  das  den  Her- 
ausgebern vorschwebt  und  zwar  ein  Ziel,  das  im  weitesten  Mass  den 
philologisch-historischen  Ansprüchen  gerecht  wird,  ohne  die  philologische 
Seite  der  Sache  allzusehr  in  den  Vordergrund  treten  zu  lassen. 

Die  genannten  Prinzipien  sind  vor  allen  Dingen  streng  durchgeführt 
worden  in  Bezug  auf  die  Behandlung  der  sprachlichen  Formen;  in  dem 
rein  orthographischen  und  in  der  Festsetzung  der  Interpunktion,  also  in 
den  Punkten,  die  die  Natur  des  Lautes  unberührt  lassen,  ist  man  liberaler 
vorgegangen,  zumal  sich  in  diesen  Dingen  ein  fester  Brauch  der  Kan- 
tischen Schreibweise  nur  in  wenigen  Fällen  herausgebildet  hat.  Die  philo- 
logische Revision  der  deutschen  Schriften  wird  in  diesem  Sinn  von  Dr. 
Ewald  Frey  in  Berlin  geleitet,  der  sich  auf  diese  Thätigkeit  durch  um- 
faaaende  vergleichende  Studien  vorbereitet  hat.  Den  Erläuterungen  zu 
den  einzelnen  Schriften  pflegt  Dr.  Frey  einen  Abschnitt  über  Orthogra- 
phie, Interpunktion  und  Sprache  hinzuzufügen,  der  über  die  wichtigsten 
Abweichungen  vom  Originaldruck  berichtet  und  eine  kurze  Charakteristik 
der  Schrift  nach  der  philologischen  Seite  giebt.  Die  Revision  der  latei- 
nischen Schriften  leitet  Dr.  Emil  Thomas  in  Berlin. 


Icîi    erwähiite   schon,    das»  am  ScUuss  jedes  Bandes    für  die  in  ihm 
verÖffenHichten  Scliriften  Kr  I  Un  te  run  gen  pregeben  werden.    Ab^-sebö 
von  dem  Bericht  des  philologisehen  Revisors  enthalten  diese  ErlÄu  te  rang 
3  Abschnitte    ans    der  Feder   des   betreffenden  Herausgebers:    Eine  Ein- 
leitung,   die   den   Leser   kurz   über   Abfassungszeit   und   Schicksale  der 
Schrift,   orientiert,   das  schon   erwähnte    Verzeichnis   der   Lesarten  uûdt 
zwischen    beiden   die   eigenthch    .sachlichen    Erläuterungen**.    Naclm 
der  Angabe   der   „Einleitung   in    die  Abteihing  der  Werke^    sollen   diete^ 
sachlichen   Erläuierungen   in   erster  Linie   litterarisehe  Nachweise   bieterk, 
wo  Kaut  Personen    oder  Schriften    erwähnt.     Doch    fehlen    auch  sachhcli^i 
Benierkujigen    im    engeren  Sinn    nicht.     Die    letzteren  bilden  in  dem  vc^H 
liegenden   Band   eine  schätzenswerte  Beigabe,  iusofern  sie,  ^  von  NatnflB 
Wissenschaftlern   vom    Fach   verfasst  —,    über   die    von  Kant    verwandtÄrn 
naturwissensehaftliclien  Begriff e»  den  physikalischen  Sinn  und  dieflerkoiLft 
seiner  Behauptungen  in  Kürze  Auskunft  geben. 


Mit  dem  zuletzt  Gesagten  habe  ich  mich  schon  dem  speziellea  hv 
halt  des  L  Bandes  genähert,  dem  nun  noch  im  Zusammenhang  eine  kurw 
Besprechung  gewidmet  sein  soll  Dabei  muss  ich  natürlich  darauf  ver- 
ziehten,  die  Arbeit  der  Herausgeher  in  BeKUg  auf  die  Textrevision  der 
Schriften  hier  im  Einzelnen  zu  würdigen.  Dasselbe  gilt  von  den  voi^, 
nommenen  sprachlich-orthographischen  Änderungen,  Auch  auf  die  genauei 
philologisch©  Charakteristik  in  den  Berichten  des  germanistischen  Mitjff' 
beiters  gehe  ich  hier  nicht  ein;  wer  sich  aus  germanistischem  Interesse  hier- 
über zu  unterrichten  wünscht,  wird  doch  die  Auagabe  selbst  zur  Hand 
nehmen  müssen. 

Der  Band  enthält  die  Schriften  von  1747—66,  in  derselben  Reikn 
folge,  wie  der  L  Band  der  Hartensteinschen  Ausgabe.  Den  Anfang  macU 
natürlich  die  von  Kurd  Lasswitz  herausgegebene  Erstlingsschrift^ 
^Gedanken  von  der  wahren  Schätzung  der  lebendigen  Kräfte' 
—  Aus  der  Lasswitzscheii  „Einleitung**  zu  der  Schrift  ist  hervorzuheben 
die  genaue  und  sorgfältig  zusammengestellte  Geschiclite  ihrer  Abfassung. 
Danach  ist  die  Schrift  im  Jahre  1746  dem  Dekan  der  philosophischen  Fa- 
kultât  zur  Zensur  eingereicht  und  der  Druck  begouÄen  worden,  1747  sind 
ausser  der  Widmung  an  BohUus  und  der  Vorrede  die  §§  107 — 113a  imd 
151—156  (die  Kritik  des  erst  zur  Ostermesse  1747  erschienenen  Buches  von 
Musschenbroek  „Grundlehren  der  Naturwissenschaft**  enthaltend)  einjare- 
schoben  worden  und  erst  1749  ist  die  Ausgabe  des  Buchen»  erfolgt,  {harten' 
stein  begnügt  sich  gerade  mit  Rücksicht  auf  das  erwähnte  Musschenbroek- 
sche  Buch  damit,  das  Jahr  1747  als  das  des  Erscheinens  anzugeben*) 

Die  eigentlicli  sachlichen  Erläuterungen  werden  von  Lasswitz  aach 
in  den  anderen  von  ihm  herausgegebenen  Schriften  verliältnismäs^ig  kmx 
gehalten.  Über  die  Herkunft  des  Problems  und  den  Inhalt  der  in  Betracht 
kommenden  Schriften  von  Descartes  und  Leibniz  orientiert  eine  Anmerkung 
S.  522,  Was  im  Allgemeinen  über  den  Wert  der  Schrift  vom  Standpunkt 
der  heutigen  Naturwissenschaft  aus  zu  sagen  ist,  wird  gelegentlich  —  au- 
lässlich   der  »,zu versichtlichen  Voraussage*  Kant«,   dass   der  Streit  um  das 


Die  Keüe  Kant-- Ausgabe  and  ihr  erster  Band. 


Enftmasa  durch  sein  Eintreten  in  die  Kontroverse  endgültig  entschieden 
werde,  —  in  einer  kurzen  Notiz  ausjareführt  :  Pilr  die  Mechanik  sei  der 
Streit  insofern  gegenstandslos,  als  der  Begriff  der  Kraft  durch  einen  ana- 
lytischen Ansdmck  definiert  werden  miiss  und  es  daher  Sache  der  Benen- 
tmiif  ist,  ob  man  die  „Kraft**  durch  das  Produkt  m  v  oder  m  v*  bemisst.  Lass- 
mtz  fügt  hinzu,  für  die  Entscheidung  der  Frage  werde  eine  sachliche 
Grundlage  gewonnen,  wenn  man  über  die  analytische  Mechanik  hinaus- 
^hend  die  Frage  stelle,  WT^lche  von  den  so  definierten  Grössen  in  der 
Natm-  als  Ganzem  betrachtet  sich  erhalt«  (bezw.  in  anderen  Gebieten  der 
Physik  sich  äquivalent  wiederfinde)  und  demnach  für  die  Berufung  der 
Nsttinrorgänge  als  Ausgangspunkt  dienen  könne.  Nennt  man  diese  Grötse 
.Kraft",  so  ist  natürlich  rav^  vorzuziehen.  Kant  selbst  liegt  natürlich  im 
Jahre  1747  eine  solche  Überlegung  völlig  fern,  das  ist  jedenfalls  aucb  Lass- 
witz'  Meinung;  am  nächsten  wttrde  ihr  vielleicht  noch  Leibniz  kommen. 

Es  liegt  der  Einwand  nahe,  dass  Anmerkungen  solcher  Art,  zumal 
iû  der  Kürze,  mit  der  sie  notwendiger  Weise  gegeben  werden  müssen, 
^m  der  Physik  Unkundigen  scliwerlich  viel  Klarheit  bringen  werden, 
Während  sie  dem  Physiker  nichts  Neues  sagen.  Dennoch  würde  ich  sie 
iingem  vermissen:  Sie  können  dem  Leser,  speziell  dem  Laien,  der  einiges 
physikalische  Verständnis  besitzt,  viel  Arbeit  ersparen,  wenn  sie  ihn,  wie 
es  hier  geschieht,  ohne  ihn  mit  Thatsachen  überschütten  zu  wollen,  in 
knapper  und  korrekter  Form  auf  den  Standpunkt  hinweisen,  den  der  mo- 
derne Physiker  Kontroversen  dieser  Art  gegenüber  einnehmen  muss. 

Von  den  zahlreichen  Anmerkungen,  die  Persönlichkeiten  oder 
Schriften  betreffen,  sei  hingewiesen  auf  die  Über  Hamberger  (S.  Ô24)i  die 
auf  die  Entstehungsgeschichte  der  Kantischen  Ansichten  ein  Streiflicht 
wirft,  und  auf  diejenige,  die  sich  mit  der  Polemik  gegen  Hermann  be- 
schäftigt (S.  529).  An  der  hier  angezogenen  Stelle  hat  Lasswitz  einen 
«innentsteilenden  Druckfehler  entfernt^  der  im  Original  und  in  den  früheren 
Ausgaben  enthalten  war.  Kant  reproduziert  (am  Ende  des  §  129  im  Hl. 
Hauptfittick)  den  Gedankengang  Hermanns,  nach  dem  die  lebendige  Kraft, 
die  ein  Körper  besitzt,  der  die  Zeit  dt  hindurch  frei  gefallen  ist,  gleich 
denn  Produkt  seiner  Masse  M,  der  ihm  innewohnenden  Geschwindigkeit  \i 
und  der  im  Zeitelement  d  t  gewonnenen  Geschwindigkeit  g  d  t  sei.  Ais 
Resultat  der  Überlegung  ist  von  Kant  die  Formel  d  V  =  g  M  d  t  angegeben, 
während  es  natürlich  g  M  u  d  t  heissen  muas  ;  Hermann  war  es  gerade  da- 
rum zu  thun,  dass  die  vorhandene  Geschwindigkeit  u.  auch  mit  in  Rech* 
nun  g  gezogen  werde. 

Im  §97  (IL  Hauptstück),  Seite  106  der  Ausgabe,  ist  eine  der  Stellen 
an  denen  Lasswitz  zweifellos  mit  Recht  einer  Hartenstein  seh  en  VerUnder- 
ung  gegenüber  den  uraprünghchen  Kantischen  Text  wiederhergestellt  hat. 
Es  handelt  sich  um  die  Beweisfilhnmg,  durch  die  Leibniz  in  einem  kon- 
kreten Fall  das  Descartessche  Kraftmass  ad  absurdum  führen  i^ill.  Ein 
Körper  übtTtrage  seine  ganze  durch  den  Fall  ans  bestimmter  Höhe  ge- 
wonnene Kraft  auf  einen  zweiten  Körper  von  kleinerer  Masse;  ersetzt 
man  die  ganze  Übergehende  Kraft  durch  die  Grösse  mv,  wie  Descartes  es 
will,  so  ist,  wie  Leibniz  zeigt,  die  Vorrichtung  als  perpetimni  mobile  zu 
verwenden.    Kant  sieht   von   seinem  Standpunkt  den   springenden  Punkt 


334 


E.  V.  A§ter, 


der  Widerlegung  darin,  dass  eine  immen^'Rhrende  Bewegung,  die  dureh 
eine  bestimmte  endliche  Kraft  erzengt  ist,  dem  Grundsatz,  dass  die  Wir- 
kung der  Ursaclie  nicht  an  Energie  tiberlegen  sein  darf^  widersprechen 
würde.  Er  suclit  daher  xn  zeigen,  da8a  die  erzeugte  unendliche  Bewegung 
nicht  aus  der  endlichen  Kraft  des  ersten  Körpers  allein,  stmdem  auch  aus 
der  nnendliclien  Kraft  der  Schwere  herrührt,  so  dass  jener  Grundsatz  nicht 
in  Anwendung  kommen  kann:  „Es  wird  in  Ansehung  ihrer  (der  schein- 
bar ohne  entsprechende  Ursache  gewonnenen  Kraft,  d.  Ref.)  also  das 
grosse  Gesetz  der  Mechanik  effectus  quilihet  aequipollet  viribus  causae 
plenae  ohne  Giltigkeit  sein^  Der  Satz  ist  durcliaus  klar.  Die  Fassang 
Hartensteins:  „Es  wird  .  .  .  das  Gesetz  der  Mechanik  ,  .  .  nicht  ohne 
Giltigkeit  sein'*,  besagt  ja  sachlich  dasselbe,  nur  von  einem  andern  Ge* 
Sichtspunkt  aus:  Kant  würde  sich  in  ihr  dagegen  verwahren»  dass  das  Ge- 
setz in  dem  hetreffenden  F^ll  verletzt  sei,  während  er  in  der  authen* 
tischen  Fassung  die  Anwendbarkeit  des  Gesetzes  verneint;  aber  die 
Veränderung  ist  vi^llig  unnötig.  Ich  habe  den  Fall  hier  angeführt,  weil  er 
für  die  bisweilen  mit  erstaun hcher  Willkür  vorgenommenen  Textander- 
ungen selbst  in  der  besten  der  vorliandenen  Kantausgaben  charakteristisch 
ist.  Ähnliches  findet  sich  in  derselben  Schrift  Seite  M,  Zeile  23  und  1S3, 
M:  der  Akademieausgabe. 

Die  von  Kant  der  Schrift  mitgegebenen  Figuren  sind  am  Schluss 
des  Bandes  auf  zwei  Tafeln  vereinigt.  Zur  Erläuterung  des  von  MuÄschen- 
broek  zum  Zweck  der  Bestätigung  der  Leibniz'schen  Ansichten  ersonnenen 
Expenmenta,  das  Kant  im  §  152  bespricht^  ist  aus  dem  schon  erwähnten 
Buch  Musschenbroeks  eine  Hgur  den  Kantischen  Zeichnungen  beigefügt 
worden. 

Auf  die  Erstlingsschrift  folgen  die  beiden  Aufsîlty.e  in  den  ,,Kj>nig9- 
b ergis eben  Fi'ag- und  Anzeigungsnachrichten'*  aus  dem  Jahre  1764:  „Unter- 
suchung derFrage,  ob  die  Erde  in  ihrer  Umdreluing  einige  Ver» 
änderung  erlitten  liabe^  und  „Die  Frage,  ob  die  Erde  veralte, 
physikalisch  erwogen.**    Herausgeber  ist  Johannes  Hahts» 

Die  von  Rahts  veranstalteten  Ausgaben  unterscheiden  sich  fast  diu'ch- 
weg  von  den  Lasswitz'schen  durch  ein  stärkeres  Hervortreten  der  im  eng- 
sten Sinn  sachlichen  Anmerkungen.  Djis  hat  zweifellos  znm  grossen  Teil 
in  der  Natur  der  Schriften  selbst  seinen  Grund:  Die  von  Rahts  heraus- 
gegebenen Schriften  dürfen  noch  heute  erheblich  mehr  rein  sachliches 
Interesse  beanspruchen.  Das  wird  auch  von  Rahts  betont^  der  an  ver* 
schiedeneii  Stellen  warm  für  die  Bedeutung  von  Kants  naturvvissenschaft- 
lichcn  Untersuchungen  eintritt.  Die  meisten  haben  ja  in  Folge  widriger 
Umstände  —  man  denke  an  die  ^Allgemeine  Naturgeschichte  und  Theorie 
des  Himmels**  —  lange  nicht  die  ilmen  zukommende  Beachtung  gefunden; 
es  wäre  noch  jetzt  erfreuhcb,  wenn  die  Akadeuiie-Ausgabe  ihnen  ein  all- 
gemeineres Interesse  zuführen  wurde.  Das  gilt  nicht  zuletzt  auch  von  der 
hier  zuerst  genannten  Schrift,  deren  Verdienste  von  Rahts  unter  Hinweisen 
auf  einschlägige  neuere  Untersuchungen  nachdrücklich  hervorgehoben 
werden. 

Was  die  sachlichen  Erläuterung:en  im  Einzelnen  anlangt,  so  hat  sich 
Raht^  namentlich  bestrebt,  die  Kantischen  Rechnungen  in  Bezxig  anf  ihre 


Die  Neue  Kant- Ausgabe  und  ihr  erster  Band, 


33& 


Hichtigkeit  und  ihre  Voraussetzungen  nachsmpritfen,    Ansserdem  aber  kon- 
frontiert  er   verschiefl entlich    dus   Gesaß-te    mit   modernen  Anschauungen» 
weist  gegen  Kant  gerichtete  Einwände,    die  auf  ein  allgemeines  Interesse 
Anspruch  haben,  zurück  und  sucht  endlich  an  Stellen,  die  durch  ihre  Kürze 
oder    aus   anderen  Gründen   Schwierigkeiten  bieten,    dem  Verständnis  des 
lesers  zu  Hülfe  zu  kommen,    Zu  der  ^Untersuchung,  oh  die  Erde"  n.  s.w. 
[findet    sich    eine    längere  Anmerkung  dieser  Art:    Am  Anfang  der  Arbeit 
rgiebt  Kant  ohne  weiteren  Beweis  an,    die    Kraft,    mit   der   das   Meer   die 
entg'egenstehenden    Küsten  drückt,   sei  {unt-er  der  Voraussetzung,  das«  die 
Geschwindigkeit   des   Meeres  1  Fnss  betrügt,   als  entgegenstehende  Küste 
aber  die  Ostküste  von  Amerika  bis  zu  den  beiden  Polen  verlängert  angesetzt 
iwerde)  gleich  dem  Gewicht  eines  Wasserkörpers  von  der  gleichen  Fläche, 

^\^rie  sie  die  Küsten  dem  Meer  bieten,  und  der  Höhe  —  Fuss,     R^hts   hat 

sich  dadurch  am  den  Leser  ein  schätzenswertes  Verdienst  erworben,  dass 
^r  ftlr  diese  Bestimmung  eine  Ableitung  auf  elementar-malliematitichem 
"WTeg-e  gegeben  hat,  mit  Hülfe  des  —  Kant  zweifelloK  bekannten  —  Torri- 
«sellischen  Satzes  ül>er  die  Aiiëflnssgesclnvindigkeiten  von  Flüssigkeiten 
(v  =  «/2gh)  -  Bei  dieser  Gelegenheit  ist  ein  Druck-  oder  Sehreihfehler 
i^  der  massgebenden  Formel  zu  Tage  getreten,  der  aus  dem  Originaldriiek 
in   alle    späteren  Ausgaben    Übergegangen   ist:   An  der  betreffenden  Stelle 

Awird   die   Höhe   des   gedachten    Wasserkörpers  zu   ^^^    Fuss    angegeben» 


ai 


224 

1 


ftttrend  sich  aus  Kants  eigenen  Prftmissen  die  Zahl  J—  ergiebt^  die  auch, 

124 

^wie  Habt«  zeigt,  den  aus  dem  Prinzip  weiterhin  abgeleiteten  Daten  zu 
Orunde  gelegt  ist.  —  Führt  mau  ferner  die  Rechnung  durch,  mit  der  Kant 
clie  Zeit  bestimmt,  in  der  die  hemmende  Wirkung  der  Flut  die  ganze 
Krdbewegung  aufheben  würde,  so  stellt  sich  ein  recht  bedeutender  Rechen- 
fehler heraus  —  die  Zeit  beträgt  bei  der  Berechnung  auf  Kantischer 
Grundlage  200  Miilionen,  nicht,  wie  er  augiebt,  2  Millionen  Jahre. 

Kant  hat  sich  bekanntlich  der  Frage  nach  den  etwaigen  Verände- 
Tungen  der  Erdumdrehung  zugewandt  mit  Rücksicht  auf  die  von  der 
Berliner  Akademie  der  Wissenschaften  für  das  Jahr  1764  gestallte  Preis- 
aufgübe.  Auf  diesen  Punkt  bezieht  sich  eine  Stelle  der  Rahts'schen  „Ein- 
leitung**, deren  Begründung  ich  nicht  recht  einzusçhen  vermag.  Es  handelt 
sich  zunächst  um  eine  Stelle  der  (im  Anfang  des  nächsten  Jahres  1755 
erschienenen)  ^Allgemeinen  Naturgeschichte  und  Theorie  des  Himmels/' 
^H  Kant  beschäftigt  sich  hier  mit  derselben  Frage,  ob  es  eine  Ursache  gebe, 
^^V  die  die  Umdrehung  der  Himmelskörper  um  ihre  Axe  zu  vermindern  ge- 
W  eignet  sei,  und  fährt  dann  fort:  „Ich  verspare  diese  Auflösung  zu  einer 
I  anderen  Gelegenheit,  weil  sie  eine  notwendige  Verbindung  mit  derjenigen 
L  Aufgabe  hat,  die  die  Königliche  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin 
^^K  mal  das  1754.  Jahr  zum  Preise  aufgestellt  hatte,**  „  Hie  m  ach,**  meint  Rah  tfi, 
^^m  ^heint  Kant  die  Absicht  gehabt  zu  haben,  sich  später  noch  eingehender 
W  mit  der  von  der  Akademie  gestellten  Präge  zu  beschäftigen.  Ob  Kant 
1  diese  Absicht  ausgeführt   hat,   ist   aus   den  uns  erhaltenen  Schriften  nicht 

L         zu  ersehen.*'    Rahtä  bezieht  also  Kants  Worte  auf  eine  für  später  geplante 


E.  V.  Aster, 


Schrift  über  dasselbe  Thema.  Ich  sehe  indessen  nicht  eiHr  warum  man 
nicht  mit  diesem  Aufsätze  von  1764  in  Verbindung  bringen  soll.  Denn 
die  allgemeine  Natorgeschichte  ist  zwar  erst  175ô,  also  ein  Jahr  nach  der 
Preisschrift  erschienen,  darum  braucht  aber  ihre  Abfassung  nicht  so  «^i 
angesetzt  zu  werden.  Im  Gegenteil  zeigt  auch  der  Schluassatx  der  Schrift 
von  1754:  „Ich  habe  diesem  Vorwurfe  eine  lange  Reihe  Betrachtungen 
gewidmet  und  sie  in  einem  System  verbunden,  welches  unt«r  dem  Titel; 
Kosmogonie  ,  ,  .  in  kurzem  öffentlich  erscheinen  wird,"  deutlich  daraui* 
hin,  dass  die  allgemeine  Naturgeschiclite  im  Manuskript  schon  fertig  vor- 
gelegen hat,  als  Kant  seine  Bemerkungen  über  die  Preisfrage  von  !7W 
niederschrieb.  Er  kann  fth*o  sehr  wohl  sich  in  dem  später  erschienenen 
Werk  auf  die  kurze  Abhandlung  als  eine  erst  geplante  beziehen.  Neben- 
bei gesagt  zeigt  eine  Bemerkung  in  seinem  „Kant'*  (S.  132),  das»  Kono 
Fischer  Kants  Äusserungen  in  diesem  Sinn  verstanden  hat.  Ich  mu»  |fr 
stehen,  dass  mir  diese  Auffassung  am  natürlichsten  erscheint. 

Die  nächste  Schrift  ist  die  ^,Allgemeine  Naturgeschichte  uad 
Theorie  des  Himmels*',  d ie  einen  sehr  ausführlichen  K o mmentar  e^ 
halten  hat.    (Herausgeber:  Rahts.) 

Auch  diese  umfassendste  naturwissenschaftiicbe  Schrift  ist  bekannt- 
lich nur  in  einer  von  Kant  selbst  besorgten  Ausgabe  erschienen^  deren 
unerfreuliche  Schicksale  bekannt  sind;  sie  werden  auch  in  der  „Einleiti 
von  Rahts  kurz  geschildert.  Djigegen  hat  später  der  Magister  Job.  Friedf. 
Gens  ich  en  einen  Auszug  hergestellt  und  mit  Kants  Genehmigimg  1791 
veröffentlicht.  Das  Manuskript  zu  diesem  Auszug  nun  existiert  noch  und 
ist  von  dem  Besitzer  (Geheimrat  Hagen)  für  die  Akademie-Ausgabe  lur 
Verfügung  gesteOt,  Wertvoll  ist  dasselbe  vor  allen  Dingen,  weil  Kant, 
dem  Gensichen  das  Manuskript  zur  Durchsicht  gegeben  hatte,  eigenhändig 
Änderungen  vorgenommen  hat.  Diese  Bemerkungen  Kants  sind  an  der 
betreffenden  Stelle  in  den  „Erläuterungen''  abgedruckt,  ebenso  wie  aUe 
Abweichungen  des  Auszugs  vom  Original,  die  Gensichen  ausdrücklich  aul 
Kant  selbst  zurückführt.  Ein  grosser  Teil  dieser  Änderungen  ist  dadorcii 
besonders  interessant,  dass  er  auf  die  spätere  Entwickelung  von  Kaatii 
naturwissenschaftlichen  Ansichten  ein  Licht  wirfL  In  manchen  Punkti 
ist  ein  Wechsel  in  seinen  kosmogonischen  Anschauungen  vorgeganj 
Wie  Rahts  an  einer  Stelle  bemerkt,  ist  es  nicht  u  i wahrscheinlich, 
dieser  Wechsel  durch  das  Bekanntwerden  der  im  Jahr  1781  durch  WilliAW 
Herschel  erfolgten  Entdeckung  des  Planeten  Uranus  bedingt  ist.  So  findet 
sich  am  Ende  des  L  Teüs  im  Original  von  1755  die  Vermutung  aui^ 
sprochen^  es  möchten  sich  zwischen  Planeten  und  Kometen  unseres  Sonnen- 
systems allmähliche  Übergänge  finden,  so  dass  die  Bahn  der  Planeten,  j« 
weiter  ihr  Abstand  vom  Zentndkörper  ist,  eine  immer  grössere  Excentrii 
tat  zeigen  würde.  In  der  Handschrift  zu  dem  Gensichenschen  A' 
findet  sich  eine  ganz  entsprechende  Bemerkung,  die  jedoch  in  dem 
druckten  Auszug  selbst,  zweifellos  auf  Kants  Initiative,  gestrichen  ist. 
der  That  musste  eine  solche  Vermutung  rektifiziert  werden^  nachdem  sich 
für  den  äuas ersten  der  damals  bekannten  Planeten  eine  der  Krei&forni 
näher  stehende  Bahn  ergeben  hatte.  Dazu  kommt  eine  zweite  Ändemu^? 
die  sich  auf  die  Entstehung  des  Satuniringes  bezieht,   Kant  war  1775  auch 


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Die  Neue  Eant'Ausgafae  und  ihr  erster  Band. 


337 


Mer  von  der  angeblich  früher  kometischen  Natur  des  Saturn  ausgegangen 
und  hatte  angenoramen,  es  sei  die  Bildung  der  Dünste,  die  seiner  Theorie 
zufolge  den  Satnmring  darateUeo,  während  der  nrsprtlüglicb  kometenähn- 
lich selir  excentrischen  Bewegung  des  Himmelskörpers  durch  die  Wärme 
Äur  Zeit  der  grössten  Sonnenhöhe  erfolgt.  Anstatt  dessen  heisst  es  bei 
Oensichen,  die  Dunstentwickelung  sei  eingeleitet  durch  die  im  Innern  des 
Planeten  selbst  —  in  chemischen  Vorgängen  —  erzeugte  Wärme,  mit  der 
ausdrücklichen  Bemerkung  des  Verfassers,  Kant  habe  in  diesem  Punkte 
seine  früheren  Ansichten  verlassen. 

Im  Gegensatz  zu  diesem  Wechsel  der  Ansichten  in  einzelnen  Punkten 
I)e»chäftigen  sich  andere  Zusätze  Gensicheus  mit  Bestätigungen,  die  Kant« 
Theorie  durch  spätere  Beobachtungen  und  Berechnungen  in  manchen  Dingen 
gefunden  hat.  Von  ihnen  ist  der  wichtigste  schon  von  Hartenstein  in  der 
Kinleitung  zum  1.  Band  seiner  2,  Ausgabe  abgedruckt  worden.  Endlich 
bringt  der  Auszug  „auf  ausdrücklichen  Wunsch  Kants'*  einige  polemische 
Bemerkungen  gegen  die  später  erschienenen  Kosmogonien  Anderer,  be- 
sonders Lamberts,  hetont  an  einzelnen  Stellen  den  Gegensatz,  an  anderen 
die  Priorität  der  Kaotischen  Ansichten. 

Mit  grosser  Gewissenhaftigkeit  sind  von  Raht«  die  von  Kant  ge- 
gebenen Rechnungen  und  Zahlen  nachgeprüft  und  mit  den  später  festge- 
stellten Daten  verglichen  worden  (Berechnung  der  Zeit,  die  der  nächste 
Fixstern  zu  einem  Umlauf  um  die  Sonne  brauchen  würde  —  des  Verhält- 
nisses der  Erdmasse  zur  Gesamtmasse  der  Planeten  —  der  Rotationszeit 
des  Satnm  und  seiner  Ringe).  Wo  sich  in  der  Rechnung  Fehler  heraua- 
steOten,  sind  an  den  Zahlen  im  Text  selbst  natürlich  nur  dann  Veränderungen 
vorgenommen  worden^  wenn  nachweislich  ein  blosses  Verschreiben  oder  ein 
Druckfehler  vorlag,  bczw.  mit  grosser  Wahrsclieinlichkeit  zu  vermuten 
war.  Auch  der  Frage  nach  der  Herkunft  der  von  Kant  seinen  Rechnungen 
£U  Grunde  gelegten  Daten  ist  Rahts  näher  getreten.  So  weist  er  nach, 
dam  Kant  in  seiner  Berechnung  der  Umdrehungszeit  des  Saturn  aller 
Wfthrscheinlîchkeit  nach  auf  den  Angaben  von  Huygens  in  seinem  „Kos- 
motheoros*'  fusst.  In  Bezug  auf  diesen  Punkt  hatte  seinerzeit  schon  Gen- 
sichen  bemerkt,  er  habe  sich  vergeblich  Mühe  gegeben,  den  Ursprung  der 
betreffenden  Zahlen  in  Erfahrung  zu  bringen. 

Außfiihrlicliere  sacMiche  Anmerkungen  finden  sich  endlich  noch  an 
3  Stellen.  In  der  ersten  handelt  es  sich  um  den  Ausgangspunkt  für  die 
Entwicklung  unseres  Sonnensystems:  Kant  scheint  im  1.  Hauptstück  des 
2.  Teils  eine  ruhende  Masse  als  solchen  anzusehen,  was  mechanisch  nicht 
möglich  wäre,  insofern  die  Summe  der  gleichförmigen  Bewegungen  nnserea 
Planetensystems  von  vorn  herein  als  im  S3'^stem  gegeben  betrachtet  werden 
muss.  Die  Stelle,  die  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  oft  angegriffen  worden 
i«ît,  wird  von  Rahts  nicht  auf  unser  Sonnensystem,  sondern  auf  ein  allge- 
meines Massensjstem  bezogen,  von  dem  unsre  Sonne  mit  iliren  Planeten 
nur  als  ein  Teil  zu  denken  wäre.  Allerdings  wäre  auch  in  diesem  Fall 
die  Äusserung  zweideutig  und  miss  verständlich.  —  Die  zweite  Anmerkung 
betrifft  die  Frage:  Wie  kommt  es,  dass  die  Bewegung  der  Monde  um  die 
Planeten  in  demselben  Sinn  erfolgt,  w*ie  der  Umlauf  der  Planeten  selbst? 
Kant  beantwortet  die  Frage  (IL  Teil,  i.  Hauptfitück)  durch  eine  Theorie, 
K««lrtiidl»D  Dt,  St 


8S8 


E.  V.  Aster, 


die  durch  ihre  knappe  Fassung  VerstÄndlichkeit  und  Klarheit  vemiisseD 
lässt.  Daher  ist  die  —  2  Seiten  lange  —  anschauliche  und  mathematische 
Erläuterung  von  Rahts  hier  sehr  dankenswert.  Die  Zurtlckweifiung  der 
gegen  Kaut  gerichteten  Einwände  von  Zöllner,  Faye,  Poincaré  ist  freilich 
sehr  kurz  und  für  den,  der  die  betreffenden  Schriften  nicht  kennt,  kaum 
veretändliclh  —  Die  dritte  Anmerkung  verteidigt  Kant«  Berechnung  der 
Entfernung  de^  Saturnringes  von  seinem  Planeten  (bezw.  da  die  Rechnung 
allgemein  gehalten  ist^  eines  beliebigen  planetarischen  Rings^  der  nach  den 
von  Kant  entwickelten  Prinzipien  entstanden  gedacht  wird  —  D.  Teil, 
6.  Hauptstück).  Die  von  Kant  benutzte  Formel»  die  eine  Beziehung 
zwischen  der  gesuchten  Entfernung  einerseits^  dem  Radius  des  betreffenden 
Planeten,  der  IntensitÄt  der  Schwere  an  seiner  Oberfläche  und  der  Zentri- 
fugalkraft an  seinem  Äquator  enthält,  wird  von  Ralits  mathematisch  be- 
griindet  (speziell  mit  Rücksicht  auf  die  Einwände  in  der  Ausgabe  von 
Oettingen  (Ostwalds  Klassiker)). 

An  0.  und  6.  Steile  folgt  der  lateinische  Text  der  Doktordissertation 
Über  das  Feuer  (Meditationum  quarundam  de  igne  suceincta  de- 
li neat  io,  i765)  und  der  Habilitationsschrift:  Principioram  primorum 
cognitionis  metaphysicae  nova  dilucidatio  aus  demselben  Jahr. 
Herausgeber  beider  Schriften  ist  Lasswitz.  In  der  „Einleitung*^  werden  die 
entsprechenden  Vermerke  der  Königsberger  Fakultätsakten  mitgeteilt, 
aus  denen  der  Termin  der  betreffenden  feierlichen  Handlungen  hervorgeht 
—  des  examen  rigorosum  am  17.  April,  der  öffentlichen  Dissertation  zur 
Aufnahme  in  die  Fakultät  am  27.  September  1755.  In  den  Anmerkungen 
zu  der  ersten  Schrift  wird  in  sachlicher  Beziehung  nur  kura  auf  das  An- 
fechtbare der  den  naturwissenschaftlich  gebildeten  Leser  teilweis  recht 
sonderbar  anmutenden  mathematisch-mechanischen  Ableitungen  hingewiesen 
und  die  Kontroverse  zwischen  Kant  und  Descartes  in  der  Auffassung  der 
Flüssigkeiten  den  irreführenden  Bemerkungen  Kant«  gegenüber  richtig 
gestellt;  zahhreich  sind  die  Nachweise  von  Personen  und  Schriften.  Die 
liguren  sind,  wie  es  in  der  von  Kant  selbst  besorgten  Ausgabe  geschehen 
war^  in  den  Text  gedruckt,  nichts  wie  bei  Hartenstein,  auf  einer  besonderen 
Tafel  am  Schluss  des  Bandes  vereinigt.  Aus  den  Anmerkungen  «a  der 
zweiten  Schrift  sei  hingewiesen  auf  digenige  über  Orusius  mit  genauer 
Angabe  der  in  Betracht  kommenden  Stellen  seiner  Werke. 

Es  folgen  die  drei  Schriften  über  das  Erdbeben  von  Lissabon  aus 
dem  Jahre  1756:  Der  Aufsatz  in  den  „Koenigsbergischen  Frag-  und  An- 
zeigimgsnach richten"  Von  den  Ursachen  der  Erderschütterungen 
bei  Gelegenheit  des  Unglücks,  welches  die  westlichen  Länder 
von  Europa  gegen  das  Ende  des  vorigen  Jahres  betroffen  hat, 
die  selbständige  Schrift  Geschichte  und  Naturbeschreibung  der 
merkwürdigsten  Vorfälle  des  Erdbebens  u.  s.  w.  imd  die  Fort- 
gesetzten Betrachtungen  derseiteinigerZeitwahrgenommenen 
Erderschütterungen,  wiederum  in  den  ^rag-  und  Anzeigungsnach- 
richten**.  In  der  „Einleitung**  der  2,  Schrift  hebt  der  Herausgeber,  Bahts, 
hervor,  dass  Kant  als  erster  die  heut«  allgemein  als  richtig  anerkannte 
Behauptung  aufgestellt  habe,  die  grosse  Verbreitung  des  Erdbebens  sei 
doieh    die  Fortpflanzung   der  Erschütterungen  im   Meer  bedingt  worden. 


I 


I 

I 


Die  Neue  Kant-Ausgabe  nnd  ihr  erster  Band.  3SS 

I  Übrigen  müsse  man  in  Bezug  auf  diese  Abhandlungen  bedenken,  dasa 
!  „vor  Begründung  einer  wissenschaftlichen  Geologie  geschrieben  worden 
id**.  Die  Anmerkungen  geben  im  Wesentlichen  Schriften  und  Lebens- 
ten  der  genannten  Autoren. 

Die  Schrift  Metaphysicae  cum  geometria  iuuctae  uaus  in 
lilosophia  naturalis  cuius  specimen  L  continet  monadologiam 
lysicam ,  durch  die  sich  Kant  1756  um  den  Lehrstuhl  Knutzens  bewarb, 

von  Lasswitz  herausgegeben.  Die  nütabgedruckt^  Stelle  der  Fakultät«- 
ten  besagt,  dass  die  Sclirift  am  23,  März  dem  Dekan  zur  Zensur  einge- 
cht  worden  ist  und  dass  die  Disputation^  der  sie  zu  Grunde  gelegt 
irde,  am  10.  April  stattfand. 

Den  Beschluss  machen  die  Neuen  Anmerkungen  zur  Erläute- 
ng  der  Theorie  der  Winde  1756  (Herausgeber  Rahts).  Die  Schrift 
b5rt  zu  denen,  deren  natun^^issenschaftitche  Bedeutung  von  Rahts  be- 
ider« hervorgehoben  wird,  einmal  mit  Bezug  auf  die  Theorie  der  Passate 
à  Moussons,  namentlich  aber  in  Rücksicht  au!  die  Erklärung  des  sog. 
veschen  Drehungsgesetzes  der  Winde,  nach  dem  sich  ein  auf  der  nörd- 
ben  Halbkugel  entstehender  Nordwind  über  Ost  nach  Säden  und  Westen 
;ht,    durch  die  Erddrehung  —  eine  Erklärung,  die  erst  80  Jahre  später, 

sie  unabhängig  von  Kant  durch  Dove  wiederholt  wurde,  zu  allgemeiner 
nntnis  und  Anerkennung  'gelangte.  In  diesem  Zusammenhang  sei  auf 
!  Entfemang  eines  sinnentstellenden  Druckfehlers  durch  den  Heraus- 
t>er  hingewiesen:  Da  die  Drehung  der  Erde  von  West  nach  Ost  erfolgt, 
I»  ein  vom  Äquator  zum  Südpol  wehender  Wind  zum  Nordwestwindi 
ht  wie  es  im  Original  jedenfalls  durch  ein  Versehen  heisst  und  in  die 
Lteren  Ausgaben  übergegangen  ist,  zum  Nordostwind  werden.  (Die  betr. 
?lle  findet  sich  in  dem  zur  V.  Anmerkung  gehörigen  „Bestätigung  durch 
I  Erfahrung"  überschriebenen  Abschnitt*) 

Was   die   nicht  ganz  zu  Übergehenden  Äusserlichkeiten  anlangt,  so 

bemerkt,  dass  der  Band  585  Seiten  umfasst,  von  denen  B03  auf  den 
Huschen  Text  entfallen.  Nicht  verschwiegen  soll  es  werden,  dass  die 
rwendong  deutscher  Typen  für  den  Druck  vielfach  etwas  Befremden 
egt  hat.  Die  Anwendung  der  Antiqua-Lettern  hätte  wohl  auch  die 
rbreitung  der  Ausgabe  im  Ausland  erleichtert.  Im  Übrigen  wird  Nie- 
nd  bestreiten,  dass  die  Ausstattung  eine  würdige  und  sweckent^ 
«chende  ist. 

Dass  die  neue  Kantausgabe  in  der  Beantwortung  aller  der  Fragen, 
1  den  Text  der  Kantischen  Schriften  betreffen,  im  Wesentlichen  das 
Ete  und  entscheidende  Wort  zu  sprechen  hat,  kann  m.  E.  keinem 
'eifel  unterliegen.    Da   liegt    denn    die  Frage  nahe,  ob  etwas  Ahnüchea 

die  Interpretation  dieses  Textes  zutreffen  wird.  Die  Fülle  der  Streit- 
g^n  und  der  Gegensatz  der  Meinungen  ist  bekannt.  Wird  die  Ausgabe 
ïh  in  diesem  Punkte  Wandel  schaffen  können?  Dilthey  drückt  sich  in 
Der  Vorrede  sehr  vorsichtig  aus:  „Der  Streit,  der  heute  unter  den 
ntforschem  besteht  und  der  sich  von  der  Gesamtauffassung  bis  auf  die 
erpretation  der  Hauptbegriffe  erstreckt,  wird  doch  eingeschränkt,  der 
klang  von  sicherer  geschieh  tlicher  Erkenntnis  erweitert  werden  können, 

22r 


340 


E.  V.  Aster, 


wenn  das  Material  wohlgeordnet  und  nach  Möglichkeit  chronologisch  be- 
stimmt vorliegt/ 

In  der  That  ist  es  ja  fraglos,  dass  die  Herstellung  eine«  nach  Mög^ 
lichkeit  einwandfreien  Textes  für  jede  Kantinterpretation  ein  bedeutender 
Vorteil  und  eine  unerlässliche  Vorbedingung  sein  muss.  Aber  es  wird  atidi 
gut  sein,  sich  auf  der  andern  Seite  vor  Augen  zu  halten,  das«  die  B^ 
nutzung  eines  so  umfassenden  Materials,  wie  es  in  den  ganzen  25  Bänden 
vorliegen  wird,  gewisse  Schwierigkeiten  und  Gefahren  für  den  Interpret-en 
in  sich  schliessen  muss.  Vor  allen  Dingen  durch  die  Ungleichmässigkeit 
des  Materials:  Neben  Gedanken^  deren  Form  und  Ausdruck  nach  jeder 
Richtung  hin  erwogen  und  gegen  Missverständnisse  sicher  gestellt  ist> 
stehen  Dinge  —  man  denke  an  den  handschriftlichen  Nachlas»  —  deren 
Formulierung  vielleicht  rein  provisorisch  und  für  den  Augenblick  herecbnet 
ist.  Solches  Material  kann  m  M.  n,  nur  von  dem  nutzbringend  verwertet 
werden,  der  sich  bereits  in  den  Sinn  der  grundlegenden  Probleme  der 
kritischen  Philosophie  in  besondrem  Maasse  eingelebt  hat.  Nur  das  Vef> 
stÄndnis  der  Probleme  kann  den  Leitfaden  in  einer  Masse  solcher 
Äusserungen  und  Bemerkungen  abgeben,  die  unter  allen  Umständen  an 
Vieldeutigkeit  leiten  müssen.  Sonst  liegt  die  Gefahr  nahe,  dass  die  kri- 
tischen Hauptwerke  selbst  für  den  Interpreten  unter  der  Hand  zu  euier 
Sammlung  loser  Blätter  und  die  kritische  Philosophie  zu  einem  Mctsaik 
un  zusammenhängender  Sätze  würde  anstatt  eines  durch  bestimmt«  Probleuie 
geeinten  Werkes.  Mit  alledem  will  ich  nichts  weiter  sagen»  als  dass  die 
Benutzung  eines  solchen  Materials  an  den  Kantforscher  eine  gewaltigt 
Aufgabe  stellt.  Und  «-war  eine  Aufgabe,  die  gewiss  nicht  durch  histo- 
rischen  Spürsinn  allein  zu  lösen  ist. 

Aber  gerade  in  diesem  Zusammenhang  liegt  mir  daran,  wie  zu  Ad* 
fang  noch  einmal  darauf  hinzuweisen,  dass  in  der  Gewinnung  einer  festen 
Grundlage  für  die  Kantinterpretation  nicht  das  einzige  und  vielleicht  nicht 
das  Hanptverdienst  der  Ausgabe  liegt:  Es  wird  nns  eine  Fülle  von  Mate- 
rial für  eine  tiefgreifende  Biographie  Kants,  für  ein  Verständnis  seiner  Persön- 
lichkeit gegeben,  sehr  viel  mehr,  als  dies  von  den  bisherigen  Ausgaben  gesagt 
werden  kann.  Und  im  Grunde  giebt  uns  die  Ausgabe  anch  mehr,  als  ein 
blosses  totes  Material  in  dieser  Hinsicht  :  In  den  Werken  und  Briefen  IM 
die  PersiVnlichkeit  Kants  —  zu  der  ja  auch  nicht  zuletzt  der  Schriftsteller 
Kant  gehört  —  so  klar  und  sicher  herausgearbeitet,  dass  tlie  Ausgabe 
selbst  biographischen  Wert  beanspruchen  kann. 

Der  biographisch-historische  Zusammenhang   wird   durch   die  Kant- 
ausgabe  geklärt.    Aber  eben  dieser  Zusammenhang  ist  nun  wiedenmi  für 
ein   tieferes   philosophisches   Verständnis   die    Vorbedingung.      Ich  meine 
jetzt   nicht   dasjenige  Verständnis,    von  dem  ich  vorhin  sprach,   das  seine 
Aufgabe  darin  sieht,  das  philosophische  System  als  geschlossenen  Begrtin- 
dungszusammenhang  wiedererstehen  zu  lassen,   sondern  da^emgCj    das  die 
Lebensarbeit  des  Philosophen  in  ihrer  Abhängigkeit  von  seiner  Persönlich- 
keit  und   der    gesamten   geschichthchen  Lage   begreifen  wiU.     Ich  meine 
das  Verständnis,  auf  das  Dilthey  das  bekannte  Kantische  Wort  anwendet 
von  der  Aufgabe,   einen  Autor  besser  zu  verstehen,  als  er  sich  selber  ver- 
stand.   Die  Lösung  dieser  Aufgabe  werden  wir  freilich  einer  späteren  Zu- 


i 


Die  Nene  Kant-Ausgabe  und  ihr  erster  Band.  341 

kunft  überlassen  mtlsseu.    Der  Gegenwart  aber  liegt  es  ob,  für  die  Arbeit 
dieser  Zukunft  die  Bedingungen  zu  schaffen. 

Dass  die  Berliner  Eantausgabe  in  diesem  Sinn  ihre  Früchte  tragen 

wird,  dass  die  mühsame  Arbeit  mehrerer  Jahre  nicht  vergeblich  sein  wird, 

dflrfen   wir  mit  Sicherheit  erwarten.    Diese  Arbeit  selbst  ist  freilich  zum 

Teil  eine  unterirdische,  sie  macht  sich  dem  Leser  wenig  bemerkbar.    Um 

so  mehr  ist  es  Aufgabe  des  Referenten  hervorzuheben,  dass  in  dem  Werk 

das   Ergebnis  einer  Arbeit  steckt,    die   unsere   ganze   Hochachtung  und 

Dankbarkeit  verdient. 


Erklärung  der  vier  Beilagen. 

Von  H.  Vaihinger. 

1.  Gegenüber  dem  Titelblatt:  Schatteuriss  von  Kant  auf 
einem  Albumblatt.  Diese  kostbare  Reliquie  ist  im  Besitze  des  Herrn 
Geh. Kirchenrates  Professor  D.  Dr.  Georg  Heinrici  an  der  Universit&t 
Leipzig.  Auf  der  Rückseite  findet  sich  folgende  handschriftliche  Notis: 
^Geschenk  Kants  an  Pfarrer  Stein  in  Juditt^n,  dessen  Sohn,  Oberförster 
Stein,  durch  das  Blatt  Konsistorialrat  Heinrici  in  Gumbinnen  erfreute." 
Dessen  Sohn,  der  obengenannte  Professor  Heinrici  in  Leipzig,  hat  uns 
gütigst  die  Erlaubnis  gegeben,  das  schöne  Blatt  bei  dieser  Gelegenheit 
reproduzieren  zu  dürfen.  Der  Schatteuriss  stammt  aus  Slants  bester  Zeit, 
aus  dem  Jahre  1788,  und  giebt  die  charakteristischen  Züge  Kants  in 
wunderbarer  Prägnanz  wieder.  Wie  aus  dem  Schattenreich  kehrt  zu  diesem 
Tage,  seinem  hundertjährigen  Todestage,  Kants  Schatten  zu  uns  zurück, 
in  erhabener  Grösse  in  die  lebendige  Wirklichkeit  hineinragend.  Ebenso 
charakteristisch  sind  für  Kant  die  öfters  von  ihm  wiederholten  Worte: 
Quod  petifi,  in  te  est  —  ne  te  quaesiveris  extra.  In  diesen  Worten  spricht 
sich  concentriert  Kants  ganze  theoretische  und  praktische  Weltanschauung 
aus.  Es  ist  ein  merkwürdiges  Zusammentreffen,  dass  die  Abhandlung  Ton 
F.  A.  Schmid,  „Kant  im  Spiegel  seiner  Briefe",  welche  einen  Teil  unseres 
Festheftes  bildet,  gerade  dieselben  Lieblingsworte  Kants  heranzieht,  um 
seine  Persönlichkeit  zu  kennzeichnen  (vgl.  oben  S.  320).  Aber  die 
Worte  enthalten  mehr:  sie  sind  zugleich  der  tiefste  Inhalt  seiner  Lehre. 
Kein  Wunder,  dass  Kant  dieselben  so  oft  wiederholt  hat:  aus  der  neuen 
Kantausgabe  der  Berliner  Akademie  (Bd.  XU,  S.  440)  erfahren  wir,  dass 
der  Spruch  bis  jetzt  nicht  weniger  als  achtmal  als  Eintrag  in  Stammbücher 
nachgewiesen  ist,  zwischen  den  Jahren  1777  und  1792.  Dazu  tritt  nun 
dies  bis  jetzt  unbekannt  gebliebene  Stammbuchblatt  als  neunter  Fall 
Der  Kopf  Kants  auf  diesem  Stammbuchblatt  ist  so  bedeutend, 
dass  wir  denselben  ohne  das  Beiwerk  in  vergrösserter  Form  einem  der 
nächsten  Hefte  beigeben  werden,  um  seine  monumentale  Wirkung  ganz 
zur  Geltung  zu  bringen. 

Übrigens  stammt  der  lateinische  Spruch  in  dieser  Form  nicht  un- 
mittelbar aus  Persius,  sondern  ist,  wie  mir  Herr  Professor  Dr.  Wissowa 
hier  mitteilt,  eine  willkürliche,  prosodisch  nicht  formgerechte,  und  zugleich 
den  Inhalt  etwas  verändernde  Zusammensetzung  einer  Persiusstelle  mit 
einer  Horazstelle.  Bei  Horaz,  Epist.  I,  11,  V.  29  Leisst  es  im  Gegensatz 
zu  demjenigen,   welche  das  Glück  immer  auswärts  suchen  :   Quod  petis,   kic 


Erklärung  der  vier  Beilagen.  343 

est.  Und  bei  Persius,  Satira  I,  V.  7  heisst  es  im  Anschluss  an  die 
avtâçxaa  des  Stoischen  Weisen  :  nee  te  qiuiesiveris  extra  So  ist  also  der 
Spruch,  wie  er  jetzt  bei  Kant  selbst  vorliegt,  mehr  als  blosses  Zitat  ;  er  ist 
zu  einer  eigenen  Schöpfung  des  Philosophen  selbst  geworden. 

2.  Zwischen  S.  208  und  209.  Brustbild  Kants,  Original  im 
Städtischen  Museum  zu  Königsberg.  Über  dieses  merkwürdige  Bild  haben 
schon  K.  Lubowski  und  G.  Diestel  in  den  „Kantstudien"  im  Band  III, 
S.  160-167  berichtet,  nebst  Nachtrag  dazu  im  Band  VI,  S.  113  f.  Das 
Bild  ist  in  Dresden  aufgefunden  worden,  im  Jahre  1896,  und  ist  dann  nach 
schwierigen  Verhandlungen  von  der  Stadt  Königsberg  angekauft  worden. 
Über  die  Echtheit  des  Bildes  ist  jetzt  kein  Zweifel  mehr.  Walirscheinlich 
ist  das  Bild  von  Elisabeth  v.  Stägemann  gemalt  („Kantstudien",  III,  255, 
vgl.  mit  VI,  S.  113  ,  einer  Königsbergerin,  und  persönlichen  Verehrerin 
Kants;  das  Bild  ist  in  der  Manier  Anton  Graffs  gemalt,  dessen  Schülerin 
die  Malerin  wohl  gewesen  ist.  Unter  den  Kennern  der  Kantischen  Bild- 
nisse ist  nur  Eine  Stimme  über  dieses  Bild:  es  ist  das  geistvollste  Bild 
des  grossen  Philosophen,  das  geistig  bedeutendste  und  eindrucksvollste. 
Die  „Kantstudien"  brachten  einen  Abdruck  des  Bildes  schon  im  III.  Bande. 
Da  aber  unterdessen  Verleger  und  Abonnenten  der  „Kantstudien"  ge- 
wechselt haben,  und  auch  vielfach  der  Wunsch  laut  geworden  ist,  das 
Bild  nochmals  zu  besitzen,  so  ist  das  Bild  diesem  Pestheft  beigeheftet 
worden.  Einzeldrucke  können  durch  die  Verlagsbuchhandlung  Reuther 
&  Reichard  bezogen  werden  (à  1  Mk.). 

3.  Zwischen  S.  320  und  S.  321.  Kants  Wohnhaus,  zugleich  sein 
Sterbehaus.  Das  kleine  schmucklose  und  in  seiner  Einfachheit  um  so 
mehr  Eindruck  machende  Häuschen  ist  leider  im  Jahre  1893  dem  Wachs- 
tum der  Grossstadt  zum  Opfer  gebracht  worden. 

4.  Die  Beilage:  Kant  und  Friedrich  der  Grosse  am  Schluss 
des  Heftes  verdanken  wir  der  Güte  des  Herrn  John  A.  Leber  in  Berlin. 
Herr  Leber  hat  zu  Kants  hunderijährigem  Todestage  durch  den  Bildhauer 
A.  Heinrich  eine  Plakette  herstellen  lassen,  durch  welche  er  den  Gedanken 
plastisch  verkörpern  wollte,  dass  Kant  und  Friedrich  der  Grosse  äusserlich 
und  innerlich  zusammengehören.  Herr  Leber  hat  über  dieses  Thema  auch 
am  24.  November  1900  einen  Vortrag  in  der  Philosophischen  Gesellschaft 
in  Berlin  gehalten,  über  den  wir  Bd.  VI,  H.  1,  S.  114  berichtet  haben. 
Er  hat  auf  der  Plakette  den  schönen  und  treffenden  Ausspruch  von  Kuno 
Fischer  anbringen  lassen:  „Seine  Laufbahn  als  philosophischer 
Schriftsteller  und  Lehrer  von  den  ersten  Anfängen  bis  zu  den 
Höhen  seiner  welterleuchtenden  Werke  gehört  in  die  Zeit  des 
grossen  Königs  und  bildet  in  dem  Charakter  derselben  einen 
der  erhabensten  und  glorreichsten  ZiXge^,  Die  Original-Plakette 
hat  die  Masse  24^/g  cm  breit  und  20  cm  hoch;  sie  ist  in  Bronze  gegossen 
in  der  Bildgiesserei  von  H.  Gladenbeck  &  Sohn  in  Friedrichshagen  bei  Berlin. 
Liebhaber  können  Reproduktionen  der  Plakette  in  Bronze  von  letztge- 
nannter Firma  beziehen  (zum  Preise  von  60  M.). 


An  die  Freunde  der  Kantischen  Philosophie. 

Bericht  über  die  Begründung  einer  ^Kantgcaellschaft*'  und 

die  Errichtung  einer  ^Kantstiflung^ 

zum  hundertjährigen  Todestag  des  Philosophen. 

Es  lag  nahe,  den  hundertjährigen  Todestag  des  Philosophen  nicht  vor- 
übergehen zu  lassen,  ohne  ein  dauerndes  Andenken  an  denselben  zu  hinter- 
lassen. Der  Gedanke  daran  bewegte  mich  schon  seit  längerer  Zeit,  nahm  aber 
erst  nach  mancherlei  Überlegungen  und  Verhandlungen  mit  Freunden  und  mit 
massgebenden  Persönlichkeiten  in  den  letzten  Wochen  eine  brauchbare  Gestalt 
an,  d.  h.  eine  solche  Form,  wie  sie  für  den  vorliegenden  Fall  die  passendste 
und  geeignetste  erscheinen  musste. 

Und  so  verfasste  ich  denn  den  folgenden  Aufruf,  den  ich  in  seiner  letzten 
Redaktion  hier  zunächst  reprodudere. 

Aufruf. 

Am  12.  Februar  1904  werden  es  hundert  Jahre,  dass  Kant,  der 
Begründer  einer  neuen  Ära  in  der  Philosophie,  sein  Leben  voll- 
endet hat.  Zur  Erinnerung  an  diesen  Tag  werden  Bücher  und 
Festartikel  in  Hülle  und  Fülle  erscheinen,  werden  akademische 
Festreden  gehalten  werden,  und  auch  die  „Kantstudien*  be- 
reiten ein  eigenes  grösseres  Festheft  vor  mit  Beiträgen  hervor- 
ragender Autoren  (Liebmann,  Windelband,  Riehl,  Paulsen,  Kühne- 
mann u.  A.). 

Aber  es  wäre  wünschenswert,  dass  dieser  Tag  nicht  vorüber- 
ginge, ohne  ein  dauerndes  Andenken  zu  hinterlassen,  das  Zeugnis 
ablegt  von  der  Dankbarkeit,  die  wir  dem  grossen  Genius  der 
Philosophie  zollen. 

Die  „Kantstudien",  die  mit  dem  nächsten  Heft,  dem  oben- 
genannten Festheft,  ihren  9.  Band  beginnen,  haben  an  ihrem 
Teil  dazu  beigetragen,  diese  dankbare  Erinnerung  an  Kant  lebendig 
zu   erhalten.    Es  kann  ja   an   sich   keine   bessere  Ehrung  eines 


An  die  Freunde  der  Eantischen  Philosophie.  345 

lilosophen  gedacht  werden,  als  dass  eine  eigene  Zeitschrift  aus- 
iliesslich  dazu  dient,  seine  Ideen  zu  verbreiten,  seine  Lehren 
diskutieren,  seine  Gedanken  weiterzubilden. 

Die  , Kantstudien **  haben  demgemäss  auch  in  Deutschland 
d  im  Ausland  sich  viele  Freunde  erworben.  Aber  die  Zahl 
r  Abonnenten  hat  doch  nicht  dazu  hingereicht,  um  sämtliche 
>sten  ganz  zu  decken,  und  so  haben,  speziell  zur  Ermög- 
rliung  der  Heranziehung  tüchtiger  und  hervorragender 
itarbeiter,  wohlhabende  Freunde  der  „Kantstudien"  schon 
îhrfach  namhafte  Beiträge  zu  diesem  Zweck  gespendet.  Spe- 
îll  haben  sich  die  „Kantstudien"  drei  Jahre  lang  der  Unter- 
itzung  des  Professor  Dr.  Walter  Simon,  Stadtrat  in  Königsberg, 
erfreuen  gehabt. 

Allein  es  ist  wünschenswert,  dass  die  Existenz  der  Zeitschrift 
"ht  auf  solche  günstige  Zufälle  gestellt  bleibe,  die  nur  persön- 
hen  Beziehungen  des  jetzigen  Herausgebers  verdankt  werden, 
n  fester  Fonds  sollte  vorhanden  sein,  der  die  Zeitschrift  auf 
hre  hinaus  sichert,  auch  ganz  unabhängig  von  der  Person  des 
erausgebers.  In  England  und  Amerika  sind  mehrfach  gerade 
lilosophische  Zeitschriften  in  solcher  Weise  sicher  fundiert 
)rden. 

Der  Zuschuss,  den  die  „Kantstudien"  erfordern,  betrug  in 
ri  letzten  Jahren  durchschnittlich  pro  Jahr  500 — 600  Mark.  Um 
:sen  Zuschuss  für  eine  Reihe  von  Jahren  hinaus  zu  sichern, 
ilägt  der  unterzeichnete  Herausgeber  der  „Kantstudien" 
:h  eingehender  Beratung  mit  gleichgesinnten  Freunden  die 
findung  einer  Kantgesellschaft  vor,  nach  Analogie  der 
nd-Association  (Gesellschaft  zur  Erhaltung  der  philosophischen 
Itschrift  „Mind")  und  ähnlicher  Gesellschaften  in  Deutschland. 

Die  Gesellschaft  wird  gegründet  zunächst  zum  Zweck  der 
Haltung  und  Förderung  der  „Kantstudien",  und  zwar,  um  die 
iranziehung  hervorragender  Autoren  und  überhaupt  die  Be- 
haff ung  geeigneter  Beiträge  (z.  B.  auch  die  Reproduktion  von 
ntbildem)  zu  ermöglichen,  sodann  um  auch  sonstige  das  Stu- 
im  der  Kantischen  Philosophie  überhaupt  fördernde  Zwecke  zu 
ilisieren,  z.  B.  Veranstaltung  von  Preisausschreiben,  Unterstützung 
ssenschaftlicher  Publikationen  (speciell  auch  von  Dissertationen), 
rleihung  von  Ehrengaben  an  verdiente  Kantforscher,  speziell 
ch  von  Stipendien  an  jüngere  Gelehrte  (Privatdozenten)  Kan- 
cher  Richtung  u.  dgl. 


846  H.  Vaihinger, 

Der  Titel  der  «Kantstudien*  erhält  demgemass  den  Zusatz: 
«mit  Unterstätzung  der  Kantgesellschaft  herausgegeben*. 

Die  Beiträge  teilen  sich  in  einmalige  und  in  jahrliche. 

Jährliche  Beiträge:  Wer  regelmässig  pro  Jahr  20  Maik 
zur  Verfügung  stellt,  erhält  die  „Kantstudien"  gratis  und  franko 
zugesandt.  Die  Namen  der  Einsender  dieser  Jahresbeitilge 
(Jahresmitglieder)  werden  in  jedem  Jahre  in  einer  Liste 
vereinigt  und  in  den  «Kantstudien"  veröffentlicht 

Einmalige  Beiträge:  Der  durch  diese  Beitrage  ent- 
stehende Fonds  erhält  den  Namen  «Kantstiftung".  Die 
Spender  solcher  einmaligen  Beiträge  —  Mindestbeitrag  25  Mark— 
werden  dadurch  für  immer  Mitglieder  der  Gesellschaft  (Daner- 
. mitglieder).  Wenn  der  einmalige  Beitrag  400  Mark  and 
darüber  beträgt,  so  erhält  der  Spender  die  «Kantstudien' 
auf  Lebenszeit  gratis  und  franko  zugesandt  Die  Namen 
der  Spender  einmaliger  Beiträge  werden  ebenfalls  in  den 
«Kantstudien"  regelmässig  veröffentlicht  Beiträge  unter  25  Mirk 
werden  als  Geschenke  zur  Kantstiftung  betrachtet,  ohne  dass 
deren  Geber  Stimmrecht  in  den  Generalversammlungen  haben. 

Der  durch  diese  einmaligen  Beiträge  entstehende  Fonds 
(«Kantstiftung*)  soll  zinsbar  angelegt  werden.  Die  Zinsen  sollen 
zu  den  obengenannten  Zwecken  Verwendung  finden;  das  Kapital 
selbst  ist  unangreifbar  und  dieses  Stiftungskapital  wird  dem 
Curator  der  Universität  Halle  zur  Verwahrung  und  Ver- 
waltung übergeben. 

Beide  Formen  des  Beitrittes  sind  auch  vereinbar,  indem 
eine  und  dieselbe  Person  neben  einem  einmaligen  Beitrag  zu- 
gleich regelmässige  Jahresbeiträge  leisten  kann. 

Die  Verwendung  der  Beiträge  resp.  Erträge  ist  Aufgabe  der 
Redaktion  der  „ Kantstudien  **;  die  Redaktion  untersteht  in  dieser 
Hinsicht  der  Aufsicht  eines  aus  3  Mitgliedern  bestehenden  Ver- 
waltungsausschusses ;  ständiges  Mitglied  dieses  Ausschusses  ist  der 
Curator  der  Universität  Halle;  die  beiden  anderen  Mitglieder 
des  Ausschusses  werden  von  der  Generalversammlung  gewählt, 
welche  jedes  Jahre  am  12.  Februar,  dem  Todestage  Kants,  in 
Halle  zusammentritt.  Die  erstmalige  Generalversammlung  findet 
in  diesem  Jahr  am  Freitag,  den  22.  April  (Kants  Geburtstag), 
Abends  6  Uhr,  Reichardtstrasse  15»  statt. . 


An  die  Freunde  der  Kantischen  Philosophie.  347 

Eine  Obersicht  der  Einnahmen  und  Ausgaben  wird  einmal 
jährlich  in  den  „Kantstudien"  abgedruckt. 

Sollten  die  „Kantstudien"  eingehen,  so  wird  die  „Kantstiftung** 
Eigentum  der  Universität  Königsberg  mit  der  Bestimmung, 
^^ss  das  Kapital  erhalten  bleibt  und  dessen  Zinsen  zur 
'Förderung  des  Studiums  der  Kantischen  Philosophie  verwendet 
^^rden. 

Beiträge  werden  entweder  an  den  Unterzeichneten  oder  an 
^as  Bankhaus  H.  F.  Lehmann  in  Halle  a.  S.  erbeten.*) 

samtliche  Beiträge,  sowohl  die  jährlichen  als  die  einmaligen, 
^Verden  in  dem  zum  12.  Februar  1904  erscheinenden  Festheft 
namentlich  veröffentlicht.  Diese  Liste,  nebst  einem  in  demselben 
F'estheft  zum  erstenmal  mitgeteilten  Kantbildnis  (mit  Facsimile 
Kants)  wird  den  Zeichnern  von  Beiträgen  zugesendet  werden. 
Von  dem  umfangreichen  Festheft  selbst  wird  eine  grössere  An- 
zahl von  Separatabdrücken  in  besonderer  Ausstattung  hergestellt 
v^erden,  so  dass  dasselbe  voraussichtlich  allen  Zeichnern  eines 
einmaligen  grösseren  Beitrages  zur  „Kantstiftung"  überreicht 
'werden  kann. 

Der  Unterzeichnete,  welcher  selbstverständlich  seine  Zeit  und 
Kraft  der  Zeitschrift,  für  die  er  selbst  schon  namhafte  pecuniäre 
Opfer  gebracht  hat,  ohne  jede  Entschädigung  widmet  und  widmen 
wird,  eröffnet  die  Sammlung,  indem  er  selbst  einen  einmaligen 
Beitrag  von  300  Mark  zeichnet. 


Obgleich  dieser  Aufnif  erst  ziemlich  spät  verschickt  werden  konnte  und 
obgleich  diese  Versendung  wegen  schwerer  körperlicher  Indisposition  des  Ver- 
fassers des  Aufrufes  bis  jetzt  nur  ganz  unsystematisch  geschehen  konnte,  so 
hat  der  Aufm!  doch  einen  ausgezeichneten  Erfolg  gehabt.  Bis  heute  (27.  Jan.) 
sind  folgende  Personen  der  Gesellschaft  beigetreten  (die  Aufzählung  erfolgt  nach 
der  chronologischen  Reihenfolge  der  Beitrittserklärung): 


*)  Beiträge  aus  den  Vereinigten  Staaten  von  Nord-Amerika  werden  erbeten 
an  die  Adresse  des  amerikanischen  Mitherausgebers  der  .Kantstudien',  Professor 
J.  E.  Creighton,  Ithaca,  N.  Y. 


348 


dvreli  ell 


H.  Vaihinger, 

A.   BMienttitglleder 
ifUigen  Beitrag  rar  »»KMiteUilVBg^. 


New 


York 


Professor  Dr.  H.  Vaihinger,  Halle 

Oeh.  Reg.  Rath  Gottfried  Meyer,  Curator  der Univeisitit  Halle 

Professor  Dr.  Walter  Simon,  Stadtrat  in  Königsberg i. Pr. 

Professor  Dr.  Fr.  Paulsen,  Berlin      .... 

Oeh.  Rath  Professor  Dr.  Heinze,  Leipzig 

Geh.  Reg.  Rath  Professor  Dr.  Dilthey,  Berlin  . 

Oeh.  Hoirath  Professor  Dr.  O.  Liebmann,  Jena 

Geh.  Reg.  Rath  Professor  Dr.  Bergmann,  Marburg 

Hofrath  Professor  Dr.  A.  Rie  hi,  f&le 

Professor  Dr.  Alfred  Weber,  Strassburg  . 

Professor  Dr.  K.  Groos,  Giessen 

Bibliotheksdirektor  Dr.  Gerhard,  Halle 

Privatdozent  Dr.  Max  Scheler,  Jena 

Privatdozent  Dr.  Bauch,  Halle   . 

Ungenannt  S 

Reuther  &  Reichard,  Verlag  der  .Kantstudien',  Berlin 

Advocat  J.  A.  Levy,  Amsterdam 

Ungenannter  Hallenser         .... 

Geh.  Kommerzienrath  R.  Riedel,  Halle      . 

Geh.  Kommerzienrath  H.  Lehmann,  Halle 

Geh.  Kommerzienrath  A.  Dehne,  Halle 

Fabrikbesitzer  Ernst  Weise,  Halle    . 

J.  G.  Schurman,  Präsident  der  Cornell  University,  Ithaca, 

Rentier  H.  Vorländer,  Dresden        .       .       ,       . 

Rentier  John  A.  Leber,  Berlin         .... 

M.  Fessel,  Rédacteur,  Halberstadt     .... 

W.  Do  eile,  Buchdruckereibesitzer,  Halberstadt 

Fräulein  B.  Grabe,  Freiburg  i.  B.      . 

Professor  Dr.  R.  Friedberg,  Mitgl.  d.  Preuss.  Landtages,  Halle-Berlin 

Dr.  phil.  h.  c.  E  rn  s  t  V  o  11  e  r  t,  Mitinh.  d.  Weidmann'schen  Buchhdlg.,  Berlin 

Baumeister  F.  Kuhnt,  Fabrikbesitzer,  Halle 

Dr.  Arthur  Pfungst,  Frankfurt  a.  M. 

Professor  Dr.  Simmel,  Berlin 

Rektor  Dr.  Rausch,  Mitdirektor  der  Franckeschen  Stiftungen,  Halle 

Privatdozent  Dr.  Fritz  Medicus,  Halle 

Professor  D.  Dr.  Baumgarten,  z.  Z.  Rektor  der  Universität  Kiel    . 

Professor  Dr.  Götz  Martius,  Kiel 

Ethical  Society.  New  York  (Professor  Dr.  F.  Adler)  . 

Verlagsbuchhändler  August  Scher],  Berlin 

Ungenannt  M 

Privatdozent  Dr.  Raoul  Richter,  Leipzig 

Professor  Dr.  E.  v.  Lippmann,  Direktor  der  Zuckerraffbierie,  Halle 

Professor  Dr.  Güttier,  München 

Professor  Dr.  E  Kühnemann,  Rektor  der  K.  Akademie,  Posen 
M.  Rödiger,  Direktor  der  Halleschen  Maschinenfabrik 
Dr.  Friedrich  Alfred  Schmid,  Freiburg  i.  B.-Berlin     . 

Konsul  B.  Brons  jr.,  Emden 

Verlagsbuchhändler  Herniann  Schroedel,  Halle    .       .       . 


M  300 

50 
1000 
400 
100 
100 
100 
100 
120 
100 
100 


60 

00 

300 

100 

100 

500 

100 

500 

500 

500 

100 

00 

100 

30 

30 

25 

200 

400 

1000 

100 

30 

25 

25 

50 

400 

400 

100 

30 

100 

100 

100 

50 

25 

30 

400 

50 


Hierzu  Geschenk  von  Banquier  S.  Hirschmann,  Arnstadt 


Summa    M.    9175 
.    .         10 


Gesamtsumma    M.    9185 


An  die  Freunde  der  Eantischen  Philosophie.  349 

B.    Jaliretiiiltglleder. 

Professor  Dr.  A.   Lasson,  Berlin-Friedenau. 

Professor  Dr.  P.  Deussen,  Kiel. 

Professor  Dr.  Dessoir,  Berlin. 

Professor  Dr.  Theobald  Ziegler,  Strassburg  i.  E. 

Professor  Dr.  Clemens  Bäumker,  Strassburg  i.  E. 

Dr.  Hugo  Renner,  Berlin. 

Dr.  W.  Reinecke,  Magdeburg. 

Dr.  Br.  Christiansen,  Freiburg  i.  B. 

Amtsrichter  Arthur  Warda,  Schippenbeil  i.  Ostpr. 

Pastor  prim.  Dr.  Katzer,  Löbau  i.  S. 

Dr.  med.  Iwan  Bloch,  Berlin. 

Stud.  jur.  et  cam.  G.  A.  E.  Bogeng,  Berlin. 

Dr.  med.  Hermann  Gutzmann,  Berlin. 

Schriftsteller  Emil  Lucka,  Wien. 

Hauptmann  a.  D.  Franz  Schraube,  Halberstadt. 

Dr.  P.  H.  Ritter,  Amsterdam. 

Schriftsteller  Karl  Fr.  Pfau,  Verlagsbuchhändler,  Leipzig. 

Diakonus  Drey  er,  Camburg  a.  S. 

Stud.  phil.  Felix  Kuberka,  Halle  a.  S. 

Paulusbibliothek  in  Worms  (Direktor  Prof.  Dr.  Weckerling). 

Cand.  phil.  Jacob  Herz,  Wien. 

Kommerzienrath  Dr.  jur.  W.  Simon,  Berlin. 

Walter  B.  Waterman,  Roxbury  (Mass.)  U.  S.  A. 

Dr.  jur.  J.  Sa  eke  r,  Odessa. 

Verlajgsbuchhändler  Johannes  Fr.  Dürr,  Leipzig. 

Lie.  Dr.  E.  Vo  wink  el,  Mettmann  (Rheinl.) 

Cand.  phil.  Georg  Küspert,  München. 

Frau  Direktor  Julie  Rödiger  geb.  Jaeger,  Halle  a.  S. 

Professor  Dr.  Levy -Brühl,  Paris. 

Stud.  phiL  Ferdinand  Harnisch,  Halle. 

Geh.  Kommerzienrath  R.  Riedel,  Halle 

Dr.  phil.  h.  c.  E.  V  0 1 1  e  r  t ,  Veriagsbuchhändler,  Beriin 

Advokat  J.  A.  Levy,  Amsterdam 

Professor  Dr.  E.  v.  Lippmann,  Halle 


Gleichzeitig 

Dauer- 
mitglieder. 


Es  ist  möglich,  dass  der  Jahresbeitrag  (20  M.)  für  die  folgenden  Jahre 
herabgesetzt  werden  kann,  wenn  die  Kantstiftung,  welche  bis  jetzt  die  ansehn- 
liche Höhe  von  9185  Mk.  erreicht  hat,  weiterhin  noch  eine  erhebliche  Steigerung 
findet  Damit  der  Zweck  der  .Kantstiftung"  —  dauernde  finanzielle  Fundierung 
der  .Kantstudien'  —  in  vollem  Masse  für  alle  Zeiten  erreicht  werden  kann, 
sollte  dieselbe  mindestens  verdoppelt,  d.  h.  auf  eine  Höhe  von  15—20,000  Mk. 
gebracht  werden. 

Es  können  dann  auch  die  anderen  Zwecke,  welche  sich  die  Gesellschaft 
gestellt  hat  —  Stellung  von  Preisaufgaben,  Unterstützung  anderer  wissenschaft- 
licher Unternehmungen,  Ehrengaben  an  verdiente  Kantforscher,  Stipendien  an 
jüngere  Gelehrte  und  Privatdozenten,  u.  A.  —  um  so  eher  aus  den  laufenden 
Beiträgen  der  Jahresmitglieder  realisiert  werden,  je  höher  die  .Kantstiftung" 
dotiert  ist,  sodass  sie  allein  schon  zur  finanziellen  Fundierung  der  .Kantstudien' 
genügt 

Alle  Freunde  der  Kantischen  Philosophie  sollten  zusammenwirken,  um 
dies  verhältnismässig  leicht  realisierbare  Ziel  zu  erreichen.  Denn  es  giebt,  wie 
die  Liste  der  einmaligen  Beiträge  zeigt,  Personen  genug,  welche  sich  eine  Ehre 


350     H.  Vaihinger,  An  die  Freunde  der  Kantiscben  Philosophie. 

und  Freude  daraus  machen,  ein  ideales  wissenschaftliches  Unternehmen  zu 
stützen.  Allen  obenaufgezählten  Teilnehmern  —  Dauer-  und  Jahresmitgliedem 
—  spreche  ich  im  Namen  dar  Sache,  um  die  es  sich  handelt,  den  wännsten 
Dank  aus,  und  bitte  Alle,  weitere  Dauer-  und  Jahresmitglieder  zu  werben  und 
dahin  zu  wirken,  dass  bis  zum  22.  April  (Kants  Geburtstag),  an  dem  die  kon- 
stituierende Versammlung  abgehalten  werden  soll,  das  obengenannte  Ziel  er- 
reicht wird. 

Halle  a.  S.,  27.  Januar  1904. 

BtlohardtitrMM  15. 


Professor  Dr.  H.  Vaihingen 


rftfhi«Mra»ktr«S  CA.SM—«e^O».HalUtPi 


â 


i 


Luther  und  Kant. 

Von  Bruno  Bauch. 


Motto:  nWer  kann  aftgen,  wie  aich  die  religiÖM 
Organisation  Dentschlaada  gestaltet  hitte, 
wenn  ihm  damala  (d.  b.  im  Zeitalter  der  Re- 
formation) dat  Sohiciual  ein  pbiloaopblaohe« 
Oexüe  wirkUob  bescbeert  bitte  ?<" 

Windelband. 

Einleitung. 

„Ein  Philosoph  vermag  die  Mittel  aufzutreiben,  um  die  Dogmen 
der  griechischen  Kirche  tiefsinnig  und  weise  zu  finden  ;  kein  Philo- 
soph aber  ist  im  Stande,  dem  Glauben  Luthers  irgend  welchen 
Geschmack  abzugewinnen."  Kein  Geringerer  als  Harnack  ist  es, 
von  dem  dieser  Ausspruch  stammt.^)  Und  doch  wird  ihm  vielleicht 
kein  Pliilosoph  uneingeschränkt  hierin  beistimmen.  Unsere  eigene 
Untersuchung  ist  zum  grossen  Teil  in  letzter  Linie  —  bald  expli- 
zite, bald  implizite  —  nichts  anderes,  als  eine  Betrachtung  des 
Glaubens  Luthers  unter  philosophischem  Gesichtspunkte.  Und  für 
diesen  erweist  er  sich  doch  nicht  von  der  Art,  dass  man  an  ihm 
gar  keinen  Geschmack  finden  könnte.  Gewiss,  dieser  oder  jener 
Glaubenssatz  wird  den  Philosophen  geschmacklos,  ja  unvernünftig, 
nicht  bloss  unphilosophisch  erscheinen.  Wenn  Harnack  das  so 
meinte,  wäre  ihm  nicht  zu  widersprechen.  Wenn  man  aber  auf 
die  Totalität,  die  Idee  von  Luthers  Glauben  sieht,  mit  ihrer  ganzen 
Fülle  und  Tragweite,  so  wird  doch  auch  dem  Philosophen  eine  ge- 
wisse Bedeutsamkeit  nicht  verborgen  bleiben. 

Unsere  Untersuchung  ist  also  sowohl  eine  einseitige,  insofern 
wir  Luthers  Glauben  mit  seiner  Bedeutung  und  Tragweite  nur 
Vom  philosophischen  Standpunkte  betrachten;  als  auch  ist  sie  eine 
vielseitige,  weil  es  uns  auf  kein  einzelnes  Glaubensstück,  keinen 
bestimmten  Glauoenssatz,  sondern  auf  die  Totalität,  die  Idee  des 
Glaubens  ankouimt. 


Î)  Dogmengescbicht«  III.  Bd.  S.  787. 

Kaatatodien  IX.  23 


352  B.  Banch, 

Ganz  davon  abgesehen,  dass  man  Luther  biographisch,  od» 
vom  theologischen,  auch  politischen  G^chtspunkte  zu  betrachten 
vermöchte,  könnten  sich  schliesslich  für  jede  dieser  übergeordneten 
Betrachtungsweisen  noch  weitere  untergeordnete  Gesichtspunkte 
ergeben.  Wir  haben  hier  nur  einen  Gesichtspunkt  vor.  Das  ist 
der  des  philosophischen  Wertes  von  Luthers  Glauben  und  dessen 
Tragweite.  Für  Harnack  ist  der  übergeordnete  Gesichtspunkt 
fraglos  der  theologische.  Und  doch  spaltet  er  sich  für  den  Theo- 
logen nach  drei  historischen  Momenten,  und  so  stellt  er  schliesslich 
die  drei  Betrachtungsweisen  dar  :  „Das  Christentum  Luthers**,  ,.die 
Kritik  Luthers  an  der  herrschenden  kirchlichen  Oberlieferung  nnd 
am  Dogma^  und  „die  von  Luther  neben  und  in  seinem  Christen- 
tume  festgehaltenen  katholischen  Elemente''.^) 

Schliesslich  lässt  sich  aber  auch  unsere  philosophische  Frage- 
stellung historisch  wenden.  Wir  können  sie  nämlich  auch  dahin 
formulieren  :  Was  dürfen  wir  heute  noch,  ja  allezeit,  an  phUoso- 
phischem  Massstabe  gemessen,  von  Luthers  Glaubensweise  for 
wertvoll  halten?  und  so  zeigt  sich,  dass  der  hier  vorliegrade 
Versuch  nichts  weiter  sein  will,  als  gleichsam  eine  philosophische 
Ergänzung  zu  Hamacks  drei  Gesichtspunkten.  Dabei  kann  àA 
auch  kein  prinzipieller  Gegensatz  zu  dem  Führer  der  modernen 
Theologie  ergeben,  weil  unsere  Betrachtungsweise  auf  einem  an- 
deren Boden  und  in  anderer  Richtung  verläuft.  Sie  macht  nicht 
den  Anspruch,  theologisch  von  Bedeutung  zu  sein,  wenn  sie  auch 
für  den  Theologen  nicht  ganz  ohne  Interesse  sein  dürfte,  indem 
sie  aus  dem  theologisch- Wesentlichen,  das  z.  B.  gerade  die  drei 
erwähnten  Gesichtspunkte  Hamacks  bieten,  das  lediglich  phüoso- 
phisch-W^esentliche  herausschält.  Dieses  wird  sich  zwar  innerhalb 
der  Fülle  der  Gesamtauschauung  Luthers  als  Antithese  zu  dem 
dritten  Gesichtspunkte  Harnacks  auffassen  lassen,  und  doch  keinen 
Widerspruch  dagegen  bedeuten,  dass  dessen  drei  Betrachtungs- 
weisen überhaupt  zu  Recht  bestehen. 

Damit  sind  unserem  Probleme  von  vornherein  gewisse  Grenzen 
gesetzt.  Wir  machen  keineswegs  den  Anspruch,  die  historische 
Lutherforschuug  auch  nur  im  mindesten  zu  bereichern,  sondern 
suchen  nur  aus  dem  bereits  mehr  oder  minder  Bekannten  das  phi- 
losophisch Bedeutsame  herauszuarbeiten.  Und  wenn  wir  daTon, 
in    einer    historischen    Wendung,    als    dem    heute    noch   Giltigen 


1)  a.  a.  O.  S.  736-807. 


Luther  und  Kant.  353 

sprachen,  so  legten  wir  eben  doch  nicht  einen  rein  historischen, 
sondern  zugleich  auch  philosophischen,  nur  historisch  gewandten 
Wertgesichtspunkt  an.  Dass  wir  das  philosophisch  Bedeutsame 
in  seinem  Werte,  trotzdem  wir  Luther  nicht  zum  Philosophen 
stempeln  wollen,  nicht  gering  anschlagen,  das  mag  daraus  hervor- 
gehen, dass  wir  sagen,  man  könnte  ihn  als  Vorläufer  Kants  be- 
trachten. Dazu  aber  müssen  wir  auch  noch  kurz  skizzieren, 
erstens  in  welchem  Sinne  wir  überhaupt  den  Begriff  der  Vor- 
läuferschaft brauchen,  und  zweitens,  in  welchem  Umfange  wir 
Luther  als  Vorläufer  Kants  gelten  lassen. 

Wie  sehr  Kant  überall  originell  ist  und  auf  eigenen  Füssen 
steht,  weiss  jeder,  dem  die  Geschichte  der  Philosophie  nicht  ganz 
fremd  ist.  Und  gerade  die  historische  Forschung  hat  von  dem 
Wenigen,  von  dem  man  anfänglich  die  Kantische  Lehre  beeinflusst 
glaubte,  noch  das  Meiste  in  Abzug  gebracht.  Man  hat  fast  nach 
jeder  Richtung  hin  Kantische  Vorläuferschaften  abgelehnt,  und 
heute  glaubt  man  eigentlich  nur  noch  au  die  von  Kant  selbst  so 
sehr  betonte  Abhängigkeit  von  Hume.  Selbst  der  lang  gehegte 
Glaube,  dass  Lambert  ein  Vorläufer  Kants  gewesen,  ist  durch  die 
scharfsinnigen  Untersuchungen  von  Otto  Baensch  ^)  jüngst  zerstört 
worden.  Um  so  bedenklicher  scheint  es,  hier  Luther,  von  dem 
man  weiss,  wie  sehr  er  die  Philosophie  gescholten,  als  einen  neuen 
Vorläufer  Kants  hinzustellen.  Nun  in  dem  Sinne,  in  dem  man 
Home  als  Vorläufer  Kants  fassen  muss  und  Lambert  lange  Zeit 
gefasst  hat,  nehmen  wir  in  diesem  Falle  den  Begriff  auch  nicht. 
Wir  meinen  gar  nicht,  dass  Luther  unmittelbar  oder  mittelbar 
einen  bestimmenden,  Richtung  gebenden  Einfluss  auf  Kant  ausge- 
übt habe.  Daher  braucht  auch  erst  Niemand  gegen  uns  nachzu- 
weisen, Luther  liesse  sich  —  so  ungeheuer  bedeutsam  sein  Er- 
scheinen für  die  Geschichte  der  Menschheit  überhaupt  auch  sei  — 
ioch  aus  dem  engeren  Rahmen  der  Geschichte  der  kritischen  Phi- 
losophie wegdenken,  ohne  dass  deren  Entwickelung  auch  nur  im 
mindesten  alteriert  würde.  2) 


^)  Jobann  Heinrich  Lamberts  Phüosophie  und  seine  Stellung  zu  Kant. 
Von  Dr.  Otto  Baensch.    Tübingen  und  Leipzig. 

^  Dass  man  damit  nun  doch  gegen  die  allgemein -historischen 
Zusammenhänge  etwas  rücksichtslos  verführe,  wird  andererseits  wohl 
Niemand  leugnen.  Aber  wir  woUen  die  Geschichte  hier  nicht  einmal 
rekonstruieren. 

23* 


354 


B.  Baach, 


Will  man  also  unter  dem  Vorläufer  eines  Denkers  nur  den- 
jenigen verstehen,  der  auf  ihn  einen  tiefgi^ifendeu  Einfhiss  gehabt, 
seine  Wissenschaft liciien  Anschaiuingt^ii  in  dieser  oder  jener  Rich- 
tung nachdiiicksvoll  biistinnni  hat,  dann  dürfen  wir  Luther  keinen 
Vorläufer  Kants  ueiineiK 

Es  giebt  aber  noch  ein  Verhaltids  zwischen  historischen  Per- 
sunlichkeiten,  das  diese  Benennung  rechtfertigen  dürfte.  In  der 
Geschichte  des  menschlichen  Geistes  konnnt  es  vor,  dass  Ideeu 
keimhaft  zur  Änsseruüg  gelangen,  die  Jahrhnnd^'rte  nachher  ihre  ^^^ 
scharfe,  kritische  Pnignng  erhalten  und  volleruls  begrifflich  syste — -^ag 
nmtisch  ausgestaltet  werden,  ohne  nachweisbare  Verbindung  beider^Ä"^;^ 
historiseht>r  Pole.  So  hat  auch  Luther  Wahrheiten  ausgesprochen^  m^mu 
die  Kantische  Ideen  (entweder  kciiidiaft  enthalten,  oder  solche  sogaML-^äsaJ 
mit  zleudicher  Dentlichkeit  darstellen.  Nur  sind  sie  auch  im  zweiter»^ -fqbi 
Falle  nicht  systematisch  entwickelt  und  verarbeitet,  oder  gar  wirk  ^^Ä'-k 
lieh  in  ein  vollendetes  System  gebracht.  In  diesem  sozusagen  po<z^'«3€ 
sitivistischen  Siinie,  in  dem  es  uns  gleichviel  gilt,  oh  Kant  nach^  J^^b 
weishch  unter  I^uthers  Einfluss  gestanden  und  Anregungen  voi:<::^"0l 
ihm,  unmittelbar  oder  mittelbar,  empfangen  hat,  oder  nicht,  woller-^^-e 
wir  ihn  als  Vorläufer  Kants  verstehen.  Will  man  ein  Aoalogor  <::»'T<ï 
ans  dem  Gebiete  der  Geistesgeschichte  sonst^  so  scheint  mir  di  î  M^ 
Geschichte  der  Astronomie  das  passendste  zu  liefern.  Man  denk:3rf  äI 
an  Aristarch  und  Kopernikus.  So,  glaube  ich,  wird  man  uns  nichrJ.:SBl 
missvei'stehen  ;  eher  wird  man  sagen,  dass  wir  zu  wenig  als  zu  vi(^  ir^ 
Einfluss  statuieren,  da  nun  doch  die  historische  Kontinuität  zwische^^^  ^<ä 
Luther  und  Kant  eine  innigere  ist,  wie  die  zwischen  Aristarch  uujr^-«ii 
Kopernikus.  Wir  wollen  also  nm-  behaupten,  dass  man  in  deia^^  öi 
Sinne  und  mindestens  mit  demselben  Recht  wird  Luther  eine^^^«^e 
Vorläufer  Kants  nennen  dürfen,  wie  etwa  den  Aristarch  einen  Vor<i»'oi 
lauf  er  des  Kopernikus.^) 

Nun    haben    wir  noch  den  Umfang,   in  dem  man  den  Begri  m^^^it 
des  Vorläufers  auf  Luther  im  Verhältnis  zu  Kant  anwenden  kanr  M^tïn, 

Ï)  Wenn  Riehl  von  .bewusster  Anleliinmiç'^  des  Kopeniikus  „an  seil«:  Sue 
antiken    Vorgänger*    redet,    ao    widerspriclit    dies    uns    keineswegs.      D  ^T^er 
„kühne  Gedanke"  ist  es,  der  von  Koperiiikiis  er/Efriffen  wird^  nachdera  il^f^M 
hiii^e  Jahrhunderte    vor    ihm    die    pjtliagtireische  Philosophie  gefasst,  ii^^Kd 
iiisiïfera    küiinte    man  von  hewnsster  Anleiiiuing  immerhin  sprechen,    oh^^»e 
eine  innigen;  Beziehunjsf  /wischen  Aristarch  und  Ktjpemikns  st^ituieren  ^^a 
woUen^   als    wie  zwischen  Luther  und  Kant.     Denn  bei  K(i(jeniikus  erhfCi^ 
die  Idee  erst  ihre  priii/ipielle  Be^rinidan^.     V^l.  Hielil  :    „Zur  Einführuwije" 
in  die  Philosoplne  lîtr  tiegc-uwari**.     S.  ^ô  L 


r 


Luther  und  Kant.  3ÔÔ 

zu  bestimmen.     Auch  das  können  die  letzten  Bemerkungen  wenig- 
stens nahelegen. 
« 
Dass  die  Totalität  der  gewaltigen  Wirksamkeit  Luthers  eben- 
sowenig wie   seine  Pei-sou  und  seine  Lebensschicksale  Gegenstand 
dieser  Untersuchung  sind,  war  von  vornherein  klar,    weil  wir  nur 
cias    philosophisch-Bedeutsame   an    ihm,    seine    Vorlauf erschaft    zu 
Kant  behandeln  wollen.    Aber  auch  schon  aus  dem  Sinne,  in  dem 
wir    diesen  Begriff   verwandten,   geht  die  relative  p]nge  des  Um- 
f  ang-es   hervor,    in    dem    wir  ihn  gebraucht  wissen  wollen:    Wir 
erwarten  kein  philosophisches  System.    Die  logischen  und  erkennt- 
nistheoretischen   Untersuchungen,    die  Subtilitäten   der  Metaphysik 
liegeil  Luther   so    fern,    wie  sie  dem  impulsiven  Drange  eines  Re- 
formators,  dem   feurigen,    leidenschaftlich-fromm-bewegten  Herzen 
eines  religiösen  Genies   nur  fern  liegen  können.     Sittlich-religiöser 
ISatur   nur   können    eben   des   religiösen  Genies   Intuitionen    sein. 
AVie  Luther  für  die  Geschichte  vor  allem  der  Moral  und  Religion 
l^edeutsam  geworden  ist,    so    können  wir  auch  seine  Vorbedeutung 
für  Kant  allein   auf  den  Gebieten  der  Ethik  und  Religionsphiloso- 
phie erwarten. 

Und   auch   hier  können  wir  uns,    wenn  wir  zugleich  zurück- 
denken   an  den  Sinn,    in  dem  wir  ihn  als  Kants  Vorläufer  fassen, 
im  voraus  sagen:  viel  mehr  genial  hingeworfen,  als  in  einen  streng 
logisch-systematischen  Zusammenhang  gebracht,  treten  seine  Ideen 
zu  Tage.     Nicht  immer,  ja  oft  überhaupt  nicht,    ist  er  sich  ihrer 
Tragweite   ganz   bewusst.     Manches  werden  wir  im  Verhältnis  zu 
den    Anschauungen   Kants    viel   mehr   als   blossen,   wenn  auch  in 
deren  Richtung   durchaus   veranlagten  Keim,    denn    als  mit  ihnen 
absolut  identisch  und  für  sie  vollkommen  vorbildlich  ansehen  dürfen. 
Was    er   im    dunklen  Drange   seines  religiösen  Gemüts  mehr  ahnt 
und  fühlt,  als  begreift,  das  werden  wir  bei  Kant  in  das  Licht  be- 
H'usster  Klarheit   durch  die  philosophisch-begriffliche  Reflexion  er- 
hoben   und    dann   in   seinen  ganzen  Konsequenzen  verfolgt  sehen. 
Ja,    unvereinbare  Gegensätze   in    den    Ideen    und   Zielen   Luthers 
Werden   wir   nicht   verkennen  dürfen,    es  sind  die  Gegensätze  des 
Alten    und  Neuen,    des  Überkommenen    und   des  Eigenen,    Selbst- 
f^eschaffenen,  die  Luther  zu  vereinen  sucht,  die  sich  aber  schlecht- 
hin nicht  vereinigen  lassen,   sodass   durch  seine  Gedankenwelt  ein 
Riss  geht,    der  für  die  ganze  Folgezeit  bedeutsam  werden  musste. 
£s  ist  der  Riss  der  unvollendet  gebliebenen  Konsequenz,  der,  wie 


S86 


B    Baneb^ 


Oitstav  Kroytag  iK»ni*^rlt1,»)  in  der  Person lichkeit  Luthers  zn  etwas 
Tragmium  fiiliri.  Die  ^Beschränk theitcD  seiner  Nnttir  nnd  Biidnng*' 
werden  wir  gegenübertreten  sehen  „seinem  prrossen  Herzen*", 
AJ»er  wir  w^erden  mit  Freytag  auch  sagen  können:  „Alle  Be- 
s^'liränktlieiteii  «einer  Xatur  und  Bildung  versehwindco  gegen  die 
Fülle  vnn  Segen,  w^elcher  aus  seinem  grossen  Herzen  in  das  Leheu 
seiner  Nation  eingestr^mit  ist."*  Denn  auch  das,  was  in  philoso — ^^ 
|diisch<*r  I5ezit4iung  bedeutsaii!  ist,  eiilspringt  nicht  aus  der  Ke-  ^=^ 
flexiofi  seines  Vei*staudes,  es  (luilll  vielmehr  hervor  aus  dem  tiefeis:^ 
(i^HTihl  si'iiir*r  religiösen  Eigenart,  Die  begriffliche  Klärung  un^  .«^j 
kritische  l>urchbildiuig  dessen,  was  aus  dieser  HerzeusinUiilio»^  ^zdi 
bereits  geflossen,  blieb  der  Philosüpliie  vorbehalten,  der  Philosoitlu<3^^e; 
tlie  zwfM  JalirbniMhilf*  imcli  liUtber,  der  grösste,  schaffensge wältig:^  jjjt 
ste  Pbilesopli  unserer  Nation,  darstelh^ii  sollte.  i 

So  werden  wir  verstehen,  dass  Kant,  trotzdem  oder  gera*IT.»'-di 
wiil  er  mit  Luther  im  Ideenfiindament  übereinstimmte,  im  Aufl)f»-^  ail 
inid  Ansbati  s<'iri«^s  Systf-ms  IjiUhers  Gegensätze  liberwiiiden  musst  ^Ä^te, 
dass  für  ihn  nuinches,  ja  vieles  in  Wegfall  kommen  musste,  wä.  ^vaa 
in  d(*s  Reformators  Fühlen  nnd  Wolbni  ein  unveräusserlicher  B-^^3©- 
stand  buchen  sollte;  verstehen,  wie  das,  was  au  Lutliers  Idei^-^-^ii 
ewig  ist,  und  was  schon  eine  Jabrhnnderte  alte  Mission  hinter  si»^  ^Sicl 
hat,  als  Kant  in  die  lùitwicklnng'  der  iMeiischheit  eingreift,  in  d  .t^ei 
Philosoplien  Genius  sich  hindurchringt  xu  widerspruchsloser  Klifcs-  ^bx^ 
heit,  zu  dem  Anspruch  auf  kritische  Anerkennung  und  kritiscIÄ^  h« 
tîeltnng,  sodass  ei^t  dadurch  seine  mvige  iieltnng  fest  gegrüuÄl^^del 
ist.  In  dieser  Weise  werden  wir  Luther  als  Vorläufer  Kauts  a^^s^n- 
zusehen  haben  und  wollen  ihn  angesehen  wissen* 

I>ass  uiati  überhaupt  einmal  versucht,  Luther  und  Kant  vi 
gleicheiul  gegeniibenîwstellen,   düi^fte   nichts  weiter  l'berraschendL^iJcs 


sein.     Diese  Problemstellung  ist  gar  nicht  besonders  originell. 


//; 


der    philosophie-historischeii    Forschung   sind    bereiLs    maunigfai-^^^^/if' 
Hinweise    darauf    gegeben.      Daher   erscheint    es    mii-    als    Pûi^::^}l 
und  Schuldigkeit,  wenigstens  in  allei*  Kürze  den  Stand  des  Problem  wis 
zu  skizzieren. 

Am  frühesten -)  und  bei  weitem  am  besten  hat  wohl  Dilth  ^J 
in  seineu  feinsinuigen  und  gehaltvollen  Untersuchungen  im  Arch-iv 


1)  Bilder  aus  der  deutschen  Vergangenheit.  IIL  S.  lâÔ  f* 
*)  Wenn  wir  von  Lommatzsth  absehen.    Dieser  hat  allerdings  scb«>«^ 
eher  m   seinem  Werk    über  ^Lutbeis  Lehre  vom  ethisch*religiö8en  StaiK^^^ 
punkte  aas*,  etc.   ohne  aber  auch  nor  im  geringsten  den  Kern  zu  ireîf^^*^ 


Luther  und  Kant. 


367 


für  ileschiditi*    ûw  f^tnlosoplne    auch    unser  Probloni  berührt*     Er 

stellt  hier  dar  sowohl  tiie  „Auffassung  uiid  Analyse  des  Menschen 

im   1Ô.  und   1*>.  Jahrhundert",  als  auch  das  ,,natrn!i<"Ue  System  der 

tti»i8t«'S\vissHiischafttii  im  t7.  Jahrliuiideil/',  und  da  innss  er  natnr- 

lich   auch  unter  den   historischen  Richtungen  auf  den  Lutherischen 

Üostanclteii  tr(*ibrM!dt^r  Kraft  hinweisen.    Kurz  und  iil»eraus  treffend 

betont    er,    dass    Luther,    liei    allem  Festhalten    am    I*oj!>'matisunis, 

docli    durch    die  Zuriicknahnn*    des  Do^nienp^laubens   in  die  indivi- 

tluelle  Seele,  zur  Uuabhäno;ip^keit  der  Person  gelangt.*)     l^wd  sehr 

hedtnitsam  ei*Kcheint  mir  die  Ansicht  Dütheys,  die  er  dahin  fonnu- 

lieft :^)  ,Jch  leugne  durcliaus,  dass  *ler  Kern  der  reformatoriselnni 

Keligiosität    in    dt^r    Erneuerung   der  Paulinischen    Rechtfertigung 

durch  den  Ulauhen  enthalten  ist.^)    Diese  Lehre  ist  von  Augustinus, 

dem  heiligen    Bernhard,    Tauler    und    der   deutschen  Theologie  iui 

Wesentlichen     besessen    worden,     ohne    dass    eine    neue    Epoche 

der    christlichen  Religiosität    daraus    hervorgegangen    wäre.      Ich 

muss  sonach  auch  in  Abrede  stellen,  dass  der  Zurückgang  auf  die 

Schrift  als  die    zureichende  ^.^nelle  fiii-  den  christlichen  Lehenspro- 

zess  der  Kern   des  reforniatorischen  Glaubens  sei.     Diese  Einsicht 

ist  auch  vor  Luther  von  den  Theologen*)  ausgesprochen  und  neben 

ihm  hat  Erasmus  sie  geltend  gemacht,  ohne  zur  Reformation  iiher- 

zittreten.     Ich  finde  vielmelii-,  dass  die  refornuitorische  Religiosität 

über    das    auf   allen   früheren  Stufen    des   i  Christentums  Gegebene 

hinausgegangen  ist .  ,  .  Luther  ist  über  Alles,  was  von  christlicher 

ßrligiosität    uns  vor  ihm  überliefert  ist,    hinausgegangen.     Er  hat 


mit    einer  Polemik   gegen    Kant  \S,  H9  L)*   die    um  Ziele    vorbeig^ehl,    das 
Verhältnis    kurz   lyeîîit reift.     Aber  doch  mit  so  wenig  GlUck,  dass  wir  von 
den    hier   erwähnten  Stellen    eigeiitlidi  absehen  könnten.     Anch  brijig^t  er 
(S.   1751  Lniher  imd  Kant  in  einen  GegetiNjitz,  der,  wir  wir  sehen  werden, 
«udschen  beiden  nicht  henteht.     Wenn  Kant  die  »bsobite  Innerlichkeit  be- 
tont,   ohne    mich    dem    wirkenden  äusseren  Krfolg  zu  scliielen»   so  werden 
wir  gerade  darin  eine  Verwantltschaft,  nnd  zwar  die  Hanpt^^er^^andtschaft 
Uli t  Luther,  aher  keinen  (te^^enHiitz,  gar  hald  erkennen  kOnnen.    Der  Gegen- 
satz zwischen  Lnther  nnd  Kant  ist  allein  der,  der  in  Luther  seihst  i>esteht 
und  den  dt?r  Reformator  für  nich  und  in  seiner  Persnii  nicht  zu  Überwinden 
vemiockte,  insofern  er  ebert  nie  den  theüreti,sehen  Di*^inatLsmus  überwand* 
^)  Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.     V.  Band,  S.  357. 
■^  8)  a.  a.  O.  VL  S.  377. 

^^f  ^)  Hamack  .Dü^meuKescIiichte  111,  8.767)  widerspriclït  darin  Düthey. 

r    Wir  kommen  darauf  zurück, 

I  *)  Düthey   zitiert    Dun^    Skotus    in    übr«   sent,  Proi.    quaest.  IIJ,  14. 

I       sacra  scriptura  biifficienter  coiitinet  doctrinam  neceseariam  viatori. 


368  B.  Bauch, 

ein  neues  Zeitalter  der  Beligiositftt  des  Abendlandes  herangeführt 
Dieser  Fortschritt  stand  in  einem  notwendigen  Znsammadumge 
mit  der  ganzen  Entwickelung  der  germanischen  Gesellschaft .  . . 
Die  Person  fühlte  sich  jetzt  in  der  abgeschlossenen  Eigenheit  ihres 
Gehaltes.  Jedem  Verbände  gegenüber  fühlte  sie  ihren  Selbstwert 
und  die  ihr  innewohnende  Eraft^ 

Nichts  Geringeres  also  als  die  Übertragung  des  auf  deo  ye^ 
schiedenen  Eulturgebieten  der  germanischen  Gesellschaft  sich  mäch- 
tig regenden  und  wirksam  werdenden  „Bewusstseins  des  Wertes  and 
der  Autonomie  der  Person^  auf  das  religiöse  Gebiet  ist  oadi 
Dilthey  die  That  Luthers. 

Dass  er  den  Begriff  der  Autonomie,  >)  den  man  gewöhnlich 
nur  mit  dem  Begriff  der  Eantiscben  Ethik  verbindet,  schon  Luther 
zuweist,  scheint  mir  selbst  ein  bedeutsamer  Hinweis  auf  Kant  xn 
sein,  und  wenn  DUthey  für  seinen  Zusammenhang  auch  nicht  ans- 
drücklich  auf  Kant  eingehen  kann,  so  glaube  ich  doch,  dass  er 
sich  der  Geistesverwandtschaft  Luthers  und  Kants  sehr  wohl  be- 
wusst  ist.  Das  geht  für  mich  auch  noch  besonders  darans 
hervor,  dass  er  in  anderem  Zusammenhange  Kant  ausdrücklich 
in  die  Reihe  der  Transscendentaltheologen  stellt  Unter  der 
transscendentalen  Theologie  versteht  Dilthey  nEmlich  die  zor 
transscendentalen  Philosophie  iu  Analogie  stehenden  Richtungen, 
„welche  hinter  die  gegebenen  Formeln,  Historien,  Dogmen  zu- 
rückzugehen streben  auf  ein  immer  und  überall  wirkendes 
menschlich  Göttliches  in  der  Seele,  das  alle  diese  Gestalten  des 
religiösen  Lebens  hervorbringt.  Dieser  Richtung  haben  Täufer 
und  Mystiker,  Historiker  und  Philosophen  ohne  Zahl  angehört. 
Sie  findet  sich  bei  Denck  und  Franck,  bei  Valentin  Weigel  und 
Jakob  Boehme,  bei  Kant  und  Goethe,  bei  Schleiermacher,  Carlyle 
und  Hegel.  Sie  hat  ihren  Mittelpunkt  ausserhalb  der  Theologie, 
nämlich  in  dem  grossen  Bewusstsein  von  der  schöpferischen  und 
mit  dem  Unsichtbaren  verknüpften  Meuschenuatur,  welche  sich  in 
der  Kunst,  Religion  und  Moral,  wie  in  der  Spekulation  manifestiert 


^)  Wir  müssen  für  unseren  Zusammenhang  zwar  bei  Luther  den  Be- 
griff der  Autonomie  vermeiden,  um  ihn  für  Kant  vorzubehalten.  Aber  wir 
selbst  werden  zeigen,  wie  bei  Luther  alles  auf  den  Sinn  der  Autonomie 
hindrängt.  WoUt-en  wir  also  gegen  Diltheys  Gebrauch  des  Wortes  ,Auto- 
nomie*  polemisieren,  so  wäre  es  in  der  That  nur  ein  Streit  ums  Wort. 
Denn  wir  selbst  sind  der  Überzeugung,  dass  die  Hervorkehrung  der  Auto- 
nomie dem  Sinne  nach  in  Wahrheit  Luthers  That  ist 


/ 


Luther  und  Kant.  3Ö9 

Die  ganze  Geschichte  ist  ihr  Reich."  ^)    Und  darin  kann  ich  auch 
andererseits   einen   grossartigen  Hinweis  auf  Luther  sehen,    selbst 
wenn  Dilthey   meint,    gerade  im  Reformationszeitalter  seien  diese 
Richtungen  nicht  recht  aufgekommen  und  zur  Geltung  gelangt. 

Es  verlohnte  sich  wohl,  diese  unseren  Gegenstand  berührenden 
Äusserungen   Diltheys    so    ausführlich   und   möglichst   vollständig 
^nederzugeben.    Denn  wenn  er  nach  der  Fassung  seines  Problems 
a.uch  keine  Parallele  zwischen  Luther  und  Kant  ziehen  kann,  wenn 
er  auch  den  philosophischen  Gnindzug  der  Lutherischen  Religiosi- 
tät nicht  durch   eine  spezielle  Analyse  der  Anschauungen  des  Re- 
formators selbst,  sondern  durch  eine  allgemeine  Analyse  der  histo- 
nscheu  Triebkräfte    und  Richtungen   der  in  Frage  stehenden  Zeit 
nur  herausstellt,  so  scheint  mir  doch  der  springende  Punkt  für  das 
philosophische  Verständnis   der   Anschauungen   Luthers,    von   dem 
^us    man  weiter   gehen  und  auch  die  Parallele  zu  Kant  gewinnen 
muss,    und  den   wir   selbst   aus  Luthers  Gesamtanschauung  analy- 
sieren  werden,    mit    solcher   Klarheit    erkannt,   dass   ich   in   den 
kurzen  Äusserungen  Diltheys   den    bisher   höchsten  Stand   meines 
Problems  sehe. 

Ehe  ich  mich  aber  ausführlicher  darüber  verbreite,  wie  meine 
eigene  Untersuchung  sich  nun  zu  der  Ansicht  Diltheys  verhält 
—  angedeutet  wenigstens  ist  es  ja  auch  jetzt  schon  —,  möchte 
ich  noch  ein  Paar  für  mich,  und  speziell  mein  Problem  nicht 
so  belangreiche  Arbeiten,  erwähnen.  Mögen  sie  auch  mir  nicht 
belangreich  erscheinen,  ich  meine  :  mit  meiner  Arbeit  sich  nirgends 
innerlich  berühren,  so  erforderte  doch  die  historische  Gewissen- 
haftigkeit, ihrer  Erwähnung  zu  thun,  weil  sie  ja  doch  sich  auch 
auf  mein  Problem  beziehen,  d.  h.  entweder  wenigstens  darauf  hin- 
weisen oder  es  sogar  zum  Gegenstande  haben. 

Einen  solchen  Hinweis  sehe  ich  in  Paulsens  Aufsatz: 
„Kant,  der  Philosoph  des  Protestantismus".^  Man  mag  an  dieser 
t^ormulierung  Anstoss  nehmen,  wenn  man  glaubt,  Paulsen  habe  in 
ïCant  dem  heiligen  Thomas  einen  konfessionellen  Antipoden  stellen 
Atollen.    Es   ist  gewiss,   dass  Kant   diese  Rolle   ablehnen   würde. 


1)  a.  a.  O.  VI.  S.  61  f. 

^  Kantstudien  IV.  S.  1—31.    Übrigens  ist  unter  demselben  Titel  so- 
eben eine  Rede  von  Kaftan  (.gehalten   bei  der  vom  Berliner  Zweipverein 
des   evangehschen   Bundes   veranstalteten   Gedächtnisfeier  am  12.  Februar 
1904*")   erschienen,   die  für  mein  Thema  aUerdings  gar  nicht  von  Belang, 
auch  überhaupt  nicht  von  philosophischen  Interesse  ist. 


360  B.  Bauch, 

Aber  ebenso  gewiss  ist  es,  meiner  Meinanfii:  nach,  dass  Panlsen 
diese  Rolle  dem  Philosophen  grar  nicht  anweisen  will.  Richtet  sich 
doch  seine  philosophia  militans  gerade  auch  gegen  die  Übergriffe 
konfessioneller  Beschränktheit,  die  die  Wissenschaft  unter  das  Joch 
der  Partei  zu  zwängen  sucht.  Man  mag  ferner  mit  Troeltsch/) 
dem  ich  selbst  darin  beistimme,  die  Konstruktion  Paulsens  für  za 
optimistisch  halten  und  nur  an  eine  kleine  Gemeinde  Ton  Ver- 
schwörern für  die  Zukunft  glauben,  d.  h.  man  mag  die  protestan- 
tische Kirche  von  Kant  durch  Kluften,  ja  Welten  getrennt  sehen, 
—  die  von  Luther  iu  die  Welt  geworfene  protestantische  Idee 
treibt  hin  zu  Kant.  (Freilich  könnte  einer  dann,  was  Kant  selbst 
betont,  Protestant  sein,  ohne  gerade  zum  Protestautismus  als 
kirchlicher  Anstalt  zu  gehön;n.)  Wenn  Luther  auch  nur  beilänfig 
erwähnt  wird,  so  geschieht  dies,  wenn  auch  nicht  mit  Diltheys 
Schäiie  und  Nachdruck,  doch  mit  sehr  richtigem  Takt  gerade  da, 
wo  Paulsen  von  der  durch  Kant  vollzogenen  autonomen  Vereelb- 
stÄudiguug  der  Persönlichkeit  (S.  10)  und  seiner  Betonung  des 
guten  Willens  (S.  11)  spricht,  die  er  auch  als  die  protestantische 
Prinzipien  hinstellt.  Auch  rechnet  Paulsen  in  dem  Schema,  das 
er  von  den  überhaupt  möglichen  religiösen  Standpunkten  entwirft, 
Luther  und  Kant  ausdrücklich  gemeinsam  unter  die  Kategorie  des 
„Irrationalismus".  (8.  5.)  Man  mag  auch  darüber  streiten 
können,  so  ist  doch  auch  das  ein  Hinweis  auf  das  innere,  geistes- 
verwandtschaftliche Verhältnis  Luthers  zu  Kants,  ohne  es  zwar 
genauer  zu  präcisiereu.») 

Endlich  muss  ich  noch  einer  Arbeit  Erwähnung  thun,  obwohl 
sie  für  mich  absolut  belanglos  ist.  Nur  scheint  sie  sich  ihrem 
Titel  nach  sehr  innig  mit  der  meinigen  zu  berühren;  ja  sie  stellt 
sich  eigentlich  dasselbe  Problem,  nur  in  geringerem  Umfange. 
Und  da  ich  trotzdem  auf  sie  iu  meiner  ganzen  Abhandlung  nicht 
eingehe,  so  dürfte  es  leicht  scheinen,  ich  habe  sie  ignorieren 
wollen.     In  Wirklichkeit    wollte    ich    nur  in    meiner  Schrift  nicht 


»)  Deutsche  Litteraturzeitung  1900  No.  II. 

2)  Freilicli  kann  icli  mich  leider  eines  Bedenkens  nicht  erwehren: 
Ich  glaube  nämlich,  wenn  Paulsen  etwa  das  ganze.  Verhältnis  Luthers  zi 
Kant  ausgeführt  hätte,  so  würde  er  vom  Standpunkt  seiner  Ethik  aus  der 
Bedeutung  der  Lutherschen  Moral  doch  nicht  leicht  gerecht  geworden 
sein.  Denn  Luther  steht  zu  Paulsen  in  genau  demselben  Gegensatze,  wie 
Kaut,  der  gerade  nach  Paulsen  in  der  Entwickelung  der  Ethik  eigentlich 
nur  eine  grosse  Störung  bedeutet. 


Luther  und  Kaut. 


S61 


me  ständige  Polemik  gegen  Hueu  kurzen  Vortrag  HiibäufeiL  Uw 
rPäre  abtT  uölig  g^weseu,  sobald  ii-li  \m±  rib("ihaui»t  auf  diesn 
krbeit  fjugf»!assen  baftt%  und  das  sehitui  riiir  ehpu  einem  kurzen 
''ortrage  gegenüber  niebt  aii*r<*l>i"adit-  Ick  halte  es  darum  ïnr 
esser,    auch    zu    ihm    î^rhou    hier    meiue    Stollnug    kurz    ilarzu- 

Es  handelt  sirh  uui  den  Vortrag  von  Titins;  ^Lnlhers 
tnuidansrbanung  vom  SittHeben,  verglichen  mit  der  Kanti.seJien",') 
H  znm  Ziele  den  Nachweis  haben  soll,  dass  Luthers  sittlirhe 
Fnindanschauung  mit  der  Kautischen  ,Jm  Innersti^n^'  znsainuien- 
tinmien 

Man  muss  sieh  von  vornbereiu  gegenwärtig  halten,  sowohl 
lass  wir  es  nur  mit  i*ineni  \'(*rtrage  zu  thun  haben,  dessen  Kiirzf* 
chou  ein  tieferes  Kins:ehen  nicht  eruKïglichte,  als  auch  dass  Titins 
licht  die  Grundaiisrhannugen,  sondern  nur  die  Gruntlanscbannug, 
iras  wohl  soviel  hoissen  soll  als  den  obersten  Gnujdsatz,  nud  auch 
la  nur  die  Gniudanschaunng  vom  ^Sittlichen  Ijei  Kant  und  Lolber 
sum  Gegenstaude  hat.  Das  Thema  ist  also  von  vornherein  noch 
)egreiizter  als  das  ujisrige.  Man  wird  Titins  also  daraus  keinen 
l^orwnrf  machen  kfnmen,  dass  er  auf  das  Verhältnis  von  Achtung 
lud  Nächstenliebe,  von  Freiheit  nnd  Selbständigkeit  der  Person  zu 
1er  ^Allwirksanikeit**  (Luther)  und  ,,Allgeungsamkeit**  (Kant) 
Lrottes,  von  Person  und  Werk,  Gesinnung  und  Erfolg,  auf  die 
Idee  der  Kirche  etc.  sich  nicht  einlässt,  weil  das  schf)n  alles  eine 
IVeitereut Wickelung  der  „Grundanschauung'^  erfordert  und  vom 
îittlîcheu  aufs  Religiöse  geführt  hätte. 

^  Aber  selbst  in  dem  was  Titins  von  der  „Gnindanschauung'* 
1^,  stehe  ich  zu  ihm  in  Widerspruch: 

Wenn  wir  schon  nicht  erfahren,  w^as  das  Sitteugesetz  Kants 
ledeutet,  dessen  Aufstellnng  Titius  doch  zu  wiederholten  Malen 
S.  8.  9  u,  a.)  als  das  grosse  Verdienst  Kants  anerkennt,  so  muss 
»s  um  so  mebï'  befrenuleu,  dass  das  Formale  der  Kautischeo  Ethik 
o  hart  angelassen  wird  (S.  21).  Denn  der  so  gescholtene  „For- 
nalismus**  gehört  analytisch  zum  Wesen  des  in  seiner  Bedeutung 
^  anerkannten  Sittengesetzes  und  zu  Kants  „Grnndanschauung'\ 
^  Noch  weniger  erfindNch  ist  es,  wie  Titius  seine  Bebaui^tung: 
LiUthers    ^Clrundanschanung'*    stinmie     ^im    Innersten*     mit    der 

H  1)  In  den  .A^ortdigen  der  theologischen  Konferenz  zu  Kiel".  Heft  I. 
R— 21.  Bei  MarqiiardseTL  Kiel  1899.  Vgl.  dazu  Kantstudien,  Bd,  VI, 
5-  ?3— 77:  ^Luther  und  Kant". 


362  a  Bavck. 


\ 


Kmdv^  zn-^wm^fi.  siaabt  ffthknen  zn  k^niieiL  wemi  er  neint,   bei 

Lntfaer   trete    der  «î^^dauke   d*-r  , Autonomie*  «fast  roUstândî?  zn 

ruck*  'S.  14».     [►a*^.«   irb    e>/«-fL>o.    wie  Inhhey  die  wehbeweeendf^?»^^ 
That  Lairi'-rjï    ir^ra/i-  in  dem  Hervorkehren  dessen,    was  man  s^iBl^n 
Kaot  uijt^r  .Autonomi*-*  v<-rsleht,    sehe,   davon  will  ich  jetzt  rie     —I 
weniger    re^l^-ii.    hU  dav«ii.  das*  die  Antinomie  der  Kern  der  sitt    ^»- 
liehen  <:FnindansrbaaoQsr  Kant-s    i>t.    and  dass  jeder,   der  Kant  g« — e=^ 
lesen  hat.  w^-iss:    für  den  Pbilos^ijthen  ist  die  Autonomie  der  Perj^Kr- 
sonlichkeit  geradezu  die    .«.'hjektive  L»arstellone  des  Sitten-^n- 
geselze«?'    ond    ^oberstes    Prinzip   der   Sittlichkeit*.     Un-^  .«md 
da  mass  'wh  d'^^-b  fragen:    Wie   kann  Kant^  i^rnudanschaniing  mw"  ^it 
der  Lotbers    zusamnienstimnjen.    wenn    bei    Lnther   die    Kantisch^[=iie 
Gnindauscbaaang    .fast    vollständig  zurücktritt ".    also  so  gat  ^iSr  ie 
nicht    vorbanden    i>t?     .\ach    diesen  Widerspruch  hebt  Titins  nir  Mi- 
gends  auf  und  wohl  zu  allerletzt  dadurch,   dass  er  die  AutonomKi  ^e 
einmal  geradezu  mit  der  auf  der  Autonomie  erst  gegründeten  AcÄ' Füh- 
lung, also  die  sittliche  Si>ontaneität  mit  der  sittlichen  Ifegenstân»  .End- 
lichkeit vemechselt.  (S.  13.) 

Auch  was  eigentlich  Luthers  sittliche  Gnmdanschaaung  sc:^»  ^ei, 
tritt  nirgends  scharf  und  klar  hervor.  Darauf  beruht  es  wo-^UDhl 
auch,  dass  Titius  gar  nicht  darauf  verfällt,  wie  gerade  das,  ws-^was 
er  als  .Formalismus''  an  Kant  getadelt  hat,  und  was  notwend  ^^^i% 
durch  die  von  ihm  selbst  anerkannte  Kautische  GmndanschauuiHi^MDg 
des  Sittengesetzes  bedingt  ist,  eine  sehr  naheliegende  Parallele  r  zu 
Luthers  Gesinnungsglauben  und  der  damit  verbundenen  AblehnuiK:jKmS 
der  Werkgerecbtigkeit  i allerdings  weist  ja  Titius  auch  auf  die^^e« 
nicht  hin)  bietet. 

Ja,    worin    sieht   denn   dann   Titius   eigentlich   die  ÜbereÄ:  ^Ein- 
stimmung?   «ird    man    schon   fragen.     Ich    habe  mir  aus  der  LW   ho- 
griffli<b  n*cbt    unklaren    Darstellung   doch    zum    Schluss   die  d«:  Mrci 
VergIeich.S2resichtsi»uukte  klar  gemacht-     Erstens:   es  sei  ja  ind^bt 
die    allgemein    meiisrblicbe    Vernunft,    sondern    die  christlich  b^Bbe- 
stimmte  Vernunft,    deren    Inhalt    Kant    bestimme  (S.  18)    und         so 
liegt  die  Üb(»reinstimmung  mit  Luther  wohl  im  Christlichen.     Da»--^o 
ist    zu    bemerken:    Gewiss    weiss    sieb    Kant    mit    der  Idee   Ä<?s 
Cbristeutuins    einig,    aber    nicht    weil    sein    Vernunf thegrï/f 
«ehristiich    bestimmt''    ist,     sondern     weil    nach    seine/* 
Auffassung   das  Christentum    ursprünglich    durch  seinei:» 
..erhabenen     Stifter**     moralisch,     d.    h.     überhaupt    ver- 
nünftig  bestimmt    ist.     Und  ich  sehe  die  Grösse  der  KantischeiB. 


Luther  und  Kant,  363 

Ethik  g^erade  in  ihrer  allgemeinen  Anwendbarkeit  und  glaube:  es 
bedeutet  für  Kants  Überzeugung  geradezu  einen  Schlag  ins  Ge- 
sicht, dass  der  (-hrist  eine  andere  Vernunft  haben  sollte,  als  an- 
dere Menschen. 

Zweitens:  Es  soll  nach  Titius  „die  Vernunft  erst  durch 
Offenbarung,  d.  h.  im  geschichtlichen  Zusammenhange  mit  der 
Person  Jesu  Christi,  wie  Kunde,  so  auch  Kraft"  erhalten.  (S.  19.) 
Das  stimmt  für  Luther,  aber  nicht  für  Kant,  der  seine  Achtung, 
wie  seine  Verehrung  für  Jesus  und  seine  That  ebensowenig  ioi 
Zweifel  gelassen  hat,  wie  seine  Meinung  über  den  Wert  der 
Offenbarung. 

Drittens  :  In  der  Idee  des  höchsten  Gutes  und  der  Ablehnung 
des  selbstsüchtigen  Lohn-  und  Verdienstglaubens  sollen  Luther 
und  Kant  übereinstimmen.  In  dieser  Erkenntnis  stimme  ich  mit 
Titius  selbst  überein.  Nur  finde  ich  den  Berülirungspunkt  zwischen 
Kant  und  Luther  nicht  aus  der  Tiefe,  eben  weil  nicht  aus  der 
„Grundanschauung"  erfasst.  Allerdings  lässt  mich  fast  das  hohe 
Lob,  das  Titius  der  Idee  des  höchsten  Gutes  spendet,  vermuten, 
er  sehe  darin  die  „Grundanschauung"  Kants  und  setze  sie  mit 
dem  als  hochbedeutsam  anerkannten  Moralgesetz  in  Eins.  Er 
meint  (S.  17)  nämlich,  in  dieser  Idee  liege  die  „Grösse  Kants 
und  seiner  sittlichen  Anschauung**.  Nun  ich  meine:  Wenn  man  es 
nicht  selbst  erkannt  hat,  so  könnte  einem  doch  die  unwidei'steh- 
liche  Kritik,  die  Schopenhauer  und  Kuno  Fischer  an  diesem  Be- 
griff geübt  haben,  zeigen,  dass  darin  gerade  die  Schwäche  der 
Kantischen  Ethik  liege. 

Wenn  ich  die  Summe  ziehe,  so  kann  ich  sagen:  In  zwei 
Stücken  stimme  ich  Titius  rückhaltlos  bei  :  erstens  darin,  dass 
Luthers  Grundanschauung  mit  der  Kantischen  zusammenstimme  — 
meine  ganze  Arbeit  ist  auf  diesen  Nachweis  gerichtet,  wenn  sie 
die  Übereinstimmung  auch  nicht  als  restlos  erweisen  wird  —  und 
zweitens  darin,  dass  Luther,  wie  Kant  die  Selbstsucht  und  das 
Verdienst  der  Lohndienerei  aus  der  Moral  verweisen  —  ich  selbst 
handle  davon  eigens  in  einem  besonderen  Abschnitt. 

Nur  muss  ich  bekennen:  ich  finde  bei  Titius  nirgends  eine 
klare  und  begrifflich  scharfe  Darstellung  der  „Grundanschau- 
ung"  Luthers  und  Kants,  noch  auch  einen  Beweis  ihres  Zusam- 
menstimmens;  da  ich  eben  in  der  Idee  des  höchsten  Gutes  und  in 
der  Ablehnung  von  Glück  und  Verdienst  noch  nicht  die  wirkliche 
„Grundanschauung"  selber  sehe,  sondern  nur  eine  Folge  davon. 


â64  B.  Banch, 

Wenn  ich  also  nicht  bloss  anf  die  bisher  aufgestellten  Problem- 
formeln,  sondern  auf  die  sachliche  und  wirkliche  Klämng  sehe,  so 
inuss  ich  wiederholen,  was  ich  vorhin  bereits  sagte:  Das  Bedeu- 
tendste ist  darin  von  Dilthey  geleistet.  So  korz  er  sich  seiner 
Aufgabe  gemäss  auch  äussern  musste,  so  hat  er  ans  der  ^Auf- 
fassung und  Analyse  des  Menschen  im  15.  und  16.  Jahrhundert*' 
und  aus  dem  „  natürlichen  System  der  Geistes  Wissenschaften  im 
17.  Jahrhundert''  doch  mit  unmissvei*ständlicher  Klarheit  unter 
den  herrschenden  historischen  Richtungen  auch  als  lutherische 
Bestahdteile  herausgestellt:  Die  Zurücknahme  des  dogmatischen 
Glaubens  in  die  individuelle  Menschenseele  und  die  damit  ye^ 
bundene,  über  das  Paulinische  Christentum  weit  hinausragende 
Verselbständigung  der  Person,  wofür  er  geradezu  den  Begriff  d» 
Autonomie  auf  religiösem  Gebiete  setzt,  ein  Begriff,  der  anf  Kant 
direkt  hinweist,  wie  DUthey  ja  den  Philosophen  seinerseits  auch 
in  die  transscendentaltheologische  Richtung  einordnet 

Wenn  wir  nun  unsere  Stellung  dazu  präcisieren,  müssen  wir 
sagen:  Wir  gehen  erstens  einen  Schritt  hinter  Dilthey  zurück, 
denn  wir  gewinnen,  was  er  richtig  durch  eine  Analsrse  der  histo- 
rischen Zusammenhänge  herausstellt,  dadurch,  dass  wir  nun  die 
Glaubensidee  Luthers  selbst  analysieren.  Unsere  Analyse  ist  also 
keine  allgemein-historische,  sondern  eine  monographische.  Wir 
betrachten  (Kap.  I)  die  Glaubensidee  Luthers.  Und  da  zeigt  sich, 
dass  eine  zweifache  Betrachtung  notwendig  \^ird,  um  die  Idee 
moral-  und  religions-philosoi)hisch  würdigen  zu  können.  Wir 
stellen  die  inhaltliche  (§  1)  und  die  formal-praktische  Seite  (§  2) 
der  Lutherischen  Glaubensidee  dar,  um  dann  zu  sehen,  wie  beide 
sich  zu  einander  verhalten  (§  3).  Der  Glaube  nach  der  einen 
Seite  ist  der  dogmatische  Glaube,  auf  der  aneern  ist  er  Glaubens- 
priuzip.  In  dieser  Weise  gehen  wir  über  Dilthey  zurück,  indem 
wir  als  Resultat  der  Glaubensaualyse,  in  dem  Verhältnis  von  in- 
haltlichem Glauben  und  Glaubensprinzip  eigentlich  das  erkennen, 
was  Dilthey  die  Übertragung  der  Autonomie  auf  das  religiöse  Ge- 
biet nennt.  Nun  gehen  wir  aber  gleich  weiter  und  über  DUthey 
hinaus,  indem  wir  das  Resultat  nach  allen  Seiten  in  seine  Folgen 
entwickeln. 

Was  nämlich  für  Luther  Glaubensprinzip  ist,  das  ist  für  ihn 
auch  Prinzip  der  sittlich-religiösen  Bethätigung  des  Menschen, 
seines  Wirkens  im  Kreise  seines  Daseins,  und  so  stellen  wir 
(Kap.  n)   den  Glauben   und   die  Werke  einander  gegenüber.    Cm 


Luther  und  Kant. 


3Ô5 


niM   auch    hier   das    prinzipiell  Neue    mit    voller  Klarheit  hervor- 
ti^eten    zu    lassen,    gehen    wir  von  dem  historischen  Kontrast  aus. 
r>ss    heisst:    Wir   o^ehen  (^  4)  von  einem  Blick  auf  die  geschieht- 
^icîhe  Lage  des  Begriffs  vom  „gnten  Werk**  aus,  seli»?n  dann  (§  b), 
^^^i^^lche  lie^rif fliehen  Unterscheid uiio^en  man    überhaupt    logisch 
^'■^Ä  ^chen   muss,    um  deo  manni.effaehen  Sinn  dieses  Begriffs  zu  ver- 
^^t.ehen,  untersuchen  dann  (SB),  inwieweit  Luther  faktisch  diese 
^^^iiterscheidnng    macht,    indem    er    den  Sinn,    in  ilem  er  das  Wort 
xaucht,    den   anderen    Bedeutungen    gegeuüherhält;    verdeutlichen 
US  (§  7)    daran    tien  tTegeiisatz    des  Alten    und  Neuen,    um    nun 
^§  S)  das  eig-'^ntiich  Nene  vollkommen  für  sich  abziisonderiu     Und 
"^ziier   springt    die    gatize    Bedeutsamkeit    uoeh    einmal    mit    augen- 
scheinlicher Gewalt  hervor. 

Nachdem  wir  so  das  tilanhensprinzip  für  den  Kitizelnen  haben 
zum  sittlich-reiigiiisen  Bethätigungsprinzip  werden  sehen,  nnlnr- 
^suchen  wir,  wie  nach  leather  sich  dieses  Prinzip  auswirken  muss, 
gagen  wen  es  der  Einzelne  zu  bethätigen  hat.  Wir  fragen  also 
nach  (lern  Vei-hältnis  der  PersönLichkeit  zur  sitthch-religiosen  (Tê- 
uieinschaft  (Kap.  Ill),  der  gegenüber  des  Einzelnen  lilaube  That 
werden  soll.  Zu  dem  Zweck  ist  aber  erst  die  —  zu  der  kri- 
tischen Betrachtung  von  Glaube  uud  Werk  überhaupt 
analoge  —  sozusagen  genetische')  Frage  zn  erledigen,  wie 
Luther  sich  im  Einzelnen  das  Verhältnis  von  Thäter  und  That 
denkt  (§  9),  um  die  unendliche  Fülle  der  sittlich-religiösen  Be- 
thätigungsmoglichkeit  im  Leben  zu  verstehen  (^  lU),  in  dem  der 
Eiuzebie  zum  Nächsten  in  Beziehung  tritt  (§  11),  nm  mit  ihm 
eine  sittlich-religiuse  (Tennunschaft  zu  bilden  (^  12). 

In    dieser    Weise    stellen    sich    uns    Luthers    sittlich-religiöse 

Ideen    dar.    in  denen  wir  eine  l^araïlele  zu  denen  Kants  gewinnen 

^^^olleo.     Ehe  wir  aber  zn  dieser  Parallele  selbst  gelangen,  nuissen 

ïvir    uns    im    zweiten  'l'eile    dieser  Arbeit    über  die  Prinzipien  der 

Ethik  uud  Religionsphilosophie  Kants  selbst  orientieren. 

Wir  betrachten  nach  einem  kurzen  Rückblick  (§  KV)  zuerst 
Üas  Moralpriuzip  Kants  {Kap.  IV),  sehen  erstens  zu  (§  14),  wie 
es  nach  Kant  nicht  bcstinnnt  werden  darf,  und  zweitens  (§  15), 
Wie  es  allein  hestinniit  werden  kauTi  und  bestinnnt  werden  soll 
Um  nun  seine  Realisierung  begrifflich  zu  ermöglichen,  führt  uns 
Kant  zu   den   sogenannten  Postulat  en  der  reinen  praktischen  Ver- 


)  Im  religitis-iuetaphyäijscheu  Sinne. 


â66  B.  Banch, 

nunft  and  der  Idee  des  höchsten  Gntes  (§  16)  sowie  za  der  Idee 
der  lutelligibilit&t  der  Persönlichkeit  (§  17),  von  der  er  weiter  ad 
die  Idee  der  Achtung  vor  der  Person  (§  18)  gelangt 

Wir  sind  aber  damit  bereits  unvermittelt  schon  in  religions^ 
philosophische  Probleme  gelangt,  die  wir  im  Gnmdriss  erst  in 
Kap.  V  behandeln.  Hier  stellen  wir  Kants  Beligionsprinzip  selber 
fest  (§  19)  und  fragen  dann  nach  den  Mitteln,  die  von  diesem 
Prinzip  gestellte  Aufgabe  zu  verwirklichen  (§  20)« 

Nun  erst  kommen  wir  zur  Parallele  zwischen  Luther  und 
Kant  (Kap.  VI).  Wir  stellen  zuerst  den  bedeutsamsten  ünte^ 
schied  heraus,  der  einerseits  in  dem  Gegensatz  vom  Dogmatismos 
Luthers  und  Vemunftglauben  Kants  liegt  (§  21)  und  andererseits 
in  ihrer  Methode  (§  22). 

Der  letzte  Gegensatz  ist  bereits  ein  beschrftnkter,  denn  von 
ihm  aus  führt  gerade  von  Luther  schon  die  Brücke  zu  Kant 
(§  23).  Nun  ziehen  wir  die  Parallele  Schlag  auf  Schlag.  Wrt 
sehen  die  Übereinstimmung  (§  24)  zuerst  in  den  Prinzipien,  oder, 
wenn  mau  will,  in  den  Grundanschauungen  (Verinnerlichung  and 
Autonomie)  ;  verfolgen  diese  in  ihre  Konsequenzen,  wo  uns  non 
die  Ablehnung  von  Glück  und  Verdienst  (als  ethisch-wertlos)  be- 
gegnet (§  25);  und  in  der  Weiterentwickelung  der  Grundanschan- 
ungon  gelangen  wir  sogar  auf  eine  religions-metaphysische  Über- 
einstimmung (§  26)  mit  Rücksicht  auf  die  Freiheitslehre  beider, 
woraus  wieder  eine  Analogie  der  Begriffe  von  Achtung  und 
Nächstenliebe  folgt  (§  27)  ;  und  mit  der  Idee  der  Kirche  schliesseu 
wir  unsere  eigentliche  Untersuchung  ab  (§  28). 

Eine  kurze  Betrachtung,  die  von  den  Gedanken  Kants  über 
die  historische  Verwirklichung  seines  Ideales  handelt,  bildet  das 
Ende  der  ganzen  Arbeit. 


J.  Teil. 
Die  sittlich-religiösen  Anschauungen  Luthers. 

Kapitel  I. 

Die  Idee  des  Glaubens  bei  Luther. 

Der  Begriff   des  Glaubens   ist   eine  religiöse  Idee  und  zwar 

ursprünglich    eine   reiii-dogmatisch-religiöse   Idee.    Er   fasst  nicht 

den  Glauben   an  und  für  sich,  sondcni  involviert  immer  die  Rela- 


Luther  und  Kant.  367 

tion  eines  Glaubensinhaltes  oder  GlaubensgegeiistÄiides,  eines  Et- 
was, an  das  geglaubt  wird.  Dieser  Inhalt  ist  zugleich  immer  das 
Charakteristische,  das  unterscheidende  Kriterium  der  Glaubensan- 
hängerschaft oder  Glaubensgemeinschaft.  Auf  ihm  beruht  die 
Unterscheidung  der  „Gläubigen"  von  allen  ihrem  Glaubensinhalte 
nicht  Anhangenden  und  wenigstens  meistenteils  deren  Charakteri- 
sierung als  „Ungläubiger";  darauf  schliesslich  weiter  die  in  jeder 
Crlaubensgemeinschaft  herrschende,  einer  gewissen  Konsequenz 
sieber  nicht  ermangelnde  Vorstellung  der  alleinseligmachenden 
Kraft  gerade  ihres  Glaubens.  Eine  Vorstellung,  die  keineswegs 
etwa  für  die  römische  Kirche  allein  bezeichnend  ist,  wenn  sie 
auch  von  ihr  am  schärfsten  und  unduldsamsten  ausgeprägt  worden 
ist.  Im  übrigen  aber  ist  sie  ein  gemeinsames  Merkmal  der 
Olaubensgemeinschaft  überhaupt,  sobald  sie  ein  offizielles  Kirchen- 
tum  darstellt,  sodass,  was  Kant  einmal  über  den  offiziell  kirch- 
lichen Protestantismus  und  die  „katholischen  Protestanten"  sagt, 
auch  heute  noch  zu  Recht  besteht. 

Wohl  scheint,  auch  nach  Kant,   das  Christentum   berufen  zu 
sein,  dieses  Kirchentum  zu  überwinden.    Allein  von  diesem  erhabe- 
nen Ziele  war   es   durch  seine  historische  Gestaltung  selbst  abge- 
führt worden    und  hatte  von  ihm  den  weitesten  Abstand   eireicht 
—  die  Christenheit  hatte  sich  am  weitesten  von  der  Idee  des 
^Christentums  entfernt  — ,  gerade  in  jenem  Moment,  in  dem  die 
gewaltige   Persönlichkeit   in    die    geschichtliche  Entwickelung  ein- 
seift,   ohne    welche    diese,    in  sittlicher  und  religiöser  Rücksicht, 
'^icht  zu  verstehen  sein  würde,  Luther.     Er  musste  also  selbst  bis 
^ö    einem   gewissen    Grade   die    dogmatische  Leere    und  Starrheit 
^'•echen,   um    einem   lebensvollen    Glauben   die  Wege    zu    bahnen. 
-^War  überwand  er  jene  nicht  ganz,  seine  grosse  That  musste  noch 
^aiige,    lange    ihrer  Vollendung   harren    und   muss  in  ihrer  letzten 
*^^>iisequenz   auch   heute   noch   ihrer  Vollendung   harren;    aber  er 
^^Hchte    doch   ein   neues  Evangelium  des  Glaubens.     Das  Unabge- 
^^blossene  dieser  seiner  Mission,    die  zur  Vollendung  die  kommen- 
^^ii  Geschlechter  weitergetrieben,  und  noch  weitertreibt  und  weiter- 
^**^^iben    wird,    das    liegt    in    nichts    Anderem,     als     in     seiner 
^l  aubensidee.     Er   gab    der   Idee    des  Glaubens    zu   dem    alten 
eitlen  neuen  Inhalt.    Aber  er  gab  diesen  eben  zu  dem  alt^n.     Das 
*^^isst:    er  blieb   auch   befangen,  durchaus  befangen  in  dem  histo- 
^** Heben  Dogmengehalte  seinerzeit.    Und  wohl  über  keinen  grossen 
^le^nschen   hatte  die  historische  Kontinuitüt  solche  Macht,   wie  ge- 

KantiiadUn  IX.  24 


;^6ft 


B.  Bauch, 


rade   über   îlm.     Doch    es   wai'  kein  Unglück, 
schichte  ebenso  wenijsr  Sprünge  machen  kann, 


da  ja  aach  die 
wie  die  Natur, 


rief  zur  Fnnhett  auf  imd  brar.hte  Krcilioit,  alter  er  legte  sie  ü« 
Menschheit  weder  in  den  Schoss,  uoch  brachte  er  sie  ihr  gam^ 
Und  darin  liegt  vielleicht  gt^rade  die  GrossartSgkeit  seiner  Gal^^, 
Er  hinterliess  der  Menschheit  ein  Erbe,  aber  ein  Erbe,  das  ^fe 
täglich  und  stündlieh  erobern  mnss,  um  es  zu  besitzen  und 
reicln^rem  Masse,  als  er  es  selbst  l»esL*ssen  hat. 


una    mm 


§  i. 

Der  inhaltliche  Glaube. 

Wer  eine  vergleichende  Gegenüberstellung  zweier  sowohl 
durch  die  rein  äussere  Zeitdistanz  der  Geschichte  als  auch  durch 
deu  allgemein  bekannten  Gegensatz  ihrer  Anschauungen  getrmnitcii 
Geistei'  wahrniunut,  der  kanu  sich,  wenn  nun  gerade  durch  <li«'se 
Gegenüberstelkiug  auch  eine  Übereiustimmung  der  Anschauuug«^u 
nachgewiesen  werden  soll,  zumc'ist  des  Ai'gwohus  nicht  erwehren, 
dass  eben  diesen  Anschauungen  Gewalt  angethan  werde,  um  sie 
mit  einander  in  Einstimmung  zu  bringen.  Man  übersieht  eben 
tlann  leicht,  in  eigenem  Vorurteil,  über  dem  allgemein  bekannten 
(gegensätzlichen  das  w^euiger  bekannte  Zusaininenstinimeude,  Man 
denkt  nicht  daran,  dass  so  sehr  im  grossen  Ganzen  die  Welten- 
st'hauungen  aus  einander  liegen,  dorh  im  Einzelnen  zum  mindesten 
Berührungspunkte  stattfinden  können,  ja  man  ist  sich  dessen  niclil 
bewusst,  dass  selbst  ein  grosser  Abstand  im  Einzelnen  möglielrer- 
weise  von  hochbedeutsameu  Berührungspunkten  geradezu  bedingt 
sein  kann.  Denn  der  grosse  Foitschritt^  der  den  Abstand  aiis- 
di'ückt,  ist  möglicherweise  nichts  anderes  als  eine  konsequente 
Entwickelmig  des  Gemeinsamen  und  (njereinstimmendcu 

Um  also  erst  gar  nicht  den  Schein  aufkommen  zu  lasscöi 
als  zwängten  wir  Luthers  Glauhensidee  in  ein  Konstruktioiis* 
sehenni,  um  sie  für  Kants  Anscliaunngen  gleichsam  zu  pnifoi- 
mieren,  wollen  wir  sie  erst  nach  einer  Richtung  hin  betracliteo, 
nach  der  sie  mit  ihnen  nicht  nur  nichts  gemeinsam  hat,  soudmi 
ihnen  eigentlieh  stracks  entgegen  ist  ;  nach  einer  Richtunir  hii^ 
nach  der  Luther  durchaus  stehen  geblieben  ist  auf  detn  dogm- 
tisi:h-,  heute  würden  wir  sagen:  konfessionell-beschränkten  Staml- 
punktc  der  alleinseiigmachenden  Kirche,  trotzdem  er  diesen  in  an- 
derer Uinsirht  übei'winih'n  hi^lfen,  ja  seine  l'iierwindung  sclkt 
anbalinen  sollte.     Wir  nirincn  eben  jent^ji  schon  orwiihuten  naiven 


i 


Luther  und  Kant, 


360 


kirchlichen  StaDdpiinkt,  der  in  der  Relation  doy  Glaubens  zu  dem 
I  woran  mau  glaubt,  also  zum  (Tlaubeiisinhalte,  liegt,  und  der  io  der 
!  Stan'heit  des  Dogmeubekenueus  zum  Ausdrack  kommt  ;  kurz,  mo- 
deru  gesprochen,  den  Staudpunkt  des  Dogmatismus  und  Orthodoxis- 
anus.  Das  wollen  wir  hier  also,  um  nicht  Luthers  Verdienste  in 
^•gend  einer  Beziehung  scheinbar  zu  ühei*schätzen,  mit  allem  Nach- 
tirrick  betonen,  dass  er  seinem  Glaubens  in  halt  nach  durchaus 
^M:bodûx-dûgmatis€h-glaubig  war,  vom«  Standpunkte  unserer  Welt- 
i-uschauung  aus  betrachtet,  also  sozusagen  rückständig,  immer 
^oeh  mittelalterlinh  dachte.  Luthers  Glaube  ist  seinem  Inhalte 
^iich  durchaus  der  dogmatische  Kirclienglauhe  der  (  ■hristenheit, 
^ie  ihn  etwa  1).  Fr.  Strauss  als  im  Wesen  des  Christentums 
Itirchaus  analytisch  enthalten  ansieht,  um,  weil  wir  heute  diesea 
t^ciginenglauben  nicht  mehr  haben,  beweisen  zu  können,  dass  wir 
nkeiue  ('hristeu  mehr"  sind.*)  Ein  Glaube,  der  nach  dieser 
Petitio  principii  von  Strauss  und  aller  derer,  die  etwa  die  moderne 
l^heologie  als  „ Psendochristentum**  verdächtigen,  zwar  „christlich** 
Ist,  der  aber  natiirUch  nicht  Kants  Glaube  war.  Uagegeu  ganz 
irn  Sinne  dieses  kindlichen  Dogmenglanheus  gilt  Luther  die 
t-ßihel**,  das  „heilige  Evangelium",  das  „Gotteswort'*  als  das  Fun- 
tiament  all  seines  Denkens,  all  seiner  Überzengung.     Es  ist  darum 

Sicht  einen  Augenblick  zu  bestreiten,  oder  auch  nur  zu  bezweifeln, 
ass  Luther  in  der  seiner  Überzeugung  gemäss  zwar  von  Menschen 
Jg^eschriebenen,  aber  in  ihrem  Inhalte  von  Gott  selbst  gegebenen 
iliid  eingegebeneu  Schrift  die  Basis  seiner  Weltanschauung  hatte, 
\Vir  sagen  :  Weltanschauung  und  nehmen  dabei  das  W^ort  in  nn'*g- 
lichst  weitem  Verstände,  sowohl  in  theoretischer,  wie  in  prak- 
tischer Bedeutung. 

I  Sein    theoretisches  Weltbild,    sofern    man   bei  ihm  überhaupt 

t3avon  reden  darf,  unterscheidet  sich  wohl  in  Nichts  von  dem, 
f^^elcbes  die  Bibel  entwiiit.  Wir  geben  das  ohne  weiteres  zu^  und 
twar    um    so    eher,    als  ein  giinzlicher  Mangel  theoretisch-philoso- 

E bischer  Erkenntnis,  ja  sogar  an  blossem  Verständnis,  Interesse 
nd  Neigung  dazu,  sich  in  Luthers  durchaus  aufs  Praktische  ge- 
ichteten  Wesen  nicht  vei'ktniueu  lässt.  Vielmelir  tritt  seine  Ah- 
tieigung  dagegen  und  sicher  auch  ein  gewisser  Mangel  an  Bildung 
seihst  für  seine  Zeit  offen  zu  Tage.     Es  ist  ihm  voller  Ernst  da- 


1)  VcrgL   Fitrauss: 


Der     nlte     und    der    neue    Glaube,      S.    8—62. 


24* 


370 


B.  Bauch, 


mit,    wenn    er  sai^:    ^Cicero  übertrifft  Aristotelem   weit  in  Phi 
Sophie   uud   Lehren."  *)    Der  Wissenschaft  hätte  Lather  sicherücL^i 
keinerlei    Einfluss    auf    den    Inhalt   seiner    nach    den    rhristlidie^n 
Dngnieii  sieh  richtenden  Weltansicht    ge^stattet,    um   sie  irgendwie 
zu    modifizieren,    seihst    wenn    ihm    an    der  (Tescblossenheit    autl 
Widerspmchslosigkeit    einer    Weltanschauung    üherhaiipt   mehr  g^s, 
legen  gewesen    wäre,    als  ihm  in  Wirkh'ehkeit  daran  gelegen  Wair, 
und  wenn  ihm  überhaupt  j»*  der  Gedanke  an  eine  rmgi^staltunrs^- 
hediirftigkeit  und  Verbeiiseningsnotwendigkeit  der  biblischen  jiidiwl^- 
christlichen  Anschauunfrsweise  in  thei^retisrher  Beziehung  gekommen 
wäre.     Aher    er    dachte    ei-st    gar    nicht    daran.     Nicht  bloss  g^  1 1 
ihm  Aristiitelcs    überhaupt    als  ^['ngi-beuer"»  ^Lügner  und  Bube"** 
als  der  ^elende  Mensch**,  der  ,, verdammte,  hochmütige  Heide^  im 
Vergleich    7Ai    «lem    „ein  Töpfrr    îuehr  Kunst    hat  von  natiirlidit*i3 
Dnigen,  denn  in  denen  Biichern  steiit**,^)  sondern  er  verabscht^iit e 
ihn    vor   allem  deswegen,    wril  die  „Schriff*  und  Aristoteles  doeli 
iiiclit    einerlei  Lelu'e    waren,    sich    nicht   zu  der  Deckung    briogt^n 
Hessen,    w^elche   die    Scholastiker    durch    aUerlei    Kniffe    des  Ver- 
tusch ens    und  Spintisierens   versuchten.     Luther    sagte   kurz  uuti 
biuidig:    „Der    heilige  Geist  ist  grösser,    wie  Aristoteles/^)  oder:    i 
wii"    werden    ,jn    der    heiligen    Schrift   überreichlich  belehrt,  von 
allcu  hingen,  davon  Aristoteles  nicht  den  kleinsten  Gemch  je  m- 
l*fuTulen    hat.**  ^)     Das    bedeutet    aber    fiii^  Luther  nichts  Anderes, 
als:    nicht    Idoss    Aristoteles,    sondern    die    ganze    pbilosopliisdn' 
Wissenschaft  —  beide  wurden  ja  zu  seiner  Zeit  und  uuu  auch  von 
iliiii    seihst    identifiziert  — ,    ist  gar  nichts,    ist  wertlos;    niclit  sif 
hat  unsere  Anschauung  zu  bestimmen,  sondern  das  allein  kaim  ami 
darf    dii?  Schi'ift.     Die    einzige    lu'ilsame  M'isseuschaft    wäre  iîbt*^ 
hauiit  die  Kenntnis  der  heiligen  Sclirift.     Alle  ändert*  WisscMSi'linfl 
ist  verd(*rblich,    schädlich    nml    gefährlich.     Ausdiiicktich  sagt   v\'' 


*)  Tbcb^espradie:  Erlfin^er  Aiis/arabe  LXIIl.  S.  :u\.  Wir  /iiierfii 
im  bdtjeiulpji  im  in  er  uach  der  Krlano:er  Ausgabe.  Nur  die  Schrift  J^" 
captivitntL'  Babylonien  wird  imeJi  Kawcravis  Übersetzung^  (^Vulksaui^ab«^ 
b  Bd.)  zitiert. 

-)  Sendscli reihen    au    den    cîiriseîiclicn  Adel    deutscher   Nation:  Von' 
des    clirisrbrlien  Shuules  BeKseriiU)y:.    XXI.    S.  M^i.     Dazu  liesseu  sich  auf^' 
uorli  viele  Bi'le^e  aus  audereu  Sdirifteu    erlniu^cu,  z.  Fi.  „fiber  die  h«b)l. 
Gefau^eiföebaft'%    Scbreibeu  nucl  Erwiderung    ,uuf    des  Bockjs   zu   Leipw|^ 
Antwort"  (XXV1Ï)  etc, 

^  Von  der  Babyloniscben  Gefan^jensubaft  der  Kircbe.    S.  40^. 

*)  Sendäcbreibeu  an  den  ebriütüebeu  Adel.     S.  ;i46- 


Luther  uud  Kant.  371 

„Die  hohen  Schulen  sind  grosse  Pforten  der  Hölle,  so  sie  nicht 
emsiglich  die  heilige  vSchrift  üben  und  treiben  ins  junge  Volk."^) 
Auch  hätte  TiUther  sich  mit  der  Vorstellung  des  Teufels  nicht  so 
viel  zu  schaffen  machen  müssen,  wie  er  es  in  Wirklichkeit  that, 
damit  man  nicht  überzeugt  wäre,  dass  seine  Weltansicht  mit  der 
mythisch-biblisclnui  ül)(3reinstimmte.  Kr  hätte  nicht  mit  solcher 
Energie,  wie  t»r  es  that,  die  Gottheit  der  Persönlichkeit  Jesu  in 
den  Mittelpunkt  seiner  ganzen  Denkait  rücken  dürfen,  sollten 
wir  seine  christliche  Dogmengläubigkeit  auch  nur  einen  Augenblick 
in  Frage  ziehen  können. 

Nicht  minder  zweifelhaft  ist  es,  dass  für  Luther  die  Schrift 
ebenso  wie  die  Inhalte  der  theoretischen  Weltanschauung  als 
Wahrheitsinhalte  von  Sein  und  Geschehen  auch  die  Inhalte  der 
praktischen  Lebensanschauung,  die  Inhalte  des  Sollens  und  der 
Pflicht  lieferte.  Und  wenn  wir  hier  auch  den  Nachdruck  nicht 
auf  den  Begriff  praktisch,  sondern  auf  die  Inhalte  legen  müssen, 
so  dürfen  wir  doch  auch  sagen:  diese  Inhalte  lieferte  die  Schrift 
zunächst  ausschliesslich.     Mag  er  auch  dieser  Ansicht  selbst  allen 


*)  a.  a.  O.  S.  8Ô1.  Wenn  Luther  im  Gegensatz  dazu  an  anderen 
Stellen,  wie  namentlich  auch  in  seinem  Sermon  an  die  Ratsherrn,  auf  hu- 
manistische, ja  so^ar  aristotelische  Studien  dringt,  so  tluit  er  es  notge- 
drungen, unter  Melanchthons  Einfluss,  um  fttr  die  neue  Glaubensorganisa- 
tion eine  einigermassen  philosophische  Begründung  zu  liaben.  Aber  sie 
mussten  doch  immer  der  heiligen  Schrift  angepasst  werden  und  sich 
manche  Korrektur  gefallen  lassen  Es  kommt  für  Luther  in  Rücksicht 
auf  die  ^Künste  und  vSprachen"  immer  nur  darauf  an,  dass  sie  lehren  .die 
heilige  Schrift  zu  verstehen  und  weltlich  Regiment  zu  führen,"  er  sieht 
dabei  ängstlich  darauf,  dass  sie  auch  „ohne  Schaden"  sind,  und  betont, 
„lasst  uns  gesagt  sein,  dass  wir  das  Evangelium  nicht  wohl  werden  er- 
halten ohne  die  Sprachen."  Die  Wissenschaft  um  ilirerselbst willen,  nament- 
lich die  Philosophie,  die  sich  selbständig  eine  Weltanschauung  gründen 
wiU,  ist  ilim  auch  hier  nur  „des  Teufels  Dreck". 

Der  „heiligen  Schrift  und  guttun  Büchern"  wird  ausdrücklich  wieder 
„Aristoteles  mit  imzähligen  schädlichen  Büchern,  die  uns  nur  immer  weiter 
von  der  Bibel  führten",  entgegengestellt;  und  wenn  er  bei  „Poeten  und 
Oratores"  nicht  darauf  sieht,  „ob  sie  Heiden  oder  Christen  wären,  grie- 
chisch oder  lateinisch-,  so  will  das  nichts  besagen,  er  hält  sich  nur  an  sie, 
^weil  man  aus  solchen  Büchern  die  Grammatik  lernen  muss".  Die  Philo- 
sophie findet  in  seiner  „Librarei"  prinzipiell  keinen  Platz.  (Vgl.  dazu  die 
vorzügliche  Lutherbiographie  von  Lenz:  Martin  Luther,  Festschrift  der 
Stadt  Berlin  zum  10.  November  1883.  Von  Dr.  Max  Lenz,  Professor  der 
Geschichte  an  der  Universität  Berlin.  Gärtners  Verlagsbuchhandlung, 
Berlin  1897.    in.  Aufl.,  besonders  S.  179  und  180.) 


372  B.  Baach, 

Boden  entzogen  haben  —  wir  werden  das  selbst  noch  sehen  - 
er  hat  ihr  doch  gehuldigt.  „Nicht  ketzerische  und  nnchristlicbe 
Gesetze"  können  unser  Thun  bestimmen.  „Wo  das  wftre,  woza 
wftre  die  heilige  Schrift  not  oder  nutze  ?*'  Die  bindende  Normbe- 
stimmung der  Schrift  als  des  Inbegriffs  sittlicher  Inhalte,  der  An- 
weisung unserer  einzelnen  Pflichten,  der  Richtschnur  fOr's  ftûr 
tische  Leben  ist  für  Luther  so  selbstverständlich,  die  inhaltliche 
Abgeschlossenheit  und  Vollkommenheit  so  klar,  dass  es  irgend 
welcher  (besetze  ausser  ihr  für*s  Handeln  nicht  bedarf.^) 

Wenn  es  also  zum  Wesen  des  Christentums,  wie  Strauss 
meint,  *)  gehören  sollte,  dass  der  Christ  sage  :  „Wissenschaft  hin, 
Wissenschaft  her,  so  steht  es  einmal  in  der  Bibel,  und  die  Bibel 
ist  Gottes  Wort,**  dass  er  die  Person  Jesu  von  Nazareth  als 
Gottheit  glaube,  die  Schrift  „als  Richtschnur  für  Glauben  und 
Leben  ansehe^;  kurz,  selbst  dann,  wenn  das,  was  man  heute 
Dogmatismus  und  Orthodoxismus  nennt,  wirklich  im  Wesen  des 
Christentums  uuabtrennlich  liegen  sollte,  also  auch  nach  Straoss 
wäre  Luther  ein  Christ  gewesen.  Ein  Christ  in  durchaus  dogma- 
tischem Sinne  des  Wortes.  Er  hat  das  Dogma  mit  der  Betonung 
des  Schriftglaubens  nicht  überwunden  ;  er  hat  es  sogar  eben  da- 
durch erneuert.  Man  wird  nicht  glauben  dürfen,  dass  es  zuviel 
gesagt  sei,  wenn  Haruack  ihn  den  „Restaurator  des  alten  Dog- 
mas** nennt.8)  Ja,  er  geht  in  diesem  Dogmatismus  so  weit,  dass 
er  jede  Behauptung,  wie  jede  Widerlegung  aus  der  Schrift  nehmen 
zu  sollen  glaubt.  Nicht  bloss  gilt  ihm  in  dieser  „ein  Spruch  mehr 
als  alle  Bücher  der  Welt**,*)  sie  gilt  ihm  als  der  Begriff  der 
Wahrheit  überhaupt  in  theoretischer,  wie  in  praktischer  Beziehung. 
„Du  musst  dich  gründen  auf  einen  hellen,  klaren,  starken  Spruch 
der   Schrift,    dadurch    du   dann   bestehen   magst,    denn   wenn  du 


1)  a.  a.  O.  S.  286. 

2)  Strauss  a.  a.  O.  S.  11  f. 

**)  Karnack  a.  a.  O.  111.  Bd.  S.  731  betont  ganz  besonders  auch  die 
Verlebcndigung  des  Doginas  von  der  Gottheit  Christi:  „Es  hat,**  sagt  er 
(ebenda),  „keinen  Theologen  nach  Atlianasius  gegeben,  der  die  Lehre  von 
der  Gottheit  Christi  für  den  Glauben  so  lebendig  gemacht  hat,  wie 
Luther.** 

^)  An  die  Herren  deutschen  Ordens,  dass  sie  falsche  Keuschheit 
meiden  und  zur  echten  ehrlichen  Keuschheit  greifen,  ErmahnoDg. 
XXIX.  S.  21. 


Luther  und  Kant 


373 


eiuim    strichen  Sinorli    nicht    hast,    so  ists  nicht  möglich,    ilass  du 
bestehrn  könt)trst/*Vf 

Wenn  wir  dies«'  Aiiffassnnir  Luthers  können  lernen,  iiber- 
koinnit  lins  Neueren  unwillkürlich  eiin*  Art  srhinrr/iichor  B*'freui- 
cliitij^.  Wir  fiihlen  uns  ah^estossen,  wie  von  dem  starren.  kalten, 
t4:i(en  Gesetzes]Q:lauben  der  Juden,  der  <[er  Perstuilichkeit  alles 
lieben  uiul  dem  Leben  allen  Sinn  zu  nehmen  dnrht.  Vt-rniuift 
iiiiil  vernünftiofes  Wollen  scheint  aiis/^eschaltet  diii'ch  iUe  Eio- 
schränktheit  des  dogiualischen  Glaubens,  und  wir  fragen:  Ist  das 
*ler  Luther,  von  dessen  Erscheinen  wir  in  der  tiesehichte  eine 
^^-ne  Zeitepoche  datieren? 

So  liaben  wir  uns  kurz  über  de«  Inhalt  von  Luthers  (ilaubens- 
*dec    orientiert    uinl    pfesehen,    dass    der   grosse  Keforniator  in  der 
T*hut    nichts  Anderes    dazu    liat,    als  was,    wie  wir  vorhin  sagten, 
^lilerium    einer   tTlaubi^nsgenn^inschaft    im    kiiehliehen    Sinne    des 
Wortes   ist,    in    unserem  FaHe  der  christlich-kireblichen  Glanbens- 
S^^nneinschaft:  der  dogiTiatische  Glaube  und  die  Überzeugung  seiner 
Hneinseligmar-hiMulen  Kraft,     Das  ,,Wort  Gottes"    sieht   er   als  für 
Ulli»    biiMb'ud    an    nnd    ausser   der  durch  dieses  Wort  begriijuh^ien 
Kirche  giebt  es  auch  für  ihn  keine  „Seligkeit'*.'-)     Dadurch  winl 
znr  (neniige    klar  gewor(hm  sein,    dass  wir  uns  des  ganzen  Lufhe- 
risehen  Dogmatisuins    bewusst    Ideiben,    dass    wir  weit  davon  enl- 
ftrut  sind,  seim^  Anschauungen  mit  denen  Kants  nach  jeder  Kich- 
tnng  hin  in  f^hereinstimmung  bringen  zu  wollen,  oder  sie  gar  mit 
ihnen    zu    identifizieren.      Vielmehr    deuken   wir  hier  rücksichtlich 
(Ii's  Dogmatismus  Lulln^rs    frenan,    wie    Harnack,    der   da    sagt:») 
„Kr  staud    nicht    im  Bunde  mit  hellen  Geistern,  welche  die  Theo- 
logie berichUgf^n  ujui  damit  eine   zutreffende  Erkenntnis  der  Welt 
Und  ihrer  Ursarh(^n  heranfführen  wollten.     In  ihm  lebte  übeihaupl 
nicht    der    nnwidei^tehüche  Lhang  des  Denkers,    der  nach  theore- 
tischer Klarheit  strebt,  ja  er  hatte  einen  instinktiven  Widerwillen 
und    ein  eingeborenes  Misstrautii  gegen  jeden  Geist,    der  lediglich 
von  der  Flrkenntnis  geleitel,   Irrtümer  kühn  berichtigt.     Wer  auch 
hier  für  den  »ganzen  Luther*  heute  meint  eintreten  zu  können,  der 
kennt    ihn  entwedt*r  nicht,    oder    setzt  sich    seiher  dem  V<'rdachte 
auSy    dass    ihm    die    Walirheit   der    Erkenntnis    eine    geriïigfugige 


Ï)  Drittf    Kasteiiiireili^rr    vom  Jahre  ir>2:J.   XXVIII.  S.  223,    v^L  anch 
die  erste  Faste npredi^^t  XXVI IL  8.  206. 

«)  KirchenposüUe  X,  8,  162,  vgl.  Harnack  a.  a.  0.  111.  S.  745. 
»^  Harnack  a.  a.  0,  lU.  S.  732  f. 


374  B.  Baueh, 

Sache  isf  Und  doch  wird  man  auch  weiter  mit  Hamack  sagen 
können:  „Luther  hat  uns  für  diesen  Ausfall  nicht  nur  dadurch 
entschädigt,  dass  er  religiöser  Reformator  war,  sondern  auch  durch 
den  unerschöpflichen  Reichtum  seiner  Persönlichkeit.  Welch  eine 
Fülle  umschloss  diese  Persönlichkeit/  Aus  dieser  ihrer  Fülle  trieb 
Luthers  Persönlichkeit  auch  das  hervor,  was  nicht  bloss  theolo- 
gische und  kirchliche,  sondern  allgemeine  Bedeutung  gehabt  bat, 
so  eng  es  mit  dem  reformatorischen  Prinzip,  der  reförmatoriscben 
Kraft  Luthers  verknüpft,  ja  mit  ihr  eines  und  dasselbe  ist,  nur 
von  anderer  iSeite  gesehen;  und  diese  allgemeine  Bedeutung  wird 
es  auch  behaupten.  Eben  darin  werden  wir  auch  Berühmogs- 
punkte  und  zwar  tiefliegende  Berührungspunkte  mit  Kant  antreffen, 
ohne  etwa  des  einen  Anschauungen  mit  denen  des  anderen  gleich- 
zusetzen. 

§2. 

Der  formal-praktische  Glaube. 
In  Rücksicht  auf  den  Inhalt  des  Lutherschen  UUnbens 
können  wir  also  nichts  eigentlich  Neues,  keine  eigentliche  Nen- 
schöpf uug  gegenüber  der  alten  Kirche  feststellen.  Selbst  der  Umstand, 
dass  er  die  Persönlichkeit  Jesu  als  Gottheit  glaubte  und  ihre  Er 
löserkraft  im  Kreuzestode  in  den  Mittelpunkt  des  religiösen  luter- 
osses  stellte,  das  wäre  nichts  prinzipiell  Neues  im  Verhältnis  zum 
alten  Dogmatismus,  für  den  ja  Jesus  auch  Gottsohn  und  wahrhaf- 
tiger Gott  gewesen  und  sein  Tod  die  condicio  sine  qua  non  der 
Erlösung  aus  den  Ketten  der  Sünde  und  des  Verderbens  bedeutet 
hatte.  Luther  selbst  war  zwar  der  (Überzeugung,  und  zwar  oft, 
wenn  auch  nicht  immer,  der  richtigen  Überzeugung,  dass  iu  dor 
alten  Kirche  auch  aller  inhaltlicher,  dogmatischer  Glaube  verloren 
gegangen  sei.  Vom  „Papst  und  den  Seinigen",  oder  wie  er  lieber 
will,  vom  „Antichrist  und  seiner  Rotte"  sagt  er:  „Denn  weil  sie 
des  Glaubens  sind,  dass  kein  Gott,  keine  Hölle,  kein  Leben  nach 
diesem  Leben  sei,  sondern  leben  und  sterben,  wie  eine  Kühe,  San 
und  ander  Vieh,  2,  Petr.  2,  12,  so  ists  ihnen  gar  lächerlich,  dass 
sie  sollton  Siegel  und  Briefe  oder  eine  Reformation  halten/') 
Und  dem    gegenüber  will  er  in  der  That  nur  das  Dogma,    wie  es 


1)  Wider  das  Papsttum  zu  Rom  vom  Teufel  gestiftet.  XXVI.  S.  l26f. 
In  dieser  Schrift  kelirt  er  eigentlich  gerade  den  dogmatischen  Standpunkt 
wider  die  „Papisten"  hervor. 


Luther  und  Kant.  375 

lie  ^Schrift"  für  ihn  bietet,  mit  besonderem  Nachdruck  hervor- 
œtiren.  Mau  mag  ihn  darum,  wie  Harnack,  mit  Recht,  als*  den 
, Restaurator  des  alten  Dogmas"  ansehen;  hätte  er  aber  nur  auf 
lie  Erneuerung  des  dogmatischen  Schriftglaubens  gedrungen,  und 
väre  seine  Wirksamkeit  damit  beschlossen,  wie  D.  Fr.  Strauss  0 
neint,  so  würden  wir  ihm  heute  geringen  Dank  wissen,  und  was 
i¥eit  mehr  ist,  seine  historische  Bedeusamkeit  würde  absolut  un- 
?^erständlich  sein.  Dass  Luther  am  Kulte  manches,  ja  vieles  ver- 
einfacht und  abgeschafft  hat,  könnte  man  als  etwas  Neues  ansehen 
»vollen.  Aber  man  würde  doch  sehr  irren,  wollte  man  dem  an 
and  für  sich  etwelche  historische  Bedeutung  beimessen,  wenn 
aben  diese  Abschaffung  nicht  ihren  Grund  in  höheren  Prinzipien 
tiätte.  Damit  eine  Persönlichkeit  überhaupt  geschichtlich  bedeut- 
sam werde,  das  Kulturgeschick  der  Menschheit  in  grossartiger 
Weise  bestimme  und  ihm  Richtung  gebe,  dafür  ist  es  nicht  mit 
Verneinen  und  Abschaffen  genug;  und  insbesondere  ist  es  damit 
uicht  genug  für  die  Geschichte  der  Religion.  Nur  verneinende, 
wenn  auch  schwärmerische  Geister  hinterlassen  keine  Spur  von 
ihren  Erdentagen  auf  dem  Schicksalswege  der  Geschlechter.  Oder 
sehen  wir  heute  noch  Bildersturm  und  Bilderwut  auf  die  Ge- 
schichte grossartig  weiterwirkenden  Einfluss  ausüben,  den  der 
Historiker  auch  nur  des  Fixiereus  für  wert  hielte?  Nein!  zur 
geschichtlichen  Bedeutsamkeit  gehört  mehr:  ein  Ausserordentliches, 
Exemplarisches.  Und  dies  ist  immer  etwas  Positives,  eine  eigen- 
irtig  neue  Schöpfung.  Nicht  destruktiv,  sondern  konstruktiv, 
[licht  bloss  zerstörend,  sondern  schaffend  muss  das  Wirken  einer 
Persönlichkeit  sein,  die  für  die  Geschichte  Wert  und  Bedeutung 
haben  soll.  Und  erst  aus  dem,  was  sie  positiv  schafft,  was  sie 
(1er  Menschheit  Neues  bringt,  müssen  wir  verstehen  können,  warum 
sie  alte  überlebte  Seinsformen  aufzuheben  trachten  muss.  Der 
f»minenten  Wirksamkeit  Luthers  muss  darum  auch  ein  in  der  That 
neues,  in  der  Geschichte  der  Menschheit  einzigartiges  Moment 
entsprechen,  aus  dem  heraus  wir  auch  verstehen,  wie  er  manches 
vereinfachen  und  abschaffen  konnte,  was  ihm  bedeutungslos  und 
unwesentlich,  ja  verderblich  erschien,  ohne  dass  wir  darum  diese 
Abschaffung  an  sich  selbst  für  etwas  Historisch-Wesentliches 
halten  dürften.  Es  fragt  sich  nur:  Was  ist  das  Historisch-Be- 
deutsame an  Luther?     Das  Neue,  das  er  bringt,  schliesst  sich  un- 


^  a.  a.  O.  S.  21. 


376  B.  Bsaoh, 

mittelbar  an  das  Alte  an,  das  er  überkommt,  so  verschieden  es 
auch  von  ihm  ist.  Es  schliesst  sich  an  die  Hauptdogmen  an, 
welche  die  junge  Kirche  —  in  ihrem  ursprünglich  fast  überkon- 
fessionellen Drange,  den  sie  von  der  Mystik  empfangen,  sich  selbst 
hemmend,  —  später  um  so  eifriger  festhalten  musste,  je  mehr  sie 
in  ihrem  Bestände  von  der  alten  gefährdet  ward.  Aber  Lnther 
selbst  hatte  es  schon  mit  der  ganzen  Kraft  seiner  im  Innersten 
dogmatisch  angelegten  Natur  festgehalten.  Und  doch  gab  er 
seiner  Glaubensidee  zu  dem  alten  einen  neuen  Inhalt,  einen  ganz 
anderen  Inhalt,  als  ihn  der  alte  Glaube  gehabt,  und  wie  er  io 
dessen  Wesen  nicht  aualjtisch  liegt. 

Ein  Inhalt  im  bisherigen  Sinne  ist  das  allerdings  nicht.  Es 
ist  sozusagen  kein  materialer,  inhaltlicher  Inhalt,  der  Dogmen  und 
inhaltliche  Lebenssatzungeu  betrifft,  sondern  ein  formaler  Glanbe, 
ein  Glaubensprinzip. 

Man  hat  seine  historische  Bedeutung  von  jeher  in  der  B^ 
touung  der  allein-rechtfertigenden  Kraft  des  Glaubens  gesehen. 
Wir  könnten  nichts  dagegen  haben,  wenn  mau  sich  nur  immer 
bowusst  wäre,  dass  damit  seine  Bedeutung  nicht  erschöpft  ist, 
dass  seine  reformatorische  Kraft  zwar  in  dieser  Betonung  ihren 
Angriffspunkt  findet,  aber  von  hier  aus  unendlich  weitergreift. 
Und  selbst  in  der  Betonung  des  alleinrechtfertigenden  Glaubens 
liogt  eine  neue  Wendung,  auf  die  man  nicht  immer  Eücksicht 
nimmt.  Nur  mit  dieser  haben  wir  uns,  solange  wir  seine  Glaubens- 
idee an  und  für  sich  betrachten,  zu  beschäftigen,  noch  nicht 
aber  damit,  wieweit  diese  Wendung  hochbedeutsame  Folgen  nach 
sich  führt.  Bleiben  wir  also  zunächst  bei  der  Frage  nach  der 
alleinrechtfertigeudeu  Kraft  des  Glaubens  stehen,  und  sehen  wir 
zu,  wie  Luther  sie  versteht.  Gewöhnlich  glaubt  man  diesen 
Rt'griff  damit  zu  erschöpfen,  dass  man  sagt,  Luther  habe  gelehrt: 
(1er  Mensch  vermöge  durch  eigene  gute  Werke  nichts,  sondern  iu 
ihm  wirke  allein  der  Glaube  alles,  und  zwar  der  Glaube  an  die 
Erlösungsthat  Christi:  diese  gebe  ihm,  indem  er  fest  daran  glaubo, 
auch  die  KcM'litfertiguiig,  zu  der  er  sen)er  nichts  hinzuthun  könnt'- 
l)ies('  Auffassung  von  der  liUtherischen  Glaubensidee  ist  richtig 
und  unrichtig  zugleich.  Das  heisst:  sie  ist  nicht  erschöpfend,  sie 
ist  zu  eng.  Gewiss  war  das  Erlöslingsbedürfnis  in  Luther  be- 
sonders lebendig  und  für  seine  Religiosität  und  seinen  Glanben 
bestimmend.  Aus  eigener  Kraft,  das  war  allerdings  seine  Über- 
zeugung,  kann   der  Mensch  des  8ündenelends  nicht  ledig  werden, 


Luther  und  Kant.  377 

larum  bedarf  er  jener  Erlösuugsthat.  Und  auch  dieser  kann  er 
ius  eigener  Kraft  —  das  ist  ebenfalls  ganz  richtig  im  Sinne 
Luthers  gedeutet  —  nichts  hinzuthuu.  Insoweit  hat  die  erwähnte 
Deutung  des  Begriffs  vom  alleinrechtfertigenden  Glauben  bei 
Luther  Recht.  Wenn  sie  damit  aber  dessen  Wesen  erschöpft  zu 
tiaben  meint,  ist  sie  im  Unrecht.  Denn  ei-steus  liegt  in  der  Be- 
tonung des  passiven  „Nichts-Hinzu-Thun-Könnens"  wiederum  nichts 
eigentlich  Neues,  es  ist  im  Begriff  der  „Erlösung"  analytisch  ent- 
halten. Was  sollte  denn  der  Mensch  dieser  hinzuthuu  können, 
wenn  er  ihrer  als  Wirkung  der  göttlichen  Erlösuugsthat  teilhaftig 
wird,  er  also  keiner  Eigenerlösuug  mehr  bedarf?  Mag  Luther 
darum  auch  das  Erlösungsdogma  besonders  und  viel  schärfer  be- 
tont haben,  wie  es  vor  ihm  geschah,  so  könnte  man  darin,  wenig- 
itens  im  Prinzip  nichts  Neues,  nichts  Historisch-Einzigartiges 
eben,  das  die  Grösse  seiner  Wirksamkeit  und  seine  Bedeutung 
ach  für  uns  Neueren  erklärt;  es  wäre  eben  nur  eine  neue,  be- 
onders  scharfe  Betonung  des  alten  Dogmas.  Zweitens: 
lUthers  Ansicht  lediglich  so  gef asst,  liesse  sich  viel  weniger  als  Be- 
auptung  des  alleinrechtfertigenden  Glaubens,  denn  als  solche  der 
Qeiorechtfertigenden  Erlösung  verstehen,  wie  auch  vorher  alle, 
ie  gerade  auf  die  That  Jesu  ihr  religiöses  Interesse  koncentrierten, 
rotz  der  Übereinstimmung  im  Wort  (sola  fide)  mit  Luther,  in 
Virklichkeit  das  Verhältnis  fassten.  In  der  Art  aber,  wie  Luther 
en  Glauben  betont,  liegt  eine  Wendung  zur  sittlichen  Aktivität, 
inbeschadet  der  religiösen  Passivität  des  „Nichts-Hinzuthun- 
^önnens".  Zu  diesem  passiven  Moment  tritt  für  Luther  ein  sub- 
ektives  aktives,  die  Glaubensthat  der  Persönlichkeit  tritt  in  den 
Vordergrund  der  sittlich-religiösen  Wertsetzung.  Von  jedem  gilt: 
,Da  steht  jeder  Einzelne  für  sich  allein,  sein  Glaube  wird  ver- 
angt."  0  Und  das  ist  das  absolut  Neue  und  p]inzigartige  in 
Liuthers  Wirken  :  die  Verinnerlichung  des  Glaubens  durch  die  that- 
sroU-lebendige  sittliche  Gesinnung.*) 


1)  Von  der  Babyl.  Gefangenschaft  der  Kirche.    S.  414. 

2,  Mag  selbst  Pauhis  dem  Wort  die  Kraft  und  die  That  gegenüber- 
jtellen,  worin  Luther  ihn  aufnimmt,  so  hat  doch  für  den  Apost«!  Kraft 
ind  That  viel  eher  eine  mehr  contemplative  Bedeutung,  und  ich  glaube, 
Üe  Übereinstimmung  des  Apostels  mit  dem  Reformator  im  Prinzip  ist 
nehr  eine  wörtliche  als  eine  wirkliche.  Das  Hei'vorkehren  des  Spontanen, 
Persönlichen  ist  und  bleibt  Luthers  Verdienst.  Unsere  späteren  Aus- 
ftthmngen  werden  das  noch  deutlicher  nahe  legen. 


378  B.  Baach, 

Zuerst  soll  der  theoretisch-extemalisierte  inhaltliche  Glaube 
zurückgenommen  werden  in  das  menschliche  Herz,  er  soll  vcr- 
innerlicht  werden,  indem  der  Mensch  nicht  bloss  ihm  nachlebt  and 
in  ihm  lebt,  sondern  ihn  lebt.  Nur  diese  Verinnerlichung  giebt 
jenem  Glaubensinhalt,  der  an  sich  nichts  Anderes  ist,  ^s  eine 
theoretische  Funktion,  Weil,  weil  er  dadurch  erst  zum  erlebten, 
religiösen  Glauben,  einer  Funktion  des  religiösen  Gemütes  wird. 
Jenen  Dogmenglauben  haben  seinem  theoretischen  Inhalte  nach 
auch  die  Teufel,  die  da  „glauben  und  zittem";  aber  er  ist  nicht 
ihr  Herzenseigentum,  in  dem,  und  nach  dem  sie  leben,  und  das 
sie  leben.  Das  aber  soll  der  Mensch,  weil  und  nur  darum  weil 
es  Gott  gefällig  ist. 

Hier  schon  sehen  wir  deutlich,  wie  die  beiden  Bedeutungen 
des  Glaubens  bei  Luther  sich  vereinigen  und  zusammentreten 
müssen,  die  wir  darum  doch  begrifflich  immer  streng  von  einander 
zu  unterscheiden  haben,  um  nicht  dieselben  Fehler  und  Missver 
Stündnisse  zu  begehen,  welchen  beschränkte  Gegner  Luthers 
immer  anheimfallen,  die  aber  selbst  kritische  Geister  von  der 
Schärfe  und  Bedeutung  eines  Strauss  oft  nicht  vermeiden. 

Dem  inhaltlichen  Glauben  tritt  hier  also  ein  formaler  Glanbe^ 
dorn  Glaubonsinhalt  ein  Glaubensprinzip  gegenüber.  Das  Glaubens- 
I)rinzip  ist  die  Übci'zeugnng,  die  da  glaubt  aus  Liebe  zu  Gott. 
Ks  ist  (hîr  Glaube»,  es  sei  Pflicht  zu  glauben  an  den  Inhalt  der 
Schrift  und  danach  zu  loben,  nicht  bloss  weil  dieser  wahr  sei, 
noch  weniger,  um  damit  ^Gottes  Huld  zu  erringen,"*)  um  von  Gott 
etwas  zu  ,. verdienen",')  sondern  lediglich  Gott  zu  Liebe  uud 
Gott  zur  Khre.  Dieser  Glaube  allein  hat  Sinn,  Wert  und  Br- 
d(Mitung  vor  Gott,  weil  in  ihm  die  Liebe  zum  Ausdruck  kommt, 
und  weil  er  ohne  Liebe  nicht  sein  kann,  während  der  inhaltliche 
(ilaube  wohl  ohne  die  Lie]»e  sein  kann  und  meist  auch  ohne  die 
Liebe  ist.  Darum  kann  sich  Luther s)  auf  Paulus  berufen:  „Wonu 
icii  mit  Menschen-  und  Kn^elzungen  redete  und  hätte  der  Liebe 
nicht,  SU  wäre  ich  ein  tönend  Krz  oder  eine  klingende  Schelle. 
Und  wenn  ich  wcissag-eu  könnte  und  wüsste  alle  Geheimnisse  und 


')  V^l.  den  Sermon  von  den  ^iiten  Werken  XX.  S.  20f> 
2)  V>1.  die  4.  KHstenpredi^t  vom  Jahre  1523.  XXVlll.  S.  2H\  ff. 
•'*)  Zu    wiederholten    Malen,   besonders   im    ,,Sermon    von   den  jfrutf" 
Werken",  in  der  .Freiheit  eine«  Christenmensclien"  und  in  einigen  Fasten- 
predigten vom  Jahre  152B. 


Luther  und  Kant.  379 

hätte  allen  Glauben,  also  dass  ich  Berge  versetzte,  und  hätte 
Jer  Liebe  nicht,  so  wäre  ich  nichts." 

Nun  verstehen  wir,  wie  Luther  sagen  kann,  der  Glaube  allein 
rechtfertige,  und  doch  auch  wieder  mit  Paulus:  Hätte  ich  „allen 
Glauben",  hätte  aber  ,,der  Liebe  nicht",  so  wäre  ich  nichts.  Er 
redet  da  eben  von  zweierlei  Glauben;  im  letzten  Falle  vom  dog- 
matisch-inhaltlichen, im  ei-sten  von  dem  formalen  praktischen 
Glauben,  dem  Glaubensprinzip,  das  ihm  eins  ist  mit  der  guten, 
gottgefälligen  Gesinnung;  und  zwar  für  ihn  deswegen  eines  ist 
mit  der  guten  Gesinnung,  weil  es  eines  ist  mit  dem  rein  persön- 
lichen Streben,  das  „nicht  seine  Sache  sucht,  sondern  allein  das 
Wohlgefallen  Gottes."  So  versteht  es  sich  für  Luther,  ,.dass 
solche  Zuversicht  und  Glaube  Liebe  und  Hoffnung  mit  sich 
bringt.  Ja,  wenn  wirs  recht  ansehen,  so  ist  die  Liebe  das  erste 
und  geradezu  gleich  mit  dem  Glauben."  Darum  meint  Luther 
auch:  Zu  reden  wüssten  sie  wohl  „von  der  Lehre,  die  auch  ge- 
predigt wird,  als  vom  Glauben"  .  .  .  aber  dieser  Glaube  ist  nichts 
wert.  .  .  .  „Gottes  Reich  steht  nicht  in  den  Worten,  sondern  in 
der  Kraft  und  in  der  That."  ^)  Das  bedeutet  aber  für  Luther 
nichts  Geringeres,  als:  Der  Glaube  an  Worte,  selbst  an  die  der 
Schrift,  kui-z  an  allen  Glaubensinhalt,  ohne  die  gute  Gesinnung, 
ohne  die  (Überzeugung  der  Gottgefälligkeit,  kurz  „ohne  die  Liebe 
ist  nichts  wert;  ja  er  ist  nicht  ein  Glaube,  sondern  ein  Schein 
des  Glaubens,  gleichwie  ein  Angesicht  im  Spiegel  gesehen,  nicht 
f*in  wahrhaftiges  Angesicht  ist,  sondern  ein  Schein  des  Ange- 
sichts." ^ 

Dieser  praktische  Glaube  unterscheidet  Luther  also  von  der 
ilten  Kirche,  stellt  ihn  hoch  über  diese,  und  in  die  Nähe  der  Mystiker. 
\ber  auch  von  der  Mystik  ist  er  zu  trennen,  von  der  spekulativen 
Eckhailschen,  weil  er  die  Verinnerlichung  durchaus  ins  Praktische, 
flicht  in  die  Metaphysik  verlegte;  von  der  „praktischen  Mystik" 
lus  einem  anderen  hochbedeutsamen  Grunde.  Zwar  hatte  auch 
Jiese  das  Religiöse  in  die  Verinnerlichung  des  reinen  Heraens- 
nicht  theoretischen  Glaubens  gelegt.  Aber  in  der  Selbstversenkung 
des  Individuums  in  die  Gottheit,  des  Endlichen  ins  Unendliche 
hatte  die  praktische  Mystik  einerseits  eine  Selbstentäusserung  der 
Persönlichkeit,  ein  Auflieben  des  Individuums,  anderseits  einen  Zu- 


1)  Erste  Fastenpredigt  (vom  Jahre  1523)  XXVIII.  S.  208  ff. 
^)  Ebenda, 


380  B.  Bauch, 

Stand  der  Beglückung  und  Befriedigung  gesetzt  Dadurch  stehen 
sie  Luther  entgegen.  Denn  dieser  sucht  im  Glauben  „nicht  seine 
Sache ""y  sondern  nur  das  Wohlgefallen  Gottes;  und  er  sucht  eben 
darum  das  Wohlgefallen  Gottes  nie  und  nirgends  um  seines 
Glückes  und  seiner  Befriedigung  willen,  sondern  nur  um  seiner, 
d.  h.  des  göttlichen  Wohlgefallens  selbst  willen.  Er  will  von 
Gottes  Huld  nichts  „verdienen^,  sondern  alles  „umsonst^  thnn  und 
alles  „umsonst"  ^)  von  Gott  erhalten.  Und  endlich  unterscheidet  & 
sich  von  der  Mystik  dadurch,  dass  die  Persönlichkeit  im  Glauben  zwar 
auf  der  einen  Seite  aber  nur  rücksichtlich  ihres  Glückstrebens  sich 
ihrer  selbst  entäussert,  auf  der  andern  Seite  aber  eigentlich  dadurch 
erst  ganz  auf  sich  selbst  gestellt  wird  und  zu  herrlicher  Freiheit 
und  Selbständigkeit  gelangt.  Auch  liier  bildet  die  Aktivität  des 
Glaubens  das  unterscheidende  Moment.  Wir  werden  bald  sehen, 
wie  dieser  aktive,  persönliche,  rechte,  fromme  Glaube,  der  da 
glaubt  Gott  zu  lieb  und  zu  Gefallen,  nach  Luther  den  Menschoi 
auf  eine  eigene  Art  frei  und  selbständig  macht;  wie  er  dem  dn- 
zelnen  Frommen  den  „rechten  Verstand*'  und  die  „Macht,  za 
schmecken  und  zu  urteilen,  was  da  recht  oder  unrecht  im  Glauben 
wäre,^>)  giebt,  nämlich  in  dem  inhaltlichen,  dogmatisch-Üieore- 
tischen. 

So  treten  inhaltlich-dogmatischer  und  formal-praktischer 
Glaube  in  eine  ganz  bestimmte  Wechselbeziehung,  die  wir  noch 
näher  zu  betrachten  haben.  Dadurch  wird  auch  die  Bedeutung 
jedes  einzelneu  der  in  Wechselwirkung  tretenden  Faktoren  noch 
besonders  klar  werden. 

§3. 
Das  Verhältnis  von  inhaltlichem  und  formal-praktischem 

Glauben. 
Wir  deuteten  soeben  darauf  hin,  dass  ein  eigentümliches 
Wechselverhältnis  zwischen  inhaltlichem  und  formalem  Glauben  bei 
Luther  bestehe.  Und  dieses  ist  um  so  enger,  als  Luther  selbst 
beide  Begi-iffe  in  der  Reflexion  und  Abstraktion  nie  aus- 
drücklich getrennt  hat,  wiewohl  er  sie  praktisch  unterscheidet, 
und    zwar   sie  unterscheidet,    um  sie  auch  mit  einander  wieder  in 


1)  Vgl.  Freilieit  eines  Cliristenmenschen  XXVII.  S.  191.  Später  wird 
uns  diese  Liitherisclie  Glaubensauffassiing  in  ilirer  ganzen  Trag^veite  be- 
gegnen. 

2)  Sendschreiben  an  den  christlichen  Adel.    XXI.  S.  288. 


Luther  und  Kant.  381 

Eins  setzen  zu  können.  Wir  wollen  das  hier  an  die  Spitze  der 
Untersuchung  über  das  Wechselverhältnis  beider  Begriffe  stellen, 
weil  es  die  Quelle  unzähliger  Missverständuisse  gewesen  ist. 

Sehen  wir  uns  nun  diese  Wechselbeziehung  näher  an,  so 
kommt  hier  schon  ein  eigentümliches  Schwanken  zum  Ausdruck, 
das  sich  bald  als  die  Schwebe  zwischen  dem  Konfessionellen  und 
dem  Überkonfessionellen  in  Luthers  Glaubensauffassung  offenbart. 
Wir  haben  ja  bereits  des  längereu  ausgeführt,  inwiefern  der  Re- 
formator noch  durchaus  befangen  geblieben  ist  in  dem,  was  man 
das  Kirchentum  am  Christentum  nennen  kann,  in  den  Dogmen, 
den  zeitlichen  Glaubenssatzungen,  denen  er  zeitlose  Geltung  aner- 
kennt. Uud  doch  ist  auch  hier  schon  ein  gewaltiger  Fortschritt 
zum  Überkonfessionellen  gegenüber  der  alten  Kirche  za  konsta- 
tieren. Dieser  liegt  eben  darin,  dass  selbst  der  Schriftglaube 
nicht  als  Alleingut  uud  ausschliesslicher  Besitz  einer  sichtbaren 
Religionsgemeinschaft  gedacht  wird,  sondern  als  wertvoll  auch 
ausser  ihr  gilt,  wenn  ihn  die  Person  nur  in  ihr  Herz  aufnimmt. 
„Lass  fahren  Sakrament,  Altar,  Pf  äff  und  Kirche;  denn  das  gött- 
lich Wort  ...  ist  mehr  denn  alle  Dinge,  welches  die  Seele  nicht 
mag  entbehren,  so  wird  dich  der  rechte  Bischof  Christus  selber 
speissen  mit  demselben  Sakrament."  *)  Hier  wird  vollkommen 
deutlich,  was  wir  vorhin  bereits  über  die  Verinnerlichung  des 
Dogmenglaubens  sagten;  dass  er  nicht  als  theoretische  Funktion 
exterualisiert,  sondern  in  das  menschliche  Herz,  in  die  Persönlich- 
keit, die  ihn  nachlebt  und  lebt,  selbst  zurückgenommen  werden 
sollen,  damit  er  vor  Gott  Wert  habe.  Die  äusseren  Zeichen  soll 
man  i,fahren  lassen"  und  innerlich  und  „geistlich"  auch  den 
Dogmenglauben,  den  Glauben  an  „Schrift"  und  „göttliches  Wort" 
üben.  Durch  diese  Forderung  erhält  das  Wesen  der  Verinner- 
lichung seine  gewaltige  Tragweite,  die  wir  später  in  ihrer  ganzen 
Bedeutung  verfolgen  werden. 

Damit  haben  wir  aber  bereits  das  erste  Wechselverhältnis 
zwischen  inhaltlichem  und  praktischem  Glauben  erfasst.  Denn 
eben  diese  Verinnerlichung  ist  eine  Funktion  des  praktischen 
Glaubens,  sie  ist  nur  möglich  durch  diesen,  durch  die  Liebe,  die 
da,    „wenn    wirs   recht   ansehen,    .  .  .    geradezu   gleich   mit   den 


1)  Ein  Unterricht  der  Beichtkinder  über  die  verbotenen  Bücher  Dr. 
Martin  Luthers.  XXIV.  S.  205  f.  Zu  vergleichen  wäre  auch  der  Sermon 
vom  Bann  und  der  Sermon  vom  Hochw.  Sakrament.  Auf  die  eigentliche 
Stellungnahme  Luthers  zurKirclie  kummeu  wir  noch  ausführlicher  zurück. 


382  B.  Bauch, 

Glauben"  ist.  Und  der  Schriftglaube  wird  davon  dnrdians  ab- 
hängig gemacht,  da  er  ohne  den  praktischen  Glauben  eben  selbst 
„kein  Glaube,  sondern  nur  ein  Schein  des  Glaubens"  ist. 

Aber  an  den  Schriftglauben  überhaupt  bleibt  der  Mensch 
nach  Luther  gebunden.  Und  so  wird  das  Abhängigkeitsverhältnis 
von  inhaltlichem  und  praktischem  Glauben  nun  direkt  umgekehrt. 
Denn  dieser  soll  selbst  nur  dem  möglich  sein,  der  den  inhaltlichen 
Glauben  —  sei  es  nun  innerhalb,  sei  es  ausserhalb  der  kirchlichen 
Gemeinschaft  —  besitzt;  weil  der  Glaube,  dass  man  „Gott  wohl 
gefalle,  nur  einem  Christen  mit  Gnaden  erleuchtet  und  befestigt, 
möglich  ist.""  Alles  andere  Gute  kann  „ein  Heide,  Jude,  Türke, 
Sünder  auch  thun  ;  aber  fest  trauen,  dass  er  Gott  gefalle,  ist  . . . 
nur  einem  Christen  .  .  .  möglich.**') 

Der  praktische  Glaube  ist  ja  eines  mit  der  Liebe  und  Zu- 
versicht in  seinem  Thun  Gott  zu  gefallen,  weil  das  Thun  nur  um 
dieser  Cjottgefälligkeit  und  Liebe  \iillen  geschieht.  Nun  soll  aber 
diese  Zuversicht  und  Glauben  nur  einem  „Christen,  mit  Gnaden 
erleuchtet  und  befestigt**,  möglich  sein.  Also  wird  schliesslich 
wieder  die  Möglichkeit  der  um  der  Gottgefälligkeit  lebensvoll 
thätigen  Gesinnung  abhängig  gemacht  von  dem  inhaltlichen 
Glauben,  weil  nur,  wer  dessen  inne  ist,  sich  auch  zu  jener  soll 
aufschwingen  können. 

Aufgegeben  hat  Luther  die  Starrheit  seines  inhaltlichen 
Glaubens  zwar  niemals  ganz;  man  mag  darum  bedauern,  dass  er 
den  letzten,  gewaltigsten  Schritt  der  Konsequenz  nicht  that. 
Allein  wer  historisch  denkt,  der  wird  sich  zugleich  doch  sagen 
müsseiK  dass  mit  ihm  sich  Luther  möglicherweise  seine  historische  — 
Wirksamkeit  zertreten  hätte.*      Aber,  wie  dem  auch  sei,  er  ist  es   -^ 

diH*h  auch  wit*der  sell>st,    der  wenigstens  die  Ansätze,   jene  StaiT-  

heit  zu  überwinden,  geschaffen  hat. 

Denn  nicht  allein,  dass  er  den  Werl  des  inhaltlichen  Glaubens^^ 
vv»n  vvrnherein  diH'h  uK^rhaupt  vom  praktischen  besUmnit  sein-^K3 
lit^ss,  kehrt  sich  selbst  das  zweite  Abhängigkeitsverhältnis  noch^*=i 
einmal  um,  und  zwar  ganz  in  der  Richtung  des  ersten.  L'nd  sokttd 
sry'winnen  wir  eine  dritte  Ansicht  üln-r  die  Wechselbeziehung  xov^^-i 
Inhalt liohrm  und  fonnalem  Glaulvn:    ^Die  Schriff*,  das  „göttlich^^^ 

•    S<^mioii  \or.  deii  initen  Werken,  \X.  S.  lÄjL 

^^  Womii  wir  iiioht  die  l'Kçx^rx^imib.eiî  âiisvgespnx'hen  haben  woUei^B-  . 
.'il>  h.^T!e  l.uihtr  dit^^jer  ar<*N^"Jii*'ii*iH*hen  Wirksam^keit  we^n  den  Dogmei^- 
i^ÎAwWi.  NO  >vhÄrf  Intont  uiui  die  Kv.i*«  ^jiui;!  liicli  ^xctgt'U. 


i 


Luther  und  Kant.  383 

//    W^ort**    bindet   uns   überhaupt.    Deren  Inhalt  ist  sowohl  theore- 
tisch wahr,   wie  praktisch  giltig;   wir  sind  durch  ihn  „gehalten". 
Aber  um  seiner  im  Besonderen   inne  zu  werden,    um  den   ein- 
zelnen   Inhalt   der   Schrift    zu  verstehen,    den  Schriftglauben  zu 
erfahren,   bedarf   es   von   unserer   Seite   wieder  sozusagen   eines 
Organs.     Luther   sieht   dies   in   dem,    was   er  den  „rechten  Ver- 
stand" nennt.    Dieser  „rechte  Verstand"  aber  hat  nichts  zu  thun 
etiva  mit   unserem   reflektierenden   Erkenntnisvermögen.  —   Man 
^^reiss,    wie   geringschätzig   Luther   allenthalben   von    der    „armen 
Teufelshure"    Vernunft   redet.   —  Vielmehr   ist   er   wieder   nichts 
als  der  „reine  Herzensglaube",    ein  frommes,    demütiges,   aus  der 
Liebe  zu  Gott  fliessendes  Glauben-Wollen,  das  also  dem  inhalt- 
lichen Glauben   doch  vorhergehen  muss.    Das  heisst:   Er  ist  eben 
'^eder  der  rein  persönliche  praktische  Glaube,  der,  ohne  Ansehen 
Jsr  Person  allein  durch  „Gutheit"  des  Herzens  gewährleistet  wird 
nSo  jemand  etwas  Besseres  offenbart  wird,  ob  er  schon  sitzt  und 
dem   zuhört   in    Gottes   Wort,   so   soll   der   erste,    der   da   redet, 
stillschweigen    und    weichen.     Was    wäre   dieses  Gebot   nutze,  so 
allein  dem  zu  glauben  wäre,  der  da  redet  und  obenan  sitzt?  Auch 
Christus   sagt  Joh.  6,  45,    dass   alle  Christen   von  Gott   gelehrt 
"^^erden   sollen.    So    mag   es  wohl  geschehen,  dass  der  Papst  und 
die  Seinen   böse   sind   und   nicht   rechte  Christen,  noch  von  Gott 
ß'elehrt,   rechten  Verstand   haben,    wiederum  ein  geringer  Mensch 
den  rechten  Verstand  habe;  warum  sollte  man  ihm  nicht  glauben?" 
'Jod    dieser  rechte   Verstand   lässt  uns    „auch  Macht   haben,    zu 
^^^hmecken  und  zu  urteilen,  was  da  recht  oder  unrecht  im  Glauben 
^ôre."     Darum   können   und   sollen    wir  „mutig   und  frei  werden 
^ï^d   den  Geist   der  Freiheit  (wie  Paulus  ihn  nennt)  nicht  mit  er- 
dichteten  Worten   der  Päpste   abschrecken   lassen,  sondern  frisch 
'hindurch  alles,  was  sie  thun  oder  lassen,   nach  unserem  gläubigen 
^erstand    richten   und   sie   zwingen,   dem  Besseren  zu  folgen  und 
^icht  ihrem  eigenen  Verstand."  i) 

Dieser  „Zwang"  durch  den  „Besseren"  ist  aber  kein  ge- 
^^altsamer,  im  Gegenteil  macht  er  frei  von  der  gewaltsamen  Be- 
drängnis der  Autorität,  indem  eben  der  „Bessere",  der  Gesinnungs- 
^^chtige  in  sich  selber  seinen  Grund  und  Halt  findet.  Der  Auto- 
^*^tät    aber   hält  Luther  gegenüber:   „Niemand   soll   zum  Glauben 


^>  Sendschreiben   an   den  christlichen  Adel  deutscher  Nation.    XXI. 
^.  287  ff. 

Kantatadira  IX.  25 


3Ô4  B.  BaQeh, 

gezwungen  werden**  ^)  und:  „Ich  will  es  nit  leiden,  dass  Menschen 
neue  Artikel  des  Glaubens  setzen.**  *)  „Denn  was  mir  Gk>tt  nicht 
verbeut  und  ichs  frei  habe  zu  thun  oder  zu  lassen,  da  soll  ndr 
kein  Mensch,  ja  kein  Teufel  noch  Engel  ein  Gebot  darans  machen, 
und  sollte  es  auch  Leib  und  Leben  kosten.**  ^  So  wird  mit  dei 
Forderungen,  man  solle  „Gewissen  nicht  treiben  und  martern**  oder 
„darum  hüte  dich  und  lass  kein  Ding  so  gross  sein  auf  Elrden  — 
ob  es  auch  Engel  vom  Himmel  wären,  —  das  dich  wider  deii 
Gewissen  treibe  von  der  Lehre,  die  du  göttlich  erkennst  und  ach- 
test,*''^) dem  Gewissen  nicht  nur  Freiheit  gegenfiber  aller  mensA- 
lichen  Autorität,  sondern  eben  damit  auch  implizite  —  nicht  zwar 
der  Schrift  überhaupt,  aber  doch  —  dem  Schriftverstftndnis  gegea- 
über  gegeben,  sodass  auch  zur  Frage  nach  deren  Autorität  nir 
ein,  wenn  auch  gewaltiger,  Schritt  war,  den  Luther  aUerdings 
nicht  vollzog. 

Man  wird  sich  über  die  logischen  Mängel  und  Widersprödie 
in  Luthers  Glaubenslehre  nicht  einen  Augenblick  zu  täuschn 
brauchen,  und  doch  deren  Bedeutsamkeit  und  Tragweite  wohl  wfi^ 
digen  können.  Wir  selber  haben  die  Widersprüche  deutlich  gmg 
hervortreten  lassen,  wenn  wir  ihnen  auch  keine  aosdrücklidie 
Kritik  nachschickten;  wir  wissen  femer,  dass  selbst  die  letite 
Wendung  zur  Freiheit  von  der  Autorität,  ja  auch  schliesslich  keine 
absolute  Befreiung  von  der  Schrift  bedeutet,  und  wie  sehr  „Wort 
und  Meinung  Christi"  für  Luther  in  der  Schrift  selbst  Autoritft 
ist.  Es  ist  ja  auch  so  leicht,  ohne  Widerspruch  zu  bleibefi. 
Wieviele  Menschen  ersparen  sich  im  Leben  grosse  Widerspräche, 
weil  sie  sich  Gedanken  ersparen  !  Und  auf  die  Logik  Luthers 
kam  es  uns,  wie  gleich  gesagt,  nicht  an.  Das  Sittlich-Beligi^ 
steht  im  Vordergründe  des  Interesses  für  jeden,  für  den  Luther 
selbst  von  Interesse  ist.  Und  in  Rücksicht  darauf  haben  wir, 
glaube  ich,  doch  aus  seiner  Glaubensidee  das  Prinzip  der  lauteren, 
gottgefälligen,  selbsteigenen  Gesinnung  der  Persönlichkeit  analy- 
sieren können.  Wir  werden  kaum  noch  einer  besonderen  Zurück- 
weisung solcher  Vorwürfe  bedürfen,  wie  sie  Strauss  gegen  Luther 
erhebt,    wenn    er    sagt:    „Hätte    er    den   an    sich    gleichgUtigen 

1)  Unterricht  der  Beichtkinder.    XXIV.    S.  205. 

2)  Vom  Papsttum  zu  Rom  wider  den  berühmten  Romanisten  » 
Leipzig.    XXVII.    S.  136. 

3)  Vierte?  Fastenpredigt  (vom  Jalire  1623).    XXVII.    S.  233. 
*)  Unterricht  der  Beiclitkinder.    XXIV.    S.  207  f. 


Luther  und  Kant.  385 

Äusserlichkeiten  gegenüber  die  sittliche  Oesinnuug  als  dasjenige, 
worauf  es  ankommt,  betont,  und  von  Gott  gesagt,  dass  er  auf 
den  ernstlich  gut^n  Willen  sehe,  da,  von  jenen  Äusserlichkeiten 
gar  nicht  zu  reden,  auch  die  Ausführung  des  sittlich  Gewollten 
beim  Menschen  immer  unvollkommen  bleibe:  so  müsste  ihm,  der 
katholischen  Kirche  gegenüber,  die  feinere  und  tiefere  Auffassung 
dieses  Verhältnisses  zugestanden  werden.  Aber  seine  Lehre  vom 
rechtfertigenden  Glauben,  neben  dem  selbst  die  gute  Gesinnung 
Nebensache  sein  soll,  war  einerseits  überspannt,  und  andererseits 
für  die  Sittlichkeit  äusserst  gefährlich."  0 

Solche  Sätze  aus  der  Feder  eines  der  scharfsinnigsten  Theo- 
logen nehmen   sich  merkwürdig  aus.    Luther  bedeutet,   scheint  es 
danach,   nicht   nur   keinen  Fortschritt   über  die  alte  Kirche,   son- 
dern   eine    „für  die  Sittlichkeit  äusserst  gefährliche"  Erscheinung, 
da    neben   seiner  Glaubensidee   „selbst  die  gute  Gesinnung  Neben- 
sache  sein   soll."     Hamack  sagt  einmal,  Luther  habe  den  „Dua- 
lismus  von   dogmatischem    Christentum   und   praktisch-christlicher 
Selbstbeurteilung   und  Lebensführung   aufgehoben."  2)     Man  wird 
das  zugeben  dürfen,  insofern  Luther  in  der  That  den  dogmatischen 
Glauben   und   den   praktischen   Glauben   innig,   wenn   auch  nicht 
ohne    Widerspruch,    mit    einander    vereinigte.      Dass    aber    eben 
beide   Bestandteile    in    seiner   Glaubensidee    beschlossen   liegen, 
wird   man    sich   darüber  immer  gegenwärtig  halten  müssen.    Und 
dass  dieser  praktische  Glaube,  der  „reine  Herzensglaube",   wie  er 
ihn  noch  nennt,    die  lautere  Gesinnung  selber  darstellt,   und  nicht 
neben  dem  Glauben  eine  Nebensache,  sondern  in  seiner  Glaubens- 
idee mit  dem  dogmatischen  Glauben  zusammen  die  beiden  Haupt- 
faktoren, also  selbst  eine  Hauptsache  bedeutet  —  mag  sein  Ver- 
hältnis zum  dogmatischen  Glauben  auch  widerspruchsvoll  sein  — , 
das   wollten   wir   bisher   nur   darstellen.      Welche   eminente   Be- 
deutung aber  dieser  Gesiunungsglaube  sonst  noch  hat,  werden  wir 
im  weiteren  sehen. 

Kapitel  II. 

Der  Glaube   und   die  Werke. 

Wir  haben  bisher  die  Gruudzüge  der  Glaubenslehre  Luthers 

kennen  gelernt  und  gesehen,  wie  man  in  seiner  Glaubensidee  zwei 

Bestandteile  unterscheiden    muss.     Von  besonderer  Bedeutung  er- 

1)  a.  a.  O.  S.  20 

«)  a.  a.  O.  m.  S.  776. 

25* 


386  B.  Bauch, 

schien  ans  der  praktische  Glaube,  dessen  weitreichenden  Wert  wir 
aber  noch  lange  nicht  genugsam  klargestellt  haben.  Wir  betonten 
nur  das  Thathafte,  das  in  seinem  Wesen  liegt,  und  die  Persön- 
lichkeit allein  auf  sich  und  auf  ihren  Gott  stellt,  unabhängig  yon 
aller  menschlichen  Autorität.  Dieses  Prinzip  des  eigensten  that- 
vollen  Glaubens  entwickelt  nun  seine  bedeutsamsten  Folgen  fBr 
das  Leben  und  das  sittliche  Wirken  des  Menschen  überfaai^l 
Denn  auch  hier  ist  es  der  höchste  bestimmende  f^aktor,  indem 
lediglich  des  Einzelnen  Eigeuthat  unter  dem  Gesichtspunkte  des 
Wohlgefallens  Gottes  betrachtet  wird.  Mit  der  Glaubenslehn 
Luthers  verschmilzt  so  aufs  innigste  seine  Sittenlehre.  NatSrlkh 
kann  es  sich  hier  ebenso  wenig  um  ein  ausgeführtes  System  der 
Sittenlehre  handeln,  wie  wir  vorhin  ein  System  der  Glaubenslehre 
Luthers  darstellen  wollten.  •  Es  kommt  uns  auch  hier  nur  auf  die 
grossartigen  Prinzipien,  auf  die  Grundgesichtspunkte,  unter  denen 
Luther  das  praktische  Wirken,  das  Handeln  des  Menschen  als 
That  werdenden  Glauben  fasst. 

Diese  Hauptgesichtspunkte  werden  aber  am  schärfsten  nnd 
klarsten  hervortreten,  wenn  wir  zuerst  einen  Blick  auf  die  histo- 
rische Lage  werfen,  zusehen,  was  vor  Luther  und  zu  seiner  Zat 
selbst  als  das  sittlich-religiös  Wertvolle  im  Leben  und  Wiiten 
des  Menschen  in  erster  Linie  augesehen  wurde,  und  was  dem  Be- 
forniator  aus  seiner  Glaubensidee  heraus  nun  eigentlich  mit  unab- 
weislicher  Gewalt  seine  Sittenlehre  abnötigen  musste. 

§4. 
Das  gute  Werk  im  Sinne  der  alten  Kirche. 
Man  pflegt  zwecks  des  historischen  Verständnisses  der  Re- 
formation durch  Luther  in  erster  Linie  immer  den  Ablasskram  und 
Ablasshaiidel  zu  betonen.  Es  ist  wahr,  dass  der  Unfug,  der  da- 
mit getrieben  wurde,  Luther  aufs  äusserste  empören  musste  und 
zu  seinem  reformatorischen  Auftreten  den  ersten  äusseren  Anlass 
gab.  Denn  er  sah  deutlich,  wie  die  im  Namen  der  Kirche,  ja  der 
Religion  selbst  gehende  Einrichtung  nichts  Anderes  war,  als  ein 
Geschäft,  das  die  Kassen  und  Schätze  des  Papstes  füllen  sollte, 
das  aber  auf  der  anderen  Seite  die  Menschen  vollkommen  demo- 
ralisieren imisste.  Konnten  diese  doch  nicht  anders,  deim  glauben, 
alle  Selbstverantwortung  sei  von  ihnen  genommen,  durch  Geld  yer- 
möchttMi  sie  ihrer  Sünden  ledig  zu  werden,  um  in  derselben  Aussicht 
nachher  wieder  lustig  und  frisch  darauf  los  sündigen  zu  können. 


Luther  und  Kant.  387 

Und  so  war  es  weniger  der  äussere  Ablassschacher  als  solcher, 
als  vielmehr  die  ganze  innere  Verkehrung  und  Verdrehung,  die  das 
Pfaffenregiment  mit  dem  Wesen  der  „Gutheit"  vollzog,  was  Luthers 
religiöses  Denken  und  Fühlen  verletzte.  Es  ward  überhaupt  für 
gat  and  heilsam  nur  das  gehalten,  was  der  pfäffischen  Sucht 
nach  Gefallen  war:  Gebote  und  Pflichten  wurden  hinfällig,  sobald 
man  sich  von  ihnen  mit  Geld  loskaufen  konnte,  das  in  die  römi- 
schen Kassen  floss;  für  Geld  fiel  der  Bann,  für  Geld  wurden 
Ehedispense  erteilt.  Jubiläumsjahre  galten  für  gut,  weil  sie  Geld 
nach  Koni  brachten,  und  je  mehr  sie  dahin  trugen,  desto  häufiger 
wurden  sie  angesetzt.  Ihre  ursprüngliche  Zahl  ward  verdoppelt, 
ja  verdrei-  und  vervierfacht  Kirchenwürden  wurden  verkauft. 
Der  aufs  Äusserliche  und  den  äusseren  Gewinn  gerichtete  selbsti- 
sche Sinn  der  Geistlichen  bewirkte,  dass  die  „Messen  so  jämmer- 
lich geschlappert  werden,  noch  gelesen,  noch  gebetet;  und  ob  sie 
schon  gebetet  würden,  doch  nicht  um  Gottes  willen  aus  freier 
Liebe,  sondern  um  Geldes  willen  und  verpflichteter  Schuld  voll- 
bracht werden,"  wo  „es  doch  nicht  möglich  ist,  dass  Gott  ein 
Werk  gefalle,  oder  etwas  bei  ihm  erlange,  das  nicht  aus  freier 
Liebe  geschieht."  Und  an  den  „heiligen  Tagen"  selber  machte 
sich  breit  das  Laster:  „Der  Missbrauch  mit  Saufen,  Spielen, 
Müssiggang  und  allerlei  Sünde."  ^)  Kurz,  nicht  nur  ward  das 
„Geistliche"  verweltlicht;  nein,  dem  menschlichen  Handeln  ward 
aller  Sinn  und  Wert  genommen.  Gut  sollte  sein,  was  der  Pfaffcn- 
willkür  nach  Gefallen  war,  und  böse,  was  sich  ihr  nicht  fügte. 
Ob  das  Recht  nicht  bloss  recht,  sondern  auch  gerecht  war,  danach 
ward  nicht  gefragt.  Wo  die  Gewalt  war,  da  war  das  Recht,  und 
daram  war  die  Kirche  ja  auch  keine  Stätte  der  Religion,  sondern 
längst  eine  solche  der  Gewalt  und  Politik  geworden.  Auf  das 
Gewissen  des  Einzelnen  ward  keine  Rücksicht  genommen,  es  ward 
in  Blindheit  und  Knechtschaft  gehalten.  Ob  es  für  oder  gegen 
eine  Handlung  sprach,  oder  ob  es  überhaupt  nicht  sprach,  das 
galt  gleichviel.  Wenn  nur  Handlungen  geschahen,  die  irgendwie 
pfäffischen  Satzungen  entsprachen,  so  war  es  gut,  und  sie  waren 
die  wahren  „guten  Werke'*  im  Sinne  der  alten  Kirche.  Dieser 
Sinn  aber  musste  jedem  wahrhaft  religiösen  Sinne  Hohn  sprechen 
and  darum  mit  absoluter  Notwendigkeit  zu  der  Umgestaltung 
führen,  die  Luther  vollzog. 

^)  Sendschreiben  an  den  christlichen  Adel  deutscher  Nation.  XXI. 
S.  327. 


388  B.  Bauch, 

§5. 

Xotwendige  logische  Disjunktion  des  Begriffs  vom 
„guten  Werk". 
Gegen    die   guten  Werke   in    dem  jetzt  besprochenen  Siüne 
sagten   wir   soeben,    musste  sich  Luthers  freies  und  grosses  Her 
wenden,    und    er  bekämpft«  sie  mit  dem  ganzen  Nachdruck  seine  — r 
starken  Persönlichkeit.     Dabei  war  er  sich,  wie  schon  oft  hen'oi — =*- 
gehoben,^)    der  Gefahr    einer  Missdeutung    seiner    hier    in    Red^    -le 
stehenden    Lehre    gar    wohl   bewusst,    sintemal   man    ihm    bereit:-^^^ 
nachredete,    er    „verböte   gute  Werke".    Ja   diese    Missdeutunge»:  -n 

haben    angehoben    an   den   Tagen,    da  Luther   seine    neue   Lehr* e 

verkündete  und  sich  fortgepflanzt  bis  auf  unsere  Zeit.  Man  verz^cr- 
stand  das  ,, Verbieten''  der  guten  Werke  durch  Luther  so,  als  er  ^b 
er  nun  das  „gute  Werk**  überhaupt  ablehne  und  verdamme^»^. 
Es   ist    doch    eigentümlich  und  schwer  begreiflich,  wie  die  in  de^s^^r 

formalen  Logik   förmlich   aufgewachsenen    und    mit    ihren  RegeL n 

gedrillten    zeitgenössischen  Theologen    den  Mann    mit  seiner  trot ^ 

aller  Gewalt  einfachen  und  ungekünstelten  Rede  so  missverstehe        u 
konnten,   wie   sie  ihn  missverstanden  haben.     Oder  sollten  sie  de — ^r 
scharfen,  unmittelbar  klaren  und  deutlichen  Unterscheidung,  die  (5 — 't 
mit    seinem    natürlichen  Verstände,   ohne    die  Formehi   des  Schu     J- 
drills   rücksichtlich   des   Begriffs    des    „guten    Werkes"     vollzo^^, 
wahrhaftig   nicht    fähig   gewesen   sein?    Klingt    es   doch,    als  (^  "b 
selbst  Spener  anfangs  sehr  verwundert  darüber  gewesen  sei,    da^SK 
Luther   ^an    verschiedenen    irrten,    absonderlich   in   der   Kirchecr»- 
postille   auf   Mittwoch    nach    Ostern,    so   ernstlich    das   gottseli^^ 
Leben  treibe,    als   einer  nur  thun  kann."-»    Sollten  auch  die,   d.  Se 
ihm   vorwarfen,    seiner  Lehi-e   gemäss   hätte    man  nichts  Besser^BS 
zu  thun,  als  sich  aufs  Nichtsthun  zurückzuziehen,  nicht  empfund^^n 
haben,    wie    eine   solche  Lehre  seiner  thatenfrohen  und  wirkungr^- 
HMohon  Natur  den  allerei-sten  und  empfindlichsten  Schlag  verset  3t 
haben    wünle,  ja    dass    er   niemals    \iiirde   seine  Wirkung  hal>  ^n 
entfalten    können,    wenn  das  wirklich  seine  Lehre  gewesen  wär^3? 
.\ber   violloioht    sieht    man  das  und  weiss  dem  auch  eine  hübstrle 


*^  8o  auch  von  Kwald  Schneider  in  seiner  Heransgebenrorrede  &'«JID 
„Sennou  von  don  piton  Werken*";  in  der  Volksausgabe. 

•^  V^l.  ila/u  „die  Kthik  Luthers  in  ihren  Gnmdzügen*.  Dargest-^üt 
\on  l>r.  i'hr.  Knu^t  l.uthanit,  Homherr,  Konsistorialrat  und  Professor  der 
Thoolo^ie.    Lei|aii^.    U.  Aufl.    1875. 


Luther  und  Kant.  389 

IrkläruBg  zu  geben.  Man  wird  uns  daran  erinnern,  dass  wir 
über  ja  selbst  schon  auf  Widersprüche  in  Luthers  Lehre  hinge- 
lesen haben.  Damit  wird  man  dann  dem  Reformator  und  uns 
îlber  jetzt  „auf  die  Sprünge  helfen"  wollen.  Da  habt  ihr  nun, 
ird  man  sagen,  abermals  solche  Widersprüche,  und  eben  ganz 
nglaublich  harte,  viel  schlimmere  als  die  ersten:  Widersprüche 
wischen  Lehre  und  Leben,  zwischen  Anschauung  und  Charakter, 
wischen  Theorie  und  Praxis.  Nun  wir  sind  des  Glaubens,  auch 
er  ärgste  Gegner  dürfte  uns  der  Unaufrichtigkeit  und  Unehrlich- 
eit  etwelcher  Bemäntelung  und  Verschleierung  von  Widersprüchen 
icht  zeihen.  Wir  hätten  auf  die  wirklichen  vorhin  und  die  ver- 
leintlichen  jetzt  nicht  mit  der  Deutlichkeit  hinweisen  dürfen, 
dt  der  wir  es  thun,  wollten  wir  überhaupt  vertuschen  und  be- 
länteln.  Darum  sagen  wir  den  Einwendungen  gegenüber  :  Gemach  ! 
Irstens  sind  die  ,.guten  Werke"  der  Kirche  noch  nicht  die 
Uten  Werke  überhaupt;  wenn  jene  abgelehnt  werden,  sind  da- 
lit  auch  noch  nicht  diese  abgelehnt.  Und  zweitens  brauchen  die 
bgelehnten,  weil  sie  nicht  wertvoll  und  gut  sind,  noch  nicht 
ertfeindlich  und  böse  zu  sein,  wenn  sie  auch  wertlos  sind.  Wie 
eschen  den  guten  Werken  der  Kirche  und  den  guten 
'^erken  überhaupt  ein  Unterschied  ist,  so  ist  auch  ein  Unter- 
hied  zwischen  nichtguten  Werken  und  bösen  Werken, 
tischen  Wertlosigket  und  Wertfeindschaft.  Dieser  Unter- 
hied  ist  so  einfach  und  einleuchtend,  das?  ihn  nicht  bloss  in 
infalt  ein  kindlich  Gemüt,  sondern  auch  wirklich  der  Verstand 
sr  Verständigen  sehen  muss. 

Nun  wollen  wir  untersuchen,  wie  er  sich  in  Luthers  Wertungs- 
eise selber  ausprägt  in  seiner  Auffassung  von  den  guten  Werken, 
abei  wollen  wir  ausgehen  von  den  in  seinem  Sinne  nicht-guten 
futen  Werken",  um  dann  zu  erkennen,  wie  er  das  gute  Werk 
îFSteht,  damit  es  wirklich  gut  sei. 

§6. 

Luthers  faktische  Unterscheidung  von  Wertfeindschaft  und 

Wertiudifferenz  des  „guten  Werkes"  im  alten  Sinne. 

Alles,    was  nicht  gut  ist,    ist  entweder  böse  oder  weder  gut 

och  höre,    d.  h.  in  Bezug   auf  seinen  Wertgehalt  indifferent.     So 

aben  wir  die  Sphäre  des  Xicht-Guten  eingeteilt,  und  zwar  eigent- 

ch    schon    im    vorigen  Paragraph.      Und    genau    so    teilt    auch 

iUther  praktisch,   wenn  auch  nicht  in  unserer  theoreüsch-begriff- 


390 


B    Bauch. 


licheu    Zuspitzung,    ein.      Dem   entspricht  auch  genau  sein  Ableh 
nungsverhalteu.     Er  lehnt  die  „guten  Werke**,  die  nicht  in  seinom 
Sinne  gut  sind,  ab.     Aber  seine  Ablehnung  ist,   ganz  davon  abge- 
sehen,  dass  er  nicht    die    guten  Werke    überhaupt   verbietet, 
selbst   rücksichtlich    der  abgelehnten  nicht  durchaus  eine  Verdam- 
mtiug    und    Verurteilung,      Ganz    deutlich    spricht    er    von    dem 
Zweck   des  Werkes    und  vom  „Werke    an    ihm   selbst**;  und 
erkennt  dieses  als  solches  für  wertlos.»)     Und  ausdrücklich  heisst.^ 
es:    „Damm  verwerfen   wir  die  guten  Werke  nit  um  ihrentwilleu.^^ 
sondern  um  des  bösen  Zusatzes  und  falscher,    verkehrter  Meinnu; 
willen."*)    „Die  \\"erke  sind  nit  um  ihrentwillen  Gott  augenehm,"*  -*■) 
darum  sind  sie  aber  auch  noch  nicht  um  ihretwillen  Gott  unangei^a^ 
nehm.      Wer   die    von    der    Kirche    vorgeschriebenen  Werke   vor  ^. 
bringt,  gedankenlos  etwa,  der  vollbringt  damit  weder  etwas  Gut^^ss 
noch    etwas  Böses,    seine  Handlung    ist  in  Bezug  auf  ilireu  Wec^zit 
oder  Unwert  gleichgiltig,    indifferent.    Aber  ganz  anders  steht  ^^ss 
schon  um  die.    welche   die  Vorschrift  erliessen,    und  für  ihre  Aii^     s- 
führung   gebieterisch    sorgen.      Denn    gedankenlos   haben   die  «^s 
nicht  gethan.     Wii*  hörten  vorhin,    wie  Luther  sich  beklagt,    da:^ss 
die   „Messen    so  jämmerlich    geschlappert    werden,    noch    gelese  j», 
«nrh  gebetet;    und    nb   sie   schon  gebetet  würdeu,    doch  nicht  a^  m 
(toües  willen  aus  freier  Liebe,  sondern  um  Geldes  willen  und  vc^x* 
pflicliteter  Schulfl  voltbracht  werden."     Machen  wir  uns  an  dies€5^  m 
Beispiele  die  vorige  Unterscheidung  klar.    Luther  lehnt  die  in  d  ^^r 
Messe  zum  Ausdruck  kommende  Werkgerechtigkeit  ab.     Nur  kacui 
sie  ganz  verschieden   bei  dieser  Ablehnung  noch  beurteilt  werde mj 
Der  „Laie",   ja   selbst    der  Priester,    der  damit  ein  ^Lippenwerlt" 
vollbringt,  sie  thun  damit  nichts  Gute~s.     Aber  sie  brauchen  damit 
nodi    nichts  Böses   zu   thun.     Es   ist  nur  wertlos,    ein  „Werk   «m 
Ihm    selbst**,   das   sie    ausführen.     Ganz  anders  steht  es  aber  mil 
denen,    die    die    Messe  ^jämmerlich  schlappem**   etwa  „um  Geld^ 
willen**.     Hier   ist    ein  böser  Bestimmungsgrund  de^  Herzeus,    c^io 
Kchlecht(*s  Motiv  der  Seele  zu   erkennen:    der    „böse  Zusatz''  äwI 
tue  Jals(*he,  verkehrte  Meinung**. 

Olme  subtile  Begriff sspalterei,  laienhaft  einfacJi  und  klar  ixni 
»tmolul   (vvident  tret<?u  diese  Auschauungeu  zu  Tage:  Das  ^Werk 


)}  Strmon  von  den  guten  Werkeji.    XX,    S.  250. 
•)  Frfîhpit  eines  l'hristennaenschen,    XXVTI.    S.  194. 
*)  Hflnnon  von  den  guten  Werken.    XX-    S.  199. 


Luther  iiml  Kant. 


391 


au  ihm    selbst**  ist  wetllos,    uiir  der  „böse  Zusatz",    die  „falsrhc, 
verkehrte  Meinung**  macht  es  böse  und  verwerflich. M 

§  7. 
Das  cute  Werk  iu  Luthers  Siduo  im  Gegeusatz  zur 

alten  Auffassung, 

I^er  vorige  Paragraph  hat  bereits  die  quaestio  juris  der  in  ihui 
aufgewiesenen  Uriferscheiduug,  weun  auch  nicht  ausdrücklich  ge- 
stellt, so  doch  implicite  angedeutet,  und  zwar  sogar  auch  schon 
in  ihrer  Lösung  augedeutet.  Damit  hat  er  uns  auch  unmittelbar 
vor  die  Frage  nach  dein  Wesen  des  guten  Werkes  in  Luthers 
Sioiie  geführt^  deren  Beantwortung  selbst  schon  durch  die  Aus- 
fühnmgen  unseres  ganzen  ersten  Kapitels  nahe  gelegt,  ist. 

Stellen  wir  nun  die  quaestio  juris  wirklich  und  deuten  ihre 
Antwort  nicht  bloss  an,  sond<:*rn  geben  sie  auch,  so  können  wir 
mît  einem  Schlage  sowohl  den  Grund  angeben  für  die  Unter- 
scheidung der  wirklich  guten  Werke  im  Sinne  Luthei^  und  der 
vermeintlich  guten  Werke,  iu  Wahrheit  aber  nicht-guten  Werke» 
als  auch  darauf  wieder  die  weitere  Unterscheidung  von  bösen  und 
iüclifferent^n  Werken  basieren. 

Ganz  allgemein  sind  die  „guten  Werke**  im  Sinne  der  alten 
Kirche  nicht  auch  wirklich  gut^  weil  sie  ohne  den  Glauben  ge- 
schehen; sie  sind  „ausserhalb  des  Glaubens,  darum  sind 
sie  nichts^/-)  Wie  wir  nun  leicht  innerhalb  der  nicht-guten 
„guten  Werke'*  den  Unterschied  rechtlich  begriindeu  können,  indem 
zwar  beide  wertlos,  weil  „ausserhalb  des  Glaubens",  die  einen  aber 
einfach  wertindifferent,  weil  ohne  den  Glauben,  die  anderen  wert- 
feindlich, weil  gegen  den  Glauben  sind,  so  können  wir  nun  die 
guten  Werke  im  Sinne  Luthers  naher  begrifflich  bestimmen,  indem 
wir  sie  einfach  der  Gesamt bestimmuug  jener  beiden  anderen  Kate- 
gorif^i  antithetisch  gegenüberhalten:  Der  Glaube  bleibt  für  ihn 
das  Wert-  und  Unwert-Bestimmende.  Sind  nun  die  guten  Werke 
im  alten  Sinne  alle  nur  deswegen  nicht  auch  in  Wahrheit  gut, 
weil    sie    ^ausserhalb    des  Glaubens**    sind,    imd  sind  sie  mit 


1)  Eine  treffliche  lUiistnition  könnte  mau  übrigens  in  einem  (in  den 
„Gedanken  nnd  Erinnening-en**  mit^eteiUenj  Gespräch  zwischen  Bismarck 
und  dem  Bischof  von  Ketteier  finden.  Mag  Bismarck  auch  im  Î5cherz  ge- 
sprochen ha  hen,  der  Scherz  entbehrt  doch  eines  lieferen  Ernstes  nicht.  — 
Auch  Paulsen  weist  a.  a,  0.  darauf  hin. 

^)  Sermon  von  den  guten  Werken,    XX.    S.  197  t 


392 


B.  Banch^ 


den  guten  Werken  tibcrbanpt  noch  nicht  identisch,  sodass  deren 
bepriffliche  Sphäre  logisch  weitergreift^  so  müssen  die  wahrhaft 
guten  Werke  die  sein,  die,  \iir  können  sagen,  innerhalb  des 
Glaubens  sind,  ^im  Glaabpu  gehen  und  geschehen".  So- 
mit haben  mr  den  Begriff  des  guten  Werkes  im  Sinne  Luthers 
gewonnen-  Er  ist  aber  zunächst  noch  recht  aügemeiu  und  vag 
bestimmt.  Wir  müssen  seineu  Inhalt  darum  noch  etwas  weiter 
auseinanderlegen  und  erläutern. 

Während  die  alte  KiiThe  nur  darauf  sah,  dass  überhaupt  ge- 
wisse statutarische  Vorschriften  g»^schehen  und  so  etwas  als  ^ gutes 
Werk"  bezeichnete,  was  im  günstigsten  Falle  aber  nur  «Werk  an 
sich'*  ist,  im  schümmst-en  aber  auf  einer  „falschen,  verkehrten 
Meinung**  beruht  und,  indem  es  geboten  wird,  den  Widerspruch 
des  Gewissens  der  Persönlichkeit  herausfordert,  so  erhält  bei 
Luther  das  gnt^.*  Werk  überhaupt  nui"  Wert,  indem  es  einerseits 
aufhört,  „Werk  an  siclr  zu  sein  und  andererseits  durch  rechte, 
gute  Meinung  bestimnit  wird.  Durch  sie  aber  wird  es  bestimmt, 
wenn  es  auf  den  Willen  Gottes  und  dessen  Wohlgefallen  als  auf 
seinen  hochsteu  Zweck  bezogen  wird.  Denu  ihm  nmss  „Wahrheit 
und  alles  Gute  zugeschrieben  werden,  wie  er  denn  wahrlich  ist. 
l>as  thnn  aber  keine  guten  Werke,  sondern  allein  der  Glaube  de&s 
Herzens**.  >) 

Hier  wird  nun  von  neuem  klar,  wie  notwendig  die  im  erstei 
Ka|iiti4  inni^rhalb  des  Glaubensbefrriffes  gemachte  Tnlerscheiduni 
zwischen  praktischem  und  inhaltlichem  Glauben  war.  Denn  war« 
Luthers  Glanbensidee,  wie  Strauss  meint,  in  dem  dogmatische] 
Srhriftglaubeu  beschlossen,  so  hätte  Luther  in  der  That  nicht  da?=~3> 
gute  Werk  in  seinem  Sinne  der  alten  Auffassung  gegenübei-stellerrzni 
krmnen,  da  diese  sich  gar  wohl  mit  eini^m  lediglich  und  rein  dog~ — - 
matisclien  Glaulif^n  vorträgt,  in  Wahrheit  sogar  auf  ihn  gegründe  ^-ss^t 
ist.  Und  gerade  weil  in  der  Glaubeiisidee  des  RL^formators  de  -^-^r 
praktische  Glaube,  oder,  wie  er  ihn  hier  selbst  nennt,  der  ^Glaub  e 
des  Herzens***)  ein  integrierender  Faktor  ist,  kann  rr  den  Wen^rt 
des  Werkes  von  der  „Meinung**  der  Persönlichkeit  abhängL  g 
macheu.  I>ass  darum  die  Gesinnung  für  ihn  nicht  Nebensacl*i»e 
sein    kann,    wird    wohl    auch   unl^ir  diesem  Betracht  schon  wiedt-^^r 


*)  Freilteit  eines  Chris  ten  menschen.     XXVIL    S.  183. 

*)  Eine  Benennung,  die  es  wohi  klar  und  deutlich  rechtfertig,   da 


wir  diesen  Glauben  selbst  als  praktischen  Glauben  charakterisiert  baten. 


I 


Lather  und  Kant.  393 

klarer;  und  wird  immer  mehr  einleuchten,  je  mehr  wir  den  Glauben 
—   den   wir   zuerst   nur   sozusagen    rein   immanent   betrachteten 
und  analysierten  —  in  Verbindung   mit  den  Werken  treten  sehen. 
Denn   dieser   Glaube,    „in   dem   die  Werke   gehen   und   ge- 
schehen" müssen,  das  ist  der  „Glaube  des  Herzens",   durch  unser 
Handeln   und   in   ihm    „Gott  wohlgefällig"    zu  sein,   und  nur  um 
dieser   Gottwohlgefälligkeit   willen   zu   handeln,   also   aus  keinem 
anderen  Grunde,  denn  um  Gott  zu  gefallen.    Kurz  unser  Handeln 
muss,    damit  es  Wert  habe  vor  Gott,   auf  jenem  Glauben  basiert 
sein,  von  dem  Luther,  wie  wir  gehört  haben,  sagt,  dass  er  „Liebe 
und  Hoffnung  mit  sich  bringt.    Ja,    wenn  wirs  recht  ansehen,   so 
ist  die  Liebe  das  erste   oder  geradezu  gleich  mit  dem  Glauben".*) 
Es  ist  ein  zwar  transscendent  bestimmter,  aber  rein  sittlicher 
Glaube,   von   dem  wir  schon  aus  unseren  ersten  Ausführungen  er- 
kennen  konnten,   dass   er   allein   in   den  Tiefen  der  individuellen 
Seele  seinen  Halt  findet.    Das  wurde  hier  noch  deutUcher,   da  er 
einerseits  dem  „Werk  an  ihm  selbst"  gegenübergestellt  und  darum 
auch  als  dessen  Wert  erst  bestimmend  erkannt  wurde.     Und  nun 
-werden   wir   zu  ersehen  haben,   wie  dieser  Glaube  der  Persönlich- 
keit von  Luther  als  das  einzig  wertvolle  Motiv  ausdrücklich  klar 
herausgestellt  und  ausser  ihm  keines  als  wertvoll  anerkannt  wird, 
sodass  das  gottgefällige  Handeln  um  der  Gottwohlgefälligkeit  selbst 
willen,  als  der  einzige  und  höchste  Zweck  des  sittlichen  Menschen 
erscheint. 

§«• 

Der  persönliche  Glaube  als  einziges  Wertmass 
für  das  gute  Werk. 

Wir  sind,  scheint  es,  zu  der  Auffassung  geführt,  Luther  habe 
den  Wert  des  guten  Werks  ganz  und  gar,  ja  ausschliesslich  ab- 
hängig gemacht  von  dem,  was  er  den  „Glauben  des  Herzens" 
nennt,  allein  also  von  der  Überzeugung  des  autoritätsfreien  per- 
sönlichen Gewissens  und  dessen  Ausspruch,  dass  die  Handlung 
Gott  wohlgefällig  sei,  weil  sie  nur  um  dieses  Wohlgefallens  willen 
und  aus  keinem  Grunde  sonst  vollbracht  werde  :  und  dieses  sei  das 
eigentlich  und  wahrhaft  gute  Werk  im  Sinne  Luthers. 

Wir  scheinen  zunächst  vorsichtig  gewesen  zu  sein,  indem  wir 
sagten,   wir  scheinen  durch  das  Vorhergehende  zu  dieser  Über- 


1)  Vgl.  oben  §  2. 


394  B.  Bftuch, 

zGUgnng  geführt.  In  Wahrheit  scheint  es  aber  nicht  bloss  so, 
sondern  ist  es  auch  wirklich  der  Fall.  Nur  wollten  wir  andcmten, 
dass  wir  es  noch  an  der  Hand  Luthers  näher  zu  begränd^i 
haben,  dass  es  auch  seine  ausdrückliche  und  klar  ausgesprochene 
Auffassung  gewesen  sei.    Und  das  wollen  wii  jetzt  zeigen. 

Gäbe  es  ausser  diesem  rein  persönlichen  Glauben  der  Gott- 
wohlgefälligkeit, dem  reinen  Gesinnungsglauben  (als  welchen  wir 
dieses  Lutherische  Prinzip  auch  vom  philosophischen  Gesichts- 
punkte noch  werden  anerkennen  müssen)  noch  andere  Bestimmungs- 
giiinde,  die  als  Motive  zum  „guten  Werk*  in  Frage  kommen 
könnten,  so  müsste  Luther  sie,  wenn  wir  jenen  praktischen  Glauben 
als  die  einzige  von  ihm  als  wertvoll  anerkannte  Motivation  sollten 
hinstellen  dürfen,  alle  abgelehnt,  d.  h.  zum  mindesten  eben  nicht 
als  sittlich  wertvoll  anerkannt  haben. 

Um  diese  aufdecken  zu  können  und  dann  zu  sehen,  welche 
Stellung  Luther  zu  ihnen  nimmt,  wollen  wir  uns  noch  einmal  knn 
vergegenwärtigen,  welche  Bestimmung  der  Begriff  dieses  prak- 
tischen Glaubens  implizite  in  sich  enthält  So  gliedert  sich  die 
Untersuchung  dieses  Paragraphen  nach  drei  Gesichtspunkten: 
erstens  fragen  wir  noch  einmal  kurz  nach  dem  Wesen  des  persön- 
lichen Glaubens  selbst,  zweitens  nach  den  ausser  diesem  mög- 
licherweise fürs  „gute  Werk"  in  Betracht  kommenden  Bestimmungs- 
gründen, und  drittens  nach  Luthers  Stellungnahme  zu  diesen. 
Dinse  letzte  Frage  ist  also  nicht  sowohl  bloss  auf  die  logische 
Koüseciueuz  gerichtet,  ob  Luther  sie  seiner  Glaubensauffassung 
zufolge  habe  ablehnen  müssen  —  denn  logisch  erweise  müsste 
das  sowieso  folgen  —  sondern  vielmehr  ob  er  nun  die  Konsequenz 
auch  faktisch  gezogen  und  jene  Bestimmungsgründe  wirklich 
abgelehnt  hat. 

Erstens:  Soll  ein  Werk  im  Sinne  Luthers  auch  ein  gutes 
Werk  s(ûn,  so  muss  die  Persönlichkeit  es  thun  wollen,  weil  sie 
überzeugt  ist,  dass  sie  damit  etwas  Gottwohlgefälliges  vollbringe, 
und  mir  um  dieser  Gottwohlgefälligkeit  willen  hat  sie  es  zu  voll- 
bringen. Sie  rauss  in  der  Vollendung  ihrer  That  selbst  Gottes 
Willen  erkennen  und  ihren  eigenen  Willen  Eins  wissen  mit 
dem  göttlichen  Willen.  Ihr  solbsteigener  Wille,  der  sich  also 
durch  kinnen  anderen  Willen  vertreten  und  ersetzen  lassen  kann, 
wie  er  ja  selbst  keinen  anderen  Willen  zu  vertreten  und  za  er- 
setzen vermag,  gehört  darum  notwendig  zu  der  Beziehung  auf  den 
göttlichen  Willen,  damit  ihr  die  That  überhaupt  augerechnet 


Luther  und  Kant.  39Ô 

werde,  und  ihr  selbsteigener  Wille  mit  der  gewissenhaften  Über- 
zeugung, Eins  zu  sein  mit  dem  göttlichen  Willen,  wird  erfordert, 
damit  ihr  die  Handlung  als  gut  angerechnet  werde. 

Zweitens:    Es  ist  nun  leicht,    die  etwa  in  Frage  kommenden 
anderen  Bestimmungsgründe  aufzudecken.    In  der  notwendigen  Be- 
tonung  des   selbsteigenen    Willens   liegt  implizite  eine  Entgegen- 
setzung zu  anderem  Willen.     Der  göttliche  Wille  kann  dabei  nicht 
in  Frage  kommen,   da  mit  diesem  ja  nicht  Entgegensetzung,   son- 
dern   gerade  Ineinssetzung   stattfinden  soll,  und  wenn  diese  statt- 
findet,   so    bewegen    wir  uns  ja  innerhalb  der  soeben  noch  einmal 
herausgearbeiteten   Kategorie.     Es   kann    sich   also  nur   um  eine 
Entgegensetzung  zu  anderem  menschlichen  Willen  handeln,    sei  es 
class    dieser   in   einzelnen  Geboten  oder  allgemeinen  statutarischen 
Satzungen  zuqi  Ausdruck  kommt.     Sie  müssteu  unserer  Bethätigung 
einen  Inhalt  zu  geben  versuchen,  der  nicht  schlechthin  Inhalt  un- 
seres   eigenen    überzeugungstreuen  WoUens   ist;    den  wir  aber  in 
unseren  Willen  aufnehmen,  nicht  weil  wir  darin  Gottes  Willen  er- 
kennen,   auch  nicht,    weil    vnr   selber  ihn  seinerselbst  wegen 
^wollen,    sondern    lediglich  jener  Satzungen  des  fremden  Menschen- 
willens wegen,    in  Rücksicht   auf  den  daraus  fliessenden  Erfolg, 
etwa    auf   Lohn   und    Strafe.    Das   ist   das  Fine,    Auf  den  gött- 
lichen Willen  hätte  eine  solche  That  entweder  gar  keine  oder  nur 
eine  entgegengesetzte  Beziehung. 

Fragen  wir  nun,  welche  Beziehungsmöglichkeiten  in  Rück- 
sicht auf  den  göttlichen  Willen  überhaupt  stattfinden  können,  so 
zeigt  sich,  dass  zunächst  einmal  in  Wirkliclikeit  gar  keine  Beziehung 
stattzufinden  braucht,  mögen  wir,  im  Hinblick  auf  die  vorangehende 
Bemerkung,  nun  lediglich  um  fremder  Menschensatzungen  etwas 
wollen,  weil  wir  an  den  für  uns  daraus  erwachsenden  Ei*folg 
denken,  oder  mögen  wir  etwas  aus  eigenem  Antrieb  wollen.  In 
jedem  Falle  müsste  es  ein  „Werk  an  ihm  selbst*  bleiben,  also 
moralisch  wertlos  sein.  Es  kann  aber  dann  auch  wirklich  eine 
Beziehung  auf  die  Gott  wohlgefälligkeit  stattfinden,  und  sie  kann 
in  der  That  unserem  Handeln  als  Ziel  gesetzt  sein.  Da  ist  nun 
wieder  zu  unterscheiden,  ob  sie  um  ihrerselbstwillen  als  Ziel  und 
damit  als  letzter  und  höchster  Zweck  gesetzt  ist,  oder  um  eines 
über  ihr  hinausliegenden  und  nur  vermittels  ihrer  erreichbaren 
anderen  Zweckes  willen.  Im  letzten  Falle  würden  wir,  wie  in  den 
früheren,  doch  auch  auf  irgend  eine  Weise  nur  unsere  Sache 
suchen,    in  Wahrheit   also   gar  nicht  um  der  Gottwohlgefälligkeit 


396  B.  Banoh, 

wegen  selbst  handelD.  Wenn  unser  Handeln  nicht  gar  sBndhatt 
wäre,  so  konnte  es  im  günstigsten  Falle  anch  nur  ein  fiWesA  an 
ihm  selbst**  sein,  und  Iconsequenterweise  müsste  Luther  alle  diese 
Bestimmungsgründe,  mit  Ausnahme  des  einen,  der  die  GottwoU- 
gefälligkeit  als  Selbstzweck  hat,  ablehnen. 

Drittens:  Fragen  wir  nun,  ob  Luther  faktisch  und  aus- 
drücklich die  Konsequenz  gezogen  hat  Zum  Teil  geben  nos 
schon  die  früheren  Ausführungen  die  Antwort  darauf:  Dass  abso- 
lute Beziehungslosigkeit  zu  dem  göttlichen  Willen  immer  wertlos 
ist,  besagte  ja  l&ngst  jene  Luthersche  Formulierung,  dass  die 
guten  Werke  im  Geiste  der  alten  Kirche  „ausserhalb  des  Olaubois 
und  darum  Nichts**  wären.  Denn  ausserhalb  des  Glaubens  und 
ohne  Beziehung  auf  göttliches  Wohlgefallen  sein  ist  Eines  und 
dasselbe,  das  heisst:  „Nichts**.  So  fällt  die  völlig  beziehungslose 
That  aus  der  Kategorie  des  guten  Werkes  im  Sinne  Luthers  so- 
fort heraus.  Mag  es  immerhin  der  eigene  Wille  sein,  der  sich  anf 
einen  bestimmten  Inhalt  richtet,  sein  Streben  ist  in  sittlich-reli- 
giöser Beziehung  wertlos,  wenn  es  nur  „das  Seine  sucht**  und 
nicht  das  Wohlgefallen  Gottes. 

Aber  auch  wenn  dem  Menschen  ein  bestimmter  Wollensinhalt 
als  solcher  nicht  zusagt,  und  er  ihn  um  gewisser  statutarischer 
Gebote  der  Menschen  überhaupt,  wie  der  Willkür  der  Einzelnen 
wegen  —  dass  in  letzter  Linie  doch  auch  hier  immer  nur  das 
Seine  gesucht  wird,  weil  eben  Furcht  oder  Hoffnung  die  letzten 
Bestimmungsgründe  sind,  und  sich  die  Selbstsucht  über  die  ungern 
gewählten  Inhalte  hinaus  auf  gern  gewählte  richtet,  das  betont 
Luther  nicht  ausdrücklich — erstrebt,  vollbringt  er  kein  wahrhaft  gutes 
Werk.  „Darum  hüte  dich  und  lass  kein  Ding  so  gross  sein,  ob 
es  auch  Engel  vom  Himmel  wären,  dass  dich  wider  dein  Gewissen 
treibe",  haben  wir  ihn  ja  auch  schon  i)  ausdrücklich  mahnen  hören. 
Die  Befolgung  keines  noch  so  gewaltigen  Gebotes  und  Macht- 
spruchs  der  Autorität,  bloss  weil  es  Gebot,  Machtspruch  und  Au- 
torität ist,  ist  also  gut.  Wie  könnte  darum,  das  ist  Luthers 
Lehre,  dem  Menschen  etwas  anderes,  als  sein  eigenes  gottgefäUiges 
Wollen  für  gut  angerechnet  werden,  wenn  ihm  nicht  Furcht  vor 
Strafe  und  Streben  nach  Lohn  selbst  für  wertvoll,  oder  wenn  ihm 
nicht  gar  fremder  Wille  als  eigener  Wille  angerechnet  werden 
sollte?    Oder  wie  könnte  sein  eigenes  Wollen  anderen  angerechnet 

')  Vgl.  §  3. 


Luther  und  Kant.  397 

werden?    E&  kommt  auf  jedes  Einzelnen  Wollen  an,  ,und  eigenes 
Wollen   ist   ebensowenig    fremdes   Wollen,    wie   fremdes   Wollen 
eigenes   Woollen   ist.      Auf   sein   Gewissen   und   sich   selbst 
bleibt  jeder  Einzelne  gestellt.    Darjim  kann  der  Mensch  für  keinen 
anderen    wertvoll  wollen,   wie  das  auch  für  ihn  kein  anderer  ver- 
mag.    Wenn   deshalb   fremde  Gebote   unser  Wollen  zu  bestimmen 
trachten,  uns  aber  wider  unser  Gewissen  und  eigenen  guten  Willen 
treiben,  dann  sollen  wir  sie  eben  „nicht  gross  sein  lassen"",   ihnen 
keine  Macht   über  unser  Thun  und  Lassen  einräumen,   genau  wie 
wir    selbst    des    Nächsten    „Gewissen    nicht    treiben    noch 
martern"  sollen.^) 

Auf  der  einen  Seite  also  heisst  es  ausdrücklich:    „Was  mir 
Oott    nicht   verbeut   und   ichs   frei  habe  zu  thun  und  zu 
lassen,   da   soll   mir   kein  Mensch,  ja   kein  Teufel,   noch 
kein   Engel    ein    Gebot    daraus    machen,    und    sollte    es 
auch   Leib   und   Leben  kosten".')    Und  ebenso  kann  ich  auf 
cler  anderen  Seite  für  keinen  Anderen  einstehen,  kein  gutes  Werk 
für    ihn  vollbringen   und  ihm   zuwenden.     Denn  das  kann  „Nie- 
mand   nützen.   Niemand   zugewendet    werden,»)    für  Nie- 
mand bei   Gott   eintreten.   Niemand   mitgeteilt  werden, 
denn  allein  dem,  der  mit  eigenem  Glauben  glaubt."*).    So 
ist  die  Beziehung  der  Persönlichkeit  auf  das  göttliche  Wohlgefallen 
nur  möglich  vermittels  des  eigenen  Willens.    Dieses  ist  für  jenes 
Ziel  die  condicio  sine  qua  non;  für  das  wahrhaft  gute  Werk,  für 
die   wirklich   wertvolle  Handlung   also   eine  unerlässliche  Voraus- 
setzung.   Nicht   zwar   ist  eine  Handlung  schon  gut,   wenn  in  ihr 
ein  eigener  Wille  zum  Ausdruck  kommt,  der  sie  ergreift  und  sich 
unmittelbar  auf  sie  richtet;   und   insofern  ist  dieser  von  der  Gut- 
heit  noch  wohl  zu  unterscheiden,    da  er  eben  möglicherweise  nur 
„das  Seine  sucht".    Aber  damit  eine  Handlung  gut  sei,  muss  der 
persönliche   selbsteigene  Wille   sie  aus  sich  hervortreibeu,   da  nur 


1)  Ein  Unterricht  der  Beichtkinder.    XXIV.    S.  209. 

»)  Vierte  Fastenpredigt  (vom  Jahre  1523).    XXVIH.    S.  233. 

8)  Solche  Zuwendungen  waren  in  der  alten  Kirche  etwas  sehr  Ge- 
bräuchliches und  sind  bis  auf  den  heutigen  Tag  üblich.  So  wendet  z.  B. 
der  Priester,  wenn  er  dafür  bezahlt  wird,  dem  Laien  eine  Messe  zu  auf 
irj^nd  .eine  gute  Meinung",  wie  Gesundwerden,  Gelingen  eines  Geschäfts, 
Ertrag  der  Ernte  etc.  Sie  Beide,  der  bezahlte  Priester  und  der  bezahlende 
Laie,  denken  sich  auch  als  Zuwender  der  Messe  für  „eine  arme  Seele  im 
Fegefeuer"  u.  a.  m. 

^)  Von  der  Babylonischen  Gefangenschaft  der  Kirche.    S.  414. 


398 


B,  Bauch, 


er  fur  sich  —  und  durch  keinm  anderen  vermittelt  —  auf  den  g(>tt- 
lichen  Willen  sich  unmittelbar  beziehen  kann.  Innerhalb  der  guten 
Handlung:  also  sind  „<jntbeit''  oder  Gottwohl^s^ofälligkeit  einerseits 
und  eigener  persönlicher  Wille  anderei-seite  uurnoch  iu  der  Abstrakt  ion 
ufïd  Keflexioü,  nicht  aber  an  sich  zu  trennen  und  zu  unterscheiden. 
Denn  es  kann  eben  nichts  gut  sein,  als  allein  der  Wille  der  han- 
dtîlnden  Persönlidikeit.  ,J>a  steht  jeder  Einzelne  für  sich 
allein,  sein  Glaube  wird  verlangt,  jeder  soll  für  sich  Kecbeu- 
Schaft  geben  und  seine  Last  tragen/',»)  Und  wir  „bedürfen  keines 
Lehrers  gutei-  Werke"*, ^)  der  uns  autoritativ  dies  oder  jenes  ge- 
böte, da  doch  nur  der  eigene  Gkube  entscheiden  kann.  So  haben  ^ 
wir  gesehen,  wie  keine  Handhmg  gut  ist,  die  gar  keine  Beziehung  ^3 
auf  deu  göttlicheu  Willen  hat,  weil  in  ihr  der  Wille  nur  das  .^^ 
Seine  sucht,  l'ud  das  gilt,  gleich  viel  ob  er  es  unmittelbar  dariu 
sncht,  ohne  Beziehung  auf  autoritative  Satzungen  und  Gebote. 
oder  mittelbar,  wenn  er  sich  durch  Autorität  schrecken  lässt,  und 
Furcht  voi'  Strafe  uud  die  Aussicht  auf  Lohn  nur  zum  Handehi 
bewegen,  ^j 

Nun    bleibt   uns,  um  unserer  eingangs  aufgestellten  ßehaup— ^| 


tung  noch    die  letzte  Begründung  und  zugleich  Verdeutlichung 
geben,  unserer  Disjunktion  gemäss,  uur  noch  etwas  über  die  wirk 
lieh    zum  Ziel    gesetzte  Bezielnnig  auf  das  grvttliche  Wohlgefaliei 
zu     sagen,     also,     durch    die    Beantwoitung    der    letzten    Fragi 
unserer   Behaujitung    die    letzte    Bestätigung   von    Luther    selbe 
geben  zu  lassen,    indem  wir  fragen  :    Lehnt  Luther  nun  auch  jeu^^ 
Handlung  als  sittlich  wertlos  ah,  in  der  zwar  die  Gott  wohlgefällige  - 
keit  als  Ziel  gesetzt  ist,  aber  nicht  um  ihretwillen  als  Selbstzweck^, 
sondern    um  eines  anderen  Zweckes  willen,   zu  dessen  Erreiehuii  ^ 
sii*  nur  als  Mittel  dienen  soll;    entspricht   also  der  logischen  Kol^m- 
suqnenz    bei  Luther  auch  die  faktische?     in  der  That,    so  ist  e^^. 
Denn  ITorahwürdigung   des    göttlichen  Willens  zum  blossen  Mitt^^J 
für  andere  ausser  ihm  liegende  Ziele  menschlicher   Absichten  ka^  äi 
im  „guten  Werk*  der  alten  Kirche  ja  mindestens  ebenso  oft  zii.  Jii 
Ausdruck,    wie    die    absolute  T;upersönlichkeit    und    vor   allem  ciie 
lefligli*di    autoritative    und    statutarische    Willensbestimmnng    il  es 
Kin/<»hH'n.     Ja   manche    sind    geneigt,    zur  ('bariikterisieruug  aies 
l/nim  Werks,  auf  Kosten  der  Betonung  des  Persönlichen,  in  jener 


*)  li.  II.  O.  eheuda. 

•)  Mcrmuii  von  den  guten  Werken,    XX«    S.  199. 


Luther  und  Kant.  399 

Herabwürdigung  den  eigentlich  bestimmenden  Faktor  im  Wesen 
des  kirchlichen  guten  Werks,  ja  das  kirchliche  gute  Werk  xàv* 
i^oxfiv'  zu  sehen.  Jedenfalls  richtet  sich  nun  Luther  faktisch  da- 
gegen, mit  seiner  ganzen  ehrlichen  Gewalt.  Wo  die  Gottwohl- 
gefälligkeit nur  um  Huld-  und  Gunst-Erlangung  und  nicht  um 
ihrerselbstwillen  erstrebt  wird,  da  erkennt  er  eine  Beleidigung, 
eine  Herabwürdigung  Gottes.  Von  Gottwohlgefälligkeit  aber  kann 
dann  natürlich  keine  Rede  mehr  sein,  und  so  erkennt  Luther 
■echt  deutlich  die  Eitelkeit  und  Nichtigkeit  dieses  Strebens,  das 
ich  selbst  aufhebt.  Das  ist  darum  die  „echte  Abgötterei**,  wenn 
iner  „ein  gutes  Werk  gethan,  damit  er  etwas  von  Gott  verdiene". 
rnd  „,die  falschen  Propheten,  die  zu  euch  in  Schafskleidern 
ommenS  das  sind  alle,  die  durch  gute  Werke,  wie  sie  sagen, 
ich  Gott  wohlgefällig  machen  wollen  und  Gott  seine  Huld  ab- 
aufen,  gleich  als  wäre  er  ein  Trödler  oder  Tagelöhner,  der  seine 
(nade  nicht  umsonst  geben  wollte."  0  Die  wirklich  Frommen 
acheu  —  im  Gegensatz  zu  den  „Geniesssüchtigen",  die  nur  „sich 
nd  nicht  Gott  suchen"  —  nur  „Gott  und  nicht  sich  in  allen 
tiren  Werken,  Thun  und  Lassen".  Ihr  „Glaube  des  Herzens* 
agt:  „Ich  will  nicht  das  deine:  ich  will  dich  selbst  haben. 
)u  bist  mir  nicht  lieber,  wenn  mir  übel  ist.  Es  ist  billig  und 
*echt,  dass  du  wider  mich  bist,  denn  du  hast  Recht  über  mich 
md  zu  mir  und  nicht  ich  über  dich."«)  Diese  Frommen  dienen 
jiott  „allein  um  seinetwillen  und  nicht  um  des  Himmels 
willen,  noch  um  kein  zeitliches  Ding.  Und  wenn  sie 
schon  wüssten,  dass  kein  Himmel,  noch  keine  Hölle, 
noch  keine  Belohnung  wäre,  dennoch  wollten  sie  Gott 
dienen  um  seinetwillen."»)  Jene  „Geniesssüchtigen",  jene 
selbstischen  Menschen  aber  „lehren  sie  ihre  Werke  thun, 
dass  sie  der  Hölle  entgehen  und  selig  werden".  Das  aber 
„ist    Gott    nicht    lauter,     sondern     aus    Eigennutz    ge- 


1)  a.  a.  0.  S.  203  ff. 

«)  Von  zweierlei  Menschen,  wie  sie  sich  in  dem  Glauben  halten,  und 
was  der  Glaube  sei.  XXII.  S.  132  ff.  Diese  kurze,  aber  überhaupt  sehr 
wichtige  Abhandlung  ist  für  uns  von  besonderem  Interesse,  weil  in  ihr 
das  Einteilungsprinzip  der  „zweierlei  Menschen"  gerade  unter  dem  Zweck- 
gesichtspunkte der  Unmittelbarkeit  oder  Mittelbarkeit  der  Zweckbeziehung 
des  göttlichen  Wohlgefallens  gewonnen  ist  ;  sodass,  wenn  auch  die  begriff- 
Uche  Formulierung  nicht  so  scharf  bei  Luther  heraustritt,  der  Sinn  der 
Unterscheidung  gar  nicht  mehr  in  Frage  stehen  kann. 

^  a.  a.  O.  S.  134. 

KAoUtadioa  IX.  26 


400  B.  Baaoh, 

sncht^.O  »Aber  die  frommen  Christen  sollen  sich  mitFleisi 
hüten  vor  solchen  altvetelischen  Sophisten  M&rlein^ 
sondern  sollen  ^ohne  Lohn  oder  Geniess  Gott  suchen,  m 
seiner  blossen  Güte  willen,  nichts  begehren,  denn  sein 
Wohlgefallen''.«)  Die  jedoch  Gott  anf  solche  Weise  sodun, 
denen  wird  trotzdem,  ja  gerade  weil  sie  ihn  nicht  begehrt,  der 
Lohn  nicht  ausbleiben.  „Der  Lohn  wird  sich  selbst  finden,  dafür 
nicht  sorgend  und  ohne  unser  Gesuch  folgen.  Denn  wiewohl  ei 
nicht  möglich  ist,  dass  der  Lohn  nicht  folge,  so  wir  Gott  lauter 
aus  reinem  Geiste,  ohne  allen  Lohn  oder  G^ess  suchen;  so  wiU 
Gott  dieselbigen  Menschen,  die  sich  selbst  und  nicht  Gott  suchen, 
nicht  haben,  wird  auch  selbigen  nimmer  keinen  Lohn  geben.*  ^ 

Da  haben  wir  es  wahrlich  deutlich  genug:  Im  wahiAaft 
guten  Werke  dürfen  wir  eben  nicht  die  Gottwohlgefftlligkeit  um 
unseres  selbstischen  Vorteils  willen  im  Diesseits  oder  Jenseits 
suchen,  denn  Gott  ist  kein  „TrOdler*",  mit  dem  man  handeln  und 
dingen  darf.  Ein  solches  Streben  hebt  sich,  wie  gesagt,  seibit 
auf.  Wir  erreichen  ja  schon  das  Mittel  nicht,  weil  sich  die  Gott- 
wohlgefälligkeit eben  nicht  als  blosses  Mittel  betrachten  lissL 
Im  Prinzip  und  Wert  unterscheidet  sich  also  dieses  Streben  nidit 
im  Mindesten  von  jenem,  das  von  vornherein  auf  eigenen  persön- 
lichen Gewinn  gerichtet  ist,  sobdem  ist  mit  ihm  Eines  und  Das- 
selbe. Denn  wir  haben  im  guten  Werk  eben  alles  „umsonst* 
zu  thun,  wie  Gott  uns  seine  Gnade  und  Huld  selbst  „umsonst* 
und  ohne  Verdienst  giebt.  Aber  das  ist  in  keinem  Falle  ein  gutes 
Werk,  in  dem  „ein  Jeglicher  nur  das  Seine  sucht**.*) 

Es  ist  —  um  hier  gleich  die  Konsequenz  zu  entwickeln  — 
mit  dieser  Betonung  der  Gottwohlgefälligkeit  zugleich  klar,  dass 
sie  nicht  nur  das  Ei'ste  ist,  was  der  Mensch  erstreben  kann,  son- 
dem  auch  das  einzig  Gute,  auf  das  sein  Wille  sich  richten  kann. 
Denn  ausser  der  absoluten  Weilindifferenz,  dem  „Werk  an  üim 
selbst",  bleibt  eben  für  die  in  Aktion  tretende  Gesinnung  nur  die 
eine  Wert  alternative:  goltwohlgefällig  und  gut  oder  gottmissfäUig 
und   br)se   zu   sein.    Was  Gott   wohlgefällig   ist,   sollen    wir  also 


1)  a.  a.  O.  S.  188. 

^)  a.  a.  O.  S.  180.  Darauf  ist  auch  von  Luthardt  zur  Charakteri- 
sierung des  Gegensaty.es  von  lutherischer  und  römischer  Anffaasmig  ve^ 
wiesen. 

3)  Ebenda. 

*)  Freiheit  eines  Christtjnraeuschen.    XXVII.,  besonders  S.  191  u.  !%• 


Luther  und  Kant.  401 

üo,  was  ihm  missfällt,  sollen  wir  lassen.  Wenn  wir  hier  den 
îgriff  der  Pflicht  einführen,  können  wir  sagen  :  Pflichtmässig  oder 
lichtwidrig,  anders  kann  der  Mensch  nicht  handeln,  sofern  die  Hand- 
ng  überhaupt  einer  Wertung  fähig  und  nicht  indifferent  ist.  In 
twendiger  Konsequenz  dazu  kann  es  also  keine  Handlung  geben, 
e  zu  vollbringen  etwa  nicht  unsere  Pflicht  wäre,  die  aber  doch 
)tt  wohlgefällig  wäre,  und  wir  sie  sozusagen  nicht  aus  blosser 
licht  und  Schuldigkeit,  sondern  vielmehr  aus  überfliessender, 
»er  die  Pflicht  hinausgehender  Gefälligkeit,  Liebenswürdigkeit, 
itherzigkeit  vollbrächten,  oder  wie  man  es  sonst  nennen  mag. 
ann  was  wir  nach  Luther  als  gottwohlgefällig  erkennen,  das 
lien  wir  eben  thun,  das  ist  unsere  Pflicht,  und  von  einer  darüber 
nausgehendeu,  überfliessenden,  über  die  Pflicht  erhabenen  „Gutheit" 
id  Höherwertigkeit  kann  konsequenterweise  keine  Kode  sein.  Die 
aicht  ist  selbst  das  Erhabenste  :  Einheit  des  persönlichen  Willens  mit 
>m  göttlichen  sowieso  und  von  vornherein.  Demnach  müsste  Luther 
>nsequenterweise  den  Begriff  des  Verdienstes,  das  eben  eine  über 
e  Pflicht  erhabene  Handlung  sein  soll,  ablehnen.  Und  auch 
ese  Eonsequenz  hat  er  gezogen.  Implizite  liegt  sie  ja  schon 
ir  Ablehnung  des  altkirchlichen  guten  Werkes  mit  zu  Grunde, 
ber  auch  ausdrücklich  sagt  er:  „nuUus  sanctorum  in  hac  vita 
ifficienter  implevit  mandata  Dei,  ergo  nihil  prorsus  fecerunt  su- 
îrabundans."») 

Wir  haben  damit  das  „gute  Werk"  im  Sinne  Luthers  nicht 
oss  dem  der  alten  Kirche  gegenübergestellt,  sondern  es  für  sich 
Ibst  in  seinem  Wesen  erfasst.  Und  das  nicht  bloss,  wie  es  sich 
u  eine  Konsequenz  zu  Luthers  neuer  Glaubensidee  und  seiner 
»gensetzung  zu  den  „Romanisten"  und  „Papisten",  sondern  wie 
sich  in  seiner  selbsteigens  ausgesprocheneu  Anschauung  dar- 
ßllt.  Danach  können  wir  sagen:  Ein  gutes  Werk  im  Sinne 
nthers  ist  diejenige  Handlung,  welche  der  selbsteigene 
ille  der  Persönlichkeit,  allein  dem  Ausspruch  seines 
eien  Gewissens  folgend,  d.  h.  in  Rücksicht  auf  den  als 
ölbstzweck  gesetzten  göttlichen  Willen  vollbringt,  ohne 
uf  menschliche  Satzung,  auf  Menschenfurcht  und 
enschenlohn,  ohne  auf  eigenen  Vorteil  und  Gewinn 
edacht  zu   nehmen,   und   ohne   den   Anspruch   auf  Ver- 

^)  Vgl.  Luthardt,  a.  a.  O.  S.  69.  Hier  ist  auch  verwiesen  auf  Löscher, 
.eformationsakten  2,  27ß  und  Lämmer:  Die  vortrident.  kathol.  Theologie 
es  Reformationszeitalters. 

26* 


B.  Bauch» 


dienst  zu  niaclieii.  So  bricht  er  das  Gesetz  der  Autorität,  um 
sich  frei  und  selbständig  jenem  göttlichen  Gesetze  unterznorÜDen, 
dessen  er  Inno  wird  in  der  eigenen  Bnist,  in  dein  persönlichen 
Gewissen. 

Hiermit  haben  wir  drn  tiefsten  Kern  jeuer  gewaltigen,  be- 
freienden That  Lutlieï's  in  Wahrheit  enthüllt,  die  in  der  Geschieht! 
der  Metischheit  nicht  nur  Epoche  machte,  sondern  faktische  Teilung' 
bedingte.  Es  war  niclit  nur  die  Befreiung  von  jener  alles  tiefen 
religiöse  sowohl,  wie  sittliche  und  ästhetische  Gefühl  verletzeüdew 
Vorstellung»  die  das  ^tei-siniliclie  Verhältnis  zu  Gott  eben  nai"  als 
eine  Art  von  Austausch  und  Handelsbeziehung  dachte,  wie  sit* 
charakteristisch   fürs  Judentum  ^)  ist.     Es  w^ar  auch  die  Befreiung 


1)  Vereinzelt  bncht  sich  auch  hier  hei  einigen  „Propheten**  schon 
eine  Vergeistig^iiig  des  reli^irmen  Verhältnisses  Bahn.  Und  man  Itikinte 
manches,  weis  diesen  Lutherischen  Anschauungen  verwandt  ist,  anflilin 
Sil  Hosea,  derJehova  sa^en  lïlsst:  „Frömmigkeit  liebe  ich  und  nicht Opf« 
und  Gotteserkenneii  mehr  als  Brandopfer.'*  Aber  das  ist  eben  verein 
geblieben  und  niclit  zur  Weiterbildung  gelangt;  charakteriÄÜÄch  bleiW 
eben  fürs  Judentum  duch  der  (Jesetzesglanbe,  der  in  seiner  Eigenart 
Werk-  und  Üpfer-Glaube  ist.  und  niemals  vor  Lufher  ist  in  der  Ge- 
schichte der  Menschheit  die  Wendung  zur  sittlichen  Verselbstândigun^ 
mit  der  Schärfe  hervorgetreten,  wie  gerade  beim  deutschen  Reforniator 
Man  wird  sie  ruhig  mit  Dil  they  als  Autmiomie  ansprechen  können, 
uhne  dem  Sinn  der  Lutlieriscben  Glaubensidee  Zwang  anzethun.  Aber 
gerade  darum  wird  man  Diltbey  Recht  geben  müssen,  wenn  er  leü^e^ 
„dass  der  Kern  der  reformat  oris  eben  ReÜgiositilt  in  der  paulinischen  Recht, 
tv*rtigiingslehre  enthalt-en  ist."  (Vgl.  unsere  Einleitung.)  Ich  kann  mir 
nicht  helfen  :  trotz  Hamack  erscheint  mir  Paulus  dem  Lutherischen  AutiJ- 
nouïie-Bewiîsstsein  gegenüber  als  ein  reiner  Jude^  und  im  Verhältnis  ïh 
der  aus  dem  Autonomiebewusstsein  füessenden  Thatenfreudigkeit  geradeïu 
contemplativ.  Harnack  sagt  ja  selbt  {Sk.  a.  0.  Ill,  757),  „dass  es  sich  nicht 
um  eine  Repristination  der  nrchristjichen,  paulinischen  Stufe  handelt, 
gondern  um  ein  Hinausschreiten  über  sie  zu  einer  Organisation  und 
einer  Betlifltignng  des  innerlich  Erlebten  in  der  menschlichen  Gesellsdmft 
und  deren  Ordnung,  wie  sie  das  Ivrchristentum  nicht  gekannt  hat.*  hso- 
fem  glaubt  er,  mit  Dilthey  zu  einer  „Verständigung**  gelangen  zu  können; 
befiauptet  aber  mit  Hinweis  auf  Rom,  8  und  Gal  5,  ö— 6,  10,  da^  »geradp 
dir  entscheidendsten  Momente,  die  Dilthey  an  der  höheren  Religiosité 
Lullicrs  als  eine  Stufe  der  Ktit Wickelung  preist»  doch  auch  schon  bei  Pan* 
luK  —  freilieh  nicht  in  der  Ent Wickelung  ihrer  Konseqnenzen  —  gegeben' 
MiutL  Darum  scheint  mir  Hamack  doch  Luther  nicht  ganz  gerecht  iu 
werden  und  auch  Dilthey  nicht  zu  widerlegen.  Ich  will  nicht  davon 
reden,  diws  es  in  der  Geschicht^ii  der  Menschheit  gfar  sehr  auf  die  Ent- 
wnktdung  der  Konsequenzen  nn kommt,   sondern  davon,   dass  in  der  Tliüt 


Luther  und  Kant.  403 

on  eitler  Menschenforcht,  die  uns  die  Lehre,  dass  wir  keines 
iChrers  guter  Werke  bedürfen,  brachte,  wenn  wir  nur  Gottesfurcht 
aben.  Aber  die  Grösse  der  Leistung  ist  nicht  bloss  die  Ab- 
reisung  menschlicher  Autorität  und  menschlicher  Satzung.  In 
inigster  Wechselbeziehung  dazu  steht  jene  grosse  positive 
leistung:  „Wir  haben  wieder  den  Mut,  mit  festen  Füssen  auf 
lottes  Erde  zu  stehen  und  uns  in  unserer  gottbegnadeten  Men- 
chennatur  zu  fühlen."  So  sieht  Goethe  die  That  Luthers  an,*) 
Bd  mit  Recht.  Denn  seine  grosse  positive  Leistung  ist:  das 
''erweisen  des  Einzelnen  auf  seine  eigene  Brust;  der  Persönlich- 
:eit  ihre  sittliche  Eigenkraft  und  Eigenbestimmung  zum  Bewusst- 
ein  gebracht  zu  haben,  ihr  zum  Bewusstsein  gebracht  zu  haben, 
ass  sie,  um  mit  Schopenhauer  zu  reden,  der  Thäter  ihrer  Thaten 
3t,  dass  darum  nicht  ihm  die  Thaten,  sondern  er  seinen  Thaten 
en  Wert  bestimme  durch  seine  Gesinnung,  den  „Glauben  des 
lerzens."  Ebenso  schön,  wie  klar  und  deutlich  verkünden  uns 
lese  Freiheit  des  Geistes  jene  vom  Geiste  der  Freiheit  selbst 
ingegebenen  Worte ^  Luthers:  „Darum  sind  die  zwei  Sprüche 
irahr:  Gute  fromme  Werke  machen  nimmermehr  einen  guten 
rommen  Mann,  sondern  ein  guter  frommer  Mann  macht  gute 
romme  Werke.  Böse  Werke  machen  nimmermehr  einen  bösen 
lann,  sondern  ein  böser  Mann  macht  böse  Werke.  Also  dass 
Ilewege  die  Person  zuvor  gut  und  fromm  sein  rauss  vor  allen 
^uten  Werken  und  gute  Werke  folgen  und  ausgehen  von  der 
rommen  guten  Person." 


Kapitel  III. 
Die   Persönlichkeit  und   die   sittlich-religiöse 

Geraeinschaft. 
Wir   haben    bisher   lediglich   die  Persönlichkeit  für  sich  und 
a   ihrer   eigensten  B(j?iehung   auf  Gott   vermittels   der   im  guten 

las  prossartig  Neue,  das  uns  Luther  mit  der  sittlichen  VerselbstÄndiguug 
1er  Persönlichkeit,  der  Autonomie,  wieDilthey  geradezu  sagt,  gegeben  hat, 
loch  nicht  bloss  als  eine  paulinische  Konseiiuenz  gewonnen  ist.  Hier  liegt 
twas  prinzipiell  Neues,  etwas  absolut  OrigineUes  vor,  eine  der  originellsten 
Ichöpfungen  der  Mensclienseele  überhaupt,  die  selbst  die  von  Hamack 
lerangezogeneu  SteUen  von  Paulus  in  ihrem  Originalwerte  nicht  beein- 
rftchtigen  können. 

1)  Gespräche  mit  £ckennann  (Bartheische  Ausgabe  II.  Bd.  S.  604). 

')  Freiheit  eines  Christeumenschen.    XXVIL    S.  191. 


4U4 


B  Bauch, 


Werk  (im  Lutherischeu  .Sinne)  zun»  Ausilrnck  g'elançeDdea  Gesin- 
niing"  kennen  ^elernL  Nun  ist  aber  die  Persönlichkeit  hiaeinp»- 
boren  iu  eine  Mannigfaltigkeit  rler  irdischen  Welt,  in  Beziehuii^pu 
zu  Menschen  und  Dingt^i,  mit  diesen  verwachsen  durch  tausend 
unldsbare  I^^äden  nud  innig  vereint.  Ihr  Thun  und  Wirken  greift  also 
selber  ein  in  diesen  Zusammen  bang.  Wie  soll  sie  dabei  nun  jenes 
gestalten?  Wie  soll  sie  sich,  ihrer  höchsten  und  obersten  Be- 
stimmung gemäss,  nach  der  sie  all  ihr  Wollen  auf  den  göttlichen 
Willen  zu  beziehen  hat,  zu  dieser  irdischen  Welt  und  all  üiren 
Relationen,  mit  denen  doch  ihr  Wille  in  Wechselbeziehung  tritt, 
vor  allem  aber  wie  zu  iliren  Mitmenschen,  allen  anderen  Pers^iü- 
lichkeiten,  unter  denen  und  mit  denen  sie  selber  lebt,  verhaltei]? 
Man  hat  gesagt:  Wenn  Luther  von  den  guten  Werken  der  Kirche 
nichts  wissen  will,  und  alles  bei  ihm  der  Glaube  sei,  da  braucht 
man  ja  eigentlich  nur  zu  glauben  unt!  nichts  zu  thun.  Ein  solcher 
fauler  Glaube  fiihi-e  mit  absoluter  Konsequenz  zum  Nichtsthe, 
thateuloscr  Gemächlichkeit  und  energielosem  Quietismus,  ein  Ein- 
wand, den  wir  gelegentlich  schon  berührten,  von  dem  wir  iiber 
nur  andeuteten,  wie  gegen  ihn  die  Persönlichkeit  Luthers  selbst 
am  besten  zeuge.  Er  ist  ja  auch  nach  den  letzten  Ausführungen 
längst  hinfällig  geworden,  denn  wir  sahen,  es  ist  ein  Untei-schieil 
zwischen  „Werken"  und  ^Werken''  und  vor  allem:  der  Glaube 
Luthers  ist  eben  nicht  bloss  ein  toter  Dogmenglaube,  sondern  ein  1 
lebendiger  Herzensglaulie,  ein  sittlicher  Gesiunungsglaube,  der 
auch  dem  Nichtsthun  Wert  und  Unwert  bestimmen  miisste,  wovon 
wir  noch  ausführlicher  handeln  werden.  Wie  Luther  aber,  dieser 
soeben  angedeuteten  Konsequenz  seiner  Glaubenslehre  gemäss,  zur 
menschlichen  Bethätigung  in  der  Welt  der  Dinge  und  Personh*ch- 
keilen  Stellung  nimmt,  oder  ob  und  wieweit  er  die  Konsequenz 
gezttgen  hat»  das  bedarf  noch  einer  besonderen  Untersuchang- 
Um  diese  aber  zu  einem  klaren  Ziele  zu  führen,  müssen  wir  zn* 
orst  noch  einmal  an  die  letzten  Bemerkungen  anknüpfen  und  das 
Vorhältnis  der  Persönlichkeit  zu  ihrem  Thun  darlegen,  um  daoji 
zu  KoheUi  wie  der  Einzelne  sich  zum  Einzelnen  in  der  sittlictien 
Wr'fliHelwirknng  bestimmt,  und  endlich,  wie  er  danach  einj^reifl 
In  den  Zusammenhang  der  Allgemeinheit,  in  der  er  sich  bethätigt. 


Luther  und  Kant.  40Ö 

§9. 
Thäter  und  That. 
Es  ist  bereits  oft  genug  darauf  hingewiesen  worden,^)  dass 
Luthers  Anschauungen  über  das  Verhältnis  des  Einzelnen  zu  Gott 
nicht  bloss  „in  dem  religiösen  Interesse  des  Reformators,  .  .  . 
sondern  auch  in  einer  philosophischen  Ansicht  über  das  Verhältnis 
Gottes  zur  Welt"  begründet  seien.  Und  das  ist  selbst  dann  rich- 
tig, wenn  man  auch  die  religiösen  Interessen  als  die  erst  zur 
philosophischen  Ansicht  hintreibende  Kraft  erkennt.  Wie  wenig- 
stens Partieen  anderer  Schriften,  so  tendiert  die  Abhandlung  ,de 
servo  arbitrio*  („dass  der  freie  Wille  nichts  sei")  sogar  ganz  in 
dieser  Richtung.  Wir  wollen  und  können  zum  Zweck  unserer 
Untersuchung  die  ganze  metaphysische  Vorstellungsweise  Luthers 
hier  nicht  bis  ins  Einzelne  darstellen,  nicht  etwa  bloss  weil  da 
noch  vieles  strittig  wäre,  sondern  vor  allem  weil  eine  ausführliche 
Erörterung  des  Problems  ^er  Willensfreiheit  uns  über  den  Rahmen 
unserer  möglichst  immanenten  Untersuchung  allzuweit  hinausführen 
müsste.  Ganz  umgehen  können  wir  aber  Luthers  metaphysische 
Ansicht  über  das  Verhältnis  von  Gott  und  Mensch  nicht,  wo  wir 
von  der  Beziehung  zwischen  Mensch  und  Handlung  sprechen. 
Und  selbst  wenn  schon  auf  den  ersten  Blick  Luthers  Metaphysik 
und  seine  sittliche  Anschauung  in  einem  gewissen  Gegensatze  er- 
scheinen und  auch  niemals  voll  ausgeglichen  und  in  dem  antino- 
mischen  Verhältnis  haraionisch  aufgelöst  worden  sind,  so  kann, 
von  der  Möglichkeit  dieses  Ausgleichs  noch  ganz  abgesehen,  ge- 
rade diese  gewisse  Gegensätzlichkeit  zur  Verständigung  dienen. 
Von  Einzelheiten,  selbst  den  Beziehungen  zu  Augustins  Prädesti- 
nationsmetaphysik, mit  der  Luthers  Anschauung  zum  Teil  innige 
Berührung  hat,  müssen  wir  hier  ganz  absehen.  Nur  allgemein 
können  wir  das  centralste  metaphysische  Interesse  berühren. 
Dieses  aber  spiegelt  sich  wider  in  seinem  Gottesbegriff.  Dem 
Reformator   kommt   es    in   philosophischer   Beziehung  —    wollten 


*)  Recht  nachdrucksvoll  besonders  von  Kattenbusch;  vgl.  Luthers 
Lehre  vom  unfreien  Willen  und  von  der  Prädestination  nach  ihren  Ent- 
stehungsgründen  unt<»r8uclit  zur  Erlangung  der  theol  Licentiatenwürde  an 
der  Georg-Augusts-Universität  zu  Göttingen  von  Ferdinand  Kattenbusch. 
Gftttingen  1875.  Siehe  besonders  S.  5  ff.  Hier  ist  auch  auf  Dieckhoff, 
und  mit  Einschränkung  auf  Lütkens  und  Ritschi  verwiesen.  Allerdings 
sind  auch  hier  andere  anderer  Meinung.  So  Luthardt  in  seinem  Buch 
über  ^Die  Lehre  vom  freien  Willen".    S.  123  f. 


406 


B.  Baiicli, 


wir  ihu  lediglich  als  Theolugeii  oder  als  Religiöseu  hier  betrachten, 
so  niiisston  wir  natürlich  ilie  Gnade  in  den  Vordergriuid  stellen  — 
vor  allem  auf  die  Grösse  und  Allmacht  Gottes  an,  in  der  zugleich 
die  absolute  Güte,  wenn  aucli  dem  schwachen  Menschenverstände 
ewig  gelieimiiisv(*ll,  lieschlossen  liegt.  Nnn  aber  fordert  gerade 
das  Prädikat  der  Allmacht  :  alles  ïhnn  nud  Geschehen  in  Goli 
als  das  allmächtige,  all  wirkliche  und  all  wirkende  Wesen  —  ebei 
um  seiner  Allmacht  willen,  —  zurückzunehmen.  M  ^Der  Wel»"^^^ 
Lauf",  das  ganze  irdische  Sein  ist  nur  ^Gottes  Mun*merei^  darunteo^^ 
er  sich  verbirgt  und  in  der  Welt  so  wunderlich  regiert  und  ru^^^. 
mort.***)  Damit  sinkt  ihm  bald  das  Einzelne,  Wirkliche  ztUHMr 
blossen  „Larve*'  herab,  hinter  ûvr  eigentlich  Gott  alles  thut  un  _d 
wirkt.  ,, Wiewohl  ers  doch  duiTh  uns  thut,  und  wir  nur  seim^c 
Larven  sind,  unter  welchen  er  sich  verbirgt  und  alles  in  alle] 
wirkL^^)  80  scheint  hier  jenes  meta]>hysiscUe  Funtlamentalproblei 
wieweit  die  Wurzeln  der  Persönlichkeit  eben  ins  Metaphysisct:=3e 
reichen,  seine  Lösung  durch  den  Gottesbegriff  erfahren  zu  solle 
indem  Gott  ja  „alles  in  allem  wirkt/*  Aber  es  scheint  aui 
sofort  äusserst  schwierig,  wie  damit  —  nicht,  wie  Erasmus  g^^ 
meint  hatte,  das  Oute,  sondern  —  das  Böse  in  der  Welt  zu  ve^ 
eiubaren  sei,  im  Sinne  eiw^a  des  Problems  der  Theodicee.  A. 
der  einen  Seite  hätte  Luther  ja  einigerma^ssen  der  voluntaristisctie 
Augustinismus,  —  den  mit  aller  Energie  auch  der  dem  Reformat -or 
albmiings  wenig  genehme  Duns  Skotus  gegenüber  dem  intellektuEa- 
listischeii  Aristotelismus  und  ïhomismus  vertrat*)  —  über  die 
S<diwieî'igkeit  hiuw'egheifen  können.  Denn  teils  hatte  Luther  da.zu 
leicht  die  Uuerforschlichkeit  der  göttlichen  Ratschlüsse,  teils  it^JP«? 
Wertpriorität    vor   aller   Gegenständlichkeit   benutzen  können,    «.m 


'ai 


'^  So   scheitit   auch   Leiiz  a.  a,  ü.  S.  159   im   Gottesbegriff  Lutti. 
fho  K*irderuii^^  der  Willensunfreiheit  angelegt  tn  sehen;  ähnlich  wollt  a 
K at  (induise h  a.  a,  O,  8.  5. 

«)  Ausleiîuns:  de«  127.  Psalms.    XLl.    S.  144. 

•)  Vorrede  xur  Weissagung  Joïiann  Li  cht  en  bergers.   LXUL  S,  t^ 
Vgl    dir/Ji   Lnthardt  „Kihik  Luthers"    S.  101,    awch   ^die  Lehre  vom  fi 
Wllhni'*  S,  ÎIH;    er   iirrint  hier  mit  Kecht  diese  Vorsteîltnif^weise  „die 
MeltMiiMfiif    vrm  (lt*r  sehlechthiTiniisren  Bedingtheit  der  Kreatur  in  ihrem 
ftfiMKl    find    Lf^hon    durch    die    allzeit- wirksame    Immanenz  Gottes  in 

KrKMfiir* 

*)  Vtfl.  Wimlelhand,   Geschichte   der  Philosophie   S.  259  ff.   und. 
Kidi),  n(t(   Lidin-  von  Primat  des  Willens  hei  Augustinus,  Dnns  Skotus 


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An- 


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Luther  und  Kant  407 

uuschwer  weiterzukommen.  Das  waren  ja  in  der  That  schon 
Argumente,  die  er  gegen  Erasmus  ins  Feld  führte.  Er  stützte 
sich  auf  den  wunderbaren,  uns  unbegreiflichen,  allmächtigen,  gött- 
lichen Willen,  der  nicht  an  Gut  oder  Böse  derart  gebunden  ist, 
dass  er  das  eine  thun,  das  andere  lassen  müsste,  als  äussere,  über 
ihm  stehende  Bestimmungen,  der  vielmehr  Gut  und  Böse  selbst 
erst  bestimmt.  Aber  von  der  philosophischen  Ausnutzung  dieser 
Lehre,  um  dadurch  auch  mit  dem  Bösen  in  der  Welt  fertig  zu 
werden,  war  Luther  soweit  entfernt,  dass  er  lieber  auf  der  Idee 
des  Teufels  und  seiner  Mitbestimmung  des  Menschen  fusste,  wo- 
durch er  aber  unvermeidlich  Gefahr  lief,  die  Macht  Gottes  selbst 
zu  beschränken,  und  seine  Allmacht  eigentlich  aufzuheben.  Allein 
für  unseren  Zweck  interessanter  ist  die  Frage,  ob  und  wie  er 
trotz  der  absoluten,  ausserpersönlichen  Bestimmtheit  des  Menschen 
die  Persönlichkeit  für  ihre  That  noch  verantwortlich  machen  zu 
können  glaubte,  wie  er  die  „Gutheit"  der  Person,  die  doch  der 
„Gutheit"  des  Werkes  allewege  vorangehen  und  überhaupt  statt- 
finden muss,  damit  man  noch  von  sittlich-religiösen  Werten  zu  reden 
yennag,  meinte  aufrecht  erhalten  zu  können. 

Es  kommt  uns  dabei  gar  nicht  darauf  an,  ob  Luther  hier 
mit  sich  selbst  in  durchgängiger  Übereinstimmung  geblieben  ist, 
wenn  wir  gleich  hier  schon  betonen  möchten,  dass  es  grundfalsch 
wäre,  absoluten  Determinismus  und  die  Verantwortlichkeitsidee 
für  unvereinbare  Gegensätze  auszugeben.  Im  Gegenteil  würde 
eine  systematische  Untersuchung  diese  Synthese  für  den  einzig 
möglichen  ethisch-metaphysischen  Standpunkt  erhärten  können. 
Um  das  so  kurz,  wie  möglich  anzudeuten,  können  wir  nämlich 
sagen:  Wie  in  Gott,  der  „alles  in  allem  wirkt",  die  Totalität  des 
Handelns  und  Geschehens  beschlossen  liegt,  so  muss  im  We^en 
der  Einzelpersönlichkeit  eine  gewisse  Sphäre  des  Handelns  als  be- 
schlossen liegend  gedacht  werden.  Denn  jede  Persönlichkeit 
handelt  in  der  Reaktion  und  Relation  zur  Welt  der  Dinge  ausser 
ihr  nach  einer  ihrer  bestimmten  Eigenart  bestimmt  ent- 
sprechenden Weise.  Und  gerade  durch  diese  Bestimmtheit  ist 
auf  der  einen  Seite  der  absolute  Determinismus,  eventuell  sogar, 
im  Sinne  Luthers,  mit  der  göttlichen  Allmacht  gewahrt,  auf  der 
anderen  Seite  aber  auch  die  vollständige  Verantwortlichkeit,  indem 
eben  die  Totalität  der  Persönlichkeit  in  ihrer  Eigenart  als  ein  be- 
stimmtes Wirklichkeitsmoment  lediglich  eine  Wertbeurteilung  er- 
fährt,  und   zwar  nach  der  Richtung,   in   der  sie  selbst  angelegt, 


408 


B.  Bauch« 


determiniert  ist.    So  wäre  es  gerade  ihre  absolute  Wesensbe^timnit-     , 
heit,  über  welche  das  Werturteil  gefällt  wird,  und,  ganz  im  Sinne-^ 
Luthers,    bi-stiiiimtu    diese  Weseiisbestinimthdt    notwendig  die  au^^ 
ihr    füllenden    „Werke".     Das    an    dieser  Stelle    nur  angedeutete»^ 
Problem    wollen    w\y   hier   we<ler  zu  Ende  führen,    noch  es  als  i^^j 
ebeudieser  Schärfe   von  Luther   herausgearbeitet  und  zu  Ende  g^^^ 
führt    hinstellen.     Ks    sollte  ja  nur  die  Verträgliehkeit  beider  Bt^^ 
trachtungsweisen,     dei"    deterministischen    und    der   der    wertbeiL^r- 
teilendeu  Verantwortmig  andeuten.     Die  Synthese  beider  bedeutet 
auch  bei  Luther,  so  unvollkommen  sie  in  pliilosophischer  Beziehm^g 
vollzogen  sein  mag,  zugleich  eine  gewaltige  moralische  Vertief iii:^^ 
und    eine    Krhölmng    des    Wertes   der   Persönlichkeit,    nicht    abcîr 
deren  Erniedrigung.     Denn   gerade   darum  kann  er  anstatt  in  düs 
Äussere    des  ,,\\\^rkes"   den  sittlich-religiösen  Wert  in  das  Innere, 
den  Charakter  des  Menschen  znrnrkiiehmeu.     Nicht  weil  dieser   so 
oder  so  nach  Aussen  liantlelt,  ist  er  gnt  oder  böse,  sondern  wc?il 
er   so    oder   so    ist  (bestimmt    ist).     Und    nur  weil  er  so  oder    so 
ist,  handelt  er  auch  so  oder  so. 

Wir  haben  damit  schon  gleichsam  über  Lntlier  hinansgewies<3ii* 
Aber  min  w^erden  wir  ihn  selbst  um  so  leichter  und  besser  v^^r- 
stehen.  Er  selber  hat  ja,  wie  wir  längst  eikannt  haben,  d«n 
Wert  der  Handlniig  von  dieser  in  das  Wesen  der  Persönlichkeit 
zurückgenommen,  indem  er  ihn  abhängig  niacht,  lediglich  von  cl«r 
Gesinnung  und  dem  linieren  festen  Glauben,  dass  er  „Gott  gefallen/ 
Damit  hat  er  implizite,  nur  nicht  ausdrücklich,  und  ohne  es  ^^' 
strakt-begrifflich  auszusprechen,  jene  von  uns  augedeutete  doi^pclte 
Betrachtungsweise  schon  praktisch  angewandt.  Nun  brauchen  ^vir 
ja  auch  schliesslich  nicht  mehr  besoudetH?n  Weil  darauf  zu  leg«"*«* 
wie  er  sich  die  Determiniennig  im  Einzelnen  denkt,  wie  eiw^. 
dass  Gott  nur  zum  iiuten  bestimme,  und  dass  diese  Det-erini' 
nierung  und  die  durch  sie  bestimmten  Menschen  gut  seien;  dH^^ 
„Satan"  zum  Bösen  bestiunne,  und  die  von  ihm  bestimmten  Mäu- 
schen böse;  oder,  um  auch  hier  noch  die  Allmacht  Gottes  zt^^ 
(lettnng  zu  bringen,  dass  diese  zweite  Deterniinieriuig  von  Goü 
erst  müssi»  nicht  bloss  zugelassen,  sondern  selbst  angeordnet  sein, 
sie  also  mit  Rücksicht  auf  den  allgiUigen  Gott,  der  ja  nicht  vou 
Gut  und  Böse  bestimmt  wird,  sondern  t4nt  und  Böse  selbst 
stimmt,  gut  mit  Rücksicht  auf  die  deterinniierten  Wesen  böse  sei 

^  Lat]ïardt    wendet    in  seiner  ^Lehre  vom  freien  Wülen**  S.  127  ^ 
diese  lutherischen  Gedanken  die  bekannte^  geriide  in  der  letzten  Eiicksici** 


Luther  und  Kant.  409 

Allein  diesem  rein  implizite  gemachten  Unterschiede  der  Be- 
trachtungsweise können  wir  jetzt  doch  noch  etwas  an  die  Seite 
stellen,  das  den  Eindnick  einer  Unterscheidung  explizite  nicht 
verfehlen  kann.  Wir  hatten  ja  gesehen,  wie  sehr  Luther  immer 
betont,  dass  ^die  Person  das  Erste  und  das  Werk  das  Zweite  sei."*) 
„Wir  suchen",  sagt  er,  „hier  den,  der  nicht  gethan  wird,  wie 
die  Werke,  sondern  den  Selbstthäter  und  Werkmeister,  der 
Gott  ehrt  und  die  Werke  thut."«)  Wichtig  ist  es,  „dass  allerwege 
die  Person  zuvor  gut  und  fromm  sein  muss  und  gute 
Werke  folgen  und  ausgehen  von  der  frommen  und  guten 
Person."»)  So  wird  der  ('harakter  mit  aller  Schärfe  nicht  bloss 
als  eine  Wirklichkeitseinheit,  sondern  auch  als  der  Faktor  der 
sittlichen  Weltordnung  gefasst,  der  aus  sich  das  Handeln  hervor- 
treibt mit  ureigenster  Bestimmtheit.  Und  zugleich  ist  er  selbst 
in  einen  übersinnlichen  Urgrund  zurückgenommen,  in  dem  seine 
tiefsten  Wurzeln  ruhen.  Denn  „ein  jeglicher  Christenmensch  ist 
zweierlei  Natur,  geistlicher  und  leiblicher."*) 

Diese  Unterscheidung  von  zweierlei  Natur  ist  ja  leider  nicht 
genügend  fruchtbar  und  für  die  Freiheitslehre  nutzbar  gemacht 
worden.  Dazu  hätte  eben  Luther  mehr  Philosoph  sein  müssen, 
als  er  es  war.  Dass  er  die  Unterscheidung  aber  überhaupt  trifft, 
und  die  Art  und  Weise,  wie  er  sie  zu  der  Wertbetrachtungsweise 
in  Beziehung  bringt,  ist  doch  nicht  so  belanglos.  Es  lässt  sich 
darüber  kurz  folgendes  sagen.  Er  sieht  im  Menschen,  und  zwar 
für  seine  Anschauung  ganz  charakteristischer  Weise  nur  im 
Christenmenschen*)    die    Vereinigung    von    zweierlei    Natur:    der 


äusserst  glückliche  Wendung  an:  „Nicht  Böse,  aber  Böses  thut 
Gott*';  da  in  ihn,  wie  aUes  Thun  und  Geschehen,  so  auch  das  Böse 
zurückgenommen  werden  müsse. 

Ï)  „Er  wird  nicht  müde,  diesen  Satz  in  immer  neuen  Wendungen 
zu  wiederholen",  sagt  Luthardt,  vgl.  .Ethik  Luthers"  S.  23. 

«)  Freiheit  eines  Christenmenschen.    XXVII.    S.  184. 

^  a.  a.  O.  S.  191. 

*)  a.  a.  O.  S.  176. 

^)  Diese  Einschränkung  beruht  natürlich  wieder  auf  der  dogmatischen 
Beschränktheit  Luthers,  wie  sie  sich  aus  unserem  ersten  Kapitel  (§1)  von 
selbst  versteht.  Dass  auch  in  der  zu  erwähnenden  Gnadenlehre  dieselbe 
Beschränktheit  eine  grosse  Rolle  spielt,  woUen  wir  hier  gleich  mitbetonen, 
um  nicht  noch  einmal  darauf  hinweisen  zu  müssen,  zumal  es  uns  ja  viel 
weniger  auf  solche  Beschränktheiten  als  auf  das  Bedeutsame  und  Wert- 
volle in  Luthers  Anschauung  ankommt. 


410 


B.  Baacb, 


„leiblir.luMrS  iL  h.  sionlichen  luid  tier  „g^eistlicheu**,  il.  h,  üher- 
sintilicheu.  Xun  kano  aber  alles  „Leibliche",  so  g:njss  mitl  so  viel 
r*s  auch  sei,  nie  für  das  „Geistlit*lie"  g^enfmnneii  werden.  Seiner 
„Oiii^e  reichl  keines  bis  an  die  Seele** J)  Nur  nach  der  „Seele", 
(li*ni  .,]B:eistiielieii"  Wesen  des  Menschen  bestimmt  sich  aber  seines 
Handelns  Wert.  I»amm  kann  dieses  auch  nur  als  vom  ^geist-  — 
liehen"  Wesen  Iiervor^etriebon  angesehen  werden,  sobald  wir  über  ^-^ 

s(»intîn  W(*r(    oder  Cnweil   urteilen.     Die  Eigenart  der  Persönlich^ 

keit,  wie  sie  in  der  Gesinnung  zum  Ausdmck  kommt,  iu  jenen 
l»rHktisclien  Ghiuben  der  GottwohlgefälUgkeit,  giebt  die  Direktive 
für  alle  WertbeurtdUing.  So  bleibt  trotz  des  Determinismus  für 
die  Wertbetraehtung  immerhin  ein  durchaus  autogenes  Verhältnii= 
—  wir  wählen  diesen  Ausdruck  mit  Absicht  —  zwischen  Person 
lichkeit  ujid  Handlung,  zwischen  Thäter  und  That.  Mag  letztlict 
alles  Thun  in  tiott  zurückgenommen  werden,  mag  darum  auch  iw^mi 
letzter  Instanz  die  Persfhiliclikeit  in  diesem  allwirksamen  Urgrun«^^ 
wurzeln,  so  wird  doch  jetzt  auch  in  deren  übersinnliche,  ^geisteMI- 
liehe"  Natur  die  einzelne  Thal  zurückgenommen,  um  sie  aus  dere  n 
eigenster  Weseusbestimmtheit  heiTorgehen  zu  lassen,*)  Denn  d^He 
Person  trägt  ja,  nach  ihrem  eigenen  Wert  oder  Unwert,  auch  de-^ii 
ihrer  That  in  sich  und  bestimmt  ihn  selbst.  I*as  trotz  des  Dete^^- 
minismus. 

Wie   sehr   es  Luther  trotz  allem  Determinismus  um  die  sit— ^B 
liehe  Kigenkraft  der  Pei-son  zu  thun  ist,  das  zeigt  besonders  seiche 
Gnadeiüehre: 

Wie  vorhin  alles  Thun  und  Geschehen  in  Gott,  der  „allies 
in  allen  wirkt,"  zunickgenommen  und  die  Unfreiheit  der  Kreat^Lir 
überhaupt  gelehrt  wurde,  so  wird  jetzt  vornehmlich  alles  Gu 
in  Gott,  der  ja  selbst  absolut  gut  ist,  zurückgenommen  und 
besonderen  das  Unvermögen  des  Menschen  zum  Guten  h^e- 
hauptet.      Nur    die  Anlage    zum  Guten    ist    in    ihm  vorhandt^^u. 


')  Freiheit  eine*  Christennieiiselien,     XXV 11.    S,  177, 

^)  Diese    eigentümliche  Wendunji^   bedeutet   enUchieden  eine  g] 


TtH^S^H 


Verriefun^f  gegenüber  allen  früheren  DeterminKtiniisïehreii.  M«^  im  e^^^-" 
zvlneu  W'\  Luther  die  Dursten  un  fi;  oft  noch  so  unklar,  wirr  und  krwns  s€?^  »J^ 
nnd  nm^  er  seine  Anschauung  Kiich  nie  auf  ihre  kritische  Möglichkeit  "*nifl 
frepnift  haben,  die  Anschauung  selbst  bedeutet  entschieden  eine  V^«r- 
tiefung.  I>enn  trotz  der  Abhiln^iirkeit  des  Menschen  als  Kreatur  -^^on 
Gott,  bleibt  ihm  die  sittliche  Unubhängigkeit  von  aller  anderen  Krem^tm 
gewahrt. 


Luther  und  Kant.  411 

Qod  auch  die  hat  Gott  gewirkt.  Aber  der  Mensch  ist  nicht 
einmal  aus  sich  heraus  fähig,  diese  Anlage  zu  entwickeln,  und  so 
fst  er  überhaupt  nicht  zum  Guten  fähig.  Diese  Fähigkeit  ist  ihm 
verloren  gegangen  dui*ch  die  Erbsünde,  und  so  hat  das  Böse 
Macht  über  ihn  gewonnen. 0  Soll  er  sich  aufschwingen  können, 
30  muss  er  nämlich  völlig  neu  wiedergeboren  werden.  Dazu  be- 
dlarf  er  aber  der  göttlichen  Gnade,  durch  welche  die  Determi- 
nierung  durch  Satan  zum  Bösen  wieder  aufgehoben  wird. 

Was  aber  nun  für  Luthers  Bemühen  um  die  Verselbstän- 
digung der  Person  sehr  bezeichnend  ist,  das  ist  die  Forderung, 
dass  die  Person  sich  für  die  Gnade  empfänglich  machen,  ihr  ent- 
gegenkommen solle.«)  Und  so  wird  auch  hier  ihre  selbständige 
Aktivität  wieder  statuiert. 

So  hat  Luther  auf  der  einen  Seite  den  Menschen  absolut 
abhängig  gemacht  von  der  Gottheit  und  gerade  dadurch  ihn  aller 
anderen  Kreatur  gegenüber  verselbständigt,  auf  der  anderen  Seite 
ihm  sogar  eine  gewisse  Selbständigkeit  der  göttlichen  Gnade  gegen- 
über zu  wahren  gesucht. 

§  10. 

Die  unendliche  Wirkungssphäre  des  Einzehien  im  Leben. 

Die  That  des  Einzelnen  bleibt  diesem  allein  sittlich  anrechen- 
bar, und  er  ist  vermöge  der  „Geistlichkeit",  nicht  der  „Leiblichkeit" 
seiner  Natur,  infolge  seines  Charakters  dafür  verantwortlich.  Ihr 
Wert  und  Unwert  richtet  sich  nach  der  Gesinnung  des  Thäters. 
An  der  ethischen  Wertung  wird  durch  die  religionsphilosophische 
Deutung  nichts  geändert:  Mag  dem  Religiösen  auch  Alles,  in 
Sonderheit  das  Gute  ableitbar  erscheinen  aus  dem  allwirksamen 
und  allgütigen  Gotte,  so  bleibt  trotz  der  Erkenntnis  dieser  höchsten 
Ursache  doch  des  Einzelnen  sittlicher  Wert  gewahrt.  Und  überall 
wo  er  sich  bethätigt,  kann  er  sich  wertvoll  bethätigen,  und  er 
kann  sich  überall  bethätigen. 


^)  Darum  gilt,  wie  Kattenbusch  a.  a.  0.  S.  10  sagt,  vom  Menschen 
immer  nur:  „entweder— oder  ;  ist  er  nicht  Gott  dienstbar,  so  dem  Teufel 
und  umgekehrt."  Es  ist  hier  sehr  richtig  auf  de  servo  arbitrio  S.  199 
(Lutheri  opera  varii  argumenti  ad  Reformationis  historiam  imprimis  per- 
tinentia)  verwiesen,  mit  der  charakteristischen  SteUe:  ,Si  Dens  in  nobis 
est,  Satan  abest,  et  non  nisi  velle  bonum  adest  ;  si  Dens  abest,  Satan  adest, 
et  non  nisi  velle  malum  in  nobis  est";  u.  a.  m. 

2)  Vgl.  dazu   auch  Luthardt:   Die  Lehre  vom  freien  Willen.    S.  100. 


412  B.  Banoh, 

Indes  ist  diese  Behaaptang,  dass  er  sieb  flberall  bethlügei 
könne,  nicht  zn  gewagt?  Wenn  schon  der  metaphysischen  Ab- 
hängigkeit keine  ethische  Unselbständigkeit  entsprechen  sou,  na 
dann  nicht  wenigstens  einer  reinen  Gesinnungsethik  änsMn 
Passivität,  TeiUiahmsIosigkeit  dem  lebendigen  Leben  gegenGber 
entsprechen  ? 

Das  ist  der  alte,  anch  in  unserer  Untersuchung  längst  be- 
rührte Vorwurf,  der  sogar  heute  noch  nicht  verstommt  ist  Luther 
selbst  war  sich  dessen  wohl  bewusst,  wie  wenig  ihn  d^  Vorwurf 
treffe,  „dass  wir  müssig  gehn  oder  übel  thun^  müssten,^)  sdner 
Lehre  gemäss,  weil  ja  selbst  der  „Müssiggang  in  deis  GUuibem 
Übung  und  Werk  geschehen  müsste.*'^)  Wieder  setzt  er  hi^  mit 
seiner  zweifachen  Natur  des  Menschen  ein  und  betont:  Der  Weit 
alles  Handelns  und  Thuns  liegt  nicht  in  eben  diesem  Handeln  und 
Thun  selbst,  sondern  im  Glauben,  d.  h.  in  der  Gesinnung  des 
Menschen,  aus  der  Handeln  und  Thun  fliesst.  Wenn  darum  audi 
nur  die  geistliche  Natur  des  Menschen  der  Wertbeurteilnng  fthig 
ist,  so  heisst  das  aber  nicht,  dass  .der  Leib  nun  faul  und  massig' 
bleiben  dürfe.  Im  Gegenteil  lehrt  Luther  ausdrücklich:  da  der 
Mensch  auch  leiblich  sei,  „da  heben  nun  die  Werke  an^.*)  ^Denn 
der  Mensch  lebt  nicht  allein  in  seinem  Leibe,  sondern  auch 
unter  Menschen  auf  Erden,"  denen  er  „diene  und  nütze  sei*.*) 
TJnd  überhaupt  „weil  der  Mensch  lebt  und  seiner  Glieder  mächtig 
ist,  so  muss  er  ja  auch  etwas  thun  und  kann  so  wenig  ohoe 
Werke  sein,  so  wenig  er  ohne  stetigen  Odem  und  Regung  des 
Herzens  leben  kann."*)  Und  „weU  denn  das  menschliche  Wesen 
und  Natur  keinen  Augenblick  sein  mag  ohne  Thun  oder  Lassen, 
Leiden  oder  Fliehen  (denn  das  Leben  ruht  nimmer,  wie  wir  sehen) 
wohlau,  so  hebe  an  wer  fromm  sein  will  und  voll  guter  Werke 
werden,  und  übe  sich  selbst  in  allen  Leben  und  Werken  zu  allen 
Zeiten  an  diesem  Glauben  ;  lerne  stetiglich  Alles  in  solcher  Zuve^ 
siebt  thun  und  lassen,  so  wird  er  finden,  wieviel  er  zu  schaffen 
hat  und  nimmer  müssig  werden  darf,  weil  der  Müssiggang  auch 
in  des  Glaubens  Übung  und  Werk  geschehen  muss."«)    Das  aber 


1)  Freiheit  eines  Christenmenschen.    XXVII.    S.  181  ff. 

«)  Sermon  von  den  guten  Werken.    XX.    S.  206  f. 

8)  a.  a.  O.  S.  189. 

*)  a.  a.  O.  S.  195. 

6)  Kirchenpostille  I.  S.  162. 

«)  Sermon  von  den  guten  Werken.    XX.    S.  206  f. 


Luther  und  Kant.  413 

heisst:  der  Mensch  steht  inmitten  einer  Welt  von  Dingen,  auf  die 
er  handeln  soll.  Vor  allem  aber  steht  er  inmitten  einer  Welt  von 
Menschen,  die  geistig-leiblicher  Natur  sind,  wie  er,  auf  die  in 
erster  Linie  sein  Handeln  sich  erstrecken  soll,  nur  so,  dass  er 
den  „innerlichen"  Menschen  am  „äusserlichen"  zum  Ausdruck  und 
zur  Geltung  bringe,  damit  der  „äusserliche"  Mensch  „dem  inner- 
lichen Menschen  gehorsam  und  gleichförmig  werde**.  ^)  Mag  da- 
durch der  äusserliche  Mensch  nicht  etwa  selbst  gut  werden  mit 
seinen  Werken,  sondern  gut  allein  sein  und  bleiben  der  innerliche 
Mensch,  der  Wille,  der  die  Werke  wirkt  „aus  freier  Liebe,  Gott 
zu  gefallen,"  2)  so  ist  damit  doch  der  äusserliche  Mensch  ein 
Werkzeug  des  innerlichen,  und  damit  Gottes  selbst,  und  erhält  mit 
seinen  Werken  einen  Wert  durch  Übertragung. 

Dem  einstigen  Mönche  hat  sein  Klosterleben  den  Sinn  für 
das  lebendige  Leben  keineswegs  verkümmern  können  oder  gar  zu 
zerstören  vermocht.  Denn  scheint  der  Reformator  nicht  gerade 
und  ausschliesslich  dadurch,  dass  er  den  Menschen  zu  befreien 
sucht  von  dem  äusseren  Zwang  einzelner  statutarischer  Gebote 
der  Autorität,  dass  er  ihn  ganz  und  gar  auf  sein  Inneres,  seinen 
ureigenen  „Glauben  des  Herzens"  verweist,  ihm  die  ganze  Welt 
für  seine  sittliche  Bethätigung  erobern  zu  helfen?  Je  weniger 
der  Einzelne  durch  Autorität  äusserlich  gezwungen  und  gehalten 
ist,  dieses  oder  jenes  einzelne  Bestimmte  zu  thun,  desto  eher  kann 
er  alles  zum  Gegenstande  seiner  sittlichen  Bethätigung  macheu, 
kann  er  alles,  um  mit  Luther  selbst  zu  reden,  durch  seinen  leben- 
digen Glauben,  seinen  persönlichen,  sittlichen  Willen  auf  den  gött- 
lichen Willen  beziehen.  Die  ganze  Welt  erhält  dadurch  ein 
höheres  Leben,  eine  höhere  Weihe,  sie  wird  belebt  und  geweiht 
durch  den  sittlichen  Willen  der  Persönlichkeit,  die  sie  ergreift,  um 
in  ihr  und  auf  sie  zu  wirken.  Das  Kleinste,  wie  das  Grösste  in 
der  Welt  erlangt  dadurch  eine  ganz  neue  Bedeutung,  dass  es  der 
Gute  auf  den  göttlichen  Willen  beziehen  kann,  indem  er  es  zum 
Inhalte  seines  eigenen  guten  Wollens  macht.  Denn  eben  dadurch 
macht  er  es,  wie  sich  selbst,  zum  Werkzeug  in  Gottes  Hand,  wie 
wir  vorhin  sagten. 

Das  ist  in  der  That  die  befreiende  Wirkung  des  reinen, 
nicht    durch   äussere   Autorität   bestimmten,    Gesinnungsglaubens, 


1)  Freiheit  eines  Christenmenschen.    XXVII.    S.  189  f. 
<)  Ebenda. 


414 


B.  Bau  cil« 


UDd  Luthier   »I   sich   der  TeriebendigeodeD  Wirkung  des  H 
flaitbeiia   auf   die  Wirklichkeit   gar   wohl  bewusst:    Es  kann 
jegUcber  selbst  merken  UDd  fühlen,  waun  er  gutes  tmd  oicht  gni 
tbni:  findet  er  sein  Herz  in  der  Zuversicht,  dass  es  Gott  gefall 
80   ist   das  Werk   gnt,    wenn  es  auch  so  gering  wäre,    wie  einea 
StrohhalEDen  aufheben«    Ist  diese  Zuversicht  nicht  da,  oder  zweifelt 
er  daran,  so  ist  das  W  erk  nicht  gut,  ob  es  schon  alle  Toten  auf- 
erwecke   und   der   Mensch  sich  verbrennen  liesse»**  »)    Indem  aller 
äussere    Erfolg   und  Schein  schwindet,    und  aller  moralische  Wert 
ins    Innere    des  „Herzens"  verlegt  wird,    geht  auch   aller   äussere 
Wertunterschied  des  Werkes   verloren,    und  der  Mensch  kann  sich 
überall,    wo   es    auch   sei,   in   den  Üienst  des  Guten  stellen.    „In 
diesem  Glauben    werden    alle  Werke    gleich    und   ist  eins  wie  das 
andere;    es    fällt  ab  aller  Unterschied  der  Werke,   sie  seien  gross 
oder   klein,    kurz,    lang,    viel   oder  wenig.     Die  Werke  sind  niclit 
um    ihrentwillen,    sondern    um    des  Glaubens    willen  angenehm/^ 
So    eröffnet    Luther    der    sittlichen    BeUüitigung    ein    uneririt-is^ 
liches  Feld. 

Wie  er  seinen  Widersachern  auch  heute  noch  auf  ihren  Eio- 
wand,  der  Glaube  ohne  die  Werke  sei  tot,  entgegenhalten  kmintf, 
ditss  sie  ihn  gitr  nicht  treffen,  da  er  ja  selbst  den  lein-tbooré- 
tischen  inbaltlicheu  Glauben  ohne  den  i>raktischen  Glauben  für 
welllos  und  nur  „einen  Schein  des  Glaubens"  halte,  dem  erst  aus 
dem  Herzen  Leben  fliessen  müsse,  so  konnte  er  nun  ihnen  sagen: 
alle  ihre  guten  Werke  seien  tot,  ohne  den  lebendigen  „Glaubeû 
dt's  HerÄens",  Und  nur  von  ihm  fliesse  die  reichste  Fülle  d( 
Iii4»ens  auch  auf  die  Werke.  Anstatt,  dass  er  lliaten  verbtel 
iidt'r  auch  nur  die  sittliche  Thätigkeit  beschränke,  rufe  er  sie 
hervor.  Er  sei  das  lebendigste,  am  meisten  lebenweckende  Ele- 
ment in  der  Seele  des  Menschen,  ja  das  Prinzip  alles  sittliciieo 
Li^bens.  Und  wörtlich  sagt  er:  „Es  ist  ein  lebendig,  schäftig,« 
tliätig,  niächtig  Ding  um  den  Glauben,  dass  unmöglich  ist,  dass  ar| 
nicht  ohne  Unterlass  sollte  Gutes  wirken.  Er  fragt  auch  nicht, 
4»b  gute  Werke  zu  tbun  sind,  sondern  ehe  man  fraget,  hat  er  sie 
gi4liaii  und  ist  immerfort  im  Tliun.**  ^^) 

liamit  ist  in  der  That  nicht  bloss  ein  Prinzip  des  sîttlicht^n 
Lrln-ris    überhaupt,    sondern    auch    des   sittlichen    Fortschritts  im 

Î)  Sermon  von  den  giüeu  Werken*  XX,  S.  198. 
»)  a*  a.  0.  S.  199  f.  Vgl,  uucli  oben  §  ß  und  §  7. 
»)  \'t>rrede   auf  die  Epist«!  St.  Pauli  a»  die  lUmer.    LXllI    S.  126. 


m 


Luther  und  Kant.  415 

Leben  gewonnen,  mag  das  Luther  auch  wieder  nicht  mit  begriff- 
licher Bündigkeit  ausgesprochen  haben.  Es  liegt  indes  analytisch 
schon  in  der  schroffen  Gegenüberstellung  von  Glaube  und  Werk, 
denn  das  ist  dieselbe  Unterscheidung,  wie  jene,  die  dem  Willen 
den  Willensinhalt  gegenüberstellt.  Luther  ist  darum  in  gewissem 
Betracht  längst  hinaus  über  jene  ethischen  Theorieen,  die  auf  den 
Willensinhalten  meinen  ihre  Systeme  basieren  zu  können.  Auch 
tritt  in  seiner  Anschauung  das  mehr  historische  Verständnis  be- 
reits ausdrücklich  hervor,  dass  die  Willensinhalte,  die  „Werke  an 
sich"  direkt  unsittlich  werden  können,  also  einer  über  ihnen 
stehenden  Instanz  bedürfen,  die  über  ihren  Wert  und  Unwert  erst 
selbst  entscheidet.  Wir  meinen  nicht  bloss,  dass  dieser  Rela- 
tivismus, wie  wü*  heute  sagen  würden,  die  Überzeugung  von 
der  Relativität  der  sittlichen  Inhalte  implizite  in  seiner  Grund- 
anschanung  liege  und  aus  ihr  sich  ableiten  lasse.  Das  versteht 
sich  von  selbst.  Nein!  ausdrücklich  finden  \^ir,  wenn  auch  nicht 
abstrakt  und  nur  gelegentlich,  von  ihm  ausgesprochen,  dass  Sitten 
und  Bräuche  zu  bestimmten  Zeiten  gut  gewesen  sein  mögen,  ohne 
es  aber  für  alle  Zeiten  zu  bleiben  und  zu  sein,  sodass  der  ge- 
schichtlich-sittliche Fortschritt  über  sie  rücksichtslos  hinweggeht. 
Und  das  Recht  dazu  kann  er  doch  nur  aus  dem  praktischen 
Glauben,  der  über  seinen  Inhalten  steht,  abnehmen.  So  sagt 
Luther  z.  B.  gelegentlich  seiner  Meinungsäusserung  über  das 
„Heiligenerheben":  „Ob  schon  Heiligenerheben  vor  Zeiten  gut 
gewesen  wäre,  so  ist  es  doch  jetzt  nimmer  gut,  gleichwie  viele 
Dinge  vor  Zeiten  gut  gewesen  sind  und  doch  nun  ärgerlich  und 
schädlich,  als  da  sind  Feiertage,  Kirchenschatz  und  Zierden."  -) 
Hier  ist  doch  die  Relativität  der  Gutheitsinhalte  (sit  venia  verbo) 
in  Rücksicht  auf  Sitten  und  Bräuche  der  Kirche  schon  mit  un- 
missverständlicher  Deutlichkeit  ausgesprochen.  Und  dann  ist  die 
Reformation  selbst  nicht  der  beste  Beweis  durch  die  That  für  diese 
Anschauung  Luthers? 

Welche  gewaltige  Wirkung  diese  Anschauung  haben  musste, 
ist  klar:  Dem  Menschen  ward  es  zum  Bewusstsein  gebracht,  dass 
er,  immer  und  überall,  wann  und  wo  es  auch  sei,  Gott  dienen 
könne.  Er  musste  darauf  geführt  werden,  dass  das  wirkliche 
Leben  in  seiner  ganzen  Fülle  Bethätigungsgebiete  in  sich  befasse, 


^)  Sendschreiben  an   den   christlichen  Adel  deutscher  Nation.    XXI. 
S.  333  f. 

KftatatodiMi  IX.  27 


416  B.  Bauch, 

für  die  er  selbst  |2feeigneter  wäre,  als  andere  Menschen,  und  die 
für  ihn  wiederum  auch  geeigneter  wären,  als  andere  Bethätigongs- 
gebiete,  dass  manches  Alte  überlebt  und  neues  Leben  auf  neaem 
Boden  erstehen  müsse. 

Wie  sehr  Luther  das  an  sich  und  seiner  eigenen  Entwicke- 
lung  erlebt  hat,  ist  genugsam  bekannt.  Seine  Stellung  znm 
Ordenswesen  zeigt  es  deutlich.  Nicht  etwa,  weil  es  ihm  bloss 
nicht  behagt  hätte,  erklärt  er  es  für  wertlos.  Wer  wüsste  nicht» 
welche  Seelenkämpfe  er  zu  bestehen  hatte,  wie  wenig  die  Fragen 
nach  blossem  Behagen  oder  Unbehagen  hier  mitzureden  hatten, 
sondern  allein  der  Wert  oder  Unwert  der  Sache  vor  dem  Bicht- 
mass  seines  Gewissens!  Und  nur  unter  dem  Gesichtspunkt  dés 
sittlichen  Wirkens  im  lebendigen  Leben  erhebt  sich  vor  ihm  das 
Problem  des  Berufs,  der,  wenn  er  wohl  verstanden  wird,  ja  nichts 
anderes,  als  das  sittliche  Auswirken  der  persönlichen  Eigenart 
bedeutet.  Der  Reformator  nimmt  zu  diesem  Problem  eingehend 
Stellung;  und  zwar  mit  bedeutsamer  Unabhängigkeit  von  seinen 
rein-theologischen  VorsteUungen  und  vom  Evangelium  sieht  er  in 
ihm  mehr  eine  natürliche  Verknüpfung  des  Gottesreichs  mit  im 
Weltreich,  durch  die  „die  Welt  voll  Gottesdienst**  sein  kann,^ 
indem  jede  Persönlichkeit  unablässig,  nach  Gottes  Wohlgefallen, 
und  mit  sich  selbst  in  Übereinstimmung  wh^ken  kann. 

So  führt  der  reine  Herzensglaube  bei  Luther  zu  einer  wahr- 
haft sittlichen  Thatenfreudigkeit  der  Persönlichkeit  in  der  rechten 
Erkenntnis  der  Lebensfülle  des  wirklichen  Daseins,  bei  allem 
Wandel  und  Wechsel  seiner  Inhalte,  die  selbst  eine  überzeitliche 
Dauer  erhalten  durch  die  in  einem  pflichtvoll  erfassten  Berufe 
wirkende  sittliche  Gesinnung. 

§  11- 

Der  Einzelne  und  der  Nächste. 
Wir  sind  mit  den  letzten  Fragestellungen  bereits  einer  neuen 
Frage  nahegekommen.  Wir  sahen:  unser  Wirken  in  der  Welt 
richtet  sich  ja  nicht  auf  eine  tote  Wirklichkeit  und  ist  auch 
nicht  allein  bestimmt  von  dem  schaffenden  Willen  des  einzelnen 
thätigen  Menschen,  sondern  greift  ein  in  das  lebendige  Leben  der 
Menschheit  selbst,  in  das  geschichtliche  Werden  und  Wirken  der 
Gesellschaft.     Darum  tritt  der  Einzelne  immer  in  den  grossen  ge- 


1)  Vgl.  dazu  Luthardt  „Die  Ethik  Luthers".    S.  92. 


Luther  und  Kant.  41 7 

schichtlichen  Zusammenhang  seines  Geschlechts.  Wird  ihm  also 
die  Bethätigung  überhaupt  angemutet,  so  ist  er  damit  zugleich  in 
den  Dienst  der  menschlichen  Gesellschaft  gestellt,  bestimmt,  seinem 
Mitmenschen,  seinem  Nächsten  zu  dienen.  Und  so  können  wir 
hier  nun  weiter  fragen:  denkt  sich  Luther  diesen  Nächstendienst 
durch  ein  bestimmtes  Prinzip  begründet  und  geregelt,  und  durch 
welches? 

Nur  auf  diese  ganz  allgemeingestellte  Frage  wollen  wir  eine 
Antwort  geben.  Da  wir  ja  nicht  seine  Sittenlehre  im  Einzelnen 
darzustellen  suchen,  sondern  nur  die  prinzipiellsten  seiner  Anschau- 
ungen kennen  lernen  wollen,  so  mag  auch  hier  diese  allgemeinste 
und  prinzipiellste  Betrachtung  genügen,  obwohl  der  Reformator 
sich  hier  in  der  That  bis  ins  Einzelnste  Rechenschaft  zu  geben 
versucht  und  in  manchem  durch  eine  glänzende  Wandelschaffung 
—  denken  wir  nur  an  seine  Ideen  von  Staat  und  Familie  — 
historisch  bedeutsam  geworden  ist. 

Das  Prinzipielle,  auf  das  es  uns  hier  ankommt,  um  seine 
Anschauungen  über  das  Verhältnis  von  Mensch  zu  Mensch  zu 
verstehen,  ist  die  christliche  Grundforderung,  die  er  an  jeden 
stellt,  um  alle  mit  einander  zu  einen.  Es  ist  die  Forderung  der 
Liebe,  in  der  er  das  einigende  Band  von  Mensch  zu  Mensch,  vom 
Einzelnen  zum  Nächsten  sieht.  Aber  es  ist  doch  etwas  ganz  An- 
deres um  die  Forderung  dieser  Liebe  bestellt,  als  man  gemeinig- 
lich glaubt,  und  als  mancher  Frömmler  sich  träumen  lässt,  dessen 
Bemühen  um  diese  missverstandene  Tugend  ihn  zu  einer  traurig- 
lächerlichen  Figur  macht. 

Die  Forderung  ist  nicht  neu:  „du  sollst  deinen  Nächsten 
lieben  als  dich  selbst."  Jesus  hatte  sie  der  Welt  verkündet. 
In  Worten  hatte  sie  die  alte  Kirche  festgehalten.  Aber  Luther 
ist  wohl  der  Erste,  der  sich  darüber  klar  wird,  was  Jesu  Gebot 
von  der  Liebe  bedeutet,  und  wie  himmelweit  sie  von  der  Liebe 
verschieden  ist,  die  wir  schlechthin  mit  diesem  Namen  bezeich- 
nen; eben  dadurch  verschieden,  dass  sie  eine  gebotene,  geforderte 
Liebe  ist. 

Es  würde  uns  höchst  thöricht  und  ungereimt  vorkommen, 
wenn  an  uns  der  erste  Beste  herantrete  und  uns  aufforderte: 
liebe  mich;  wir  würden  ihn  wahrscheinlich  für  nicht  ganz  zu- 
rechnungsfähig ob  dieser  Forderung  halten;  und  genau  ebenso, 
wenn  er  verlangte,  nicht  etwa,  dass  wir  ihn,  sondern  dass  wir 
irgend  einen  anderen,  den  oder  jenen,  auf  den  er  gerade  aufmerk- 


418 


B.  Bauch, 


i 


Ham  wird  und  uns  aufmerksam  macht,  lieben.  Wir  sagen:  eineß 
solchen  Menschen  würden  wir  für  niclit  ganz  zurechimngsfähig 
auseheti,  wenn  wir  das  Woit  „Lieben**  in  dem  Sinne  nehmen,  iu 
dem  wir  es  gewöhnlich  brauchen,  in  dem  es  bedeutet:  einer  Per- 
sönlichkeit um  ihrer  Eigenart  willen,  weil  sie  gerade  so  ist,  wie 
sie  ist,  uns  durch  Neigung  verbunden  fühlen. 

In    diesem  Sinne    wäre    das  Gebot:    Liebe    deinen    Näclisteii 
eine  Absurdität;    deun    diese  Liebe    lässt   sich    nicht   fordera,  sie 
Iftsst  sich  sozusagen  nicht  koniniandieren.     Wir  können  nichts  für 
diese  Liebe,    wir   können    sie    in  uns  nicht  erregen  und  erzeugen 
sondern  müssen  warten,  bis  jemand  ausser  uns  sie  erweckt.    Aber 
nicht  jeder  ausser  uns  kann  sie  erwecken;   wir  müssen  da,  sozu- 
sagen,   wiederum  warten,    bis  der  E echte  kommt,    der  sie  in  ms 
wach  ruft.      Der  Zustand  des  in  dieser  Weise  Liebenden  hat  also 
seinen  (Irund  yicl  weniger  in  seiner  eigenen  Aktivität,  als  er  viel- 
melir   an    der  Person    des  Geliebten    haftet,   durchaus    bedingt  ist 
durch    die  Individualität    des  Anderen.     Allerdings    muss  dafür  h 
dem  Liebenden   mw    gewisse  Prädisposition   vorhanden  sein.    Nur 
ist  das  Charakteristische,    dass  diese  Prädisposition  eben  nicht  im 
jedem  für  jeden  angelegt  ist,  sondern  nur  für  gerade  iu  bestiimuter 
Weise  geartete  Persönlichkeiten,   gewisse  Individualitäten,   die  der 
Liebende    gegenüber    der   Sunnue    aller    übrigen   Persönlichkeitea 
auswählend  bevomugt.     Diese  Bevorzugung  gerade  des  Einzehien, 
gegenüber    der    Totalität    aller    übrigen    imter   dem    Begriff  des 
„Nächsten'*    doch    mitbefassten   Menschen,    ist   das    unmittelbarste 
Charakteristikon   der  Liebe   im    gewöhnUchea   Sinne   des   Wortes* 
Diese  erstreckt  sich  niclit  auf  den  „Nächsten**  schlechthin,  sondern 
fliesst  von  einer  besonderen  Individualität  aitf  den  Liebenden  ein. 
Darum  muss  das  Cliristentum,   wenn  es  nicht  etwas  Sinnloses  bat 
behaupten    und    gebieten    wollen,    den  Begriff   der  Liebe   in  einer 
anderen  Bedeutung  gefasst  haben,  und  diese  Bedeutung  hat  Luther 
in    klarer,    unmissverstandlicher   Weise    herausgearbeitet,    so    dass 
das  christliche  C4rundgebot  nicht  bloss  einen  guten  Sinn  bekommt. 
sondern  eine  wahrhaft  zeitlose  Geltung  erhält  ^ 

Denn  Lutlier  ist  sieh  des  Gegensatzes  jener  gebotenen  Liebe» 
(îiniTHeiLs  und  der  natürlichen  Liebe  anderei-seits  wohl  beuiisst.. — 
Kr  fordeil  ausdrücklich  die  Individualitätslosigkeit  der  Liebe,  diess; 
piU*M  ujit  dem  Gebote  des  Christentums  decken  soll,  im  Gegensatz* 
m  JeïM^r  ganz  und  gar  individuellen,  an  die  Individualität  ge — 
lirnidenen    liMn*,    Die   Nächstenliebe    im  Shme  Luthers   kann  aiir^ 


Lnther  und  Kant.  419 

uns  nicht  überfliessen  von  einer  Person  ausser  uns  infolge  deren 
Einzigartigkeit.  Wir  sollen  den  Nächsten  in  jener  „christlichen** 
Liebe  nicht  um  seiner  individuellen  Besonderheit  willen  lieben, 
sondern  wir  müssen  diese  Liebe  aus  uns  hervortreiben  mit  selb- 
ständiger Eigenkraft,  wie  jede  uns  anrechenbare  Handlung.  Diese 
Liebe,  die  gut  und  geboten  ist,  muss  vollkommen  —  wir  brauchen 
hier  wiederum  das  Wort  !  —  autogen  sein.  In  der  Predigt  von 
der  Summe  des  christlichen  Lebens  heisst  es:  „Ein  Christ  soll 
seine  Liebe  nicht  schöpfen  von  der  Person,  wie  die  Weltliebe 
thut**.  Hier  wird  die  christliche  Liebe  ausdrücklich  der  Weltliebe 
entgegen  gesetzt,  und  weiterhin  wird  sie  als  eine  „quellende 
Liebe**  bezeichnet,  die  „von  inwendig  aus  dem  Herzen  geflossen 
sein**  muss.^) 

Wir  können  nun  nicht  mehr  im  geringsten  darüber  im 
Zweifel  sein,  dass  diese  „Liebe**  mit  Liebe  im  Sinne  persönlicher 
Zuneigung  nichts  als  den  Namen  gemein  hat,  in  ihrem  Wesen 
aber  etwas  ganz  Anderes,  nichts  Sinnliches,  sondern  etwas  Sitt- 
liches ist.  Es  ist  Luthers  tiefste,  religiöse  Überzeugung,  dass  der 
Mensch  infolge  seiner  geistlichen  Natur  einen  Wert  darstelle,  dem 
wir  dienstbar  zu  sein  haben,  das  heisst,  philosophisch  gesprochen, 
den  wir  als  Gegenstand  der  Pflicht  zu  behandeln  haben.  In  der 
„Freiheit  eines  Christenmenschen**  vereinigt  er  ja  die  beiden  Be- 
stimmungen, dass  ein  „Christenmensch**  „ein  freier  Herr  über  alle 
Dinge  und  Niemand  unterthan**,  und  doch  andererseits  „ein  dienst- 
barer Knecht'*  aller  Dinge  und  Jedermann  unterthan  sei  durch 
den  Hinweis  auf  die  „zweierlei  Natur"  des  Menschen,  die  „geist- 
liche" und  die  „leibliche".  Der  freie  „geistliche**  Mensch  macht 
sich  freiwillig  dienstbar  seinen  Mitmenschen,  und  eben  weil  jeder 
frei  und  „geistlich"  ist,  hat  sich  auch  jeder  jedem  frei  und 
„geistlich"  dienstbar  zu  machen.^) 


^)  Summa  des  christlichen  Lebens.  XIX.  S.  307.  Vgl.  Luthardt, 
a.  a.  O.  S.  57,  wo  es  heisst  :  „Das  ist  das  Charakteristische  der  christlichen 
Liebe,  dass  sie  sich  nicht  von  der  Person  des  Anderen  bestimmen  lässt, 
sondern  von  der  eigenen  Liebe  im  Herzen."  Diese  in  positiver  Beziehung 
nicht  ganz  klare  Wendung  Luthardts  wird  deutlicher  durch  die  negative 
Bestimmung  der  Liebe  im  Sinne  Luthers  :  Für  sie  ist  „sowohl  die  na- 
türliche Individualität,  als  auch  die  sittliche  Beschaffenheit  des  Anderen 
kein  Beweggrund." 

^  Vgl.  dazu  auch  den  vorigen  Paragraph. 


420  B.  Bauch, 

§  12. 
Die  Beli^ODSgemeinschaft 

Das  Leben,  das  den  Menschen  in  die  unendliche  Fülle  erléb- 
barer  Wirklichkeit  hineinstellt,  liefert  ihm  auch,  sahen  wir,  m 
unendliches  Material  der  Pflichterfüllung,  eröffnet  ihm  ein  HIle^ 
messliches  Feld,  auf  dem  er  Gk)tt  dienen  kann.  Und  der  Nächste 
stellt  sich  ihm  dar  als  Gegenstand  seiner  sittlichen  Behandlung, 
gegen  den  er  Pflichten  zu  erfüllen,  dem  er  zu  dienen  hat^  an 
damit  zugleich  Oott  selbst  zu  dienen.  Es  hätte  nun  nahe  gelegoi, 
dass  Luther  dieser  Auffassung  gemäss  die  Vereinigung  aller  zu 
solchem  Gottesdienst  bereitwilligen  Menschen  als  eine  grosse  rdi- 
giöse  Gemeinschaft  angesehen  hätte.  Aber  so  weit  war  Luther 
doch  noch  nicht  gelangt.  Er  blieb  noch  sehr  am  Überliefertal 
hangen,  und  vor  allem  am  Dogmatischen,  und  doch  hat  er  der 
Freiheit  auch  hier  gar  sehr  die  Wege  geebnet.  Er  hatte,  woranf 
auch  Lenz  hinweist,^)  am  liebsten  ohne  alle  „Oeberden  and 
Kleider^*)  Gtott  dienen  wollen,  d.  h.  ohne  äussere,  statutarische 
Konventionen  des  Kirchenkults.  „Aber  er  sah,"  fügt  Lenz*) 
treffend  hinzu,  „dass  solche  Ideale  der  Wirklicheit  nicht  ent- 
sprächen und  deshalb  für  bessere  Zeiten  zu  verschieben  und  all- 
mählich anzubahnen  wären."  Denn  nur  „um  ,der  ElinfUtigen  and 
des  jungen  Volkes*  willen,  müsse  man  überhaupt  lesen,  singen, 
predigen,  schreiben  und  dichten." 

Die  historische  Zeitlage  also  machte  den  Gebärdendienst 
nötig,  d.  h.  den  kirchlichen  Kult,  damit  die  junge  Kirche  sich 
gegenüber  der  alten  mächtig  und  nachdrucksvoll  behaupten  konnte. 
Die  „Einfältigen",  das  junge  Volk  vor  allem,  sie  werden  auch 
immer  des  Äusserlichen  und  Sinnfälligen  bedürfen;  so  etwas, 
wie  eine  konfessionelle  Anstalt,  wie  wir  mit  einem  modernen 
Worte  sagen  können,  brauchen,  und  äussere  Zeichen  nötig  haben, 
um  sich  zusammenzufinden. 

Zu  diesen  historischen  Erwägungen,  die  Luthers  Dogmati- 
sierung  und  dogmatische  Fixierung  eines  Glaubensinhaltes  für  die 


1)  a.  a.  O.  S.  180. 

«)  Freiheit  eines  Christenraenschen.    XXVII.    S.  184. 

3)  Lenz  ebenda.  —  Bei  Luther  im  ^.  Katechism.  S.  401  heisst  es: 
„Ceterum,  ut  hinc  christianura  aliquem  intellectum  hauriamus  pro  simpli- 
cibus,  quidnam  deus  hoc  in  praecepto  a  nobis  exigat,  ita  habe:  Nos  dies 
festos  celehrare  non  propter  inteUigentes  et  eraditos  christianos,  hi  enini 
nihil  opus  habent  ferüs.    Vgl.  Hamack,  a.  a.  O.  in.  S.  746. 


Luther  und  Kant.  421 

junge  Kirche  verstehen  lassen,  eines  Glaubensbekenntnisses,  das 
sich  st^rk  genug  mit  dem  alten  in  Übereinstimmung  befindet, 
kommt  noch  ein  mächtiger  persönlicher  Krklärungsgrimd  :  Luthers 
dogmatische  Persönlichkeit,  sein  ganz  und  gar  dogmatisch  ange- 
legter Charakter  selbst.^) 

Wir  haben  ja  bereits  hervorgehoben,  wie  er  das  „Wort 
Gottes",  als  für  alle  bindend  ansieht,  und  wie  es  ausser  der 
durch  dieses  „W^ort"  begründeten  Kirche  auch  für  ihn  keine 
„Seligkeit"  giebt.  So  wiederholt  sich  historisch  das  Tragische, 
das  wir  in  der  Persönlichkeit  des  Stifters  der  jungen  Kirche  an- 
treffen, in  dieser  seiner  Schöpfung  selbst:  Ursprünglich  zur  Frei- 
heit bestimmt,  wird  sie  durch  geschichtliche  Notwendigkeit  und 
durch  persönliche  Absichtlichkeit  in  dogmatische  Bahnen  gedrängt. 
Und  doch  besteht  ein  grosser  Unterschied  zwischen  dem  neuen 
und  dem  alten  Dogmatismus. 

Für  den  Reformator  giebt  es  eigentlich  nur  ein  Dogma, 
wenn  man  so  sagen  darf,  die  allumfassende  Schrift;  mag  es 
immerhin  gerade  sie  sein,  die  andere  Dogmata  involviert.  Da 
aber  jeder  nach  seinem  eigenen  rechten  Verstände  die  Schrift  ver- 
stehen kann,  er  also  keiner  Autorität  für  das  Schriftverständnis 
bedarf,  so  bleibt,  bei  aller  Autorität  der  Schrift  selbst,  bei  allem 
an  ihr  haftenden  Dogmatismus,  doch  wenigstens  die  Freiheit  der 
Auslegung  gewahrt  und  damit  dem  Einzelnen  auch  innerhalb  der 
Kirche  seine  Selbständigkeit  kirchlichen  Autoritäten  gegenüber 
gesichert.  Denn  solche  kirchliche  Autoritäten  fallen  damit  ein- 
fach fort. 

Aber  noch  weiter  ringt  sich  in  Luthers  starker  Persönlichkeit 
der  Drang  nach  Freiheit  in  religiösen  Dingen  durch:  Ihm  ist  „an 
der  äusserlichen  Ordnung  nichts  gelegen."*)  Weit  entfernt,  dass 
sie  ihm  irgendwelchen  Selbstzweck  habe,  oder  dass  ihm  die 
kirchliche  äussere  Gemeinschaft,  wie  sie  das  nach  der  alten  Auf- 
fassung ist,  als  das  Wesen  der  Religion  selbst  erscheine,  hat  sie  ihm 
nicht  einmal  religiösen  Wert  auch  nur  in  übertragener  Weise, 
sondern  lediglich  erzieherische  und  nicht  ewig  bindende  Bedeutung. 
Sie  ist  ihm  lediglich  Mittel  der  Menschen,  sich  gegenseitig  zur 
Vervollkommnung  —  da  ja  keiner  vollkommen  ist  —  zu  verhelfen, 
und  kann  bei  höherer  menschlicher  Vollkommenheit  durch  andere 


1)  V^l.  oben  S.  368  ff. 

*)  Deutsche  Messe  und  Ordnung  des  Gottesdienstes  zu  Wittenberg 
fOrgenommen  1526.    XXTI.    S.  228. 


422 


B.  Bauch, 


Ordimugeü  ersetzt  werdf^u.     Wiederum  iiicht  bloss  der  grossartige 
religiöse  Freiblick,    soüdeni  auch  der  grosse  historische  Weitblick, 
wie  er  kouseiiuetiterweise  eben  nur  d<^ui  Tuuglich  ist,   der  sidi  frei 
gemacht  hat  von  aller  AuturitätsfiU'cht  inhaltlicher  Sitteukonvemenz^ 
und  si(!h  ganz  und  gar  gestellt  hat  auf  eiu  freies  gutes  Gewiss^| 
seiner  eigenen  freien  PersöuLichkeit !     „Vor   allen    Dingen,**   so 
heisst  es  wörtlich  bei  ihm,»)  „will  ich  gar  freundlich  gebeten 
haben,    auch  um  Gottes  willen,    alle  diejenigen»    so  diese 
unsere  Ordnung  im  Gottesdienste  sehen  oder  nachfolgeü 
wollen,    dass   sie  ja    kein    nötig  Gesetz    daraus    macheu 
noch  jemandes  Gewissen   damit    verstricken   oder  faher, 
sondern   der   christlichen  ITreiheit  nach   ihres  Gefallet« 
brauchen,   wie,   wo,   wann,    und    wie  lange  es  die  Sachan 
schicken  und  fordern/' 

Ein  wunderbares,  hochbedeutsames  Wort!  Hier  liegt  kkr 
und  deutlich  ausgesprochen  einerseits  die  zeitlich-historische  Rela- 
tivität der  Geltung  der  statutarischeu  Oitlnuug  und  dan?it  dio 
Freiheit  der  Persönlichkeit  von  irgend  welcher  Bindung  durch  diese 
i)rduung.  Ein  neues  Ideal  der  religiösen  Gemeinschaft  ist  hier 
wenigstens  angedeutet.  Der  Kultus  als  integrierender  Faktor  der 
religiösen  Gemeinschaft  ist  gestürzt;  es  bleibt  nur  ein  wahrer 
Gottesdienst  übrig:  der  der  sittlichen  Beth«^tigung  des  Hertens- 
glaubens  im  Leben,  Nur  er  hat  Wert,  an  und  für  sich,  mi 
höchstens  um  den  Menschen  zu  diesem  einzig  wlirdigen  Gottesdieüsl 
heranzubilden  und  zu  eraieheu,  also  als  blosses  Mittel  zu  dem 
höheren  Zweck  erscheint,  hier  Kult  und  Ordnung,  Damit  ist  in 
der  Kirche  jene  unwürdige  Unterscheidung  von  Volk  und  Priesteru 
zerstört.  Jedermann  aus  dem  Volke  ist  zugleich  Priester,  der 
Gott  im  Glauben  dient.  Der  wahre  Wert  dieser  Gemeinschaft 
verlor  an  Sichtbarkeit,  sobald  er  an  Änsserlichkeit  verlor,  und  da 
das  Äusserliche  eben  nicht  mehr  als  wahrer  Wert  galt,  konnte 
als  charakteristisches  Merkmal  der  Kirche  auch  nicht  mehr  die 
Sichtbarkeit  gelten.  Die  wahre  Kirche,  oder  wenigstens  ihr  zu 
verwirklichendes  Ideal  kann  nur  etwas  Unsichtbares,  Inner- 
liches sein. 

Luthers  Ausführungen  über  die  zw^eierlei  Kirchen,  die  „geist- 
liche**   und   die  „leibliche**  Christenheit  zeigen  das  deutlich.»)    Es 

1)  a.  a.  0.  S.  227.  i 

^)  Vgl.   Vom  Papsttum   zu   Eom    wider   den    hochberühmten  Rom*-" 
nisten  zu  Leipzig.    XXVII    S,  102  ff. 


I 
I 


Luther  und  Kant.  423 

ist  hier  nun  von  Bedeutung  und  Interesse,  dass  er  nicht  etwa  die 
neue  Kirche  für  die  allein-„geistliche"  und  die  alte  mit  allen 
anderen  für  bloss  „leiblich**  erklärt.  Vielmehr  ist  er  der  Über- 
zeugung, dass  sowohl  im  „Romanismus**,  wie  in  der  neuen  Ge- 
meinschaft, ebenso  gut  „geistliche  und  innerliche**,  wie  „leibliche 
und  äusserliche**  Glieder  sein  können.  Denn  die  blosse  äussere 
Gemeinschaft,  die  sichtbare  „Gemeinde**  „macht  nicht  einen 
wahren  Christen**,')  sondern  nur  der  innere  Glaube.  Die 
christliche  Versammlung  ist  „einträchtiglich  im  Glauben,  wiewohl 
sie  nach  dem  Leibe  nicht  an  einem  Ort  mag  versammelt  werden. 
Indes  wird  ein  jeglicher  Haufe  an  seinem  Ort  versammelt.  Diese 
Christenheit  wird  durchs  Recht  und  durch  die  Prälaten  regiert. 
Hierzu  gehören  alle  Päpste,  Kardinäle,  Bischöfe,  Prälaten,  Priester, 
JlföDche,  Nonnen  und  alle  die  im  äusseren  Wesen  für  Christen  ge- 
llalten werden,  sie  seien  wahrhaftige  Christen  oder  nicht. 
Denn  obwohl  diese  Gemeinde  nicht  einen  wahren  C'hristen  macht, 
^eil  alle  die  genannten  Stände  ohne  Glauben  bestehen  können, 
so  bleibt  sie  doch  nimmer  ohne  etliche,  die  auch  daneben  wahr- 
haftige Christen  sind.**  Diese  bilden  nun  die  wahrhafte  „geist- 
liche** Gemeinde,  in  der  anderen  „leiblichen**  Gemeinde.  „Die 
aber  ohne  Glauben  und  ohne  die  erste  Gemeinde  in  dieser 
anderen  Gemeinde  sind,  sind  vor  Gott  tot,  Gleissner,  nur  wie 
hölzerne  Bilder  der  echten  Christenheit.** 

Die  „Gemeinde**  äusserlich  betrachtet,  oder  das,  was  wir 
heute  etwa  Konfession  nennen,  entscheidet  keineswegs  also  über 
die  „Christenheit**  des  Gemeindegliedes.  Das  kann  und  thut  allein 
der  Glaube.  Dieser  Glaube  muss  nun  wiederum  der  persönliche 
„Glaube  des  Herzens**  sein;  und  könnte  recht  betrachtet  eigentlich 
nicht  der  Dogmenglaube  sein,  da  dieser  ja  das  unterscheidende 
Kriterium  der  „Gemeinde**  ist,  also  nicht  einigendes  Band  sein 
kann.  Das  ist  eine  Konsequenz,  die  direkt  über  Luther  hinaus- 
weist. Aber  nur  von  ihr  eröffnen  sich  in  der  That  bessere  Aus- 
sichten auf  bessere  Zeiten. 

In  Luthers  Idee  der  Kirche  begegnet  uns,  psychologisch  sehr 
begreiflich,  dasselbe  Widerspiel,  wie  in  seinem  Glaubensbegriff. 
Er  kommt,  seinem  praktischen  Glauben  gemäss,  in  seinen  Bemüh- 
ungen, den  Begriff  der  Kirche  klar  zu  legen,  dem  Ideale  einer 
überkonfessionellen    Gemeinschaft   sehr   nahe.      Auf   der   anderen 


1)  a.  a.  O.  ebenda. 


424 


B«  Banchf 


Seite  ventiag'  er  sich  infolge  seines  Dogmatismns  nicht  vom  kin'h- 
liehen  Kotifessioimlismus  zu  befreien,  eben  weil  er  den  Schrift^Iaiiben 
zur  „Seligkeit"  notwemlig  eraelitete  und  darum  den  „Juden,  Heiilt^ii,^ 
Türken,  Sünder'*  nicht   konnte  .Jest  trauen'*  lassen»  «dass  er( 
gefalle/ 

Sich    von    dieser  Beschranktlieit   zu   befreien,    bätle   er  nr 
verirn»dit.    wenn    er   seine    Forderung:     „Kein    Jlensch    soll   ziun  J 
Glaiilien  gezwungen  werden",  nicht  bloss  auf  die  Schrütauslepng,B 
sondern  auf  die  ganze  Bedeutung  der  Schrift  überhaupt  augewaadt 
hätte;    weiui    er  diese  lediglich  einmal  auch  nur  aLs  Inhalt  —  da 
ja  der  inhaltliche  (ilauben  tloeh  selber  ein  lliun  ist,  —  des  prak-     i 
tischen  (ilanhens    angesehen    hätte.     Es    fehlte  ja  uui*  ein  ScbrittM 
zu  der  Überlegung,  dass  vielleicht  gerade  der  Mensch,  der  den  b-  " 
haltlichen  dogmatischen  Glauben  aiifgiebt,  dies  doch  tuit  der  imer- 
schütterlichen  Überzeoguug   der  Gottw^ohlgeialligkeit  mit  dem  lau- 
t-ei*sten  Glanben    des  Herzens   thun    könnte.     Aber   das  wai'  ebi«! 
ein  gar  grosser  Sehritt.      Denn  er  hätte  die  Erkenntnis  erfordert»  ' 
dass  Glaubenszwang  in  jedem  Falle,    auch    dem   Schrift glaub«^u 
an  und  für  sich,   nicht   bloss  seiner  Deutung  gegenüber, 
sinnlos    ist;    dass    gerade    der   reijie  Herzensglaube  durch  solchen 
ZwaTig   unoiöglich    gemacht    werden    kann,    und    er  es  darum  frei 
liat)en  muss,  den  Sehriftglauben  anzunehmen  oder  abzulehnen,      f 

Nur  so  wäre  auch  Luthers  Ideal  der  „geistlichen**  Gemeinde 
logisch  möglich.  Niu*  insofern  er  auf  dieses  Ideal  hinweist,  weist 
er  auch  auf  die  Roinigiujg  vom  Doguiatisnnis  hin.  Aln*r  um  atieh 
diese  zu  vollziehen,  dazu  war  eine  absolut  neue,  kritische  Betrach- 
tung erfordert,  die  Luther  nicht  leisten  konnte.  Auf  ihr  allein 
lassen  sich  seine  Hoffnungen  giünden,  mit  denen  er  von  bessereUj 
Zeiten  bessere  Aussichten  für  die  Kirche  erwartet. 


;« 


§  13. 
Rückblick. 
Wir  sind  am  Ende  der  Darstellung  von  Luthers  sittlich-rd 
giösen  Ideen,  soweit  sie  für  uns  von  Bedeutung  und  Interessl 
sind.  Del*  Kefurniator  selbst  hat  sie  in  keinem  systematisebeE' 
Zustimmenhange  dargelegt.  Sow^eit  sie  in  nuserer  Behandlim^ 
systematisch  anfgetuuit  erîicheinen,  ist  dieser  Aufbau  nuser  Ver- 
such. Kr  wird  indes  getûgnet  gewesen  sein,  zu  zeigen,  dass  die 
einmal  gegebenen  Gedanken  Luthers  in  gewisser  Weise  doch  eiüer_ 
systematischen  Formung  fähig  sind. 


Luther  und  Kant,  425 

Fassen  wir  noch  einmal  knapp  in  wenig  Sätzen  alles  zu- 
sammen, als  möglichst  einheitliches  Resultat,  was  wir  aus  den 
vorangehenden  Untersuchungen  entnehmen  können,  so  dürfen  wir 
kurz  sagen: 

Das  Bedeutsame  an  Luthers  That  liegt  in  seiner  Glaubens- 
dee,  die  ausser  dem  theoretischen  Fürwahrhalten  dogmatischer 
$ätze  die  rein-praktische  Bestimmungsfunktion  des  persönlichen 
äerzensglaubens,  der  guten  Gesinnung  in  sich  schliesst.  In  diesem 
st  sowohl  ein  Glaubensprinzip  gewonnen,  insofern  von  ihm  auch 
1er  theoretische  inhaltliche  Glaube  seinen  Wert  erhält  (mag 
^derspruchsvoller  Weise  auch  das  Wertabhängigkeitsverhältuis 
^eder  umgekehrt  werden);  als  auch  ist  in  ihm  ein  sittliches  Prin- 
rip  des  Handelns  gegeben,  insofern  von  der  guten  Gesinnung  dem 
Blauben  allein,  und  nicht  vom  äusseren  Werk  und  Erfolg  der 
Wert  der  Handlung  abhängig  gedacht  wird.  Dieses  sittliche  Prin- 
âp  entrückt  auf  der  einen  Seite  die  Persönlichkeit  der  Autorität 
and  stellt  sie,  trotz  der  auch  in  ihr  thätigen  göttlichen  Allwirk- 
samkeit, frei  und  selbständig  auf  sich  selbst  und  ihre  sittliche 
Eigenkraft.  Auf  der  anderen  Seite  entrückt  sie  aber  den  Wert 
der  Handlung  aller  individuellen  Willkühr.  Denn  sittliche  Selb- 
ständigkeit der  Persönlichkeit  ist  noch  lange  nicht  persönliche 
Willkühr.  Wertvoll  wird  nämlich  die  Handlung  erst  durch  eine 
überpersönliche  Beziehung,  welche  die  freie  sittliche  Persönlich- 
keit selbst  vollzieht;  durch  eine  über  diese  hinausweisende  Be- 
ziehung auf  eine  höhere  allgemeine  Instanz.  Diese  Instanz  ist 
für  Luther  der  göttliche  Wille.  Und  die  Selbständigkeit  der  Per- 
sönlichkeit gründet  sich  darauf,  dass  sie  den  Entscheid  darüber, 
was  dieser  höheren  Instanz  des  göttlichen  Willens  gemäss  sei, 
sich  nicht  durch  äussere  autoritative  Bestimmungen  geben  lässt, 
sondern  in  ihrem  eigenen  Innern  durch  den  Ausspruch  des  Ge- 
wissens empfängt. 

Die  Übereinstimmung  des  persönlichen  Willens  mit  dem  gött- 
lichen Willen,  und  zwar  um  dessen  selbst  willen,  und  aus  keinem 
Grninde  sonst,  ist  das  höchste  Ziel  des  menschlichen  Handelns. 
Damit  werden  abgewiesen  als  sittliche  Bestimmungsmomente  alle 
Motive,  die  sich  jene  Einheit  und  Einstimmung  nicht  um  ihrer- 
äelbstwillen  zum  Ziele  setzen,  sei  es,  dass  sie  von  vornherein 
nichts  anderes  als  die  Befriedigung  selbstischer  Wünsche  suchen, 
dass  von  vornherein  der  Mensch  nur  „das  Seine  sucht**,  sei  es, 
dass   er  es   auf  dem  Umwege  jener  Übereinstimmung,   durch  die 


426  B.  Banch, 

Vorstellnngen  von  Lohn  ODd  Strafe  bewogen,  begehrt,  dassa 
also  das  auf  der  Überemstiinmong  seines  Willens  mit  dem  gfitlr 
liehen  Willen  beruhende  Wohlgefallen  Gottes  nicht  in  freier  Lid)e 
als  seines  Handelns  höchsten  und  letzten  Zweck,  sondern  als 
blosses  Mittel  für  seine  eigenen  selbstischen  diesseitigen  oder  jen- 
seitigen Absichten  betrachtet.  Ein  Gebahren,  das  sich  selbst  auf- 
hebt, da  ihm  die  göttliche  Wohlgefälligkeit  versagt  bleibt 

Verwirklichen  aber  kann  der  Mensch  seine  wahre  sittliche 
Aufgabe  immer  und  überall.  Die  Wirklichkeit  und  das  Leben 
bieten  ihm  ein  unerschöpfliches  Material,  an  dem  sich  sein  prak- 
tischer Herzensglaiibe  bethätigen  kann.  Er  kann  es  vor  allem 
durch  seinen  Beruf,  der  ihn  mit  der  Menschheit  ausser  ihm  yet- 
bindet.  So  kann  er  dieser  in  neigungsloser  Liebe  dienen  und  da- 
rin seinen  wahren  Gottesdienst  erkennen  und  durch  die  VerbindnnK 
mit  dem  Nächsten  zum  gleichen  Zweck  die  grosse,  göttliche,  refr 
giöse  Gemeinschaft  bilden. 

Der  Begriff  der  Religionsgemeinschaft  hat  bei  Luther  nodi 
etwas  sehr  Schwankendes  und  Schimmerndes;  er  ist  noch  nicht 
einheitlich  gefügt  und  abgeschlossen.  Es  ringen  in  ihm  Dogmar 
tismus  und  persönlicher  Freiheitsglaube  noch  in  unausgeglichenem 
Streite.  Aber  dieses  Ringen  ist  gerade  so  bedeutungsvoll,  und  auf 
ihm  beruht  die  grossartige  historische  Wirkung  Luthers.  Der 
Dogmatismus,  der  tief  in  Luthers  Persönlichkeit  wurzelt,  ebenso 
tief,  wie  sein  heroischer  Freiheitsglaube,  ist  noch  mächtig.  Aber 
auch  dieser  heroische  Freiheitsglaube  ist  mächtig.  Er  hat  ent- 
schieden etwas  Überkonfessionelles  in  der  Idee  der  Kirche  ange- 
bahnt. Nicht  nur  der  Kult  und  die  Ordnungen  waren  erkannt  als 
das,  was  sie  sind:  als  historisch-bedingte  und  darum  historisch 
überwindbare,  überlebbare  Ausserungsformen  des  menschlichen,  ge- 
mütlichen Bedürfnisses.  Es  ist  selbst  eine  Überwindung  des 
starren  Dogmatismus  —  allerdings  nur  im  Keime  —  angelegt,  indem 
auch  die  verschiedenen  „Gemeinden",  die  sich  nicht  nur  durch 
Kult  und  „Ordnungen",  sondern  auch  durch  Dogmen  unterscheiden, 
selbst  nicht  mehr  in  schroffen  Wertabgrenzungen  gegen  einander 
gehalten  und  dem  Ideal  der  einen  „geistlichen"  Gemeinde  gegen- 
übergestellt werden.  Was  sie  aber,  da  es  Dogmen  nicht  sind,  nur 
zu  einen  vermag,  das  kann  in  letzter  Linie  doch  nur  der  reine 
Hcrzensglaube  sein,  der  sie  in  dienstbarer  Liebe  verbindet. 

Trotz  mancher,  oft  schroffer  Widersprüche  im  iänzehien, 
würden  sich   so   Luthers  Anschauungen,   wenn  der  hier  in  den 


Luther  und  Kant.  427 

{oden  der  Menschheitsgeschichte  gelegte  Keim  in  Gemässheit 
einer  Anlage  weiter  entwickelt  würde,  doch  als  Ganzes  einheit- 
ich  zusammenschliessen. 


II.  Teil. 

Die  ethischen  und  religionsphilosophischen  Prinzipien 

Kanis.  —  Der  Vergleich. 


Wir  haben  Luther  einen  Vorläufer  Kants  genannt.  In 
welchem  Sinne  und  welchem  Umfange  wir  ihn  als  solchen  ver- 
ïiehen,  haben  wir  gleich  eingangs  dargelegt.  Nun  kennen  wir 
»eine  Anschauungen.  Es  bleibt  uns,  unserer  Aufgabe  gemäss, 
mnmehr  noch  übrig,  die  Ideen  Kants  zu  entwickeln,  soweit  wir 
ron  ihnen  sagen  können,  sie  seien  durch  die  Luthers  historisch 
vorgebildet,  um  dann  durch  einen  Vergleich  die  Berechtigung  zu 
»rweisen,  Luther  die  Vorläuferschaft  Kants  zuzueignen. 

Kapitel  IV. 
Das  Prinzip  der  MoraL 
In  der  Einleitung  zur  Kritik  der  Urteilskraft,  mit  der  Kant 
lein  System  vollendet,  zusammenschliesst  und  krönt,  vollzieht  er 
lie  berühmt  gewordene  Einteilung  der  „drei  Gemütsvermögen ** 
lerart,  dass  einem  jeden  derselben  eine  seiner  drei  Kritiken  ent- 
pricht.  Dem  praktischen  Vermögen  des  Menschen,  dem  Willen, 
ntspricht  die  Kritik  der  praktischen  Vernunft.  Diese  Kritik  nun 
3t  das  Verfahren,  das  Prinzip  der  praktischen  Vernunft  aufzu- 
ecken;  sie  ist  Wissenschaft  von  der  Moral.  Nun  ist  das  Ver- 
ahren,  das  etwas  finden  soll,  und  das  was  gefunden  werden  soll 
i.  h.  Wissenschaft  und  Gegenstand  der  Wissenschaft),  nicht  eines 
nd  dasselbe.  Und  femer  ist  zwar  in  der  Konsequenz  zur  Kan- 
ischen  Lehre  alles  Wissen  auch  Thun,  aber  nicht  ist  alles  Thun 
ach  Wissen.  Deshalb  ist  auch  das  Wissen  vom  sittlichen  Handeln 
ait  dem  sittlichen  Handebi  selbst  nicht  einerlei,  und  das  Prinzip 
1er  Moral  nicht  mit  dem  Prinzip  des  Wissens  zu  verwechseln.^) 


1)  Vgl.   dazu   die  glänzende  Entwickelung,  die  Euno  Fischer  (Kant, 
IL  Bd.  S.  57  f.)  vom  „moralischen  Sinn''  giebt. 


428  B.  Banch, 

Dass  Kant,  dem  Begründer  der  kritischen  Philosophie,  die  in 
ihren  letzten  und  höchsten  Instanzen  in  jeder  Beziehung  zoifick- 
weist  auf  das  Praktische,  die  Moralphilosophie  als  praktische  Fbi- 
losophie  xar^  è^oxt^v  galt,  das  hat  seine  tiefe  Bedeutung.  Danüt 
ist  das  rein-Praktische  absolut  eindeutig  gegen  das  Theoretische 
abgegrenzt;  und  so  auch  das  Prinzip  des  rein-Praktischen  gegen 
alle  Prinzipien  sonst. 

Allgemeinheit  liegt  im  Wesen  des  Prinzips  überhaupt.  Es 
bezeichnet  nie  etwas  Einzelnes,  sondern  ist  immer  der  Ausdruck 
eines  Mannigfaltigen,  und  zwar  eines  zur  Einheit  geschlossenen 
Mannigfaltigen,  also  einer  Totalität.  Was  nun  unter  das  PrinzQ 
schlechthin  fällt,  von  dem  sagen  wir:  dass  es  (irgendwie)  ist; 
was  aber  unter  das  rein-praktische  Prinzip  fällt,  von  dem  sagen 
wir,  dass  es  sein  soll.  Darum  fasst  es  nicht  eine  Sphäre  de8 
Seins  oder  das  Sein  schlechthin  unter  sich,  sondern  das  Sollen: 
nicht  was  ist,  noch  was  geschieht,  sondern  was  geschehen  soll; 
mithin  nicht  die  unbewusst  und  blind  wirkende  Natur,  sondern  den 
planvoll  wirkenden,  vernünftigen  WUlen  und  die  aus  ihm  fliessen- 
den Handlungen.  Wir  haben  es  mit  keinem  Seinsprinzip,  sondern 
mit  einem  Wertprinzip  zu  thun,  das  über  den  Wert  oder  Unwert 
der  menschlichen  Handlungen  entscheidet. 

Wenn  das  ethische  Prinzip  die  Kraft  dieser  Entscheidung 
haben  soll,  und  wenn  an  ihm  Wert  und  Unwert  unserer  Handlungen 
gemessen  werden  sollen,  müssen  wir  an  ihm  eine  sichere  Bicbt- 
schnür  besitzen,  und  es  muss  sich  selbst  auf  einen  einfachen  Aus- 
druck bringen  lassen. 

Kant  hat  nun  die  beiden  von  vornherein  nur  denkbaren 
Versuche,  es  zu  bestimmen,  erörtert.  Der  eine  hat  die  Tendenz, 
das  Prinzip  ans  der  Erfahrung  zu  bestimmen;  er  erweist  sich  als 
absurd.  Der  andere  will  es  aus  der  Vernunft  ableiten.  Er  allein 
ist  möglich.  An  dem  einen  können  wir  lernen,  wie  das  Moral- 
prinzip nicht  bestimmt  werden  kann.  Der  andere  zeigt,  wie  allein 
es  bestimmt  werden  soll. 


§  14. 
Die  negative  Bestimmung  des  Sittengesetzes. 
Es   scheint   von   vornherein   denkbar,   an  der  Hand  der  Er- 
fahrung einen  allgemeingiltigen  Massstab  für  das  sittliche  Handeln 
gewinnen  zu  wollen.    Wenn  mau  aber  näher  zusieht  und  sich  be- 


Luther  und  Kant.  429 

nisst  bleibt,  was  man  damit  will  und  meint,  so  zeigt  sich  gleich 
ie  Unmöglichkeit  des  Beginnens. 

Wir  erinnern  uns  ja,  dass  das  Prinzip  der  Moral  nie  ein 
leiu  und  Geschehen,  sondern  lediglich  ein  Sollen  zum  Ausdruck 
»ringen  muss.  Nun  zeigt  uns  die  Erfahrung  aber  immer  nur  was 
3t  und  geschieht,  nie  jedoch,  was  sein  und  geschehen  soll.  Wir 
:önnten  im  günstigsten  Falle  theoretisch  ein  Naturgesetz  entdecken» 
,nach  welchem  wir",  wie  Kant  sagt,  „handeln  zu  dürfen  Hang 
ind  Neigung  haben",  aber  kein  praktisches  Prinzip,  „nach  welchem 
vir  angewiesen  wären  zu  handeln,  wenngleich  aller  unser  Hang, 
S[eigung  und  Natureinrichtuug  dawider  wäre."  ^)  Wir  würden  uns 
n  der  Betrachtungsweise  der  „empirischen  Seelenlehre,  welche  den 
zweiten  Teil  der  Naturlehre  ausmachen  würde,  wenn  man  sie  als 
Philosophie  der  Natur  betrachtet,  sofern  sie  auf  empirischen  Ge- 
setzen gegründet  ist",  ^  halten,  aber  nicht  zu  praktischen  „objek- 
tiven Gesetzen"  gelangen. 

Die  psychologisch-genetische  Methode  wird  also  streng  von 
ier  ethisch-kritischen  geschieden  und  für  die  Begründung  eines 
Moralprinzips  für  unzulänglich  befunden.  Wir  könnten  mit  dieser 
kurzen  Bemerkung  sofort  unsere  Untersuchung  über  das  empirische 
Verfahren  einstellen,  da  wir  wissen,  dass  Kant  es  abgelehnt  hat. 
Nur  hat  er  selbst  sich  so  nachdrucksvoll  mit  einer  Spezies  der 
empirischen  Betrachtung,  und  zwar  der  einzigen  Spezies,  zu  der 
diese  Betrachtung  führt,  dem  Eudaimonismus,  aus  einander  gesetzt, 
lass  wir  uns  damit  noch  etwas  eingehender  zu  beschäftigen  haben. 

Will  das  empirische  Verfahren  ein  Gesetz  finden,  nach  dem 
mr  erfahrungsgemäss  handeln,  so  muss  es  auf  das  Subjekt  in 
feiner  Wechselbeziehung  zu  den  Objekten,  den  Gegenständen  der 
Erfahrung,  unter  denen  es  selber  ja  auch  ein  Erfahrungsgegen- 
itand  ist,  achten.  Und  es  lässt  sich  in  der  That  leicht  ein  solches 
îesetz  ausfindig  machen.  Denn  es  zeigt  sich  :  „Der  Bestimmungs- 
rrund  der  Willkühr  ist  alsdann  die  Vorstellung  eines  Objekts, 
vodurch  das  Begehrungsvermögen  zur  Wirklichmachung  desselben 
gestimmt  wird.  Ein  solches  Verhältnis  aber  zum  Subjekt  heisst 
lie  Lust  an  der  Wirklichkeit  eines  Gegenstandes."^    Diese  „Lust 


1)  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  S.  273  (im  IV.  Band  der 
2.  Hartensteinschen  Ausgabe,  nach  der  ich  Kant  immer  zitieren  werde). 

2)  a.  a.  O.  S.  275. 

^  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S.  21  f.    (IV.  Bd.  der  2.  Harten- 
steinschen Ausgabe.) 


430  B.  Baaeh, 

ans  der  VorsteUung  der  Existenz  einer  Sache*",  deren  Begehnmg 
mit  dem  ^Bewnsstsein  eines  Temünftigen  Wesens  Ton  der  An- 
nehmlichkeit des  LebeDs""  einerlei  ist,  ist  die  „Glückseligkeit''  und 
das  „Prinzip,  diese  sich  zum  höchsten  Bestimmongsgronde  zu 
machen,  das  Prinzip  der  Selbstliebe''.  ^ 

Die  natürliche  Motivierong,  um  deren  Aufdeckung  es  sich 
für  die  empirische  Betrachtung  handelt,  wäre  die  in  dem  Streben 
nach  Glückseligkeit  sich  äussernde  Selbstliebe.  Mit  dieser  Auf- 
deckung aber  ist  gar  nichts  erreicht.  Denn  da  das  Glückselig- 
keitsstreben  Naturgesetz  ist,  so  wäre  ein  Gebot,  nach  Glückseligkeit 
zu  streben  —  alle  Moral  involviert  ein  Gebot,  also  auch  die  Moral, 
die  die  Glückseligkeit  zu  ihrem  Prinzip  macht,  —  überflüssig  und 
darum  thöricht,  weil,  wie  gleich  gesagt,  nicht  geboten  zu  werden 
braucht,  was  sowieso  geschieht.  „Fin  Gebot,  dass  jedermann  sich 
glücklich  zu  machen  suchen  sollte,  wäre  thöricht,  denn  man  ge- 
bietet niemals  jemandem  das,  was  er  schon  unausbleiblich  von 
selbst  will,"  sagt  Kaut.«) 

Nun   könnte   ein  Vertreter   des   Glückseligkeitsprinzips   ein- 
wenden :  für  so  plump  solle  man  diese  Theorie  nicht  halten.    Frei- 
lich  sei  es  thöricht,  Jemandem  das,    was  er  schon  unausbleibUch 
von  selbst   will,"    zu  gebieten,    und  ihm  darum  zu  raten,   er  solle^-=- 
„sich  glücklich  zu  machen  suchen".    Nein,  es  komme  der  Theories^ 
nicht  bloss  darauf  an,  dass  einer  sich  glücklich  zu  machen  suche^ 
sondern   zu   finden,    was   den    Menschen   glücklich   mache.     Da^ 
muss  sich   allerdings  von  selbst  verstehen,    da  es  ja  in  der  Moraft^ 
immer  auf  die  Verwirklichung  des  Prinzips  ankommt. 

Mau  sieht:  die  Theorie  will  und  kann  nicht  rechnen  mit  der — 
Glückseligkeit  überhaupt,  als  der  motivierenden  Wechselwirkung^^ 
zwischen  Subjekt  und  Objekt,  sondern  mit  individuellen  Modifika — 
tionen  jenes  Prinzips,  d.  h.  mit  konkreten  einzelnen  Wirklich — 
keiten.  Dann  aber  rechnet  sie  mit  —  irrationalen  Grössen.  »Ess» 
kann  von  keiner  Vorstellung  irgend  eines  Gegenstandes,  welch^^ 
sie  auch  sei,  a  priori  erkannt  werden,  ob  sie  mit  Lust  oder  Un^ — 
lust  verbunden,  oder  indifferent  sein  werde."*)    Das  gilt  für  Kan^Ä 


\ 


1)  Ebenda. 

>)  n.  a.  0.  S.  39.  Eine  ausführlichere  Darlegung  von  Kants  Strllnn  ^^ 
r.um  Kudttimonismus  findet  man  in  meiner  Schrift:  Gltlckaeligkeit  ui^^ 
IVwOnlichkeit  in  der  kritischen  Ethik  (Stuttgart  1902  bei  FrommanEmj 
v^l.  boNonders  §  8. 

»)  II.  a.  ().  S.  22. 


Luther  und  Kant.  481 

auf  der  einen  Seite  von  der  Vorstellung  irgend  eines  Objekts,  und 
es  gilt  deswegen,  weil  er  vom  Subjekt  weiss:  „Worin  nämlich 
jeder  seine  Glückseligkeit  zu  setzen  habe,  kommt  auf  jedes  sein 
besonderes  Gefühl  der  Lust  und  Unlust  an,  und  selbst  in  einem 
und  denselben  Subjekt  auf  die  Verschiedenheit  der  Bedürfnis,  nach 
der  Abhänderung  dieses  Gefühls."  ^) 

So  liegt  gerade  in  der  Verschiedenheit  der  Individualitäten, 
die  uns  die  erfahrbare  Wirklichkeit  bietet,  mit  Notwendigkeit  die 
Verschiedenheit  der  Lustmotive  begründet.  Der  eine  sucht,  was 
der  andere  flieht.  Der  liebt  den  Gegenstand,  den  sein  Nachbar 
hasst.  Was  den  einen  freut,  schmerzt  den  anderen.  So  verschie- 
den die  Menschen  von  einander  sind,  so  verschieden  ist  notwendig 
ihr  Begehrungsverhältnis  zu  den  Gegenständen. 

Entweder  also  gebietet  die  Glückseligkeitstheorie  dem 
Menschen  etwas,  das  sie  ihm  nicht  zu  gebieten  braucht,  weil,  was 
sie  ihm  gebietet,  in  seiner  Natur  liegt  und  er  schon  deshalb 
danach  trachtet;  oder  sie  gebietet  ihm  etwas,  was  sie  ihm  nimmer- 
mehr gebieten  kann,  sobald  sie  sich  aus  dem  Vagen  und  Allge- 
meinen herausbegiebt,  und  glaubt  spezifizieren  zu  können,  was 
sich  nie  spezifizieren  lässt  Am  Individuellen  findet  diese  Kunst 
ihr  Ende.  Alle  Kraft  der  Analyse  und  Konstruktion  versagt,  so- 
bald es  nicht  bloss  auf  das  Streben  nach  Glückseligkeit  ankommen 
soll,  sondern  auch  auf  deren  Verwirklichung.  Die  Allgemeinheit 
des  Prinzips  müsste  scheitern  an  der  Besonderheit  des  Einzelnen. 
Und  selbst  in  keinem  einzigen  besonderen  Falle  auch  nur  könnte 
der  Einzelne  der  wirklichen  Durchsetzung  seiner  Selbstliebe  sicher 
sein.  Denn  er  müsste  ja  nicht  nur  für  den  einzelnen  Fall  volle 
Glücksgewähr  haben,  sondern,  wenn  ihm  an  der  Verwirklichung 
seines  Prinzips  etwas  gelegen  ist,  zugleich  alle  möglichen,  aus 
dem  einen  Falle  fliessenden  Folgen  mit  übersehen,  damit  diese 
ihm  nicht  eine  viel  grössere  Unlust  durchs  ganze  Leben  eintrügen, 
als  die  Grösse  jener  momentanen  Lust  ausmachte.  Diese 
Schwierigkeit  erweist  sich  sofort  als  absolute  Unmöglichkeit,  wenn 
man  bedenkt,  dass  das  Absehen  der  Folgen  eines  einzigen  Be- 
gebrens ins  Unendliche  führen  muss  und  eigentlich  die  Kenntnis 
aller  Naturzusaramenhänge  in  ihrem  Verhältnis  von  Ursache  und 
Wirkung,  also  den  allgemeinen  Wechselzusammenhang  zwischen 
dem  Subjekt,  dem  begehrten  Objekt  und  allen  übrigen  Dingen  er- 


1)  a.  a.  O.  S.  26. 

KftoUtodton  IX.  28 


432  B.  Baach, 

fordert.  „Was  wahren  daaerhaften  Vorteil  bringe, *"  sagt  dämm 
Kant,  ,,ist  allemal,  wenn  dieser  anf  das  ganze  Dasein  erstreckt 
werden  soll,  in  undurchdringliches  Dunkel  gehüllt"  .  .  .  weil  es 
„auf  die  Kräfte  und  das  phj'sische  Vermögen,  einen  begehrten 
Gegenstand  wirklich  zu  machen,*"  ankommt.^) 

Wie  also  die  empirische  Bestimmnngsweise  der  Glückselig- 
keitsethik sich  auch  immer  stelle,  sie  ist  und  bleibt  absurd.  Sie 
hat  nicht  einmal  zwischen  den  beiden  Absurditäten,  die  überhaupt 
einem  Gebote  anhaften  können,  die  Wahl  :  entweder  etwas  zo  ge- 
bieten, das  soT^ieso  geschieht,  oder  etwas,  was  niemals  geschehen 
kann.  Vielmehr  haften  ihr,  wenn  sie  sich  nur  selbst  versteht, 
beide  Absurditäten  an. 

§  15. 
Die  positive  Bestimmung  des  Sittengesetzes. 
Die  Erfahrung  und  die  ganze  Welt  der  Dinge  und  Objekte 
ist  nicht  fähig,  dem  Subjekte  ein  Gebot  zu  liefern,  das  ihm  sagte: 
—  nicht  was  da  sei,  denn  das  wäre  kein  Gebot,  sondern  eine 
Thatsächlichkeitsangabe,  sondern  —  was  sein  solle,  was  allge- 
meiugiltig  sei.  Ausser  uns  finden  wir  diese  Norm  nicht;  und  da 
von  vornherein  nur  die  beiden  Möglichkeiten  bestehen,  dass  das 
sittliche  Prinzip  aus  der  Materie  des  Begehrens,  d.  i.  aus  d^ 
Gegenständen  der  Erfahrung  und  unserem  llotivationsyerhältnis 
zu  ihnen,  also  empirisch  gewonnen  werde,  oder  dass  die  Vernunft 
a  priori  einen  .zur  Willensbestimmung  hinreichenden  Grund  in 
sich  enthalten  könne'';-)  und  die  erste  begriffliche  Möglichkeit 
sich  als  reale  Unmöglichkeit  erweist,  so  bleibt  nur  die  zweite 
übrig.  Zugleich  ist  damit  klar:  ,,Wenn  ein  Temünfüges  Wesen 
sich  seine  Maximen  als  praktische  allgemeine  Gesetze  denken  soll, 
so  kann  es  sich  dieselben  nur  als  solche  Prinzipien  denken,  die 
nicht  der  Materie,  sondern  bloss  der  Form  nach,  den  Bestimmungs- 
grund dos  Willens  enthalten**.')  Das  ist  deswegen  klar,  weil  wir 
material,  d.  i.  aus  den  Gegenständen  der  Erfahrung  kein  allge- 
inoingiltigi^s  IMnzip  zu  finden  vermochten.  ^Nun  bleibt  von  emem 
iiesot/o.  wenn  man  alle  Materie,  d.  i.  Jeden  Gegenstand  des 
W'illons    i^als    Hostimmuugsgrund   des   WUlens)    davon   absondert, 


h  a.  rt,  O.  S,  8», 

*»)  Kritik  dor  praktischen  Vernunft  S.  19. 

»^  a   a.  O.  S.  :îS, 


Luther  und  Kant.  433 

nichts  übrig,  als  die  blosse  Form  einer  allgemeinen  Gesetzgebung. 
Also  kann  ein  vernünftiges  Wesen  sich  seine  subjektiv-praktischen 
Prinzipien,  d.  i.  Maximen,  entweder  gar  nicht  zugleich  als  allge- 
meine Gesetze  denken,  oder  es  muss  annehmen,  dass  die  blosse 
Form  derselben,  nach  der  jene  sich  zur  allgemeinen  Gesetzgebung 
schicken,  sie  für  sich  allein  zum  praktischen  Gesetz  mache."») 

Was  das  nun  positiv  und  nicht  bloss  in  der  negativen  Ab- 
grenzung gegen  die  materiale  Bestimmung  des  Willens  bedeutet: 
die  „blosse  Form  einer  allgemeinen  Gesetzgebung"  müsse  für  sich 
zur  Willensbestimmung  hinreichend  sein,  versteht  sich  schon  wieder 
aus  der  anderen  Formulierung,  dass  „reine  Vernunft  einen  prak- 
tisch, d.  i.  zur  Willensbestimmung  hinreichenden  Grund  in  sich 
enthalten"  müsse,  wenn  eine  praktische  Gesetzgebung  überhaupt 
möglich  sein  soll.  Die  Vernunft  müsste  demnach  unabhängig  von 
aller  Bestimmung  durch  Gegenstände  rein  für  sich  das  Prinzip  des 
sittlichen  Handelns  liefern  können  ;  das  und  nichts  anderes  bedeutet 
die  rein  formale  praktische  Gesetzgebung.  Wenn  keine  materiale 
EIrfahrung  mit  allen  ihren  Gegenständen  uns  eine  Idee  und  Vor- 
stellung des  sittlichen  Prinzips  geben  kann,  so  folgt,  „dass  alle 
sittlichen  Begriffe  völlig  a  priori  in  der  Vernunft  ihren  Sitz  und 
Ursprung  haben,  und  dieses  zwar  in  der  gemeinsten  Menschenver- 
nonft  ebensowohl,  als  der  im  höchsten  Masse  spekulativen."^) 

Dabei  ist  aber  eine  Voraussetzung  implizite  gemacht,  näm- 
lich die,  dass  es  überhaupt  solche  „sittlichen  Begriffe"  giebt. 
Aber  das  ist  nach  Kant  eine  absolut  notwendige  Voraussetzung, 
die  ihr  volles  Recht  hat.  Denn  die  „sittlichen  Begriffe"  sind  ein- 
fach etwas  nicht  wegzuvemünftelndes,  sind  „unleugbar"  ^)  und 
jeder  Versuch,  sie  hinwegzuvemünfteln,  würde  sie  schon  wieder 
voraussetzen. 

Es  kann  sich  also  nur  noch  darum  handeln,  sie  auf  einen 
einfachen  Ausdruck  zu  bringen,  also  das  Prinzip  zu  formulieren. 
Dieses  kann,  seiner  formalen  Bestimmungsweise  nach,  nichts 
anderes  besagen,  als  dass  jedes  vernünftige  Wesen  sein  Handeln, 
der  Allgemeinheit  des  Prinzips  gemäss,  so  einrichte,  dass  es  auch 
verdiene,  von  allen  als  sittlich  wertvoll  anerkannt  zu  werden. 

Dass  jeder  sollte  ebenso  handeln  wollen,  wie  wir,  davon 
also    müssen    wir    unerschütterlich   überzeugt    sein,    um   unserem 

1)  Ebenda. 

^  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  S.  259  f. 

8)  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S.  3.3. 

28* 


434 


B.  Baiïch, 


HandelD   selbst   sittlidieü  Wert  beimessen  zu  köeiien.     Aus 
Überzeugung   alleiti    haiuleln,    heisst  um  des  Sittengesetzes  mWm 
harnîeln.     So    hesagt    tlenii    dieses  „Grundgesetz    der  reinen  i>rak-j 
tischeo    Vt^niunft^*    nichts    Anderes^    als:     „Handle    so,    dass  dlÄ 
Maxime    deines  Willens    [ederzeit  zugleich  als  Prinzip  einer  hl\gd> 
meinen  Gesetzgebung   gelten   könne.**  *)     Dieser  „kategorische  Ini- 
pei-ativ**   —   „kategurisrb"     im    Gegensatz    zn    der   muralisch-iuixu-- 
reicbenden,    nur   bypüthetiselien    Anrätigmachung   des    Glückselig"- 
keitsstre!>eus    und    der  Selbstliebe  —  bedeutest  also,    dass  wir  uw 
um    seiner    sittlichen  Bestimnnuig   willen,    deren  wir  inne  wenieii, 
und     aus     keinem    anderen    Grunde    handeln    sollen    und    haiièhi 
dürfen,    sofern    wir  für  unser  Thun  und  Lassen  den  Ansprach  aui     , 
Sittlichkeit  erheben.  H 

Damit    ist   das  Prinzip    und    das  Gesetz  gefunden,    das  übtr 
allen    unseren    einzelnen  Handlungen   steht  und  ihnen  üu-en  Weit^ 
bestimmt,  als  „eine  Regel,  die  diu*ch  ein  Sollen,  welche  die  objel^J 

rill        ' 


len     1 
dififl 

r  ' 

"'  1 


Darin 


tive  Nötigung  des  Handelns  ausdrückt,  bezeiclmet  wirtl*'-^) 
liegt  das  „Kategorische**. 

Aber   wii'    dürfeu    damit   nicht   etwa  das  Moralgesetz  selbst 
deduziert    und   begründet    zu    haben    meinen.      Es  ist  selbst  allfll 
Gi'ünde  Grund,  und  darum  nicht  auf  Gründe  ausser  ihm  zurwckz«-' 
fuhren  und  aus  ihnen  zu  deduzieren      Wir  haben  es  nur  auf  einea j 
deutlichen  Ausdruck    zu    bringen    versucht,    indem    wir  die  in  dfl^f 
Vernunft    ihren  Sitz    und  Ursprung    habenden    Begriffe,    die  nacli" 
Kant  eben  etwas  schlechthin  Unleugbares  sind,  in  Einheit  zu  diesem 
tresetze   brachten.    Dieses   ist  also  nichts  Anderes,    wie  die  ^silt- 
liclien  Begriffe^  überhaupt,  es  ist  nur  ihr  klarer,  bestimmter  Aîis- 
<lruck,  und  darum,  wie  sie  selbst,  etwas  Unleugbares.     Es  ist  alsfl 
„citj  Faktum  der  reinen  Vernunft",  »)  das  schlechtweg  „unleugbar', 
nicht    beweisbar,    sondern    hüchstens    aufweisbar   ist.^)     Um  akr 
aHen  Wissverständnissen  vorzubeugen,  muss  man  jedoch  „wohl  h^ 


iii4?rki?n:  dass  es  kein  empirisches,  sondern  das  einzige  FaktiiiBj 
di^r  reinen  Vernunft  sei,  die  sich  dadurch  als  ursiuiinglich  gest^tSB^ 
gelKMid  (sie  volo»    sie  jubeo)  ankündigt."-*)     Schon  diese  eine  F«r- 


I)  tL  n.  O.  S.  32. 
«)  II.  tk,  ().  S.  20. 

•>  rt.  It,  c>,  s.  a^. 

*l  Um  und  die  Unleiigbarkeit   des  SoJleiiB  habe  icji  selbst  in  meiner 
§*fWlïUulvu  Hvhnît  «tifgé wiesen,  V|^L  §  2. 

";  krilik  der  pruktischen  Vt^ruunft  S.  33. 


À 


Luther  und  Kant.  435 

malierung  hätte  Schopenhauer  vor  seinem  recht  groben  Missver- 
ständnis bewahren  müssen,  das  wir  an  einem  anderen  Orte  bereits 
früher  gerügt  haben.  ^)  Hier  zeigt  sich  deutlich,  wie  scharf  Kant 
das  „Faktum  der  reinen  Vernunft"  vom  „Faktischen"  im  Sinne 
des  „empirisch-Realen",  womit  Schopenhauer  es  verwechselt,  unter- 
schieden wissen  will;  dass  es  dem  „Faktum  der  reinen  Vernunft" 
gar  nicht  beifällt,  „substanzieller  werden  zu  wollen",  wie  Schopen- 
hauer sagt.  Seine  Faktizität  besteht  eben  in  seinem  Gelten.  Die 
Âllgemeingiltigkeit  des  Moralgesetzes,  und  nur  sie  allein,  ist  nach 
Kant  das  „unleugbare"  und  „unabweislich"  sichere  „Faktum  der 
reinen  Vernunft". 

Es  ist  „das  moralische  Gesetz  gleichsam  als  ein  Faktum  der 
reinen  Vernunft,  dessen  Avir  uns  a  priori  bcwusst  sind,  und  welches 
apodiktisch  gewiss  ist,  gegeben,  gesetzt,  dass  man  auch  in  der 
Erfahrung  kein  Beispiel,  da  es  genau  befolgt  wäre,  auftreiben 
könnte.  Also  kann  die  objektive  Realität  des  moralischen  Gesetzes 
durch  keine  Deduktion,  durch  alle  Anstrengung  der  theoretischen, 
spekulativen  oder  empirisch  unterstützten  Vernunft  bewiesen  und 
also,  wenn  man  auch  auf  die  apodiktische  Gewissheit  Verzicht 
thuu  wollte,  durch  Erfahrung  bestätigt  und  so  a  posteriori  be- 
wiesen werden,  und  steht  dennoch  für  sich  selbst  fest.**«) 

Wenn  wir  uns  nun  weiter  die  Beziehungen  des  Einzelnen 
zum  allgemeinen  Gesetz,  der  wirklichen  Persönlichkeit  zu  ihrer 
idealen  sittlichen  Aufgabe  ansehen  und  fragen:  was  wird  dem 
Menschen  durch  seine  moralische  Bestimmung  nun  eigentlich  zu 
thuu  auferlegt,  so  finden  wir,  dass  wir  darauf  keine  andere  Ant- 
wort mehr  zu  geben  haben,  als  wir  sie  schon  in  den  vorhergehen- 
den Bemerkungen  besitzen. 

Denn  einen  Inhalt  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  hat 
das  Moralgesetz  nicht.  Es  sagt  keinem:  thue  dies  und  lasse 
jenes,  wie  das  Staatsgesetz  den  Staatsbürgern,  oder  wie  der 
Lehrer  seineu  Schülern  Gebote  und  Verbote  giebt.  Alles,  was  es 
vom  Einzelnen  verlangt,  ist:  seine  Maxime  dem  sittlichen  Gebote 
unterzuordnen.  Was  sittliches  Gebot  darum  im  einzelnen  Falle 
sei,  das  ist  so  verschieden,  wie  eben  alle  einzelnen  Fälle  der 
Wirklichkeit  selbst,    und    kann   nur   bestimmt   werden   durch  den 

1)  Schopenhauer,  Die  Grundlage  der  Moral  S.  144.  (III.  Bd.  der 
Grisebachschen  Ausgabe);  auch  dazu  vergleiche  ^Glückseligkeit  und  Per- 
sönüchkeit  in  der  kritischen  Ethik*  S.  27  f. 

^  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S.  50. 


4;{f)  B.  Baoch, 

AnHHproch  des  Gewissens  jedes  einzelnen  Vennurftwesens.  Diese 
ßestimmnng  geht  lediglich  dahin,  das  Gute  zu  wollen,  eben  weil 
m  gut  ist,  und  weil  die  Vernunft  es  ffir  gut  erkennt.  Das  Gute 
jirt  also  der  ^alleinige  Gegenstand  der  reinen  praktischen  Vernunft,**) 
der  einzige,  aber  selbst  nicht  inhaltlich  bestimmbare  lohalt 
den  Sitten gesetzes,  der  Ausdruck  dafür,  dass  das  Vemunft- 
Wf^m  .aus  Pflichf"')  und  aus  keinem  anderen  Grande,  als  um 
der  I'flicht  willen,  lediglich  um  des  Gesetzes  willen,  «ans  Achtung 
für«  Gesetz*"^)  handeln  solle;  eben  jenes  ungeschriebenen  Gesetzes 
willen,  das  da  sagt:  «ich  soll  niemals  anders  yerfahren,  als  so, 
Aahh  ich  auch  wollen  könne,  meine  Maxime  solle  ein  allgemeines 
Gfîsetz  werden."*)  Die  Maxime  aber  soll  sein:  zu  handeln,  wie 
die  Pflicht  es  gebeut.  ,.Es  kann  daher  nichts  Anderes,  als  die 
Vorstellung  des  Gesetzes  an  sich  selbst,  die  freilich  nur  in  ver- 
nünftigen Wesen  stattfindet,  sofern  sie,  aber  nicht  die  yerhoffte 
Wirkung,  der  Bestimroungsgrund  des  Willens  ist,  das  so  vorzüg- 
liche Gute,  welches  wir  sittlich  nennen,  ausmachen,  welches  in  dei* 
Person  selbst  schon  gegenwärtig  ist,  die  darnach  handelt,  nichtL 
aber  allererst  aus  der  Wirkung  erwartet  werden  darf."*) 

Und  eben  deshalb  kommt  es  nicht  an  „auf  die  Handlungen  ^^ 
die  man  sieht,  sondern  auf  jene  inneren  Prinzipien  derselben,  di^^ 
man  nicht  sieht. ''^)  Das  heisst:  Das  vorzügliche  Gute  in  de^c: 
Person   ist  der  Wille.     „Der  gute  Wille  ist  nicht  durch  das,    wa^s 

er  bewirkt  und  ausrichtet,  nicht  durch  seine  Tauglichkeit  zur  Ei 

reichung  irgend  eines  vorgesetzten  Zwecks,  sondern  allein  durcKn 
das  Wollen,  d.  i.  an  sich  gut."^)  Nicht  der  Erfolg,  sondern  allei»J 
die  Gesinnung  entscheidet  über  den  moralischen  Wert;  und  dies^:x* 
kommt  allein  dem  guten  Willen  der  Persönlichkeit  zu.  Er  i^1 
überhaupt  das  Einzige,  das  gut  genannt  zu  werden  verdient.  „E^s 
ist  überall  nichts  in  der  Welt,  ja  überhaupt  auch  ausser  derselbe«^  11 
zu  denken  möglich,  was  ohne  Einschränkung  für  gut  könnte  ge- 
halten werden,  als  allein  ein  guter  Wille."») 


1)  a.  a.  O.  S.  61  f. 

^  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  S.  246. 

3)  a.  a.  O.  S.  249. 

4)  a.  a.  O.  S.  250. 
»)  Ebenda. 

^  a.  a.  O.  S.  255. 
7)  a.  a.  O.  S.  242. 
»)  a.  a.  O.  S.  241. 


Lather  und  Kant.  437 

Somit  wird  „der  Wille  als  ein  Vermögen  gedacht,  der  Vor- 
stellung gewisser  Gesetze  gemäss  sich  selbst  zum  Handeln  zu  be- 
stimmen". *)  Ein  solcher  Wille,  der  unabhängig  von  allen  die 
Selbstsucht  und  die  Eigenliebe  bestimmenden  Objekten  ist  und 
sich  lediglich  selbst  bestimmt,  um  des  Sittengesetzes  willen,  der 
also,  indem  er  Wollen  und  Sollen  in  Übereinstimmung  bringt,  und 
zwar  nicht  zufällig,  sondern  mit  Absicht  und  Bewusstsein  in 
Übereinstimmung  bringt,  also  sich  selbst  das  Gesetz  giebt,  heisst 
ein  autonomer  Wille.  Denn  „Autonomie  des  Willens  ist  die  Be- 
schaffenheit des  Willens,  dadurch  derselbe  ihm  selbst  (unabhängig 
von  aller  Beschaffenheit  der  Gegenstände  des  WoUens)  ein  Gesetz 
ist".*)  Und  sie  ist  darum  „oberstes  Prinzip  der  Sittlich- 
keit".^ Zu  ihr  gehört  selbständige  bewusste  Absicht,  das  Sollen 
zu  realisieren,  damit  die  Handlung  moralisch  sei.  Sonst  ist  die 
Übereinstimmung  der  Handlung  mit  dem  Sittengesetz  —  wenn  sie 
stattfindet  —  eine  zufällige,  in  dem  äusseren  Effekt,  auf  den  es 
gar  nicht  ankommt,  und  nicht  in  der  Maxime,  auf  die  alles  an- 
kömmt, liegende.  Die  Handlung  selbst  wäre  nicht  moralisch,  son- 
dern „legal".*)  Sie  wäre  ebensowenig  moralisch,  wie  diejenige, 
die  das  handelnde  Subjekt  in  seiner  Abhängigkeit  von  den  Ob- 
jekten durch  Neigung  und  Willkühr  vollbracht  hätte.  Denn  nicht 
„Autonomie",  sondern  „Heteronomie"  käme  darin  eben  wegen  der 
Abhängigkeit  von  Gegenständen  zum  Ausdruck.*)  „Wenn  der 
Wille  irgendwo  anders  als  in  der  Tauglichkeit  seiner  Maximen  zu 
seiner  eigenen  allgemeinen  Gesetzgebung,  mithin  wenn  er,  indem 
er  über  sich  selbst  hinausgeht,  in  der  Beschaffenheit  irgend  eines 
seiner  Objekte  das  Gesetz  sucht,  das  ihn  bestimmen  soll,  so 
kommt  jederzeit  Heteronomie  heraus.  Der  Wille  giebt  alsdann 
nicht  sich  selbst,  sondern  das  Objekt  durch  sein  Verhältnis  zum 
Willen  giebt  diesem  das  Gesetz."«)  Dagegen  ist  die  autonome 
Handlung  über  alle  Bestimmung  durch  Objekte  und  damit  über 
alle  Willkühr  erhaben,  sie  ist  entsprungen  aus  einem  sich  selbst 
das  Gesetz  gebenden  und  sich  diesem  Gesetze  unterordnenden 
Willen,    einem  Willen   also,    der  sich   selbst  zur  Gesetzmässigkeit 


1)  a.  a.  O.  S.  276. 

«)  a.  a.  O.  S.  278. 

3)  a.  a.  O.  S.  288. 

*)  a.  a.  O.  S.  246  und  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S.  76  ff. 

^)  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S.  36. 

*)  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  S.  288. 


m 


B,  Ba 


bostiinmt,  Seine  Handlung  ist  nicht  Willkiihr,  weil  sie  unter  der 
Vorstellung  des  Sittengesetzes  erfolgt,  und  sie  ist  nicht  sklavisch 
nnd  knechtisch,  weil  der  verniniftip^e  Will**  sich  selbst  diis  Gesetz 
£Ciebt,  weil  der  Wille  sein  eigener  Gesetzgeber  ist,  frei  von  allem 
Zwang  der  Objekte,  „Freiheit  und  »*igene  tresetzgebung  des 
Willens  sind  beides  Aiiteuomie,  mithin  Wechselbegriffe/*)  Dazu 
werden  wii-  geführt,  sobald  wir  nach  einem  wahrhaft  zulangenden 
Prinzip  der  Sittlichkeit  fragen.  So  finden  wir:  „Die  Autonomie 
des  Willens  ist  das  alleinige  Prinzip  aller  moralischen  Gesetze 
und  der  ihnen  gemiissen  Pflichten."*) 

Da  dieses  Prinzip  das  einzig  moralische  ist,  folgt,  tlaiis  es 
zugleich  auch  das  Höchste  ist:  So  wenig  wir  also  weniger  thuu 
dürfen,  als  ilieseni  Prinzip  gemäss,  d.  h.  „aus  Pflicht"  und  ,,ans 
Achtung  fürs  (besetz''  zn  handeln,  um  Anspruch  auf  Mnralität  zu 
haben,  ebenso  wenig  können  wir  niehr  tbuu,  „weil  das  alles 
lauter  Gleissnorei  ohne  Bestand  bewirken  würde**  ^)  und  es  wäre 
„stolze  Einbildung,  ül>er  ihm  Gedanken  von  Pflicht  uns  hinweg- 
zusetzen, und,  als  vom  Gebote  unabhängig,  bloss  aus  eigener  Lust 
das  thun  zu  wollen,  wozu  für  uns  kein  Gebot  nötig  wäre",*) 
Da  es  unsere  höchste  Bestiminung  ist,  unsere  Pflicht  und  Schuldig-  — 
keit  zu  thun,    so    wäre    der  „Wahn'*,    dass  wir,    über   die  Pflicht  — : 

hinaus,    mehr   als    unsere  Schuldigkeit    thun  und  „Verdienste"  er 

ringen  könnten,  „lauter  moralische  Schwärmerei  und  Steigernuj 
des  Eigeiulünkels",^)  „Pflicht  und  Schuldigkeit  sind  die  Beueu 
nungeu,  die  wir  allein  unserem  Verhältnisse  zum  moraüschen  Ge- 
setze geben  müssen."*«) 

§  lö. 
Die  Postulate  der  reinen  praktischen  Vernunft  und  die 

Idee  des  höchsten  Gutes. 

Kant  hat,  wie  wir  sahen,   den  Wert  alles  Handelns  nicht 

die  äusseren  Thaten,    „die    man    siehP*,    nicht  iu  die  Erfolge  im^   A 

die  Erreichung  etwelcher  äusserer  Zwecke,    nicht   in  die  eudaima^y^^ 

nistische  Bestimmung   der    Selbstliebe    und   eigenen  Glückseligke^^^^ 


»)  a,  a.  0.  S,  298. 

^  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S,  35. 

3)  a.  a.  O.  S,  7tî  t 

*)  a,  a.  O,  S.  76  t 

Û)  a.  a.  O.  S,  8D  f. 

«)  a.  a.  0,  S.  86. 


Luther  und  Kant.  439 

yerlegt,  sondern  allein  in  Jene  inneren  Prinzipien,  die  man  nicht 
sieht",  d.  h.  in  jene  tiefinnerste  Gesinnung,  die  handelt  in  der 
unerschütterlichen  Übei-zeugung,  dass  sie  ihre  Pflicht  thue  und 
nur  handelt,  um  ihre  Pflicht  zu  thun,  ohne  den  „Wahn",  über 
diese  hinaus  sich  noch  besondere  Verdienste  erwerben  zu  können. 
Er  hat  damit  —  und  er  giebt  es  nicht  etwa  ungern,  sondern  mit 
einem  gewissen  Stolz  zu^)  —  nur  das  gemeine  und  richtige  Be- 
wusstsein  zur  unumstösslicheu  Gewissheit  seiner  Richtigkeit  er- 
hoben, dass  eben  gut  und  moralisch  wertvoll  nur  die  Handlung 
sei,  die  das  handelnde  Subjekt  in  dem  Glauben,  dass  sie  das  sei, 
vollbringt;  das  Bewusstsein,  dem  in  seiner  durch  keine  falsche 
Theorie  verderbten  Natürlichkeit,  als  die  einzige  Richtschnur  der 
Bewertung  die  Gesinnung  gilt.  Der  Wille  allein  wird  für  sein 
Handeln  verantwortlich  gemacht,  seine  Maxime,  nicht  der  daraus 
folgenäe  Pîffekt,  der  kritischen  Beurteilung  unterzogen. 

Nun  aber  fragt  es  sich:  wie  ein  solcher  selbstverantwortlicher, 
autonomer  Wille   möglich   sei.     Und    darauf   giebt  Kant  die  Ant- 
wort, er  sei  nur  möglich,   wenn  er  auch  frei  sei.     „Da  die  blosse 
Form  des  Gesetzes   lediglich  von  der  Vernunft  vorgestellt  werden 
kann,   und    mithin   kein  Gegenstand    der  Sinne   ist,   folglich  auch 
nicht  unter  die.  Erscheinungen  gehört;   so  ist  die  Vorstellung  der- 
selben  als  Bestimmungsgrund  des  Willens  von  allen  Bestimmungs- 
gründen   der  Begebenheiten   in    der  Natur   nach  dem  Gesetze  der 
Kausalität  unterschieden,  weil  bei  diesen  die  bestimmenden  Gründe 
selbst  Erscheinungen   sein  müssen.    Wenn  aber  auch  kein  anderer 
Bestimmungsgrund   des  Willens   für   diesen   zum    Gesetze    dienen 
kann,  als  bloss  jene  allgemeine  gesetzgebende  Form;   so   muss  ein 
solcher  Wille   als   gänzlich  unabhängig  von  dem  Naturgesetze  der 
Erscheinungen,    nämlich   dem  Gesetze  der  Kausalität,    beziehungs- 
weise auf  einander,  gedacht  werden.    Eine  solche  Unabhängigkeit 
aber   heisst  Freiheit   im   strengsten,    d.  i.    transscendentalen  Ver- 
stände.    Also  ist  ein  Wille,    dem  die  blosse,   gesetzgebende  Form 


1)  Mir  scheinen  darum  die  Versuche,  Kants  Ethik  als  „Moral  der 
kleinen  Leute"  lächerlich  zu  machen,  nur  das  Gegenteü  von  ihrer  Absicht 
zu  erreichen.  Schon  Schiller  rühmt:  „Dem  Verfasser  der  Kritik  gebührt 
das  Verdienst,  die  gemeine  Vernunft  aus  der  spekulativen  wiederhergestellt 
zu  haben.*^  Die  aUgemeine  Anwendbarkeit  der  Kantischen  Ethik  ist  ja 
gerade  das  Grosse  an  ihr.  Über  politische  und  Salon-Fragen  u.  dgl.  wollte 
er  in  der  Ethik  keinen  Aufschluss  geben;  er  woUte  herausstellen,  was  all- 
gemeingiltig  ist,  und  das  muss  auch  für  die  .kleinen  Leute'  gelten. 


440  B.  Banch, 

der  Maxime  allein  znm  Gesetze  dienen  kann,  ein  freier  Wüle* . . . 
^Freiheit  und  unbedingtes  praktisches  Qesetz  weisen  also  wechsel- 
weise auf  einander  hin.^'^)  In  dieser  Idee  der  Freiheit  liegra  nun 
zwei  Momente,  ein  negatives:  die  Unabhängigkeit  von  dem  NatQ^ 
gesetze,  und  ein  positives:  die  eigene  Gesetzgebung:  „Jene  Un- 
abhängigkeit aber,"  sagt  Kant,  „ist  Freiheit  im  negativen,  diese 
eigene  Gesetzgebung  aber  der  reinen  und  als  solche  praktisch» 
Vernunft  ist  Freiheit  im  positiven  Verstände.***) 

So  gelangt  Kant  zur  Idee  der  Freiheit  als  dem  ersten  Postn- 
late  der  reinen  praktischen  Vernunft.  »Diese  Postulate  sind  nicht 
theoretische  Dogmata,  sondern  Voraussetzungen  in  notwendiger 
praktischer  Rücksicht,  erweitem  also  zwar  die  spekulative  Erkennt- 
nis nicht,  geben  aber  den  Ideen  der  spekulativen  Vernunft  m 
Allgemeinen  8)  (vermittels  ihrer  Beziehung  au&  Praktische)  objek- 
tive Realität,  und  berechtigen  sie  zu  Begriffen,  deren  MögBchkeit 
auch  nur  zu  behaupten  sie  sich  sonst  nicht  anmassen  könnte.' 
Es  ist  für  sie  charakteristisch  und  von  eminenter  Bedeutsamkeit: 
,Sie  gehen  alle  vom  Grundsatze  der  Moralität  aus,  der 
kein  Postulat,  sondern  ein  Gesetz  ist,^)  durch  welches 
Vernunft  unmittelbar  den  Willen  bestimmt,  welcher 
Wille  eben  dadurch,  dass  er  so  bestimmt  ist,  als  reiner 
Wille,  diese  notwendigen  Bedingungen  der  Befolgung 
seiner  Vorschrift  fordert."*) 

„Diese  Postulate  sind"  —  ausser  dem  eben  besprochenen 
der  Freiheit  —  „die  der  Unsterblichkeit  .  .  .  und  des  Daseins 
Gottes."«) 

Zu  dem  zweiten  Postulate  gelangt  Kant  auf  verhältnismässig 
einfachem  Wege:  „Der  Grundsatz  der  Moralität"  verlangt  die 
„völlige  Angemessenheit  der  Gesinnung  zum  moralischen 
Gesetze".  Diese  Angemessenheit  muss  also  möglich  sein,  da  sie 
notwendig  ist.  Nun  ist  ihrer  aber  „kein  vernünftiges  Wesen  in 
(1er  Sinnenwelt"  fähig.  Folglich  kann  sie  nur,  da  sie  praktisch 
gefordert   wird,    in    einem    über   der   Siunenwelt    hinausliegenden 


1)  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S.  30  f. 

2)  a.  a.  O.  S.  36. 

^)  Vgl.   besonders  :   Kritik   der   reinen   Vernunft   S.   248  ff.,  267  ff-, 
261  ff.  u.  a.  m. 

*)  Das  ist  eben  das  „Faktum  der  reinen  Vernunft". 
^)  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S.  135. 
^  Ebenda. 


Luther  und  Kant.  441 

Zustande  verwirklicht  werden.  „Die  völlige  Angemessenheit  des 
Willens  aber  zum  moralischen  Gesetze,"  sagt  Kant,  „ist  Heiligkeit, 
eine  Vollkommenheit,  deren  kein  vernünftiges  Wesen  in  der  Sinnen- 
weit,  in  keinem  Zeitpunkte  seines  Daseins  fähig  ist.  Da  sie  in- 
dessen gleichwohl  als  praktisch  notwendig  gefordert  wird,  so  kann 
sie  nur  in  einem  ins  Unendliche  gehenden  Progressus  zu  jener 
völligen  Angemessenheit  angetroffen  werden,  und  es  ist  nach 
Prinzipien  der  reinen  praktischen  Vernunft  notwendig,  eine  solche 
praktische  Fortschreitung  als  das  reale  Objekt  unseres  Willens 
anzunehmen.  Dieser  unendliche  Progressus  ist  aber  nur  unter 
Voraussetzung  emer  ins  Unendliche  fortdauernden  Existenz  und 
Persönlichkeit  desselben  vernünftigen  Wesens  (welche  man  die 
Unsterblichkeit  der  Seele  nennt)  möglich."  .  .  .  Also  ist  die  Un- 
sterblichkeit der  Seele  „als  unzertrennlich  mit  dem  moralischen 
Gesetze  verbunden,  ein  Postulat  der  reinen  praktischen  Ver- 
nunft."») 

Auf  diese  Weise  kann  Kant  das  Postulat  der  Unsterblichkeit 
sogar  ohne  die  Heranziehung  der  Glückseligkeit  aufstellen,  obwohl 
er  eigentlich  ,.die  völlige  Angemessenheit  des  Willens  zum  mora- 
lischen Gesetze"  nur  als  einen  der  beiden  Faktoren  betrachtet, 
die  in  der  Idee  des  höchsten  Gutes  vereinigt  sein  sollen,  eine 
Idee,  die  ihrerseits  die  Voraussetzung  für  das  dritte  Postulat, 
nämlich  das  Postulat  des  Daseins  Gottes  bildet.  Der  andere  Fak- 
tor in  dieser  Idee  ist  nämlich  die  Glückseligkeit.  Um  das  dritte 
Postulat  zu  verstehen,  müssen  wir  uns  also  zunächst  über  die 
Idee  des  höchsten  Gutes  verständigen.  Zu  ihr  gelangt  die  Ver- 
nunft, sagt  Kant,  indem  sie  (was  sie  im  Spekulativen  vergeblich 
gethan)  vom  Bedingten  zum  Unbedingten  hinstrebt.^)  Auf  diesem 
Wege  wird  sie  zur  Idee  des  höchsten  Gutes  geführt.  Denn 
Tugend  ist  zwar  das  „oberste  Gut",  aber  sie  ist  noch  nicht  das 
vollendete  Gut.  „Denn  um  das  zu  sein,  wird  auch  Glückseligkeit 
erfordert,  und  zwar  nicht  bloss  in  den  parteiischen  Augen  der 
Person,  sondern  selbst  im  Urteile  einer  unparteiischen  Vernunft. 
.  .  .  Denn  der  Glückseligkeit  bedürftig,  ihrer  auch  würdig,  den- 
noch derselben  nicht  teilhaftig  sein,  kann  mit  dem  vollkommenen 
Wollen  eines  vernünftigen  Wesens,  welches  zugleich  auch  alle 
Gewalt   hätte,   wenn   wir   uns  auch  nur  ein  solches  zum  Versuch 


1)  a.  a.  O.  S.  128  f. 
«)  a.  a.  O.  S.  112  f. 


442 


B,  Bjiiîch, 


doiikeu,   frar  nicht  ziisammen  bestehen/*  0     Wird  also  die  Tugend 
„als    i\k  Würdigkeit  gliicklieh    zu  sein*"  gedacht,    und  Kant  sagt^fl 
sie    miisîie  als  das  mit  Vernunftnntweiidigkeît  gedacht  werden,   so 
nmss     auch    mit    Veniuoftiiotweiidigkeit     die    Krfitllung    gedacht 
werden,    sobald    weiterliin  die  Tugeiul,    d.  h.  die  ^Angemessenheit 
des  Willens    5îum    moralischeu    Gesetze''    als    erfüllt   gesetzt  wii'iJ 
Dieses    aber   geschieht   durch    das    Postulat    der    I^usterblichkeit,| 
Jlitliiü  wird  daïiiit  implizite  Glückseligkeit  postuiiert.  2) 


1)  a,  a.  O.  8.  115  f. 

^)  Auf   die  Schwäclien    die,ser  Argiiinentation    ist   schon   so   oft  und 
mit   so   scharfer  und  treffender  Kritik,  namentlich  von  Schopenhauer  un< 
Kuno  Fischer    aufmerksam    gemacht    worden,    dass    kaum    noch  eine  ne 
Kritik   am  Platte   erscheint.    Kant«  Argumentation    hat   im  Wesentlichen^ 
drei  Fehler,     Erstens:  Der  Progressns  ins  Unendliche  ist  ein  Widei-^spmc: 
Zweitens    entbehrt    die    Behauptung,    dass  die  GUkkseligkeit  im  höchste: 
Gute    vermin ftnot wendig   mit    der  'J*ugeiid  vereint  gedacht  werden  mtiss 
selbst  jedes  Venmnftgrundes  ;  und  drittens  steht  sie  zur  Kantischen  Lehre 
sonst  im  Widerspruch    und  ist  aucli  in  sieli  selbst  widersprechend^    da  das 
Glückseligkeitsstreben   eben    nur   in    der  Natur  sinnlicher  Wesen  wurzeltj 
und    es    nicht    aiisdenkbar   ist,    wie    es    reinen    Venamftwesen    in    einem 
über    der    Sinnlichkeit     und     Sinnenwelt     hinausliegenden    Znstande     ai 
haften  soll. 

Die  Weiterbildung  der  Kantischeu  Lehre  wird  die  lediglich  regida- 
tive  Natur  dieser  Idee  noch  mehr  hervorkehren  und  sie  als  eine  rein- 
raenschliebe,  aber  nicht  für  das  Vernunft wesen  überhaupt 
notwendig  stattfindende  Vorstelluugswe  ise  ansehen  müssen. 
Kant  hat  ja  dazu  selbst  sowold  in  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft, 
als  auch  namentlich  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  mit  seiner  berühmten 
Wendung  de«  „als  ob"  schon  den  Gnind  gelegt.  Und  was  er  einmal  in 
der  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  bbjssen  Venirinft  sagt,  das  ist  be- 
sonders für  die  Idee  des  liöchsten  Gutes  von  Bedeutung,  Es  kann  vor 
mannigfachem  Miss  brauch,  der  mit  dieser  Idee  schon  getrieben  w^orden  isi 
bewahren.  Hier  heisst  es  S,  166:  „Überhaupt,  wenn  wir  statt  der  konsti 
tutiven  F^rinzipien  der  Erkenntnis  übersinnlicher  Objekte,  deren  Einsich 
uns  doch  unmi>glich  ist.  unser  Urteil  auf  die  regidativen,  sich  an  dem 
möglichen  praktischen  Gebrauch  derselben  begnügenden  Prinzipien  ein- 
schränkteni  so  würde  es  in  manchen  Stucken  mit  der  menschlichen  Weis- 
heit besser  stehen,  und  nicht  vermeintliches  Wissen  de^ssen»  wovon  man 
im  Grunde  nichts  weiss,  gnmdlose,  ob  zwar  eine  Zeit  lang  schimmenide 
Vernünftelei  zum  endlich  sich  doch  einmal  daraus  bervürbebenden  Nachteil 
der  MfU'alität  ausbrüten."  Es  ist  uiclit  genug,  auf  diese  Regiilativitât 
auch  bei  der  Idee  des  liöcbsten  Gutes  hinzuweiseïi,  man  mnss  vielmehr 
noch  ganz  ausdrücklich  ihre  lediglich  menschlich-psychologische  Bedeutung 
betonen,  um  ihr  nicht,  was  Kants  eigener  Fehler  war,  einen  objektiven 
Wert  beizumessen. 


it 

1 


HS 


iti^H 
:ht-^ 


Luther  und  Kant.  443 

Nun  wissen  wir  aber  längst,^)  dass  nie  „die  Begierde  nach 
Glückseligkeit  die  Bewegursache  zui*  Tugend"  sein  kann,  weil  die 
„Maximen,  die  den  Bestimmungsgrund  des  Willens  in  dem  Ver- 
langen nach  seiner  Glückseligkeit  setzen,  gar  nicht  moralisch  sind 
und  keine  Tugend  gründen  können.**  Es  kann  aber  auch  nicht 
„die  Maxime  der  Tugend  die  wirkende  Ursache  der  Glückseligkeit 
sein"  .  .  .  weil  der  „Erfolg  der  Willensbestimmung  sich  nicht 
nach  moralischen  Gesinnungen  des  Willens  richtet."«)  Noch  viel 
weniger  sind  Tugend  und  Glückseligkeit  analytisch  verbunden,  so- 
dass etwa  nach  der  Meinung  der  Epikuräer  „sich  seiner  auf 
Glückseligkeit  führenden  Maxime  bewusst  sein,  Tugend,"  oder 
nach  Ansicht  der  Stoiker,  „sich  seiner  Tugend  bewusst  sein,  Glück- 
seligkeit" wäre.^  Ihre  Verbindung  kann  also  nur  synthetisch 
sein.  Aber  sie  muss  auch  noch  auf  andere  Weise  synthetisch 
sein,  als  wir  es  zuerst  in  Analogie  zu  der  uns  gegebenen  sinnlichen 
Wirklichkeit  und  ihres  Kausalverhältnisses  in  Rechnung  zogen. 
Und  das  ist  nur  möglich,  indem  eine  uns  nicht  sinnfällig  erkenn- 
bare Kausalbeziehung  zwischen  ihnen  stattfindet;  also  nur  da- 
durch, „dass  die  Sittlichkeit  der  Gesinnung  einen,  wo  nicht  un- 
mittelbaren, doch  mittelbaren  (vermittels  eines  intelligiblen 
Urhebers  der  Natur)  und  zwar  notwendigen  Zusammenhang 
.  .  .  mit  der  Glückseligkeit"  habe.*)  „Also  wird  auch  das  Dasein 
einer  von  der  Natur  unterschiedenen  Ursache  von  der  ge- 
samten Natur, ^)  welche  den  Grund  dieses  Zusammenhanges, 
nämlich  der  genauen  Übereinstimmung  der  Glückseligkeit  mit  der 
Sittlichkeit,  enthalte,  postuliert,"  .  .  .  „d.  i.  Gott**.^ 

An  dieser  Lehre  von  den  Postulaten  der  reinen  praktischen 
Vernunft  mag  von  allgemeinerer  Bedeutung  besonders  das  erste 
Postulat  sein.  Für  unseren  besonderen  Problemzusammenhang  ist 
jedoch  —  von  dem  kritischen  Gesichtspunkte  ihres  Wertes  oder 
Unweiles  einmal  ganz  abgesehen  —  auch  die  Idee  des  höchsten 
Gutes  wichtig.  Und  vor  allem  bemerkenswert  daran  ist,  dass  die 
Tugend  eben  um  ihrerselbstwillen,  nicht  um  der  Glückseligkeit 
willen   erstrebt   werden   solle,    und   dass  diese  auch  in  postulativ- 


*)  Vgl.  die  beiden  vorhergehenden  Paragraphen. 

^  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S.  119. 

»)  a.  a.  O.  S.  117. 

*)  a.  a.  O.  S.  121. 

^)  d.  h.  der  sinnlichen  und  der  sittlichen. 

«)  a.  a.  0.  S.  130  f. 


444 


B,  Baiîch, 


meUi^hysischer  Hinsicht,  g:anz  în  ÜbereinstimniiiDg  mit  der  christ- 
liehen   Lehre,    woraof    Kant  ja   hinweist,    nur   eine    synthetische! 
Beiijabe   vtm  Seiten  der  Gottheit  ist  ;    düss,    wenü  wir  ivur  unsere  | 
Pflicht  und  Schuldigkei»  thiui,   ons  schon  „das  Übrige  zugegeben*' 
werden  wird. 

§  17. 
Die  Intelligibilität  der  PeraUilichkeit, 

Das  Moralgesetz  ist  ein  „Faktum  der  reiuen  Vernunft**  und] 
„unleugbar".  Danach  niuss  „die  blosse  gesetzgehende  Form  der 
Maxime  allein  der  zureichende  Bestimniungsgrund  eines  Willens*' 
sein  könnend)  Dieses  ist  aber  nui*  möglich,  wenti  der  Wille  ein 
freier  Wille  ist  So  gelangte  Kant  zum  eisten  Postulat,  und 
eigentlich  von  diesem  erst  zu  den  übrigen.  Nun  bleibt  für  ihn 
noch  die  schwierigste  Frage  zu  lösen:  wie  ist  aber  selbst  ein 
fi-eier  Wille  möglich?  | 

Wir  sehen,  wie  der  Mensch  hineingerissen  wird  in  den  vom 
allgemeinen  Kausalitätsgesetze  beherrschten  Strom  des  Geschehens 
und  dass  seine  Handlung,  wie  Kant  sagt,  mit  absoluter  „Ge-J 
wissheit,  so  wie  eine  Mond-  oder  Sonnenfinsternis"  erfolge.")  I 
Wie  dürfen  wir  da  von  Freiheit  sprechen'^  Wie  dürfen  wir  hoffen, 
zur  Freiheit  zu  gelangen  und  ihrer  Idee  Giltigkeit  beizumessen; 
wie  kann  jenes  „unleugbare  Faktum  der  reinen  Vernunft'*,  die 
Geltung  des  Sittengeset^es  bestehen,  und  wie  kann  F'flicht  und 
Sollen  für  uiiü  stattfinden,  da  sie  selbst  eben  nur  durch  Freiheit 
möglich  sind? 

„Eine  Auskunft  bleibt  uns  noch  übrig,  nämlich  zu  suchen, 
ob  wir,  wenn  wir  uns  durch  Freiheit  als  a  priori  wirkende  Ur- 
sachen denken,  nicht  einen  anderen  Standpunkt  einnehmen,  als 
wenn  wir  uns  selbst  nach  unseren  H aiul hingen  als  Wirkungeü,  die 
wir  vor  unseren  Augen  sehen,  vorstellen/'^) 

In  der  That  erhebt  uns  die  Idee  der  Freiheit  und  Pfliclit 
auf    einen    ganz    anderen    Standpunkt,      „Pflicht!    du    erhabener] 


^)  a.  a.  0.  S.  103. 

^}  Kant  sagt  noch  recht  rationalistisch  :  ,jSich  berechnen  liesse**.    Das  i 
Veratill» du Î s    für  das  Irrationale   des  Historischen  angfebahnt  zu  haben,    ist 
Mehtes  Verdienst   (vgl.  Lask,    .Fichtes   Idealismns   und    die   Geschichte*). 
Zu    einer   vollkom  m  eueren    Klttning    ist  es    allerdings  erst  in  unserer  Zeit 
durch  Windelband  und  namentlich  durch  Rickerfc  gekointnen, 

^}  Gnmdieguug  zur  Metaphysik  der  Sitten,     S.  290. 


Luther  und  Kant.  445 

grosser  Name,  der  du  nichts  Beliebtes,  was  Einschmeichelung  bei 
sich  führt,  in  dir  fassest,  sondern  Unterwerfung  verlangst,  doch 
auch  nichts  drohest,  was  natürliche  Abneigung  im  Gemüte  eiTegte 
und  schreckte,  um  den  Willen  zu  bewegen,  sondern  bloss  ein  Ge- 
setz aufstellst,  welches  von  selbst  im  Gemüte  Eingang  findet,  und 
doch  sich  selbst  wider  Willen  Verehrung  (wenngleich  nicht  immer 
Befolgung)  erwirbt,  vor  dem  alle  Neigungen  verstummen,  wenn 
sie  gleich  insgeheim  ihm  entgegen  wirken,  welches  ist  der  deiner 
würdige  Ursprung,  und  wo  findet  man  die  Wurzel  deiner  edlen 
Abkunft,  welche  alle  Verwandtschaft  mit  Neigungen  stolz  ausschlägt, 
und  von  welcher  Wurzel  abzustammen  die  unnachlassliche  Bedingung 
desjenigen  Wertes  ist,  den  sich  Menschen  allein  selbst  geben  können? 

Es  kann  nichts  Minderes  sein,  als  was  den  Menschen  über 
sich  selbst  (als  einen  Teil  der  Sinnenwelt)  erhebt,  was  ihn  an 
eine  Ordnung  der  Dinge  knüpft,  die  nur  der  Verstand  denken 
kann,  die  zugleich  die  ganze  Sinnenwelt,  mit  ihr  das  empirisch- 
bestimmte Dasein  des  Menschen  in  der  Zeit  und  das  Ganze  aller 
Zwecke  (welches  allein  solchen  unbedingten  praktischen  Gesetzen, 
als  das  moralische,  angemessen  ist)  unter  sich  hat.  Es  ist  nichts 
anderes  als  die  Persönlichkeit,  d.  i.  Freiheit  und  Unabhängigkeit 
von  dem  Mechanismus  der  ganzen  Natur,  doch  zugleich  als  ein 
Vermögen  eines  Wesens  betrachtet,  welches  eigentümlichen,  näm- 
lich von  seiner  eigenen  Vernunft  gegebenen  reinen  praktischen 
Gesetzen  die  Person  also,  als  zur  Sinnen  weit  gehörig,  ihrer 
eigenen  Persönlichkeit  unterworfen  ist,  sofern  sie  zugleich  zur 
intelligiblen  Welt  gehört."  J) 

Schopenhauer  bewundert  unter  den  unsterblichen  Verdiensten 
Kants  die  Lehre  vom  intelligiblen  Charakter  fast  am  meisten.  Sie  ist 
es,    die    „sein  unsterbliches  Verdienst  besonders  herrlich  zeigt". 2) 


^)  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S.  90  f. 

2)  Schopenhauer,  Welt  als  WiUe  und  VorsteUung  (Grisebachschft 
Ausgabe)  Bd.  I.  S.  218.  Die  Art  und  Weise,  wie  Schopenhauer  aUerdings 
Kants  Lehre  vom  intelligiblen  Charakter  auffasst,  ist  durchaus  mystisch 
und  vom  dogmatisch-realistischen  Geiste  der  alten  Metaphysik  des  Über- 
sinnlichen getragen.  Kant  ist  nicht  ganz  unschuldig  an  solchem  Missver- 
ständnis. Er  selbst  hat  den  noumenalen  Charakter  noch  nicht  mit  der 
Schärfe  und  Klarheit  auf  die  transscendentale  Basis  erhoben,  um  seinen 
Wert  voll  und  ganz  erkennen  zu  lassen.  Indes  eine  Gleichsetzung  des 
Übersinnlichen  mit  dem  Aussersinnlichen  lässt  schon  Kants  Kritizismus  als 
solcher  nicht  zu;  die  ist  in  der  That  nur  für  Schopenhauers  psycholo- 
gistische  Willensmetaphysik  mit  ihrer  poetischen  Mystik  möglich. 


Aaf  diese  Lehre  sind  wir  min  grefiihrt.  Durch  sie  verstehen  wir, 
wie  trotz  des  strengen  Mechanismns  der  Natnr  die  Freiheil  der 
rersüiiliebkeit  bestehen  kaiin,  wie  beide  sieh  mit  einander  ver- 
eitiigeu  lassen. 

Wir  bleiben  tit  eh  en  zunächst  bei  dem  Naturmecbanismas,  der 
nnst»re  l'ei-son  in  seine  Zusammenhänge  mit  unabänderlicher  Not- 
wendigkeit veiilicht,  sie  fortreisst  in  seinem  Getriebe  mit  zwin- 
gt»nd<'r  Gewalt  und  unsere  Freiheit  zu  vernichten  scheint.  Ein 
Dbjekl  unter  Objekten,  über  denen  allen  der  Mechanismus  der 
Natur  nach  cberuen,  ewigen  Gesetzen  herrscht,  ist  hier  die  Person  ; 
eine,  wie  die  andere,  dem  gleichen  Zwang  unterw^orfen,  gleicher 
(iewalt  anheimgegeben. 

Was  aber  bedeutf4  dieser  Zwang,  die  Gewalt,  der  ganze 
Merbanismus  der  Natur  und  ihre  Gesetze,  denen  die  Person  mit 
luiterwoi-feu  ist?  Die  Antwort  auf  diese  Frage  hat  bereits  die 
transscendentale  Analytik  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  gegeben, 
und  mit  ihr  ist  die  Freiheit  gerettet. 

Wir  sind  es  selbst,  das  hatte  hier  die  Kritik  der  reinen 
\'ernunft  gezeigt,  die  wir  der  Natur  ihre  Gesetze  vorschreiben. 
Die  selbstschöpferische  Kraft  des  Subjekts,  seine  Spontaneität, 
war  die  Grundlage  nicht  zwar  für  die  ganze  Welt  der  Ubjekte 
als  solche,  wohl  aber  für  deren  Gegebenheit,  Wir  —  natürlich 
nicht  selbst  wieder  als  ein  Objekt  unter  diesen  Objekten, 
die  wir  vor  unseren  Augen  sehen,  sondern  wir  als  Subjekt, 
sofern  wir  niemals  Objekt  sind:  die  Persönlichkeit,  nicht  dit> 
Person,  Eine  Unterscheidung,  die  also  sogar  schon  spekulativ 
basiert  ist.  Mag  unter  der  empirischen  Ansicht  die  Person  sicli 
leidend  und  unfrei  verhalten,  bestimmt  und  beherrscht  von  der 
Notwendigkeit  und  Gesetzmässigkeit  der  Natur  und  von  den 
Piinflüssen  ihrer  Gegenstände,  so  verhält  sich,  transscendental 
betrachtet,  die  Persönlichkeit  frei  und  thätig,  selbst  bestimmend 
und  beherrschend  die  Notwendigkeit,  regelnd  die  W^echsel- 
Iteziehungeii  und  -einflüsse  der  Dinge  auf  einander,  denen  sie 
die  Gesetze  giebU  Also  auch  hier  weist  die  Persönlichkeit  als 
Subjekt  schon  vor  oder  über  die  Wirklichkeit  —  unsere  Sprache  ist 
schwer  fähig,  das  zu  bezeichnen  —  ;  die  Kausalität,  die  die 
Wirklichkeit  beherrscht,  ist  selbst  nui*  Funktion  der  selbstschöpfe- 
rischen Kraft  des  Bewusst^ieins,  und  ein  Blick  in  eine  ganz  an-i 
dere  Wirklichkeit,  oder  besser:  Wirksamkeit,  in  eine  andere  Kau-J 
salität,    thut    sich    da   attf  durch  die  Spontaneität  des  Verstandes J 


Luther  und  Kaut, 


447 


In  ihr  begegnen  wir  zuerst  dem,  „was  den  Menschen  über  sich 
selbst  (als  einen  Teil  der  Sinnen  weit)  erhebt,  was  ihn  an  eine 
Ordnung  der  Dinge  knüpft,  die  our  der  Vei-stand  denken  kann, 
die  zugleich  die  ganze  Sinnenwelt,  mit  ihr  das  empirisch-bestinimte 
Dasein  des  Menschen  in  der  Zeit  .  .  .  unter  sich  hat*". 

Die  spekulative  Vernunft  bleibt  aber  hier  stehen,  weil  hier 
dem  Denken  des  Verstandes  keine  Anschauungen  mehr  entsprechen, 
deren  wir  als  erkennendes,  reflexiv  denkendes,  nicht  spontan  schaf- 
fendes Wesen»  wie  wir  uns  selbst  gegeben  sind,  bedürfen,  um 
unser  „Erkennen"  auf  das  spontan  Geschaffene  zu  beziehen.  In 
die  Spontaneität  selbst  di^ingt  das  Erkennen  nicht  tiefer  ein,  nur 
ihre  Schöpfungen,  nicht  aber  sie  selbst  als  schaffende  Kraft  — 
wenn  man  nur  dieses  Wort  nicht  missversteht  und  mit  dem  empi- 
rischen Begriff,  also  das  schaffende  Prinzip  mit  dem,  was  selbst 
bloss  seine  Funktion  ist,  nicht  verwechselt  —,  sind  sein  Gegen- 
stand. So  könnte  man  sagen  :  Die  Spontaneität  sei  zwar  notwendige 
Voraussetzung  der  Erkenntnis,  weil  durch  sie  erst  Objekte  zustande 
kommen,  aber  sie  selbst  sei  nicht  Gegenstand  der  Erkenntnis  im 
eigentlichen  Sinne  des  Wortes,  Sie  ist  nicht  erkennbar,  sondern, 
vielleicht  dürfen  wir  so  sagen,  weil  sie  eben  das  Erkennen  möglich 
macht,  und  wir  ihrer  nur,  soweit  wir  uns  selbst  erkennend  ver- 
halten, inne  werden,  erleb  bar. 

Sie  bildet  also  die  Brücke  zur  Freiheit,  Sie  verknüpft  uns 
als  Glieder  der  Sinnenwelt  mit  den  Grundlagen  eben  dieser  Sinnen- 
welt, weil  wir  diese  Grundlagen  in  uns  selbst  finden,  ja  selber 
diese  Grundlagen  sind.  Diese  vor-  und  übersinnliche  Kraft  (das 
weder  zeitlich  noch  realistisch  verstanden,  sondern  eben  nur  im 
Sinne  des  selbst  unleugbaren,  einfach  aufweisbaren,  ewig  unbe- 
greiflichen Vermögens  der  Spontaneität)  bildet  die  Voraussetzung 
für  die  Inteüigibilität  der  Persönlichkeit,  ja  ist  diese  IntelUgibili- 
tät  selbst. 

An  dieser  Grenze  der  spekulativen  Vernunft  setzt  nun  er- 
weiternd die  praktische  ein.  Dass  Freiheit  möglich  wäre,  hatte 
sie  postuliert;  wie  sie  möglich  wäre,  Hess  die  Spontaneität  er- 
kennen, und  nun  fragt  es  sich  weiter,  vne  wir  es  uns  praktisch 
des  Genaueren  allein  zu  denken  haben,  dass  sie  der  Persönhch- 
keit  eignet. 

Wir  gehen  aus  von  uns  als  Person  im  Kantischen  Sinne, 
d.  h.  wie  wir  uns  allein  erkennbar  und  fasslich  gegeben  sind. 
Nun   ist   es   doch   eigentlich  gerade  diese  in  die  Erscheinung  tre- 

Ku&iittidtui  IX.  29 


L  Bauch, 


teode  Person,  die  Yerantwortlich  gemacht  wird  für  Dar  Tbun  und 
Lassen»  die  wir  als  gut  oder  böse  bewerten,  Weun  wir  von  ihr 
verlangen*  sie  sollte  anders  handeln,  verlangen  wir  xiigleich  auch, 
dass  sie  anders  sein  sollte.  Denn  selbst  noch  einmal  ganz  in  der 
sinnlichen  Redeweise  gesprochen,  könnten  wij%  sobald  wir  lediglich 
das  Verhältnis  der  Person  zu  den  Dingen  betrachu*u  und  zusehen, 
wie  sie  auf  diese  reagiere,  nur  verlangen,  dass  sie  auf  diese  anders 
reagiere,  als  sie  es  in  Whrklichkeit  thut^  Das  könnte  aber  nur 
dann  eintreten,  wenn  entweder  die  Dinge  andere  wären,  als  sie 
sind;  oder  wenn  die  Person  anders  wäre^  als  sie  ist.  Nun  werden 
ja  nicht  die  Dinge  bei  der  Beurteüung  der  Person,  sondern  diese 
wird  selbst  bew^ertet.  Das  heisst:  Sobald  mau  ihr  Handeln  billigt, 
bilUgt  man  auch,  dass  sie  so  ist,  wie  sie  ist  ;  sobald  man  verlangt, 
sie  sollte  anders  handeln  als  sie  handelt,  verlaugt  man  auch,  dass 
sie  anders  wäre,  wie  sie  ist* 

Wie  kommen  wir  aber  dazu,   ein  solches  Verlangen  und  An- 
sinnen an  den  Menschen  zu  stellen?     Hat  er  sich  denn  selbst  ge- 
macht,   auf   dass   er  für  seine  Schöpfung  verantwortlich  gemacht 
werden    könnte.     Allerdings,    das   bat   er:    ^Was  der  Mensch  im 
moralischen  Sinne  ist,  oder  werden  soll,  gut  oder  böse,  dazu  muss 
er  sich   selbst   gemacht  haben.     Beides  rouss  eine  Wirkung  seinei^ 
freien  Willkühr  sein,  denn  sonst  könnte  es  ihm  nicht  zugerechnet* 
werden,"*)     Natürlich    nicht  der  Mensch  als  Person,    als  Erschei- 
nung hat  sich  selber  zu  dem  gemacht,  was  er  ist.    Der  ist  lediglicb 
etwas  Gewordenes,  Erschaffenes,  aber  nicht  etwas  Schaffendes.    In- 
dem  er  aber  zur  Verantwortung  gezogen  wird,   wird   er  über  sein 
blosses  Erschaffensein  hinausgehoben,  eben  dadurch,  dass  man  ihm 
sein  Handeln   zurechnet.    Das  kann  man  nur,  indem  man  ihn  zu- 
gleich als  schaffend  betrachtet.    Thut  ntan  aber  dies,  so  betrachtet 
man    ihn   eben    nicht   bloss  als  Person,    als  Erscheinung,    sondern 
wiederum  in  seiner  Intelligibilität,   d    h.  als  Persönlichkeit,  sodass 
„die  Person  also,  als  zur  Sinnen  weit  gehörig,  ihrer  eigenen  Persön- 
lichkeit unterworfen  ist,  sofern  sie  zugleich  zur  intelHgiblen  Welt 
gehört*.-)     Darum    wird,    w^enn    wir  die  Pei^on  verantwortlich  zuj 
machen    scheinen,    in  Wahrheit    die  Persönlichkeit   für  die  PersonJ 
verantwortlich  gemacht. 


*)  Die  Religion  innerhalb  der  GreuEen  der  hlossen  Verounft  S,  IS 
•)  Vgl  üben  S.  4S6  f. 


Luther  und  Kant.  449 

Die  bedeutsamsten  Aufschlüsse  fernerhin  giebt  uns  nun  Kants 
Reiigionsphilosophie  im  engeren  Sinne,  i) 

Wenn  wir  nämlich  auf  die  in  der  Welt  der  Objekte  handelnde 
Person  achten,  so  finden  wir  sie  in  einer  gewissen  Konstanz, 
ihrer  Eigenart  entsprechend,  auf  die  Dinge  reagieren.  So  bietet 
sie  sich  zunächst  der  rein  empirischen  Betrachtung  dar.  Man 
kann  die  gewisse  konstante  eigenartige  ßeaktionsweise  eben  unter 
der  „irdischen  Ansicht**  als  den  „subjektiven  Grund  der  Möglich- 
keit einer  Neigung*"  ansehen,  den  man  „Hang*"  (propensio)  nennt. 
Rückt  man  nun  diesen  „Hang"*  unter  den  Gesichtspunkt  der  Wert- 
kategorien von  gut  und  böse,  so  zeigt  sich,  dass  er  als  „Hang 
zwar  angeboren  sein  kann,  aber  doch  nicht  als  solcher  vorgestellt 
werden  darf,  sondern  auch  (wenn  er  gut  ist)  als  erworben,  oder 
(wenn  er  böse  ist)  als  vom  Menschen  selbst  sich  zugezogen  ge- 
dacht werden  kann."*) 

Er  ist  „angeboren"  und  soll  doch  als  durch  freie  Willkühr  der 
Persönlichkeit ,  erworben"  und  „zugezogen"  gedacht  werden.  Wie  ist 
das  möglich?  In  der  räumlich-zeitlich  bestimmten  Welt  der  Dinge  kann 
er  nicht , erworben"  und  „zugezogen"  sein,  denn  unter  der  empirischen 
Ansicht  ist  er  schon  als  Grundlage  eben  jener  Reaktionsweise  der 
Person  da,  und  wird  dieser  als  „angeboren"  zugerechnet.  Soll  er 
darum  „erworben"  und  „zugezogen"  sein  —  und  er  muss  dafür 
angesehen  werden,  damit  Verantwortlichkeit  und  Bewertung  mög- 
lieh  sei  — ,  so  kann  er  nur  von  der  intelligiblen  Persönlichkeit 
„erworben"  und  „zugezogen"  sein.  £r  weist  also  auf  diese  zurück 
und  ist  eine  raum-zeit-lose  „intelligible  That"«)  der  intelligiblen 
Persönlichkeit.  Die  „intelligible  That"  verhält  sich  zur  intelligiblen 
Persönlichkeit  wie  die  phänomenale  That  (factum  phaenomenon) 
zur  empirischen  Person.  Wie  im  Empirischen  die  That  als  Aus- 
fluss  der  empirischen  Person  (nach  ihrer  angeborenen  Reaktions- 
weise und  Relation  zu  den  Dingen),  so  wird  die  „intelligible  That" 


1)  Die  vorangehenden  Bemerkungen  fassen  nicht  bloss  kurz  das  Be- 
soltat  der  transscendentalen  Analytik  der  Kritik  der  reinen  Vemonft  zn- 
sammen,  sondern  lehnen  sich  an  Kantische  Gedankengänge  auch  der 
Kritik  der  praktischen  Vernunft,  der  Religion  innerhalb  der  blossen  Ver- 
nunft und  der  Kritik  der  Urteilskraft  (in  der  hierfür  besonders  das  Ver- 
hältnis von  bestimmender  und  reflektierender  Urteilskraft  von  Bedeutung 
ist)  an,  die  sämtlich  nach  dieser  Richtung  hin  konvergieren. 

*)  Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft  S.  122. 

>)  a.  a.  O.  S.  125  f.,  wo  diese  Bestimmung  mit  Rücksicht  auf  den 
,,Hang  zum  Bösen*'  besonders  klar  getroffen  wird. 

29* 


450 


B.  Bauch. 


als  Ausfluss  freier  Willkühr  der  intelligiblen  Persönlichkeit  ge- 
dacht Aber  wie  im  Empirischen  der  Hang  als  ^angeboren",  die 
That  demtiadi  durch  die  ^angeborene**  Eigenart  der  Pei-son  be- 
stimnit  erscheiDt,  so  nmss  iimi  weiter  auch  die  intelligible  Thal 
als  durch  die  Eigenart  der  ititelligiblen  Persönlichkeit  bestimmt 
nicht  angeboren  j  aber  angelegt  —  erscheinen,  damit  sie  als  deren 
Wesen  gemäss  ihr  ztigerechnet  werden  kann.  Die  ^intelligible 
That"  erfordert  somit  eine  „intelligible  Anlage.**^) 

Die  „intelligible  Anlage**  bestimmt  die  „intelligible  That** 
und  diese  wiederuni  weiter  das,  was  wir  so  gewöhnlich  Charakter 
nennen,  also  den  Hang,  die  gewisse  Richtung  in  der  Weit  zu 
wirken  und  zu  handeln.  Ja  der  Charakter  ist  nichts  Anderes,  als 
die  in  die  Erscheinung  getretene  „intelligible  That"  der  intelU- 
giblen  Persönlichkeit  selbst.  Diese  bestimmt  somit  selbst  ihren 
Charakter,  ihre  Person,  und  eben  darum  richtet  sich  alles  Verant- 
wortlichmachen  für  den  Charakter  an  die  die  Person  bestimmende 
intelligible  Persönlichkeit  selbst  und  hat  darin  seinen  Berechti- 
gungsgrund.  Und  weil  der  Charakter  so  durch  eine  einheitliehe 
intelligible  That  bestimmt  wird,  so  hat  auch  in  der  Pei-son  ^das 
Hinnenleben  in  Ansehung  des  intelligiblen  Bewusstseins  seines  Da- 
seins (der  Freiheit)  absolute  Einheit  eines  Phänomens,  welches, 
sofern  es  bloss  Erscheinung  von  der  Gesinnung,  die  das  moralische 
Gesetz  angeht  (von  dem  Charakter  '^})  enthält,  nicht  nach  der 
Naturnotwendigkeit,  die  ihm  als  Erscheimuig  zukommt,  sondeni 
nach  der  absoluten  Spontaneität  der  Freiheit  beurteilt  wei 
muss.**») 

Die  „intelligible  Anlage"  zui'  „intelligiblen  That**  una 
„Charakter^  in  der  Persönlichkeit  ist  zugleich  Anlage  zur  Persön- 
lichkeit im  letzten  Grunde  selbst.  „Die  Anlage  für  die  Persön- 
lichkeit,** sagt  Kant  aber  weiter,  „ist  die  Empfänglichkeit  der 
Achtung  für  das  moralische  Gesetz  als  einer  für  sich  hinreichenden 
Triebfeder  der  Willkühr,"*;  Sie  ist  zugleich  auch  das  Letzte,  auf 
das  wir,  selbst  unter  praktischem  Betracht,  zurückgeführt  werden, 
weil  sie  selbst  auf  „Gott  als  allgemeines  Urwesen**  zurückw^eist. 
Nur  in  ihm  können  wir  die  Wurzel  jener  intelligiblen  Anlage 
ielbst  suchen.    Damit  scheint  sich  aber  gleich  eine  neue  Schwierig- 


I 


»)  a.  a.  0,  S.  122. 

*)  Natftrlich  dem  intelligiblen  Charakter. 

•)  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S.  103. 

*)  Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft    S.  121, 


à 


Luther  und  Kant, 


451 


keit  aiitiûiitijun  iinti  rli<*  brt^iheil  al*ermals  zu  gefährden.  „Wenn 
man  uns  nämlich  auch  *'inmuniU  fla.ss  das  intelligible  Subjekt 
in  Ansehung  einer  gegi^beuen  Handlung  noch  frei  sein  kann,  ob- 
gleich  es  als  Subjekt,  das  auch  zur  Siunenwelt  gehörig 
in  Ansehung  derseliieu  fiierhaniscli  bedingt  ist,  so  scheint  es  doch, 
man  müsse,  sobald  man  annimmt,  üott  als  allgemeines  Urwesen 
^i  die  Ui-sache  auch  der  Existenz  der  Substanz  inin  Satz,  der 
niemals  aufgegeben  werden  darf,  ohne  den  Begriff  von  Gott  als 
Wesen  alier  Wesen,  und  hiermit  seine  AUgeuugsamkeit,  auf  die 
alles  in  der  Theologie  ankommt,  zugleich  mit  aufzugeben),  auch 
einräumen;  die  Handlungen  des  Menschen  haben  iu  demjenigen 
ihren  Bestimmuugsgruud,  was  gänzlich  ausser  ihrer  Gewalt  ist, 
Dämbch  der  Kausalität  eines  von  ihm  unterschiedenen  höchsten 
Wesens,  von  welchem  das  Dasein  des  erstereu  und  die  ganze 
Bestimmung  seiner  Kausalität  ganz  und  gar  abhängt.**  *)  Danach 
würde  der  Mensch  wieder  aller  Selbständigkeit  beraubt,  als  könnte 
er  nichts  aus  eigener  Kraft.  Ähnlich  wie  iu  der  kirchlichen 
Gnadenlehre  wlirde  all  sein  Thun  „als  Wirkung  vom  Einfluss 
einer  äusseren  höheren  wirkenden  Ui^ache,  in  Ansehung  deren 
der  Mensch  sich  bloss  leidend  verhielte,  vorgestellt  werden***  ') 
Allein  Kant  hat  eine  Lösung  dieser  Schwierigkeit  gefunden,  ^Die 
Auflösung  obgedachter  Schwierigkeit  geschieht  kurz  und  einleuch- 
tend auf  folgende  Art;  Wenn  die  Existenz  in  der  Zeit  eine  bloss 
sinnliche  Vorstelhingsart  der  denkenden  Wesen  in  der  Welt  ist, 
folglich  sie  als  Dinge  an  sich  selbst  nicht  angeht,  so  ist  die 
Schöpfung  dieser  Wesen  eine  Schöpfung  der  Dinge  an 
sich  selbst;  weil  der  Begriff  einer  Schöpfung  nicht  zu  der  sinn- 
lichen Vorstellungsart  der  Existenz  und  der  Kausalität  gehört, 
sondern  auf  Noumenen  bezogen  werden  kann.  Folglich  wenn  ich 
von  Wesen  in  der  Siunenwelt  sage:  sie  sind  ei'schaffen,  so  be- 
trachte ich  sie  sofern  als  Noumenen,  So  wie  es  also  ein 
Widerspruch  wäre,  zu  sagen,  Gott  sei  ein  Schöpfer  von 
Erscheinungen,  so  ist  es  auch  ein  Widerspruch,  zu 
sagen,  er  sei,  als  Schöpfer,  Ursache  der  Handluageu  iu 
der  Sinucnwelt,  mithin  als  Erscheinungen,  w^enn  er 
gleich  die  Ursache  des  Daseins  der  handelnden  Wesen 
(als  Noumenen)  ist  .  .  ,  weil   die  Schöpfung  ihre   intelli- 


i)  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S.  105. 
^  Der  Streit  der  Fakultäten  S.  360. 


462 


B.  Bauch, 


gible,  iiit'.ht  sensible  Existeuz  betrifft/'»)  Man  kaim 
die  „Anlage  zur  Persönlichkeit''  oder  die  „Empfängliffikeit  der 
Aehtimg"  für  das  nioralisch«i  (Tosetz  als  einer  für  sich  hinreichenden 
Triebfeder"  als  von  (Toit  in  uns  gewirkt  ansehen,  und  doch  die 
Handhingen  als  von  uns  selbst  gewirkt  betrachten,  die  ans  unserem 
in  die  Erscheinung  tretenden  ('harakter  fliessen. 

Denken  mr  nnn  zugleich  zurück  an  di^^  früheren  Ausfübrnngen 
dieses  Paragraphen,  so  köniu*n  wir  sagen  :  Das  Dynamische  der  gott- 
gewirkteu  intelligiblen  Anlage  soll  durch  unsere  eigene  „intelligible 
That"  energetische  Essenz  erhalten^  die  unseren  rharakier  be- 
stimmt, wie  in  analoger  Weise,  unter  zeitlicher  Anschauung,  die 
Maxime  unsere  Handhnig.  In  theologischer  Sprechweise  konnte 
man  auch  sagen:  Jene  Anlage  sei  Gnade,  insofern  wir  sie  nicht 
selbst  gewirkt  haben,  sie  sei  aber  zugleich  Natur,  weil  sie  zum 
Wesen  der  aus  intelligibler  Schöpfung  hervorgegangenen  intelli- 
giblen Persönlichkeit  gehöre,  ja  selbst  zu  dieser  die  Anlage  sei. 
Und  Sache  dieser  intelligiblen  Persönlichkeit  sei  es  nnn,  spontan 
das  Göttliche  ilires  Wesens  auszuwirken  und  zu  entfalten.  Kant 
sagt  einmal  ausdriiekUch,  Gnade  sei  „nichts  Anderes  als  Natur  des 
Menschen,  sofern  er  durch  sein  eigenes  inneres,  aber  übersinnliches 
Prinzip  (die  Vorstellung  seiner  Pflicht)  zu  Handlungen  bestimmt. 
wird,  welches,  weil  wir  uns  es  erklären  wollen,  gleichwohl  aber 
weiter  keinen  Grund  davon  wissen,  von  uns  als  von  der  Gottheit 
in  uns  gewirkter  Antrieb  zum  Gwten,  davon  wir  die  Anlage  in 
uns  selbst  nicht  gegründet  haben,  mitbin  als  Gnade  vorgestellt 
wird".  Aber  wir  dürfen  nicht  „eine  bloss  passive  Ergebung  an 
eine  äussere  in  uns  Heiligkeit  wirkende  Macht"  contemplativ  üben, 
sondern  „wir  müssen  au  der  Entwickelung  jener  moralischen  An- 
lage in  nus  selbst  arbeiten,  ob  sie  zwar  selber  eine  Göttlichkeit 
des  Urspnings  beweist,  der  höher  ist,  als  alle  Vernunft  (in  der 
theoretischen  Nachforschung  der  Ursache)  und  daher,  sie  besitzen 
nicht  Verdienst,  sondern  Gnade  ist",  auf  dass  die  Persönlichkeit 
ihrer  intelhgiblen  Bestimmung  gemäss  ein  thätiges  Werkzeug  in 
der  Hand  der  Gottheit  werde/^) 

Kant  hat  damit  die  Freiheit  und  Selbstverantwortlichkeit  der 
Persönlichkeit  gewahrt.  Kr  hat  die  Eigenbestimmung  ihres  Wertes 
in   sie   selbst,    vermittels   ihrer  IntelligibilitÄt,    in  ihre  intelligible 


i 


1)  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S.  i07* 
»)  Streit  der  Fakultäten,  ebenda. 


Luther  und  Kant.  463 

That  verlegt.  Wir  erkennen  dadurch,  dass  sie  es  in  VVahiheit 
selber  ist,  die  über  ihren  Wert  und  Unwert  entscheidet.  Aber 
eine  Schwierigkeit  bleibt  bestehen  und  ist  unauflösbar.  Die 
Wurzeln  dos  intelligiblen  Wesens  reichen  zurück  bis  in  die  Gott- 
heit. Aus  der  Gottheit  entspringt  die  Anlage  zur  Persönlichkeit, 
die  Anlage,  das  Moralgesetz  zur  Triebfeder  in  uns  werden  zu 
lassen.  Ob  wir  es  das  werden  lassen,  ob  wir  die  moralische  An- 
lage in  uns  entwickeln  oder  ni(!ht,  ob  wir  das  Moralgesetz  in 
unseren  Willen  aufnehmen  und  es  verwirklichen  wollen,  oder  ob 
wir  ihm  widerstreben,  das  bleibt  unserer  Freiheit  anheimgegeben. 
Die  Freiheit  selbst  ist  damit  gewahrt.  Nun  erhebt  sich  ein  neues 
Problem,  das  keine  Lösung  mehr  findet.  Warum  wir  dem  Moral- 
gesetze Wirklichkeit  zu  geben  bestrebt  sind,  können  wir  verstehen, 
denn,  mit  der  unserer  Anlage  eingegebenen  Achtung  vor  ihm,  ist 
der  Keim,  es  zur  Triebfeder  werden  zu  lassen,  mitbestimmt.  Wa- 
rum wir  ihm  aber  auch  widerstreben,  warum  wir  uns  seiner  Trieb- 
feder widersetzen,  kurz  woher  das  Böse  in  uns  stammt,  bleibt  da- 
mit immerhin  unbegreiflich.  In  einer  Triebfeder  der  Natur  ist  der 
Grund  dafür  nicht  zu  suchen,  sondern  in  der  Maxime  des  Subjekts 
allein.  Aber  dass  das  Subjekt  sich  zu  dieser  bestimmt  hat,  dass 
es  sich  bestimmt  hat,  das  Böse  in  seinen  Willen  aufzunehmen, 
was  in  der  „intelligiblen  That"  der  Persönlichkeit  selber  liegen 
muss,  das  ist,  nach  Kant,  für  unsere  Vernunft  immer  unf asslich.  *) 

§  18. 
Die  Person  als  Gegenstand  der  Achtung. 

Die  Person  jedes  Menschen  ist  nichts  Anderes,  sahen  wir, 
als  die  durch  die  Persönlichkeit  bestimmte,  in  die  p]rscheinung  ge- 
tretene intelligible  That  eben  der  Persönlichkeit.  Mag  sie  ihre 
intelligible  Anlage  immerhin  nicht  ausgeprägt  haben,  sie  enthält 
sie  doch  in  sich  als  einen  göttlichen  Ursprung.  So  gemahnt  uns 
auch   die  Person    an  einen  göttlichen  Urspning.    Und  „auf  diesen 


^)  Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft  S.  114  ff., 
S.  133  ff.,  S.  152  ff.  und  S.  174  ff.  Psychologisch  verständlich  ist  es  infolge 
dieser  Unbegreiflichkeit,  wie  der  Kirchenglaube  auf  den  Teuf elswahn  fallen 
konnte,  indem  er  das  Böse  realistisch  hypostasiert,  und  das  Böse,  anstatt 
in  der  Maxime  der  Persönlichkeit,  letztlich  in  einer  realen  Macht  des 
Teufels  sucht.  Dieser  Wahn  aber  bedeutet  eine  Einschränkung  der  AU- 
genugsamkeit  der  Gottheit,  weshalb  Kant  die  Frage  des  Irokesenknaben 
an  den  ihn  unterrichtenden  Priester  P.  Charlevoix,  warum  Gott  den  Teufel 
nicht  tot  schlage,  ganz  berechtigt  findet  (S.  174  d.  Belg.). 


454 


B.  Bauch, 


Ui'spnmiR:  griiodeii  sich  uiin  mauche  Aiisdrück<%  welche  den  Wert 
der  Geprenstände  nach  moralischen  Id«^eo  bezelchiien.  Das  mora- 
lische (tesetz  ist  heilig  (iiovt^rletzlidi)*  Der  Mensch  ist  zwar  uii- 
\mV\g  geaiig,  aher  die  Menschheit  in  seiner  Pei-sori  niuss  ihm  i 
Iveilig  sein.  In  der  ganzen  Schöpfnng  kann  alles,  was  man  i^ill,  ■ 
mn\  worüber  man  etwas  vermag,  auch  hk»SLS  als  Mittel  gebraucht 
wenlen;  nnr  der  Mensch,  und  mit  ihm  jedes  vernünftige  Geschöpf, 
ist  Zweck  an  sieh  selbst."') 

So   stallt   sich    nns  in  der  Person  sichtbar  die  „Achtnng  er- 
weckende Idee   der  Pei'söiilichkeit'*  dar,    und  die  Person  selbst  ist 
ein  Gegenstand  der  Achtung.     Sie  ist  aber  zugleich  in  der  ganzen 
sichthareii  Welt  der  einzige  Gegenstand  der  Achtung,  wxil  sie  das 
©inrige  „Subjekt  des  moralischen  Gesetzes,  welches  heilig  ist,  ver- 
möge   der  Antonomie    seiner  Freiheit**,*)     Gegen    sie  allein  haben 
wir   also»    als    in    die  Sinnenwelt  selbst  gestellte  Wesen,    die  nur  ^ 
sichtbar   and   auf   sichtbare  Gegenstände    auch   des  Sittengeset^es  ^ 
handeln    können,    PfUchteu.      Und    unsere    Pflichten    gegen    den 
Menschen    gründen    sich    eben    allein    auf  die  Achtung  vor  seiner 
moralischen    Anlage,      Die  Aehtnug    vor   der    Person    ist   zugleich 
Achtung   vor   dem  Moral gesetze,    sie   ist,    weil   dieses  sich  in  uns  fl 
selber,    der  Anlage    nach,    darstellt,    die    auf   uns  selbst  bezogene  " 
Achtung  vor  dem  Moralgesetze. ^)  j 

Da    wir    nun    bloss    dann    sittlich    handeln,    wenn    wir   aus  ^ 
Pflicht  und  aus  Achtung  fürs  Gesetz  handeln«   so  können  wir  der 

Person  gegenüber,  auf  die  sich  unser  pflichtvolles  Handeln  als  auf 
einen  Gegenstand  der  sittlichen  Behandlung  allein  erstrecken 
kann,  mir  dann  wahrhaft  sittlich  handeln,  wenn  wir  uns  aus  Ach- 
tung für  die  Person  dazu  bestimmea  Denn  das  allein  steht  in 
Eins  mit  dem  Handeln  aus  Achtung  fürs  Gesetz,  Mögen  alle 
anderen  Bestiramungsgrnnde  uns  noch  so  gefällig  erscheinen,  sitt- 
lich wertvoll  sind  sie  darum  noch  nicht, 

„Es  ist  sehr  schön,  aus  IJebe  zu  Menschen  und  teilnehmen- 
dem Wohlwollen  ihnen  Gutes  zu  thnn,  oder  aus  Liebe  zur  Ordnung 
gerecht  zw  sein,  aber  das  ist  noch  nicht  die  echte  moralische 
Maxime    unseres    Verhaltens,    die    unserem    Standpiiiikte,    unter 


n 
4 


*)  Kritik  der  praktischen  Vernunft  S,  $1  f. 

•)  Ebi'iuhi. 

*)  Vgl  meine  Schrift  ^Glückseügkeit  und  Persönlichkeit' 


Luther  und  Kant. 


455 


verniinftigeu  Wesen/)  als  Meuscheii  angemessen  ist,  wenn  wir 
iiüs  anmasseD,  gleichsam  als  VolontaiiT,  uns  mit  stolzer  EiiibildUDg 
über  den  Gedanken  von  ï^flicht  wegzusetzen^  und,  als  vom  Gebote 
unabhängig,  bloss  aus  eigener  Lust  das  thun  zu  wollen,  wozu  fiir 
nns  kein  (^ebot  notig  wäre.  Wir  stehen  unter  einer  Disziplin  der 
Vernunft,  und  müssen  in  allf^n  nnsereu  Maximen  der  Unterwürfige 
keit  nuter  derselben  nicht  vergessen,  ihr  nichts  zu  entziehen,  oder 
dem  Ansehen  des  Gesetzes  (ob  es  gleich  unsere  eigene  \^?rnuiift 
giebt)  durch  eigenliebigen  Wahn  dadurch  etwas  abzukürzen,  dass 
wir  den  Bestimmungsgrund  unseres  Willens,  wenngleich  dem  Ge- 
setze gemäss,  tloeh  worin  anders,  als  im  Gesetze  selbst,  und  in 
der  Achtung  für  dieses  Gesetz  setzten,  Pfticht  und  Schuldigkeil 
sind  die  Benennungen,  die  wir  allein  unserem  Verhältnisse  zum 
moralischen  Gesetze  geben  müssen.  Wir  sind  zwar  gesetzgebende 
Glieder  eines  durch  Freiheit  möglichen,  durch  praktische  Vernunft 
QQs  zur  Achtung  vorgestellten  Reiches  der  Sitten,  aber  doch  zu- 
gleich Unterthanen,  nicht  das  Oberhaupt  desselben,  und  die  Ver- 
kennung  unserer  niederen  Stufe  als  Geschöpfe,  und  Weigerung 
des  Eigendünkels  gegen  das  Ansehen  des  heiligen  Gesetzes,  ist 
schon  eine  Abtrünnigkeit,  dem  Geist©  nach»  wenngleich  der  Buch- 
stabe desselben  erfüllt  würde."-) 

Kant  betont  zu  wiederholten  Malen,  dass  er  sich  damit  in 
völliger  Übereinstimmung  mit  dem  christlichen  Gebote  der  Gottes- 
iind  Nächstenliebe  befinde.  Unmittelbar  nach  der  soeben  zitierten 
Stelle  heisst  es:  „Hiemit  stimmt  aber  die  Möglichkeit  eines 
solchen  Gebotes,  als:  Liebe  Gott  über  alles  und  deinen  Nächsten 
als  dich  selbst,  ganz  wohl  zusammen.  Denn  es  fordert  doch,  als 
Gebot,  Achtung  für  ein  Gesetz,  das  Liebe  befiehlt,  und  überlässt 
es  nicht  der  beliebigen  Wahi,  sich  diese  zum  Prinzip  zu  machen. 
Aber  Liebe  zu  Gott,  als  Neigung  (pathologische  Liebe),  ist  unmög- 
lich; denn  er  ist  kein  Gegenstand  der  Sinne.  Eben  dieselbe  gegen 
Menschen  ist  zwar  möglich,  kann  aber  nicht  geboten  werden;  denn 
es  steht  in  keines  Menschen  Vermögen,  jemand  bloss  auf  Befehl 
zu  lieben.  Also  ist  es  bloss  die  praktische  Liebe,  die  iu  jenem 
Kern   aller  Gesetze    verstanden   wird."     Unter  dieser  praktischen 


*)  Neigung  und  Liebe,  sagt  Kant,  kann  sich  auch  auf  Tiere  er- 
strecken. Aber  „Achtung  geM  jederzeit  nur  auf  Perionen"»  VgL  Kritik 
der  praktischen  Vernunft  S.  80. 

*)  a.  a.  O,  S.  86  f.    Vgl  oben  g  15. 


4ô6 


B.  Bttuch, 


Ijjpbe  versteht  Kant,  also  die  Krfnlliing  aller  seiner  Pf lichteu  gege 

de«  NäehstBii  als  ^öUlirher  (4ebote,^) 

Und    an    eiiuT  aiidoreii  Stelle  heisst  es  in  äliiiüehem  Zusaii 
menhaiigt?:    „So    sind  olme  Zweifel  auch  die  Scliriftslellen  zu  ver 
siehcti,  darin  efeboten  wird,  seinen  Nächsten,  seihst  unseren  Feind 
/AI    liehen.     Denn  Liehe    als  Nei^nug   kann  nicht  geboten  werden, 
aber  Wohltbnn    ans  Pflicht,    seihst    wenn  dazn  g^ar  keine  Neigrnug^ 
treibt,   Ja    sii^rar   natüjiicbe  und  nnhezwin^^diche  Alinei^nug  widei 
steht»  ist  praktische,  nicht  pathologische  Liebe,  die  im  Willen  lie 
und  nicht  irn  Hanr^e  der  Enii)fin(lungen,  in  Grnndsätzen  der  Hand- 
lung nnd  nicht  in  schmelzender  Teilnehmung;  jene  aber  allein  kann 
geboten  werden." ^j 

Diese  l'nierscheidntjg  zwischen  dem  Hang  der  pjmpfiucUirigHü 
nnd    dem    Willen,    zwischen    schmolzeinler  Teilnehmung    nnd    deiai. 
(irnmlsätzen  ûer  H  ami  lung  riicksichtlich  der  Liebe,   an  der  daruiiM 
selbst    pathologische    nnd  ju'aktische  Liebe  nuterschiedeu  wird,  ist. 
sehr  bedentsauL     Wenn  wir  ans  Liebe  im  gewöhnlichen  Sinne  de^H 
Wortes    (pathologischer   Liehe)    bandeln,    so    mag   das,    wie   Kaol^ 
sagt,    „sehr   schön**  sein,   aber  sittlich  ist  es  nicht.     Mit  dem  Ge- 
bote   der    praktischen  Liebe   dagegen  ist  die  spontane  Willeosthat 
gefordert,    den  Nächsten    als   einen  (legenstaml  der  Pflicht  zu  be- 
trachten,   ihn   als  „Snhjekt  des  moralischen  Ueaetxes",    welches  er_ 
in  seiner  Person  darstellt,  zu  achten. 


Kapitel  V. 
Vom  Wesen  der  Religion. 

tJosere  vorhergehenden  Untersuchungen  haben  uns,  wi^ 
scheint,  mit  immanenter  Notwendigkeit,  auf  religiöse  Fragen  un^ 
Probleme  geführt.  Die  ethischen  Gesichtspunkt^^  leiteten  notwendig 
zu  religiösen  hinüber.  Kant  selbst  sagt,  dass  das  notwendig  so 
sei.  Die  Moral  „bedarf  zwar  keineswegs  der  Religion,  sondern, 
vermöge  der  reinen  praktischen  Vernunft,  ist  sie  sich  selbst  ge- 
nug".^) Doch  .Jährt  sie  unumgänglich  zur  Religion**.*)  Wir 
haben  das  in  den  vorhergehenden  Untersuchungen   mit  aller  Deut- 


')  Ebenda. 

2)  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  S.  247. 

3)  Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  V 
*)  a.  a.  O.  S.  im. 


. 


Luther  und  Kant.  457 

lichkeit  gesehen.  Die  „sittlichen  Begriffe""  stehen  ganz  und  gar 
für  sich  fest,  und  der  Mensch  „bedarf  weder  der  Idee  eines  an- 
deren Wesens  über  ihm,  um  seine  Pflicht  zu  erkennen,  noch  einer 
anderen  Triebfeder,  als  des  Gesetzes  selbst,  um  sie  zu  beob- 
achten", 0  weil  er  „keines  materialen  Bestimmungsgrundes  der 
freien  Willkühr"  ^  bedarf.  Man  könnte  also  ohne  die  Idee  Gottes, 
und  ohne  diesen  Namen  zu  kennen,  durchaus  moralisch  handeln 
und  ein  sittlich  wertvoller  Mensch  sein  —  also  den  höchsten  und, 
nach  Kant,  einzigen  Wert  in  sich  darstellen,  den  der  Mensch  in 
sich  darzustellen  vermag.  Nur  wenn  wir  nach  der  Möglichkeit 
der  Moralität  in  metAphysischer  Absicht  fragen,  wobei  aber  diese 
Art  Metaphysik  selbst  keine  theoretisch-konstitutive  ist,  sondern 
lediglich  eine  praktisch-postulative  bleibt,  also  nicht  wenn  es  sich 
darum  handelt,  moralisch  zu  sein,  sondern  die  Möglichkeit  der 
Moralität  uns,  wenn  auch  nicht  als  theoretisch-begriffliche  Einsicht, 
sondern  praktisch  fasslich  zu  machen,  kurz  nicht  durch  Moralität, 
sondern  durch  Moral  ^)  werden  wir  auf  die  Idee  Gottes  und  damit 
zur  Religion  geführt.  Es  ist  damit  aber  noch  gar  nicht  ausge- 
macht, ob  wir  nun  auch  gleich  auf  einen  prinzipiell  von  dem  der 
Moral  verschiedenen  Standpunkt  gelangt  sind,  oder  nicht,  und  was 
der  Standpunkt  der  Religion  überhaupt  bedeutet.  Das  können  wir 
erst  entscheiden,  wenn  wir  uns  deren  Prinzip  selbst  genauer  an- 
gesehen haben. 

§  19. 
Das  Prinzip  der  Religion. 
Um  das  Prinzip  der  Religion  und  deren  einzigen  Gegenstand, 
die  Gottheit,  handelt  es  sich.  Wollen  wir  verstehen,  wie  wir  zu 
emem  Prinzip  der  Religion  gelangen  können,  so  müssen  wir  uns 
bewasst  bleiben,  wie  wir  überhaupt  zur  Idee  der  Gottheit  gelangt 
sind.  Zu  dieser  kamen  wir  aber,  das  sahen  wir  in  den  vorigen 
Aasführungen,  durch  die  Idee  der  vollkommenen  Angemessenheit 
zum  Moralgesetze.  So  setzt  die  Religion  schon  Moral  voraus, 
die  erst  zu  ihr  führt,  indem  die  Moral  selbst,  wie  Kant  sagt,  „aus 
sich  die  Idee  der  Gottheit  erzeugte".     Wenn  also  auch  Moral  ohne 


1)  a.  a.  O.  S.  97. 

^  Ebenda. 

*)  Hier  wird  nun  die  Notwendigkeit  jener  Unterscheidung  vom 
Theoretischen  und  Praktischen,  von  der  wir  im  zweiten  Teil  der  Arbeit 
ausgingen,  ganz  besonders  evident. 


468  B.  Baach, 

Religion  möglich  ist,  so  ist  doch  echte  Religion  nicht  ohne  Moni 
möglich.  Und  alle  morallose  Religion  ist  Afterreligion,  Sdiein- 
religion.  Das  Prinzip  der  Religion  ist  nichts  ohne  das  der  Moral 
Das  Prinzip  der  Moral  nnn  ist  die  Autonomie,  also  ist  anch  dis 
Prinzip  der  Religion  nicht  ohne  Autonomie  möglich. 

Wie  wir  von  diesem  durch  die  Idee  des  höchsten  Gutes  mit 
der  in  ihr  enthaltenen  Idee  der  vollkommenen  Angemesseohrit 
zam  Moralgesetze  erst  zur  Idee  der  Gottheit  gelangten,  und  danü 
zum  Gegenstande  der  Religion,  so  konnten  wir  die  Gottheit  sdbsi 
erst  als  die  der  Idee  des  höchsten  Gutes  korrespondierende  Da^ 
Stellung  dieser  Idee  ansehen.  Die  Moral  „erweitert^  ^)  sich  also 
zur  Religion  durch  „die  Idee  eines  machthabenden  moralischen 
Gesetzgebers  ausser  dem  Menschen,  in  dessen  Willen  daifjenige 
Endzweck  (der  Weltschöpfung)  ist,  was  zugleich  der  Endzweck 
des  Menschen  sein  kann  und  sein  soU**.^ 

In  diesem  Willen  wird  die  vom  Moralgesetze  an^^egebene 
Vollkommenheit  objektiv  gedacht  und  darum  können  die  vom  Mo- 
ralgesetze aufgegebenen  Pflichten  selbst  als  götüiche  Gebote  an- 
gesehen werden.  Religion  ist  darum  selbst  der  Inbegriff  »aller 
unserer  Pflichten  als  göttlicher  Gebote**.^ 

Sie  ist  darum  nicht  zu  verwechseln  mit  der  Theologie,  wie 
es  so  oft  geschieht.  Denn  oft  werden  schon  gewisse  Lehren,  die 
als  göttliche  Offenbarungen  ausgegeben  werden,  und  der  Glaube 
daran,  für  Religion  gehalten,  während  das  doch  nur  Theologie  und 
dann  den  Glauben  an  theologische  Lehren  bedeutete.  Ein  Glaube, 
der  „an  sich  kein  Verdienst,  und  der  Mangel  desselben,  ja  sogar 
der  ihm  entgegenstehende  Zweifel  an  sich  keine  Verschuldung* 
ist.^)  Denn  selbst  dieser  Glaube,  sofern  er  inhaltlich  bestimmt  ist, 
Hesse  sich  eben  wieder  nur  als  blosser  Inhalt  des  Gesetzes,  nicht 
aber  als  die  allein  massgebende  Form  desselben  ansehen.  Er  kann 
darum  niemals  als  für  alle  giltig  geboten  werden,  weil  sich  Mein- 
ungen überhaupt  nicht  gebieten  lassen,  und  weil  ein  aufgezwun- 
gener Glaube  eben  nie  im  Inneren  der  Person  wurzelt.  „Das 
Glauben  verstattet  keinen  Imperativ*,  sagt  Kant.^)  Wenn  es 
aber  geboten  wird,  so  führt  es  zur  Heuchelei  und  Unaufrichtigkeit, 


1)  Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft  S.  100. 

*)  a.  a.  0.  ebenda. 

3)  Streit  der  Fakultäten  S.  353. 

*)  a.  a.  0.  S.  35a 

»)  a.  a.  O.  S.  360. 


Luther  und  Kant  459 

eben  weil  ein  Glauben  auf  Befehl  ein  Unding  ist,  und  das  wahre 
Glauben   die    ureig^enste    Funktion   der   Persünlichkeit   sein    muss. 
Unter  diest^m  Betracht  wird  selbst  fiir  den  gemeinen  Verstand  der 
Glaube    in    seinem  Wert    immer  abhängig  gedacht  vom  dem  wirk- 
lichen,   innerlichsten  Erleben    des  Einzelnen.     Er  wird  also  selbst 
vom    gemeinen    Bewusstsein    unter   dem  W^ertmass   des  Sittlichen 
beurteilt,    d.  Il  für  verwerflich    erachtet,    wenn  er  nur  auf  Befehl 
angenommen    wird.     „Denn    dieser  Glaube    ist   so    wahrhaftig  ein 
Thun,  das  durch  Eurcht  abgezwungen  wird»  dass  ein  aufrichtiger 
Mensch    eher  jede    andere  Bedingung    als    diese  eingehen  mochte, 
weil    er    bei    allen    anderen    Frohndiensteu    allenfalls    nur   etwas 
Überflüssiges,  hier  aber  etwas  dem  Gewissen  in  einer  Deklaration, 
von  deren  Wahrheit  er  nicht  überzeugt  ist.  Widerstreitendes  thun 
würde/*  ^)     Man    sieht    also,    wie  die  wahre  Religion  an  einen  in- 
haltlichen,   oder    sagen    wir,    dogmatischen  Glauben   nie  gebunden 
sein    kann,    weil    er   dem    Gewissen   des    Einzelnen  zuwider   sein 
könnt*'.     Daraus   würde  die  Vernichtung  aller  Antonomie  der  Per- 
sönlichkeit,   mithin   des  Moralprinzips  und  aller  Moralität,    und  da 
diese    die  unerlässliche  Voraussetzung  zur  Religion  sind,    auch  die 
"Vemichümg  aller  Religion  folgen.     Diese  duldet  keinen  Zwang. 

Es  wäre  darum  nicht  allein  logisch  verkehrt,  sondern  auch 
für  die  Moral  höchst  gefährlich  und  verderblich,  für  unser  Handeln 
eine  Weitbestimmung  etwa  „aus  dem  theologischen  Begriff  von 
einem  allervoUkommensten  Wesen  abzuleiten,  nicht  bloss  deswegen, 
weil  wir  seine  Vollkommenheit  doch  nicht  anschauen,  sondern 
sie  von  unseren  Begriffen,  unter  denen  der  der  Sittlich- 
keit der  vornehmste  ist,  allein  ableiten  können,  sondern 
weil,  wenn  wir  dieses  nicht  thun  (wie  es  denn,  wenn  es  geschähe, 
ein  grober  Zirkel  im  Erklären  sein  würde),  der  uns  noch  übrige 
Begriff  seines  Willens  aus  den  Eigenschaften  der  Ehr-  und 
Herrschbegierde,  mit  den  furchtbaren  Vorstellungen  der  Macht  und 
des  Nacheifers  verbunden,  zu  einem  System  der  Sitten,  welches 
der  Moralität  gerade  entgegengesetzt  wäre,  die  Grundlagen  machen 
müsste."*) 


1)  Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft   S.370f* 

2)  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  S.  29L  Kant  hat  hier 
die  unwürdige  Gottesidee  hn  Sinne,  wie  sie  fürs  Judentum  charakteristisch 
ist,  und  die  auch  das  Christentum,  das,  nach  Kaots  Überzeugiingi  selbst 
noch  zu  viel  Judentum  in  sich  enthält,  nicht  genugsam  geläutert  bat.  Wir 
kommen  darauf  zurtlck. 


460  B.  Bauch, 

So  zeig^  sich  dnrch  die  Gefirenüberstellimg  von  Theologie  «nd 
Religion  zunächst  negativ,  dass  sich  aach  rucksichtlidi  der  Eeli- 
gion  alles  Gebieten  etwelchen  inhaltlichen  Glaubens  als  ebeoBO 
unmöglich  erweist,  wie  rücksichtlich  der  Moral  das  Grebieteo  et- 
welchen inhaltlichen  Thuns,  eben  weil  das  Glauben  selbst  ein 
ThuD  ist.  Und  der  religiöse  Glaube:  seine  Pflichten  als  göttlick 
Gebote  aufzufassen,  und  sie  als  solche  zu  erfüllen,  ist  selbst  ledig- 
lich Glaubensprinzip,  das  sich  materialiter  in  keiner  Weise  too 
Moralprinzip  unterscheidet.  Darum  wird  zugleich  positiv  klar:  die 
Religion  ist  nur  dann  wahrhaft  Religion,  wenn  ihr  Prinzip  ran 
moralisch  ist,  wenn  wir  ein  wahrhaft  „moralisches  Prinzip  der 
Religion"*  zu  Grunde  legen.  ^)  Durch  dieses  kann  uns  also  nichts 
Anderes  geboten  werden,  als  durch  das  Moralprinzip  selbst,  d.  h. 
allein  ein  guter  Lebenswandel.  Und  „alles,  was  ausser  dem  gatai 
Lebenswandel  der  Mensch  noch  thun  zu  können  vermeint,  am 
Gott  wohlgefällig  zu  werden,  ist  blosser  Religionswahn  und  After 
dienst  (Sottes".«) 

Also  „nicht  der  Inbegriff  gewisser  Lehren  als  göttlicher 
Offenbarungen  (denn  das  heisst  Theologie),  sondern  der  aller  uh 
serer  Pflichten,  als  göttlicher  Gebote  (und  subjektiv  der  Maziine, 
sie  als  solche  zu  befolgen)  ist  Religion''.«)  Eä  mag  darum  noeh 
so  viele  Inbegriffe  gewisser  Lehren  als  göttlicher  Offenbarungen 
geben,  d.h.  noch  so  viele  inhaltlich  bestimmte  Glaubensarten  and 
Theologieen;  wie  es  nur  eine  Moral  giebt,  wie  moralisch  sein 
nichts  anderes  heisst,  als  „aus  Pflicht''  handeln,  so  giebt  es  auch 
nur  eine  Religion,  so  heisst  religiös  sein  nichts  anderes,  als  seiner 
Pflicht  den  Wert  eines  göttlichen  Gebotes  zuerkennen,  und  darum 
um  der  Pflicht  selbst  willen  handeln. 

Diese  erkennen  wir  aber  lediglich  durch  die  a  priori  geset^ 
gebende  Vernunft,  eben  weil  diese  allein  in  der  Form  der  Auto- 
nomie der  Persönlichkeit  gesetzgebend  ist  und  auch,  indem  sie 
bestimmt,  was  Pflicht  ist,  zugleich  bestimmt,  was  göttliches  Gebot 
ist.  Pflicht  und  göttliches  Gebot  sind  ein  und  dasselbe  nur  von 
verschiedenen  Seiten  betrachtet.  Also  die  Religion  muss  „übe^ 
haupt  auf  Vernunft  gegründet  und  natürlich  sein^,  sagt  Kant,  und 
sie  „unterscheidet  sich  nicht  der  Materie,  d.  i.  dem  Objekte  nach 


^)  Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft  S.  270. 

*)  a.  a.  O.  ebenda. 

^  Streit  der  Fakultäten  S.  363. 


Luther  nnd  Kant.  461 

in  irgend  einem  Stücke  von  der  Moral,  denn  sie  geht  auf  Pflichten 
überhaupt,  sondern  ihr  Unterschied  von  dieser  ist  bloss  formal, 
d.  i.  eine  Gesetzgebung  der  Vernunft,  um  der  Moral 
durch  die  aus  dieser  selbst  erzeugte  Idee  von  Gott  auf 
den  menschlichen  Willen  zur  Erfüllung  aller  seiner 
Pflichten  Einfluss  zu  geben". J) 

Damit  ist  das  Prinzip  der  Religion  und  das  in  ihrem  Wesen 
liegende  Ziel  festgestellt.  Es  ist  die  Aufgabe  des  guten  Lebens- 
wandels, der  auf  dem  Bewusstsein  der  Pflicht  und  der  ihm  ent- 
sprechenden Maxime  sich  aufbaut,  also  die  Aufgabe,  wie  Kant 
sagt,  „Tugend  in  der  Welt  zu  verbreiten". 

§  20. 
Die  Mittel  zur  Erfüllung  der  religiösen  Aufgabe. 
Das   religiöse  Prinzip,   das   nichts   anderes   ist,   als  das  auf 
Gott   als   den   sittlichen  Weltgrund   bezogene  Moralprinzip,   stellt 
also  keine  andere  Aufgabe,  wie  eben  das  Moralprinzip  selbst.    Es 
will   diesem  nur   durch  die  Idee  Gx)ttes  Einfluss  auf  den  mensch- 
lichen Willen  verschaffen.    Damit  ist  das  letzte  und  höchste  Ziel 
dasselbe    geblieben.       Es   ist    nur    eine    neue   Aufgabe    zur    Er- 
Teichuug  dieses  Zieles  mitgestellt;   eine  Aufgabe,   deren  Erfüllung 
aber   keineswegs   leicht   ist.    Denn  dadurch,  dass  unser  Wille  als 
das   einzig  Gute,   das   in  der  Welt,  ja  auch  ausserhalb  derselben 
zu  denken  möglich  ist,  erkannt  wird,  dass  in  ihn  und  seine  Maxime 
alle  Wertbeurteilang  zurückverlegt  ist  und  nicht  in  die  äusserliche 
That,  den  äusseren  Erfolg  gesetzt  wird,  lässt  es,   wie  wir  es  von 
Kant  schon  erfuhren,  die  sittliche  religiöse  Aufgabe  nicht  etwa  bei 
einer   sogenannten   guten  Meinung  bewenden,  wonach  der  Mensch 
sich   in   bloss   passiver  Ergebung  leidend  verhalten  müsste.    Viel- 
mehr  wird  gerade  dadurch,   dass  der  Wille  die  letzte  Instanz  der 
Wertentscheidung   und   zugleich   das  Vermögen   der   Spontaneität 
ist,  alles  in  die  Mühe  und  „eigene  Kraftaufwendung",  denn  nichts 
anderes  ist  der  gute  Wille,  gesetzt,  2)  mag  allerdings  dabei  heraus- 
kommen, was  es  auch  sei.    Nur  das  redliche  Bemühen,  das  Sitteu- 
g;esetz   zu   verwirklichen,    wird   verlangt   von  der  Moral  und  von 
der  Religion. 

Aber  selbst  wenn  man,  wie  Moral  und  Religion  es  wollen, 
von  dem  Äusserlichen  des  Effekts  absieht,  und  alles  auf  das  red- 

1)  a.  a.  O.  S.  262  f. 
«)  VgL  §  16  und  §  17. 


402 


B.  B« 


i 


i 


liehe  Bemüheü  der  Person  ankommen  lässt,  ergeben  sich  für  dieses 
«loch  ganz  gewaltige  Schwierigkeiten,  sich  auch  DUr  als  solches 
auszuwirken.  Wir  erinnern  nns,  dass  Kant*)  von  der  Unhegti^if- 
lichkeit  des  Bösen  gesproclien  hatte,  das  trotz  der  göttlich  ge- 
wirkten  ursprünglichen  Anlage  zum  Guten  in  uns  mächtig  sei  and 
unsere  Maxime  verkehre.  Und  dieses  Böse  in  uns  ist  es  attch, 
was  sich  dem  redlichen  Bemühen  der  Person,  das  Gute  zu  ver- 
wirklichen und  in  einem  guten  Lebenswandel  darzustellen,  wider- 
setzt, oder  es  gar  nicht  aufkommen  lasst.  „In  diesem  gefalirvoUeû 
Zustande  ist  der  Mensch  gleichwohl  durch  seine  eigene  Schuld;') 
folglich  ist  er  verbunden,  soviel  er  vermag,  wenigstens  Kraft  an- 
zuwenden, um  sich  aus  demselben  herauszuarbeiten.  Wie  aber? 
Das  ist  die  Frage.  -  Wenn  er  sich  nach  den  Ui'sachen  und  Um- 
ständen umsieht,  die  ihm  diese  Gefahr  zuziehen  und  ihn  darin  er* 
halten,  so  kann  er  sich  leicht  überzeugen,  dass  sie  ihm  nicht  so- 
wohl von  seiner  eigenen  rohen  Natur,  sofern  er  abgesondert  da 
ist,  sondern  von  Menschen  kommen,  mit  denen  er  in  Verhältnis 
oder  Verbindung  steht.  Nicht  durch  die  Anreize  der  erstereu 
werden  die  eigeutUch  so  zu  benennenden  Leidenschaften  in  ihm 
rege,  welche  so  grosse  Verheerungen  in  seiner  ursprünglich  gnten 
Anlage  anrichten.  Seine  Bedürfnisse  sind  nur  klein,  und  sein  öe^  J 
mütszustaud  in  Besorgung  derselben  gemässigt  und  ruhig*  Er  isfl 
nur  arm  (oder  hält  sich  dafür)  sofern  er  besorgt»  dass  ihn  andere 
Menschen  dafür  halten  und  darüber  verachten  möchten.  Der 
Neid,  die  Herrschsucht,  die  Habsucht  und  die  damit  verbundenen 
feindseligen  Neigungen  bestürmen  seine  an  sich  genügsame  Natur, 
wenn  er  unter  Menschen  ist,  und  es  ist  nicht  einmal  n^tig, 
dass  diese  schon  als  im  Bösen  versunken  und  als  verleitende  Bei* 
spiele  vorausgesetzt  werden;  es  ist  genug,  dass  sie  da  sind, 
dass  sie  ihn  umgeben,  und  dass  sie  Menschen  sind,  um  einander 
wechselseitig  in  ihrer  moralischen  Anlage  zu  verderben  und  sieb 
einander  böse  zu  machen;"^)  Danach  genügt  es  also,  bloss  ein 
Mensch  unter  Menschen  zu  sein,  um  allen  Gefahren  der  Bosheit 
und  Verderbnis  preisgegeben  zu  sein;  im  anderen  ,^durch  emen 
Zostaad    der   unaufhörücheu  Befehduug",    die  Würde    der   Person 


1)  Vgl.  ebenfalls  §  17. 

^  Hier  denkt  Kant  an  die  „intelligible  ThBt>*  der  Persönhclikeit, 
während  in  den  folgenden  Bemerkungen  der  Schwerpunkt  der  Betrachtmig 
auf  dBi8  reale  Verhältnis  von  Person  asu  Person  verlegt  wird. 

*)  Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft  S.  169^ 


Luther  und  Kant.  463 

nicht  nur  nicht  zu  achten,  sondern  sie  zu  zerstören  und  die  An- 
lage zum  Guten  zu  verderben.  Ein  Zustand  des  Neides,  der  Hab- 
sucht und  Herrschsucht  ist  ein  Zustand  des  Krieges  aller  gegen 
alle,  und  zu  ihm  scheint  uns  das  Böse  in  unserer  Natur  verur- 
teilen zn  wollen.  Kant  selbst  weist  auf  Hobbes  und  seinen  Be- 
griff des  bellum  omnium  in  omnes  hin.  Nur  möchte  er  für 
»bellum*  lieber  »status  belli'  gesetzt  wissen,  um  gleich  anzudeuten, 
dass,  wenn  auch  wirklich  nicht  immer  offenkundige  Feindselig- 
keiten herrschen,  doch  der  Mensch  immer  eigener  und  fremder 
Willkühr  trotz  aller  moralischen  Anlage  anheimgegeben  ist,  so- 
lange er  nur  als  Mensch  unter  Menschen  sich  in  einem  ethischen 
Naturzustande  befindet.  ^)  So  kann  i, durch  die  Bestrebung  der 
einzelnen  Person  zu  ihrer  eigenen  moralischen  Vollkommenheit 
allein"*)  gar  nichts  ausgerichtet  werden.  Immer  wieder  wirf  sie, 
solange  sie  allein  sich  auch  noch  so  redlich  bemüht,  von  ihrem 
Ziele  durch  die  Widerwärtigkeiten  des  Lebens,  durch  unzählige 
„Ursachen  und  Umstände**,  die  einfach  das  menschliche  Zusammen- 
sein mit  sich  bringt,  von  ihrem  Ziele  abgezogen  und  fortgerissen. 
So  erhebt  sich  eine  Pflicht  des  Menschen,  sich  ledig  zu  machen 
Yon  jenen  Widrigkeiten,  die  ihn  von  seiner  sittlichen  Bestimmung 
abführen,  eine  Pflicht,  sich  ihrer  Versuchung  zu  entheben.  Aber 
^as  ist  das  für  eine  Pflicht;  wie  lässt  sie  sich  näher  bestimmen, 
und  wie  ist  ihre  Verwirklichung  selbst  möglich? 

Eine  Pflicht  ganz  eigener  Art  ist  es,  die  hier  den  Menschen 
erwächst;  eine  Pflicht,  nicht  „der  Menschen  gegen  Menschen,  son- 
dern des  menschlichen  Geschlechtes  gegen  sich  selbst**.")  Eben 
weil  die  einzelne  Person  mit  ihrem  alleinigen  Bemühen  um  mora- 
lische Vollkommenheit  nichts  ausrichtet,  diese  aber  ihre  Aufgabe 
ist  und  bleibt,  also  auch  muss  erfüllt  werden  können,  so  kann  nur 
die  Gattung  es  sein,  die,  durch  ihren  Zusammenschluss  sich  aus 
dem  ethischen  Naturstande  erhebend,  den  sittlichen  Zweck  der 
Menschheit  überhaupt,  mithin  auch  des  Einzelnen  erfülle.  Das 
sittliche  Ziel  ist  also  „nicht  anders  erreichbar,  als  durch  Errich- 
tung und  Ausbreitung  einer  Gesellschaft  nach  Tugendgesetzen 
und  zum  Behuf e  derselben;  eine  Gesellschaft,  die  dem  ganzen 
Menschengeschlecht  in  ihrem  Umfange,  sie  zu  beschliessen,   durch 


1)  a.  a.  O.  S.  194. 
^  a.  a.  0.  S.  196. 
8)  a.  a.  O.  ebenda. 
KABUtudlM  iz.  30 


461  B.  Bauch, 

die  Vemanft  zur  Aufgabe  und  zur  Pflicht  gemacht  wird.  —  Denn 
so  allein  kann  für  das  gute  Prinzip  über  das  Böse  ein  Sieg  €^ 
hofft  werden.  Es  ist  von  der  moralisch-gesetzgebenden  Vemonft 
ausser  den  Gesetzen,  die  sie  jedem  Einzelnen  vorschreibt,  nodi 
überdem  eine  Fahne  der  Tugend  als  Vereinigungspunkt  für  alle, 
die  das  Gute  lieben,  ausgesteckt,  um  sich  darunter  zu  versammeln, 
und  so  allererst  über  das  sie  rastlos  anfechtende  Böse  die  Obe^ 
hand  zu  bekommen**.  ^)  Wir  sind  also  von  der  Vernunft  selbst 
angewiesen,  uns  zu  einer  „ethischen  Gemeinschaft^  unter  „blossen 
Tugendgesetzeu'',  zu  einem  „ethischen  gemeinen  Wesen*'  zu  Te^ 
binden,  um  wirklich  „Tugend  in  der  Welt  zu  verbreiten".«)  Da- 
durch wird  der  vorhin  gekennzeichnete  entgegengesetzte  Zustand 
wechselseitiger  Befehdung,  den  man  auch  den  „ethischen  Natur- 
zustand" nennen  kann,  in  dem  keine  Ordnung  und  kein  Gesetz 
herrscht,  in  dem  „ein  jeder  sich  selbst  das  Gesetz  giebt",^  nach 
seiner  Willkühr,  sich  keiner  höheren  Instanz  unterwirft,  fibe^ 
wunden.  Im  „ethisch-bürgerlichen"  Gesellschaftszustande  —  so 
genannt  in  Analogie  zum  politisch-bürgerlichen,  weil  unter  Ge- 
setzen stehenden  Zustande  —  dagegen  ist  jeder  einer  allgemein- 
giltigen  Konstitution  unterwoiien. 

Daraus  ergeben  sich  nun  wiederum  neue  Schwierigkeiten: 
Zunächst  liegt  eine,  gleichsam  antiuomisch,  in  der  Idee  des  ethi- 
schen Gemeinwesens  selbst.  Das  Gute,  das  wir  vollbringen  können, 
vermögen  wir  allein  durch  unseren  eigenen  Willen  zu  wirken,  in- 
dem wir  uns  selber  das  Gesetz  geben.  Nun  soll  aber,  Kant  sagt 
es  ausdrücklich,  im  ethischen  Gemeinwesen  nicht  Jeder  sich  selbst 
das  Gesetz  geben",  sondern  sich  allgemeinen  Tugendgesetzen  und 
einer  von  diesen  bestimmten  Konstitution  unterordnen.  Das  scheint 
ein  Widerspruch  zu  sein;  scheint  es  aber  auch  nur  zu  sein,  und 
sein  Schein  lässt  sich  leicht  auflösen.  Wenn  wir  nämlich  sagen: 
im  ethischen  Naturzustande  giebt  ein  jeder  sich  selbst  das  Gesetz, 
das  er  sich  im  ethisch-büi-gerlichen  Zustande  nicht  mehr  geben 
darf;  und  wenn  wir  auf  der  anderen  Seite  sagen:  wir  können  nur 
Gutes  durch  den  sich  selbst  das  Gesetz  gebenden  Willen  wirken, 
so  verstehen  wir  beidemal  unter  der  Selbstgesetzgebung  etwas 
ganz  Verschiedenes.     Das   erste  Mal   ist   die  Gesetzgebung  durch 


1)  a.  a.  0.  S.  190. 
*)  a.  a.  0.  ebenda. 
3)  a.  a.  0.  S.  192. 


Luther  und  Kant.  465 

Neigung  und  Willkühr  gemeint,  die  unter  ethischem  Betracht  Ge- 
setzlosigkeit bedeutet.    Sagen  wir  aber:  wir  können  nichts  Gutes 
wirken  ausser  durch  den  eigenen  guten  Willen,  so  ist  das  die  Gesetz- 
gebung durch  Autonomie.     Wir  sind  auch  in  diesem  Falle  unsere 
eigenen  Gesetzgeber,    aber  die  Gesetzgeber  nicht  durch  Willkühr, 
sondern  durch  Freiheit.     Wir  hören  ioi  ethischen  gemeinen  Wesen 
auf,    unsere   eigenen    Gesetzgeber   zu   sein,    wenn   wir  unter  der 
Gtesetzgebung    die    selbstische    Bestimmung    durch    Neigung    und 
Willkühr  verstehen;  aber  wir  fangen  erst  an,  selbsteigene  Gesetz- 
geber zu  werden,  wenn  wir  die  Gesetzgebung  durch  Freiheit  und 
Autonomie  meinen. 

Die  Tugendgesetze,  denen  wir  uns  in  der  „ethischen  Gemein- 
schaft** unterwerfen  sollen,    sind  also  Gesetze,    die  wir  uns  selbst 
geben  durch  unsere  Autonomie  :  Gesetze  durch  Freiheit.     DasS  wir 
uns  selbst  durch  Freiheit  das  Gesetz  geben,  das  ist  der  Inbegriff 
der  Tugendgesetzgebung,   und    ihr   oberstes   Gesetz   selbst.     Der 
Zusammeuschluss   der  Menschen   durch   Tugendgesetzgebung   und 
zur  Tugendgesetzgebung   bedeutet   also    den  Zusammeuschluss   zu 
gemeinsamem  sittlichen  Wirken  durch  die  Freiheit  und  Autonomie 
der  Persönlichkeit.    Die  Tugendgesetze  sind  also  keine  politischen 
oder   dogmatischen  Gesetze   durch   Zwang.     „Wehe   dem    Gesetz- 
geber," sagt  Kant,  „der  eine  auf  ethische  Zwecke  gerichtete  Ver- 
fassung durch  Zwang  begründen  wollte."  J)    Ein  solches  Bemühen, 
wie  es  etwa  eine  politische  Gesetzgebung  in  einem  thorheitsvoUen 
Beginnen   anstreben   könnte,    müsste  gerade,   weil  es  die  Freiheit 
aufzuheben  trachtete,  auch  alle  Moralität  vernichten,   alle  sittliche 
Verfassung  unmöglich  machen.    Aber  nicht  bloss  diese;  es  würde 
„nicht  allein  gerade  das  Gegenteil  der  ethischen  bewirken,  sondern 
auch  seine  politische  untergraben  und  unsicher  machen.**«) 

Die  Konstitution  der  ethischen  Gemeinschaft  ist  also  keine 
Konstitution  des  Zwanges,  sondern  selbst  eine  Konstitution  der 
Freiheit.  Ihre  Grundsätze  müssen  alle  Grundsätze  der  Freiheit 
sein,  eines  jeden  Einzelnen  sittliche  Freiheit  des  Gewissens  wahren, 
und  sie  müssen  sich  darum  selbst  alle  einigen  in  dem  obersten 
Grundsatz  der  Autonomie.  Die  in  der  Idee  des  „ethischen  ge- 
meinen Wesens"  liegende  Schwierigkeit  ist  also  aufgelöst.  Es  er- 
hebt sich  aber  gleich  eine  neue,  wenn  wir  fragen,  wie  wir  die 
Idee  verwirklichen  können. 


1)  a.  a.  0.  S.  193. 
^)  a.  a.  O.  ebenda. 

30* 


466  B.  Baach, 

„Die  erhabene,  nie  völlig  erreichbare  Idee  eines  ethisch«! 
gemeinen  Wesens  verkleinert  sich  sehr  unter  menschlichen  Hinden, 
nämlich  zu  einer  Anstalt,  die  allenfalls  nnr  die  Form  derselben 
rein  vorzustellen  vermögend,  was  aber  die  Mittel  betrifft,  ein 
solches  Ganze  zu  errichten,  unter  Bedingungen  der  sinnlichen 
Menschennatur  sehr  eingeschränkt  ist.**  >)  Denn  wir  können  uns 
dem  Ziele  nicht  anders  nähern,  als  unter  der  Form  einer  Kirche, 
und  diese  muss  leider  immer  von  einem  historischen  Glauben  aas- 
gehen, der  zu  seiner  Festlegung  und  Mitteilung  einer  Schrift  be- 
darf. Alle  historischeu  Glanbensarten,  sagt  Kant,  die  Parsis  and 
Muhammedaner,  die  Griechen  und  die  Römer,  die  Juden  und  die 
Christen  haben  ihre  heiligen  Bücher  gehabt,  und  haben  sie  nodi. 

Aber  diese  heiligen  Bächer,  —  die  heilige  Schrift,  wie  man 
auch  sagt  —  so  notwendig  sie  als  „Vehikel''  der  Mitteilung  von 
Vemuuftideen  sein  mögen,  bergen  doch  eine  grosse  Gefahr  in 
sich.  Als  ob  es  unvermeidlich  wäre,  knüpft  sich  an  den  Gedanken 
über  den  Ursprung  der  Schiift  der  „lUuminatismus''  oder  „Adepten- 
wahn'', d.  h.  der  Glaube  an  „die  gewähnte  Verstandeserieuchtoog 
in  Ansehung  des  Überoatürlichen"*)  und  damit  hängt  analytisch 
der  Glaube  an  göttliche  Gnadenwirkungen,  den  Kant  auch  den 
„Wahnsinn  der  Schwärmerei"  nennt,  sowie  der  Wunderglaube,  von 
Kant  auch  „Blödsinn  des  Aberglaubens"  genannt,  zusammen.  Und 
diese  beiden  Arten  des  „Keligionswahns**,  der  Glaube  an  Gnaden- 
wirkungen  und  der  Wunderglaube  vereinigen  sich  zur  „Thaumatur- 
gie". Diese  ist  nämlich  der  Wunderglaube,  von  Gott  in  Besitz  der 
Geheim-  und  Gnadenniittel  selbst  gesetzt  zu  sein.  Alle  diese 
„Verirrungen  einer  über  ihre  Schranken  hinausgehenden  Vernunft" 
haben  ihre  Wurzeln  im  Kirchenglauben.  ^)  Auf  diesen  Verirrungen 
beruht  aber  gleich  noch  eine  für  die  Moral  und  Religion  verhäng- 
nisvoll werdende  andere.  Gerade  infolge  des  Wunder-  und  Gnaden- 
mittel-Glaubens  nehmen  die  Menschen  die  Schrift  nicht  von  der  Seite, 
von  der  sie  eine  gute  Bedeutung  hätte,  d.  h.  nicht  als  blosses  „Vehikel** 
zur  sittlich-religiösen  Vernunfterzieliung,  sondern  als  etwas  an  sich 
selbst  Wertvolles  und  Verbindliches  hin.  Wenn  ihnen  nun  der  Schrift- 
glaube (und  fast  jeder  Schriftglaube  tluit  das)  ausser  dem  guten 
Lebenswandel   noch   statutarischen    Gottesdienst   auferlegt,    durch 


1)  a.  a.  0.  S.  198. 

2)  Kant  bezeiclniet  damit  also,  was  man  sonpt  Inspiration  nennt. 
')  a.  a.  O.  S.  147  f.,  S.  199  f.,  S.  213  f. 


Luther  nnd  Kant.  467 

gescliiiebeues  , Beten,  Kirchengehen,  Sakramente'',^)  „durch 
•mein  der  Anrufung"  und  durch  „Bekenntnisse  einesLohnglaubens", 
z  den  „ganzen  Kram  frommer  auferlegter  Observanzen",*)  so 
ten  sie  sich  lieber  an  diese  leichten,  äusserlichen,  vernunft- 
m  Gebote,  als  allein  an  den  wahren,  vernünftigen  Gottesdienst 

guten  Lebenswandels.  „Sie  können  sich  ihie  Verpflichtung 
lit  wohl  anders,  als  zu  irgend  einem  Dienst  denken,  den  sie 
X  zu  leisten  haben;  wo  es  nicht  sowohl  auf  den  inneren  mora- 
hen  Wert  der  Handlungen,  als  vielmehr  darauf  ankommt,  dass 
Gott  geleistet  werden,  um,  so  moralisch  indifferent  sie  auch 
sich  selbst  sein  mögen  (doch  w^enigstens  durch  passiven  Gehor- 
i),  dadurch  Gott  zu  gefallen.  Dass  sie,  wenn  sie  ihre  Pflichten 
;en  Menschen  (sich  selbst  und  andere)  erfüllen,  eben  dadurch 
h  göttliche  Gebote  ausrichten,  mithin  in  allem  ihren  Thun  und 
5sen,  sofern  es  Beziehung  auf  Sittlichkeit  hat,  beständig  im 
inste  Gottes   sind,   und  dass  es  auch  schlechterdings  unmöglich 

(Jott  auf  andere  Weise  zu  dienen  (weil  sie  doch  auf  keine 
leren,  als  bloss  auf  Weltwesen,  nicht  aber  auf  Gott  wirken  und 
ifluss  haben  können),  will  ihnen  nicht  in  den  Kopf."  5) 

So   ist   ihr  Gottesdienst   kein   wahrer  Gottesdienst,   sondern 

unwürdiger  „Frohn-  und  Lohndienst",  der  Gott  durch  An- 
ung  zum  „Idol"  und  „Fetisch"  macht,  also  selbst  „Idolatrie" 
l  „Fetischdienst"  ist.*) 

Und  „die  Verfassung  einer  Kirche,  sofern  in  ihr  î^etischdienst 
iert",  heisst  „Pfaffentum";  gleichviel  ob  der  „auferlegten  Ob- 
Fanzen"  viel  oder  wenige,  ob  sie  leicht  oder  schwer  sind;  „ge- 
-,  wenn  sie  für  unbedingt  notwendig  erklärt  werden,  so  ist  das 
ler  ein  Fetischglauben,  durch  den  die  Menge  regiert  und  durch 

Gehorsam  unter  einer  Kirche  (nicht  der  Religion)  ihrer  mora- 
hen  Freiheit  beraubt  wird."*) 

Das  Viel  oder  Wenig  macht  hier  nichts  aus,  es  kommt  alles 
s  Prinzip  an:  „Ob  der  Andächtler  seinen  statutenmässigen 
lg  zur  Kirche,  oder  ob  er  eine  Wallfahrt  nach  den  Heiligtümern 
Loretto   oder  Palästina   anstellt,    ob  er  seine  Gebetsformel  mit 

Lippen   oder,   wie   der  Tibetaner  (welcher  glaubt,    dass  diese 


1)  streit  der  Fakultäten  S.  371. 

^  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft  S.  278. 

^  a.  a.  0.  S.  200. 

*)  a.  a.  0.  S.  147  f.,  S.  199  f.,  S.  284  f. 

»)  a.  a.  O.  S.  279. 


468  B.  Bauch, 

Wünsche  auch  schriftlich  aufgesetzt,  wenn  sie  nur  durch  etwas, 
z.  B.  auf  Flaggen  geschrieben,  durch  den  Wind,  oder  in  dne 
Büchse  eingeschlossen,  als  eine  Schwungmaschine  mit  der  Hand 
bewegt  werden,  ihren  Zweck  ebenso  gut  erreichen),  es  durch  ein 
Gebetrad  an  die  himmlische  Behörde  bringt,  oder  was  für  ein 
Surrogat  des  moralischen  Dienstes  Gottes  es  auch  immer  sein  mag, 
das  ist  alles  einerlei  und  von  gleichem  Wert.'^O  Die  Manier 
macht  nichts  und  das  Prinzip  macht  alles.  Mögen  sich  die 
Menschen,  denen  die  Hauptsache  am  Statutarischen  liegt,  in  ihrer 
Manier  noch  so  sehr  unterscheiden,  so  gehören  sie  dennoch  „insge- 
samt zu  einer  und  derselben  Klasse,  derer  nämlich,  die  in  dem, 
was  an  sich  keinen  besseren  Menschen  ausmacht  (im  Glauben  ge- 
wisser statutarischer  Sätze,  oder  im  Begehen  gewisser  willkäh^ 
lieber  Observanzen),  ihren  Gottesdienst  setzen,  diejenigen  aUein, 
die  ihn  lediglich  in  der  Gesinnung  eines  guten  Lebenswandels  zn 
finden  gemeint  sind,  unterscheiden  sich  von  jenen  durch  den  Übe^ 
schritt  zu  einem  ganz  anderen  und  über  das  erste  weit  erhabenen 
Prinzip,  demjenigen  nämlich,  wodurch  sie  sich  zu  einer  (unsicht- 
baren)  Kirche  bekennen,  die  alle  Wohldenkenden  in  sich  befasst, 
und,  ihrer  wesentlichen  Beschaffenheit  nach,  allein  die  wahre  all- 
gemeine sein  kann".«) 

Wir  stosseu  hier  wieder  auf  eine  Art  von  Antinomie  :  Die  Ver- 
nunft giebt  uns  einerseits  selbst  einen  ethischen  Zusammenschluss 
auf,  der  nur  möglich  ist  durch  die  Kirche  mit  einem  historischen 
Glauben,  der  auch  Offenbarungsglaube  heisst;  und  doch  steht  es 
auf  der  anderen  Seite  unabweislich  fest:  „Die  enge  Pforte  und 
der  schmale  Weg,  der  zum  Leben  führt,  ist  der  des  guten  Lebens- 
wandels ;  die  weite  Pforte  und  der  breite  Weg,  den  viele  wandeln, 
ist  die  Kirche.  Nicht  als  ob  es  an  ihr  und  ihren  Satzungen  liege, 
dass  Menschen  verloren  werden,  sondern  dass  das  Gehen  in  die- 
selbe und  Bekenntnis  ihrer  Statute  oder  Oelebrierung  ihrer  Ge- 
bräuche für  die  Art  genommen  wird,  durch  die  Gott  eigentlich 
gedient  sein  will."  ^)  Um  relic^iös  zu  werden  also  bedürfen  wir 
dieses  Zusammenschlusses,  und  doch  fängt  wahre  Religiosität  erst 
da  an,  wo  die  Kirche  aufhört. 

Damit  haben  wir  aber  die  Auflösung  auch  dieser  Autonomie 
bereits    angedeutet.      Die    Konstitution    des    ethischen    gemeinen 

1)  a.  a.  0.  S.  272. 

2)  a.  a.  0.  S.  276  f. 
^  a.  a.  0.  S.  268. 


Luther  und  Kant.  469 

Wesens  geht  zwar  aus  von  einem  historischen  Grlauben,  ist  histo- 
risch also  auf  ihm  basiert;  aber  doch  nicht  vemunftnotw^dig  mit 
ihm  verknüpft  oder  gar  rechtlich  auf  ihm  gegründet.  Unter  dem 
Gesichtspunkte  der  Vernunft  und  der  wahren  Vernunftreligion  be- 
trachtet, ist  der  historische  Glaube  „etwas  an  sich  Gleichgiltiges, 
mit  dem  man  es  halten  kann,  wie  man  will"  ...  er  ist  „tot  an 
ihm  selber,  d.  i.  für  sich  als  Bekenntnis  betrachtet,  enthält  er 
nichts,  führt  auch  auf  nichts,  was  einen  moralischen  Wert  für 
uns  hätte".  *)  Allein,  wenn  er  auch  keinen  Wert  an  sich  hat, 
so  hat  er  doch  Wert  als  Mittel,  als  „Vehikel",  bei  der  „Absicht, 
einen  Glauben  zu  introduzieren",  in  unserem  Falle  den  Vemunft- 
glauben  zu  introduzieren,  da  der  Mensch  „zu  den  höchsten  Ver- 
nnnftbegriffen  und  Gründen  immer  etwas  Siunlich-Haltbares**  zu 
wünschen  pflegt,  wozu  „irgend  ein  historischer  Kirchenglaube,  den 
man  auch  gemeiniglich  schon  vor  sich  findet,  benutzt  werden 
muss".')  Dieser  ist  zu  dem  Zweck  allein  wertvoll.  Und  so 
kommt  alles  darauf  an,  ihm  nur  ja  keinen  Wert  an  sich  selbst 
beizulegen,  oder  gar  ihn  höher  zu  stellen,  als  den  in  einem  guten 
Lebenswandel  sich  bethätigenden  Gesinnungsglauben,  vielmehr  ist  er 
lediglich  als  ein  Vehikel  zur  Mitteilung  sittlicher  Ideen, 
um  zum  guten  Lebenswandel  die  Menschen  heranzu- 
bilden, zu  betrachten;  und  ohne  ihm  etwelchen  zur 
Heuchelei  führenden  Zwang  auf  unsere  theoretischen 
Überzeugungen  zu  verstatten.  Nur  so  dürfen  wir  er- 
warten, dass  er  einen  Zweck  erfüllen  wird,  und,  dass  wir  werden 
ihn  „endlich  entbehren  können".  3) 

Dann  wird  das  „Pfaffentum"  und  der  „Afterdienst  Gottes" 
ins  Nichts  zurücksinken.  „Der  erniedrigende  Unterschied  zwischen 
Laien  und  Klerikern  hört  auf,  und  Gleichheit  entspringt  aus  der 
wahren  Freiheit,  jedoch  ohne  Anarchie,  weil  ein  Jeder  zwar  dem 
(nicht  statutarischen)  Gesetz  gehorcht,  das  er  sich  selbst  vor- 
schreibt, das  er  aber  zugleich  als  den  ihm  durch  Vernunft  geoffen- 
barten Willen  des  Weltherrschers  ansehen  muss,  der  alle  unter 
einer  gemeinschaftlichen  Regierung  unsichtbarer  Weise  in 
einem  Staate  verbindet,  welcher  durch  die  sichtbare  Kirche  vor- 
her dürftig  vorgestellt  und  vorbereitet  war."*)    So  wird  das  Wort 


1)  a.  a.  0.  S.  209. 

2)  a.  a.  0.  S.  207. 
«)  a.  a.  0.  S.  213. 
*)  a.  a.  O.  S.  220. 


470  B.  Banch, 

des  Lukas  «rfollt  sein,  der  da  sagt:  „Das  Reich  Gottes  kommt 
nicht  in  sichtbarer  Gestalt.  Man  wird  auch  nicht  sagen:  siehe, 
hi&r  oder  da  ist  es.  Denn  sehet,  das  Reich  Gottes  ist  inwendig 
in  euch.'*^ 


Kapitel  VI. 
Der  Vergleich. 

Wir  haben  die  moral-  und  religionsphilosophischen  Ânschau- 
ongen  Kants,  soweit  sie  für  unseren  Znsammenhang  von  Bedeutun; 
und  Interesse  sind,  dargestellt.  Es  bleibt  uns  nunmehr  bloss  uocQ 
übrig,  sie  denen  Luthers  gegenüberzuhalten,  sie  dem  gegenüber- 
zustellen, was  wir  als  Resultat  unserer  Untersuchungen  über 
Luthers  ethisch-religiöses  Denken  ermittelt  hatten.  Es  besteht 
natürlich  nicht  bloss  Übereinstimmung,  sondern  auch  Gegensätz- 
lichkeit zwischen  Beiden.  Aber  der  Gegensatz  zwischen  Luther 
und  Kant  ist  in  Luther  selbst  schon  derart  angelegt,  dass  seioe 
(''berwindung  zur  Übereinstimmung  führt,  wenn  diese  auch  nicht 
vollständige  Deckung  bedeutet. 

Wir  beginnen  mit  den  Gegensätzen,  und  stellen  dann  die 
übereinstimmenden  Momente  dar: 

§  21. 
Der  inhaltliche  Gegensatz. 
Wenn  wir  die  Bemerkungen,  in  denen  wir  die  Darstellung 
dor  Kantischen  Gedanken  beschlossen  haben,  mit  denen  vergleichen, 
diinîh  die  wir  die  Darlegung  der  Lutherischen  Ideen  einleiteten, 
i«o  zeigt  sich  ein  ungeheurer  Abstand:  Auf  Seiten  Luthers  ein 
utaner  Dogmatismus,  ein  hartnäckiger  Schrift-  und  Buchstaben- 
IfUulio,  auf  Seiten  Kants  eine  Überwindung  des  „an  sich  toten** 
HrJiriftglaubens  durch  die  Vernunft,  eine  entschiedene  Ablehnung 
d«Mi  Orthodoxismus  und  Dogmatismus.  Luther  hält  mit  onnach- 
tfloliigor  Starrheit  fest  an  dem  Schriftglauben  und  misst  ihm  nicht 
tilfftoM  i^iiwn  ungemein  hohen,  sondern  einen  absoluten  Wert  bei; 
K^fit  hält  ihn  im  günstigsten  Falle  für  ein  Vehikel  der  Mitteilung 
dor  nlltliclHUi  Ideen,  von  dem  man  hoffen  muss,  dass  man  es  wird 

h  M   H,  O.   s.  235;   hier  verweist  Kant  direkt  auf  die  angeführte 


Luther  und  Kant.  471 

„endlich   entbehren   können**.    Das  ist  der  eine  Gegensatz.    Es 
ist  aber  noch  ein  zweiter  bemerkbar. 

§  22. 
Der  methodische  Gegensatz. 
Unsere  Darstellung  hat  keinen  Zweifel  mehr  darüber  ge- 
lassen, dass  Kant  die  Religion  allein  auf  Moral,  also  auf  Vernunft 
gründen  will.  Alles  Frohlocken,  das  sich  von  Zeit  zu  Zeit  hat 
verlauten  lassen,  Kant  habe  die  kalte  Vernunft  aus  der  Religion 
gebannt,  und  diese  ganz  und  gar  dem  warmen  menschlichen 
Herzen  überlassen,  hat  Grund,  sich  vorsichtiger  und  behutsamer 
zu  äussern.  Es  hat  zwar  Recht,  wenn  es  mit  den  „Rechten  des 
Herzens"  den  guten  Willen  meint,  in  den  Kant  alle  Religiosität 
gesetzt  habe.  Aber  Unrecht  hat  es,  wenn  es  meint.  Kaut  habe 
damit  das  Gebiet  der  Religion  von  dem  der  Vernunft  getrennt. 
Er  konnte  ja  die  Religion  allein  in  den  guten  Willen  setzen,  in- 
dem er  sie  auf  Vernunft  gründete. 

Dadurch  unterscheidet  er  sich  in  der  Methode  von  Luther. 
Dieser  kennt  das  Ausgehen  vom  Moralgesetz  der  Vernunft  nicht, 
sondern  setzt  einfach  Sittlichkeit  und  Gottwohlgefälligkeit  in  Eins, 
während  der  Philosoph  erst  vom  Begriff  der  Pflicht  und  vom 
Moralgesetze  zur  Idee  der  Gottheit  gelangt,  und  so  allerdings  auch 
Sittlichkeit  und  Gottwohlgefälligkeit,  oder  Pflicht  und  göttliches 
Gebot  in  Eins  setzen  kann.  Darum-  ist  dieser  Gegensatz  nur  me- 
thodisch, nicht  inhaltlich,  und  hat  nicht  die  sachliche  Zuspitzung, 
wie  etwa  die  jetzt  öfters  beliebte  Gegenüberstellung  von  theolo- 
gischer und  philosophischer  Ethik,  die  eigentlich  Luther,  eben 
weil  er  sie  nicht  kennt,  schon  hinter  sich  gelassen  hat.  Das 
Werden  wir  erkennen,  wenn  wir  nun  die  Übereinstimmung  zwisch'^n 
dem  Reformator  und  dem  Philosophen  behandeln. 

§  23. 

iMe  von  Luther  angebahnte  und  von  Kant  vollzogene  Überwindung 

des  Gegensatzes  von  theologischer  und  philosophischer  Ethik. 

Man   hat   in   der   philosophischen  Ethik  gerade  wegen  ihres 

Ausgehens  vom  Moralgesetze  und  nicht  von  der  Idee  Gottes  etwas 

Selbstisches  gesehen  0  und  ihr,  im  scholastischen  Nachklang,,  eine 

')  So  auch  Tjuthardt  in  „die  Ethik  Luthers".  Vgl.  besonders  die  Ein- 
leitung. £s  versteht  sich  von  selbst,  dass  nicht  etwa  die  ganze  Theologie 
^;egen  die  Philosophie  diesen  Vorwurf  erhebt. 


472  B.  Bauch, 

zweite,  das  umgekehrte  Verfahren  einschlagende  and  darum  sdbst- 
loser  sein  sollende  Ethik  als  ^^theologische  Ethik**  gegrafiber  ge- 
stellt. Mau  hat  darin  nicht  bloss  einen  methodischen,  sondern, 
wie  die  Form  des  Vorwurfs  schon  zeigt,  einen  prinzipiellen  und 
innerlichen  Gegensatz  zwischen  theologischer  und  philosophischer 
Ethik  gesehen.  Wie  nnberechtigt  aber  der  Vorwurf  des  Selbsti- 
schen gegen  die  „philosophische  Ethik"*  ist,  kann  keinem  auch  nur 
im  mindesten  zweifelhaft  sein,  der  die  Stellung  der  »philosophischen 
Ethik**  zu  den  „selbstischeu"*  Triebfedern  auch  nur  mit  einigem 
Verständnis  erwogen  hat;  keinem,  der  mit  etwas  Überlegung  die 
Abweisung  aller  Selbstsucht  aus  der  Moral  durch  Kant,  seine  Ab- 
lehnung des  Glückseligkeitsprinzips  als  Moralprinzip  in  Betracht 
gezogen  hat.  Und  da  in  der  That  die  Notwendigkeit  des  Ean- 
tischen  Verfahrens,  die  Moral  und  weiterhin  auch  die  Religion  auf 
Autonomie  und  nicht  auf  Heteronomie  zn  gründen,  so  evident  ist, 
wird  man  es  Kant  angesichts  solcher  Vorwürfe,  in  seinem  Ve^ 
fahren  liege  etwas  Selbstisches,  nicht  verübeln  kOnnen,  wenn  er 
von  der  Trennung  der  philosophischen  nnd  theologischen  Ethik 
nichts  wissen  will,  ja  wenn  er  nnwirrsch  wird  nnd  meint:  es 
könnte  im  Ernst  gar  nicht  die  Meinung  der  Theologen  sein,  dass 
ihr  durchaus  unhaltbares  Verfahren,  nicht  nur  logisch  richtiger, 
sondern  auch  sittlich-vornehmer  (eben  weil  selbstloser)  sei.  Nicht 
gerade  liebenswürdig  sagt  er  von  der  Widerlegung  des  theologischen 
Verfahrens:  „Sie  ist  so  leicht,  sie  ist  von  denen,  deren  Amt  es 
erfordert,  sich  doch  für  eine  dieser  (seil,  heteronom-theonomen) 
Theorieen  zu  erklären  (weil  Zuhörer  den  Aufschub  des  Urteils 
nicht  wohl  leiden  mögen),  selbst  vermutlich  so  wohl  eingesehen, 
dass  dadurch  nur  überflüssige  Arbeit  geschehen  würde.**  0 

Es  ist  ja  in  der  That  einem  einigermassen  zur  Einsicht  ge- 
neigten guten  Willen  schwer  möglich,  in  der  philosophischen  Be- 
gründung der  Autonomie,  die  alles  Selbstische  so  energisch,  wie 
nur  möglich,  abweist,  die  eben  nur  handeln  „aus  Pflicht"  und 
„aus  Achtung  fürs  Gesetz"  —  das  eben,  weil  es  Gesetz,  zugleich 
auch  göttliches  Gebot  ist  —  als  sittlich  gelten  lässt,  etwas  Selb- 
stisches zu  sehen.  Denn  jeder  Einsichtige  muss  inné  werden  — 
wir  wiederholen  hier  nur,  was  wir  schon  gelegentlich  derselböi 
Vorwürfe   gegen  Luther  sagten  — ,    dass  Freiheit  nicht  Willkühr, 

1)  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  S.  291.  In  Wahrheit  ist 
ja  die  theologische  Argumentation  durch  die  ganze  autonome  Etbik 
widerlegt. 


Luther  und  Kant.  473 

dass  die  überindividuelle  Gesetzgebung  durch  autonome  Vernunft 
nicht  Zügellosigkeit,  dass  die  freie  und  darum  einzig  wahre  Ge- 
wissenhaftigkeit nicht  Gewissenlosigkeit  ist. 

Es  wäre  wahrscheinlich,  dass  Luther,  obwohl  gegen  ihn  ge- 
nau derselbe  Voi'wurf  erhoben  wurde,  doch  bei  seiner  Abneigung 
gegen  alle  Philosophie,  vor  allem  bei  seiner  direkten  Beziehung 
des  persönlichen  Willens  auf  den  göttlichen  Willen  und  bei  seinem 
Ausgehen  von  der  Gottwohlgefälligkeit  als  dem  höchsten  sittlichen 
Prinzip,  denselben  Gegensatz  zur  philosophischen  Ethik  darstellte. 
Es  scheint,  als  ob  er  selbst  hier  Kant  diametral  gegenüberstehe, 
der  ja  in  seiner  „philosophischen  Ethik"  vom  Moralgesetze  aus- 
geht und  dessen  Ableitung  aus  der  Idee  Gottes  als  einen  Zirkel 
im  Erklären  und  aller  wahren  Moralität  hinderlich  nicht  gelten 
lässt,  sondern  erst  von  der  Idee  des  Sittengesetzes  zu  der  der 
Gottheit  gelangt. 

Wenn  wir  uns  aber  nicht  bei  diesem  ersten  Schein  beruhigen, 
sondern  etwas  tiefer  in  die  Gedanken  beider  eindringen,  so  sehen 
wir,  dass  zwischen  Luther  und  Kant  dieser  schroffe  Gegensatz 
nicht  besteht,  sondern  selbst  hier  schon  eine  gewisse  Einstimmung 
herrscht. 

Luther  fühlt  und  denkt  nämlich  viel  zu  wenig  scholastisch,^) 
viel  zu  natürlich  und  ungekünstelt,  um  zwischen  die  Person  und 
die  GottwohlgefäUigkeit  noch  als  etwas  spezifisch  Verschie- 
denes die  Moralgesetzlichkeit  einzuschieben,  und  so  kommt  es 
ihm  gar  nicht  in  den  Sinn,  diese  aus  der  Idee  Gottes  zu  dedu- 
zieren. Der  gute  Mensch  ist  für  ihn  eben  auch  der  gottgefällige 
Mensch,  und  der  gottgefällige  Mensch  ist  auch  der  gute  Mensch. 
Indem  er  die  Moralität  nicht  auf  der  Idee  Gottes  zu  gründen 
sucht,  setzt  er  Pflicht  und  Gottgefälligkeit  in  Eins.  Und  so 
kommt  Luther  auch  hier  Kant  schon  viel  näher,  als  jene  Bich- 
tangen,  welche  die  Gewissensfreiheit  konsequenterweise  nicht 
gelten  lassen  könnten,  indem  sie  dem  alle  wahre  Religion  und 
Moral  vernichtenden  heteronomen  Moralprinzip  durch  den  falschen 
Schein  grösserer  Vornehmheit  Knfluss  zu  verschaffen  suchen. 
In    der   Anlage   ist   also   schon   bei  Luther  die  Überwindung  des 


^)  Der  ganze  Gegensatz  ist  ja  nur  scholastische  Nachgeburt,  die 
man  je  eher,  desto  besser  abstossen  soUte.  Denu  theoretisch  ist  er  un- 
haltbar, und  praktisch  führt  er  ganz  unnötigerweise  zu  einer  unfriedlichen 
Spannung  zwischen  Theologie  und  Philosophie,  wie  ja  aus  mancherlei 
gegenseitigen  Vorwürfen  erheUt. 


474  B.  Bauch, 

künstlichen  Gegensatzes  von  „theologischer^  und  „philosophischer 
Ethik''  enthalten,  der  leider  nachträglich  noch  besonders  schroff 
ausgeprägt  wurde.  Aber  anch  nor  der  Anlage  nach.  Denn  zur 
vollendeten  Überwindung  hätte  eben  nicht  bloss  die  luetische  imd 
praktische  Ineinssetzung  der  scheinbar  antithetischen  Glieder  ge- 
hört, sondern  die  bewusste  und  kritisch-begriffliche.  Dazu  ab«r 
lag  ihm  die  eben  begriffliche  Einsicht  Kants  zu  fem,  dass  es  ver 
fehlt  und  unvernünftig  sei,  die  Sittlichkeit  „aus  dem  Üieologischoi 
Begriff  von  einem  göttlichen  allervollkommensten  Willen  atoD- 
leiten,  nicht  bloss  deswegen,  weil  wir  seine  Vollkommenheit  dodi 
nicht  anschauen,  sondern  sie  von  unseren  Begriffen,  unter  denen 
der  der  Sittlichkeit  der  vornehmste  ist,  allein  ableiten  können, 
sondern  weil,  wenn  wir  dieses  nicht  thun  (wie  es  denn,  wenn  es 
geschähe,  ein  grober  Zirkel  im  Erklären  sein  würde),  der  uns 
noch  übrige  Begriff  seines  Willens  ans  den  Eigenschaften  iet 
Ehr-  und  Herrschbegierde,  mit  den  furchtbaren  Vorstellungen  der 
Macht  und  des  Nacheifers  verbunden,  zu  einem  System  der  Sitten, 
welches  der  Moralität  gerade  entgegengesetzt  wäre,  die  Grundlage 
machen  müsste.**  ^)  Aber  das  Wertvolle  an  Luther  ist  hier  schon, 
dass  er  an  die  verkehrte  Ableitung  gar  nicht  denkt,  geschweige 
sie  versucht.  Seine  Abneigung  gegen  die  Philosophie  ist  hier  ein 
Verdienst  um  die  Philosophie  und  die  Moral,  er  hat  sich  den 
Fehler  der  Scholastik  erspart,  den  sittlichen  Menschen  in  einen 
erkünstelten  Gegensatz  zum  religiösen  Menschen  zu  bringen,  wie 
es  doch  durch  die  Gegenüberstellung  von  theologischer  und  phüo- 
sophischer  Ethik  geschieht  (jenem  Nachklang  der  Lehre  von  der 
zweierlei  Wahrheit).  Im  tiefsten  Grunde  seiner  freien  Seele  ist 
ihm  das  Ziel  der  Gottgefälligkeit  zunächst  ein  Faktum  seines 
sittlich-religiösen  Gemütes,  das  er  aber,  eben  weil  er  ihm  selbst 
allgemeiugiltigeu  Wert  zuerkennt,  zum  Faktum  der  Vernunft  e^ 
hebt,  wenn  man  unter  vernünftig  sein  nichts  Anderes,  als  all- 
gemeingiltig  sein  versteht.  Freilich  der  begriffliche  Ausbau  dessen, 
was  Luther  fühlte  und  in  seinem  Fühlen  der  Menschheit  offen- 
barte, blieb  Kant  vorbehalten,  der  eben  auch  begrifflich  auf  dem 
autonomen,  nicht-theologischen  Prinzip  die  Moral  und  Religion  be- 
gründete, der  nicht  nur  innerlich,  gemütlich  den  Gegensatz  Ton 
theologischer  und  philosophischer  Ethik  überwand,  wie  Luther; 
sondern   auch   begrifflich-kritisch    dieser   Überwindung   ihr  Recht 


1)  a.  a.  0.  S.  291.    Vgl.  oben  S.  469. 


Luther  und  Kant.  476 

sicherte  and  wahrte.  Er  zeigte,  wie  man  allein  von  der  Idee  des 
Moralgesetzes  zu  der  der  Gottheit  gelangen  könne,  and  wie  man 
dann,  nar  aaf  jenem  fassend,  die  Pflichten  als  göttliche  Gebote  zn 
betrachten  vermöge.  So  schwand  aller  Unterschied  zwischen 
Pflicht  und  göttlichem  Gebot;  der  gute  Lebenswandel  erhielt  seine 
verdiente  Würdigung  auch  de  jure,  die  ihm  Luther  de  facto  ge- 
geben hatte.  Unter  spekulativem  Betracht  stehen  Luther  und 
Kant  unendlich  \)^eit  aus  einander.  Praktisch  aber  sind  sie  ein- 
stimmig, insofern  Luther  unbewusst,  aus  reinem,  natürlichen,  reli- 
giösen Gefühl  heraus  Pflicht  uud  göttUches  Gebot  nicht  schied, 
und  Kant  mit  Bewusstsein,  auf  Vernunftgründe  gestützt,  alle  sonst 
fälschlich  unternommene  Scheidung  aufhob. 

Das  aber  konnte  jeder  in  seiner  Art  doch  nur  unter  Voraus- 
setzung gewisser  Prinzipien,  und  so  musste  eben  doch  auch  bereits 
eine  prinzipielle  Einstimmung  bestehen.  Wir  kennen  diese  Prin- 
zipien. Schon  durch  die  gesonderte  Darstellung  wird  ihre  Ver- 
wandtschaft klar  geworden  sein.  Durch  eine  kurze  Gegenüber- 
stellung wird  sie  nur  noch  deutlicher  werden. 

§  24. 
Die  prinzipielle  Verinnerlichung  und  die  Autonomie. 

Gerade  durch  den  Verzicht  auf  die  nicht  bloss  ethisch,  son- 
dern auch  logisch  verkehrte  Scholastik,  die  auch  noch  in  der 
Gegenüberstellung  von  theologischer  und  philosophischer  Ethik 
zum  Ausdruck  kommt,  sollte  Luther  so  gross  werden.  Denn  be- 
sonders dadurch  wurde  seine  Moral  und  Religion  die  Moral 
und  Religion  der  Verinnerlichung.  An  diesem  Punkte 
kommen  Kant  und  Luther  aufs  innigste  zusammen,  und  diese  Be- 
gegnung der  Anschauungen  ist  eine  durch  und  durch  prinzipielle. 

Wir  hatten  den  Reformator  im  Schriftglauben  stecken  bleiben 
sehen,  wir  hatten  betont,  wie  er  diesen  nach  Kant  „an  sich  toten" 
Schriftglauben  nie  völlig  überwand  und  überwinden  konnte. 
Und  doch  überwand  er  ihn  bis  zu  einem  gewissen  Grade, 
Dämlich  insofern  er  wirklich  ein  toter  Glaube  ist.  Denn  „an 
sich"  war  dieser  Buchstabenglaube  auch  für  Luther  „tot",  und 
er  verlebendigte  ihn  durch  die  Gesinnung  ;  und  besonders  dadurch, 
dass  er  das  Gewissen  des  Einzelnen  als  die  letzte  und  oberste 
Instanz  der  Auslegung  ansah.  Keine  menschliche  Autorität,  keine 
vornehme,  hohe  Stellung,  kein  Amt,  keine  Würde,  sondern  allein 
der    „rechte    Verstand"    des    guten    und    frommen,    tugendhaften 


476  B.  Bauch,      * 

Menschen  giebt  den  letzten  und  höchsten  Bescheid  in  der  Dentmig.O 
Und  damit  ward  in  letzter  Linie  wenigstens  die  Aadegang  dee 
Scbriftglaubens  der  sittlichen  Person  und  ihrem  Qewissen  anheim- 
gestellt,  und  dadurch  ward  das  Gewissen  selber  freigegeben,  dem 
Joche  der  heteronomen  Autorität  enthoben.  Zweierlei  Glanbai, 
den  inhaltlichen  und  den  praktischen  Glauben  des  freien  Gewissens, 
den  „reinen  Herzensglauben^,  wie  er  ihn  nennt,  konnten  wir  bei 
Lnther  unterscheiden.  Und  dieser  praktische,  reine  Herzensglaibe 
der  Persönlichkeit  bildete  nun  das  Fundament,  anf  dem  er  die 
Verinnerlichung  von  Moral  und  Religion  vollzog.  In  dies^ 
Glauben  fand  er  die  Direktive  fürs  Handeln,  er  bestimmte,  was 
Pflicht  wäre,  was  göttliches  Gebot  wäre;  denn  dieser  Glaube  war 
ja  von  vornherein  Eins  mit  der  Liebe,  d.  h.  mit  dem  festen 
Willen  und  der  innerlichsten  Gesinnung,  seine  Pflicht,  d.  i.  Gottes 
Gebot,  zu  erfüllen.  Und  eben  weil  dieser  Glaube  selbst  des 
Menschen  Innerlichstes  ist,  in  dem  kein  anderer  für  ihn  einstehen, 
ihn  vertreten  und  ersetzen  kann,  kann  er  anch  allein  von  der 
Person  selbst  ausgehen  ;  nur  sie  vermag  über  ihr  Thnn  nnd  Lassen, 
über  Pflicht,  Gebot  und  Verbot  zu  entscheiden.  „Da  steht  jeder 
Einzelne  für  sich  allein,  sein  Glaube  wird  verlangt, 
jeder  soll  für  sich  Rechenschaft  ablegen  und  seine  Last 
tragen.**^)  „Keine  guten  Werke"  also,  sondern  allein  „der 
Glaube  des  Herzens",  in  dem  „alle  Werke  gehen  und  geschehen" 
müssen,  weil  sie  „an  sich"  nichts  sind  und  erst  durch  den 
Glauben  Wert  erlangen,  entscheiden  also  über  den  Wert  dar 
Person.  „Die  Person  muss  zuvor  gut  sein,  damit  gute  Werke  ans- 
gehen  können  von  ihr",  nicht  aber  kann  das  Werk  auch  nur  das 
Geringste  bedeuten,  den  kleinsten  Wert  haben,  wenn  ihn  nicht 
zuvor  die  Person  hat  durch  ihren  guten  Glauben,  ihre  Gesinnung.') 
Damit  hat  Luther  seinen  Standpunkt  aufs  deutlichste  gekenn- 
zeichnet, von  dem  aus  er  voll  hohen  sittlichen  Stolzes  die  äusse^ 
liehe  Werkgerechtigkeit  abwies,  und  allen  Wert  in  den  „frommen 
guten  Manu"  selbst  zurücknahm  und  in  dessen  Willen.  Die  sitt- 
liche Eigenkraft  und  Eigenbethätigung  muss  das  Handeln  aus  dem 
Innersten  des  Menschen,  wie  wir  sagten,  autogen,  hervortreiben. 

Wenn   wir   nun   zurückdenken   an    Kant,   wie   er   von  dem 
Glauben  der  Persönlichkeit,   dass  jede  andere  in  ihrer  Lage  sollte 

1)  Vgl.  dazu  §  2  und  §  3. 

^  Vgl.  das  zweit«  Kapitel  besonders  §  7  und  §  8. 

»)  Vgl.  ebenfaUs  §  8. 


Luther  und  Kant.  477 

ebenso  handeln  wollen,  wie  sie  selbst,  den  ganzen  sittlichen  Wert 
der  Handlung  abhäng  machte,  wenn  wir  jetzt  sein  Wort:  „Was 
nicht  in  diesem  Glauben  geschieht,  das  ist  Sünde",  weil  ,. sonst 
der  Mensch  bei  lauter  guten  Handlungen  dennoch  böse  ist",  »)  in 
Erwägung  ziehen,  wenn  wir  weiter  in  Erinnerung  bringen,  dass 
ihm  „überall  nichts  in  der  Welt,  ja  überhaupt  auch  ausser  der- 
selben zu  denken  möglich,  was  ohne  Einschränkung  für  gut  könnten 
fehalten  werden,  als  allein  ein  guter  Wille", '-^  wie  es  ihm  eben- 
deshalb nicht  ankommt  auf  „die  Handlungen,  die  man  sieht,  son- 
dern auf  jene  inneren  Prinzipien  derselben,  die  man  nicht  sieht", ^) 
d.  h.  ganz  altein  auf  die  Maxime  des  guten  Willens  der  autonomen 
Persönlichkeit  und  wie  darum  auch  für  ihn  das  Gute  „in  der 
Person  selbst  schon  gegenwärtig  ist,  die  darnach  handelt, 
nicht  aber  allererst  aus  der  Wirkung  erwartet  werden 
darf";  wenn  wir  uns  alles  dessen  erinnern,  so  werden  wir 
keinen  Augenblick  anstehen,  in  diesem  Grundzuge  der  Kantischen 
Ethik  auch  den  der  ethischen  Anschauungsweise  Luthers  wieder 
zu  erkennen.  Den  äusseren  Erfolg,  das  Werk  achten  beide  gering, 
ja  mit  einer  gewissen  Verächtlichkeit  sprechen  sie  davon.  Aber  alles 
ist  ihnen  der  innere  Glaube  der  Person;  der  Glaube:  im 
Wirken  und  in  der  Bethätigung,  folge  was  es  auch  sei,  seine 
Pflicht  als  göttliches  Gebot  zu  erfüllen  ;  und  zwar  aus  keinem  an- 
deren Grunde,  als  um  der  Pflicht,  als  um  des  göttlichen  Gebotes 
selbst  willen.  Denn  auch  das  ist  Luther  und  Kant  in  gleicher 
Weise  eigen,  dass  sie  verlangen,  Pflicht  und  göttliches  Gebot  als 
Selbstzweck  zu  betrachten.  Kant  hat  dafür  die  Formulierung  mit 
absoluter  Deutlichkeit  gegeben.  Er  sagt  es  ausdrücklich  die: 
Pflicht  müsse  als  „Selbstzweck"  angesehen  werden;  und  implizite 
liegt  es  in  der  Forderung:  wir  müssten  „aus  Pflicht"  und  „aus 
Achtung  fürs  Gesetz"  handeln,  um  sittlich  zu  sein.  Nicht  mit 
dieser  begrifflichen  Deutlichkeit,  und  doch  unverkennbar  stellt 
Luther  die  gleiche  Forderung.  Was  der  Reformator  hier  tief  und 
richtig  gefühlt,  und  aus  diesem  Gefühle  heraus  gefordert  hatte, 
das  hat  der  Philosoph  in  das  helle  Licht  der  Vernunft  gerückt, 
auf  unabweisliche  vernünftige  Begriffe  gebracht.  In  seinem  ethi- 
schen Prinzip  hat  er  in  der  That  das  „Faktum  der  reinen  Ver- 
nunft"  als   das  Moralgesetz   mit   absoluter  Evidenz   aufgewiesen 

1)  Die  Religion  imierhalb  der  Grenzen  der  blossen  Venmnft  8.124  o.  125. 
2;  Gmndleinmg  zur  Metaphysik  der  Sitten  S.  241;  vgl.  §  16. 
s)  Vgl.  ebenfalls  §  16. 


478 


B.  Bauch, 


eine™ 


und  befestigt  im  Begriffe  der  Autonomie  der  sittlichen  Persunlich- 
keit  Die  Antonoiiiie  ist,  um  mit  Luther  zu  reden,  das  Einzig 
das  bis  an  die  Seele  reicht,  weil  es  in  der  Seele  selber  seine 
Wurzeln  hat,  und  darnm  ist  das  Prinzip  der  Autonomie  zugleich 
das  Prinzip  um-  Verinnerlichung  auf  dem  Boden  der  Vernunft, 
Luthers  Forderung  des  autogeuen  Handelns  ist  durch  den  Begriff 
der  Gesetzgebung  zur  Idee  des  autouomeu  Haudelns  eutwickelt, 
Der  Begriff  der  Verinnerlich ung  hat  dadurch  seinen  besten,  ver- 
nünftigen Sinn  erhalten;  er  hat  nichts  zu  thnn  mit  dem,  was 
Kant  ^schmelzende  Schwärmerei''  oder  den  „angeuanfschlageudeu 
kriechenden  Religiünswahu"  nenot,  worin  die  „Andäehtler**  das 
Wesen  der  Verinnerlichung  sähen.  ^Ê 

Aus   dieser   prinzi|deUen  l^t»eniiislimraung   wird  noch  einmar^ 
—  um    knrz  auf  den  vorigen  Paragraph  zurückzublicken  —    gÄna^ 
klar,    uicht  bloss   dass^    sondern    auch   warum  zwischen  Kant  unlf 
Luther   nicht   der  schroffe  Gegensatz  von  theologischer  und  philo- 
sophischer Ethik  bestehen  kann,  wie  man  auf  den  ersten  Blick  zu 
glauben  geneigt  sein  mag  ;    dass  viehtiehr,  genau,  wie  wir  es  vor- 
bin  bemerkten,    durch    Luther   gefüblsmässig  die  Anbahnung  und 
durch  Kant  begrifflich  die  vollkommene  Überwindung  dieses  Gegen- 
Satzes  —  es  versteht  sich  nach  dieser  Formulierung,  dass  wir  di^^ 
Überwindung   nicht   historisch,     sundeni    kritisch    fassen    —    vol^ 
zogen    ward;    eben    durch  ihre  Prinzipien,    das  der  sittlichen  Ver- 
innerlichung und  das  der  sittlichen  Awtononiie,  die  beide  praktisi 
auf  Eins  tendieren, 

Aber   nicht   allein    in    diesem    fundamentalen    und    centralen 
Prinzip   der   Autonomie    und    der  Verinnerlichung    durch   die  Auf- 
nahme der  sittlichen  Wertentscheid uug  in  deu  Willeu,  den  Glauben, 
die  Gesinnung,    kui*z  in  die  Person  allein,    auch  nicht  bloss  durch 
die    aus   dem    Prinzip   folgende    Ablehnung    des  Äusserlichen 
Gleissenden^   des  „Werkes",   wie  Luther,  nnd  des  „Erfolges'', 
Kaut   sagt.,    treffen    beide  zusammen.     Auch  in  der  femeren  Ai 
bihluug  und  Weiterbildung^)  ihres  centralsteu  Grundsatzes  stimmen 
sie  nach  mancher  und  zwar  nach  jeder  wichtigen  Hinsicht  überein, 
Dass,    wie  auch  bisher  immer  schon  betont,    Luther  viel  mehr  gfe 


a^^ 


')  Wir  müSÄen  natürlich  die  ZuaammenfasHung  des  Gemeinsarai 
beider  Lehren  in  ganz  anderer  Reilienfol|je  beliandeln,  als  es  in  der  aus- 
führlichen DÄrstelJuiiir  der  einzelnen  für  sich  stand,  T>enn  im  Zusammeii- 
htiniçi^  der  einsselnen  Anschauung  hat  es  eben  selbst  beidemal  eine  and« 
HWÀÏnng, 


Luther  und  Kant.  479 

fühlsmässig  das  erreicht,  was  er  erreicht,  Kant  dagegen  durch  die 

Schärfe   und   den  Glanz  des  kritisch-klaren  Gedankens  zu  seinem 

Ziele   gelangt,   das   thut  der  inhaltlichen  Übereinstimmung  keinen 
Eintrag. 

§  25. 
Die  sittliche  Irrelevanz  von  Glück  und  Verdienst. 
Das  Streben  nach  Pflichterfüllung,  wie  Kant  sagt,  nach 
Gottwohlgefälligkeit  in  Luthers  Sprache,  oder  um  beides  in  Kan- 
tischer Weise  zu  vereinigen,  seine  Pflicht  als  göttliches  Gebot  zu 
erfüllen,  ist  für  den  Reformator,  wie  für  den  Philosophen  die 
höchste  Aufgabe  des  sittlich-religiösen  Menschen.  Es  ist  aber,  wie 
die  Pflicht  selbst,  nicht  bloss  höchster,  sondern  auch  einziger 
Zweck.  Darum  kann  alles  Streben,  das  nicht  auf  dieses  Ziel  ge- 
richtet ist,  schlechterdings  nicht  sittlich  wertvoll  sein.  Das  liegt 
ohne  weiteres  auf  der  Hand.  Ist  sittlich  und  religiös  wertvoll 
nur,  was  aus  Pflicht  geschieht  —  ein  auch  dem  gemeinen  Ver- 
stände einleuchtender  Satz  —  so  kann,  was  nicht  aus  dem  Be- 
wusstsein  der  Pflicht  heraus  geschieht,  auch  nicht  sittlich  sein. 
Das  ist  ein  analytisches  Urteil. 

Daraus  wird  nun  klar,  dass  weder  unter  noch  über,  weder 
diesseits  noch  jenseits  der  Sphäre  der  Pflicht  ein  Sphäre  des  Sitt- 
lich-Wertvollen bestehen  kann. 

Unterhalb  der  Pflicht,  kann  man  sagen,  steht  unsere  Selbst- 
sacht, das  Verlangen,  uns  glücklich  zu  machen,  unser  Glück  zu 
sichern,  kurz  unser  auf  Pflicht  nicht  Rücksicht  nehmendes  Streben 
nach  Glückseligkeit.  Es  ist  bis  zu  einem  gewissen  Grade  merk- 
würdig, wie  diese  sehr  einfache  Einsicht  Kants,  dass  Tugend  und 
Qlück  ohne  weiteres  auf  einem  ganz  anderen  Boden,  sozusagen  auf 
einem  ganz  anderen  Brett  stehen,  nichts  mit  einander  zu  thun 
haben,  soviel  Schrecken  anrichten  konnte,  da  sie  doch  so  nahe 
lieg^.  Bloss  der  unwiderlegliche  Nachweis,  dass  die  Glückseligkeit, 
ohne  etwa  mit  der  Sittlichkeit  in  geradem  Widerspruch  zu  stehen^ 
doch  absolut  irrelevant  für  die  moralische  Wertkategorie  ist, 
brachte  unter  einem  behäbigen  Moralphilisterium  schon  zu  Zeiten 
Kants  jähen  Schrecken  hervor.  Wohl  nur  deshalb,  weil  es  sich  eben 
recht  gemächlich  an  Tugend  und  Pflicht  denken  lässt,  wenn  man 
nicht  in  ihr  ernstes  Antlitz  schaut,  sondern  dabei  Ueber  nach  dem 
Lächeln  des  Glückes  schielt.  Aber  merkwürdig  bleibt  es  dennoch, 
dass  Kants  so  nahe  liegende  Erkenntnis  gar  so  sehr  überraschte, 

Kantstadien  IX.  31 


480  B.  Banck, 

and  fast  noch  merkwfirdi^r  ist  es,  dass  nicht  aaeh  schon  Lather 
der  menschlichen  Behäbigkeit  and  Gemächlichkeit  denselben 
»Schrecken  eingejagt  hat.  Denn  streng  genommen  ist  er  der  erste, 
der  es  antemahm,  den  alten,  liebgewonnenen  Tranm,  dass  Tagend 
and  Glück  immer  hübsch  freandschaftlich  und  nnzertrennlich  in 
der  Moral  Hand  in  Hand  gehen  müssten,  zn  zerstören.  Freilich 
die  scharfe  Herausarbeitung  des  Problems,  die  streng  begriffliche 
Scheidung  von  Moralität  und  Glückseligkeit,  die  klare  Reinigung 
der  Ideen  ist  Kants  Verdienst.  Aber  faktisch  und  praktisch  hat 
Luther  die  Unterscheidung  nicht  minder  gemacht,  wie  Kant,  hat 
er  nicht  minder,  wie  der  Philosoph,  alle  Selbstsucht  als  sittUch 
wert-  und  belanglos  gekennzeichnet.  Nicht  wie  Kant  zwar  ver- 
mag er  zu  zeigen,  dass  die  Selbstsucht  oder  das  Glückseligkeits- 
streben immer  in  materialen  Bestimmungsgründen  des  Willens  ge- 
gründet sei,  Objekte  fordere  und  darum  zu  einem  allgemeingiltigen 
Moralprinzip  nicht  dienen  könne.  Aber  die,  welche  das  Wohl- 
gefallen Gottes  um  eines  Gewinnes  und  Nutzens  willen  suchen, 
charakterisiert  er  als  „Geniesssüchtige''  und  lässt  ihr  selbstisches 
Treiben  nicht  als  wertvoll  und  gottgefällig  gelten.  Das  ist  eben 
nur  der,  der  nicht  „das  Seine  sucht".  Wahrhaft  fromme  und 
gute  Menschen  werden  ,.ohue  Lohn  oder  Geniess  Gott  suchen, 
um  seiner  blossen  Güte  willen,  nichts  begehren,  denn  sein  Wohl- 
gefallen". 0 

Die  Übereinstimmung    mit  Kant   wird  aber  noch  frappanter. 
Wir  erinnern  uns,  dass  Kant,   so  sehr  er,   genau  wie  Luther,   die 
Selbstsucht   oder   das  Glückseligkeitsstreben  als  sittlichen  Bestim- 
mungsgrund abwies,    doch   im   Begriff  des   höchsten  Gutes   eine 
Verbindung  von  Tugend  und  Glück  konstruierte.   Diese  Verbindung^ 
sollte  aber  keine  analytische  sein.    Das  helsst:  Die  Glückseligkeit:^ 
durfte   weder   Bestimmungsgrund    des  Willens   sein   und    als  „Be— 
Wegursache  zu  Maximen  der  Tugend"  angesehen  werden  oder  gar, 
narJi   epikurischer  Auffassung,    selbst   schon   als  Tugend   gelten, 
mdi  konnte,  nach  stoischer  Auffassung,  die  Glückseligkeit  „schon 
im  Bowusstsein   seiner  Tugend    enthalten"  sein.    Ihre  Verbindung 
iHt',    nach  Kant,    vielmehr   eine  synthetische,    ,. vermittels  eines  in- 
iMlÜKibleii  Urhebers  der  Natur",  durch  welchen  dem  Tugendhaften 
und  (It^H  (Glückes  Würdigen,   ohne  dass  er  sich  um  diese  kümmert, 
di<*  (ilücksoligkeit,  wenn  er  nur  nach  Tugend  strebt,  schon  zuge- 

i)  VkI.  oben  §  8. 


Luther  und  Kant.  481 

»en  werden  wird.  0  Genau  so  deukt  Luther:  die  Guten  dienen 
t  „allein  um  seinetwillen  und  nicht  um  des  Himmels  willen, 
h  um  kein  zeitlich  Ding.  Und  wenn  sie  schon  wüssten,  dass 
a  Himmel,  noch  keine  Hölle,  noch  keine  Belohnung  wäre,  den- 
h  wollten  sie  Gott  dienen  um  seinetwillen",  während  die  „Ge- 
jssüchtigen"  und  selbstischen  Menschen  sie  ^lehren  ihre  Werke 
n,  dass  sie  der  Hölle  entgehen  und  selig  werden".  Das  „aber 
Gott  nicht  lauter,  sondern  aus  Eigennutz  gesucht".  Die  aber 
um  und  gut  sind,  ohne  Lohn  und  Seligkeit  zu  verlangen,  denen 
d  Lohn  und  Seligkeit  doch  nicht  ausbleiben.  „Der  Lohn  wird 
1  selbst  finden,  dafür  nicht  sorgend,  und  ohne  unser  Ge- 
ih  folgen.  Denn  wiewohl  es  nicht  möglich  ist,  dass  der  Lohn 
tit  folge,  so  wir  Gott  lauter  aus  reinem  Geiste,  ohne  allen 
in  und  Geniess  suchen,  so  will  doch  Gott  dieselbigen  Menschen, 

sich  selbst  und  nicht  Gott  suchen,  nicht  haben,  wird  auch 
)igen  nimmer  keinen  Lohn  geben."*)  —  Eine  herrliche  Über- 
idung  des  Lohndienstes! 

So  lehnen  Kant  und  Luther  in  gleicher  Weise  als  wertvollen 
rtimmungsgrund  ab,  was  unterhalb  der  Pflicht  und  Tugend 
lt.  Aber  auch  was  über  diesen  stehen  soll,  lassen  sie  nicht 
sittlich-  und  religiös-wertvoll  gelten.  Das  aber  heisst:  Sie  er- 
nen  beide  übereinstimmend  erst  nicht  an,  dass  es  überhaupt 
as  gebe,  das  über  Pflicht  und  Tugend  stünde,  das  höher  wäre, 

diese.  Und  ganz  notwendig  müssen  sie  das  leugnen,  eben 
1  Pflicht  und  Tugend  das  höchste  Ziel  ist,  das  wir  erstreben 
en.    Darum   kann  es   kein   noch   höheres   gebeiï.    Der  Wahn 

sittlich-religiösen  Verdienstes  ist  mit  logischer  Notwendigkeit 
geschlossen.  Wir  haben  gesehen,  wie  beide,  Luther  und  Kant, 
auf  hinweisen,  dass  alles,  was  wir  im  besten  Falle  thun 
nen,   nichts   ist,    als   Pflicht   und    Schuldigkeit.    Luther  hatte 

Gedanken  in  der  Bekämpfung  der  ganzen  Werkgerechtigkeit 
ugsam  ausgeprägt.  Ja  selbst  hinter  Pflicht  und  Schuldigkeit 
ben  wir  oft  genug  zurück,  geschweige  denn,  dass  wir  mehr 
ten  sollten,  ein  Anspruch,  der  zugleich  ein  Widerspruch  in  sich 
►er  wäre.  Nicht  einmal  die  Heiligen,  so  hatten  wir  Luther 
drücklich  sagen  hören,  hätten  hinreichend  die  göttlichen  Ge- 
3  erfüllt,  ,ergo  nihil  prorsus  fecerunt  superabundans*.    Und  als 


A)  Vgl.  §  16. 
^  Vgl.  §  8. 

3l* 


4fl2 


B.  Bamch, 


lauter  ^Gleissnerei"    hatte    Kant    den  Wahn  hezeîchnet, 

mehr  als  Pflicht  und  Schuldigkeit  thun  konnten.  ») 


dasK 


§  26. 
Die  Lebendigkeit  der  sittlichen  Bethätigung 
und  das  Auswirken  der  go tt gewirkten  Anlage  zum  Guten 
in  der  Personh'chkeit. 
Es  ist  gegen  Kant  suwohK  wie  gegen  Luther  schun  eilige 
wandt  worden:  Aus  der  Zurücknahme  der  Weitentscheiduug  ans 
deuï  „Erfolg**,  d*Mii  ^\V**rk**,  kurz  den  „Handlungen,  die  man  siehl\ 
in  das  Innere  der  iS'rson  ntid  deriii  ,. Prinzipien,  die  man  nicht 
sieht",  folge  notwendig  Pasjsivität  und  Thaleniosigkeit.  'Sum 
Luther  hätte  die  Leute,  die  solche  Einwände  machen,  eines  ß^s- 
seren  belehren  können.  Wir  habr*n  ihn  ja  darauf  liinweisen  sehf^iit 
dass  das  Leben  .jiimnier  ruht**,  dass  es  uns  ewig  in  das  Dräugeii 
und  Wogen  des  Ueschehens  hineinstellt.*-;  Mag  es  darum  zwar 
ohne  sittlichen  Belartg  ninl  Wert  sein,  w^as  für  uns  sichtbarlicb 
daraus  folge,  so  nötigt  uns  doch  uns  Leben  Tag  für  Tag,  Stunde 
für  Stunde,  von  Augi-nblick  zu  Augenblick,  Stellung  zu  nehmen 
zu  seinem  Treiben,  und  wir  können  gar  nicht  thateulos  bleiten^ 
Diese  Stellungnahuie  aber  haben  wir  nach  bestem  (Glauben  und 
Gewissen  einzuriehteu.  (Jb  die  Werke  gross  oder  klein  sind,  da* 
rauf  kommt  nichts  an  ;  nur  dass  sie  im  tTlaubeu  gehen  und  ge- 
schehen, daran  liegt  alles.  Alles  ist  die  Pflicht,  und  das  Verdienst 
ist  Nichts.  Cberhauitt  den  <j<\siniinngsgkuhen  zu  bethätigeu,  wann 
und  wo  es  sei,  und  bei  welcher  Gelegenheit  auch  immer,  das  ist 
unsere  Aufgabe.  Für  die  Gelegenheit  selbst  sorgt  das  Leben. 
Kant  erreicht  durch  die  Aldehnnug  aller  materialen  Willensbestin}- 
mung,  aller  Inhaltticbkeit  des  Moralgesetzes,  d.  Il  durch  die  Rela- 
tivität aller  Moruliiihalte,  die  auch  Luther  deutlich  genug  er- 
kennt,'*) dasselbe;  und  in  (uancher  Hinsicht  noch  viel  klarer.  Ef 
brauchte  solchen  EinwenduTiiren  bloss  entgegeuzulmlteD:  wie  in 
aller  Welt  man  nur  aus  seinem  rein  formalen  Prinzip  plötzlich 
den  Inhalt  des  Nichtsthuns  ~  denn  das  wäre  doch  auch  ein 
Moralinhalt         glaube    deduzieren    zu    können;    und    weiter,   d«*s 


i,  6,  7,  8  und  für  Kant  §§  U,  K%  16. 


Î)  Vgl.  für  Luther 

t)  V^L  §  10. 

>)  Wir  eriunern  un»,  wie  er  sagt,  dass  ^ viele  Dinge  vor  Zeiten  ffo^ 
gt^wemn  jiind,  und  doch  nun  ärgerlich  und  schädlich^  als  da  sind  Feiertag* 
Klf<di#?ri*chttf/  und  Zierden".     Vgl  §  10  bes.  S.  415. 


^^      I 


Luther  und  Kant.  483 

selbst  di(^ser  Inhalt  erst  die  Probe  des  kategorischen  Imperativs, 
des  Gevviss(^nsj2:laubeus  bestehen  niüsste,  oder  wie»  IjUther  sagt, 
„dass  selbst  der  Müssiggang  in  des  Glanbens  Übung  und  Werk" 
geschehen  müsste**.»)  Kaut  hätte  viel  weniger  die  knechtische  Pas- 
sivität des  Quietisnms  brandmarken,  sich  noch  weniger  gegen  das 
Missverständnis,  als  predige  er  passive  Krgebung,  verwahren 
können,  als  er  es  gethan,  so  hätte  der  Kinsichtige  doch  immer 
noch  erkennen  können,  dass  die  lebendige  Bethätigung  der  Grund- 
zug seiner  Ethik  ist. 

Aus  einem  anderen  Grunde  dürfte  man  Luther,  wie  Kant, 
denselben  Einwand  glauben  machen  zu  dürfen.  Und  hier  stossen 
wir,  soweit  der  Reformator  uud  der  Philosoph  auch  sonst  im  all- 
gemeinen unter  metaphysischem  Betracht  aus  einander  gehen,  auf 
eine  gemeinsame  Vorstellungsweise  rücksichtlich  ihrer  Religions- 
metaphysik. Mag  Luther  das  für  Kant  unerklärbare  Böse  in  un- 
serer Natur  auf  Teufelswirkung  zurückgeführt  haben,  mag  Kant 
über  den  Teufelsglauben  als  eine  Art  des  „Wahnsinns  der 
Schwärmerei"  gelächelt  und  dem  Irokesenknaben  des  P.  Charlevoix 
nicht  nur  gegen  eben  diesen  P.  Charlevoix,  sondern  im  Prinzip 
auch  gegen  Luther  Recht  gegeben  haben  mit  seiner  Frage,  warum 
Gott  den  Teufel  nicht  totschlage,  —  rücksichtlich  der  Anlage  zum 
Guten  in  unserer  Natur  gehen  Kant  und  Luther  nicht  bloss  aus 
einander,  sondern  auch  in  gewisser  Hinsicht  mit  einander. 

Luthers  Prädestinationslehre,  die,  so  wenig  abgeklärt  und 
widerspruchslos  sie  auch  sein  mag,  doch  immerhin  durch  das  ge- 
waltige Fühlen,  in  dem  sich  für  ihn  die  Idee  gebiert,  eine  mäch- 
tige Vertiefung  gegenüber  allen  früheren  Versuchen  bedeutet,  kann 
in  gewisser  Rücksicht  wirklich  in  Parallele  gesetzt  werden  zu 
Kants  Idee  der  Intelligibilität.  Nicht  nur,  dass  beide  die  empi- 
rische Willensfreiheit  ablehnten,  dass  sich  beiden  die  Persönlich- 
keit unter  zwei  verschiedenen  Gesichtspunkten,  als  „leiblich**  und 
^.geistlich**  dem  Reformator,  als  Person  und  intelligible  Persönlich- 
keit dem  Philosophen  darstellte,  gilt  sie  ihnen  —  so  verschieden 
sie  in  der  Begründung  und  Ausführung  dieser  Anschauung  auch 
sein  mögen  —  als  in  ihren  tiefsten  Wurzeln  mit  der  Gottheit 
verknüpft. 

Aus  der  Güte  und  Allwirksamkeit  Gottes  hatte  Luther  das  Gute 
im  Menschen  abgeleitet,  sowenig  er  im  Stande  war,  damit  vollkommen 


1)  Vgl.  ebenfalls  §  10;  fttr  Kant  bes.  §§  15,  17  und  20. 


widei-spriichslos  das  Böse  in  Ubereiiistiiimmng  zu  bringen.  Alles 
GnUi  in  der  Welt,  auch  das,  welches  wir  wirken,  wirkt  Gott  in 
uns  und  durcli  uns.  Luther  hatte  diese  Idee  nm*  durch  seinen 
naiyou  erkenntnistheoretischen  Standpunkt  und  durch  die  kirchliche 
Onadenlehre  vcrdunkelu  und  verkümiueni  lassen.  Die  Gnaden- 
lehre  fand  \m  Kant  in  ihrer  dogmatischen  Gestaltung  natürlich 
keinen  Platz,  Dafür  aber  hatte  er  mit  dem  Begriff  der  Persfm- 
lichkeit,  ohne  der  Idee  Gottes  Eintrag  zu  thun,  ohne  die  Menschen- 
würde' im  Mindesten  herabzusetzen,  eine  grandiose,  tiefgründige 
Anschauung  über  die  Anlage  zur  Persönlichkeit  als  Anlage  zur 
Achtung  fürs  Gesetz  offenbart,  indem  er  auf  Gott  als  das  „allge- 
nugsame  Wesen**  und  den  Schöpfer  der  intelligiblen  Welt  diese 
intelligible  Anlage  selbst  zurückleitete.  Eine  o:e waltige  Vertiefung 
des  sittlich-religiösen  Wesens  war  dadurch  gewonnen,  die  über- 
natürlichen, aber  in  die  Erscheinnngswelt  eingreifenden  Gnaden- 
wirkungen  waren  mit  analytischei*  Notwendigkeit  eliminiert,  ehen 
weil  Gott  nicht  Schöpfer  von  Erscheinungen,  soudern  des  Intelli-  ^ 
gibien  ist.     Und   die  Auswirkung  des  Guten  durch  die  Persönlich-    - — , 

keit,  w^elche  die  Welt  der  Erscheinungen  mit  der  intelligiblen  ver- 

bindet,  indem  sie  in  ihrer  eigenen  Intelligibilität  jene  dnrch_-ÄZ3 
ihre    Spontaneität    schafft,    und    damit,    wie  Kant    sagt, 
die  Persönlichkeit    auch    die   Person    bestimmt,    war    er- 
möglicht.!) 

Himmelweit  verschieden  siud  Luther  und  Kant  in  der  Aus  -^s- 
führung  und  Ausgestaltung  der  Idee,  das  Gute  auf  Gott  als  da*^"  ^S 
^allwirksame^j  wie  der  Reformator,  auf  das  „allgenugsanie**  Weseu^^-3, 
wie  der  Philosoph  sagt,  zurückzuführen  ;  so  verschieden  wie  de:  ^s^r 
dogmatische  Gnadenbegriff  von  dem  der  lutelligibilitÄt  selbsti^Pt* 
Und  doch  haben  beide  die  Idee  gemeinsam,  ^Ê 

Und    w^eiter    eignet  ihnen,    in  gleicher  Weise,    das  Ziel,    de^^f 
Persönlichkeit,     trotzdem     deren    Anlage     zum    Guten     göttliche    c 
Wirkung   ist,    die    moralische  Selbständigkeit  zn  wahren.     Luth^=?r 
versucht  das  —  freilich  nicht  ohne  logischen  Zirkel  ^,  indem  ^r 
ein  Sich-Empfänglich-Machen   für  die  Gnade  statuiert.     Grossartmii' 
und  tief  hat  es  Kant   schon  durch  seine  Unterscheidung  von  Per- 
sönlichkeit und  Person  erreicht.     Und  in  tieferer  Übereinstimrauo^ 
fordern  beide  das  Auswarken  des  Guten  durch  die  Gesinnung  und 
den   guten  WiDen   im  lebendigen  Leben.    Blosse  Passivität  findet 
bei  keinem  Platz. 

*)  y  gl  §  l^ 


Luther  und  Kant.  486 

Also  nicht  bloss  in  der  Art,  wie  Luther  und  Kant  das  Gute 
auf  die  Gottheit  zurückführen,  sondern  auch  darin,  wie  sie  der 
Persönlichkeit  (und  damit,  nach  Kant,  auch  der  Person)  die  sitt- 
liche Selbständigkeit  sichern  wollen,  gehen  sie  weit  aus  einander. 
Luther  greift  ein  kirchliches  Dogma  auf,  vertieft  es  zwar  so,  dass 
seine  neue  Lehre  auch  hier  mit  der  alten  kaum  noch  etwas  zu 
thun  hat.  >)  Aber  er  gerät  dafür  in  einen  seltsamen  Zirkel,  aus 
dem  er  sich  nicht  befreien  kann.  Eine  unvergleichlich  tiefere  und 
grossartigere  Ansicht  eröffnet  Kant;  eine  Idee  von  ungeheurer 
Gewalt  und  Tragweite  offenbart,  er  in  seinem  Begriff  von  der 
Intelligibilität  der  Persönlichkeit.  Und  doch  darin  sind  beide 
einig:  In  letzter  Linie  weist  alles  auf  Gott  als  das  allwirksame 
und  allgenugsame  Wesen  zurück,  in  Sonderheit  das  Gute.  Nichts- 
destoweniger gilt  es  beiden  als  ein  unerlässliches  Erfordernis  von 
Religion  und  Moral,  der  Person  ilire  Selbständigkeit  als  ein  Aus- 
wirken ihrer  sittlichen  Eigenkraft  zu  wahren. 

§  27. 
Nächstenliebe  und  Achtung  vor  der  Person. 

Nach  Luther,  wie  nach  Kant  ist  die  sittliche  Bethätigung, 
die  moralische  Aktivität  des  Menschen  im  Leben  dessen  Aufgabe. 
Die  Thätigkeit  folgt  aus  dem  nimmer  ruhenden  Leben  selbst,  nach 
Luther;  aus  der  formalen  Bestimmung  des  Moralprinzips  und  der 
—  mit  Luthers  Idee  des  nimmer  ruhenden  Lebens  durchaus  zu- 
sammenstimmenden —  Relativität  aller  Moralinhalte  nach  Kant; 
sowie  dem  Erfordernis  des  aktiven  Auswirkens  der  Person,  nach 
beiden.  Die  Moral* der  That  ist  es,  die  wir  pflegen  sollen, 
sei  es  im  Berufe,  sei  es  bei  der  unendlichen  Fülle  der  Gelegen- 
heiten sonst. 

An  der  Gelegenheit  selbst  lässt  es  das  Leben  nicht  fehlen. 
Aber  es  bleibt  noch  eine  Frage  offen.  Der  Begriff  der  Pflicht 
ist  ja  ein  Relationsbegriff.  Er  verlangt  nicht  nur  einen  Träger, 
der  Pflichten  hat,  und  der  wir  als  handelndes  Wesen  selber  sind, 
nicht  bloss  ein  Material  der  Pflichterfüllung,  das  uns  das  Leben 
bietet.  Es  fragt  sich  vielmehr  noch:  gegen  wen  wir  im  thätigen 
Leben  Pflichten    zu  erfüllen  haben.     Und  das  ist  nach  Kant,    wie 


*)  Mit  Hamack  stimmen  wir  hierin,  wie  bereits  hervorgehoben, 
durchaus  überein.  Es  dürfte  allerdings  sonst  noch  sehr  bestritten  werden  ; 
vielleicht  würde  es  Luther  sogar  selbst  bestreiten. 


480  B   Baoch, 

nach  Lather,  wiederum  der  Mensch,  die  Person;  unsere  Pflichtr 
erfüUung  gegen  sie  ist  die  wahre  Erfüllung  der  göttlichen  Gebote, 
der  göttlichen  Pflichten,  wodurch  wir  unser  Leben  mit  wahrem 
Gottesdienst  anfüllen  können. 

Freilich  besteht  ein  Unterschied  darin,  wie  Beide  diesen 
Satz  begründen.  Luther  giebt  nirgends  eine  eigentliche  Be- 
gründung. Zwar  verweist  er  hier  auf  die  „geistliche''  Natur  des 
Menschen,  und  sieht  wohl  darin  ganz  richtig,  dass  diese  deji 
Grund  dafür  biete;  inwiefern  und  warum  sie  aber  diesen  Grood 
darstelle,  tritt  bei  ihm  nicht  hervor.  Bei  Kant  hatten  w  die 
Deduktion  dieser  Forderung  aus  der  Vernunft  kennen  gelernt: 
der  „göttliche  Ursprung"  der  Anlage  zum  Guten  in  der  Persön- 
lichkeit, an  den  uns  auch  die  Person  gemahne,  hatte  dieser  die 
Würde  eines  „Zweckes  an  sich"  gegeben.  So  war  sie  das  „Sub- 
jekt des  moralischen  Gesetzes,  welches  heilig  ist,  ver- 
möge der  Autonomie  seiner  Freiheit".  Füi*  sich  selbst 
betrachtet  ist  der  Mensch  Subjekt  des  moralischen  Gesetzes,  und 
eben  darum  für  den  anderen  ,,  vermöge  der  Autonomie  seiner 
Freiheit'*  zugleich  die  „objektive  Darstellung  des  Ge- 
setzes", und  darum  ein  Gegenstand  der  Achtung.  Das  aber 
heisst  zugleich  auch:  ein  Gegenstand  der  Pflicht,  in  der  Wedisel- 
beziehung  zu  ihr  die  sittliche  Würde  heilig  zu  halten,  worauf 
sich  alle  besonderen  Pflichten  gründen. 

Nun  hatte  Kaut  betont,  durch  diesen  moralischen  Fnndamen- 
talbegriff  der  Achtung  vor  der  Pei-son  sich  in  voller  Übereinstim- 
mung mit  dem  Christentum  zu  befinden.  Und  damit  gelangen  wir 
auch  auf  seine  weitere  tibereinstimmung  mit  Luther,  die  abermals 
geradezu  überraschend  wirkt. 

Für  den  Reformator  ist  das  Band  der  moralischen  Wechsel- 
beziehung von  Mensch  zu  Mensch  die  Liebe,  wie  diese  auch  eine 
Forderung  des  Christentums  ist.  Stimmt  das  nun  auch  für  Kant? 
Er  baut  die  sittliche  Wechselbeziehung  auf  den  Begriff  der  Ach- 
tung vor  der  Person  und  gründet  auf  diesem  das  Gebot,  seine 
Pflichten  gegen  den  Nächsten  zu  erfüllen.  Aber  ausdrücklich  sagfl 
er  —  und  das  meint  er  mit  seiner  Übereinstimmung  mit  dem 
Christentume  —,  dass  sich  damit  das  christliche  Gebot  der 
Nächstenliebe  gar  wohl  vereinige,  indem  er  nämlich  selbst  nichts 
Anderes  darunter  versteht,  als  das  Gebot  der  PflichterfüUnng 
gegen  den  Nächsten.  ^ 

')  Vgl  §  17. 


Luther  und  Kant.  487 

So  verstanden,  könnte  man  sagen:  in  der  Forderung  der 
ächstenliebe  stinnneu  Luther  und  Kaut  thatsäcblich  übereiu,  wenn 
an  den  Kantischen  Begriff  der  auf  der  Achtung  vor  der  Person 
jruhenden  Pflichterfüllung  eben  als  Begriff  der  Nächstenliebe 
îlten  lässt.  Nur  ist  noch  die  Frage,  ob  beide  auch  in  dieser 
uffassung  der  Liebe  eins  sind.  Denn  Kant,  das  ist  offenbar, 
ebt  doch  dem  Begriff  der  Liebe  einen  ganz  anderen  8iuii, 
s  man  gewöhnlich  damit  verbindet.  Allein  wir  wissen,  dass 
ich  Luther  das  thut.  Erinnern  wir  uns  nur,  dass  er  die  Liebe, 
e  er  als  Pflicht,  als  göttliches  Gebot  fordert,  von  dem,  was 
an  gewöhnlich  unter  Liebe  versteht,  und  was  er  selbst  „Welt- 
Bbe"  nennt,  gar  wohl  unterscheidet.  Er  ist  sich  auch  wohl  be- 
usst,  dass  diese  „Weltliebe**  sich  eben  nicht  gebieten  lässt,  weil 
5  bei  ihr  auf  die  individuelle  Pereon  ankommt,  die  man  liebt, 
icht  aber  auf  den  Nächsten  überhaupt.  Die  gebotene  christ- 
che  Liebe  aber  kann  man  „nicht  schöpfen  von  der  Person **, 
mdern  sie  muss  rVou  inwendig  aus  dem  Herzen  geflossen  sein**, 
ie  ist  also  eine  spontane,  wir  konnten  sagen,  autogene  Funktion 
ttd  bedeutet  für  Luther  nichts  Geringeres,  als  dem  Nächsten 
iienstbar"  und  „unterthan"  zu  sein.  ')  Dieser  Nächstendienst 
t  ihm  zugleich  wahrer  Gottesdienst. 

Luthers  Idee  der  Nächstenliebe  steht  also  der  Kantischen 
ee  der  auf  Achtung  beruhenden  Erfüllung  der  Nächstenpflicht 
cht  fern;  ja  sie  ist  mit  der  ganz  besonders  betonten  Spontanei- 
t  ihres  Wesens  die  aus  der  einen  Person  für  die  andere  eigen- 
äftig  hervorgetriebene  Achtung  und  Pflichterfüllung  selbst.  Das 
rd  noch  deutlicher,  wenn  wir  uns  daran  erinnern,  dass  Kant 
3selbe  Unterscheidung  macht,  dass  er,  wie  Luther  der  „Welt- 
be"  die  „Christenliebe**,  so  der  „pathologischen"  die  „praktische 
ebe"  gegenüberstellt,  und  dass  die  „pathologische'*  eben  die 
on  der  Person  geschöpfte**,  d.  h.  auf  der  Eigenart  der  Person 
ruhende,  mit  der  Zuneigung  identische  Liebe  ist,  während  die 
»Faktische"  die  moralisch  gebotene  Liebe  bedeutet.  In  inniger 
bereinstimmung  mit  Luther  sagt  er:  die  pathologische  Liebe 
[aan  aber  nicht  geboten  werden,  denn  es  steht  in  keines 
ansehen  Vermögen,  jemand  bloss  auf  Befehl  zu  lieben.  Also  ist 
;  bloss  die  praktische  Liebe,  die  in  jenem  Kern  aller  Gesetze 
erstanden    wird**.    Der  „Kern   aller  Gesetze**    ist  aber  für  Kant 

•)  VgL  §  11. 


Ki»;jj  [omljETi^setz.     Wenn   nun  die  Person  „Subjekt  um  mora- 

h  iesetzes  isf*,  dieses  also  durch  ihre  Autonomie  unmittftl- 
rial*  aarst^ttt  und  darum  Achtimg  erfordert,  wenn  weiUtr  der 
Kc»ni  dieses  (lesetzes  aber  zugleich  Liebe  ist,  so  steheu  iu  leUler 
Linie  „Achtung?  vor  der  Pörson*"  uod  „Nächsteuüebe^  in  Eins. 

So  hat  Luther  den  guten^  veniiinftigen  8iini  des  christlicbeii 
Üruudgebotes  der  Nächstenliebe  so  klar  uud  deutlich  ausgesproch^ii^ 
wie  es  oie  zuvor  geschehen  ist;  und  Kant  hat  ebea  dessen  Ver- 
nunft igkeit  auf  die  höchsten  sittlichen  Ideen  zum  ersten  Male 
gegründet. 

8  28. 
Die  Kirdie. 

Wir  hatten  gleich  im  Anfang  dieses  Vergleichs  auf  einen 
Osgensatz  zwischen  Luther  und  Kaut  hingewiesen,  auf  deu  Geg««- 
satz  zwischen  dem  Vernunftglaubfai  Kants,  wie  er  in  seiner  An- 
schauung über  die  Kirche  und  deu  OffeiibarUDgsglaubeD  ztini 
Ausdruck  kommt  und  Tjuthers  stan*em  Festhalten  au  Schrift  ucd 
OffeubarungsglaubeiL  Aber  das  ist  ein  Widerspruch,  der,  wie  m 
das  selbst  schon  eingehend  dargethan  haben,  in  Lutheti^  Glaubeis- 
idee  selber  angelegt  ist,  dessen  Überwindung  er  oft  erstaunlich 
nahe  kommt,  und  doch  auf  der  andern  Seite  auch  wieder  erstauo- 
iich  fern  bleibt;  ein  Widerspruch,  der  uns  in  seiner  Auffassiui^ 
von  der  Kirche  abermals  begegnet.  Das  aber  kommt  daher» 
,,dass*\  wie  Harnack  ^)  treffend  bemerkt,  „die  prinzipiellen  Ansatiß 
zur  Bildung  eines  oeuen  Lebensideals  nicht  mit  kritischer 
Kraft  und  Klarheit  durchgebildet  üind". 

Wir  hatten  den  Reformator  mutig  und  frei  den  Werkglauben 
und  Verdienstwahn  bekämpfen  sehen;  gesehen,  wie  er  den  Lohn- 
glauben ablehnt,  der  von  Gott,  als  ob  dieser  ein  „Trödler"  wäre, 
etwas  zu  verdienen  hofft  ;  gesehen,  wie  er  anstatt  dieses  gemetaen 
Lohndienstes  den  Menschen  auf  das  Leben  verweist,  das  er  „mit 
lauter  Gottesdienst  anfüllen"  könne.  Nur  müsse  er  da  seine 
Pflicht  thun;  d.  h.  „nichts  von  Gott  begehren,  denn  sein  Wohl- 
gefallen", ihm  keinen  Lohn  abdingen  wollen,  wie  ein  Mietling, 
sondern  alles  „umsonst"  thun.  In  die  freie  Pflichterfüllung,  die 
allein  in  dem  „Glauben  des  Herzens"  geschieht,  setzt  er  alles. 
Auch  den  Wert  des  inhaltlichen  Glaubens  macht  er  abhängig  vom 


1)  a.  a.  0.  m.  S.  749. 


Luther  und  Kant.  489 

reinen  Herzensglauben.  Aber  leider  —  historisch  war  es  ja 
durchaus  gut  und  notwendig,  aber  unter  kritischem  Betracht 
leider!  —  macht  er  auch  den  innerlichen  Glauben  der  Gesinnung 
selbst  wieder  von  dem  Schriftglauben  abhängig,  indem  er  jenen 
nur  dem  zugesteht,  der  sich  zu  diesem  bekennt.  Er  vermag  sich 
nicht  zu  erheben  zu  der  konsequenten  Anschauung,  dass  man 
ebenso  guten  Gewissens  den  Dogmenglauben  ablehnen,  wie  an- 
nehmen könne,  dass  dieser  nicht  jedem  Menschen  angemutet 
werden  dürfe,  dass  solche  Zumutung  zur  Heuchelei  führen,  der 
dogmatische  Schriftglaube  den  Gesinnungsglauben  geradezu  ver- 
nichten könne.  Die  Schrift  also  wirklich  bloss  als  möglichen  In- 
halt des  praktischen  Glaubens  zu  betrachten,  ist  er  nicht  im 
Stande.  Und  dieses  Widerspiel  ist  bestimmend  auch  für  seine 
Idee  der  Kirche. 

Auf  der  einen  Seite  glaubt  er  durch  das  „Wort  Gottes"  die 
Kirche  nicht  nur  historisch,  sondern  normativ-ewig  begründet,  ge- 
ordnet und  gebunden;  er  erklärt  fast  mit  papistischem  Nachdruck, 
dass  ausser  der  durch  das  Wort  begründeten  Kirche  keine  „Selig- 
keit"   sei.  >)    Auf   der   anderen  Seite   aber   überwindet  er  gerade 
das    Dogmatische   wieder   zu   Gunsten   des  Praktischen,   indem  er 
bei    der  Auslegung   das  Gewissen   frei  giebt.     Damit  ist  aber  die 
Freiheit,   zu   der  er  sich  trotz  aller  Gebundenheit  an  den  Schrift- 
Glauben  überhaupt,  in  seiner  Idee  der  Kirche  erhebt,  noch  nicht 
erschöpft.    Er   will  —  es   ist  eine  Freude,   das  zu  sehen!  —  das 
Beten    und    Singen,    den   ganzen   statutarischen  Gottesdienst,   nur 
tun  der  Einfältigen  und  des  jungen  Volkes  willen.    Der  Gebärden- 
dienst gilt   ihm   als   an   sich   wertlos.    Ausdrücklich    ermahnt  er 
^alle    diejenigen,   so   diese    Ordnung   im  Gottesdienst  sehen  oder 
nachfolgen   wollen,    dass   sie  ja   kein  nötig  Ding  daraus  machen, 
noch  jemandes   Gewissen    damit   verstricken  oder  fahen,    sondern 
der  christlichen  Freiheit  nach  ihres  Gefallens  brauchen,    wie,    wo, 
wann  und  wie  lange  es  die  Sachen  schicken  und  fordern".*)    Ein 
neues  Ideal    der   religiösen   Gemeinschaft   sehen   wir   hier  in  der 
That  emporwachsen,   frei  von  dem  Zwang  der  statutarischen  Ord- 
nung, erhaben  über  die  zeitlichen  und  räumlichen  Relationen,   ein- 
zig  gegründet  in  dem  Glauben  des  Herzens.     Eine  Gemeinschaft, 


^)  Vgl.  §  12  und  die  daselbst  erwähnte  KirchenpostiUe  I.  S.  162,  so- 
wie Hamack  a.  a.  0.  S.  745. 
»)  Vgl  §  12. 


4no 


B.  Bancti, 


til 


die  oicht  sirhtharlich  sich  richtel  imclï  dipser  kirrhlicheii  Ortlmui^ 
iiili»r  jener,  dit-  HiuTkrimt,  dass  nicht  bloss  in  ihr  gerade  jetzig 
sondern  iüinier  und  überall,  auch  unter  doin  Paitst  und  unter  den 
Türken,  ja  iibi^rbaiii»t  „in  aller  Welt**  ^ito  Christen  gewesen 
seien,  kurz,  eine  Gemeinsrhaft,  die  nach  Luthei^  eigeiieti  Worten 
nicht  .Ji^ibiich",  d.  h.  durch  historische,  statutarische  Äusserlich-| 
keiten  zusammmsfehalien,  sondern  nur  durch  den  inneren  Hei^zeus-^ 
^lauhen  „i.^eistlich'*  geeint  ist,  die  nicht  sichtbar,  s>onderu  uusicht- 
tiar  ist.  Uas  eben  danmu  weil,  wie  Harnack  sagt,  für  LiUhcr 
„die  Keligiou  nichts  Anderes  ist,  als  Glaube,  nicht  besondere 
Leistungen,  aucli  nicht  ein  iiesùodeies  (ichiet.  sei  es  nun  der 
üffeDtliche  Kultus^  oder  eine  ausgewählte  Lebensführung,  oder  dejS^ 
Keborsaui  gegen  kirclibche  Ordnungen,  seir-u  sie  auch  heilsam,  die 
Sidiare  sein  können,  in  der  ilie  Kirche  und  tier  Einzelne  ihren 
tilauben  bewahren,  sundern  .  ,  .  der  ('hrist  in  den  natürlichen 
Ordnungen  des  Lebens,  weil  sie  allein  nicht  selbstgewählte,  soti^| 
dem  ^gebotene*  sind,  also  als  tTotteserdnungen  liingennnimen  werden^ 
müssen,  seineu  t/ilauben  in  dieneinler  Nächstenliebe  zu  l»ewähren 
hat**.^)  So  kommt  IjUther  den  Forderungen  Kants  überaus  uahe|H 
ja  (*r  stimmt  mit  Kant  fast  vv<"»rllich  ül»r*rein  :  erstens  in  der  Ab- 
lehnung des  „ganzen  Krams  auferlegter  Observanzen'*,  zweitens 
in  der  Auffassung  des  ganzen  „stÄtutarischeu  Lohn-  und  Frobn- 
dienstes",  dem  nicht  mehr  ein  Sellistwert  zugestanden  wird,  der 
lediglich,  wie  auch  von  Kant,  als  Mittel  i^ur  sittlichen  und  reli- 
giösen Erziehung  angesehi'u  wird;  ferner  in  der  I*ostulieruug  des 
güt-en  Lebenswandels  als  des  eigentlichen  Gottesdienstes  und  end- 
lich in  der  Idee  der  Kirche  als  ^geistlicher'*,  nicht  „leiblicher** 
Gemeinde;  mit  Aufhebung  des  „erniedrigenden  Unterschied 
zwischen  Laien  und  Klerikern".*) 

l'nd  thich  klaffte  in  dem  Ideale  Luthers  ein  jäher  Wide 
Spruch,  den  Kant  überwinden  musste,  um  das  Ideal  rein  hei-zU! 
stellen.  Gewiss  hatte  der  willensgewaltige  Reformator  gar  vi 
„Blmlsinn  des  Aberglauhens  und  Wahnsinn  der  Schwärmerei**,  ui 
mit  Kant  zu  reden,  zerstnrt.  Aber  er  hatte,  nach  der  Philosophen 
eigenem  und  ausdrücklichem  IrteiK  auch  noch  genug  davon  übrige" 
behalten.  Und  da  unter  kritischem  Betracht  auf  das  Viel  Oflet^ 
Wenig  —  so   wichtig    dieser    Gesichtsiniukt    auch    historisch  seiu. 


1)  a.  a.  0.  S.  743, 

^  Vgh  oben  §  12  und  §  20. 


Luther  und  Kant,  491 

mag  —  gar  nichts  ankommt,  sondern  alles  aufs  Prinzip,  so  musste 
ein  Geistesgewaltigerer  der  Menschheit  erstehen,  um  allen  Wahn 
zu  zermalmen.  So  lange  der  Schriftglaube  sowohl  erst  Wert 
durch  den  reinen  „Glauben  des  Herzens"  erhalten  sollte,  als  auch 
an  sich  Wert  haben,  ja  den  reinen  Herzensglauben  erst  emiög- 
Uchen  sollt«,  liess  sich  das  neue  Ideal  der  religiösen  Gemeinschaft 
nicht  rein  denken.  Das  Statutarische,  die  kirchliche  Ordnung, 
konnte  nicht  selbst  als  blosses  Mittel  zur  sittlich-religiösen  Er- 
ziehung der  Jugend  und  der  Einfältigen  widerspruchslos  gedacht 
werden,  solange  dor  Schriftglaube  nicht  selbst  bloss  als  solches 
„Vehikel'*  gedacht  wurde.  Das  Pfaffeutum  war  solange  nicht  be- 
siegt—  auch  das  meinen  wir  kritisch,  nicht  historisch  --,  solange 
nicht  allen  Ernstes  und  mit  eiserner  Konsequenz  der  Schriftglaube 
dem  reinen  Herzonsglauben  durch  Vernunft  untergeordnet  war, 
solange  nicht  mit  aller  Schärfe  und  Deutlichkeit  erkannt  und  aus- 
gesprochen war,  dass  der  Offenbarungsglaube  keinen  Imperativ 
verstattet,  also  unsere  Denk-  und  Anschauungsweise  nicht  dogma- 
tisch bestimmen  darf,  und  dass  ein  solcher  Imperativ,  welch  auto- 
ritativer Zwang  ihn  auch  inimer  ausspricht,  nimmermehr  „einen 
Gläubigen  zu  machen"  im  Stande  ist,  weil  dieser  „das,  was  er 
heilig  beteuert,  nicht  einmal  versteht",  dass  er  vielmehr  zu  einem 
„Mangel  der  Aufrichtigkeit  führt,  der  lauter  innere  Heuchler 
macht".  ^)  So  muss  er  gerade  den  Herzensglauben,  alle  Verinner- 
lichung,  die  sittliche  Eigenki'aft  und  Freiheit  der  Person  und  des 
Gewissens  gefährden  und  droht,  allen  Lohn-  und  ï'rohnglauben 
wieder  aufzurichten,  die  sichtbare  Kirche  festzuhalten,  und  die 
unsichtbare  zu  bannen.  Um  die  Ideale  der  Freiheit  der  Person 
und  des  Gewissens  und  der  unsichtbaren  Kirche  nicht  bloss  fest- 
zuhalten, sondern  auch  zu  sichern  und  festzugründen,  um  den 
Lohndienst  als  „Frohn-"  und  „Fetischdienst"  absolut  abzuweisen 
und  den  wahren  Gottesdienst  wirklich  allein  in  den  guten 
Lebenswandel  zu  setzen,  dazu  war  die  Einsicht  einer  starken, 
kritischen  Vernunft  nötig,  die  klar  und  scharf  den  Schriftglauben 
als  blosses  „Vehikel"  erkannte,  das  „endlich  wird  entbehrt  werden" 
können,  das  ihn  darum  als  einen  blossen  Inhalt  mit  rela- 
tiver Geltung  schied  von  dem  praktischen  Glauben,  als 
dem  Prinzip,  das  ewig  gilt. 

Aber  damit  war  eben  von  vornherein  die  Aufgabe  gestellt: 
die  von  Luther  gewiesenen  Ideale  auf  Vernunft  zu  gründen,  ohne 

*;  Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft  S.  290, 


492  B.  Baneh,  Lother  nd  Kant. 

diese  aber  ihre  Grenzen  himuissdiweifen  zu  laaniL  Eb  mwaBXe 
das  religiöse  Prinzip  selbst  als  ein  moralisehes,  Temnftiges  er- 
kannt, reinlich  Ton  allen  anderen  Bestimmnngsgrûnden  gesdiieden 
wmlen;  der  Wert  der  Person  non  wirklich  anf  Vemonft  nnd  da- 
rauf anch  die  Idee  der  ^ethischen  Gemeinschaft'  begründet  weiden, 
damit  dem  moralischen  nnd  religiösen  Gefühl  sein  Sinn  gesichert 
ward.  Es  war  eine  Riesenanfgabe.  Kant  hat  sie,  wie  wir  ge- 
sehen, vollbracht. 

Nunmehr  auf  gutes  Recht  der  Vernunft  gestützt,  kann  er 
für  seine  Idealkirche  alles  Statutarische,  den  „Lohn-  und  Frohn- 
dienst**  als  „Fetischmachen"  Ferschmähen,  die  Einzelpersönlichkeit 
autonom  und  frei  ihre  Anlage  zum  Guten  auswirken  lassen  in 
einer  „ethischen  Gemeinschaft**,  die  nicht  „sichtbar^,  sondern  „un- 
sichtbar"', nicht  „leiblich"^,  sondern  „geistlich'*  ist.  Darum  könn» 
wir  sagen:  In  Kant  ist  Luthers  sittlich-religiöses  Fühlen 
auf  den  Standpunkt  der  Vernunft  gelangt. 


Anmerkang:  Vontehende  Arbeit  enthält  den  grOssten  Teil  meiner 
Habilitationsschrift  (mit  Ausnahme  des  Schlnsskapitels),  die  gleichzeitig  im 
ursprünglichen  Gesamtomfange  separat  erscheint. 


Anfänge  des  Kritizismus.  -  Methodologisches  aus  Kant. 

Von  A.  Riehl. 


Kein    P]reignis   in    der  Geschichte   der   neueren   Philosophie 
lässt  sich  an  Bedeutung  mit  der  Begründung  und  Ausbildung  des 
Kritizismus   vergleichen.     Wir  bezeichnen  mit  diesem  Namen  eine 
philosophische   Richtung,    die    sich    im  Gegensatz   zur  Metaphysik 
weiss  und  doch  zugleich  der  Philosophie  ihre  Selbständigkeit  wählt. 
Mit   der   Schöpfung   der   modernen   Wissenschaft   hatte   der 
Prozess   der   Auflösung   der   alten   Philosophie   begonnen.     Diese 
musste   ein  Gebiet  ihrer  Spekulation    nach   dem   anderen  der  Me- 
thode   der   exakten  Forschung  abtreten  und  ihi*  völliges  Aufgehen 
in    eine    Reihe    von    Einzelwissenschaften,    deren   Zahl    mit    den 
Fortschritten  des  Erkennens  sich  beständig  vermehrte,  schien  nur 
eine  Frage   der  Zeit  zu  sein.    Da  war  es  das  Verdienst  des  Kri- 
tizismus,  gezeigt   zu   haben,  was   Philosophie   eigentlich   sei  und 
"bedeute  und  welcher  theoretische  Beruf  ihr  auch  im  Zeitalter  der 
positiven  Wissenschaften   noch   verblieben   ist.     Wohl   hatten    die 
philosophischen    Systeme   des   siebzehnten  Jahrhunderts   versucht, 
den    alten  Anspruch   der  Philosophie,    die  Gesamtwissenschaft   zu 
sein,  dadurch  aufrecht  zu  erhalten,  dass  sie  sich  der  mathematisch- 
mechanischen Denkart   der   neuen  Wissenschaft  für  ihre  systema- 
tischen Zwecke   bemächtigten.    Nach  dem  Muster  der  Mathematik 
gestaltete  Descartes  die  Methode  für  seine  „Prinzipien  der  Philo- 
sophie",   d.   i.    sein    System    der    Natur.      Das    Vorbild    Galileis 
schwebte   Hobbes,    auch   für   seine   Untersuchung  des  politischen 
„Körpers **,  vor  Augen.    Spinoza  führte  den  neu  entdeckten  Begriff 


Anm.  der  Redaktion:  Diese  uns  freundlichst  von  Herrn  Prof. 
Dr.  A.  Riehl  zum  ersten  Druck  übergebene  Abhandlung  bildet  die  Ein- 
leitung zur  zweiten,  gegen  Ende  des  Jahres  erscheinenden  Auflage  seines 
Hauptwerkes:  Der  philosophische  Kritizismus  etc. 


494  A.  Riehl, 

der  mathematischen  Natnrgesetzlichkeit  in  den  Kreis  seiner  neu- 
platonischen  Anschauungen  ein  und  demonstrierte  die  „Ethik''  in 
„geometrischer  Ordnung''.  Von  der  Dynamik  und  seiner  Mathe- 
matik des  Uneudlichkleinen  aus  gelangte  Leibniz  zu  seiner  Meta- 
physik der  Monaden.  Was  diese  Denker,  den  überlieferten  (k- 
wohuheiten  der  Philosophie  folgend,  suchten,  war  eine  Universal- 
wissenschaf t  ;  eine  solche  aber  konnte  im  klassischen  Zeitalter  der 
Mechanik,  dem  Zeitalter  (ialileis,  selbst  nichts  anderes  sein  als 
universelle  Mechanik.  Damit  war  wohl  das  Verfahren  der  theo- 
retischen Naturwissenschaft  verallgemeinert  und  das  Gebiet  seiner 
Anwendung,  gleichviel  mit  welchem  Rechte,  über  die  Körperwelt 
hinaus  erweitert,  —  eine  neue,  der  Philosophie  als  solcher  eig^ 
tiimliche  Aufgabe  jedoch  nicht  ergriffen. 

Diese  hat  erst  Locke  gestellt.  Die  Schrift,  die  den  beschei- 
denen Titel  führt  :  „P^iu  Versuch  über  den  menschlichen  Verstand"" 
eröffnet  ein  neues  Zeitalter  der  Philosophie,  mehr  noch,  eine  ncoe 
Philosophie  nimmt  mit  ihr  den  Anfang:  —  die  kritische  Philosophie. 
Zum  ersten  Male  in  diesem  Buche  wird  die  Untersuchung  des  ^^ 
Sprunges,  der  Gewissheit  und  des  Umfanges  der  EIrkenntnis  der 
Untersuchung  der  Dinge  selbst  grundsätzhch  vorangestellt  Und 
fortan  hat  das  Problem  der  Erkenntnis  als  solcher,  die  Frage 
nach  den  Grundlagen  und  den  Grenzen  des  Wissens,  als  das  an 
sich  philosophische  Problem  zu  gelten.  Die  Philosophie  ist  nicht 
die  Gesamtwissenschaft,  wofür  sie  das  Altertum,  das  noch  jede 
theoretische  Kenntnis  zu  ihr  zählte,  betrachtet  hatte;  wohl  aber 
ist  sie  die  Allgemeinwissenschaft,  oder  die  Wissenschaftslehre,  die 
sich  als  solche  von  den  Einzelwissenschaften  bestimmt  unter- 
scheidet, ohne  doch  aus  dem  Zusammenhange  mit  diesen  heraus- 
zutreten. 

Spuren  des  Kritizismus,  Ansätze  dazu  lassen  sich  zwar  auch 
schon  im  Altertume  nachweisen.  Den  Anlass,  die  Frage  nach  der 
Möglichkeit  des  Wissens  aufzuwerfen,  gab  in  der  griechischen 
Philosophie  die  Spekulation  der  Eleaten  mit  ihrer  schroffen  Ent- 
gegensetzung des  wahren  reinen  Seins,  das  durch  das  reine 
Denken  allein  erfasst  werde,  und  der  trüglichen  Vielheit  und  Ver- 
änderiichkeit  der  Dinge,  die  den  Sinnen  sich  zeigen.  Aus  dieser 
Antinomie  zwischen  Wahrnehmen  und  Denken  ging  die  Dialektik 
hervor,  die  gemeinsame  Quelle  der  Logik  wie  der  Antilogik.  Zu- 
gleich mit  der  Festigkeit  der  Begriffe  leugneten  die  Sophisten  die 
Beharrlichkeit  des  Seins;  Protagoras  lehrte  den  vieldeutigen  Satz 


Anfänge  des  Kritizismus.  —  Methodologisches  ans  Kant.         495 

vom  Menschen  als  dem  Mass  aller  Dinge  im  Sinne  eines  Relativis- 
mus, der  wahre  Erkenntnis  ausschloss.  Demokrit  schränkte  diesen 
Satz  auf  die  Eigenschaften  in  der  Empfindung  der  Dinge  ein  und 
nahm  davon  die  „Atome  und  das  Leere"  aus,  als  die  Objekte  der 
„echten  Erkenntnisart".  So  wurde  schon  er  zum  Urheber  einer 
Lehre,  die  in  der  neueren  Zeit,  nachdem  Galilei  sie  erneuert  hatte, 
unter  dem  Namen  der  Unterscheidung  der  „primären  und  sekun- 
dären Qualitäten"  zu  grosser  Verbreitung  gelangte  und  sich  bis 
zu  Johannes  Müllers  Satze  von  den  spezifischen  Sinnesenergien 
verfolgen  lässt.  —  Sokrates  gab  die  Naturphilosophie  als  Wissen- 
schaft preis,  um  dafür  im  Bewusstsein  des  Menschen  nach  festen 
ethischen  Normen  zu  forschen,  und  eines  der  gehaltvollsten  Ge- 
spräche Piatos  endUch  beschäftigte  sich  geradezu  mit  der  Frage: 
was  Wissenschaft  oder  Erkenntnis  sei.  Plato  bekämpft  in  diesem 
Gespräche  den  Positivismus  des  Protagoras  mit  Gründen,  die  auch 
dem  Positivismus  der  Gegenwart  gegenüber  nichts  von  ihrer  Kraft 
verloren  haben.  Was  aber  die  alten  Denker  dennoch  gehindert 
hat,  das  Problem  des  Wissens  kritisch  zu  erfassen,  war  die  Ver- 
mengung desselben  mit  dem  Problem  des  Seins,  und  schliesslich 
verlief  die  antike  Erkenntnisphilosophie  in  bodenlose  Skepsis. 
Gerade  eine  Vergleichung  dieser  Skepsis  mit  dem  sogenannten 
Skeptizismus  Humes  ist  geeignet,  den  Abstand  der  Zeiten  und 
Denkweisen  so  recht  ersichtlich  zu  machen.  Dort  haben  wir  einen 
Aasflnss  mehr  noch  der  grossen  Müdigkeit  des  Wollens,  als  der 
Energie-  und  Mutlosigkeit  des  Denkens  vor  uns,  eine  Erscheinung 
der  Decadence.  Um  nicht  aus  der  Ungeslörtheit  des  Gemütes,  als 
dem  wünschenswertesten  Zustande,  herausgerissen  zu  werden,  will 
man  sich  jeder  Entscheidung  enthalten  und  weder  bejahen  noch 
verneinen.  Der  sehr  bedingte  Skeptizismus  Humes  dagegen  ent- 
sprang einem  starken  Wirklichkeitssinne  und  darum  machte  Hume 
das  Leben  zur  Richtschnur  selbst  des  Erkennens. 

In  der  neueren  Zeit  hatte  schon  vor  Locke  Descartes  in  den 
„Regeln  zur  Leitung  des  Verstandes",  einer  Schrift,  die  der 
„Unterredung  über  die  Methode**  unmittelbar  voranging,  aber  erst 
fünfzig  Jahre  nach  dem  Tode  des  Philosophen  bekannt  wurde,  die 
Einsicht  in  die  Natur  und  die  Grenzen  der  menschlichen  Erkennt- 
nis als  das  wichtigste  aller  Probleme  bezeichnet.  Einmal  in  seinem 
Leben,  erklärt  er,  müsse  diese  Frage  Jeder  geprüft  haben,  der 
nur  die  geringste  Liebe  zur  Wahrheit  besitze.  „Nichts  scheint 
mir  so  ungereimt  zu  sein,  fährt  Descartes  an  einer  anderen  Stelle 

KAnt«tadi«n  DL  32 


496  A.  RiehU 

der  Schrift  fort,  als  fiber  die  Geheimnisse  der  Natur,  den  Einflnss 
der  Gestirne,  die  verborgenen  Dinge  der  Znknnft  zn  streiten,  ohne 
ein  einziges  Mal  untersucht  zn  haben,  ob  der  menschliche  Geist 
so  weit  reiche."  Diese  Worte  hatte  Locke  entlehnt  haben  können, 
wären  sie  ihm  bekannt  gewesen,  so  genau  stimmen  sie  mit  einer 
Stelle  seines  Versuches  über  den  menschlichen  Verstand  uberein, 
und  nur  das  kritische  Erkenntnisproblem  scheint  damit  gemeint 
sein  zu  können  Der  Zusammenhang  jedoch,  in  dem  sie  sich 
finden,  und  noch  unzweifelhafter  Descartes'  eigene  Elrklämng:  die 
Untersuchung  jener  Frage  begreife  die  ganze  Methode  der  Erkennt^ 
nis  in  sich,  beweisen,  dass  es  sich  bei  ihnen  nicht  um  eine  Kritik 
der  Vernunft,  sondern  um  Vemunftwissenschaft,  um  Methodenlehre 
handeki  sollte.  Descartes  dachte  noch  dogmatisch.  Er  sah  in 
der  Klarheit  und  Deutlichkeit  an  sich  schon  den  hinlänglichen  Be- 
weis för  die  Wahrheit  einer  Perception  und  die  Wirklichkeit  ihres 
Gegenstandes;  und  wenn  er  auf  das  Subjekt  zurückgreift,  auf  das 
Sein  des  denkenden  Ich,  so  geschieht  es  in  der  ausgesprochenen 
Absicht,  von  dieser  klarsten  und  deutlichsten  Perception  aus  in 
methodischem  Fortschritt,  an  dem  Faden  einer  lückenlosen  Deduk- 
tion, zu  ebenso  wahren  und  wirklichen  Begriffen  von  den  äusseren 
Dingen  zu  gelangen.  Sein  Ziel  ist,  das  Dasein  der  Âussenwelt 
ausser  Zweifel  zu  setzen  und  unter  einem  das  Wesen  der  körper- 
lichen Natur  zu  begreifen.  —  Zur  Geschichte  der  kritischen  Philo- 
sophie gehören  somit  Descartes*  Meditationen  nicht  und  diese  Ge- 
schichte ist  wh'klich  nicht  älter  als  das  Buch  Lockes. 

Das  Gemeinschaftliche   der   kritischen  Lehren  ist   in   ihrem 
Gegensatz    zur   überlieferten   Metaphysik   zu   suchen.  —  Mit   der 
Bekämpfung  des  Glaubens  an  angeborene  Begriffe  und  Grundsätze^ 
griff   Locke    eins    der   Bollwerke    der   dogmatisch-metaphysischeu^ 
Denkart   an.     Er   hatte    „das  Vorzügliche,   rühmt   von  ihm  Kant^ 
dass  er  auch  die  Begriffe  des  reinen  Verstandes  (die  intellectualia, 
wie  Kant   schreibt)    nicht   für   angeboren  erkannte  und  ihren  ür- 
Hpning   suchte**.     Die  Beobachtung    der  Entstehung   der   Vorstel- 
luuK^'U  gal)  ihm  ein  Mittel  an  die  Hand,  die  naturgemäss  erzeugten 
M(*^riff(^    von    willkürlich   erdachten   zu  unterscheiden.     Und  noch 
t  lof  or  untergrub  er  der  Metaphysik  den  Boden.    Er  hob  die  „Sub- 
Ninn//'    auf,    in    der  Bedeutung   eines  Erkenntnisbegriffes   für  das 
WoNtMi  dor  Uiuffo,  und  ersetzte  ihren  metaphysischen  Begriff  durch 
itoii    oinpIriNoluM)   der  Beständigkeit  in  der  Verbindung  bestimmter 
^oifon^Ulinlllohor  Klomoiite.     Wie  frei  Locke   auch   persönlich  von 


Anfang  des  Kritizismus.       Methodologisches  aus  Kant.  497 

metaphysischen  Neigungen  war,  lehren  seine  Worte  von  sokra- 
tischem  Geiste  aus  der  Zeit  der  Abfassung  des  „Essay":  „das 
Wesen  der  Dinge  zu  ergründen,  ihren  ersten  Ursprung,  das  Ge- 
heimnis ihres  Wirkens  und  die  ganze  Ausdehnung  des  körper- 
lichen Seins  übersteigt  ebenso  weit  unsere  Fähigkeiten  als  es  ohne 
Nutzen  für  uns  ist.  Alles,  worum  wir  uns  zu  kümmern  haben, 
liegt  nahe  bei  der  Hand.  Die  Kräfte  unseres  Körpers  und  die 
Vermögen  unserer  Seele  sind  der  Lage  genau  angepasst,  in  der 
wir  uns  befinden."  Hume,  „einer  der  Geographen  der  mensch- 
lichen Vernunft",  durchforschte  den  ganzen  Vorrat  unserer  Er- 
kenntnisse und  unterwarf  die  Fähigkeiten  des  Geistes  einer  sorg- 
fältigen Prüfung,  zu  dem  Zwecke,  auf  solche  W^eise  „den  ab- 
strusesten und  lästigsten  Teil  der  Gelehrsamkeit",  die  hohle  meta- 
physische Weisheit,  los  zu  werden.  Die  Untersuchung  des  Ver- 
standes galt  ihm  als  die  „wahre"  Metaphysik,  die  bestimmt  sei, 
an  die  Stelle  der  „unwahren  und  verfälschten"  der  Schulen  zu 
treten.  Auch  Kant  bezeichnete  gelegentlich  sein  Werk  als 
„Metaphj'sik  der  Metaphysik".  Gründlicher  aber  in  seinem  Ver- 
fahren als  Hume  drang  Kant  bis  zu  der  Quelle  der  metaphy- 
sischen Täuschungen  vor,  zu  dem  dialektischen  Schein,  den  die 
Vernunft  sich  selber  schafft,  wenn  sie  für  Prinzipien  der  Dinge 
selbst  hält,  was  in  Wahrheit  nur  Bedingungen  der  Erkenntnis  der 
Dinge  sind.  Zugleich  konnte  er  auf  seinem  Wege  den  Erkennt- 
niswert der  Erfahrung  sichern,  der  vom  Standpunkt  der  „reinen 
Erfahrung"  aus,  dem  Standpunkt  Humes,  nicht  zu  retten  war. 

Der  Kampf  gegen  das  metaphysische  Scheinwissen  hatte 
auch  die  Bedeutung  des  wirklichen  Wissens  und  die  Grenzen 
seiner  Berechtigung  in  immer  helleres  Lacht  gerückt.  Und  so 
greift  der  Kritizismus,  der  ursprünglich  nur  eine  innere  Ange- 
legenheit der  Philosophie  gebildet  hatte,  durch  seine  Folgen  über 
den  Bereich  der  reinen  Philosophie  hinaus.  Die  Erkenntniskritik 
wird  zur  Erkenntnistheorie,  zur  Grundlegung  der  Wissenschaft. 
Wie  weit  aber  die  kritische  Strömung  in  der  Philosophie  trägt, 
ist  erst  zu  ermessen,  wenn  wir  bedenken,  dass  die  metaphysische 
Denkart  in  einer  Naturanlage  des  Menschen  ihre  Wurzel  hat,  in 
seinem  Ungenügen  an  dem  Gegebenen,  dem  Trachten  nach  dem 
Unbedingten.  Die  ideell  unbeschränkte  Erweiterung  der  Denk- 
formen, ihre  freie  Kombinierung  über  die  Grenzen  des  Wahrnehm- 
baren hinaus,  worauf  die  Macht  des  Verstandes  beruht,  sein  Ver- 
mögen,   in   die  Thatsachen   einzudringen,  begünstigt  zugleich,   sie 

32* 


498  A.  Riehl, 

veranlasst  sogar  zum  Teile  den  metaphysischen  Trag  und  keine 
Wissenschaft  ist  durch  sich  selbst  geschützt,  ihm  zu  verfallen. 
Dies  zeigt  sich  selbst  an  dem  Beispiel  der  Naturwissenschaften. 
Immer  wieder  werden  deren  Grundbegi-iffe  in  die  Nebel  metaphy- 
sischer Zweideutigkeit  eingehüllt  und  so  lange  es  möglich  bleibt, 
aus  einer  objektiv  messbaren  Grösse,  der  Energie,  ein  metaphy- 
sisches Wesen  zu  machen,  hat  auch  der  Kritizismus  noch  nichts 
von  seiner  disziplinierenden  Bedeutung  für  die  positive  Wissen- 
schaft verloren.  Zwar  giebt  es  auch  eine  partielle  Kritik,  die 
sich  auf  ein  einzelnes  Wissensgebiet  erstreckt  und  beschränkt 
Sie  besteht  in  der  Sonderung  der  Theorie  dieses  Gebietes  von 
den  Thatsachen,  in  dem  Bewusstsein,  dass  die  Theorie  zunächst 
immer  nur  ein  Instrument  bedeute,  den  Kern  des  Wissens,  die 
Thatsachen,  zu  ergreifen  und  zu  bearbeiten.  Man  fragt  dann 
nicht  länger,  was  die  Begriffe  für  ein  Wesen  bedeuten,  man  be- 
trachtet und  gebraucht  sie  als  Regeln  für  die  Vorstellung  der  Ob- 
jekte; und  schon  damit  tritt  der  Unterschied  hervor  zwischen  dem- 
jenigen Bestandteil  des  Erkennens,  der  aus  der  unumgängUchen 
Form  der  Verstandesbethätigung  als  solcher  herstammt,  und  dem 
Stoffe  des  Wissens,  der  in  den  Eindrücken  der  Sinne  gegeben 
wird.  Der  feineren  metaphysischen  Täuschungen,  die  bereits  die 
Grundlagen  unseres  Erkennens  umgeben,  wird  man  aber  auf  diesem 
Wege  allein  nicht  Herr.  Sie  aufzulösen  und  zu  zerstreuen  bedarf 
es  einer  selbständigen  Kritik  der  Begriffe;  es  bedarf  des  philoso- 
phischen Kritizismus  und  darum  hat  seine  Begründung  auch  in  der 
Geschichte  der  Wissenschaft  Epoche  gemacht. 

Die  Eutwickelung  der  kritischen  Philosophie  vollzog  sich  in 
drei  Stufen.  Sie  begann  mit  einer  psychologischen  Reflexion  über 
den  Ursprung  und  einer  Analyse  des  Inhalts  der  Begriffe;  es  ist 
die  von  Locke  erreichte  Stufe.  In  Humes  Positivismus,  ihrer 
zweiten  Stufe,  prüfte  sie  den  Begriff  der  Erfahrung,  gelangte 
aber  unter  Festhaltung  des  rein  empirischen  Ursprungs  aller  Er- 
kenntnis zu  skeptischen  Ergebnissen,  nicht  nur  in  Hinsicht  auf  die 
Vernunft,  sondern  auch  in  Hinsicht  auf  die  Erfahrung  selbst. 
Auf  ihrer  dritten  Stufe,  in  Kants  Philosophie  endlich,  nahm  sie 
diese  Prüfung  von  neuem  auf  und  erbrachte  den  Beweis,  dass 
Erfahrung  Erkenntnis,  —  aber  auch,  dass  Erkenntnis  nur  in  der 
Ei-fahrung  sei. 

So  führte  von  Locke  über  Hume  zu  Kant  ein  stetiger  Fort- 
gang   in    der    Erfassung    und    Veitiefung    dei*    Probleme.      Kein 


Anfänge  des  Kritizismus.  —  Methodologisches  aus  Kant.  499 

Schritt   brauchte    zurückgethan  zu  werden,  -    im  völligen  Gegen- 
satz zur  Philosophie,  die  auf  Kant  folgte  und  in  raschem  Wechsel 
ein  welterklärendes  System   nach  dem  anderen  produzierte.     Diese 
Philosophie   meinte,    die  Wissenschaft  ersetzen  zu  können  und  als 
hätte    es   noch   keine  exakte  Forschung  gegeben,    so  griff  sie  zur 
Konstruktion  aus  Begriffen,  der  Methode  der  alten  Denker  zurück. 
Ihre  Urheber   und  Anhänger   schrieben    sich    ein    höheres  Wissen 
zu,  als  es   durch  blosse  Wissenschaft  zu  erreichen  sei.    Auch  Er- 
kenntnisse,   die   schon  in  die  strengste,    den  Verstand  vollkommen 
befriedigende  Form  gebracht  waren,   glaubte  man  noch  verbessern 
und    gleichsam    sanktionieren    zu    müssen.      Hegels    „Beweis    des 
Fallgesetzes   aus   dem   Begriff   der   Sache"    erschien    dem  Natur- 
forscher, und  nicht  bloss  diesem,   völlig  sinnlos,   abgesehen  davon, 
dass  er  völlig   überflüssig  war.     Was  die  forschende  Wissenschaft 
nur  allmählich  ermitteln  zu  können  hofft,   und  mehr  als  dies,   be- 
hauptete  diese   diviuatorische  im  voraus  zu  wissen.     In  Wahrheit 
vermochte   sie   nicht   einen  einzigen  der  späteren  Fortschritte  des 
Erkennens  vorauszusehen,    liess   sie  doch  selbst  dem  halb  philoso- 
phischen   Satze   von    der   Erhaltung   der   Energie   gegenüber   ihr 
hellseherischer  Geist    im  Stiche.     Desto    dreiser  leugnete  sie  auch 
die  gesichertsten  Thatsachen  der  Natur  und  d(^r  Geschichte,  sobald 
sie  sich  ihrem  Systeme  widerspenstig  zeigten. 

Mit  dem  Zusammenbruch  des  letzten  dieser  spekulativen 
Lehrgebäude  und  des  kühnsten  aller  schien  wieder  einmal  das 
Ende  der  Philosophie  gekommen  zu  sein;  so  sehr  war  man  ge- 
wohnt, diese  selbst  mit  ihren  Auswüchsen  zu  verwechseln.  In 
Wirklichkeit  fand  man  sich  nur  auf  den  massvollen  Standpunkt 
Kants  zurückversetzt  und  einer  der  ersten,  die  es  aussprachen, 
dass  Kants  Ideen  noch  leben,  war  bezeichnender  Weise  ein  Natur- 
forscher. Helmholtz  hatte  erkannt,  dass  die  Spaltung,  welche 
Philosophie  und  Naturwissenschaften  zu  seiner  Zeit  trennte,  zu 
Kants  Zeiten  noch  nicht  bestanden  habe;  zum  Beweis  berief  er 
sich  auf  Kants  eigene  naturwissenschaftliche  Arbeiten.  Von  der 
Philosophie  Kants  aber  heisst  es  in  dem  Vortrag  „über  das  Sehen 
des  Menschen'':  „sie  beabsichtigte  nicht,  die  Zahl  unserer  Kennt- 
nisse durch  das  reine  Denken  zu  vermehren,  —  sie  beabsichtigte 
nur,  die  Quellen  unseres  Wissens  zu  prüfen  und  den  Grad  seiner 
Berechtigung  zu  untersuchen,  ein  Geschäft,  fügt  Helmholtz  mit 
Nachdruck  hinzu,  welches  für  immer  der  Philosophie  verbleiben 
wird    und    dem    sich    kein    Zeitalter    ungestraft   wird    entziehen 


500  A.  Riehl, 

können''.  Es  war  kein  geringes  Verdienst  von  Helmholtz,  über- 
haupt auf  Kant  aufmerksam  gemacht  zu  haben,  in  einer  Zeit, 
deren  wissenschaftliche  Kreise  der  Philosophie  nur  noch  mit  Miss- 
achtung begegneten.  Dass  seine  Auffassung  Kants  zu  ausschliess- 
lich von  physiologischen  Gesichtspunkten  geleitet  war,  um  an  das 
Eigentümliche  der  Transscententalphilosophie  heranreichen  zu 
können,  fällt  dagegen  weniger  ins  Gewicht-  Ist  doch  selbst  in 
philosophischen  Kreisen  eine  verwandte  Auffassung  durch  den  Er- 
folg, den  Schopenhauer  hatte,  fast  allgemein  zur  Herrschaft  ge- 
langt. Auch  Albert  Lange  in  dem  vielgelesenen  Buche:  die  Ge- 
schichte des  Materialismus  teilte  ihren  Standpunkt.  —  Eine  Zeit 
lang  blieb  Kaut  „der  Mann  der  Physiologen";  man  setzte  seine 
Lehi'e  von  den  a  priorischen  Formen  der  Erfahrung  mit  den  Fort- 
schritten der  Physiologie  der  Sinne  in  .Verbindung.  Dann  lenkte 
auch  die  Philosophie,  Kuno  Fischer  und  Eduard  Zeller  voran,  zu 
Kant  zurück  und  in  den  sechziger  Jahren  verbreitete  sich  immer 
allgemeiner  eine  eifrige  Erforschung  seiner  Werke,  bis  seine  eigene 
Vorhersagung  aus  dem  Jahre  1 797  :  in  hundert  Jahren  werde  man 
seine  Schriften  ei-st  recht  verstehen  und  dann  seine  Bücher  aufs 
neue  studieren  und  gelten  lassen,  wenigstens,  was  das  Studieren 
betraf,  noch  ehe  die  Zeit  um  war,  in  Erfüllung  gegangen  war. 

Die   Rückkehr   zu   Kant   ist   in  Wahrheit  einem  Fortschritt   -^ 
gleich  zu    achten.     Die  Fäden  wurden  wieder  angeknüpft,    welche  -?^ 
Wissenschaft  und  Philosophie  zu  wechselseitigem  Nutzen  verbinde] 
und  nur  zeitweilig  von  der  Naturphilosophie  durchschnitten  wordei 
waren.    Auch    sollte   das   Losungswort:    Zurück   zu   Kant!    keii 
Stehenbleiben   bei   Kant   bedeuten;    denn    auch    die   Wissenschaft:^* 
seit  Kant  ist  nicht  stehen  geblieben.     Wohl  hat  uns  der  Gang  deMB» 
wissenschaftlichen  Entwickelung  seine  Philosophie  wieder  so  nah^^ 
gebracht,    als   trennte    uns   kein  Jahrhundert   von   ihr;   aber    wijzrw 
vergessen    darüber   nicht,    was  alles  in  ihr  der  Vergangenheit  aiK.  - 
gehört  und  aus  einer  vielfach  anderen  Lage  der  Probleme  hervoM*- 
ging.     Wir   haben    gelernt,    das   geschichtlich   Bedingte   und    Be- 
dingende seiner  Lehre  von  dem,    was  in  ihr  bleibenden  Wert  hat, 
zu  unterscheiden  ;  wir  erklären  jenes  und  suchen  dieses  zu  verein- 
fachen   und   fortzubilden.     Denn   nicht  bloss  mathematische,    aucA 
philosophische  Erkenntnisse  bleiben,   nachdem   sie  einmal  entdeckt 
sind,  ein  unverlierbarer  Besitz  der  Wissenschaft. 


/ 


\ 


Anfänge  des  Kritizismus.  —  Methodologisches  aus  Kant.  Ô01 

Die  Entwickelang  der  kritischen  Philosophie  ist  wesentlich 
eine  Entwickelung  îhi-er  Methoden;  auf  die  Untersuchung  der 
Methoden  hat  daher  unsere  Darstellung  den  Nachdruck  zu  legen. 
Namentlich  aber  für  das  Verständnis  Kants  gewinnt  diese  Aufgabe 
noch  eine  besondere  Bedeutung.  Kant  selbst  nannte  sein  Werk 
den  „Traktat  der  Methode";  er  wollte  mit  demselben  der  Philoso- 
phie ein  „neues  Organ**  geben,  woran  er  den  aufmerksamen  Leser 
schon  durch  das  Citat  aus  Bacon  auf  dem  Titelblatte  seines  Buches 
erinnert.  Nicht  eine  Darstellung  der  Philosophie  war  darin  beab- 
sichtigt, ihre  künftige  wissenschaftliche  Darstellung  sollte  ermög- 
licht und  vorbereitet  werden.  Daher  die  Zusammenfassung  der 
wesentlichen  Ergebnisse  des  Werkes  in  die  Bezeichnung  :  „Prolego- 
mena zu  einer  jeden  künftigen  Metaphysik,  die  als  Wissenschaft 
wird  auftreten  können",  womit  auf  das  deutlichste  der  methodische 
und  proprädeutische  Charakter  der  Kritik  der  reinen  Vernunft 
aasgedrückt  ist. 

Neu  und  eigenartig  ist  schon  die  Fragestellung  der  Kritik 
und  wohl  durfte  Kant  sagen,  was  er  in  seinem  Werke  bearbeite, 
sei  eine  ganz  neue  Wissenschaft,  von  der  selbst  die  blosse  Idee 
unbekannt  war:  die  Wissenschaft  und  Kritik  der  unabhängig  von 
der  Erfahrung  über  Dinge  urteilenden  Vernunft  ;  denn  dies  bedeutet 
reine  Vernunft.  Andere,  bemerkt  er  in  einem  Schreiben  an  Garve, 
haben  zwar  dieses  Vermögen  auch  berührt,  er  nennt  in  diesem 
Zusammenhange  Locke  sowohl  als  Leibniz,  Niemand  aber  habe 
sich  auch  nur  in  Gedanken  kommen  lassen,  dass  dies  ein  Objekt 
einer  förmlichen  und  notwendigen,  ja  sehr  verbreiteten  Wissen- 
schaft sei.  Selbst  Hume,  sein  „scharfsinniger  Vorgänger**,  hatte 
das  Problem  noch  nicht  in  seinem  ganzen  Umfange  erkannt  und 
scheiterte  an  seiner  Lösung.  —  Nicht  wie  der  Mensch  zu  Er- 
fahrung und  Wissenschaft  gelange,  durch  welche  Vermögen  oder 
Prozesse  seines  Geistes,  —  was  Wissenschaft  sei  und  Erfahrung 
als  solche  enthalte,  ist  Gegenstand  der  Untersuchung  Kants.  Seine 
Frage  bezieht  sich  auf  den  Begriff  der  Erkenntnis  und  die  Be- 
dingungen, unter  welchen  Erfahrung  Erkenntnis  ist  und  darum 
ist  bei  ihm  nicht  von  dem  Entstehen  der  Erfahrung  die  Rede, 
sondern  von  dem,  was  in  ihr  liegt.  „Das  erstere  gehört  zur  em- 
pirischen Psychologie  und  würde  selbst  da  ohne  das  zweite, 
welches  zur  Kritik  der  Erkenntnis  gehört,  niemals  gehörig  ent- 
wickelt werden  können." 


Ô02  A.  Riehl, 

Wesen  und  Richtung  der  Methode  Kants  sind  schon  durch 
diese  Frag^estellung  bestimmt.  Kaut  betrachtet  nicht  anmittelbar 
die  Erkenntnisvermögen,  er  unterscheidet  und  prüft  die  Erkennt- 
nisarten.  Und  wenn  er  sich  zu  Überschriften  einzelner  Abschnitte 
seines  Werkes  der  Namen  für  psychologische  Vermögen  bediente, 
so  folgte  er  damit  nur  einem  Herkommen  der  Wolffechen  Schnle, 
das  auf  den  eigentlichen  Gang  seiner  Untersuchung  keinen  Eän- 
fluss  nimmt.  Nicht  von  der  ^.Sinnlichkeit'',  als  einem  Vermögen 
des  Subjektes  handelt  die  Kritik,  sondern  von  den  Begriffen  des 
Baumes  und  der  Zeit  als  reinen  Anschauungen;  nicht  von  dem 
Verstände  oder  der  Vernunft,  als  Fähigkeiten  des  menschlichen 
Geistes,  sondern  von  den  logischen  Einheitsbegriffen,  die  durch 
die  Beziehung  auf  mögliche  Anschauung  zu  Kategorien,  d.  L  zn 
reinen  Verstandesbegriffen  von  Dingen  überhaupt  werden,  nnd 
von  den  Vernunftbegriffen  oder  „Ideen'',  die  sich  aus  den  Formen 
der  Schlüsse  ergeben  und  zu  Objekten  vermeintlicher  Wissen- 
schaften aus  reiner  Vernunft  gemacht  werden.  Kant  untersucht 
die  reinen  Begriffe  objektiv,  so  wie  die  Logik  Begriffe  untersucht, 
die  auch  nicht  darnach  fragt,  wie  sie  in  uns  erzengt  werden, 
sondern  darnach,  was  sie  sind  und  vorstellen.  Und  so  nebensich- 
lich  für  seinen  Zweck  erschien  ihm  die  Frage  nach  ihrem  psycho- 
logischen Ursprung,  dass  er  schreiben  konnte:  „diese  Begriffe 
mögen  uns  beiwohnen,  woher  sie  wollen,  (die  Frage  ist:) 
woher  nehmen  wir  die  Verknüpfungen  derselben?  sind  es  Offen- 
barungen, Vorurteile  u.  s.  w.?"  Noch  bestimmter  lautet  eine  Auf- 
zeichnung aus  der  Zeit  der  Vollendung  seines  Hauptwerkes  (nach 
1777):  „ich  beschäftige  mich  nicht  mit  der  Evolution  der 
Begriffe  wie  Tetens,  den  Handlungen,  dadurch  Begriffe  erzeugt 
werden,  nicht  mit  der  Analysis  wie  Lambert,  sondern  bloss  mit 
der  objektiven  Gültigkeit  derselben."  Kants  kritische  Phüo- 
sophie  kennt,  was  ihre  Hauptfrage:  die  objektive  Gültigkeit  der 
reinen  Erkenntnis  betrifft,  keine  Psychologie.  Auch  war  diese 
Frage  psychologisch  nicht  zu  lösen;  denn  sie  liegt  nicht  auf  dem 
Wege  der  Psychologie.  Die  Kant  eigentümliche  methodische 
Leistung  ist,  ein  Verfahren  gefunden,  und  in  Anwendung  gebracht 
zu  haben,  welches  gestattet,  unabhängig  von  jeder  näheren  An- 
nahme über  die  Entstehung  der  reinen  Erkenntnis,  die  Be- 
dingungen und  Grenzen  ihres  gültigen  Gebrauches  zu  zeigen. 

Das  Wort,   das  Leibniz   für   sein  Verhältnis   zu   Locke  ge- 
brauchte,  gilt   auch   für  Kant.    Auch  für  ihn   handelte  es  sich 


Anfänge  des  Kritizismus.  --  Methodologisches  aus  Kant.  508 

„nicht  um  die  Geschichte  der  Entdeckungen,  die  bei  verschiedenen 
Menschen  verschieden  sein  kann,  sondern  um  die  Verknüpfung 
und  natürliche  Ordnung  der  Wahrheiten,  welche  immer  die- 
selbe ist". 

So   bestimmt   als   möglich   unterscheidet  Kant  den  Ursprung 
der  Vorstellungen   in    psychologischem  Sinne   von  der  Frage  nach 
dem  Ursprünglichen  im  Sinne  der  Erkenntnistheorie:  das  der  Zeit 
nach    in   der   Entwicklung   des   Bewusstseins   Vorangehende,    von 
dem,  was  der  Ordnung  der  Begriffe  nach  zur  Begründung  der  Er- 
kenntnis vorauszusetzen  ist.     „Der  Ursprung,   schreibt  er  in  einer 
Aufzeichnung,    ist   zweifach   (d.  h.    die   Frage   darnach   hat   eine 
doppelte   Bedeutung),    wie  wir  dazu  gekommen  sind:   Psychologie, 
und  wie  Erkenntnisse  a  priori  möglich  sind:  Transscendentalphilo- 
sophie."      Weil   man    diese   Unterscheidung  nicht   kannte,  durfte 
man    mit  einigen  Anschein   behaupten:    wenigstens  in  der  Frage 
nach  dem  Ursprung  der  Vorstellungen  bleibe  die  Erkenntnistheorie 
abhängig  von  der  Psychologie.    Nur  auf  den  Ursprung  im  zweiten, 
von   Kant   entdeckten   Sinne,    der   auch   allein   Gegenstand   einer 
„transscendentalen*"  Kritik   sein    kann,   bezieht  sich  der  Ausdruck 
a    priori.      Dieser   Ausdruck    bezeichnet   niemals   ein    zeitliches, 
sondern   stets  nur  ein  begriffliches  Verhältnis  unter  den  Erkennt- 
nissen.   Mit  anderen  Worten:   a  priori  heissen  bei  Kant  Erkennt- 
nisse, nicht  weil  sie  zeitlich  der  Erfahrung  vorangengen,  oder  vor 
aller  Erfahrung   gegeben   wären,  „der  Zeit  nach  geht  keine  Er- 
kenntnis  in    uns  vor  der  Erfahrung  vorher";    sie  heissen  a  priori, 
weil  sie  über  die  Erfahrung  hinausgehen  und  mehr  behaupten,  als 
reine  Erfahrung  lehren  kann.     Und  die  Gültigkeit  solcher  Erkennt- 
nisse a  priori,  die  nicht  auf  den  Bereich  blosser  Beziehungen  der 
Begriffe  beschränkt,    oder   in  Kants  Sprache:    analytisch  sind,   zu 
beweisen;     dazu    ist    die    ;,transscendentale"    Methode    bestimmt. 
Die  Apriorität  ist  das  Problem  Kants,  der  transscenden- 
tale  Beweis   die  Lösung   des  Problems.    Er  hat  begreiflich 
zu   machen,   wie   Erkenntnisse   objektiv   gültig  sein   können  und 
müssen,    obgleich    sie    a  priori    sind.      „Es    ist   in   der  Kritik, 
schreibt  Kant  an  C.  L.  Reinhold,   die  Aufgabe  zu  zeigen,   welche 
Gesetze   die   objektiv   gültigen  sind,   und  wodurch  man  berechtigt 
ist,    sie  als  von   der  Natur   der   Dinge   geltend   anzunehmen, 
d.  i.    wie   sie   synthetisch  und  doch  a  priori  möglich  sind,   sonst 
ist   man   in  Gefahr,    eine   bloss  subjektive  Notwendigkeit  aus  Ge- 
wohnheit  oder   Unvermögen,   sich   einen  Gegenstand  auf   andere 


501  A.  Riehl, 

Art  fasslich  zu  machen,  für  objektiv  za  halten. **  und  fiberein- 
stimmend  damit  erklärt  die  „Eritik'':  ^der  Begriff  der  Ursadie 
z.  B.  würde  falsch  sein,  wenn  er  nur  aaf  einer  ans  ein- 
gepflanzten  Notwendigkeit  beruhte.  Ich  würde  nicht  sagen 
können,  dass  die  Wirkung  mit  der  Ursache  im  Objekte  (d.i 
notwendig)  verbunden  ist,  sondern:  ich  bin  nur  so  eingeriditet, 
dass  ich  diese  Voi-stcIIung,  die  Wirkung,  nicht  anders  als  so  T6^ 
knüpft  denken  kann.  Auch  würde  es  nidit  an  Leuten  fehlm,  die 
diese  subjektive  Notwendigkeit,  die  gefühlt  werden  moss,  von 
sich  nicht  gestehen  würden;  zum  wenigsten  kOnnte  man  mit  Nie- 
manden über  dasjenige  hadern,  was  bloss  auf  der  Art  beraht, 
wie  sein  Subjekt  organisiert  ist^.  —  Fichte  war  also  gua 
im  Bechte,  zu  sagen,  eine  Ableitung  der  Notwendigkeit  ans  des 
„Gemüte*"  mache  diese.  Notwendigkeit  um  nichts  begreiflicher,  als 
ihre  Ableitung  von  Dingen  ausser  uns;  nicht  im  Bechte  aber  war 
er,  es  gegen  Kant  zu  sagen,  der  dies  auch  schon  wnsste  und  aus- 
gesprochen hatte.  —  Es  heisst,  den  Schwerpunkt  der  Kritik  yet- 
schieben,  wollten  wir  mit  Helmholtz  „den  ausserordentlicbstai 
Fortschritt,  den  die  Philosophie  mit  Kant  machte',  darin  erblicken, 
dass  „Kant  das  Gesetz  der  Kausalität  und  die  übrigen  Formée 
der  Anschauung  und  Gesetze  des  Denkens  aufsuchte  und  als 
solche  nachwies".  Die  Merkmale  der  Apriorität:  wahre  Allge- 
meinheit und  strenge  Notwendigkeit  sind  innere  Merkmale  gewisser 
Erkenntnisse  als  solcher,  keine  blosse  Folgen  oder  Kennzeichen 
ihrer  Entstehung  aus  dem  Subjekte.  Und  eben  dass  das  Gesetz 
der  Kausalität  kein  Denkgesetz  ist,  sondern  ein  Gesetz  der  Ver 
knüpf ung  der  Dinge,  und  dennoch  a  priori,  macht  dieses  Gesetz 
und  die  übrigen  Grundsätze  der  „reinen  Naturwissenschaft*  für 
Kant  zum  Problem. 

Wo  immer  Kant  auf  die  Frage  des  psychischen  Ursprungs 
der  Vorstellungen  zu  sprechen  kommt,  entscheidet  er  sich  im 
wesentlichen  für  die  empiristische  Theorie.  Er  kennt  keinen  rein 
subjektiven  Ursprung  irgend  welcher  Vorstellungen,  weder  in  Ge- 
stalt „angeborener  Ideen",  noch  in  der  Art,  dass  sie  sich  von 
selbst  und  ohne  Aulass  der  Erfahrung  erzeugten.  „Die  Kritik  er- 
laubt schlechterdings  keine  auerschaffenen  oder  angeborenen  Vor- 
stellungen, alle  insgesamt,  sie  mögen  zur  Anschauung  oder  zu 
Verstandesbegriffen  gehören,  sieht  sie  als  erworben  an."  Aus- 
drücklich erklärte  sich  Kant  für  das  System  der  „Epigenesis^,  der 
Entwicklung   der  Vorstellungen   nach  natürlichen  Gesetzen,  and 


Ânf&nge  des  Kritizismus.  —  Methodologisches  ans  Kant.  bOö 

gegen  das  „Präformationssystem":  die  Behauptung  von  im  voraus 
fertigen  Formen  des  Bewusstseins.  Dies  hat  man  sich  gegenwärtig 
zu  halten,  um  bildliche  und  abgekürzte  Ausdrücke  wie:  „im  Ge- 
müte  bereit  liegen"  u.  dgl.  nicht  misszuverstehen.  Eindrücke  der 
Sinne  müssen  stets  vorangehen,  „um  die  ganze  Erkenntniskmft 
zu  eröffnen";  Voi-stellungen  entspringen  aus  dem  Gemüte  „nur  in 
Verbindung  mit  anderen  Dingen".  Wenn  daher  gesagt  wird:  ein 
Begriff  gehe  vor  der  Wahrnehmung  vorher,  so  bedeutet  dies  „die 
blosse  Möglichkeit  des  Begriffs".  So  geht  z.  B.  die  Zeit  „zwar 
als  formale  Bedingung  der  Möglichkeit  der  Veränderungen  vor 
diesen  objektiv  (d.  i.  dem  Begriff  nach)  voran,  allein  subjektiv 
und  in  der  Wirklichkeit  des  Bewusstseins  ist  diese  Vor- 
stellung doch  nur,  so  wie  jede  andere,  durch  Veranlassung  der 
Wahrnehmungen  gegeben".  Und  ebenso:  „wenn  nicht  ausgedehnte 
Wesen  wahrgenommen  worden,  so  kann  man  sich  keinen  Raum 
vorstellen".  In  der  „subjektiven  Deduktion"  der  ersten  Auflage 
der  Kritik  zeigt  Kant,  wie  sich  die  Begriffe  des  reinen  Verstandes 
zugleich  mit  und  an  der  Vorstellung  der  empirischen  Objekte  ent- 
wickeln, Verstand  und  Erkenntnis  eines  Objektes  also  zugleich 
entstehen.  Durch  Abstraktion  von  den  empirischen  Bedingungen 
ihrer  Entstehung  lassen  sich  dann  diese  Begriffe  „in  ihrer  Lauter- 
keit darstellen"  und  für  sich  denken.  Die  Quelle  der  „reinen" 
Begriffe  ist  sonach  nichts  als  die  Reflexion  auf  die  Form  der 
Begriffe. 

Apriorismus  und  Entwickelungslehre  schliessen  sich  also 
keineswegs  gegenseitig  aus,  wie  immer  wieder  behauptet  wird,  — 
und  gar  die  Meinung,  Kant  sei  durch  Darwin  widerlegt,  solIt<?, 
ihres  Unverstandes  wegen,   nicht  länger  ernst  genommen  werden. 

Zur  Methode  Kants  gehört  auch  sein  „sogenannter"  Idealis- 
mus; denn  „er  ist  lediglich  dazu  bestimmt,  die  Möglichkeit  unserer 
Erkenntnisse  a  priori  von  Gegenständen  der  Erfahrung  zu  be- 
greifen", das  heisst  also  dazu  bestimmt,  die  Aufgabe  der  Kritik 
aufzulösen.  Als  Bestandteil  der  transscendentalen  Methode  führt 
er  daher  selbst  den  Namen  des  „transscendentalen"  Idealismus. 
Und  aus  diesem  blossen  Mittel  der  Methode  haben  Fichte  und  ihm 
folgend  Schopenhauer  ein  Ergebnis,  ja  das  Hauptergebnis  der 
Kantischen  Philosophie  gemacht  und  damit  das  Verständnis  der- 
selben auf  lange  Zeit  hinaus  aufgehalten.  Noch  heute  geht  die 
Sage  um  von  Kants  ,,Ultraidealismus"  und  findet  Glauben  bei 
denen,  die  Kants  Worte  hören,  aber  ihren  Sinn  nicht  kennen.    In 


( 


t 


Wahihi'il  ist  df^r  ^transsi'^ndeotale"  mler  kritische  Idealismus  ^clas 
(irjjTt'ïihMl  iléH  Ideallsnnis  iü  cli^r  rccîi>ierten  Bedenliing  des  Wortei»'* 
ihhI    KieliMrl   dor  Erfahruu^serkenntnis    ihre  Realität     Er   ist  ein 
Intiiialor,    kmn    materialer    Idealismas,  —   ein    Idealismns   in    An- 
M'htHiflf  nur  der  Form  der  Anschauung  der  Dinge,  nicht  der  Dinge 
si'IUhI,    diu    d<»ri  Stoff   zn  unseren  Anschanungen  geben;    er  heisst 
diilHi"    auch    besser   die  Lehre    von  der  Idealitüt  des  Raumes  und 
ili  I  Zeit,  welche  Bezeichnung   Kant  selbst  für  ihn  gebraucht  bat 
KiHil  „räumt  nicht  bloss  ein,  er  dringt,  darauf^   dass  unseren  Vor- 
slellniigeii    äusserer  Dinge    i^irkliche  Gegenstände    äusserer  Dinge 
nnt.stirfichen",  nur  lehrt  er,  dass  die  Form  ihrer  Anschauung  nicht 
ilmeij  selbst»   sondern   der  sinnlichen  Vorstellungsart  des  Subjektes 
miliîifte.     Die  f^ehre,   dass  Raum  und  Zeit  —   und  zwar  der  abso- 
liitf'  Kaum  und  die  absolute  Zeit,  wie  Newton  sie  verstand  —  Formen 
des  Anschauens  der  Dinge   sind,  begründet  und  erschöpft  zugleich, 
den    „Idealismus"    Kai»ts.       I)i(^    Realität  der   Dinge,    die    diese: 
Formen  gemäss  ei^seheirien,  wird  dadurch  nicht  augetastet;  sie  is^^ 
vielmehr   für  die  Möglichkeit  der  empirischen  Anschauung  voraus   — ^ 
gesetzt,  richtiger:   in  dem  Faktum  dieser  Anschauung  mitgegebet*^, 
—  Kant    scheidet    aus   der  Wiiklirhki'it    die  ,,  Undinge**  eines   füi^^r 
sich    bestehenden  Raumes,    einer  an  sich  gegebenen  Zeit  aus,    uktx 
zu    verhüten,    dass   nicht   die    eigrnitüciien  Dinge,    wenn    man  sie 
von  jenen  l'ndingen  abhängig  denkt,   in  lauter  Schein  verwanden Jf 
werden. 

Methüdische    Bedeutung    kommt    auch   dem   unmittelbar  blxms 
dieser  Idealität^lehre  gefolgerten  Begriff  der  „Dinge  an  sich**  mit 
seinem  Korrelate,    dem  Begriff  der  Erscheinungen,    zu.     Der  Amk- 
druck:    Dinge    au    sich,    eine    Übersetzung    von    Lockes    ,,thiu|^ 
theniHelvea  (res  ipsoe),  bedeutet  nirht  Dinge,  die  ausser  allen  Ver- 
liältni.'^Hini  stünden,  so  wie  iter  x\Iet;iphysiker  das  „Absolute**  denkt; 
nr    bndf^ite!    die  Ding*'    abgesehen    wm    ihrem  VVrhäUnis  zur  Ali- 
Ächnunngmirt    des    Subjektes.      Wir   brauchen   diesen  Begriff,  um 
wuw/.ndrlb'ken,    ilass    die  unmittelbaren  (  »bjekte  der  sinnlichen  An- 
ncliHMiiiiK    [M'M'heinungen    der    Dinge   sind,    und    darum  ist  er  eiu 
melhofliscliei    Begriff*     Die  Unterscheidung    der  Dinge    selbst  ?oii 
Jltren  (0«c|ii  Iniingini    gehört    zur  Kritik  der  sinnlichen  Erkenntnis, 
filne  Vnriloppelnng   der  Objekte    soll    mit    ihr    nicht  gemeint  sein- 
Vl*<1m^dir     l'^tiii    die   „Kritik**    ^das    nämliche  Objekt   in    zweierlei 
(|^d>'MfM(Jif  »M'linien*'     eben  als  Erscheinung  und  als  „Ding  an  siel 
^^|l,^(  hlti  l'fHcheinung   hat  jederzeit    zwei    Seiten,   die  eiu^ 


Ânf&nge  des  Kritizismus.  —  Methodologisches  aus  Kant.  f)07 

da  das  Objekt  an  sich  selbst  betrachtet,  die  andere,  da  auf  die 
Form  der  Anschauung  dieses  Gegenstandes  gesehen  wird."  Ob 
es  Dinge  giebt,  die  den  Sinnen  nicht  erscheinen,  also  keine 
Gegenstände  einer  möglichen  Erfahrung  sind,  „andere,  mögliche 
Dinge",  lässt  sich  durch  die  theoretische  Vernunft  nicht  ent- 
scheiden und  ist  auch  für  die  Begründung  der  Erfahrung  ohne 
Bedeutung.  —  Wir  denken  die  Dinge  an  sich  durch  die  Begriffe 
des  reinen  Verstandes,  wir  erkennen  sie  durch  empirische  An- 
schauung, also  immer  nur  mittelbar,  nämlich  vermittelst  ihrer  Er- 
scheinungen. Deshalb  heisst  das  Ding  an  sich  „ein  seiner  Be- 
schaffenheit nach  unbekannter,  aber  nichts  desto  weniger  wirk- 
licher Gegenstand".  „Unsere  Erfahrungen  und  auch  unsere 
Erkenntnisse  a  priori,  so  lautet  die  Summe  von  Kants  hierher  ge- 
höriger Anschauung,  gehen  nicht  unmittelbar  auf  Objekte,  sondern 
zunächst  auf  die  subjektiven  Bedingungen  der  Sinnlichkeit  und 
der  Apperception  und  vermittelst  dieser  auf  unbekannte  Objekte, 
die  durch  sie  allein  vorgestellt  werden  können."  (Mitgeteilt  in 
Reicke  „Lose  Blätter".)  Die  Existenz  der  Dinge  selbst  als 
„der  bestimmenden  Ursachen  der  Erscheinungen"  steht  für  Kant 
ausser  Zweifel:  „Dinge  an  sich  geben  den  Stoff",  Erscheinungen 
der  Dinge  sind  der  Stoff  „unserer  empirischen  Anschauungen". 

Dass  die  Erscheinungen  selbst  Regeln  haben,  ist  kein  Bruch 
in    Kants  Beweisgange,    wie    ein  Ausleger   Kants   behauptet  hat, 
wohl  aber   fordert  dieser  unstreitig  richtige  Satz  zum  Bruche  auf 
mit   der   traditionellen,    von  Fichte  ausgehenden  subjektivistischen 
Auffassung  Kants.    Die   Existenz   der  Dinge  mit  ihren  geglichenen 
Verhältnissen,    die   in   besonderen   Naturgesetzen   ihren   Ausdruck 
finden,  ist  die  Voraussetzung  der  Kritik,    ohne  welche  ihre  ganze 
Frage   keinen  Sinn   hätte.    Denn  wenn  alle  Erkenntnisse  a  priori 
wären  —  und  sie  müssten  es  sein,  hätten  nicht  die  Erscheinungen 
selbst  ihre  Regeln  — ,    so  könnte  auch  die  Frage  nach  der  „Mög- 
lichkeit"  jener  Erkenntnisse  nicht  entstehen.    Mit  der  Aufhebung 
der  Dinge  selbst  und   damit  der  empirisch  gegebenen  Verhältnisse 
ihrer  Erscheinungen    lenkte  die  Philosophie   nach  Kant   zum  Dog- 
matismus zurück.    Und  dieser  neue  Dogmatismus  erwies  sich  sogar 
noch   bequemer  als  der  alte,  von  Kant  überwundene;   brauchte  er 
sich  doch  für  seine  Möglichkeiten   oder  reinen  Begriffe  nicht  erst 
nach   einer  Ergänzung  umzusehen,   nach  Wolffs  berühmten  „com- 
plementum   possibilitatis".    Für   ihn  fielen  Möglichkeit  und  Wirk- 
lichkeit  zusammen;   der  Begriff  schafft   sich  selbst  seine  Objekte 


608  A.  Riehl, 

nnd  Denken  nnd  Sein  sind  ein  nnd  dasselbe.  Es  bleibt  dagegen 
bei  dem  schlichten  Satze  Kants:  „bestimmte  Regeln  der  Sjnthes» 
müssen  durch  Erfahrung  gegeben  werden,  nur  die  allgemeine 
Form  derselben  ist  a  priori". 

Alles,  was  nicht  aus  der  reinen  Form  unserer  Anschaming 
stammt  und  über  den  blossen  Begriff  eines  Gegenstandes  hinaus» 
geht,  rührt  nach  Kants  ausdrücklicher  Lehre  von  den  Dingen 
selbst  her:  das  Gegebensein  einer  bestimmten  Empfindung  und  des 
Grades  ihres  Eindruckes,  die  besonderen  Grestalten  und  Verfatit- 
uissc,  in  denen  die  Körper  uns  erscheinen  und  ebenso  auch  weldie 
Erscheinung  beharrt,  mit  einer  anderen  gleichzeitig  ist,  einer  an- 
deren vorangeht  oder  folgt:  mit  einem  Worte  aller  Gehalt  der 
Erfahrung.  „Das  Physische,  der  Gehalt  der  Erscheinungen,  kann 
nie  anders  auf  bestimmte  Art,  als  empirisch  gegeben  werden*. 
In  diesem  Sinne  unterscheidet  Kant  die  empirischen  Naturgesetz 
von  den  allgemeinen  Gesetzen  der  Natur:  die  empirischen  GeseUe 
von  den  Gesetzen  des  Empirischen  als  solchen.  Nur  die  letzteren 
betrachtet  er  als  a  priori;  denn  „sie  belehren  uns  von  Erfahmng 
überhaupt  und  dem,  was  als  ein  Gegenstand  desselben  erkannt 
werden  kann  und  lassen  sich  daher  unabhängig  von  der  Erfahrung, 
wenn  auch  nicht  ohne  Beziehung  auf  sie  erkennen^.  Sie  sind  ebai 
darum  die  allgemeinen  Gesetze  der  Natur,  weil  sie  die  Gesetze 
der  Erfahrung  der  Natur  sind.  Empirische  Naturgesetze  da- 
gegen setzen  jederzeit  besondere  Wahrnehmungen  voraus  und 
können  daher  nur  durch  Erfahrung  bekannt  werden.  „Ohne  Be- 
lehrung der  Erfahrung  könnte  ich  weder  aus  der  Wirkung  die 
Ursache,  noch  aus  der  Ursache  die  Wirkung  bestimmt  erkennen*; 
ebenso  „müssen  Beobachtung  und  Beurteilung  zeigen,  welches  die 
Substanz  ist".  Denn  „Naturerscheinungen  sind  Gegenstände,  die 
uns  unabhängig  von  unseren  Begriffen  gegeben  werden,  zu  denen 
also  der  Schlüssel  nicht  in  uns  und  unserem  reinen  Denken,  son- 
dern ausser  uns  liegt  und  eben  darum  in  vielen  Fällen  nicht  auf- 
gefunden werden  kann".  Und  was  von  den  besonderen  Regeln 
der  Erscheinungen  gilt,  gilt  auch  von  den  Formen  der  letzteren 
selbst.  Ihre  „unermessliche  Mannigfaltigkeit  ist  aus  der  reinen 
Form  der  sinnlichen  Anschauung  allein  nicht  zu  begreifen**. 
Vielmehr:  „Dinge  als  Erscheinungen  bestimmen  den  Raum,  d.i. 
unter  allen  möglichen  Prädikaten  desselben  (Grösse  und  Verhält- 
nis) machen  sie  es,  dass  diese  oder  jene  zur  Wirklichkeit  gehören". 
—  Die  Rede    von   dem    „rohen  Stoff"    der  Erfahmng,    dem  Kant 


Anfänge  des  Kritizismus.  —  Methodologisches  aus  Kant.  509 

das  Subjekt  als  allein  formgebend  gegenübergestellt  habe,  sollte 
endlich  verstummen.  Jener  Ausdruck  kommt  in  der  Kritik  nur 
einmal  vor  —  leider  am  Eingang,  weshalb  er  sich  so  leicht  ein- 
geprägt haben  mag  —  und  er  bezieht  sich  an  jener  Stelle  aus- 
schliesslich auf  die  isoliert  gedachten  sinnlichen  Eindrücke  als 
solche,  auf  Humes  „Impressionen*",  die  dieser  fälschlich  schon  für 
Objekte  nahm.  Überall  sonst  zählt  Kant  auch  die  in  der  Wahr- 
nehmung gegebenen  Verhältnisse  der  Erscheinungen,  ihre  bestimmte 
Mannigfaltigkeit,  empirische  Ordnung  und  Regelmässigkeit,  zum 
„Stoff"  der  Erfahrung. 

So  wenig  hat  sich  Kant,  wie  man  ihm  vorgeworfen  hat, 
„gesträubt,  das  was  uns  sinnlich  gegeben  ist,  irgendwie  mass- 
gebend werden  zu  lassen",  dass  er  gerade  im  Gegenteile  in  der 
Beziehung  auf  empirische,  d.  i.  sinnlich  gegebene  Anschauungen 
den  einzigen  Beweisgrund  für  die  objektive  Gültigkeit  der  reinen 
Erkenntnis  sah.  „Selbst  die  mathematischen  Begriffe,  erklärt  er, 
sind  für  sich  nicht  Erkenntnisse,  ausser  sofern  man  voraussetzt, 
dass  es  Dinge  giebt,  die  sich  nur  der  Form  jener  reinen  An- 
schauung gemäss  uns  darstellen  lassen;  Dinge  im  Räume  und  in 
der  Zeit  werden  aber  nur  gegeben,  sofern  sie  Wahrnehmungen 
sind,  mithin  durch  empirische  Vorstellung".  Von  der  Geometrie 
heisst  es  sogar:  „sie  würde  die  Beschäftigung  mit  einem  blossen 
Hirngespiunste  sein,  wäre  der  Raum  nicht  als  Bedingung  der  Er- 
scheinungen, welche  den  Stoff  zur  äusseren  Erfahrung  ausmachen, 
anzusehen".  „Der  Raum  und  die  Zeit,  so  rein  diese  Begriffe 
auch  von  allem  Empirischen  sind,  würden  doch  ohne  objektive 
Gültigkeit  und  ohne  Sinn  und  Bedeutung  sein,  wenn  ihr  notwen- 
diger Gebrauch  an  Gegenständen  der  Erfahrung  nicht  gezeigt 
würde;  ja  ihre  Vorstellung  ist  ein  blosses  Schema,  das 
sich  immer  auf  die  reproduktive  Einbildungskraft  be- 
zieht, welche  die  Gegenstände  der  Erfahrung  herbeiruft,  ohne  die 
sie  keine  Bedeutung  haben  würden,  —  und  so  ist  es  mit  allen 
Begriffen  ohne  Unterschied."  Auch  „die  reinen  Verstandes- 
begriffe verschaffen  nur  sofern  Erkenntnis,  als  sie  auf  empirische 
Anschauung  augewandt  werden  können.  —  Nur  daran,  dass  diese 
Begriffe  die  Verhältnisse  der  Wahrnehmungen  in  jeder  Erfahrung 
a  priori  ausdrücken,  erkennt  man  ihre  objektive  Realität".  —  Als 
so  massgebend  zur  Begründung  der  Erkenntnis  betrachtete  Kaut 
das,  was  uns  sinnlich  gegeben  ist. 


510 


A.  Hiehl, 


Es  ist  eine  Folge  der  Begrenzung  seiner  Aufgabe,  kei 
Fehler  seiner  Metliode,  wenn  Kant  diesem  Ziisaninienhang  der  reinen 
Erkenntnis  mit  der  enipirischen  nirgends  ins  Einzelne  nachgeht 
Für  seinen  Zweck  genügte  es,  zu  erklären,  dass  die  Gegeusüind 
der  äusseren  Erfahrang  den  Kegeln  der  Konstruktion  des  Räume 
notwendig  gemäss  sein  müssen,  da  die  empirische  Ansrhauunl 
nur  in  der  Form  der  reinen  stattfinden  kann,  oder  darauf  hinziH 
weisen,  dans  die  empirisf^hen  Gesetze  der  Natur  unter  jenen  reinen 
und  ursprünglichen  Gesetzen  stehen,  auf  denen  Natur  überhaupt 
beruht,  Sein*^  Absicht  war  auf  dir  Kritik  der  reinen  Vernunft 
gerichtet,  nirht  auf  eine  Theorie  der  empirischen.  Der  Nachditirk 
fällt  daher  bei  ihm  auf  die  negativ-kritische  Seite  seines  Vei^| 
fahrens.  Die  transsceiulental*^  Dialektik  ist  eigentlich  die  Kritik 
der  reinen  Vernunft,  von  der  das  ganze  Werk  diesen  Namen  em- 
pfing, Sie  hob  das  Wissen  von  übersinnlichen  Dingen  auf  und 
damit  die  theoretisch-dogmatische  Mi^taphysik.  Die  Grundlegung 
der  Ei'fahrung  dagegen,  worauf  wir  heute  das  Gewicht  legeii^^ 
sollte  für  sie  nur  die  Voraussetziuig  bilden,  das  Mittel  zum  ZwecM^I 
„Reine  Mathematik  und  Naturwissenschaft,  so  heisst  es  ausdrück- 
lich, hätten  zum  Behuf  ihrer  eigenen  Sicherheit  und  Ge- 
wissheit keine  Deduktion  (ihrer  Grundbegriffe)  bedurft"*.  Die  eine 
ist  8chon  durch  ihre  Evidenz  hinlänglich  gerechtfertigt,  die  zweite 
durch  die  Bestätigung,  welche  die  Erfahrung  ihr  giebt.  Auch  ist 
es  für  den  Gebrauch  ihrer  Prinzipien  von  Gegeuständeo  der  Er- 
fahrung offenbar  gleichgültig,  ob  man  auüehmeu  will,  dass  auch 
diese  Prinzipien  selbst  wieder  aus  der  Erfahi-ung  stammen,  oder 
weiss,  dass  sie  die  Erfahrung  von  Gegenständen  überhaupt  eist 
erniöglicheu  ;  nur  wird,  was  im  eisten  Falle  als  thatsächliche  Be- 
stätigung ei*scheint,  im  zweiten  als  notwendige  erkannt.  „la 
allen  Aufgaben,  die  im  Felde  der  Erfahrung  vorkommen  mögen, 
behandeln  wir  die  Erscheinungen  als  Gegenstände  selbst,  ohne  uns 
um  den  ersten  Grund  ihrer  Möglichkeit  zu  kümmern.  Gehen  wir 
aber  über  die  Grenzen  der  Erfahrung  hinaus^  so  wird  der  Begriff 
eines  transscendentalen  Gegenstandes  notwendig." 

Kant  hat  die  Erfahningsgruiidlage  alles  Wissens  von  Ob- 
jekten nicht  nui'  anerkannt  —  wie  hätte  er  auch  sonst  der  Er- 
kenntnis a  priori  die  empirische  gegenüberstellen  können!  —  er  i 
hat  ihre  Bedeutung  gi-undsätzlich  auch  richtig  geschätzt  ;  aber,  wie 
es  die  Natur  seiner  Aufgabe  mit  sich  brachte,  eben  nur  giimd- 
sätzlich,   oder  im  allgemeinen.     Und  so  allein  wird  es  begieiflieh. 


Aîifon^  des  KritiÄisinim,  —  Metlmdoloerisches  ans  Kant.  oll 


bm  Fichte,  der  nicht  von  den  exakten  Wissenschaften  herkam, 
noch  mit  ihren  Methoden  vertraut  war,  in  dieser  Anerkennung 
und  Wertschätzung  des  rein  empirischen  Faktors  des  Erkennens 
durch  Kaut  einen  Rest  vôu  ^Dûgmatismus*'  erblicken  nud  nun 
seinerseits  darangehen  konnte,  auch  den  gesamten  Inhalt  und  die 
besonderen  Formen  der  Erfahrung  für  a  priori  auszugeben.  ^Dass 
die  Erscheinungen  aus  der  Organisation  der  Vernunft  ohne  Rest 
hervorgehen  und  darum  erkennbar  sind",  ist  nicht,  wie  Kuno 
Fischer  will,  Kants  Lehre,  sondern  im  wesentlichen  Fichtes  Be- 
hauptung, Nur  die  allgemeine  Form  der  Erscheinung  und  Er- 
fahrung ist  nach  Kant  a  priori  zu  erkennen,  aber  weder  das  Da- 
sein der  Ersclieinuugen,  denn  es  beruht  auf  Affektion  der  Sinne 
und  ist  daher  immer  nur  empirisch  zu  erkennen,  noch  auch  die 
«unabsehbare  Mannigfaltigkeit**  ihrer  besonderen  Formen*  Und 
flicht  darum  sind  die  Begriffe  jener  allgemeinen  Fonn  Erkenntnis- 
begriffe, d,  i.  objektiv  gültig,  weil  sie  aus  der  „Orgauisation  der 
Vernunft"  hervorgehen,  denn  soweit  könnten  sie  immer  nur  sub- 
jektiv gültig  sein;  sie  sind  es,  weil  sie  sich  ungeachtet  ihres  teil- 
weise subjektiven  Ui^prungs  als  Formen  der  empirischen  An- 
schauung auf  die  Dinge  selbst  beziehen.  Fichte  erst  hielt  es  für 
möglich,  den  ganzen  Gehalt  der  Erfahrung  aus  einer  im  Grunde 
nicht  eiumal  wii'klicheu,  sondern  sein  sollenden,  sich  selbst  erst 
setzenden  „Thathandlung^  eines  absoluten  Subjektes  hervorzu- 
zaubern, aus  einer  mit  Nichts  und  aus  Nichts  schaffenden 
Form.  Den  Raum  lässt  er  durch  ,,Linieuziehen"  erzeugt  werden, 
wähj-eud  offenbar  die  Möglichkeit  Linien  zu  ziehen  den  Rauni 
voraussetzt;  von  dem  Leibe  aber  und  seiner  Gliederung  gab 
er  eine  Deduktion,  die  nicht  gerade  Lust  erregen  wh-d,  diese 
Physiologie  a  priori  gegen  die  empirische  einzutauschen.  Kants 
Wort  über  die  „Wissenschaftslehre'*  ist  treffend  genug:  „es  sieht 
aus  wie  eine  Art  von  Gespenst,  das,  wenn  man  es  gehascht  zu  haben 
glaubt,  man  keinen  Gegenstand,  sondern  immer  nur  sich  selbst 
Qud  zwar  hienron  auch  nur  die  Haud,  die  darnach  hascht,  vor 
sich  findet",  —  Dieser  Sprung  ins  Leere  von  dem  realistischen 
Boden  der  Kantischen  Philosophie  weg,  ist  auch  durch  Hchellings 
nur  ideologische,  daher  auch  nur  scheinbare  Wiedereinsetzung  der 
Natur  nicht  rückgäugig  gemacht  worden.  Um  zu  verstehen,  was 
jene  kühne  Behauptung  Fichtes  eigentlich  bedeute,  brauchen  wir 
nui*  zu  erwägen,  welch  unverhältnismässiges  Übergewicht  in  dem 
Bestände    unserer  Erkenntnis    der    empirische  Faktor  des  Wissens 


612  A.  Riehl, 

Über  den  apriorischen,  oder  rein  ideeUen  thatsächlich  besitzl 
Während  ans  diesen  nichts  als  die  allgemeine  Form  der  Erfahrung 
hervorgeht,  ihr  mathematisches  nnd  logisches  Schema,  bringt  jener 
den  gesamten  Inhalt  und  die  besonderen  Formen  der  Erfahrongen 
herbei.  Von  ihm  allein  bekommt  jede  Erkenntnis,  die  nicht  aof 
das  logisch-mathematische  Gebiet  beschränkt  bleibt,  Bestimmtheit 
nnd  Gehalt,  und  wie  sich  reine  Logik  und  Matiiematik  za  da 
positiven  Wissenschaften  verhalten,  zu  Mechanik,  Physik,  Chemie, 
Biologie  u.  s.  w.,  so  verhält  sich  der  apriorische  Teil  unso^ 
Wissens,  der  jenen  Formenwissenschaften  zum  Grunde  liegt,  n 
den  empirischen,  der  allererst  den  Stoff  für  sie  liefert. 

Kant  wusste  es  selbst  am  besten,  dass  seine  kritische  Philo- 
sophie noch  einen  „Übergang*"  zu  den  positiven  Wissenschaften 
bedarf.  In  diesem  Sinne  gesteht  er  Reiuhold  und  zugleich  den 
anderen  „hyperkatischen""  Anhängern,  dass  er  es  lieber  sehen 
würde,  wenn  die  Kritik  statt  „aufwärts  durch  weitere  Zerg^edemng 
der  Fundamente  des  Wissens*",  vielmehr  durch  ,.die  abwärts  foit- 
gesetzte  Entwickelung  ihrer  Folgen*"  fortgebildet  werde.  Und 
noch  mit  sinkender  Kraft  seines  Geistes  beschäftigte  er  sich  selbst 
mit  der  Ausfüllung  dieser  Lücke  seines  Systems  nach  zwei  Bifih- 
tnngen:  er  suchte  den  „Übergang  von  den  metaphsrsischen  An- 
fangsgründen der  Naturwissenschaft  zur  Physik**  durch  Einführong 
einer  geistvollen  Hypothese  und  er  bemühte  sich,  die  Entstehung 
auch  der  empirischen  Anschauung  zu  zeigen.  Denn  hier  eben 
tritt  das  Recht  einer  Phänomenologie  des  Wissens  ein,  wäh- 
rend eine  solche  zur  Begründung  der  Erkenntnis  nicht  am  Platze 
wäre.  Und  von  diesem  Punkte  aus  hat  die  Prüfung  sowohl  als 
die  Fortbildung  der  Kantischen  Lehre  einzusetzen.  —  E^  ist  der 
Voi*zug  der  kritischen  Philosophie  und  das  Kennzeichen  ihres 
wissenschaftlichen  Charakters,  dass  sie  mit  der  fortschreitenden 
positiven  Wissenschaft  selbst  fortschreiten  kann  und  muss.  Die 
Wissenschaften  wachsen,  und  es  mehil  sich  ihre  Philosophie. 


Äussere  Schwierigkeiten  des  Verständnisses  der  „Kritik**  be- 
reitet dem  Leser  von  heute  schon  die  veraltete  scholastische  Fono 
ihrer  Darstellung.  Uns  erscheint  das  Werk  schwerfällig,  unnötig 
weitschweifig,  mit  Wiederholungen  überladen  und  eben  darum 
dunkel.  Und  Kant  selbst  musste  gesteheu,  dass  die  Form  seines 
Buches   ganz    vei*scbieden    sei    vom    „Tone  des  Genies".    Blättert 


Anfänge  des  Kritizismus.  —  Methodologisches  aus  Kant.  513 

man  hin  und  her,  bemerkt  er,  so  kann  nichts  pedantischer 
scheinen,  ob  es  zwar  zur  Abschaffung  alles  Pedantischen  in 
Fragen,  welche  die  Natur  der  Seele,  die  Zukunft  und  den  Ur- 
sprung aller  Dinge  betreffen,  ganz  eigentlich  abgezielt  ist.  „Der 
menschliche  Verstand  fehlt  hier  durch  Subtilität,  und  muss  da- 
durch widerlegt  werden."  „Es  ist  wahr,  dass  einige  Leser  durch 
Trockenheit  abgeschreckt  werden.  —  Aber  der  Schule  muss  zuerst 
ihr  Recht  widerfahren." 

Die  Terminologie  für  sein  Werk  entlehnte  Kant  vornehmlich 
den  für  ihre  Zeit  ganz  vortrefflichen  Lehrbüchern  von  Baumgarten, 
(Baumgarten  ist  „der  Autor",  an  welchen  Kant  ohne  nähere 
Namensnennung  bei  seinen  Vorlesungen  anknüpfte).  Doch  ge- 
winnen selbst  gebräuchliche  Ausdrücke  der  Schule  wie  „a  priori", 
„transscendental"  im  Zusammenhange  mit  seiner  Lehre  einen 
neuen,  vertieften  Sinn.  —  Von  der  Gewohnheit,  der  auch  Baum- 
garten folgte,  unter  psychologischen  Titeln  logische  und  metaphy- 
sische Gegenstände  abzuhandeln,  war  schon  die  Rede.  Belehrender 
noch  ist  an  die  Stelle  zu  erinnern,  welche  Baumgarten  der  Ästhe- 
tik, die  von  ihm  diesen  Namen  erhielt,  in  seinem  Systeme  einge- 
räumt hatte.  Da  er  das  Schöne  als  Vollkommenheit  der  sinnlichen 
Erkenntnis  auffasste,  machte  er  die  Ästhetik  zu  einem  Teile  der 
„Gnoseologie"  oder  Erkenntnislehre  und  wies  ihr  den  Platz  un- 
mittelbar vor  der  Logik  an.  Kant  behielt  diesen  Ort  im  System 
und  auch  den  Namen  Ästhetik  für  seine  kritische  Lehre  von 
Raum  und  Zeit,  als  den  Prinzipien  a  priori  der  sinnlichen  Er- 
kenntnis bei;  dachte  aber  bei  dem  Worte  Ästhetik,  um  dem 
Sinne  der  Alten  näher  zu  bleiben,  an  die  Einteilung  der  Erkennt- 
nis in  ästhetische  und  noetische,  während  er  für  die  Theorie  des 
Schönen  die  Bezeichnung  „Kritik  des  Geschmackes"  beibehalten 
wissen  wollte.  Kant  legte  somit  den  Entwurf  einer  vollständigen, 
nämlich  durch  die  „Ästhetik"  in  seinem  Sinne  erweiterten  Logik 
dem  Aufbau  seines  Werkes  zum  Grunde  und  gliedert  es  demnach 
in  Elementar-  und  Methodenlehre,  deren  erstere  wieder  Ästhetik 
und  Logik,  mit  ihren  herkömmlichen  Teilen:  der  Analytik  und 
Dialektik,  umfasst.  Nicht  die  Psychologie  mit  ihrer  Unterscheidung 
niederer  und  höherer  Seelenvermögen,  die  Logik  gab  den  Rahmen 
her  für  die  systematische* Form  der  Kritik  der  reinen  Vernunft. 
„Damit  tritt  die  Logik  in  den  Vordergrund  des  Kantischen  Systems 
und  die  Anknüpfung  der  kritischen  Vemunftlehre  an  die  Logik 
wird  entscheidend  für  das  richtige  Verständnis  ihrer  Methode".  — 


Ô14 


A.  Riehl, 


Als   ieb    vor  vielen  Jahren  diese  Worte  schrieb,    konnte  ich  nicht 
wissen,  wie  genan  sie  mit  einer  eigenen  Anssening  Kants  in  eîneq 
Briefe   au  öanre  (vom  7.  Angust  1783)   iîbï^reiiistiiuiuen.      Diese 
Brief   ist    erst   später  bekannt  geworden.     Nachdem  Kant  aaseio 
andergesetzt   hatte,   dam   f^s    nicht  Metaphysik  sei^  was  er  in  de 
Kritik  bearbeite,    sondern    eine  ganz  uene  nnd  bisher  unversuchte 
WisstMischaft,    fährt  er  fort:    „die  Logik,    die  jener    Wissen^H 
Schaft   noch   am  ähnlichsten  sein  würde,   ist  doch  iu  eineniH 
Punkte   unendlich    weit  unter   ihr,   denn  sie  kann  nicht  angeben« 
anf  welche  Objekte  nnd  wie   weit  die  Verstandeserkenntnis  gehf^^l 
—  Der   logischen  Gliederung   des  Systems   der   Kritik   geht   eine^ 
sachliche    parallel    und  dieser  dienen  die  rationalen  oder  metaphy- 
sischen Wissenschaften    als    Einteilungsgnind.     In    der  transscea 
dentalen  Dialektik  werden    nacheinander  die  rationale  Psychologie 
Kimmologie    und    Theologie   geprüft;    an    die  Stelle    der  Untologil 
aber  tritt   die    Analjiik   des   reinen  Verstandes   oder   die  Grund — 
legung  der  Krfahrung.    In  der  Art,  wie  diese  zweifache  Gliederun^^ 
innerlich    verbunden    und  die  sachliche  der  logisch-formalen  unter- 
geordnet   ist,    nffenbait  sich  eine  seltene  Kunst  wissenschaftlichet* 
Systematik.  H 

>fau  kennt  die  rückwirkende  Kraft  des  Wortes  auf  den 
Begriff,  den  mitbestimmenden  Einfluss  einer  fest  ausgeprägte» 
Schulsprache  anf  die  Gedanken,  uud  schon  Locke  machte  auf  die 
Gefahr  aufmerksam,  die  in  der  Verwechslung  der  Ausdrücke  einer 
gelehrten  Sprache  mit  wirklichen  Begriffen  liege,  uud  empfahl  zur 
Probe  auf  ihren  reellen  Gehalt  ihre  Übei-setzung  in  Worte  der 
Umgangssprache.  Den  Tadel  in  dieser  Bemerkung  Lockes  haben 
Hamann  und  Herder  gegen  Kaut  gerichtet;  Herder  hielt  überdie 
das  Locke'sche  Priifuiigsmittel  Kant  gegenüber  für  angezeigt.  VVa 
jedoch  zu  Gunsten  einer  schulgeniasseu  Terminologie  zu  sagen  ist^ 
hat  bereits  Kant  selbst  gesagt.  In  dem  Aufsatz  „von  einem  vor- 
nehmen Ton  in  der  Philosophie'*  rechtfertigt  er  den  formalen 
Charakter  der  reinen  Philosophie  als  den  einzig  für  sie  sachge- 
mässen  mit  Berufung  auf  den  scholastischen  Satz,  dass  in  ie^Ê 
Form  das  Wesen  tier  Sache  bestehe.  Und  in  der  Vorrede  zu^^ 
Hecht sphilosophie  verteidigt  er  das  Ertordernis  einer  „scholastischen 
Pünktlichkeit,  wenn  sie  auch  Peinlichkeit  gescholten  wüi'de,  weil 
dadurch  allein  die  voreilige  Vernunft  dahin  gebracht  werden  kann, 
vor  ihren  dogmatischen  Behauptungen  (ehe  sie  sich  auf  solche  ein- 
lîisst)    sich    erst   selbst   zu    vei-stehen/'     Kants   Terminologie   mit 


Anfänge  des  Kritizismus.  —  Methodologisches  aus  Kant.  Ô1Ô 

ihren  sorgffältigen  Distinktioiien  ist  auch  in  der  Thai  der  Ge- 
nauigkeit und  Strenge  der  Gedanken  in  hohem  Grade  förderlich 
und  bildet  dadurch  ein  vorzügliches  Mittel  der  philosophischen 
Schulung.  Auch  ist  sie,  von  vereinzelten  Ausnahmen  abgesehen, 
in  ihrer  Anwendung  von  exemplarischer  ( -onsequenz  und  unter- 
scheidet sich  hierin  sehr  zu  ihrem  Vorteile  von  der  späteren  philo- 
sophischen Sprachverwirrung. 

Schopenhauer,  ein  wirklicher  Schriftsteller  unter  den  deutschen 
Philosophen,  fand  den  Stil  Kants  als  glänzende  Trockenheit  zu 
charakterisieren.  Es  bleibe  dahingestellt,  ob  Fülle  und  Anmut  des 
Ausdrucks  der  Exaktheit  einer  wissenschaftlichen  Darlegung  überall 
günstig  sind;  Kant  aber  wählte  mit  Absicht  den  trockenen  Ton. 
In  der  Metaphysik,  meinte  er,  müsse  man  subtil  sein.  Und  hätte 
er  auch  wie  Hume  alle  Verschönerung  in  seiner  Gewalt  gehabt, 
er  würde  doch  Bedenken  getragen  haben,  sich  ihrer  zu  bedienen, 
um  keinen  Verdacht  übrig  zu  lassen,  als  wolle  er  den  Leser  ein- 
nehmen und  überreden.  Dass  ihm  die  P^ähigkeit  einnehmender  und 
anschaulicher  Rede  keineswegs  vei-sagt  war,  hat  er  nicht  blos 
durch  die  Schriften  aus  seiner  früheren  Zeit  bewiesen,  darunter 
„die  Beobachtungen  über  das  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen", 
die  ihm  den  Namen  des  deutschen  La  Bruyère  eintrugen.  Auch 
in  der  Kritik  der  reinen  Ternunft  finden  sich  Stellen  (jeder  Leser 
kennt  sie)  von  schriftstellerischem  Reize,  an  denen  die  glücklichsten 
Gleichnisse  den  Gedanken  beleben.  Sie  muten  uns  aus  ihrer  Um- 
gebung heraus  an  wie  die  melodischen  Sätze,  die  die  unendliche 
Melodielosigkeit  eines  modernen  Musikwerkes  unterbrechen.  Kant 
besass  die  auszeichnende  Gabe  des  überlegenen  Geistes,  durch  den 
Wechsel  des  Ausdruckes  einen  Gedanken  von  mehreren  Seiten 
zu  erleuchten  und  gerade  die  von  Schopenhauer  gerügten  mehr- 
fachen Definitionen  des  „Verstandes"  geben  dafür  ein  Beispiel. 
Und  wenn  Schopenhauer  mit  seltsamen  Missgriff  den  Ausdruck: 
„transscendentale  synthetische  Einheit  der  Apperception"  als  Beleg 
für  eine  willkürliche  Woitzusaramensetzung  wählte  und  meinte: 
es  könnte  dafür  ebensogut  „Vereinigung"  gesagt  werden,  so  übersah 
er  nur,  dass  es  auch  eine  analytische  Einheit  des  Bewusstseins 
giebt  und  dass  jedes  Wort  in  jenem  Ausdnicke  seinen  bestimmten 
Sinn  besitzt 

Es  soll  übrigens  nicht  geleugnet  werden,  dass  Kants  Termi- 
nologie in  ihrer  allzu  üppigen  Ausspinnung  eine  zu  weit  getriebene 
Vorliebe  für  Symmetrie  und  das  Äusserliche  der  Systematik  verrät. 


51(> 


A.  Riehl, 


4 

m 


Der  Gedanke  wird  dadureh  öftei's  vnu  der  o:eni(lcii  Bahn  abgelenkt 
Das  System  wird  zur  Fessel,  seine  Rubriken  stehen  bereit  uni 
auf  die  gelungene  Eiiioi'dnung  eiues  Uegeustaudes  in  das  gegebene 
Schema  fällt  gelegeiitüeh  eitj  zu  grosses  Gewirlit.  Es  kann  voi 
kommen,  dass  ein  und  dasselbe  F^robleiu  sieh  zu  verdoppeln  scheint 
nm*  weil  es  an  zwei  verschiedenen  Stellen  behandelt  werden  kann. 
Man  weiss  auch,  wie  gewaltsam  Kant  übeiall  <1ie  Topik  seine 
Kategorien  durchsetzte,  und  dass  er  es  wirklich  fertig  bracht 
das  ästhetische  Urteil  und  den  Begriff  der  llaterie  unter  eine 
und  denselben,  viereiuigeu  Gesichtspunkt  zu  nicken*  Jede  philo- 
sophische Disziplin  ferner,  die  Ästhetik  (in  unserem  heutigen  Sinne) 
und  die  Teleologio  so  gut  wie  die  Ethik  wird  nach  dem  Muster 
eines  logischen  Lehrbuches  abgehandelt;  jede  erhält  daher  eifie 
Elementar-  und  eine  Jlethodeulehre,  eine  Analytik  und  eine  Dia- 
lektik und  es  vei^teht  sich,  dass  überall  auch  eine  „Antinomie** 
obligat  ist  und  miisste  eine  solche,  wie  es  am  augenscheiulichst^u 
von  der  Antinomie  der  teleologischen  l^rteilskraft  der  Fall  ist| 
erst  eigens  erfunden  werden. 

Noch  aus  einem  anderen  Grunde,  als  des  Einflusses  wegen»  de 
die  Systematik  Kants  auf  Gang  und  Inhalt  seiner  Gedanken  geoomme 
hat,  wird  die  sorgfältige  Beachtung  seines  Sprachgebrauches  zu  einem" 
Mittel  des  Vei-ständnisses  seiner  Lehre.  *  Kants  Sprache  in  ihref^ 
feineren  Bedeutung  ist  nämlich  nicht  mehr  oline  weiteres  verstandlic 
und  erfordert  wirklich  ein  wenig  philologische  Behandlung.  Sind  auch 
viele  von  ihren  Kunstansdriicken  im  pliilosophischen  Sprachverkehre 
gebheben,  so  haben  sie  doch  inzwischen  eine  mehr  oder  minder 
eingreifende  ßedeutungsverschiebung  erfahren,  namentlich  in  Folge 
des  Wandels  der  philosophischen  Anschauungen,  und  es  erscheint 
daher  geboten,  ihi'en  urspriinghchen  Siuïi  auf  historischem  Wege 
erst  wieder  herzustellen.  Dass  eine  solche  Bemühung  nicht  ganz 
nebensächlich  sei,  zeigt  sich  besonders  bei  dem  wichtigen  Ausdruck: 
Möglichkeit  der  Erfahrung.  l>ie  einseitig  idealistische  Auf- 
fassung imd  Fortbildung  der  Kantischen  Philosophie  hat  es  bewirkt, 
dass  dieser  Ausdruck  ganz  allgemein  in  subjektivem  Sinne  ge- 
nommen wurde.  Man  verstand  und  versteht  darunter  in  der  Regel 
selbst  heute  noch  das  Vermögen  des  Subjektes  zur  Erfahnmg,  die 
Thätigkeiten  der  Sinne  und  Handlungen  des  Verstandes  also,  durch 
welche  Erfahrung  zu  Stande  gebracht  wird-  Folglich  halt  man 
auch  ,,die  Bedingungen  zur  Möglichkeit  der  Erfahrung**  für  gleich — 
bedeutend  mit  jenen,  auf  Hervorbringung  von  Erfahrung  zielendeiB. 


teu 

] 


Anfänge  des  Kritizismus.  —  Methodologisches  aas  Kant.  517 

Erkenütnisvermögen  oder  glaubt  gar  im  Sinne  Kants  von  vor  aller 
Erfahrung  gegebenen  reinen  Anschauungen  und  Grundsätzen 
reden  zu  dürfen.  Kant  aber  gebrauchte  jenen  Ausdruck  durchweg 
iu  objektivem  Sinne.  Dies  wird  schon  durch  die  parallelen  Be- 
zeichnungen: „mögliche  Erfahrung**,  oder  gar:  „eine  mögliche  Er- 
fahrung überhaupt"  hinlänglich  augedeutet,  durch  den  feststehenden 
Gebrauch  aber  des  Wortes  Möglichkeit  für  in  der  Wolff'schen  Schule 
Begriff  ausser  Zweifel  gesetzt.  Möglichkeit  der  Erfahrung  bedeutet 
demnach  bei  Kant  das  Wesen  oder  den  Begriff  der  Erfahrung 
and  die  Bedingungen  einer  möglichen  Erfahrung  sind  den  subjek- 
tiven Erkenntnisquellen,  aus  denen  Erfahrung  entspringt,  nicht 
einfach  gleich  zu  setzen. 

So  kann  schon  die  unscheinbare  Berichtigung  des  Sinnes  eines 
Ausdruckes  für  unsere  Gesamtauffassung  der  Philosophie  Kants 
von  entscheidenden  Folgen  sein.  Man  war  gewohnt,  die  Kritik 
der  reinen  Vernunft  um  des  Namens  Vernunft  willen  und  mit 
Verkennung  der  ihr  eigentümlichen  Methode  für  die  Kritik  eines 
Erkenntnisvermögens  des  Menschen  zu  betrachten,  sie  also  psycho- 
logisch oder  anthropologisch  zu  deuten;  in  Wahrheit  ist  sie  eine 
objektive  Wissenschaft  gleich  ihrem  Muster  der  Logik,  ihr  Gegen- 
stand ist  die  reine  Vernunft  im  Sinne  der  Erkenntnis  aus  reiner 
Vernunft  und  zum  Massstab  der  Prüfung  dieser  Erkenntnis  nimmt 
sie  den  Begriff  der  Erfahrung. 


Reden 
zur  Feier  der  Wiederkehr  von  Kants  100.  Todestage. 

Vf>n  Hu  pro  Renner-BerÜD. 


Kants  Todestag  wurde  auf  fast  sämtlichen  deutschen  T'ïiiver^i täten, 
es  sei  offiKiell  uder  inoffiziell  gefeiert.;  und  darilber  hinau.s  zog  der  Tag 
seine  Kreise.  Er  war  ein  Erinnemngsta^  der  deutschen  Nation.  Er  wird 
ein  Merktag  in  der  Geschichte  der  Philosophie  bleiben.  Er  hnt  gezeigt, 
dass  in  weit  atisgedehnterem  Mass,  als  man  bislang  annahm,  auch  solche 
Gelehrte  von  Kant  befruclitet  sind,  die  man  abseits  der  von  Kant  herlaufenden 
Richtung  zu  ntellen  gew^ohnt  war.  Vom  metaphysischen  Idealisten  bis 
zum  psychologistischen  Positivisten  war  eine  Stimme  der  Bewiindeninp 
und  des  Dankes;  nicht  für  das  ein©  oder  das  andere  seiner  Philosophie, 
sondern  für  den  ganzen  Philosophen,  für  das  Wesen  seiner  Philosophie. 

Der  Aspekt  ist  ein  verschiedener,  damit  auch  das  Wesen  des  Mannes 
und  seiner  Philosophie  und  es  mag  auf  seiner  Darstellung  beruhen,  «nier 
auf  der  Mannigfaltigkeit  der  Denkantriehe,  die  er  verarbeitete,  da ss  soviel« 
verschiedene  Denksysteme  sich  auf  ihn  berufen.  Vielleicht  beruht  es  audi 
darauf,  dass  der  einzelne  von  seinem  eigenen  Standpimkt  aus  Kant  sich 
dentet  und  zurechtlegt.  Der  Gedankenreichtum  des  Philosophen  scheint 
es  zu  ermöglichen.  Und  doch  ist  es  nicht  die  Mannigfaltigkeit,  soadem 
die  eiaheitliche  Verarbeitung,  die  ihre  mächtige  Wirkung  hm  auf  die 
Gegenwart  erstreckt.  Und  wie  die  Philosophie,  so  der  Mann^  innerli« 
reich,  aber  ausgeglichen  reich,  also  einfach  und  schlicht. 

So  denken  denn  alte  mit  warmer  Zuneigung  und  Verehrung  d< 
Mannes,  der  uns  ein  Fülirer  und  Berater  als  Denker»  ein  Vorbild  fün^ 
Leben  war.  Wenn  ich  im  folgenden  den  Versuch  mache,  die  Reden  zur 
Feier  der  hundertjährigen  Wiederkehr  von  L  Kants  Tode  zu  skizzieretii 
HO  wird  es  mir  nicht  möglich  sein^  auch  den  Gefulïlstan  wiederzugeben i 
der  beredter  ist  als  die  Worte.  Ich  werde  mich  auf  die  Worte  bi'- 
schränken  müssen,  auch  wird  es  nicht  meine  Aufgabe  sein  zu  kritisiereß^ 
ich  habe  nur  Bericht  zn  erstatten. 


II 


1)  Anm.  der  Redaktion  :  Ein  vollständiges  Verzeichnis  der  zum  lOO- 
Todestage  Kant«  gehaltenen  Reden  und  erschienenen  Publikationen  ^er» 
schieben  wir  wegen  Raummangels  bis  zum  Erscheinen  des  nächstp^ 
Heftes, 


Beden  zur  Feier  der  Wiederkehr  von  Kant«  100.  Todestage.       519 

WasKant  den  Studierenden  sein  kann,  setzt  Busse  (1)  auseinander; 
er  kann  ihnen  ein  Lehrer  im  Ideal  sein  und  darunter  versteht  Kant 
„den  Philosophen,  der  die  übrigen  Wissenschaften  benutzt  und  ver- 
wertet, um  die  wesentlichen  Zwecke  der  menschlichen  Vernunft  zu 
fördern,  dessen  Aufgabe  es  also  ist,  das  Ideal  aller  Erkenntnis,  die  philo- 
sophische Welterkenntnis  zu  erringen  und  mitzuteilen*^. 

Die  Universitftt  ist  keine  blosse  Fachschule,  sie  ist  „eine  universitas 
litterarum,  bestimmt,  den  sich  ihrer  Obhut  anvertrauenden  Jünglingen  eine 
ebenso  gründliche  wie  umfassende,  allseitige  universelle  Ausbildung  zu 
geben,  die  sie  in  den  Stand  setzt,  an  allen  Kulturbestrebungen  der  Zeit 
verständnisvollen  Anteil  zu  nehmen**.  Kant  war  gleichsam  die  Verkörper- 
ung der  Idee  der  Universität.  Dem  Ideal  eines  zugleich  gründlichen  und 
umfassenden  Wissens,  einer  Vollkommenheit  der  Vertrautheit  mit  den 
Problemen  aller  Wissenschaften  ist  er  „nahe  gekommen,  wie  nur  wenige 
Menschen  vor  ihm  und  nach  ihm.  Eine  Fülle  des  Wissens  war  ihm  zu 
eigen,  die  verschiedenartigsten  Gebiete  der  Erkenntnis  hat  sein  Qeist  um- 
spannt, in  einer  ganzen  Beihe  von  Wissenschaften  hat  er  sich  als  ein 
Kenner  und  als  ein  Könner  erwiesen**.  Vielwisserei  ist  aber  nicht  sein 
Zeichen.  „Dieses  weite  und  vielgestaltige  Wissen  hat  Kant  mit  philo- 
sophischem Geiste  zu  durchdringen,  durch  tiefe  philosophische  Einsichten 
zu  ergänzen  und  zu  einer  Weltanschauung  auszugestalten  verstanden,  deren 
Grundgedanken**  —  Ding  an  sich,  Erscheinung,  kategorischer  Imperativ  — 
für  alle  Zeiten  ihren  Wert  behalten  werden. 

Infolge  dieser  Universalität,  „um  dieser  Verkörperung  dieser  Idee 
willen,  ist  er  wie  nur  je  einer  geeignet,  ihnen  (den  Studierenden)  den 
Zweck  und  die  Bedeutung  des  akademischen  Studiums  vor  Augen  zu 
führen  und  ihnen  als  Vorbild  für  ihr  akademisches  Streben  zu  dienen**. 

Hierzu  tritt  als  zweiter  vorbildlicher  Zug  sein  nie  versagender,  un- 
ermüdlicher Fleiss,  seine  Pflichttreue,  die  er  als  Schüler,  als  Student,  in 
der  langen  Wartezeit  als  Dozent  und  als  Professor  bewiesen,  bis  die 
zitternden  Glieder  dem  gebrechlichen  Körper  den  Dienst  versagten  und 
der  altersschwache  Kopf  die  Begriffe,  die  Vorstellungen  nicht  mehr  fest- 
zuhalten vermochte. 

Und  als  drittes  und  letztes  macht  ihn  zum  Ideal  eines  Lehrers, 
dass  sein  Streben  von  der  unbedingten  Achtung  vor  der  wissenschaftlichen 
Wahrheit  geleitet  wurde. 

So  ist  denn  Kant  das  Ideal  eines  Lehrers,  wie  er  Lehrer  im 
Ideal  war. 

Als  solchen  schildert  ihn  Walter,  der  gegenwärtige  Inhaber  von 
Kants  Lehrstuhl.  (2) 

Kants  Leben  ist  ausschliesslich  von  der  Aufgabe  in  Anspruch  ge- 
nommen worden,  die  Denkweise,  in  der  er  seine  Befriedigung  fand,  und 
die  man  als  Freiheitslehre  charakterisieren  kann,  in  wissenschaftlicher 
Arbeit  auszugestalten.  „In  dem  geschichtlichen  Bewusstsein  Kants  selbst 
aber  [hegt  es  begründet,  dass  er  nie  die  Meinung  hegte,  die  Menschheit 
etwas  ganz  Neues,  Überraschendes  lehren  zu  können.  Nur  was  die  natür- 
liche Überzeugung  in  ihrer  Weise  verbürgt,  will  er  nun  auch  in  der  Ver- 
nunft als  wohlbegründet  erweisen.**     Walter  will  nur  „wie  aus  weiter 


620 


H.  Renner, 


Ferno  litr.  ülier  die  vvis,setjschaftliche  Arbeit  sich  Heraushebendes  însÂUj^ 
fa»Kcii^;  Wftlter  will  zoiiren,  was  Kant  in  der  Philosopliic  in  ihrer  allgre- 
inein-wf'lfhürperlichen  Bedeutung  j^^eleistet,  nicht  was  er  für  die  Schul- 
pliilosopliie  ^ethan  hat  und  er  bedient  sich  hier/u  der  Kantischen  Frajçen, 
was  kunn  ich  wissen,  was  soll  ich  thnn,  was  darf  ich  hoffen.  Da*  Wissen 
ist  mif  die  Hulijektiv  bediiig-te  Krfiîhrurit:  eiTi^esdininkt;  handeln  soll  ich 
nnch  dein  kalr^ürischen  luiiunjtiv,  auf  meine  Befiflückiuv^  und  auf  Gott 
diirf  ich  hoffen,  nicht  auf  Grund  von  Venstondesüherle^anigen  und  lehr- 
hHften  Begriffen,  sondern  als  ein  Mensch,  „der  kein  Mittel  kennt,  was  in 
dem  letzten  Aii^^enhlick  des  Lebens  Stich  hält^  ahs  die  reinste  Aufrichtige 
keit  in  Ansehung  der  verbtirgeiiston  Gesinnang:en  des  Herzens^.  <3) 

Eine  lihiilii'tie  Aiifßrabe  wie  Walter  but  »ich  Windelhand  (4)  gestellt, 
die  Lösung  ist  aber  eine  verschiedene. 

Die  „Wucht   der  historischen  Wirkung   entspringt   überall   nur  ans. 
dem    intimsten    «nd    konzentriertesten  Wesen    der  Persönlichkeit".     „Un< 
dies    innerste  Wesen   ist  bei  <lem  Pliilosoplien  seine  Weltanschauung,    w 
hïit  er  die  Eigeimrt  seiner  Persihdidikeit  auf  die  Wirklichkeit  projiziert 
Auch  Kants   tiberragende   Stellung   in    der  Cîescliichte    beruht   schlies^licli 
darauf,    Windelband    betrachtet    es   daher   als  die  würdigste  Feier  Kants, 
dessen    „Weltanschauung    in   den    monumentalen  Gnindzügen,   wie    er  sie 
in  seinen  Werken   niedergelegt  hat,  aus  den  Formeln  des  Systems  heraus- 
zulösen "*. 

Der  Kernpunkt  von  Kants  Weltanschauung  wird  bezeichnet  durch 
dessen  neue  und  eigenartige  Stellung  zu  dem  fundamentalen  Gegensätze 
der  sinnlichen  und  der  Übersinnlichen  Welt,  «Die  Verwischung  der 
GrensElinien  zwischen  den  beiden  Welten  zu  verhüten,  erkannte  er  als  die 
eigentliche  Aufgabe  seine-s  Nachdenkens,  und  das  hat  ihn  zum  kritischen 
Philosophen  gemachP*. 

Dejîhalb  ist  es  auch  nur  ein  Element,  ein  notwendige«  allerdings, 
wenn  die  Erkenntnis  der  übersinnlichen  Welt  in  der  Wissenschaft  keinen 
Platz  findet.  Hat  das  Wissen  hier  kein  Recht,  so  erreichen  wir  das  Über- 
sinnliche doch  durch  den  Glauben,  der  ein  System  von  Überzeugimgeii 
ist^  ndie  aus  den  innersten  Notwendigkeiten  des  menschlichen  Leben« 
durch  die  philosophische  l'berlegung  herausgelöst  und  in  ihrer  allgemeinen 
Geltung  für  die  Vernunft  erwicx'ien  werden**.  Das  ist  seine  Bedeutung, 
„da SS  seine  Metaphysik  über  die  Theorie  hinaus  zu  den  grossen  Wert- 
iuhaUen  des  Lebens  greift,  um  daraus  das  wesenhafte  Bild  des  Ganzen 
zu  gestalten*'-  Die  VV^elt  des  Sinnlichen  und  des  l'bersinnlichen  stehen 
znnüehst  wohl  im  Gegensatz,  sie  stehen  aWr  doch  ,,zunächst  am  Menschen^ 
in  dem  innigsten  Zusammenliange,  das  Leben  der  einen  ist  sinnvoll  durch 
die  andere  bestimmt,  und  es  fragt  sich,  welches  ira  einzelnen  und  im 
giinzeu  diese  Beziehungen  sind**. 

Alle  wissenschaftliche  Erkenntnis  ist  im  Bezirk  des  Sinnlichen  um- 
schrieben. Vom  t übersinnlichen  giebt  e«  keine  Erkenntnis,  wenn  schon 
in  der  EiTahrnng  selber  Motive  stecken  müssen,  ,die  wenigst  ens  zum 
Denken  des  ('bersinnlichen  mit  Notwendigkeit  führen.  So  verfehlt  auch 
alle  vor knn tischen  metaphysischen  Versuche  waren,  so  luum  man  docli 
dttm    metaphysischen  Bedürfnis   nicht  nur  in  seiner  psychologischen  Not- 


4 


Reden  zur  Feier  der  Wiederkehr  von  Kants  100.  Todestage.       521 

wendigkeit,  sondern  auch  wegen  seiner  vemunftnotwendigen  Erforderlich- 
keit nicht  entgehen,  und  das  rührt  daher,  dass  der  Verstand  nach  einer 
geschlossenen  Totalitat  strebt,  die  die  Sinnlichkeit  in  ihrer  Grenzenlosig- 
keit nicht  gewährt.  Hieraus  entspringen  die  Ideen,  Aufgaben,  Unbe- 
dingtes als  abschliessende  Totalität  des  Bedingten  zu  sehen;  unsere  Er- 
kenntniskräfte erweisen  sich  für  diese  höchsten  Aufgaben  ihrem  Wesen 
nach  als  unzulänglich.  „Wo  das  Wissen  versagt,  tritt  das  Gewissen  ein. 
Ist  die  theoretische  Vernunft  aus  der  höheren  Sphäre  des  Übersinnlichen 
ausgeschlossen,  so  ist  die  praktische  darin  heimisch.^  „Der  Mensch  ist 
Ding  an  sich  als  Wille,  aber  als  sittlicher  Wille." 

Die  sittlichen  Aufgaben  des  Menschen  können  nur  in  der  Welt  des 
Sinnlichen  realisiert  werden.  Damit  hört  die  Erscheinung  auf  (nur  vor- 
gestellt) zu  sein;  unser  Gewissen  lehrt  uns,  dass  darin  eine  Realität  steckt, 
die  dem  sittlichen  Zweckgesetze  widerstrebt  und  ihm  unterworfen  werden 
soll.  Alles  wirkliche  Menschenleben  besteht  in  der  Arbeit,  sich  in  dem 
widerstrebenden  Reich  der  Sinnenwelt  zu  verwirklichen.  Diese  Arbeit  ist 
unendlich.  Und  so  sind  ebenso  wie  die  Ideen  für  das  Erkennen  die  Ideale 
für  das  Leben  „Aufgaben,  die  niemals  völlig  erffUlt  werden  können,  die 
aber  trotzdem  nicht  nur  vemunftnotwendige  Bestimmungen  enthalten, 
sondern  auch  die  Richtpunkte,  nach  denen  wir  allein  das  Wertmass  des 
empirisch  Wirklichen  zu  fassen  imstande  sind". 

Wenn  man  in  der  empirischen  Wirklichkeit  das  als  das  Wesentliche 
und  Bedeutsame  ansehen  darf,  dass  sich  in  ihr,  obschon  nicht  restlos,  eine 
übersinnliche  Zweckgesetzgebung  realisiert,  „so  läge  darin  eine  freilich 
über  alle  unsere  wissenschaftliche  Erkenntnis  hinausgehende  Deutung  der 
tiefsten  Wesens-  und  Lebensgemeinschaft  zwischen  beiden  Welten".  In 
seinem  grössten  Werke,  der  Kr.  d.  U.  soll  Kant  diese  Auffassung  als  eine 
berechtigte  durchgeführt  haben.  In  diesem  Werke  gewinnt  er  „im  allge- 
meinen das  Recht  einer  teleologischen  Betrachtung  der  Sinnenwelt",  und 
„so  darf  sich  diese  ohne  Verstoss  gegen  die  Normen  der  wissenschaftlichen 
Erkenntnis  auch  den  einzelnen  Erscheinungen  der  Natur  zuwenden,  die 
den  unmittelbaren  Eindruck  der  Zweckmässigkeit  machen:  den  Erschei- 
nungen des  Lebens";  so  an  den  organischen  Gebilden,  so  vor  allem  in  der 
Geschichte,  deren  Verständnis  als  „Verwirklichung  der  übersinnlichen 
Zwecke  in  der  Sinnenwelt"  Kants  Weltanschauung  vollendet. 

Die  Kant  eigentümliche  Stellung  zum  Übersinnlichen  hat  Kaftan  (5) 
nach  ihrer  religiösen  Seite  in  Betracht  gezogen. 

Philosophieren  heisst  ihm  nach  Gott  fragen.  Damit  ist  der  Unter- 
schied der  Philosophie  vom  Glauben  und  von  der  Wissenschaft  gegeben: 
„Glauben  heisst  nicht  nach  Gott  fragen,  aber  wohl  Gottes  gewiss  und 
froh  sein,  Wissenschaft  aber  heisst  nach  der  Welt  fragen".  Suchen  wir 
die  Lösung  dieser  Aufgabe  der  Philosophie  und  blicken  wir  uns  in  ihrer 
Geschichte  um,  so  sehen  wir  „drei  Antworten,  drei  Wege,  die  Antwort 
zu  finden,  drei  führende  Geister,  deren  einen  wir  uns  anschliessen  müssen*. 
Plato,  Aristoteles  oder  Kant. 

Aristoteles  hat  den  ungangbaren,  dem  gewöhnlichen  Menschenver- 
stand aber  immer  nächstliegenden  Weg  gewiesen,  durch  die  Erkenntnis 
der  Welt  zur  Erkenntnis  Gottes  zu  kommen. 


522 


H.  Re 


Plataw  Weg  ist  die  SelbstbenSinnun^  des  Geistes»  ein  Weg,  den  auch  ^ 
Kant  ^inp.  Aber  wie  Aristoteles  suchte  Plato  Gott  zu  erkennen^  freilicil 
nicht  durcli  die  gewöhnliche  Erfahniiigr  und  das  was  sie  uns  zeiget.  ^Nein 
durch  ein  Erkennen,  dus  aus  der  goitverwatidten  Seele  des  Menschen  enÊ 
sprinß^t,  ein  Erkennen,  das  in  der  ause:egebenen  Wirklichkeit  das  Bleibende 
Kwiß-Pj  Of>ttliche  sucht'';  Platci  ist  ^mit  seinem  Fragen  und  Verlaiig-en 
der  Welt  hangen  geblieben*'. 

Den    dritten  Weg  führt  Kant.    Nicht  im  Erkennen  kommen  wir 
Gott,  sondern  nnr  durch  die  sittliche  Erfahrung, 

So  wie  Plato  den  Geist   der  griechisch-kathoHschen^  Aristoteles  den' 
der  römiscb-katholischcn  Konfession  dnirakterisiert,  so  ist  Kant  der  Philo- 
soph des  Prott^stantismus.  m 

„Die  PliiJosophie  Kant«  im  tiefsten  Kern  ihrer  Hauptgedanken  ver^ 
standen,  ist  das  Selbstbewnsst&ein  des  modernen  Menschen";  das  ist  der 
Kernpunkt  der  Ansfiihriingen  Kühnenianns  (fî)^  die  viele  Beruhrungî^punkte 
mit  denen  Windelltands  zeigen.  »Die  Natnrj  welche  die  Wissenschaft  ent- 
deckt, ist  Werk  nnd  Thai  des  Geistes."  Der  Stoff,  den  der  Geist  zu  be- 
arbeiten hat,  ist  beständig  ein  anderer  bis  in  die  Unendlichkeit,  und  so 
ist  auch  die  Aufgabe  der  Wissenschaft  eine  nnendliche.  Auf  das  Jenseits 
der  wahrnehmbaren  Dinge  verzichtet  der  moderne  Mensch  îeicht>  der 
seine  Kraft  an  lösbare  Anfgabeu  setzt 

Auch  in  der  Ethik  erhebt  Kant  den  Menschen  und  seine  Kraft  auf 
das  Ht\chste,  Jndem  er  sie  zugleich  in  seinen  unverrilckbaren  Grenzea. 
siebt'*.  ■ 

In  seiner  sittlichen  Arbeit,  in  der  ttigans  fagein  mit  verönderten 
Verhältnissen  neue  Aufgaben  an  den  Menschen  lienin treten,  ist  ihm  du» 
Reich  des  Unendlichen  erschlossen. 

Kants  Ethik  ist  „in  der  Predigt  der  Pflicht  die  Botschaft  der  Frei- 
heit. Nur  dem  Menschen  ist  es  gegeben,  das  Leben  zu  stellen  unter  das 
eigene  Gesetz.  Er  vermag  der  Gesetzgeber  des  eigenen  Daseins  zu  sein, 
der  Ausgang  seiner  Taten.  Er  bestimmt  sich  durch  die  Richtung  seines 
ßewuÄstseins  den  Wert  selber **. 

Hierin  liegt  der  besondere  Wert  des  Menschen,  hier  seine  Heiligkeilj 
Als  sittliche  Persönlichkeit  gehört  er  einer  höheren  Welt  an^  deshalb  nnii 
er  uns  Zweck  an  sich  selbst  sein,  nie  Mittel  zum  Zweck,  ein  Sat«,  de 
uns  das  Ziel  wahrer  sozialer  Bethsltigung  zeigt.  Von  dieser  Seite  des 
Menschen  her  lernen  wir  die  Religion  begreifen,  %'on  hier  aus  verstehen 
wir  die  Geschichte. 

Auch    der  Kunst    hat  Kant  die  Freiheit  erschlossen*     ^Sie  soll  nicht 
Wissenschaft  sein,    noch  Moral,  noch  Religiou,    sondern  eben  Kunst**,    SIc^m 
ist  eine  eigene  Pro\nnz  des  Geislei*.  H| 

So  hat  Kant  dies  Bewusj^tsein  des  modernen  Menschen  umschrieben 
und  beschrieben.     Und  wie  seine  Philosophie  war,  so  war  auch  der  Mann. 

Kant  war  ein  Grosser  in  der  Geschichte  der  Menschheit,  einer,  der 
den  Menschen  ihren  Weg  zeigte,  so  feiert  ihn  Lipps  (7).  Und  in  seinen 
Ausführungen  bekennt  sich  der  bekannte  Psychologe  und  Philosoph  viel 
inniger  zu  Kant,  zeigt  er,  dass  er  jenem  Geisteshelden  viel  näher  steht, 
«ils  man  es  bislang  annahm.    Er  wirft  die  Frage  auf,  was  es  denn  sei,  dai 


ines 
ceil^l 
dc^ 


Reden  zur  Feier  der  Wiederkehr  von  Kants  100.  Todestag^e.       523 

Kant  entdeckt  hat:  ^Ganz  allgemein  gesagt:  das  a  priori.  Nicht  auf 
einem  einzigen,  sondern  auf  den  verschiedenen  Gebieten  des  menschlichen 
Geisteslebens.  Und  damit  zugleich  oder  eben  darin  hat  er  die  Autonomie 
des  Geistes  entdeckt,  des  erkennenden  und  des  sittlich  wollenden,  die 
Autonomie  des  Verstandes,  des  Gewissens  und  die  Autonomie  des  reli- 
^ösen  Bewusstseins.  Und  er  hat  entdeckt  den  Träger  dieser  Autonomie, 
das  autonome  Ich,  das  Vernunft-Ich.  Er  hat  es  entdeckt,  indem  er  es 
schied  von  dem  Trieb-Ich  oder  Instinkt-Ich,  dem  innerlich  oder  äusserlich 
gebundenen  Ich*. 

Dies  ist  der  göttliche  Mensch  im  sinnlichen,  die  Idee  des  Menschen, 
die  Plato  ahnte,  der  Mensch,  den  Jesus  lehrte  und  lebte. 

Und  so  wie  Kant  diesen  Menschen  entdeckte,  so  kann  er  uns  .Führer 
sein  im  Finden  des  autonomen  Ich,  Führer  zur  geistigen  und  sittlichen 
und  religiösen  Freiheit.  Es  ist  dasselbe,  wenn  ich  sage,  er  kann  uns 
Führer  sein  zur  Wahrhaftigkeit".  Diesen  Gedanken  führt  Lipps  durch  die 
Teile  der  Kantischen  Philosophie  durch,  wobei  er  besonders  lichtvoll  die 
Lehren  des  kategorischen  Imperativs  auseinandersetzt. 

Kant  ist  eine  grosse  Persönlichkeit,  ein  hervorragender  historischer 
Faktor  nicht  nur  in  der  Vergangenheit;  ein  Wegweiser  auch  in  unseren 
Zeiten. 

In  ähnlichem  Sinne  spricht  sich  Benno  Erd mann  (8)  aus.  Die  mate- 
rialistische Geschichtsauffassung  glaubt  die  geistigen  Kräfte  der  grossen 
Persönlichkeiten  aus  der  Darstellung  der  Geschichte  eliminieren  zu  müssen. 
Sie  sieht  in  den  Werken  der  grossen  Geister  nur  den  Überbau  ökono- 
mischer Vorgänge  und  findet  nur  in  den  ausgelösten  Impulsen  der  Massen 
die  Faktoren,  welche  die  Geschichte  unseres  Geschlechtes  bedingen.  Dem- 
gegenüber sind  wir  „überzeugt,  dass  es  Geisteshelden  giebt,  die  ungleich 
bestimmender  auf  ihre  und  die  folgenden  Generationen  einwirken,  als  sie 
selbst  von  der  Generation,  in  der  sie  aufwachsen,  bestimmt  werden**.  Ein 
solcher  Grosser  war  Kant,  „der  erste  grosse  deutsche  Philosoph,  dessen 
Lebensanschauung  ein  nationales  Gepräge  trägt**.  Seine  zweimal  mit 
Macht  und  Nachdruck  einsetzende  Wirksamkeit  besteht,  obwohl  seiner 
Darstellungsart  und  Gedankenführung  der  Reiz  künstlerischer  Anziehungs- 
kraft fehlt.  Das  spricht  nur  für  die  Macht  seiner  Gedanken.  Kant  ist 
ein  discursiver  Denker,  ein  Gelehrter,  der  in  mühereicher  Arbeit  Herr 
seines  Stoffes  wird,  ein  Systematiker  durch  und  durch,  kein  intuitiver 
Kopf,  dem  die  originalen  Gedanken  wie  von  selber  kommen.  Er  gehört 
auch  nicht  zu  jenen  selbständigen  Geistern,  denen  wie  etwa  Leibniz  die 
Gedanken  beim  Studium  anderer  zufliessen.  Auch  zu  jenen  starren  Naturen, 
wie  etwa  Fichte,  Schopenhauer,  Comte,  gehört  er  niclit,  „die  einmal  als 
richtig  erkannte  Gedanken  mit  zäher  Energie  festhalten,  so  dass  ihre 
spätere  Entwickelung  wesentlich  deduktiv  verläuft.  Gerade  in  der  Zeit 
seiner  stärksten  inneren  Arbeit  wird  ihm  die  Überzeugung  zu  einem  be- 
deutsamen Hilfsmittel  seines  Forschens,  dass  es  notwendig  sei,  sich  in  die 
entgegengesetzten  Richtungen  möglicher  Weltauffassung  hineinzudenken, 
um  festzustellen,  wie  sich  ihre  Einseitigkeiten  von  einem  höherenfStand- 
punkt  aus  überwinden  lassen**.  Kant  sucht  also  auch  entgegengesetzten 
Anschauungen   gerecht  zu   werden   und   überwindet   sie,   indem  er  sie  in 


bU 


H-  Renner, 


ihrer  BerechtigruTig  als  Bausteine  verwendet.  Damit  gewinnen  de  eine 
andere  Stellimjj:.  An  die  Stelle  der  MetapiiT^fsik  ist  die  E rkenntn is- 
le bre  getreten.  Selltst  wenn  diese  sich  als  nnzulfinglicb  erweisen  sollte, 
so  kann  es  doch  .nicht  sein,  dass  die  Philosopliie  als  Wissenschaft  zu  der 
alten  Bildertheorie  des  Dugmatisraus  kann,  ohne  diese  Arbeit  durch  eine 
wissenschaftliche  Untersuchung  der  Bedingungen  unseres  Erkenuens  und 
Denkens  gesichert  zu  haben.  In  der  Etbik  überwindet  er  den  Sensualis- 
mus und  den  Hochmut  des  Intel lektuitlisnius,  und  findet  er  in  der  Würde 
der  Per.s<5iilichkeit  niul  im  guten  Willen  das  wahrhaft  Gute.  Da  auf  der 
sitthchen  Gesinnung  nicht  auf  dem  Wissen  der  Glaube  beruht»  so  ergiebt 
sich  daraus  die  Notwendigkeit:  „der  Toleranz  in  allen  Glaubens 
sa  eben  als  solchen:  des  Wissens  gegen  den  Glauben^  des  Glanbens 
gegen  das  Wissen  und  die  verschiedenen  Formen  von  Ghiubensüherzeugungeu 
untereinander'. 

Der  Weg  zu  den  allgemeinen  Problemen  führt  durch  das  Grosse  der 
Leistungen  und  damit  des  Wesens  von  Kant  hindurch.  Welchen  Weg 
man  auch  einschlagen  mag,  stets  wird  man  Kant  dankbar  sein,  der  da 
war:  „ein  König  im  Reiche  der  Geister^  der  nicht  anderes  sein  wollte  als 
ein  treaer  Diener  der  Gesamtheit  und  ein  erster  Diener  dieser  Gesamt- 
heit war**.  Kant  gehört  allen  an,  dem  Leben  und  der  Wissenschaft  ;  und 
allen  ihren  Fakultäten,  Freuden  thai  (9)  zeigt  uns  dies  in  seiner  Rede,  die 
liei  aller  notwendigen  Kürze  ein  Gesamtbild  von  Kant  entwirft.  Er  er- 
zählt uns,  wem  Kant  entstammte,  wie  er  seinen  Elteni  eine  dankbare 
Erinnerung  bewahrte,  wie  er  die  Schulen  zurücklegte,  und  174Ü  in  die 
pbilosopbische  Fakultät  der  Königsberger  Universitiit  liufgenommen  wurde. 
Er  hat  sich  nie  der  Theologie  gewidmet,  Knutzen  war  sein  vorÄÜglichster 
Lehrer,  der  ihn  mit  den  Gedanken  Leibnizens  und  Wolfs,  aber  auch 
Newtons  bekannt  machte.  ^Unter  diesen  Einflüssen  entwickelte  sich  in 
ihm  der  Zug  zu  rein  verstandesinässiger  Auffassung  der  Welt  und  zu  der 
geistigen  Freiheit,  die  unabhängig  von  Vonirteilen  und  Autoritäten  sich 
lediglich  den  Gesetzen  des  Denkens  und  den  Thatsachen  der  Erfahrung 
untermrft.** 

Schwer  hatte  Kaut  mit  der  Not  das  Lebens  zu  kämpfen  und  den- 
noch konnte  er  1745  als  ,ein  fertiger  Gelehrter"  die  UniversitiLt  verlassen; 
Fr.  deutet  uns  die  Leiden  und  Freuden  der  Hauslebrer-  und  Privat- 
dozentenzeit an,  bis  Kant  eine  Professur  erhielt.  Ein  ungeheures  Wissen 
sammelte  er  au,  er  wurde  der  einflussreichste  Philosoph,  musste  dafür 
über  mit  dem  Verzicht  auf  die  reinsten  Freuden  des  Lebens  zahlen. 
Er  wanderte  einsam  durchs  Leben;  ein  Mann  von  eisernem  Charakter, 
dc^juxen  Felder  nur  Fehler  seiner  Vorzüge  sind. 

Allen  Fakultfiten  gehört  er  an.  Für  die  Theologie  bedeutet  fast 
jrdo«  weiner  grösseren  philosophischen  Werke  ein  Markstein  in  ihrer  Ge- 
ftcbichte!.  Der  Rechtswissenschaft  bat  er  die  Grnndzüge  einer  Recht«- 
iiud  Htaatalehre  gegeben.  Auch  der  Medizin  ist  er  nicht  fremd  geblieben. 
Auf  dem  weiten  Gebiete  der  naturwisôenscbiiftlichen  utid  mathematischen 
Kiirneliung  seiner  Zeit  ist  er  durchaus  beimiseb,  ,uud  dieses  Wissen  bildet 
die  feste  tirundlage  seiner  philosophischen  Untersuchungen**,  Nur  der 
CJewddcbti*    luit    er   wenig  Teilnabme    geschenkt.     Fr,   zeigt   alsdann  die 


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Reden  zur  Feier  der  Wiederkehr  von  Kants  100.  Todestage.       525 

Grundlinien  von  Kants  kosmologischen  und  philosophischen  Anschauungen  ; 
und  zwar  spricht  er  wesentlich  als  Historiker.  Ich  hebe  aus  seinen  Aus- 
fahrungen einige  Gedanken  heraus,  die  mir  wesentlich  erscheinen:  »man 
missverstehe  Kant  und  sein  Werk  nicht.  Er  hat  die  Grenzen  der  Wissen- 
schaft festgestellt,  aber  ebenso  wohl  nach  der  Seite  der*  Metaphysik,  wie 
nach  der  Seite  der  Naturwissenschaft.  Die  Metaphysik  ist  von  Grund  aus 
zerstört:  Gott,  Unsterblichkeit  und  Freiheit  können  nicht  bewiesen  werden, 
wie  S&tze  der  Mathematik.  Aber  so  wenig  wie  die  Geltung  jener  hohen 
Ideen  theoretisch  dargethan  werden  kann,  so  wenig  kann  ihre  Ungültig- 
keit erwiesen  werden.  Wie  Kant  der  Metaphysik  das  Bejahen,  so  hat  er 
den  Erfahrungswissenschaften  das  Verneinen  jener  Vemunftideen  verboten. 
Die  Naturwissenschaft  würde  ihre  Befugnisse  überschreiten,  wenn  sie  das 
zu  leugnen  wagte,  was  niemals  Gegenstand  der  Erfahrung  werden  kann. 
Die  Welt  der  Erscheinungen  zu  beschreiben,  die  Gesetze  der  Bewegungen 
festzustellen  ist  die  grosse  Aufgabe,  die  ihr  zugefallen  ist.  Geht  sie  über 
diese  Grenze  hinaus,  verbindet  sie  sich  mit  dem  Materialismus,  sieht  sie 
den  raumfüllenden  Stoff  als  einzige  Realität  an,  so  wird  sie  selbst  zur 
Metaphysik**  „Kant  hat  den  höchsten  Wert  darauf  gelegt,  mit  dem  Wissen 
nicht  auch  den  Glauben  an  jene  Ideen  vernichtet  zu  haben*.  Sie  haben 
in  der  Ethik  ihre  Wurzel.  Die  Kr.  d.  U.  übergeht  der  Redner.  Mit 
seiner  Philosophie  „ist  Kant  der  Erzieher  des  eisernen  Geschlechtes  ge- 
worden, das  in  der  Zeit  der  Fremdherrschaft  die  Hoffnung  besserer 
Zeiten  nicht  aufgab,  dem  Feinde  sich  nicht  beugte,  und  als  die  Stunde 
der  Erhebung  geschlagen  hatte,  alles  dahingab  für  die  Rettung  des  Vater- 
landes*. Im  Anschluss  hieran  zeigt  Fr.  wie  Kant  auf  die  Einzelwissen- 
schaft^n  eingewirkt  hat,  und  wie  er  „die  bestimmende  Macht  für  die 
deutsche  Philosophie  des  19.  Jahrhunderts"  war.  In  ihm  haben  sich  die 
edelsten  Eigenschaften  des  deutschen  Volkes  verkörpert:  „Geisteskraft 
und  Herzensfrömmigkeit,  Pflichttreue  und  Arbeitsfreudigkeit,  Wahrheits- 
drang und  Wahrheitsmut.  Diese  Tugenden  aber  altem  und  sterben 
nicht". 

Sucht  Freudenthal  uns  ein  Gesamtbild  von  Kant  und  seiner  Philo- 
sophie zu  geben,  so  fasst  Liebmann  (10)  neben  Kants  wissenschaftlicher  Per- 
sönlichkeit nur  die  Naturgeschichte  des  Himmels,  die  Kritik  der  reinen 
Vernunft  und  die  Kritik  der  praktischen  Vernunft  ins  Auge,  nachdem  er 
kurz  die  Beziehungen  Jenas  zu  Kant  skizziert  hat.  .Kants  Persönlichkeit, 
aus  welcher  ja  der  Charakter  seiner  Philosophie  als  Frucht  herausge- 
wachsen ist,  enthält  eine  ganz  eigentümliche  Mischung  von  kaltblütiger 
Ruhe  und  kühner  Energie,  von  besonnener  Selbstkritik  und  schöpferischer 
Geisteskraft,  von  berechnend  abwägendem  Verstand  und  einer  Initiative, 
die  ins  unermessliche  geht,  die  selbst  vor  den  äussersten,  paradoxesten 
Konsequenzen  nicht  zurückscheut.  Nüchtern,  trocken,  kühl  und  klar 
war  er,  ein  ausgeprägtes  Phlegma,  mit  einer  erheblichen  Dosis  von 
Ironie  und  schalkhaftem  Humor.  Aber  unter  der  kühlen  Oberfläche 
keimten,  wuchsen  und  reiften  in  der  Tiefe  Riesengedanken;  gigantische 
Gedanken,  die  ins  Ungeheuere  hinausgreifend  die  ganze  Welt  zu  umfassen, 
zu  durchdringen  suchten,  die  ganze  Aussenwelt,  dann  die  ganze  Innenwelt, 
und   das   rätselhafte  Verhältnis,   das   zwischen  Aussenwelt  und  Innenwelt 


westeht.  ppelstnnig^  ist  ja  di&ses  Verhältnis.  Denn  eineF&eit&  ist  der 
Menseli  zweifellos  ein  Proditkt  der  Natur;  andererieitâ  aber  ist,  in  einem 
gewiäsjen  Sinne,  die  Natur  ein  Produkt  des  Menschen.  Dieses  Letztere 
elen  hat  Kant  auf  der  Hühe  seiner  kritischen  Philosophie  entdeckt.'^  Es 
iit  die  Autonomie  der  Vernunft.  Sie  sclireibt  der  Natur  Gesetze  vor. 
Die  Welt,  die  wir  kennen,  die  Natur,  die  ans  ah  Gegenstand  der  Er- 
faliruiii?'  gepreben  ist,  liegt  innerhalb  des  Bewtisstseins,  ^rsie  ist  Bewußt- 
seinsinhalt, Bewusstaeinsphänomen";  sie  trägt  den  Charakter  des  menücL- 
liehen  Erkenntnisvermögens  an  ricIi  und  ist  durch  dessen  int^UektueUie 
Struktur  bedingt.  In  paralleler  Weise  schreibt  die  Vernunft  dem  Wille« 
Gesetze  vor. 

Autonomie  setzt  Freüieit  voraus  und  der  innerste  Centralpunkt  der 
Kantischen  Philosophie  iât  daher  die  Kernfrage:  *,^^i^  ist  Freiheit  verein- 
biif  mit  der  kausalen  Naturnotwendigkeit?^ 

f^Eant  hat  seine  Antwort  darauf  gegeben  l  —  Man  darf  sagen  :  die 
giinxe  kritische  PhiloBOphie  Immanuel  Kanta»  sein  transscendentaler  Idea* 
lisniufi  ist  eine  neue,  originelle,  höchst  tiefsinnige  Lösung  des  uralten 
I'roblems;  ist  die  tiefsinnigste  Antwort  welche  jemals  eiu  philcisopliischer 
Denker  gegeben  hat,'* 

Ein  Gesamtbild  der  Kantisehen  Philosoptiie  sucht  auch  A .  Rie  hl  (11) 
f,u  geben^  aber  mehr  als  Systematiker ,  denn  als  Historiker.  Er  sucht  ues 
mehr  tiber  das  Wesen  von  Kantä  Philosophie  wai  lehren  und  uns  zu  Kant 
TAI  führen,  als  uns  über  ihn  und  den  Inhalt  seiner  Philosophie  zu  onen* 
tieren,  wenn  er  sich  audi  der  historisclien  Darstellung  als  Mittels  bedieat. 
Kant  stand  der  Metaphysik  schon  in  der  vorkritischen  Zeit  skepti&oh 
gegenüber,  so  sehr  er  auch  ihre  Aufgaben  respektierte.  Diese  sehten  ihm 
aber  nicht  im  Nachspähen  nach  den  verborgenen  Eigenschaften  der 
Dinge,  sondern  in  der  Erkenntnis  der  Grenzen  der  menschlichen  Vemimft, 
zu  liegen,  ein  Gedanke,  der  auch  seiner  kritischen  Philosophie  als  Auf- 
gabe geblieben  ist.  Diese  stellte  in  ihrem  theoretischen  Teile  eine  ganz 
neue  Wissenschaft  dar,  „von  der  selbst  die  blosse  Idee  unbekannt  war: 
die  Wissenschaft  der  unabhängig  von  der  Erfahrung  über  Dinge  urteilenden 
Vernunft  .  .  .  Und  neu  wie  der  Gegenstand,  in  dieser  Begrenzong  und 
Aussonderung  ist  auch  die  Methode  des  Werkes**.  Schon  die  Fragestel- 
lung Kants  ist  von  entscheidender  Bedeutung.  Es  kommt  ihm  nicht  da- 
rauf an,  festzustellen,  auf  Grund  welcher  Vorgänge  sich  Erfahnmg  ent- 
wickele, welche  seelischen  Vermögen  und  Kräfte  dabei  ins  Spiel  treten, 
„er  unterscheidet  und  prüft  die  Erkenntnisarten  ...  Er  nimmt  seinen 
Ausgang  von  den  exakten  oder  rationellen  Wissenschaften,  der  Mathema- 
tik, der  allgemeinen  Naturwissenschaft,  und  von  dem  Begriffe  der  B^ 
fahrung  und  in  der  Art,  wie  er  beides:  Wissenschaft  und  Erfahrung  ver- 
bindet, zeigt  sich  die  Besonderheit  und  Tiefe  seines  Geistes^. 

„Erscheinungen  werden  in  der  Erfahrung  auf  Gegenstände  besogen, 
die  nicht  selber  wieder  erscheinen,  sondern  als  die  bestimmenden  Ursachen 
der  Erscheinungen  gedacht  werden.^  Aus  den  Bedingungen  der  MOg^ch- 
keit  der  Erfahrung  leitet  Kant  die  allgemeinen  Gesetze  der  Natur  ab,  die 
es  sind  als  Gesetze  der  Erfahrung  der  Natur  und  er  geht  noch  tiefer,  er 
führt  sie  auf  die  Einheit  eines  denkenden  Bewusstseins  überhaupt  Eorflck, 


Reden  znr  Feier  der  Wiederkehr  von  Kants  100.  Todestage.       527 

ohne  die  es  überhaupt  keine  Erkenntnis,  also  auch  keine  Erfahrung,  die 
Erkenntnis  von  Gegenständen  der  Erscheinungen  ist,  geben  kann. 

Dies  ist  der  erste  positive  Satz  der  Kr.  d.  r.  V.  Erfahrung  ist  Er- 
kenntnis; dass  aber  auch  die  Umkehrung  gilt,  dass  Erkenntnis  nur  in  der 
Erfahrung  ist,  beweist  Kant  im  2.  Teil  jenes  Werkes.  Die  Vernunft  kann 
nur  methodische  Begriffe  gewinnen,  die  als  die  obersten  Richtpunkte  der 
Forschung  von  Bedeutung  sind. 

Der  Philosophie  hat  es  nie  genügt,  nur  Wissenschaftslehre  zu  sein. 
Der  Philosoph  ist  zugleich  „ein  Lehrer  im  Ideal".  Kant  ist  diesem  Ideal 
in  Lehre  und  Leben  nahe  gekommen  wie  nur  wenige.  „Auch  ihn  zählen 
wir  deshalb  zu  den  Philosophien  der  Lebensführung  und  seine  Moralphilo- 
sophie erscheint  uns  als  das  Gesetzbuch  des  sittlichen  Handelns.*^  Kants 
Ethik  wurzelt  im  Begriff  der  Autonomie,  d.  h.  in  der  Leitung  des  Willens 
durch  die  Vernunft,  in  der  Freiheit.  Hierdurch  wird  der  Mensch  über  die 
Natur  emporgehoben,  hierin  wurzelt  seine  Würde,  und  so  gipfelt  die 
Ethik  in  der  „lebensvollsten  Idee,  in  der  erhabenen  Idee  der  Persönlich- 
keit .  .  .  der  Menschheit  im  Menschen*^. 

Freiheit  und  Natur  kommen  in  der  Kr.  d.  U.  zum  Ausgleich.  Der 
Zweck,  der  im  Reich  des  Willens  heimisch  ist,  erweist  sich  als  Beurtei- 
lungsprinzip der  organischen  Formen  in  der  Natur.  Der  „Newton  des 
Orashalms*^  ist  auch  heute  noch  nicht  erschienen.  Kant  hat  in  der  Philosophie 
eine  Revolution  hervorgerufen.  Das  Wesen  seiner  Lehren  wird  sich  er- 
lialten,  auch  wenn  die  Form  zerbricht.  „Und  so  ist  die  Rückkehr  zu  Kant 
in  Wahrheit  einem  Fortschritt  gleich  zu  achten." 

Als  deutschen  Nationalphilosophen,  als  die  Verkörperung  des  deut- 
schen Geistes,  feiert  Cohen  (12)  Kant.  Und  worauf  beruht  es,  dass  Kant 
der  Philosoph  des  deutschen  Volkes  ist?  „Was  Kant  von  allen  grossen 
Philosophen  vor  ihm  unterscheidet,  besteht  darin,  dass  er  zuerst  ein 
System  der  Philosophie  errichtete."  Was  etwa  bei  Aristoteles  etwas  der- 
artiges sein  soll,  ist  zugleich  System  des  gesamten  Wissens,  „so  muss  es 
ihm  an  der  Einheit  gebrechen,  welche  das  System  der  Philosophie  er- 
heischt". 

Kant  war  vorzugsweise  ein  Schüler  Newtons,  in  dessen  Methode  er 
den  Grund  des  wissenschaftlichen  Charakters  der  Naturforschung  erkannte. 
Newton  dachte  aber  nur  aus  dem  Geiste  der  Mathematik  und  mathema- 
tischen Naturforschung  heraus.  Durch  diese  Einsicht  wurde  Kant  zum 
ersten  Systematiker  der  Philosophie,  so  konnte  er  erst  es  werden,  weil 
jetzt  erst  ein  System  der  Prinzipien  erreicht  war.  Kant  ist  „der 
Schöpfer  nicht  eines,  sondern  des  Systems  der  Philosophie,  von  dem  es 
sich  verstehen  lässt,  dass  er  der  Philosoph  seines  Volkes  werden  konnte". 
In  echt  platonischem  Geiste,  der  in  ihm  wieder  lebendig  wurde,  heischt 
er,  dass  die  Logik  im  Systeme  den  ersten  Spatenstich  thue.  Wie  etwas 
derartiges  wie  exakte  Erfahrungserkenntnis  möglich  ist,  bildet  das  genau 
bestimmte  Urproblem  der  theoretischen  Philosophie.  „So  wird  die  exakte 
Wissenschaft  dasjenige  Faktum,  auf  welches  seine  Logik  bezogen,  in 
welchem  seine  Philosophie  begründet  wurde".  Er  stellte  die  wissenschaft- 
liche Vernunft  in  ihrer  Reinheit,  d.  h.  die  Wissenschaft  in  ihren  Prinzipien 
dar.     Sein   Idealismus    darf   sich   mit  dem   wissenschaftlichen  Realismus 

Kaatetndini  IX.  S4 


528  H.  Renner, 

identifizieren:  er  ist  nicht  der  trftomende  Idealismas,  der  Realismus  des 
Selbstbewnsstseins,  er  ist  der  Idealismas  der  Prinzipien;  die,  als  Gnind- 
legrun^n  vom  Inventar  der  Begriffe  nnd  der  Erkenntnisse  ausgezeichnet, 
sich  selbst  rechtfertigen  nach  dem  Vorbild  der  Mathematik  und  mathema- 
tischen Naturwissenschaften.  «Der  Idealismus  ist  zwar  in  den  mathema- 
tischen Ideen  erdacht  worden;  aber  in  der  Idee  des  Guten  strebt  er  seine 
Vollendung  an.  Die  Logik  muss  zur  Ethik  führen,  sie  führte  Kant  gerad- 
linig zu  ihr.*^  Die  dogmatische  Metaphysik  musste  zersetzt  werden,  das 
übernatürliche  Ding  des  Absoluten  musste  in  ein  Gebinde  von  Aufgaben 
und  Problemen  aufgelöst  werden,  deren  Lösung  die  Ethik  bringen  sollte. 
Der  Fortschritt  von  der  Religion  zur  Ethik  ist  notwendig.  ^DasSein,  und 
wenn  es  nach  Jahrtausenden  z&hlt,  darf  nicht  entscheiden  über  das  Sollen.^ 
Das  Unbedingte  der  Metaphysik  tritt  in  der  Ethik  als  ein  wahrhaft  Abso- 
lutes zu  Tage;  das  Unbedingte  der  sittlichen  Idee.  Beim  Menschen  darf 
ich  nicht  stehen  bleiben  bei  der  Frage,  was  er  sei.  „Die  Ethik  lehrt,  was 
er  sein,  was  er  werden  soll.  Natur  und  G^eschichte  sind  dabei  als  Quellen 
sorgsam  zu  erforschen,  aber  sie  entscheiden  nicht  über  das  sittliche  Schick- 
sal, über  die  Aufgabe  des  Menschen  zur  Sittlichkeit.*'  Die  Ethik  führt 
zur  Autonomie.  Hier  ist  aber  nicht  die  Frage  und  kann  es  nicht  sein, 
wie  sich  die  Freiheit  zu  Gott  oder  zur  Naturkausalität  stellt,  sie  ist  kein 
Naturgesetz,  wohl  aber  ein  Vemunftgesetz;  sie  ist  „als  das  Prinzip  des 
Vemunfti^nbens,  eine  Fortsetzung  der  Methode  des  reinen  Idealismus^. 

,J>ie  Logik  hatte  zur  Ethik  den  Weg  gewiesen  und  gebahnt.  Der 
ethische  Geist  wurde  nun  aber  zum  Spürsinn  für  alle  mensliche  Kultur.*' 
Kant  hat  die  Selbständigkeit  der  Kunst  festgestellt,  aber  auch  ihren  „un- 
gebrochenen Zusammenhang  mit  der  Natur  und  der  Sittlichkeit**  zur 
Offenbarung  gebracht«  In  dejr  Erkenntnis  des  Genies  gipfelt  sein  System. 
Kant  war  selber  eins,  an  dessen  Werk  man  sein  Leben  setzen  muss.  „Ein 
Jahrhundert  ist  seit  seinem  Tode  verflossen.  Aber  noch  manches  Jahr- 
hundert mag  kommen  und  gehen,  ehe  seines  Gleichen  wieder  erscheinen 
wird,** 

Manche  Berührungspunkte  mit  Cohens  tiefer  Rede  zeigen  die  Ausführ- 
ungen Natorps(l3).   Auch  für  ihn  ist  Kant  ein  deutscher  Phüoeoph,  die  Vei^ 
körperung  deutschen  Geistes  und  damit  zu^eich  seine  Philoeophie  Kultur- 
philosophie.    Sie   stellt   die   Methode   dar,   Kultur  zu  schaffen,  es  sei  als 
Erkenntnis,   ethische   Norm   oder  Kunstwerk.     Das  Werk  Kants  besteht 
nicht   in   einigen  Sitzen,   die  er  hinterlassen,   er  hat  uns  die  Methode  ge- 
geben.   Das  Höchste    was  Philosophie  geben   kann,    denn   diese  ist  „ein» 
fortwirkende  Kraft^  Gedanken   zu   eneugen,   nicht  bloas  ein  einseines  ge- 
dankliches  Erzeugnis*'..    Die   Einwände  der  Empiristen  gegen  Kants  Er- 
kenntnistheorie übersehen,  dass  er  die  Grandfunktion  des  EMiennens,  die 
S^ii thesis  in  reine  und  nicht  reine,  d.  h.  empirische  schied;  die  Erfahrung 
war  ihm  aber  selbst  Problem.    Der  Vorwurf,  dass  in  Nietzsche  sich  Kants 
Autonomie  selbst  auflöes«,  wird  entkrtftigt  und  aof  die  soziale  Bedeutung 
von  Kants  Ethik  hingewiesen  ;   ihne  Wichtigkeit  für  das  Erfassen  der  Re- 
ligion Meiichtet  ;   Gedanken,  die  Natorp  in  einer  Reihe  früherer,  wohlbe- 
kannter Werke  ausgeführt   hatte.    Auch  für  die  Kunst  ist  die  Philoscqiliie 
von  Betloutung.    ^.Str^bt  die  moderne  Kunst,   kniz  gesagt,  sn  einem  ▼e^ 


Reden  zur  Feier  der  Wiederkehr  von  Kants  1<10.  Todestage.        529 

tieften  Kultorbewusstsein,   so  strebt  sie  eben  dahin,   wohin  seit  Kant  die 
Philosophie  strebt." 

Külpe  (14)  schildert  uns  zunächst  die  Fäden,  die  seine  Universität 
mit  Kant  verbanden.  Schon  in  den  achtziger  Jahren  des  18.  Jahrhunderts 
erstand  dort  Kant  ein  wanner  Verehrer,  ein  treuer  Anhänger:  Matemus 
Reuss.  Er  sah  in  Kant  nicht  den  Allzermalmer,  sondern  den  Philosophen, 
der  den  moralischen  Glauben  auf  immer  gereinigt  und  vor  der  Ausartung 
in  Aberglauben  und  Unglauben  bewahrt  habe.  Es  gäbe  keine  protestan- 
tische und  katholische  Philosophie.  Er  suchte  daher  das  Studium  von 
Kants  Philosophie  zu  fördern,  was  ihm  bei  den  aufgeklärten  Anschauungen 
des  damaligen  Fürstbischofs  BVanz  Ludwig  v.  Erthal  möglich  war.  Sein 
Nachfolger  im  Lehramt,  der  „weit  schärfere  und  selbständigere  Denker", 
Dr.  theol.  Andreas  Metz,  hatte  sich  schon  als  Gymnasiallehrer  als  Anhänger 
Kants  erwiesen.  Der  idealistischen  Fortbildung  der  Kantischen  Philosophie 
stand  er  als  Gegner  gegenüber,  er  glaubte  an  die  Notwendigkeit  einer 
anthropologischen  Fundamentierung  der  Philosophie. 

Kant  vereinigt  den  Tiefsinn  der  Mystiker  mit  der  Verstandesschärfe 
der  Aufklärer.  Er  hat  den  Begriff  der  Erkenntnis  begründet;  den  er  zu 
eng  fasst.  Er  ist  ausgezeichnet  durch  die  Merkmale  allgemeiner  und  not- 
wendiger Geltung  und  durch  die  Bedeutung  als  Erweiterung  unseres 
Wissens.  Der  Weg,  auf  dem  er  seine  Aufgabe  zu  lösen  sucht,  behält  ihren 
Wert,  auch  wenn  man  die  Resultate  im  Einzelnen  nicht  mehr  anerkennen 
sollte.  Durch  seine  Methode  hat  Kant  eine  Versöhnung  von  Empirismus 
und  Rationalismus,  Skeptizismus  und  Dogmatismus  gegeben.  Die  Grund- 
züge der  Kantischen  Ethik  zeichnen  sich  durch  eine  grosse  Einfachheit 
aus,  „bringen  eine  gewisse  Erfahrung  unseres  sittlichen  Lebens  mit 
kraftvoller  Einseitigkeit  zur  treffenden  Darstellung";  nämlich  das  Pflicht- 
bewusstsein.  Auf  die  Ethik  gründet  sich  die  Metaphysik.  „So  sehen  wir 
in  Kant  vor  allem  eine  wissenschaftlich-persönliche  Einheit  von 
drei  Momenten,  der  Überlegenheit  der  Vernunft  über  die  Sinnlichkeit  der 
Autonomie  des  Erkennens  und  Wollens  und  dem  Primat  der  praktischen 
Vernunft  vor  der  theoretischen." 

Die  bedeutsame  Eigenart  der  Lebensanschauung  Kants  besteht  in 
der  Lehre,  „dass  wir  einen  umfassenden  philosophischen  Standpunkt,  eine 
Weltanschauung  von  dauernder  Wahrheit  nur  vom  Subjekt  aus  gewinnen 
können,  dass  wir  in  Wissenschaft,  Philosophie  und  Religion  über  den  sub- 
jektiv-menschlichen Standpunkt  nicht  hinaus  gelangen."  Das  ist  das 
Thema  der  Rede  Götz  Martins  (16).  Damit  will  Kant  nicht  dem  Skep- 
tizismus dienen,  sondern  vielmehr  die  Erkenntnis  tiefer  gründen,  ihre 
Tragweite  und  Grenzen  feststellen  und  das  Problem  des  Gemeinschafts- 
lebens als  Erzeugnis  der  Einzel-Subjekte  lösen. 

Kant  hat  gezeigt,  dass  man  das,  was  für  uns  denknotwendig  ist, 
nicht  zu  absoluten  Dingen  machen  darf,  ohne  sich  in  Widersprüche  zu 
stürzen.  So  ist  der  absolute  Raum  nur  die  Form  der  sinnlichen  Anschauung. 
„Aus  dem  Raum  die  absolute  Daseinsform  der  Dinge  machen,  heisst  über 
das  thatsächlich  Gegebene  und  damit  über  den  bedingten  menschlichen 
Standpunkt  hinausgehen,  sich  eine  Einsicht  anmassen,  welche  wir  nicht 
besitzen  und   nicht   besitzen   können.    Wir  dürfen   und  können  nur  vom 

34* 


530 


H.  Renner, 


Subjekt   aus   unsere   Stellung   zu  den  Dingen  finden.**    Ebenso  verhält 
sich    mit   den  denknotwendigen    Begriffen,   sie  sind  subjektiv^   aber  nid 
Dinare,  Substanzen.    Sind  aber  die  Gesetze  der  Natur  subjektiv,  so  leb: 
sie  uns  die  Rrscbeinungen,   nicbt    die  Dinge  an  sieb  zu  erfassen.    So  W( 
es   «ich    aber   um  die  Erkenntni.s  der  Erscheinungen  handelt,  redet  er, 
weit  es  geht,  (kr  inechaniscben  Erklärung  das  Wyrt.     An  den  organisch 
Gebilden  hat  die  mecbuniscbe  Erklärung  ilire  Grenze.    „Dan*it  lehnt  Ka: 
von  vornherein  nicht  bloss  den  spateren  Darwinismus,  sondern  auch  jedi 
anderen  Versuch,  die  Zweckmässigkeit  der  Lebensformen  erklären  zu  wollen^ 
ab.     Dem    Neovitalbmiis  jedweder  Art   würde  Kant  entgegenhalten,    dai 
die  Annahme    einer   besonderen,   die  Materie    in    das  Zweckmässige  zw- 
genden  Kraft  einen  inneren  Widerspruch  enthalte."     Es  giebt  nur  mi 
nische    Krîifte.    keine   solchen,   die    hinter   der  Wirklichkeit    thütig  sii 
^Die  ZweckmJifiÄigkeitsbetrachtung  muss  die  wissenschaftliche  Zerglied 
nng  ergänzen;  sie  kann  es,  weil  die  Erkenntnis  der  Mittel  keine  absolui 
Einsicht  darstellt,  ...  sie    musa  es,    weil  die  mechanischen  Vorgänge  das 
Ganze  der  Erscheinungen  nicbt  erfassen,"    Kants  theoretische  Auffasaun 
sind  auch    für   die  Psychologie  von  Wichtigkeit.     Sie  stimmen  einer  fu 
tionelleu  Auffassung  des  Verliältnisses  von  Leib  und  Seele  bei,  sie  lehtti 
die  Identitätslehre   oder   die    .idealistische  Vorstellung  letzter  psjchiscb 
Einheiten  als  ontologisehe  Gnindlagen  der  Entwickelung^  ab.     Er  spren, 
die    beengende   Theorie    der    monadenlmften    Existenz    geistiger   Ersch( 
unngen. 

Dem  Zweckgedanken  geht  die  Ethik  nach.  Die  Teleologie  führt 
zur  Theologie:  ^Das  Sittengesetz  stammt  nicht  von  Gott^  es  führt  zu  Gott, 

Sittlich  ist  der  Mensch,  ^der  im  Gemeinschaftsleben  seine  Aufgal 
seine  Pflicht  als  Selbstzweck  erfUllf^,  aber  die  Pflicht,  die  ihm  seine  Yi 
nunft  zeigt;  die  Autonomie. 

Kants  Philosophie    ist    in    eminentem    Sinne    eine    Philosopliie    ai 
Friedens.    „Den  Menschen  in  seiner  Vollendung  hat  sie  im  Auge  ;    ihr 
halt    ist  die   tiefste    Begründung,    welche    die    Humanitüt   bis    beute    ge- 
funden hat»** 

Der  psychologische  Gesichtspunkt  tritt  am  stärkaten  bei  Jerusa* 
lern  (16)  in  den  Vordergrund,  das  drückt  sich  sehr  prügnant  schon  in  der- 
Autfassung  des  Kritizismus  aus  :  „alle  unsere  Wahrnehmungen  müssen  —  und 
das  ist  der  neue,  umwälzende  Gedanke  bei  Kant  —  von  unserem  Verstände 
erst  geformt  und  gegliedert  werden,  damit  daraus  Erfahrung  entstehe- 
Das  Suchen  nach  diesen,  wie  Kant  überzeugt  war^  angeborenen  Formen 
des  Verstandes  ist  die  Wendung  znm  Kritizismus/*  Um  Kants  Leistung* 
zu  erkennen j  muss  man  einen  Blick  auf  die  Geschichte  der  Erkenntnis- 
kritik werfen  und  Kant«  Ideen  „von  dem  dialektischen  Beiwerk  befreieiTt 
das  so  oft  den  waliren  Sinn  der  Kant  sehen  Gedanken  verdunkelt  hat 
und  noch  verdunkelt'*. 

In  der  Geschiebe  hatte  sich,  niclit  am  wenigsten  auch  durch  die 
grossen  Enldeckangen  der  Naturwissenschaft,  herausgestellt,  dass  WaLr- 
nehmung  noch  keine  Erkenntnis  ist;  so  wichtig  sie  aucli  für  diese  seili 
tnag,  es  gehim  eine  verstandesmässige  Verarbeitung  dazu,  Erkenntnis  da- 
raus zu  sL-baffen.     Aus  diesen  beiden  Seiten  der  Erfahning  entmckelt  sich 


hrt 

I 


Beden  zur  Feier  der  Wiederkehr  von  Kants  100.  Todestage.       531 

der  Gegensatz  des  Sensualismus  und  Rationalismus,  die  Kant  in  einer 
genialen  Synthese  verband.  Und  der  Kern  dieser  Synthese  „ist  nichts 
anderes,  als  die  Verwertung  der  Thatsache  unseres  Ichbewusstseins  für  die 
Formung  und  Objektivierung  unserer  Erkenntnisse".  .  .  .  „Er  hat  die  un- 
umstössliche  und  noch  lange  nicht  hinreichend  verwertete  Wahrheit  er- 
kannt, dass  die  Affektionen  unserer  Sinne  für  uns  erst  dann  zu  Thatsachen, 
zu  Wirklichkeiten  werden,  wenn  sie  durch  unser  Ichbewusstsein  hindurch- 
gehen, wenn  sie  von  diesem  Zentralorgan  unserer  Seele  geformt  und  ge- 
gliedert werden,  wenn  sie  unserem  Wesen  einverleibt  werden.**  Die 
Funktion  des  erkennenden  Ich  vollzieht  sich  im  Urteilen.  Dass  Kant 
dieses  „Ich**  durch  die  von  Aristoteles  überkommenen  Arten  der  Urteile 
erfassen  wollte,  war  ein  Irrtum.  „Wollen  wir  Kants  Erkenntnistheorie 
wirklich  verstehen  und  als  Unterbau  für  weitere  Forschung  benützen,  so 
müssen  wir  uns  kurzweg  entschliessen  und  sagen:  Fort  mit  der  Kate- 
gorientafel und  fort  auch  mit  der  AprioritAt  von  Raum  und  Zeit**.  Die 
letztere  Anschauung  gründet  sich  auf  die  angebliche  Apriorität  der  Geo- 
metrie, es  „bricht  sich  aber  in  immer  weiteren  Kreisen  die  Überzeugung 
Bahn,  dass  die  Axiome  der  Geometrie  empirischen  Ursprung  haben*^. 

Kant«  Ethik  ist  trotz  der  psychologischen  Unmöglichkeiten,  die  er 
fordert,  und  trotz  der  logischen  Widersprüche  in  seiner  Beweisführung 
eine  That  von  epochemachender  Bedeutung;  er  verlangt  Unerfüllbares, 
um  uns  mit  ewigem  Vorwärtsstreben  zu  erfüllen. 

Auch  der  Ästhetik  hat  er  neue  Bahnen  gewiesen.  „Indem  er  die 
Freude  am  Schönen  als  ein  „uninteressiertes  Wohlgefallen**  bezeichnete, 
hat  er  eine  psychologische  Wahrheit  ausgesprochen,  die  wir  nur  weiter 
auszugestalten  brauchen,  um  zu  einer  voUstAndigen  Psychologie  des  ästhe- 
tischen Geniessens  zu  gelangen.** 

Wie  Jerusalem  Kant  psychologisch  auffasst,  so  kann  er  sich  auch 
nur  eine  psychologische  Weiterbildung  seiner  Lehren  denken.  Die  Auf- 
fassung der  Transscendentalphilosophen  lehnt  sich  nur  ftusserlich  an  Kant 
an,  ohne  den  tiefen  Sinn  seiner  Philosophie  erfasst  zu  haben.  Sie  bleibt 
immer  auf  demselben  Punkte  stehen.  „Wirklich  fördern  können  wir  da- 
her Kants  so  genial  angelegte  Einsicht  in  den  Prozess  des  Erkennens, 
wenn  wir  auf  Grund  der  heute  doch  etwas  weiter  gekommenen  Psycholo- 
gie und  unter  Anwendung  des  Entwickelungsgedankens  das  Erkennen  als 
Lebensvorgang  auffassen,  der  mit  den  anderen  Lebensvorgängen  in  der 
innigsten  Wechselbeziehung  steht." 

Wir  sehen  hier  eine  Anschauung,  die  zu  den  übrigen,  angeftlhrten 
Ausführungen  in  einem  diametralen  Gegensatz  steht,  mögen  auch  jene 
hie  und  da  unterschieden  sein.  1st  Kant  es  anzurechnen,  dass  er  so  „viel- 
gedeutet** ist? 

Falckenberg  (17)  erblickt  in  der  Vieldeutigkeit  der  Ergebnisse  der 
Kantischen  Philosophie  nichts  weniger  als  einen  Mangel  und  er  setzt  sich 
die  Aufgabe  von  der  Vielseitigkeit  der  Impulse,  die  Kant  entsandt,  ein 
flüchtiges  Bild  zu  entwerfen. 

„Wie  die  Fülle  der  Deutungsversuche  für  die  Tiefe  der  Hamlet- 
dichtung spricht,  so  giebt  es  keinen  schlagenderen  Beweis  für  die  Grösse 
unseres  Denkers,  als  diese  Buntheit  der  Saaten,  die  auf  seinem  Acker  auf- 


532 


H,  Re  HD  er, 


çetchoifeii  tifid,  Diei  hekiuidet  —  nicht  aowofai,  wie  die  streng 
luiiit inner  ei  emuehtsn,  ein  betrübendes  Unvenco^n  des  VergUIndiûsea 
den  Nenr  der  KiinttKchen  Kritik,  aU  —  einen  Reichtiuii,  eiae  FftUe 
Tiefe  der  Konzeptionen  »  wie  me  kaum  ihre»  Gleichen  hat.  Hier  wieder- 
holt Kich  in  erhrihtem  Masse,  waj<  t»ei  den  sokratischen  Schulen  erlebt 
worden.  Ein  t«olcher  Sechen  an  verschieden  gearteten  Kindern  ij»t  keinem 
Phtiofopheo  bewhkdcn  gewesen,  wie  diesem  kinderlosi^n  Manne,** 

Fillckf5iiber|^  schildert  dann   ganz  kurz  den  Fortgang  der  von  K; 
g«|^beil6D   Anregungen    über   Fichte,   Schelling  zu    Hegel.     Die  Wiedi 
erweck ung    Kant^   durch    Furt  tage.    Kuno    Fischer,   Liebmann,    HelmholtxT 
I^nge^    der     NeukuntiiintHniur»     in     seinen     verschiedenen    Schattierungen 
werdrn  «ki/./iert,  alleM  in  der  Kürze,   die  eine  weitere  Kiirzune  nicht  veT- 
tragen.     Ich    begnüge   mich   daher  zum  Sclüu&s,   die  von  Falckeuberg 
gebene  Gmppiening  der  Kantischen  Scbtüen   der  Gegenwart  anzultihi 
Sic   sind    in  Kächerfonn    gruppiert,    und   w^erdeii  nach  recht«  immer  met^i? 
physischer,    nach    iinks    positivistischer,    in     der    Mitte    bteht    der    Neu^ 
kantianismiii. 


Eren 

/eT- 


Berkeley. 
Hume, 


Rebmke  .Com  eli  u  s. 


Mach.  BiehL 


Lotze  f  1681. 
Lipps. 

Wundt. 
Lii^bmann. 


Paulsen.  Deusüen. 


Coli e n .  W i II de 1 1 »a n d .  E uek e n , Hartman n , 
(Fries,)  II  (Fichte,) 


Scho 

ScheUing. 


In    der  Festesfreude    verstummt   die  Kritik.     Sie  w(4re  ein  ünrecl 
Aber    weJin    die    Alltagssorgen    eintreten,     und    die    ArbeilsÄtimmnng 
übernTannt,    tritt   sie    wieder   in    ihr  Recht  und  wir  fnigen  uns  nach  di 
Gewinne  aus  dem,   was  an  unserem  Auge  vorbeigezogen,  wir  fragen,    wi 
wir  aus  allem  diesen  festhalten  können. 

E*»  uui^^  iij  der  Nntur  der  Sache  liegen,  dass  der  Ertrag  ein  höherer 
ist  für  den  Historiker,    als  fdr  den  Systematiker.     Ein  solcher  Tag  drängt 
dazu,  sich  duN  Gftuze  der  Persönlichkeit  vor  Augen  zu  stellen,  weniger  ^t^M 
Einsicht  im  Einzelnen  /ai  fördern,  ^^ 

Dnss  Kaufs  Weltanscbauiuig  auch  für  die  Gegenwart  noch  von  Be- 
deutung ist,  zeigt  .sich  von  der  flikhtigsten  Auffassung  bis  zu  den  tief* 
sinnigen  Ausführungen  Wiudelbauds,  die  ich  bewundere,  so  wenig  ick 
ihnen  zustimmen  kann. 

Aber    auch    seine    wissenschaftliche    Bedeutung   als   Begründer   d( 
Transscendenfal philosophie  ist  in   weiteren  Kreisen  anerkannt,  seine  trans- 
sceudentale    Methode     hat    auch    bei    solchen    Denkern    Anerkennung   g^ 
funden,  die  man  eher  als  Gegner  sich  gedacht  hätte.     Bedeutende  P^ebo- 
îogen    haben    sieb   günstig   darüber   ausgesprochen,    wie   die    feinsinnigen 
Ausfühnmgen  von  Külpe,  Lipps  und  Martins  beweisen,    Jerusalem  freilicli 
steht   ihm   fem.    Das   mag   auf  Denkgewohnheit    beruheu,   sieht   er  doch 
eine  grosse  ÄlmUchkeit  mit  Kants  Philosophie  in  der  stoischen  Erkennt- 
nislebre  ! 


Reden  zur  Feier  der  Wiederkehr  von  Kants  100.  Todestage.       ô33 

1)  Immanuel  Kant  Ansprache  an  die  Königsberger  Studenten- 
schaft. Gehalten  von  Dr.  Ludwig  Busse,  Univ.-Prof.  in  Königsberg. 
R.  Voigtländers  Verlag,  Leipzig  1904. 

2)  Zum  Gedächtnis  Kants.  Rede  zur  hundertsten  Wiederkehr  des 
Tages  seines  Todes  in  der  Aula  der  Albertina  am  12.  Februar  1904,  ge- 
halten von  Dr.  Julius  Walter,  o.  ö.  Professor  der  Pjiilosophie  an  der  Uni- 
versität Königsberg.    Gräfe  &  Unzer,  Königsberg  i.  Fr.  Iîi04. 

3)  Dieser  Trost  in  der  Sterbestunde  ist  aber  auch  nach  Walter 
nicht  der  Rechtsgrund  der  Hoffung,  was  ich  hier  betone,  um  nicht  eine 
irrige  Auffassung  von  Walters  Ausführungen  auf  Grund  des  aus  Kant 
stammenden  Citats  zu  verschulden. 

4)  Immanuel  Kant  und  seine  Weltanschauung.  Gedenkrede  zur 
Feier  der  100.  Wiederkehr  seines  Todestages,  an  der  Universität  Heidel- 
berg gehalten  von  Wilhelm  Windelband.  Heidelberg  1904,  Carl  Winters 
Universitätsbuchhandlung. 

6)  Kant,  der  Philosoph  des  Protestantismus.  Rede,  gehalten  bei 
der  vom  Berliner  Zweigverein  des  evangelischen  Bundes  veranstalteten 
Gedächtnisfeier  am  12.  Februar  1904  von  D.  Julius  Kaftan.  Verlag  von 
Reuther  &  Reichard,  Berlin  1904. 

6)  Kant.  Rede,  gehalten  bei  der  Kantfeier  in  Posen  von  Kühne- 
mann.   Kunstwart,  Jahrg.  17,  p.  618—627. 

7)  Zur  Jahrhundertfeier  des  Todestages  Immanuel  Kants,  von  Prof. 
Lipps,  München.  Deutschland,  Monatsschrift  für  die  gesamte  Kultur. 
2.  Jahrg.,  p.  673-689. 

8)  Immanuel  Kant,  von  Benno  Erdmann.  Bonn,  Verlag  von  Fried- 
rich Cohen.     1904, 

9)  Immanuel  Kant.  Rede  bei  der  von  der  Breslauer  Universität 
veranstalteten  Gedenkfeier  am  12.  Februar  1904,  gehalten  von  Prof.  Dr. 
J.  Freudenthal.    Breslau,  M.  &  H.  Marcus  1904. 

10)  Immanuel  Kant.  Eine  Gedächtnisrede,  gehalten  am  hundert- 
jährigen Todestage  Kants,  den  12.  Februar  1904  vor  versammelter  Univer- 
sität in  der  Collégien kirche  zu  Jena  von  Otto  Liebmann.  Strassburg, 
Verlag  von  Karl  J.  Trübner  1904. 

11)  Inunanuel  Kant.  Rede  zur  Feier  des  hundertjährigen  Todes- 
tages Kants,  gehalten  in  der  Aula  der  Universität  Halle- Wittenberg  von 
Alois  Riehl.    Halle  a.  S.,  Max  Niemeyer  1904. 

12)  Marburger  akademische  Reden  1904  No.  10.  Rede  bei  der  Ge- 
denkfeier der  Universität  Marburg  zur  hundertsten  Wiederkehr  des  Todes- 
tages von  Immanuel  Kant.  Gehalten  am  14.  Februar  1904  von  Hermann 
Cohen.    Marburg,  N.  G.  Elwertsche  Verlagsbuchhandlung. 

13)  Zum  Gedächtnis  Kants  (f  12.  Februar  1804)  von  Professor  Dr. 
Paul  Natorp.    Separatabdruck  aus  „Deutsche  Schule"  Heft  U.  1904. 

14)  Kant-Feier  der  Würzburger  Universität  am  12.  Februar  1904. 
I.  Ansprache  des  Rektors  Professor  Dr.  Kunkel.  II.  Festrede,  gehalten 
von  Professor  Dr.  Külpe.  Würzburg,  Druck  der  Königl.  Universitätsbuch- 
druckerei von  H.  Stürtz  1904.  ^ 

15)  Kant.  Zum  Gedächtnis  seines  hundertjährigen  Todestages. 
Akademische   Rede,    gehalten    am    12.   Februar   1904   in   der   Aula   der 


534     H.  Renner,  Reden  £,  Feier  d.  Wiederkehr  t.  Kants  lOOl Todestage. 

ChrLrtian-Aibreehto-Univerntât  tod  GOCe  Xartiiis,  o.  Prof.  der  Fliflaaophie. 
Kiel  1904,  Konuniafionirerlag  ffir  die  UuiTerntlt  Kiel,  lipsins  &  Tisciier. 

16;  KanU  Bedeutaniç  für  die  Gegenwart.  Gedenkrede  zum 
12,  Februar  1904  nm  Prof.  Dr.  Wilhelm  Jenualem.  Wien  nnd  Leipzig, 
Wilhelm  Branmttller 

17)  Gtâàchtnuartde  auf  Kant  zur  Feier  der  handertjfthrigen  Wieder- 
kehr de«i  T#jdectages  des  Philosophen,  im  Auftrage  des  Akademischen 
Senats  der  k  b.  Fnedrich-Alexanders-Univerntfit  Erlangen,  am  12.  Febmar 
1904,  gehalten  in  der  Aola  der  Univerrität  von  Dr.  Richard  Falckenberg, 
k«  o.  n,  ProfeMor  der  Philosophie.  Erlangen  1904,  k.  b.  Hof-  und  Univer- 
sitAtaboehdmckerei  von  Junge  &  Sohn. 


Zwei  dänische  Festgaben  zum  Kantjubiläum. 

Mitgeteilt  von  Â.  A  all  in  Halle. 

I.    H.  Hoff  ding:  TU  minde  om  J.  Kant 

Sonderdruck  aus  Oversigt  over  det  königl.  danske  vidensk.  Selsk. 
forhh.  1904.    No.  1,  S.  13-21. 

Diese  kleine  Festschrift  darf  man  wohl  als  Ausdruck  der  Anteil- 
nahme der  Eopenhagener  Universität  an  der  Kantfeier  betrachten.  Die 
kurze  Charakteristik  der  Kantischen  Philosophie,  die  sich  darin  findet, 
ist  —  eben  weil  so  gedrängt  —  recht  interessant. 

H.  hebt  hervor,  wie  sich  Kant  nicht  lediglich  an  die  damals  geläu- 
figen Fragepunkte  hielt,  sondern  nach  den  Voraussetzungen  forschte,  unter 
denen  jene  Fragen  möglich  wurden.  Dem  entspricht,  dass  die  kritische 
Philosophie  die  Bedingungen  nicht  der  Entstehung,  sondern  der  Geltung 
der  Erkenntnis-  und  Wertprinzipien  zum  Gegenstand  hat.  Nach  H.  be- 
steht die  Grundeigentümlichkeit  der  Erkenntnis  für  Elant  in  dem  Streben 
nach  der  Zusammenfassung,  nach  Synthese.  Dass  der  Königsberger 
Philosoph  diesen  Gesichtspunkt  durchgeführt  habe,  ohne  die  Grenzen  der 
Wissenschaftlichkeit  zu  überschreiten,  sei  sein  Ruhm.  Kant  habe  die 
schliessliche  Einheit  der  intellektuellen  und  moralischen  Grundbegriffe 
einerseits,  der  Naturgesetze  andererseits  vermutet,  aber  nicht  dogmatisch 
behauptet,  weil  eben  der  Erfahrungsbeweis  dazu  nicht  hinreichte.  Er  habe 
überhaupt  nicht  aus  dem  subjektiven  Bewusstsein  heraus  Realbestimmungen 
für  die  Welt  der  Erscheinungen  entnommen,  sondern  dies  Bewusstsein 
analysiert  und  besonders  für  die  philosophische  Betrachtung  die  synthe- 
tische Begriffsmethode  verwertet.  H.  findet  Spuren  dieser  Grundrichtung 
bei  Kant  überall.  Seine  treffende  Darlegung  über  das  Wesen  der 
Kunst  entstamme  jener  synthetischen  Fassung  der  Probleme,  eine  weitere 
Frucht  jener  methodischen  Zusammenfassung  sei  Kants  Behandlung  der 
Ethik,  die  Lehre  von  der  Willens- Autonomie,  die  auf  Würdigung  des  ge- 
meinsam Menschlichen  beruht. 

Die  praktische  Bedeutung  der  Kantischen  Grundsätze  sowohl  inner- 
halb wie  ausserhalb  der  deutschen  Kulturwelt,  zumal  in  Dänemark,  deutet 
H.  in  Beispielen  an.  Kant  war  der  Abschluss  der  vorangegangenen  Philo- 
sophie und  gleichzeitig  deijenige,  der  der  denkenden  Nachwelt  die  Auf- 
gaben stellte.  Das  geistige  Leben  hat  in  ihm  geschichtlich  „einen  Höhe- 
punkt und  Knotenpunkt**  erreicht,  und  zwar  einen  Höhepunkt,  wie  wir 
einen  solchen  vor  BLant  erst  wieder  bei  Plato  finden,  und  nach  Kant  noch 
nicht  erlebt  haben. 


&86 


A,  Aall, 


IL    Rant. 

Von  A.  T  h  Ci  m  sen,    Pnvat^loz.eTiten  an  der  KopenhÄ/Erener  UniversitÄt. 

Sonderdruck  aus  Teologisk  Tidsskrift  V,  S.  273  f^. 

Der  dänische  Author  knüpft  in  dieser  kleinen  Abhandhing  an  Kants 
berülimte  Bemerkung:  über  die  drei  Stadien  im  Verlauf  des  menschlichen 
Erkennen«  (Dr»^matismus,  Skeptizismus  »iiid  Kritizismus)  an,  und  schildert 
Äiier.st  Kants  Verhältnis  zum  Do^rtnatismus  seiner  Zeit,  Die  ErÖrt^nmg 
des  philosophischen  Rationalismus  niilndet  in  den  Nachweis  aus,  dass 
Kant  selbst  noch  teilweise  in  der  alten  Metaphysik  stecken  gebliehen  sei, 
die  er  bekümpfen  wollte,  T.  weist  in  dieser  Hinsicht  besonders  aiif  die 
Kantische  Lehre  vom  Ding^  an  sich  hin,  ein  Gesicht«piinkt,  der  mit  einer 
früheren  Untersuchung  des  dänischen  Autors  in  diesen  Studien  (vgL 
KSt.  Bd.  VI  11:  Bemerkungen  zur  Kritik  de«  Kan tischen  Begriffes  des 
Dinges  an  sich)  zusammenfällt.  Man  könnte  einwenden,  dass  wohl  allge- 
meiner Kants  eigenartiges  methodisches  Verhalten  hierfür  verantwort^lieh 
zu  machen  sei.  Seine  Vernachlässigung  der  psychologischen  Betrachtungs- 
weise hat  vielfach  zur  Folge  gehabt,  dass  Aufgaben  der  BeAvtisstÄeins- 
Analyse  sich  zu  ßegriffshestimmungen  metaphysischen  Charakters  objekti- 
viert haben;  wird  doch  eben  erst  dadurch  in  das  Erfahrungspro bleni 
in  verhängnisvoller  Weise  jener  erkenntnistheoretische  Gegensatz  zwischen 
Erscheinungen  und  Gegenständen  hineinkonstniiert. 

Nachdem  T,  die  doppelte  Angriffsstellung  Kants  gegen  den  Dogm»- 
tismus  der  Wolffianer  eiuerseit«^  Humes  Skeptizismus  andererseits,  erwähnt 
hat,  schildert  er  den  positiven  Standpunkt,  den  Kritizismus  des  grossen 
Denkers.  Die  Hauptleistung  Kants  w  ird  dahin  bestimmt^  dass  durch  seine 
Philosophie  die  zusammenfassende  Funktion  des  menschlichen  Bewusstseins, 
die  Synthese  der  Anschauung  und  der  Verstandest hiitigkeit»  und  damit  die 
Grundlagen  des  Erkenntnislehens  erst  mit  kritischer  Schärfe  gewürdigt 
worden  sind.  Die  tiefgehenden  Erörterungen  Kants  über  die  Begriffe 
Raum  und  Zeit  werden  in  diesem  Zusammenhang  besonders  liervorgehoben, 
Dass  aber  in  der  Kantischen  Lehre  vom  Iransscendentalen  Idealismus 
manches  Schiefe  mit  einherlief,  dafür  hat  T.  einen  offenen  Blick:  „Aus 
der  Apriorität  des  Raumes  folgt  nicht  dessen  Subjektivität;  weil  der  Raum 
psychologisch  eine  Reihe  von  Empfindungen  ist,  dadurch  wird  dessen  Ob- 
jektivität nicht  erkeüBtmstheoretisch  hinfällig,^ 

Der  Schluss  der  Abhandlung  ist,  wîe  meist  in  dergleichen  Darstel- 
lungen^ der  Religionsphilosophie  und  vor  allem  der  Ethik  Kants  gewidmet. 
Als  bezeichnend  für  die  Kantischen  Wertprinzipien  nennt  T.  Kants  Wür* 
digung  der  Charakterfestigkeit,  seine  Betonung  des  guten  Willens,  seine 
Hochschfttzung  der  freien  Menschenpersönlichkeit.  In  sympathischer  Weise 
hebt  T,  hervor,  dass  Kant  für  die  Tragik  des  in  unablässigen  inneren 
Kämpfen  hinfliessenden  menschlichen  Lehens  ein  offenes  Auge  gehabt  habe. 
Das  habe  sich  gezeigt  in  Kants  Ausfühnmgen  über  den  Gegensatz  zwischen 
Tugend  und  Lust,  Kant  sei  hierdurch  sicher  den  w^irklichen  Gefühlsthat- 
sachen  des  Menschenlebens  näher  gekommen  als  solche  Theoretiker,  die, 
wie  die  englischen  Vorgänger  Kants:  Shaftesbury,  Hutcheson,  Harne 
u,  B.  w.,  überall  Harmonie  zwischen  Tugend  und  Glücksempfindung  her- 
gestellt fanden. 


« 


I 


Zwei  dänische  Festgaben  zum  Eantjubiläam.  537 

Wer  sich  mit  der  etwas  schwülstigen  Aasdmcksweise  in  der  vor- 
liegenden Kantabhandlung  versöhnt,  wird  dieselbe  nicht  ohne  manche  An- 
regung lesen.  —  Die  Lektüre  ist  geeignet,  überhaupt  solche  Reflexionen 
wach  zu  rufen,  die  sich  auf  das  Verhältnis  der  modernen  Philosophie  zu 
Kant  beziehen.  Wie  weit  erstreckt  sich  Kants  Einfluss  ?  Ein  wesentliches 
Stück  der  modernen  Philosophie  sind  die  Untersuchungen,  die,  von  Fechner 
eingeleitet,  die  elementaren  Äusserungen  des  Bewusstseins  zum  Gegenstand 
haben.  Wie  dürfte  sich  hierbei  —  nämlich  in  der  psychophysischen 
Forschung  —  der  Geist,  die  Methode  Kants  kundgeben?  T.  erklärt  zu 
allgemein,  wenn  man  seine  etwas  gewundenen  Worte  ins  Deutsche  über- 
setzt: „Jeder  neue  Weg  in  der  Philosophie  wird  —  sei  es  auch  nur 
mittelbar  —  sich  an  den  Weg  schliessen,  den  Kant  einmal  gebahnt."  Hier 
wäre  der  Beweis  interessanter  als  die  einfache  Behauptung. 


Zur  Biattversetzung  in  Kants  Prolegomena. 

Von  Dr.  Sitzler  in  Anrieh. 


In  den  Prolegomena  Kante  sind  die  Abschnitte  2—6  des  §  4  an  eine 
falsche  Stelle  geraten.  Sie  gehören  nämlich  ihrem  ganzen  Sinne  nach  an 
den  Schluss  des  §  2.  Nnnmehr  ergiebt  sich  anch  der  sinngemässe  Zn- 
sammenhang des  Abschnittes  1  des  §  4  mit  dem  Abschnitte  7  des  §  4. 
Es  ist  Vaihingers  Verdienst,  dies  zuerst  nachgewiesen  zu  haben.  Seine 
Beweise  finden  sich  in  den  Philosophischen  Mpnateheften  vom  Jahre  1879, 
Band  15,  Seite  321—332.  Sie  werden  jeden  nicht  Voreingenommenen 
flberzeagen. 

Vaihinger  giebt  a.  a.  0.  einer  sog.  „Biattversetzung^  die  Schuld, 
d.  h.  einer  Verwechselung  der  Blätter  des  Manuskripte.  Noch  näher 
dürfte  m.  E.  die  Annahme  einer  Verwechselung  der  sog.  Spalten,  besw. 
„Fahnen^  liegen. 

Es  würde  sich  in  diesem  Falle  um  ein  Versehen  des  ^^Metteurs*^ 
handeln.  Der  Setzer  verfährt  nämlich  vielfach  so,  dass  er  die 
Typen  hinter  einander  nicht  seitenweise,  sondern  unbekümmert  um 
Seite  bezw.  Kapitel  immer  weiter  an  einander  reiht  und  nur  dann 
aufhört,  wenn  eine  bestimmte  Reihe  von  Zeilen,  etwa  100,  gesetzt  ist, 
resp.  wenn  der  Raum  von  100  Zeilen  ausgefällt  ist  (wobei  der  sog. 
Durchschuss,  d.  h.  die  kleineren  oder  grösseren  Zwischenräume  zwischen 
den  einzelnen  Zeilen  mitgerechnet  werden).  Jede  solche  Reihe  von  Zeilen 
heisst  im  Buchdruckergewerbe  eine  „Spalte'^  und  deren  vorläufiger  Ab- 
druck eine  „Fahne^.  Erst  nachdem  der  Setzer  eine  Reihe  von  Spalten 
gesetzt  hat,  teilt  der  sog.  Metteur  innerhalb  der  Spalten  die  Seiten 
und  Seitenzahlen  ab:  die  „Spalten*^  werden  in  richtige,  definitive  Kolunnen 
„umbrochen^,  wie  der  terminus  technicus  lautet. 

Dass  beim  Drucken  der  Prolegomena  ebenso  verfahren  ist^  zeigt  die 
Originalausgabe  von  1733.  Zählt  man  die  Zeilen  der  an  die  unrechte 
Stelle  gesetzten  Abschnitte  2 — 6  des  §  4  ab,  so  erhält  man  genau  100 
Zeilen  ~  von  Zeile  14  auf  Seite  34  bis  Zeile  5  incl.  auf  Seite  38  — . 
Genau  denselben  Raum,  nämlich  eben  den  Raum  von  100  Zeilen, 
nimmt  aber  die  vorher  mit  dem  §  3  beginnende  und  bis  Abschnitt  1  incL 
des  §  4  reichende  Stelle  ein,  die  zu  Unrecht  vor  der  versetzten  Stelle 
(Abschnitt  2—6  des  §  4)  steht. 

Zählt  man  nun  weiter  zurück,  so  erhält  man  bis  zum  Anfang  des 
§  1  der  Prolegomena  wiederum  den  Raum  von  200  Zeilen,  also  noch  ein- 
mal zwei  Spalten  bezw.  Fahnen  von  100  Zeilen. 


Zur  Blattversetznng  in  Kants  Prolegomena.  539 

Ganz  genau  mit  dem  MiUimetermass  gerechnet  nimmt  dieser  Passus 
den  Raum  von  201  Zeilen  ein  ;  dies  erklärt  sich  wohl  weniger  wahrschein- 
lich aus  einem  Versehen  des  Setzers  beim  Zählen,  als  durch  den  einfachen 
Umstand,  dass  der  Metteur  auf  Seite  28  wohl  zwischen  den  ursprünglich 
dicht  vor  dem  Text  stehenden  Worten  „Von  den  Quellen  der  Metaphysik** 
und  dem  Text  selbst  eine  Zeile  frei  liess,  um  die  Oberschrift  mehr  hervor- 
zuheben. Die  allgemeine  Überschrift  auf  Seite  23  ,,Prolegomena.  Vor- 
erinnerungen von  dem  Eigentümlichen  aller  metaphysischen  Erkenntnis** 
ist,  zumal  sie  wahrscheinlich  auf  einem  besonderen  Textblatte  stand,  auch 
besonders  gesetzt  worden,  wie  das  bei  Überschriften  noch  heute  viel- 
fach  geschieht. 

Es  ist  danach  sehr  wahrscheinlich,  dass  Spalten  von  je  100  Zeilen 
gesetzt  wurden,  und  dass  nun  der  Metteur  aus  Versehen  statt  der  dritten 
Spalte  (die  die  Zeilen  von  201-3C0  enthielt)  die  vierte  zuerst  ergriff  und 
dann  erst  die  dritte  folgen  Hess,  so  dass  das,  was  an  den  Schluss  von  §  2 
gehört,  in  den  §  4  hineingeriet.  Übrigens  ist  eine  ebensolche  Verwechse- 
limg  der  für  die  Korrektur  hergestellten  ,,Fahnen**  auch  denkbar. 

Dass  der  Missgriff  nicht  gleich  bemerkt  wurde,  liegt  daran,  dass 
beide  Spalten,  resp.  Fahnen  nicht  mitten  im  Text  aufhörten,  sondern  zu- 
fällig beide  mit  einem  Abschnitt  schlössen. 

Der  Umstand,  dass  die  beiden  vertauschten  Stellen  genau  denselben 
Raum  einnehmen,  ist  ein  weiterer  Beweis  für  die  Richtigkeit  der 
Vaihingerschen  Darlegung  von  der  Versetzung  der  beiden  Stellen. 
Nur  in  der  Art  und  Weise,  wie  diese  Versetzung  zustande  gekommen  ist, 
weiche  ich  von  Vaihinger  ab,  indem  ich  die  Spaltenverwechselung  resp. 
die  Fahnenversetzung  für  wahrscheinlicher  halte,  als  die  Blattversetzung. 

Die  Kenntnis  über  die  Thätigkeit  des  Setzers  und  des  Metteurs 
verdanke  ich  meinem  Freunde  Max  Schersath  zu  Berlin. 


Nachwort. 

Von  H.  Vaihinger. 


Es  sind  nunmehr  gerade  25  Jahre  her,  dass  ich  meine  Thätigkeit  für 
die  Erforschung  der  Kantischen  Philosophie  mit  meinem  Aufsatz  über 
„Eine  Blattversetzung  in  Kants  Prolegomena**  eröffnet  habe  (Philos. 
Monatsh.  1879,  S.  321—332).  Fast  hundert  Jahre  nach  dem  Erscheinen 
der  Prolegomena  wies  ich  nach,  dass  in  der  Einleitung  dieses  vielgelesenen 
Buches  der  Text  nicht  in  Ordnung  sei,  und  dass  ein  beträchtliches  Stück 
dieses  Textes  an  eine  falsche  Stelle  geraten  sei.  Es  handelt  sich  dabei 
im  Text  nicht  um  besonders  schwierige  Dinge,  sondern  um  die  allbekannte 
Einteilung  der  synthetischen  Urteile  in  Erfahrungsurteile,  mathematische 
Urteile  und  metaphysische  Urteile:  ein  Teil  des  Abschnittes  über  die 
mathematischen  Urteile,  sowie  der  ganze  Abschnitt  über  die  metaphysischen 
Urteile  sind  in  den  §  4  hineingeraten,  während  sie  offenbar  an  den  Schluss 
des  §  2  gehören.  Ich  führte  diese  Textverschiebung  auf  eine  „Blattver- 
setznng** zurück,  d.  h.  eine  Verwechslung  der  Blätter  im  Manuskript  Kants. 


640 


H,  Vaihing-er, 


In  einem  zweiten  Aufsatze  (Pbil.  Monatsli.  1Ö79,  S,  513— 532)  wie« 
ich  nach,  dass  jene  Textverschiehiin^  sehr  verhi'ing:nisvülle  Konsequenzen 
in  dem  Streite  zwischen  Kherhard  und  Kant  grehabt  habe,  Eberhard,  der 
sich  zunächst  an  die  Prolegomena  hielt,  musste  auf  Grund  der  verstümmelten 
Darstellung-  zu  einem  ^anz  falschen  Referat  über  Kants  Lehre  vom  svn- 
thetischen  Urteil  ktunmen  :  da  ja  in  §2  nur  empirisclie  und  uiathematischc 
Urteile  als  solche  aufgezfihlt  waren,  i>o  musste  Klïerhard  über  dt*n  syntbe- 
tischeu  Charaktei  der  metaphysischen  Urteile  im  Unklaren  bleiben.  Dies 
rächte  sich:  in  seiner  K^nzen  Kontroverse  mit  Kant  spielte  dieses  Miss- 
verstöndnis  eine  schlimme  Rolle. 

5ÎU  solchen  Missversttinduissen  ist  es  seitdem  in  der  Literatur  nicht 
mehr  gekonunen,  da  maji  ja  doch  für  Kants  Lehre  stet.s  die  Darstellung 
der  Kr.  d.  r.  W  selbst  zu  örunde  legte.  Aber  um  so  merkwiii'diger  bleibt, 
dass  man,  eben  'auf  Grand  dieser  Darsteïhiufc  der  Kr»  d,  n  V..  nicht  jenen 
Fehler  der  Prolepfomena  entdeckte,  der  ja  das  Verständnis  des  Zusammen- 
liang-es  in  den  §§  2  und  4  vollstiindig  unmöglich  macht  und  eine  Reihe 
auffallend  schwerer  Inkoxigruenzen  bervorgfenifen  hat.  Die  Entdecloing' 
jener  Textverschiebnu^  fand  denn  auch  damals  all^enjeine  Anerkennung:» 
und  nur  Johannes  Witte,  damak  nocVi  Frivatdozent  in  Bonn,  beging  die 
Unvorsichtigkeit,  in  zwei  Aufsätzen  in  den  Philos.  Monatsh.  1883,  S.  14ö  — 174 
nnd  597-  614  nicht  bloss  jene  Textverschiehung,  scmdern  sog^ar  jene  in  die 
Augen  springenden  Inkongruenzen  des  Textes  zu  bestreiten*  Es  war  mir 
ein  Leichtes,  Wittes  gilnzIichesUnversliindnis  nachzuweisen  (ib.  S.  401  — 416), 
Der  Name  „Johannes  Witte*'  ist  seitdeui  aus  der  Kaiitliteratur  verschwunden. 

Die  Sache  ist  nun  neuerdings  wieder  zum  Gegenstand  der  Erürteruug 
gemacht  worden,  und  zw^ar  von  Professor  B.  Erdmann  in  Bonn.  Bekannt« 
beb  hat  Prof.  Erdmann  in  der  neuen  Akademieausgahe  ausser  der  Kritik 
d.  r.  V,  auch  die  ProJegimiena  herausgegeben.  In  dieser  monnmentalen 
Ausgabe  hat  Prof.  Erdmann  nirgends,  weder  unmittelbar  im  Text  noch  am 
Schlüsse  in  seinen  eigenen  textkritischen  Anmerkungen,  auf  die  Text- 
Verschiebung  hingewiesen.  Dieses  Schweigen,  das  niclit  bloss  mir  aufge- 
fallen ist,  hat  Prof,  Erdmann  nun  zu  rechtfertigen  gesucht  im  Anhang  zu 
seiner  neuen  Schrift  „Historische  Untersuchnngen  über  Kants  Prolegomena** 
(Halle  a.  S,,  Max  Niemeyer,  imi4). 

Um  Erdmanns  Erörterungen  richtig  würdigen  zu  können,  muss  ich 
zuerst  genau  und  klar  die  verscliiedenen  Gesichtspunkte  unterscheiden, 
um  die  es  sich  bei  der  ganzen  Sache  handelt,  um  jede  Verkennnng  des 
Thatbestandes  unmügUch  zu  machen.  In  meiner  Abbandhmg  aus  dem  Jahre 
1879  sind  folgende  8  Gtsâichtapunkte  zu  unterscheiden  : 

I.  Nachweis,  dass  in  den  §§2  und  4  der  Prolegomena 
schwere  Inkungrueuien  vorhanden  sind.  Diese  bestehen  im  Wesent- 
lichen darin,  dass  in  dem  §  2  die  Einteilung  der  synthetischen  Urteile 
getroffen  werden  soll,  dass  aber  ausser  den  empirischen  nur  die  mathe- 
matischen anfgezählt  sind,  nicht  aber  die  metüphysischen,  und  zweitens 
darin,  dass  in  dem  §  4  die  Abschnitte  2—0  den  Zusammenhang  vollständig 
unterbrechen  und  sich  gar  nicht  organisch  in  den  übrigen  Tenor  des 
Paragraphen  einghed«rn  lassen.  Der  Anfang  des  Absatzes  7  schliesst  mit 
„also"  direkt   an  den  Schluss  des  Absatzes  1  an,  so  dass  eben  die  Absätze 


4 


Zur  Blattversetzung  in  Kants  Prolegomena.    Nachwort.  541 

2 — 6  den  Zosammenhang  zwischen  Abs.  1  und  7  störend  aufheben.  Eine 
Reihe  anderer  Inkonvenienzen,  die  ich  noch  aufdeckte,  mag  ich  hier 
nicht  wiederholen. 

IL  Nachweis,  dass  diese  Inkonvenienzen  durch  eine 
Textverschiebnng  entstanden  sind.  An  jenen  Inkonvenienzen  kann 
man  Anstoss  nehmen,  ohne  sich  nun  klar  zu  machen,  wodurch  sie  ent- 
standen sind.  Ich  habe  aber  zeigen  können,  wie  sie  entstanden  sind, 
nämlich  durch  eine  Textverschiebung.  Alle  jene  Inkonvenienzen 
lösen  sich  vollständig  und  glatt  durch  die  Annahme,  dass  eben  die  Absätze 
2—6  des  §4  gar  nicht  in  denselben  hineingehören,  sondern  in  den  §2; 
dass  also  eine  Textverschiebung  vorliegt.  Die  Absätze  4—6  des  §  4  ent- 
halten gerade  da^enige,  was  wir  in  §  2  vermissen,  nämlich  eben  die  Auf- 
zählung der  metaphysischen  Urteile;  dem  §  2  fehlt  im  hergebrachten 
Text  sein  natürlicher  Schluss,  dieser  ist  eben  in  Abs.  4—6  des  §  4  enthalten. 
Der  Absatz  6  spricht  auch  vom  „Schluss  des  Paragraphen^  ;  nach  der  neuen 
Ordnung  ist  dieser  natürliche  Abschluss  für  §  2  nun  erreicht,  während  in 
dem  §  4  noch  3  Absätze  folgen  auf  jenen  angeblichen  „Schluss^  im  Ab- 
satz 6.  Die  Abschnitte  2  und  3  enthalten  ausserdem  noch  einen  Zusatz 
über  die  synthetische  Natur  der  mathematischen  Urteile,  ebenfalls  in  un- 
mittelbarem Anschluss  an  das  in  §  2  Gesagte.  Die  neue  Anordnung  macht 
also  jene  ehemals  entstandene  Textverschiebung  rückgängig  und  alles  ist 
in  schönster  Ordnung. 

Dass  der  Text  ehemals  verschoben  worden  ist,  also  die  Textver- 
schiebung, ist  zunächst  eine  Annahme,  eine  Hypothese.  Sie  ist  aber 
zur  Sicherheit  geworden  durch  den  Umstand,  dass  Kant  selbst  im  §  4 
Abs.  1  eine  Rückverweisung  macht  auf  „§  2  lit.  c^,  welche  nach  der  bis- 
herigen Anordnung  keinen  Sinn  hat,  sondern  nur  nach  der  neuen.  Die 
Textverschiebung  ist  also  erwiesen,  und  in  dem  sicheren  Nachweis  derselben 
besteht  das  Wesentliche  und  Neue  meiner  Entdeckung. 

III.  Vermutung,  dass  jene  Textverschiebung  durch  eine 
Blattversetcang  entstanden  ist.  Jene  unrichtige  Einstellung  eines 
Textstückes  an  einen  falschen  Platz  muss  nun  irgend  eine  Ursache  gehabt 
haben,  und  zwar  wohl  eine  rein  mechanische,  und  da  lag  am  nächsten  die 
Vermutung,  dass  ein  Blatt  des  Manuskriptes  an  eine  falsche  Stelle  ge- 
raten ist.  Eine  solche  Platzvertauschung  benennen  die  klassischen  Philologen, 
in  deren  Gebiet  solches  öfters  vorgekommen  ist,  mit  dem  terminus  technicu8 
„Blattversetzung*.  Diese  Blattversetzung  kann,  wie  ich  sagte,  entweder 
schon  in  Königsberg  durch  eine  Nachlässigkeit  Kants  oder  seines  Ab- 
schreibers entstanden  sein  oder  auch  erst  in  der  Druckerei.  Die  Annahme 
einer  „Blatt Versetzung^  als  solcher  ist  natürlich  nur  eine  Hypothese,  um 
den  erwiesenen  Thatbestand  der  Textverschiebung  zu  erklären. 

Nach  diesen  Vorbemerkungen  kann  ich  nun  erst  mit  Erfolg  auf 
Erdmanns  neueste  Ausführungen  eingehen.  In  dem  Anhang  zu  der 
obengenannten  Schrift,  S.  122  ff.,  finden  sich  „Orientierende  Bemerkungen 
zu  den  Paragraphen  1 — 5  der  Prolegomena'^.  In  diesen  giebt  nun  Erdmann 
die  Inkongruenzen  vollständig  zu,  und  spricht  ganz  in  demselben 
Sinne  wie  ich  von  den  „Schwierigkeiten**  (122)  und  den  „Dispositions- 
mängeln**  (126,  127)  der  betreffenden  Paragraphen;  er  führt  dieselben  im 


543 


H    Vaihiiiger, 


^nsel&en  auf  und  schreibt:  „Die  hier  vorhandenen  Dispositionsm&ngel 
des  Ulis  vorliegenden  Textes  hiit  Vaihinger  in  allem  Wesentlichen  richtig 
bemerkte  (127J.    Über  diesen  Punkt  besteht  also  keine  Differenz. 

Ebenso  giebt  Erdmann  vollständig  zu,  dass  diese  Inkonvenienien 
alle  dadurch  erklärt  werden,  dass  ein  Stück  des  Textes  ans  §  2  in  §  4 
hineingekummen  ist  ^  also  auch  die  Tex  t  v  erschi  e  hung  wird  von 
ihm  acceptiert.  Er  giebt  zu,  dtiss  es  notwendig  ist,  die  Absätze  4—6  .,dein 
Zusammenhang  des§*J  zuzuweisen,  dem  sie  der  Konzeption  nach  zngehören*- 
(128);  denn  „entsprechend  dem  hierfür  gehingen  en  . ..  Nachweise  Vaihingers 
gehörten  die  Absätze  4—6  des  §  4  ursprünglich  zu  §  2**  (123).  Ebenso 
giebt  Erdmann  zu*  dass  die  Absätze  2  und  H  „gleichfalls  in  engem  Zu- 
sammenhang mit  §  2  stehen"  (128).  Er  giebt  zu,  dass  nnr  der  so  .vervoll 
stândigte  §2^*  (127, 128),  ,,der  ursprüngliche,  vollständige  §  2"  einen  logischen 
Sinn  und  Zusammenhang  giebt.  Er  giebt  zu:  ^Das  Zita,t  [das  Selbstzital 
Kant«  am  Anfang  von  §4,  wo  er  anf  §2  lit.  c  hinweist]  macht  also  un- 
zweifelhaft,  dass  der  Zusammen  bang»  in  dem  diese  Absiltze  jetzt  stehen, 
ursprünglich  dem  g  2  angehört  hfit.  Hier  hört  iii  der  That  die  Hypothese 
anf  und  fängt  die  Gewissheit  an"  fl30).  Erdmann  liat  damit  also  dasjenige 
anerkannt  —  wie  hatte  er  als  Kundiger  auch  anders  können?  —  worin 
eben  das  Wesentliche  meiner  Entdeckung  besteht.  Auch  darüber  besteht 
somit  keine  Differenz. 

Diese  beginnt  erst  mit  dem  dritten  Punkt:  hei  der  Erklürung 
jener  von  ihm  als  tbatstlchlich  acceptierten  Text  Verschiebung,  Und  hier 
unterscheidet  .sich  nun  ß.  Erdmann  von  mir,  indem  er  meine  Hypothese 
einer  mechanischen  Blattversetznng  durch  eine  andere  Hypothese  ersetzen 
will,  durch  die  Annahme,  das.s  jene  Abschnitt-e  2 — 6»  die  aus  §  2  in  §  4 
hineingeraten  sind,  „nicht  zufällig  abgetrennt  wr^rden  sind*'  (123),  sondern 
—  absichtlich  durch  Kant  selbst  jene  Umordnuiig  erfahren  haben:  „Kant 
hat»  gleichviel  vorerst,  aus  welchen  Gründen,  Anlass  genommen,  bei  der 
definitiven  Redaktion  dieser  Aufzeichnungen  das  ui-sprünglich  Zusammen- 
gehörige zu  trennen,  aber  nach  Analogie  anderer  Fälle,  nur  lose  und  nicht 
2u  Gunsten  deutlicher  Disposition**  (127).  Man  erwartet  nun»  die  hier  an- 
gekündigten „Gründe**  zu  erfahren,  aus  denen  Kant  jene  unnatürliche 
Trennung  vorgenommen  hat.  Wo  Erdmann  nachher  davon  spricht,  S.  139, 
erfährt  man  nur  folgendes:  „ Daran fli in  wurde  .  .  .  dem  jetzigen  §  4  die 
was  vorliegende  Fassung  gegeben:  durch  Einschiebung  der  Absätze  2  tind 
S,  durcli  Abtrennung  des  Abschnittes  3  der  Abteilung  cj  von  dem  §  2  und 
deren  Einordnung  als  Absatz  4  —  6  in  diesen  §4**. 

Ich  muss  gestehen^  dass  meinem  Verständnis  des  Verfahrens  Kantâ 
und  eiues  Schriftstellers  überhaupt  damit  zuviel  zugemutet  wird:  ich  kann 
absolut  nicht  verst^hen^  welche  Gründe  Kant  gehabt  haben  mag,  seinen 
Text  in  dieser  Weise  vollständig  zu  verstümmeln  und  zu  verderben.  Man 
mag  noch  so  viele  redaktionelle  nachträgliche  Änderungen  annehmen, 
meine thalb  eine  zweite,  dritte,  vierte  Eedaktitui,  aber  niemals  kann  Kant 
doch  mit  Absicht  jene  Umstellung  vorgenfjmmen  haben.  Erdmann  lie- 
trachtet  es  als  einen  entscheidenden  Grund  gegen  meine  Annahme  einer 
zufälligen,  mechanischen  Blattversetzung,  dass  Kant  bei  Gelegenheit  der 
Ausarbeitung  der  2.  Auflage   der  Kr.  d.  r.  V.  Jenes    „ärgerliche   Versehen** 


1 

■■4 
ll 

i 


Zur  Blattversetzung  in  Kants  Prolegomena.    Nachwort.  54.^ 

hätte  bemerken  müssen  (127);  da  er  es  nun  nicht  korrigiert  habe,  so  könne 
es  auch  kein  ärgerliches  Versehen  sein,  sondern  —  Absicht.  Nim,  ich 
meine,  wir  nehmen  doch  lieber  an,  Kant  habe  jenes  ,,ärgerliche  Versehen", 
welches  doch  meiner  Ansicht  nach  nur  auf  ein  zufälliges  Vertauschen  zweier 
Blätter  zurückzuführen  ist,  das  vielleicht  sogar  erst  in  der  Druckerei  zu 
Stande  kam,  nicht  bemerkt,  als  dass  wir  die  mir  ganz  unbegreiflich 
erscheinende  Annahme  machen,  Kant  selbst  habe  gelegentlich  der  definitiven 
Redaktion  jene  Umstellung  absichtlich  vorgenommen,  die  ja  auch 
dann  ein  ^ärgerliches  Versehen^  bleiben  würde,  das  wir 
heute  corrigieren  müssten.^)  Man  belastet  das  Konto  der  Nachlässigkeit  Kants 
unvergleichlich  viel  mehr,  wenn  man  Erdmanns  Annahme  macht,  als  wenn 
man  meine  Annahme  acceptiert.  Freilich  eine  wichtige  Konsequenz  hat 
die  Annahme  B.  Erdmanns:  seine  Hypothese  berechtigt  ihn  dann  bis  zu 
einem  gewissen  Grade,  in  der  neuen  Akademieausgabe  den  Text  zu  lassen 
wie  er  ist,^)  und  seine  Hypothese  giebt  dann  auch  eine  Art  nachträglicher 
Rechtfertigung  dafür,  dass  Benno  Erdmann  bei  Gelegenheit  seiner  ersten 
Ausgabe  der  Prolegomena  im  Jahre  1878  —  ein  Jahr  vor  meiner  Ent- 
deckung —  die  Textverschiebung  nicht  gefunden  hat:  denn  Kant  hat 
ja  seiner  Meinung  nach  die  jetzige  Textanordnung  absichtlich  gewollt 
Kants  angebliche  Absicht  dabei  kann  freilich  kein  Mensch  verstehen. 

Noch  Eines  ist  in  B.  Erdmanns  neuem  Buch  auffällig.  B.  Erdmann 
erwähnt  die  Angelegenheit,  die  er  im  Anhang  zu  seinem  Buch  behandelt, 
auch  schon  im  Texte  selbst.  Er  sagt  :  „Auf  eine  Reihe  von  Inkongruenzen 
.  .  .  habe  ich  in  der  Einleitung  zu  meiner  Ausgabe  der  Prolegomena  hin- 
gewiesen ;  eine  spezielle  hat  Vaihinger  verwertet,  um  die  Hypothese  einer 
Blattversetzung  in  Kants  Prolegomena  zu  begründen'^  (20).  Diese  Dar- 
stellung könnte  den  Anschein  erwecken,  als  ob  die  von  mir  hervorgehobene 
Inkongruenz  [es  sind  aber  in  Wirklichkeit  viele]  schon  1878  von  B.  Erd- 
mann bemerkt  worden  sei.  Das  ist  aber  nicht  der  Fall  und  dies  will  auch 
Erdmann  nicht  sagen,  wie  er  ja  selbst  S.  127  in  der  schon  oben  S.  542  von 
mir  angeführten  Stelle  zugiebt.  Ausserdem  könnte  diese  Darstellung  den 
Anschein  erwecken,  als  ob  B.  Erdmann  meine  Entdeckung  nicht  anerkennen 

')  Oder  sollte  Erdmann  denn  meinen,  Kant  habe  bei  Gelegenheit  der 
definitiven  Redaktion  jene  Umstellung  zwar  selbst  und  eigenändig  vor- 
genommen, aber  nur  unabsichtlich  ?  Nun,  das  würde  ja  die  denkbar  grösste 
Ungenauigkeit  und  Flüchtigkeit  der  Arbeit  voraussetzen  und  ausserdem 
noch  viel  weniger  als  die  Annahme  einer  absichtlichen  Umgestaltung  die 
Belassung  des  bisherigen  in  Unordnung  geratenen  Textes  rechtfertigen. 

*)  Eine  Erwähnung  der  von  mir  entdeckten  faktischen  Textver- 
schiebung (und  der  zu  ihrer  Erklärung  aufgestellten  Hypothese  einer 
Blattversetzung)  in  den  textkritischen  Anmerkungen  wäre  auch  so  aller- 
dings immer  noch  zur  Orientierung  der  Leser  erforderlich  gewesen.  Ich 
glaube,  dass  die  Leser  der  neuen  Akademieausgabe  doch  ein  Recht  darauf 
haben,  mit  einer  so  wichtigen  Thatsache  bekannt  gemacht  zu  werden, 
durch  welche  in  den  §  2  der  Prolegomena  überhaupt  erst  logischer  Sinn 
hineingebracht,  und  aus  dem  §  4  derselben  Unlogisches  und  Sinnwidriges 
herausgebracht  wird.  Die  Besitzer  der  grossen  Akademieausgabe  werden 
über  (uesen  wichtigen  Umstand  nicht  so  gut  orientiert,  als  die  Besitzer 
der  kleinen  Reklamausgabe,  deren  Herausgeber  Karl  Schulz  auf  die 
Textverschiebung  nicht  bloss  in  der  Einleitung,  sondern  auch  in  einer 
Fussnote  zum  Texte  selbst  aufmerksam  gemacht  hat. 

K*Btitadi«a  IX.  35 


544       H.  Vaiîiin^er,  Zur  Blattvers,  in  ïCunts  Prole^.    Nachwort. 


woUte  —  dies  thut  er  aber  S.  128  ff.,  wie  oben  gezeigt.  Aber  an  dieser 
Stelle,  am  Anfang  seines  Buches  unterscheidet  B  Krdmann  nur  ^Inkon- 
gruenzeïi"  und  „ Blattverset zung**,  lässt  aber  die  Hauptsadie  weg:  die 
Textverschiebung,  und  in  dieser  Auffindung  der  Text  Verschiebung  be* 
steht  ja  das  Wesentliche  und  Wertvolle  meiner  Fititdeckmig,  und  das  hftt 
B.  Erdniann  seihst  anerkennen  müssen. 

Ebenso  missverständlich  ist  eine  andere  Stelle  aus  derselben  Gegend; 
da  heisst  es  S.  !2'i[;l:  aus  dem  Anhang  wird  „erhellen,  dnss  die  von  Vaihinger 
hervorgehobene  Inkonvenienz  in  den  Anfangsparagraphen  nur  eine  von 
vielen  i^t,  so  dass  die  Hypothese  einer  Blattversetzniig  schon  ans  diesem 
Grunde  ihren  Boden  verliert "*.  Auch  hier  fehlt  zwischen  .Inkonveuiena* 
und  trßhitt Versetzung**  die  Hauptsache,  das  mittlere  Glied,  die  Textv 
seh it^* bung,  welche  eben  in  jenem  Anhange  ja  voîi  Krdniiinn  anerka; 
worden  ist,  Nach  der  vorliegenden  Stelle  könnte  es  erscheinen,  als  waren 
jene  Inkimvenienzeu  in  §  '2  und  §  4  gleichwertig  mit  den  anderen  in  den 
Anfangspara^raphen  1  ö  enthaltenen  Inkonvenienzen»  z.  B.  der  ebenfalls 
von  mir  zuerst  hervorgelioheneu  Inkonvenienz,  dass  §4  und  §  5 
gleiche  (/herschrift  ^, Allgemeine  Fntge**  haben.  Aber  diese  und  ähnli 
Inkonven lenzen  erklären  sich  einfach  durch  rasche  Überarbeitung,  wie 
sich  auch  sonst  hei  Autoren  findet,  erfordern  aber  nicht  die  radikale 
nähme  einer  âen  ganzen  Zusammenhang  zerreissenden  Text  Verschiebung, 
die  ja  B.  Rrdmann  seihet  im  Anhang  zusieht,  auf  den  er  hier  verweist. 
Sein  Anhang  gfieht  also  etwas  ganz  Anderes,  als  diese  gänzlich  ab 
lehnende  Vorbemt^rkung  vermuten  lässt  —  nftmliclï  eben  die  A  una  h 
des  Weseutlichen  meiner  Entdeckung, 

Was  B.  Erdmann  wirklicli  einzig  und  allein  bezweifelt,  ist  die  An- 
nahme, da.ss  jene  auch  von  ihm  acceidierte  Textversch  iebung  —  die 
Hauptsache  —  nun  gerade  auf  einer  mechanischen  „Blattversetzung** 
beruhe.  Er  zieht  dafür  jene  schon  genügend  cîiarakterisierte  Annahme 
einer  absichtlichen  Umstellung  durch  Kant  vor.  Dass  aber  jenCi 
B.  Erdmanna  treffenden  Ausdnick  zu  wiederholen,  ^Ärgerliche'*  V« 
Schiebung  mechanisch  und  zufällig  geschehen  sei,  ist  doch  viel  plad? 
sibler;  und  hier  hat  nuu  die  Beobachtung,  welche  Dr.  Sitzler  gemacht 
hat,  dass  die  beiden  vertauschten  Stellen  gerade  je  100  Zeilen  umfassen, 
eine  neue  Hypothese  zur  Erklflrung  jener  Textverschiebung  nahegele, 
die  Annahme  einer  Spaltenvertauschung  resp.  einer  Fahnen  vertausch  ui 
Diese  Hypothese,  welche  ebenfalls  eine  rein  mechanisclie  Entstehung  jei 
Textfeblers  eiuschliesst,  ist  sehr  plausibel,  und  ich  kann  mich  nur  freui 
daâs  meine  Ausführungen  von  1879  naoli  2î*  Jahren  eine  so  willkommene 
Ëf^nKung  erfahren  haben. 


nat**. 


ans 

a3^ 

mg. 
äst. 

ib»     I 


[fl^* 


Recensioneii. 


Christiansen,  Broder.  Erkenntnistheorie  und  Psychologie 
des  Erkenn  ens.    Hanau,  Clauss  u.  Feddersen.     1902.    (IV  u.  48  S.) 

Auf  wenigen  Seiten  von  kleinem  Format  die  Behandlung  eines 
grossen  Problenis  —  das  scheint  gewagt  und  erweckt  vielleicht  ein  un- 
günstiges "Vorurteil.  Liest  man  aber  das  Schriftchen  durch,  so  wird  man 
freudig  überrascht  sein  durch  die  Fülle  des  Inhalts,  die  —  nicht  etwa  nur 
in  Gestalt  geistreicher  Andeutungen,  sondern  —  wenigstens  zumeist  —  in 
wirklich  klarer,  durchsichtiger  Ausführung  darin  niedergelegt  ist.  Christi- 
ansen verfügt  über  eine  bewundernswert  präzise  Art  und  Weise,  sich  aus- 
zusprechen ;  er  kann  kurz  sein,  ohne  undeutlich  zu  werden.  Und  wenn  es 
einer  Rechtfertigung  dessen  bedürfte,  dass  diese  Schrift  —  die  am  Ende 
nicht  so  gar  viel  völlig  Neues  bringt  —  gedruckt  worden  ist,  so  brauchte 
nur  darauf  hingewiesen  zu  werden,  iHe  der  Verf.  das  sagt,  was  auch  von 
anderen  schon  gesagt  ist. 

Die  Arbeit  ist  aus  dem  Freiburger  philosophischen  Seminar  hervor- 
gegangen; ihr  Standpunkt  ist  wesentlich  der  Rickertsche.  Erkenntnis- 
theorie und  Psychologie  werden  also  in  der  Weise  geschieden,  für  die 
Kant  vorbildlich  ist:  alles  That^ächliche  am  Urteil  fällt  der  Psychologie 
anheim,  die  Wahrheit  eines  Urteils  aber  ist  keine  Thatsache,  sie  ist  „kein 
realer  Teil  eines  Urteilsaktes,  auch  keine  Beschaffenheit  oder  thatsächliche 
Eigenschaft  eines  solchen"  (6)  —  die  Wahrheit  der  Urteile  ist  uns  gegeben 
als  Aufgabe,  sie  ist  uns  aufgegeben,  sie  ist  der  Zweck  unseres  Urt^ilens 
(7).  Die  Methode  der  PsychoTog^ie  ist  naturwissenschaftlich,  die  der  Er- 
kenntnistheorie teleologisch.  Diese  Verschiedenheit  der  Methoden  bedingt 
ein  totales  Auseinandertreten  der  Resultate:  die  erkenntnistheoretische 
Analyse  eines  Urteils  führt  zu  wesentlich  anderen  Faktoren  als  die  psy- 
chologische Analyse.  Der  Psychologe  forscht  eben  nach  den  Momenten, 
die  im  Urteil  als  empirischer  Thatsache  aufweisbar  sind,  während  es  der 
Erkenntnistheoretiker  nur  mit  denjenigen  an  den  Urteilen  zu  thun  hat, 
was  nicht  als  Thatsache  betrachtet  werden  kann  (16  ff.).  Der  Psychologe 
sucht  Naturgesetze,  der  Erkenntnistheoretiker  Normen  (21  ff.).  Die  Not- 
wendigkeit der  Urteile  ist  für  den  Psychologen  ein  Müssen,  für  den 
Erkenntnistheoretiker  ein  Sollen.  Jedes  Vrten,  das  ich  thatsächlich  fälle, 
muss  ich  so  fällen,  wie  ich  es  thue  ;  die  teleologische  Notwendigkeit  des 
So  liens  realisiere  ich  jedoch  nur  in  den  u?aÄren  Urteilen,  nur  in  den  Ur- 
teilen, die  der  Aufgabe  des  Urteilens  gerecht  werden.  Falsche  Urteile  sind 
für  die  Erkenntnistheorie  wertlos.  —  na  Zusammenhang  hiermit  entwickelt 
der  Verf.  (24  ff.)  die  Lehre  vom  „Wahrheitsgefühl',  wesentlich  ebenso  wie  sie 
Fichte  vertritt.  Das  Wahrheitsgefühl  ist  das  unmittelbare  Bewusstsein  des 
Wertes  richtiger  Urteile,  ein  unmittelbares  Bewusstsein  davon,  wie  geurteilt 
werden  soll,  welche  Stellungnahme  teleologisch  notwendig  ist.  Mit  der  psy- 
chologischen Notwendigkeit  des  Urteils  hat  das  Wahrheitegefühl  nichte  zu 
thun.  Psychologisch  notwendig  ist  ja  jedes  thatsächlich  gefällte  Urteil. 
.Das  Wahrheitsgeftlhl  dagegen  giebt  an,  wie  geurteilt  werden  soll,  durch 
welche  Art  der  Stellunj^nahme  die  Aufgabe  des  Urteils  erreicht  wird,  es 
ist  ein  Kriterium  richtiger  Urteile;  und  nicht  i'eder Urteilsakt  entepricht 
diesem  Sollen"  (25/6).    Es  ist-  in  dieser  Frage  schwerer  als  irgendwo,   den 

35* 


546 


Recensionen  (Chrigtiansen). 


I 


Seliem  des  Fisychologismiis  za  vermeiden,  and  wie  von  Fichte« 
Darstellungen  mOchte  ich  auch  von  der  des  Verfasi^iri»  bczweÜ 
sie  es  vermag,  dem  , Neukantianer"  von  hetite  die  rnrichtitrkeit  eines 
solchen  Kin  wanden  diïrzutltuii.  Es  wird  immer  wieder  du  Schein  ent^ 
stehen,  ab*  oh  nun  um  richtige  Urteil  nicht  mehr  kdiglich  teleo 
logisch  charakterisiert  wäre  (als  dasjenige  Urteil,  das  seiner  AufjB^be 
eiit*ipricht  —  vvohei  davon  abgesehen  werden  inüj»ste,  oh  wir  imstande 
siod,  uns  von  diesem  Wert  der  Urteile  im  einzelnen  thatsächlichen 
Falle  zu  überzeugen  j,  sondern  da&s  das  richtige  Urleil  auch  einen  Faktor 
hatte,  der  e^  psychologisch  vor  den  anderen  llrfeUen  auszeichnete.  Wo- 
mifr  die  im  Pnnzip  bo  scharf  herausgearbeitete  Grenze  zwischen  Psycho- 
log if  und  Erkenntnistheorie  doch  wieder  flüssig  g<  worden  wäre. 

Cliristi  ft  Ilsen   bespricht    weiterhiu    den  Begriff  des  erkenn  tnistheoi 
tischen  Snlgekts,   den    er    gegen   den    psychologischen  Snbjektsbegriff 

grenzt,  indem  er  zugleich  bemüht  kt,  alle  Metaphysik  fernzuhalten  (28 
as  erkenntnistheoretische  Subjekt  bezeichnet  oiclit  eine  Wirklichkeit,  _ 
ist  .nicht  identisch  mit  dem  Suitjekt,  welches  erkennen  will,  sondern  €« 
ist  das  Subjekt,  zu  dem  dus  Individuum  werden  wilï",  .Es  ist  nicht  gc- 
geben  als  Tliatsache,  sondern  es  ist  aufgegeben  als  Ideal".  Der  Verf. 
wendet  sich  sodunn  zu  den  einzelnen  Formen  der  Erkenntnis  (:^3  ff /.  Die 
Möglichkeit  eiïier  Deduktion  lehnt  er  ab;  dass  wir  gerade  Raum  und 
Zeit,  Dinghaftigkeit  ujid  Kausalität  als  konstitutive  Formen  vorfinden, 
„ist  eine  empiris*che  'I  hatsnche,  welche  der  Psychologe  konstatiert**.  Dass 
ein  solches  Abhängigkt^itsverhilltnis  der  Transscendentiilphilosophie  von 
der  Tnjnssceiidentalpsycliolngie  der  gegeuwilrtigen  historischen  Lage  der 
t'rkeniitnistheoretiscliLn  Forschung  entspricht,  wird  sich  nicht  leugnen 
lassen  ;  bedenklich  aber  scheint  es  mir,  diesen  geschiclitlich  bedingten 
MiKsstand  zum  Prinzip  zn  erheben.  Wer  der  Erkenntnistheorie  eine  selt- 
süindige  Stellung  zuwi-ist,  wird  auch  den  Anspruch  festhalten  müssen, 
dahs  sie  -  mit  Fichte  zu  reden  -  alles  Faktische  in  seine  Genejsis  aufzu- 
lösen habe.  Neben  diesem  stolzen  Wort  kann  sehr  wold  das  bescheidene 
Eingeständnis  stehen,  dass  die  damit  bezeichnete  Anfgalie  ihrer  Liisung 
noch  harrt  —  Sehr  interessant  ist,  wie  Chrisiiansen  das  Verhältnis  der 
apriorischen  Fonnen  zu  den  etnpirisch  gegebenen  Begrifft^n  von  Dinghaftig- 
keit, Kausalität,  Raum  und  Zeit  bestimmt.  Das  in  der  jüngsten  Zeit 
mehrfach  besprochene  Verhältnis  Rickerts  zu  Mach  tritt  hier  in  vollcjr 
Klarht^it  zutage  —  übrigens  ohne  Nennung  der  beiden  Namen,  Doch 
stehe u  die  Maclischen  Wendungen  i,34  fj  kaum  von  ungefähr  an  ihrer 
St^^lle;  auf  den  folgenden  Seiten  wird  dann  die  erkenntnistheoretische 
Bedeutung  der  für  die  Mtiglichkeit  richtiger  Urteile  notwendigen  Formen 
hervorgekelirt,  und  die  von  unserem  »praktischen**  Interesse  abhängigen 
relativ  beharrenden  Komplexe  vorgestellter  Elemente  treten  in  die  Be- 
leuchtung der  Transscendenialphiiosophie.  —  Sehr  gefreut  habe  ich  midi 
über  die  in  einer  Anmerkung  i'^d)  vorgetragene  Theorie,  dass  sowohl  der 
Kategorie  der  Dinghaftigkeit  wie  der  der  Kausalität  zwei  verschiedene 
Bedeutungen  zukommen:  eine  naturwissenschaftliche  und  eine  historische. 
Zu  bedauern  habe  ich  nur,  dass  ich  Christiansens  Schrift  noch  nicht  gelesen 
hatte,  als  mein  Aufsatz  „Kaut  und  lianke*'  im  vorvorigen  Heft  dieser  Zeit- 
schrift gedruckt  wurde:  ich  hätte  dann  nicht  versäumt,  darauf  hinzuweisen, 
dass  ein  Hauptgedanke  der  dort  vertretenen  Kategorienlehre  bereits  aus- 
gesproelien  war,  —  Im  Anschluss  an  Windelbands  Beitrag  zur  Sigwart- 
Festiîcltrift  unterscheidet  der  Verf.  von  den  koustilutiven  Kategorien  die 
reflexiven  (4t  ff.).  Die  reflexiven  Prinzipien  haben  die  Aufgabe,  „das  in 
Form  von  Anschauungen  gegebene  Weltoild  umzusetzen  in  Begriffe";  sie 
verwandeln  die  „mentale  Existenzform  des  Weltbildes".  Diese  Über- 
tragung kann  nicht  absolut  erreicht  werden;  wesentliche  Stücke  der  Ob- 
jekte gehen  bei  dem  Umformungsprozess  verloren.  „Warum  dieses  der 
Fall,  kann  hier  unerürtert  bleiben'*  {4.H):  Diese  Worte  mochten  in  Ricke rts 
Seminar  an  ihrer  Stelle  sein;  ich  glaube  aber,  dass  die  nächstfolgenden 
Auî^fuhrungeTi  drs  Verfassers  nur  von  einem  Leser  verstanden  werden,  der 


Recensionen  (Riehl).  547 

die  „Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildunç"  kennt.  Doch 
will  ich  hervorheben,  dass  dies  auch  die  einzige  Stelle  ist,  an  der  allzu 
knappe  Fassung  der  Deutlichkeit  schadet.  —  Infolge  davon  nun,  dass  die 
Begriffe  nicht  imstande  sind,  die  TotalitÄt  des  Anschaulichen  zu  erschöpfen, 
wira  das  ideale  Weltbild  „zu  einer  Idee  im  Sinne  Kants,  zu  einer  Idee 
aber,  der  wir  uns  nicht  einmal  in  vollem  Sinne  annähern  können,  denn 
jede  Annäherung  in  der  einen  Richtung  bedingt  in  anderer  Richtung  eine 
Entfernung  *  (44).  Diese  erkenntnistheoretische  Idee  der  absolut  identischen 
Wirklichkeit  dient  als  Massstab  zur  Abschätzung  des  Werte«  der  verschie- 
denen Wirklichkeitssysteme,  wie  sie  das  praktische  Leben  und  die  Wissen- 
schaften ausbilden.  Die  Psychologie  hingegen  kommt  auch  hier  nicht  über 
das  Thatsächliche  hinaus  :  ihre  Sache  ist  es,  die  faktische  Herausgestaltung 
jener  verschiedenen  Systeme  zu  erklären.  Worin  sich  aber  z.  B.  das  Welt- 
bild der  Naturwissenschaften  vor  dem  des  gewöhnlichen  Lebens  auszeichnet 
und  worin  es  andrerseits  hinter  diesem  zurücksteht:  das  zu  beurteilen  ist 
die  philosophische,  die  erkenntnistheoretische  Aufgabe. 

So  ist  es  ein  grosses  Stück  Wegs,  das  uns  der  Verf  in  Eilmärschen 
zurücklegen  lässt.  Aber  überall  hat  man  den  Eindruck,  dass  er  uns  den- 
selben Weg  auch  langsam  führen  könnte,  dass  er  auch  die  Details  sehr 
genau  kennt,  die  er  nur  streift  oder  verschweigt.  Das  Schriftchen  verrät, 
dass  es  ans  geistiger  Konzentration  heraus  geschrieben  ist,  dass  es  einem 
ernsten  und  —  bei  aller  Anlehnung  an  Rickert  —  selbständigen  Denken 
entstammt. 

Halle  a.  S.  Fritz  Medicus. 

Riehl,  Alois.  Zur  Einführung  in  die  Philosophie  der 
Gegenwart.    Acht  Vorträge.    Leipzig  1903.    (258  S.) 

Diese  Vorträge  „sollen  mehr  anregen  als  belehren:  sie  sollen  der 
Philosophie  unter  den  wissenschaftlich  Gebildeten  neue  Freunde  gewinnen 
und  zum  Verständnis  der  philosophischen  Bestrebungen  der  Gegenwart 
beitragen".  (Vorwort.)  Mit  diesen  Worten  bezeichnet  der  Verfasser  des 
,Philosophischen  Kritizismus'  den  Zweck  seines  Buches,  welches  unserer 
Ansicht  nach  sowohl  belehrend  wie  anregend  wirkt.  Die  Aufgabe,  welche 
sich  Riehl  gestellt  hat,  den  Rapport  zwischen  Wissenschaft  und  Philoso- 
phie darzustellen,  scheint  uns  in  vortrefflicher  Weise  gelöst  zu  sein. 

Um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts,  sagt  Riehl,  konnte  das 
Wort  fallen  :  „die  Geschichte  der  Philosophie  sei  e^en  selbst  die  Wissen- 
schaft der  Philosophie,  ein  Wort,  das  wohl  jener  augenblicklichen  Lage 
der  Philosophie  angemessen  war,  ihr  aber  im  Grunde,  Leben  und  Zukunft 
abspricht**.  S.  1.  Heute  aber  hat  sich  die  Lage  geändert,  zum  Glück  so- 
wonl  der  Naturwissenschaft  wie  der  Philosophie.  Bedeutende  Natur- 
forscher, vor  allem  He  Im  hol  tz,  haben  sich  in  den  letzten  fünfzig  Jahren 
mehr  und  mehr  mit  Problemen  der  Erkenntnistheorie  beschäftigt  und  die 
Grundlage  der  wissenschaftlichen  Methodik  von  neuem  untersucht  Durch 
die  Entdeckung  Robert  Mayers,  Von  dem  unten  die  Rede  sein  wird, 
ist  „der  grösste  Fortschritt  der  allgemeinen  Wissenschaftslehre  seit  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft"  gemacht  worden,  und  dadurch  eine  neue 
Epoche  der  philosophischen  Forschung  eröffnet.  —  Nun  unterschätzt 
Riehl  keineswegs  die  Bedeutung  der  grossen  Arbeiten  der  Historiker 
der  Philosophie.  Um  die  Frage  nach  dem  Wesen  und  Zwecke  der  Philo- 
sophie zu  beantworten  —  denn  „das  erste  philosophische  Problem  ist  heute 
die  Philosophie  selbst  als  Problem"  —  sei  eine  geschichtliche  Betrachtung 
nicht  nur  von  Nutzen,  sondern  geradezu  unentbehrlich,  um  zu  erkennen, 
was  Philosophie  sei  und  bedeute.  Denn  „die  Geschichte  der  Philosopliie 
ist  die  Geschichte  der  Entwickelung  und  Verwandlung  des  Begriffs  der 
Philosophie".  (S.  6.  Im  ersten  Kapitel,  welches  eine  kurze  einleitende, 
dem  Zwecke  des  Buches  gut  entsprechende  Skizze  des  Verhältnisses  der 
Philosophie  zur  Wissenschaft  im  Altertuuie,  enthält,  werden  die  haupt- 
sächlichsten Ergebnisse  der  Schrift  vorange«chickt,  „nicht  als  Sätze,  woran 


nmnen 


tteglaubi   werdet!  soll,  sondern   als  Zielpankte,   wahin   die   UnteTsuchtnig 

ftliren  tnriehfe^.     S.  6. 

Wie    «lifirc'inein    anerkannt,  gal»  va  im  Alierttime  kehre  WiRsenscl 
ausser  d^r  Philosophie:    nnd  sie  hÜehin  liis  zu  Uescaiies  unirefrennt. 
der  .Schr>pfunp'  der  modernen  WisKeriM-liiift  aber    begann    sich  das  Verhi 
nis    beider    anders   z«    p^estaJlen.      Die   neue  Wissenschaft  scheint  die  aU 
Phik»iiophie    ersetzt    zu    haben:    diese    erfährt    ihre    Fi*rltietx«np   iti  jeni 
Damit    entwickelte    sich  für  die  theoretische  Phih»M>phie  eine  bedeuliir 
volle  Fra^e,  ob  e«  noch  ne!>en  der  positiven  Wissenschiift  und  verschied 
von  dieser  eine  Wissenschaft  lit- he  Phih»sophie  gehe?    Giebt  es  eine  solch 
so    ^darf   i^ie    nicht    hinter   dem    Mnsse,    das    wir   ï^eit  Giililei  an  wisse 
schaftliche    Erkenntnis    tinznlegen     ^^elenit    haben,   zurückbleiben**. 
PhiloKi>phie    nubste    Kinzelwissenîsciiaft    hein,    sie   stünde  s<ini>t  an  8tren|j 
hinter    den    übrigen    Wissenscimtten    zurürk,    nnd  sie  müsst^  zn^leich 
jjrmeinwisi.senschaft  sein  können,  sonst  wîire  sie  nicht — Philosophie**.  SJ 

Wie    soll    nun  dies  sclieinhare  Diltmmsi  gehest  werden?     Giiben 
die  Phihisophie    für   die  Gesamtheit    der  positiven  Wisseiischafleii  aus» 
kiknien    wir.   sagt   Riehl,    „zu  dem  wunderlichen  ResnltHle,   das»  es  i.\ 
eine  Phih>sopliie   giebt,   aber  keinen  Pliilosophen  ^ehen  kann**      Wir  wi 
den  entweder  ein    bhisses  Wörterh:ich   von  wissenschaftlichm   Kenntnis>s 
besitzen,  oder,  mis  mit  jener  Spencerschen  „Einsmachnng**  der  W'issenscbi 
b**jfnü^nMj    müssen,    die   bekanntlich   nur   dys   Allgemeinste   von    Uinen 
eine  Kointel  bringt,  vermfige  ganz   oherflFuhlicher  Aniilogieen  und  Gleifl 
niNse,     !îie  Lösiiitg    dieser    Schwierigkeit    ergiebt    sich    aber   ans  der  Efl 
wickelttng    der    positiven  Wis*ienschaften    selber,   ans  welcher  ein  Pruhle 
liervoriregangen  ist,  deren  Bedeutung  erst  in  der  neueren  Zeit  vollständ 
begriffen    wird,    nemlich  :    die    Priifung   der  Grundlagen  der  Wis^enscha 
ntid  die  Krage  nach  deren  Bedeutung,  Umfang  mid  Voraussetzungen.     Di^ 
int    ilf*r  Gegenstand   der  vom  Verfasser  verlretenen  kritischen  Philosophie. 
DriÄ  „riilersnchungsgebiet    der  Pliilosophie    ist    die   Erkenntnis    selbst, 
Gegenshuid  iler  Begriff  des  Wis^sens  :  die  Erfahrung,  nicht  die  Krfahningc 
Die   PhihiHopliie,  soweit  sie  Wissenschaft  ist,  ist   Wissenschaftslehre**,  SJ 
Erst  in  der  Epoche,  die  mit  Locke  beginnt,  hat  die  theoretische  Pbiku 
idiie    ihr    walires    Ziel    und  eigentümliches  Untersuch ungsgebiet    entdec 
Neben    dieser  Kritik    der  Erkennt  nisq  ne  lien    bat    aber    die  Philosophie 
tîeiwtfsftihrnng    eine    praktische  Aufgabe      Sie    hat    nicht  minder  die 
blenie    der    Lebensanschanung,    die  Wert  problème,    zu  untersuchen  und 
b«s«timmen.     Dieser  , doppelte  Beruf'  der  Philosophie  soll  in  der  Person  lie 
küit    iU^s  Pliilosophen    vereinigt    sein.     D<'r    wahre  Philosoph    ist    „Ge 
gfiber  der  Vernunft  und  ein  Lehrer  im  Ideal**.    S.  24.  _ 

Ein  eîitschiedener  Wendepunkt  in  der  Geschichte  der  Philosophie 
Ifit  mit  der  Lehre  von  Köpern icus  und  der  Schöpfung  der  modernen 
WliiNenschrtft  durch  Kepler  und  Galilei  eingetreten.  Wir  rnüs^^en  sogar 
hnnli'  nach  dem  Vorgang  Hobhes,  die  neuere  Philosophie  mit  Ko  pern  i- 
vnn,  der  „einen  neuen  Stern  entdeckt*'  und  ^die  Erde  in  den  Himmel 
Vf«riietz  haP*.  und  fügen  wnr  hinzu»  mit  dem  Philosophen  der  modernen 
Ki*i»rmih»gio  Giordano  Bruno,  statt  mit  Descartes,  beginnen.  Ni 
fUr  *hiN  erste  Mal  erfährt  Bruno  eine  richtige  Schätzung  seitens  Rieh! 
N ritt' n  K  o p e  r u  i c u s  und  B r u u  o  stellen  wir  auch  Galilei,  dessen  ^[4 
tliofJe  eine  „Revolution  der  wissenschaftlichen  Deiikart*'  herbeigeführt  hat. 
Drf  Bi^grllnder  der  modernen  Physik  ist  zugleich  der  Begründer  der  mo- 
ileHK  n  indukliotislehre.  Diese  von  Rieh!  sehr  schön  charakterisierte  In- 
diddjon  imd  Deduktion.  Experiment  und  Denken  in  sich  vereinigende 
Mi'lhodi'.  hat  die  „antike  Naturphilosop^hie  för  immer  durch  die  moderne, 
die  NiéhirwiHutvnschaft  ersetzP^.  S.  34.  Mehr  und  mehr  bricht  die  Meinung 
diMrh  diiHK  ciiewe  Methode  von  grundlegender  Bedeutung  und  von  allen 
iitithmiii  li'iirKcheni  entweder  hewusst  oder  unbewusst  gefolgt  sei;  während 
hliu*  y**'il  ihi^  Fiedeutuug  Francis  Bacon,  der  Vertreter  einer  hilflosen 
m^il  Uli  ub/UNcldieNHenden  Empirie,  fiir  die  Entwickehmg  der  Wissenschaft* 
^ül^pM  MtTlhodik  gun»  überschätzt  wurde.  " 


Recensionen  (Riehl).  549 

Bezüglich  Descartes  ist  nach  Rieb  I  das  Hauptgewicht  auf  seine 
wissenschaftliche  Thätigkeit  und  physikalischen  Forschungen  zu  legen. 
Für  diese  allein  nahm  er  objektive  Gültigkeit  in  Anspruch;  die  von  ihm 
gefundene,  leider  /u  wenig  Gewicht  auf  Verifikation  legende  Methode, 
sollte  Viekanntlich  zur  Verbesserung  der  Medizin  dienen  Seine  metaphy- 
sische Betrachtungen,  hat  er  dagegen  keineswegs  sehr  hoch  geschätzt. 
Leider  hat  sich  Descartes  keineswegs  von  Scholasticismui»  frei  gemacht. 
Der  Gedanke,  dass  nur  da«  Mathematische  an  sich  wirklich  ist,  zeigt,  wie 
Riehl  bemerkt,  einen  Überrest  des  mittelalterlichen  Begriffsrealismus, 
welchen  die  Begreiflich keit  zum  Masse  der  Wirklichkeit  der  Dinge  statt 
zum  Masse  ihrer  Erkennbarkeit  machen  will.  Der  klassische  Vertreter 
dieser  Anschauung  ist  natürlich  Spinoza,  dessen  geometrische  Methode 
ein  Reflex  der  mathematisch-mechanischen  Wissenschaft  seiner  Zeit  ist. 
Spinoza,  und  nicht  Kant,  sagft  Riehl  mit  Recht,  ist  „der  Vater  der 
deutschen  idealistischen  Spekulation,  deren  wesentlichste  Ideen  eine  Nach- 
bildung, öft«r  auch  eine  Abschwächung  Spinozistischer  Gedanken  sind". 
S.  51.  In  einer  gewissen  neo-scholastischen  Richtung  der  Gegenwart, 
welche  in  England  von  Oxford  ausgegangen  ist,  sehen  wir  einer  Rückkehr 
zu  und  sehr  rohe  Berührung  mit  dem  Gedankenkreis  dieses  Mustertypus 
der  dogmatischen  Metaphysik.  — 

„Weniger  glanzvoll  sagt  Riehl  als  die  moderne  Wissenschaft  und  die 
ihrer  Bahn  folgenden  philosophischen  Systeme  hat  sich  die  kritische  Phi- 
losophie, wie  wir  sie  nach  dem  Vorgang  Kants  nennen,  in  die  Geschichte 
eingeführt.  Ihre  Fragen  sind  nicht  geeignet,  Sinn  und  Einbildungskraft 
gefangen  zu  nehmen.  .  .  .  Diese  Philosophie  verheisst  uns  weder,  uns  in 
die  weiten  kosmischen  Räume  zu  führen,  noch  uns  einen  Einblick  in  das 
Wesen  der  Natur  zu  eröffnen".  „Die  sokratische  Weisheit  des  Nicht- 
wissens, in  Fragen,  die  den  Umkreis  der  Erfahrung  tiberschreiten,  ist  ihre 
Maxime^.  S.  52.  „Mit  einem  Worte,  sie  hat  es  aufgegeben,  metaphysisch 
zu  sein  und  hinter  den  Dingen  Dinge  zu  suchen".  Diese  Philosophie  hat 
vor  allem  die  Bedeutung  der  Wahrnehmung  in  dem  Erkenntnissyst^me  zu 
bestimmen  und  die  fundamentalsten  Erfahrungsprinzipien  aufzustellen  und 
zu  begründen. 

Bei  der  Beantwortung  der  ersten  Fragen  begegnet  uns  die  Lehre 
von  den  primären  und  sekundären  Qualitäten  und  das  ihr  physiologisch 
gleichbedeutende  Dogma  von  den  spezifischen  Sinnesenergieen,  welches 
rar  gewisse  Forscher  beinahe  die  Geltung  eines  Glaubensatzes  erlangt  hat. 
Eine  kurze  eindringende  Kritik  dieser  Lehre  (S.  61 — 65)  zeigt,  dass  ein 
hervorragender  Vertreter  derselben,  Helmhol tz,  sie  in  einer  Richtung 
entwickelt  hat,  die  zur  Modifizierung  der  Mutterlehre  führen  muss;  femer, 
dass  eine  übertreibende  Bedeutung  der  l^hatsache  der  anomalen  Erregung 
zugeschrieben  wird,  derzufolge  die  adaequate  Reizung  durch  die  Annahme 
erklärt  wird,  was  eine  Umkehrung  einer  Maxime  der  wissenschaftlichen 
Methode  bildet  :  „die  Ausnahme  vielmehr  aus  ihren  besonderen  Umständen 
zu  erklären".  Nun  ist  es  gar  nicht  verwunderlich,  dass  „ein  Organ  auf 
ungewöhnliche  Reize  hin  in  der  gewohnten  und  durch  seine  ganze  Ent- 
wickelungsgcschichte  befestigten  Weise  reagiert";  ausserdem  sei  eine  ano- 
mal erregte  Empfindung  für  das  Bewusstsein  „keineswegs  völlig  gleich 
einer  normal  erregten;  wir  empfinden  deutlich,  dass  sie  erzwungen  ist". 
S.  6B  Endhch  ergiebt  sich  ein  allgemein  biologischer  Einwand  gegen 
„die  Annahme  des  ausschliesslichen  Ursprungs  der  Modalitäten  aus  den 
Sinnesnerven",  aus  dem  Umstand,  dass  der  Sinnesapparat  selbst  einen  Teil 
der  objektiven  Welt  bildet,  und  „wenn  diese  wirklich  an  sich  nur  aus 
Masse  und  Bewegung  entstehen  soll",  so  kann  das  Sinnesorgan  „nicht 
ausserdem  noch  spezifische  Wirkungen  hervorbringen,  es  müsste  sie  denn 
aus  nichts  erzeugen".  S.  64.  So  kam  die  Lehre  von  den  spezifischen 
Sinnesenergieen  unmöglich  im  Dienste  der  mechanischen  Hypothese  ge- 
braucht werden.  „Die  Empfindung  stellt  sich  uns  als  die  vollendete  Ent- 
wickelung  der  Beschaffenheit  der  Reize  dar;  sie  ist  durch  die  Beschaffen- 
heit der  Sinne  mitbestimmt,  aber  nicht  durch  diese  allein  erzeugt".   S.  66. 


Rerensionen  (Rieljî). 


Uehi 


Die  toteressante,  ttnd  für  eine  realistische  Weltauffa^snng  wichtig 
wie  viel  vom  Empfind iinpn^inlial^e  der  Beschaffenheit  des  Sidik 
wie  viel  der  Beschaffenheit  des  Heize«;  zu7,UÄch reiben  ist,  wird  von 

nicht  beantwort-et. 

Hierauf  folgt  eine   eingehende  ßetrachtnng   ober  die  Prinasipien  der 
Erfahrung,  vermöge    welcher  ein  Zusjimmenhang  unter  unseren  Wahmeh- 
mucgen  geatiftet  wird,  die  GnmdsÄtze  der  SuVi«itanÄ  und  Kau&alitàt,  wobei 
die  Beitiige  Lockes,  Hnmes,  Kant»  und  Robert  Mayers    in  vorzûç- 
lieh    klarer  Weise    auseinandergesetzt  und  verglichen  werden      Weder  d"' 
psychologisch  genetische  (, piain  historical  method')  Methode  Locke»,  m 
die    biologische  Erkenntnistheorie  Hume$     die   eine    originelle  Neuerui 
in  der  Gegenwart  erlebt  hat,  nemlich  in  der, Kritik  der  reinen  Erfalirun, 
^welche    <ße  Vernunft  durch  die  reine  Erfahrung  wegkritisieren  will*), 
im  Stande,  das  Erktnntnisproblera    zu    lösen.     Die  Grenzen  und  SchwÄchi 
der  Ltickeschen  Methode    leuchten  am  bellen  bei  seiner  Unt€f>ucliung  d 
Subiîtanzbegriffs   ein*    S,  83     Das    von  Locke    berührte  Problem  &ei  ifi 
durch   Kant    gelilst^   der   einen    metaphi^iÄchen   in   einen  fonnallogifschei 
Begriff  verwandelt  habe.     Es  bedeute  den  wesentlichsten  Fortschritr  üb( 
Locke  hinaus,  dass  Hume  ^in  der  Erfalirunp  ein  Problem  sah,  nicht  ei 
Losung*"      nAnf   den  Boden    der  Erfahrauggphilosophie  selbst  da»  Probl 
der  Erifahnmg  gestellt  zu  haben,  ist  das  Verdienst  Humes  und  bezeichn 
seinen  Platz    in    der  Geschichte  der  Philosophie**.    S.  87.    Riehl  bemerl 
auch  sehr  rieht i«^,  dass:  ^Erfahrung  bei  Hume  nicht  blosse  Wahniebmunj 
oder    reine  Erfahrung    bedeutet,    sondern  Erueitenmç   der  Wjhniehmuni 
durch  Folgerung  auf  eine  mit  ihr  verknüpfte,   aber  niclit  walirgenommeni 
Thataache;  das  Primup  dieser  Folgerung  und  eb«n  damit  der  „ïlrf abrangt 
ist  die  KaiLsalitAt'«.    S.  97 

Es  sei  nun,  meint  Riehl,  gegen  Hume  geltend  zu  machen,  ersten 
daas  er  überall  voraussetzte,  dass  die  Sinneseindrücke  oder  Impressionei 
an  sich  selbst  Objekte  seien**,  die  Folge  unserer  Impressionen  mithin  die 
Folge  der  Objekte  selbst**;  zweitens,  dass  er  niemals  zu  zeigen  vermochte, 
wie  die  Erfahningsobjekte  notwendig  mit  den  Prinzipien  der  Erfahrung 
übereinkommen  müssen.  Diese  gnindlegende  Frage,  betreffs  der  Begriffe 
und  Grundsätze  der  Erkenntnis  und  der  Realität  ihrer  Verbindungen  in 
der  Erfalimiiç  soll  erst  Kant  in  befriedigender  Weise  gelöst  haben  und 
damit  auch  die  Frage:  ^wie  werden  gegebene  Gegenstände  zu  erkannten 
Gegenständen?*'  beantwortet  S.  112  114,  Eiu  gutes  Beispiel,  welchem 
zeigt,  wie  „die  Aufeinanderfolge  der  Wahrnehmungen  die  umgekehrte  ist 
von  der  Aufeinanderfolge  der  objektiven  Vorgänge**,  kann  als  eine  in- 
staniio  crue  is  gegen  Humes  kausalitâtaauff  aasung  angesehen  werden. 
S.  IIB. 

Kant  „leitet  die  Erfahning  von  der  Voraussetzung  eines  beharrlich 
Daseins  ab**.  Dabei  soll  er  nach  Rielil  nicht  nur  gezeigt  haben,  d; 
ohne  die  Grundsätze  der  Beharrlichkeit  und  Kausalität  aJs  objektiv  pültij 
vorauszusetzen,  Wissenschaft  unmöglich  wäre,  sondern  dass  „ohne  sie  "' 
fahrung,  mithin  das  Objekt  der  Wissenschaft  nicht  möglich  ist".  S. 
M  aber  diese  feine  Fnterscheidung  von  grosser  Bedeutung?  Sind  nicht 
^Objekt  der  Wissenschaft"  und  „mögliche  Krf  ah  rung"  nach  Kant  ein  und 
dasselbe?  Riehl  lehnt  es  ab,  diese Erfahrungsgrundsätze  als  Postulat«  d\ 
Erfahnmg  anzusehen.  Die  Möglichkeit  der  Erfahnmg  aber  scheint  u 
zweifellos  postuliert.  Es  ist  eine  Thatsache,  keine  Notwendigkeit,  di 
wir  zur  Erfahrung  im  Sinne  Kants  gelangen  können;  daher  wird 
zweifelhaft,  ob  Kant  wirklich  den  Grund  des  glücklichen  Zusammen* 
treffens  der  That«iachen  mit  den  Forderungen  unseres  Geistes  aufgedeckt 
habe,  oder  ob  dies  überhaupt  ohne  eine  metaphysische  Hypothese  zu 
erklären  sei  ?  Zugegeben  aber,  dass  Kant  zuerst  nachwies,  da.ss  die  Grund- 
sätze der  Beharrlichkeit  und  Kausalität  als  unentbehrliche  Erfahnings- 
Srinzipien  notwendig  zusammengehören,  so  hat  Robert  Mayer  erst  bei 
er  Aufstellung  des  umfassenden  Naturgesetzes  von  der  Erhaltung  der 
Energie   gezeigt,   wie   sie  sich  gegenseitig  bedingen^   wie   das  Substanz- 


md 

i 


Recensionen  (Riehl  .  551 

prinsip  im  Kausalprinzip  enthalten  und  wie  beide  zur  notwendigen  Ein- 
heit in  der  Erfahrung  verbunden  werden  können  und  müssen.  iV.  Vortrapf 
S.  144.)  Durch  das  neue  ßand  der  ursächlichen  Verknüpfung:,  die  Grössen - 
identit&t  der  Veränderungen,  wird  das  Kausalprinzip  zum  Konstanzprinzip 
der  Veränderungen  erhoben. 

Das  Erhaltungsprinzip  der  Energie  hat  sich  heutzutage  zu  einer 
»energe tischen'  Naturauffassung  entwickelt,  die  femer  zum  wissenschaft" 
Uchen  Monismus  geführt  hat,  welcher  den  Dualismus  zwischen  Materie  und 
Energie  dadurch  beseitigen  will,  dass  er  den  Massenbegriff  eliminiert  und 
damit  auch  den  wissenschaftlichen  Materialismus  tiberwinden  zu  können 
meint.  Dagegen  zeigt  Riehl,  dass  dies  nur  scheinbar  geleistet  sei.  denn 
in  den  Kapazitäten  der  Energie,  die  von  den  ntensitäten  unterscliieden 
werden,  „steckt  der  empirische  Begriff  der  Materie  und  .statt  diesen  Be- 
griff wirklich  eleminieren  zu  können,  hat  die  Energetik  ihn  nur  anders 
benannt.  Mag  die  Materie  immerhin  ein  Abstraktum  sein,  darum  ist  sie 
noch  kein  blosses  Gedankending**.  „Wir  werden  die  Materie  nicht  los,  wie 
wir  den  Raum  nicht  los  werden,  ...  so  real  wie  der  Unterschied  von 
Raum  und  Zeit,  so  re^il  ist  auch  der  Unterschied  von  Materie  und  Ener- 
gie". S.  149.  Indem  Ostwald  die  Energie,  die  selbst  ein  Abstraktum 
ist,  zu  dem  ,Alleinwirklichen*  gemacht,  hat  sich  in  den  treffenden  Worten 
Riehls  „der  empirische  Begriff  Energie  in  einen  metaphysischen,  der 
Grössenbegriff  in  einen  Wesensbegriff  umgewandelt**.  Ist  die  Materie 
^Erscheinung*  der  Energie,  so  muss  die  Energie  „das  Ding-an-sich  der 
Materie  sein".    S.  149. 

Es  giebt  nun  einen  tiefergehenden  Dualismus  als  deijenige  zwischen 
Materie  und  Energ[ie,  nämlich  denjenigen  zwischen  Seele  und  Leib,  den 
aber  dieser  dogmatische,  naturphilosophische  Monismus  nicht  zu  lösen  ver- 
mag. Er  kann  in  der  That  nur  auf  kritischem  Standpunkt  gelöst  werden, 
für  welchen  weder  Materie  (und  Energie)  noch  Geist  Dinge-an-sich  sind, 
sondern  Erscheinungen.  Die  einschlägigen  Betrachtungen,  welche  zur 
Lösung  dieser  Frage  schon  im  Hauptwerke  des  Verfassers  enthalten  sind, 
scheinen  uns  immer  unter  den  abgeklärtesten  über  diesen  Gegenstand  und 
sind  ohne  Zweifel  von  anderen  Forschem  benutzt  worden.  Sie  werden, 
wie  ich  glaube,  durch  die  Kritik  Busses  in  „Leib  und  Seele",  Teil  II, 
Erster  Abschnitt,  Kap.  1  (S.  110—118)  und  Kap.  3  (S.  255—286,  34  i-  345) 
nicht  getroffen.  Die  von  Riehl  vertretene  Identitätsauffassung  führt 
weder  zur  Allbeseelungslehre  noch  zum  Epiphänomenalismus.  Der  Pan- 
psychismns,  der  einen  missverstandenen  Spinozismus  darstellt,  muss  in  der 
That,  wie  Riehl  sagt,  mehr  behaupten, als  er  wissen  kann,  nämlich,  „dass 
Bewnsstsein  nicht  entstanden  sein  kann,  während  es  in  jedem  Augenblicke 
neu  entstehend  ist".  S.  161.  Schon  die  Thatsache,  dass  es  eine  Schwelle 
des  Bewusst«eins  giebt,  spricht  gegen  denselben.  Gegen  den  Versuch,  das 
Psychische  als  Energieform  aufzufassen,  und  demgeinäss  den  Begriff  der 
geistigen  Energie  einzuführen,  wird,  ausser  logischen  Gründen,  ein  Phänomen 
angefahrt,  das  vielleicht  als  ein  experimentum  crucis  zu  betrachten 
ist.  Es  verschwindet  nämlich  nicht  Energie,  wenn  Bewusstsein  entsteht, 
noch  entsteht  Energie,  wenn  Bewusstsein  verschwindet,  sondern  wie  das 
Experiment  Mossos  zeigt,  wird  die  Energie  des  chemischen  Umsatzes  im 
Gehirn  gesteigert,  wenn  wir  geistig  thätig  sind  S.  158.  Sind  aber  der 
cerebrale  Vorgang  und  das  ihm  correspondierende  BewusstBeinsphänomen 
simultan  oder  successiv?  Diese  wichtige  empirische  Frage  ist  bis  jetzt  zu 
wenig  untersucht  worden. 

Der  sechste  Vortrag  über  Wertprobleme  führt  ins  Gebiet  der  prak- 
tischen Philosophie  ein.  Obwohl  die  Kunst  Werte  schafft,  so  sei  doch, 
meint  Riehl,  aer  Wertbegriff  vor  allem  in  der  Ethik,  welche  nach  ihm 
von  der  Moralwissenschaft  zu  unterscheiden  ist,  zu  Hause.  ., Werte  er- 
schaffen heisst  nicht  Werte  erfinden  oder  beliebig  ersinnen";  sondern  wie 
schön  ausgeführt  wird,  ,, Werte  werden  nicht  anders  geschaffen,  als  wissen- 
schaftliche Erkenntnisse  geschaffen  werden:  man  erfindet  sie  nicht,  sie 
werden   entdeckt".    S.  176.    Ein  solcher  Entdecker  sei  vor  allem  Sokra- 


5a2 


pnsionen  ♦Riehl). 


tps,    ^der   pliiJa$:«»piKche  Gcîiiiis**   seiner   Zeit,    und    der   als  Beispiel   ech( 

Philosoph  IM"  htT    Lihensführiiniff    freiten    dürfe.     Seine  Lehre  sei  nicht  xnW 
iütfltidi^  /AI  verMeheii  uhne  Berück«ichtitrting'  sein t-.s  T( »des,  der  Üire  höclistc 
HesUiti^^MHi^^  l»dde.     Ihi«  von  Rieht  mit  Eindruck  und  lebhafter  Teilnahme 
diirjçestellte  Hitischeideii  des  Philosophen  wider^preclie,  meint  er»  der  AufJ 
fahttiuiif  d«-r  Kthik  So k  rate»,  als  NlltzlichkeitsmoraL    S,  188,  189.    Nac! 
dem   gpy.eijrt   worden,    dms  Sokratische  nnd  Platonische  Gedanken  wiede 
in  der  Kantischrn  Ethik  hervortreten,  bemerkt  Rie  hl,   duss  die  Postulate 
clf^r  ^irakttscïien  Vernimft  wedf*r  seihst  Realitäten  sein  kOniien,  noch  krmnen 
FieHlitfiteii    (ïureji    sir    hctrniiuiet   werden.     ^Der  Wille  ijeht  nicht  von  der 
Freiheit    (der  tînindlfif^é'    der  Ethik  K  a  ji  t  s   ans)   als  von  einem  nrspninjî- 
lii'hen  B.  Sitze  ;ius,  i.'r  führt  /nr  Freiht-it  Jiin,    er  befindet  sich  zu  ihr,    mü- 
thematisch    treredet,    in    iisymptotiNcher  Annätheriinßr^\     Der   vielfach    missel 
versUmdetie  kate^forische  linper^itiv,  der  leider  zuweilen  als  etwas  Befehb?*! 
hahrrisches  anf^ewlellt  wird,    ^(]iis  sich  auf  Gründe  nicht  eiijlü«8t,   E^undem] 
hcliweit'enden  (jelHirsam    erheischt,    sn  nnîrefahr  wie  das  Kommando  eine« 
Untt^roffiziei^*^*    «ei    nnr    die    Formel,    nicht   das  Prinzip    der    Kantisehen 
Ethik,  lind  ,,eine  Notwendi/irkeit,  sie  allg-emein  anzuwenden,  läsijt  sich  uichl 
he^Hinden".     S.  lîîô.     Dun  Prinzip  drespr  Ethik,  die  Autonomie  des  Willen 
hh'ihe  daffe^en  als  das    alleinifie  l'rin/ip  aller  moralische  Gesetze.     Ge^n 
Nietzsche    wird    daher   .si>:ir<  r   sehr   ^''liickLich    ein^^e wendet;     ^dass   die 
wahre  Herrennioral  des  antononieii  Willens  schfm  /jefnnden  war,  als  er  sie 
noch    suchte,    ist    ilim    entg"i*n^en**.     8.  225.     Diese  Seihst ß'i*^etzß'ehnng 
nicht  nur  mit  dem  Determinns  vereinhar,  sondern  notwendig  mit  ilim  ver 
hnnd*^î5^.     „Da^*  Sitten^esetiî   ist  das  Naturgesetz  de«  vernünftigen  Wesen 
rIs  soldier**.     S.  197. 

Die  Frapfe    nnch    dem  Werte   de^s    Diiseirm    führt    zar    l'^ntersuchunji 
des  Pensimihmus,  der  den  Wert  des  Lehens  verneint:  wesluilh  dif  Mitleids*! 
moral  für  Scho  jie  nhaiier  die  Moral  hildet.  diese  dus  Lehen  verfhichendo| 
Kri*îikenhansiuoraI,     w^elche    Nietzsche     iuich    als    die    alît^inige    Mora" 
kannte,     (Vortniß;  VIL)     Die    Frage,    cd)    der  Wt^rt    des  Daseins  iil>erhanpl 
geschlitzt    werden    köinie,    wird    aasdrficklich    abgelehnt;    sondern   es  wir* 
vom    Verfasser    einfach    hemerkt,    dass,  falls    „das   Lehen    als  t^anzes    ge 
sehîltzt    und    tlie    Summe    seines  Wertes    besiitntnt    werde»    dais  Ganze  de 
Lebens   gegeben    nnd    unveränderlich    sei'*.     So    mnsste    denn    Schopen-I 
haue  Tf  „um  den  Pessimismus  bejahen  zn  können,  die  Geschichte  vemeiuen** 
8.  21J0»  ä*il.     Dieser    Pessiniismiis    erführt    nun  eine  scharfsinnige,    logischa 
und    psychologische  Widerlegung  iS    202 — 219%    falls    überhaupt  von  eine^ 
Widerlegtitig   dessen    gesprochen    w^erden    kann,  das  als  Folge  eines  ange 
tiorenen  düsteren  Temperamentes  und  persönlicjier  KrfahruTigen   anzusehen 
ist,    nnd    sich    durch    keine  Logik    beseitigen  liisst.     Wie  wenig  der  Meta 
physiker    des  Willens    den    wirklichen  Willen    verstanden    hat,    zeigt   sich 
nach  Rie  his  treffender  Bemerkung   darin,   dass  nach   ilini  die  Basis  alte 
Wollens  immer  Bedürftigkeit  sei      S.  'IHK     Der  Schluss  di-s  siebenten  Vop 
tniges    wird    einer    kritisclien     nnj>aririischen    Beurteilung    Nietzsches 
ethischer    Lehre    gewidmet.       Riehl    vermag    nicht    in    Nietzsche    deol 
grossen  Propheten    oder  philosophischen  Führer  der  Zukunft  zu  erblîckeiuj 
Auf    einen    solchen    müsM  n    wir  noch  warteîi.     Denn    ,jnjin  kann  sich  déni 
nicht    zum   Führer   wiUib  n,  der    ^stebs  ein  anderer  ward,  sich  selber  fremd*! 
und    ,sich    selbst  entsprungen*    ist*V.     ,,Er    ist  der  beständijc  Suchende,    dep| 
grosse    Fragende'*         dessen  Eni  wickelang    ohne  Al>scblnNs  bleibt,     S.  i?.il^ 
*Jrï2.     .Dass  das  Prtulnktive  mil  dem  Historischen  verbtmden  werden  m iissei[l 
nrn    wirklich    produktiv    zu  sein,    wie  GueMu'    es   forderte,    beachtete  e-tj 
Hicht^\     ^Alle  seine  Anschauungen,  fügt  Riehl  liinzu,  verraten  ein  Grund*; 
gehrechen  :  den  Mangel  an  hist<>rischem  Sinne**,     S.  :^ô3. 

,jMit    der  Wissenschaft    hindert    sich  atîch  die  l*hilosopliie**,   sajart  defl 
Verfasser  im    letzten  Vrirtrag  i8.  2.H8),  der    eine  Betrachtung    über  GegenJ 
wart  und  Zukunft  der  Philosopliie  eiithitlt  und    die  Ergebnisse  der  Schrift  1 
zusanimenfasst.     Eben    deshalb    dürfe    die  Philosophie    niemals    bei   irgend 
eijieni    phiiosopliischen   System©   stehen    bleiben.      Wenn    daher   heilte   in 


Recensionen  (Katzer).  553 

Deutschland  vom  Zurückgehen  auf  Kant  noch  immer  die  Rede  ist,  so 
bedeute  dies  einfach  die  Wiederan knüpf unia:  àer  Verbindung  zwischen 
Wissenschaft  und  Philosophie,  welche  durch  die  auf  Kant  folgenden 
idealistischen  Systeme  gestört  wurde.  Diese  spekulativ -metaphysische 
Richtung  der  deutschen  Philosophie  interessiert  Riehl  sehr  wenig,  jedoch 
erkennt  er  die  Bedeutung  der  Hegel'schen  Geschichtsauffassung  für  die 
moderne  Geschichtswissenschaft  an.    S.  240,  241. 

Riehl  ist  der  Meinung  (und  dies  wird  vielleicht  eini^  Metaphysiker 
überraschen),  dass  es  nie  ein  philosophischeres  Zeitalter  in  der  Wissenschaft 
g:egeben  habe  als  das  gegenwärtige,  aber  diese  Philosophie  sei  mehr  in 
den  Werken  der  grossen  Naturforscher  niedergelegt  —  wie  z.  B  H  e  1  m  - 
holtz,  Mayer,  Hertz  um  nur  Deutsche  zu  nennen  —  als  in  den  Arbeiten 
der  Fachphilosophen.  Abgesehen  von  der  neuen  Bearbeitung  der  Grund- 
sätze der  Beharrlichkeit  und  Kausalität,  hat  es  auch  die  physikalische 
Chemie  und  physiologische  Psychologie  geschaffen.  „Die  Zukunft  der 
wissenschaftlichen  Philosophie  ist  die  Erhebung  der  Wissenschaft  zur  Philo- 
sophie. Wie  die  Wissenschaften  aus  der  Philosophie,  ihrer  anfänglichen 
Einheit,  durch  Auseinanderlepung  derselben  hervorgegangen  sind,  so  sehen 
wir  sie  auch  in  der  Spirale  alles  geschichtlichen  Werdens  auf  einer  höheren 
Stufe  ihrer  Entwicklung  zur  Einheit  zurücklenken".  S.  248.  Wir  brauchen 
deshalb  nicht  zu  glauben,  dass  jemals  ein  Weltbild  das  definitive  sein 
werde. 

Es  ist  erfreulich,  dass  die  Schrift  Rie  his  vor  allem  den  wissenschaft- 
lichen Charakter  der  Philosophie  hervorhebt.  Wenn  es  eine  Metaphysik 
giebt,  so  ist  ihre  Aufgabe  lediglich  eine  negative,  die  Anmassungen  einer 
alles  erklärenwollenden  Metaphysik  einzuschränken.  Durch  die  Ein- 
schränkung des  Feldes  der  theoretischen  Philosophie  werden  ihre  Ergeb- 
nisse sicherer  gemacht,  und  es  bleibt  weniger  Spielraum  für  blosses  „Meinen" 
übrig.  Einige  werden  vielleicht  finden,  dass  die  Bedeutung  vonLockes 
Essay  überschätzt  sei;    während  gewisse  Idealisten  die  vom  Verfasser  mit 

futen  Gründen]  noch  beibehaltenen  Dinge-an-sich  als  Zeichen  eines  un- 
ritischen  Realismus  ansehen  werden.  Gerade  aber  die  Unentbehrlichkeit 
des  Substanzbegriffes  für  die  Wissenschaftslehre  beweist,  dass  der  Gedanke 
der  Unabhängigkeit  der  Dinge  von  ihrem  Wahrgenommen  werden  notwendig 
ist;  es  kann  daher  nur  die  Frage  sein,  was  die  Natur  dieser  Dinge-an-sich 
sei  Nun  haben  die  Idealisten  unserer  Ansicht  nach  noch  nicht  bewiesen, 
dass  diese  Dinge  geistige  Wesen  sein  müssen.  Bemerkenswert  ist  es,  dass 
Leibniz  nur  vorübergehend  erwähnt  wird;  ebenso  geschieht  es  mit 
Berkeley,  wie  wir  glauben  mit  Recht  Im  Vergleich  mit  Locke,  be- 
deutet die  Philosophie  Berkeleys  (abgesehen  von  seiner  Theorie  der 
Raum  Wahrnehmung)  einen  Rückgang;  die  Entwickelung  der  Philosophie 
wäre  wahrscheinlich  dieselbe  gewesen,  wenn  Berkeley  überhaupt  nie 
gelebt  hätte. 

Das  meisterhaft  geschriebene  Buch  Rie  his  darf  nicht  mit  anderen 
wohlbekannten  und  verdienstlichen  „Einleitungen"  verglichen  werden,  da 
es  einen  ganz  andern  Zweck  verfolgt  und  schon  in  der  äusseren  Form 
der  Darstellung  von  solchen  Werken  abweicht  Es  ist  interessant  zu  be- 
merken, dass  Riehl  den  persönlichen  Faktor  und  die  praktische  Aufgabe 
der  Philosophie  stärker  betont,  als  in  seinem  »Kritizismus*  geschehen  ist. 
Es  scheint  uns  auch,  dass  er  hier  eine  mehr  zurückhaltende  Stellung  der 
mechanischen  Hypothese  gegenüber  einnimmt.  Der  Genuss  der  Lektüre 
wird  durch  die  Leichtigkeit  der  Sprache  wesentlich  erhöht.  Schliesslicii 
sei  auf  eine  belehrende  Parallele  zwischen  Heraclit  und  Helm  holtz 
aufmerksam  gemacht.    S.  13. 

MontreaL  J.  W.  A.  Hick  son. 

Kat/.er  RniHt.  Dr.  phil.  Past.  prim,  in  Löbau  in  Sachsen,  „Das 
Problem  der  Lehrfreiheit  und  seine  Lösung  nach  Kant'. 
Tübingen  und  Leipzig,  1.  C.  L.  Mohr,  1903.    (VII  -f  53  S.) 


Recejjstofien  (KatBer). 

'  Im  Jahre  Î8îi6  hat  Oliristîan  HermaDn  Weisse  xuerst,  die  Frflpc  auf* 

geworfen:  „ïivwîrfern  bat  iiuüere  Zeit  sich  wieder  an  Kant  sîn  yrieDtifreti?* 
wir  malien  es  üh  selbstveretiltidlit^h  au,  fiasa  wir  bei  allen  Friii^eû^  die  K »ut 
tTiîrtcrt  bat|  ihn  vnr  ftllem  hören.  KhIzçts  ihemik  crsdjeint  uns  in  ¥i»\^ 
davon  ttmsonielir  bereclitigii  wtil  da^  Problem  der  Lehrfreiheit  ein  emineat 
sii  Hiebes  Prnblem  ist,  die  Ansicht  unseres  prro.«*sten  Etlüken;  in  dieser 
Knijyre  eben  dr?îbalb  f*ir  uns  von  der  gröbsten  Bedeutung^  sein  mum.  Dun 
kommt,  da^s  Kiint  dws  Problem  der  Lehrfreiheit:  nicht  nur  als  Theoretiki^T, 
sondern  bekanutlicji  an t^h  auf  Grund  der  ernstt'sten  ErfahrtmE- 1  gehandelt  bat 

Kants  Genialitäf  xrig^t  üicb  in  unserem  Falle  î^ogleich  darin^  dm«  er 
unser  FroV»lem  von  einem  weiteren  Gesichtskreise  au^  behai\delt,  àk  ti 
mt  ist  ^escîiii^it,  Ev  fi ordert  fjehrfreibeit  nicbt  hloss  für  die  Lelirer  h 
Kirche  und  Sthule,  sondi-rn  für  alle,  die  den  inneren  und  den  äii.««ertii 
Bi  ruf  hrtben»  an  dem  Fortâcbritte  im  Lehen  des  Volkes  zn  arbeite«.  Di«e 
Arbeit  darf  anf  keinen  Fall  gebindert  werden  Geschieht  es  doch,  so  ist 
es  eine  Sünde  wider  den  heiliuren  Geifit.  Die  menEächliche  Natur  ist  m 
hescbnffen,  dass  nur  im  Austausche  und  im  Kampfe  der  Meinungen  di* 
Erkenntnis  der  Wührheit  ihr  aufgebt.  Wird  das  gebindert^  so  wird  um 
Leben  getfitet.das  nur  hei  utigebemmtem  Wachstum  he&tehen  kann.  t)der 
es  entsteben  Revolutionen,  die  eben  so  grossen  Verlust  wie  GewiBD 
bringe Uj  jedenfalls  scbwierige  Korrekturen  notwendig  machen.  Kant  war 
bekanntlich  der  mächtigste  Apostel  der  Freiheit  und  îtugleich  streng  con- 
öervativ. 

Es  entspricht  seinem  aittllchen  Ernste^  daas  er  nur  dem  das  Recht  der 
Lehrfreiheit  zugesteht,  der  selbst  wahrhaft^  d.  h.  sittlich  frei  int,  nicht  k- 
herrscht  von  fjeidenschaften,  namentUch  nicht  von  Eitelkeit  und  Lust  m 
Zerstören,  Der  sittliche  Fortschritt  ißt  nach  Kant  der  sittliche  Zweck  und 
damit  die  Aufgabe  der  G e*e hiebt*?.  Nur  wer  selbstlos  in  den  Dienst  dies*^r 
Aufgabe  sich  stellt,  hat  das  Recht  frei  und  offen  seine  Ubersçeugimir 
auszusprechen  und  selbst  das  Bestehende  zu  bekämpfen,  Das  Gebiet  dft 
eigentlichen  Wisjseuschaft  ist  nach  Kant  ein  hescb Hinkte?*,  im  Grunde  mit 
die  Erkenntnis  der  Natur.  In  diesem  Gf*bi*^te  kann  uinnnscbrtinkte  Frei- 
heit herrschen,  aber  nur  unter  der  Bedingung,  dass  es  streng  von  dem 
anderen  Gebiete,  von  dem  des  Glaubens,  d.  h.  von  dem  sittlichen  and  dem 
religiösen,  geschieden  wird.  Der  vulgäre  Materialismus  des  letzten  halben 
Jahrhunderts,   der  frivol   diese   Grenzlinie   überschritt,    würde   daher  die 

febührende  Ablehnung  von  Seiten  unseres  grössten  Denkers  gefanden 
aben.  Im  sittlich-religiösen  Gebiete  aber  giebt  es  nach  Kant  uner- 
schütterliche, ewige  Erkenntnisse,  daher  einen  untrüglichen  Massstab  für 
die  Beurteilung  aUer  Lehren.  Was  das  sittliche  Leben  fördert,  das  ist 
zu  gestatten.  Wodurch  es  geschädigt  wird,  das  ist  zu  verwerfen.  Aber 
nicht  nur  der  Inhalt,  sondern  auch  die  Darstellung  neuer  Gedanken  ist  an 
dem  sittlichen  Massstabe  zu  messen.  Das  Neue  darf  nur  mit  Schonung 
gegen  das  Vorhandene  als  die  notwendige  Frucht  des  Alten  vertreten 
werden.  1st  darüber  zu  entscheiden,  ob  ein  Vertreter  des  Fortschrittes 
sein  Recht  niissbraucUt  hat,  so  sind  nur  Richter  zulässig,  die  wissenschaft- 
lich vollkommen  die  erörterten  Fragen  beherrschen  und  zugleich  selbst 
volle  sittliche  Freiheit  besitzen.  Unfehlbare  Richter  wird  es  freilich  nie- 
mals geben;  aber  wer  das  Martyrium  für  die  Wahrheit  mit  reinem,  gutem 
Gewissen  trägt,  dem  verleiht  es  die  höchste  Würde.  Mit  besonderer  Schärfe 
bekämpft  Kant  die  Manie,  Lehrstreite  und  Lehrgerichte  zu  Glaubensstreiten 
und  Glaubensgerichten  zu  machen.  Kein  Mensch  kennt  den  Glauben  eines 
anderen;  nur  seine  Meinungen  kann  er  beurteilen. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  Kant  die  notwendigsten  und 
wertvollsten  Gesichtspunkte  für  die  Lösung  des  Problems  gâtend  ge- 
macht hat.  Wären  sie  immer  beachtet  worden,  hätte  man  auf  beiden 
Seiten  die  sittliche  Qualität  des  Gegners  an  erster  Stelle  geprüft,  bezw. 
anerkannt  —  unsere  politische  und  kirchliche  Entwicklung  wäre  eine  fried- 
lichere und  erfolgreichere  gewesen.  Es  erweckt  schmerâiche  GefOhle,  in 
Kants  Gedankenkreis   und   in  seine  Zeit  sich  zu  versetzen.    Die  Bildnng 


Recensionen  (Des8oir-Menz6r).  555 

▼on  Parteien,  die  wie  zum  Teil  unsere  Sozialdemokraten  und  unsere  Ul- 
tremontanen  von  allen  sittlichen  Verpflichtungen  sich  los^macht  haben, 
konnte  man  damals  sich  offenbar  gar  nicht  denken.  Da  wird  recht  deut- 
lich, was  wir  verloren  haben,  indem  unsere  Reaktion  uns  dahin  brachte, 
den  Mann  zu  vergessen ,  der  zuerst  die  Ethik  unerschütterlich  ftlr  uns  be- 
gründet hat.  Nur  dadurch  ist  es  dahin  gekommen,  dass  —  um  ein  Bild 
Shakespeares  anzuwenden  —  unser  Leben  einem  Gefäss  mit  siedendem 
Wasser  gleicht,  dass  sich  immer  mehr  entleert,  während  es  sich  zu  füllen 
scheint. 

Katzer  ist  ein  guter  Kenner  Kants.  Er  hat  mit  Sorgfalt  und  Liebe 
die  Gedanken  Kants  über  unser  Problem  gesammelt  und  dargestellt.  Er 
hat  sich  dadurch  für  unsere  Zeit,  in  der  namentlich  die  konfessionellen 
Kämpfe  heftiger  als  je  entbrannt  sind,  ein  grossen  Verdienst  erworben. 
Möge  seine  Schrift  die  verdiente  ßeachtunc  finden  und  auch  durch  sie 
Kants  tiefer  Ernst  unter  uns  wirksamer  werden. 

Dresden.  Sülze. 

Dessiiir-Menzer.  Philosophisches  Lesebuch,  lierausgeg.  von 
MaxDessoir,  aord.  Professor  und  Paul  M enz er,  Privatdozenten  der  Philo- 
sophie an  der  Universität  zu  Berlin.  Stuttgart,  Ferdinand  Enke  1903. 
(VllI  und  2.-)HS)  8". 

Im  historiscIuMi  Aufhau,  der  den  systematischen  Gesichtspunkt  erst 
an  zweiter  Stelle  berücksichtigt,  bringt  vorliegendes  Buch  Abschnitte  aus 
den  Werken  von  17  führenden  Geistern  im  Gebiete  der  Philosophie  von 
Plato  bis  Schopenhauer  und  am  Schluss  ein  zuverlässiges  Namenverzeichnis 
und  Sachregister.  Auch  unter  der  Voraussetzung  historischer  Gliederung 
kann  die  Auswahl  im  Einzelnen  noch  durch  andere  Grundsätze  geregelt 
werden  :  Sie  kann  es  darauf  absehen ,  besonders  wichtige  Prägen  aus  der 
Erkenntnislehre,  der  Logik,  aus  Ethik  oder  Metaphysik  durch  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  zu  verfolgen;  sie  kann  ferner  jeden  eingeführten 
Schriftsteller  vor  allem  für  sich  betrachten  und  das  für  seine  Lehre 
Charakteristische  in  den  Vordergrund  rücken  wollen.  Die  Verfasser  haben 
dieses  an  sich  wohl  zu  billigende  Verfahren  gewählt.  Die  üble  Folge, 
welche  dieser  Plan  mit  sich  bringt,  dass  er  nämlich  durch  das  Über- 
springen von  metaphysischen  Problemen  zu  logischen  und  ethischen  leicht 
den  Eindruck  des  Unruhigen  und  Unfertigen  nervorruft,  haben  sie  durch 
die  sehr  eingehenden  „Erläuterungen"  zu  jedem  einzelnen  Philosophen 
zum  grossen  Teil  wieder  gut  gemacht. 

Diese  Erläuterungen  bringen  nicht  bloss  Angaben  über  Leben  und 
Werke  des  soeben  im  Buche  vorgestellten  Schriftstellers,  sowie  über  em- 
pfehlenswerte, auf  ihn  bezügliche  Litteratur,  sondern  sie  suchen  auch  die 
innere  Verbindung  zwischen  den  abgedruckten  Lesestücken  des  einzelnen 
Verfassers  wie  zwischen  den  Anschauungen  der  verschiedenen  Denker 
herzustellen.  So  spinnen  sie  beispielsweise  die  verknüpfenden  Fäden  von 
Kant  in  die  Vergangenheit  zu  Locke  und  Hume  wie  zu  Berkeley  und 
Leibniz,  in  die  Zukunft  zu  Fichte  und  Schopenhauer.  Überraschend  wirkt 
besonders  die  Parallele  der  ethischen  Grundansichten  zwischen  Kant  und 
dem  Meister  Eckhart  aus  dem  13.  Jahrhundert.  Durch  solche  steten 
inneren  Beziehungen  der  Ansichten  und  durch  die  wiederholte  Beleuchtung 
der  wichtigeren  Fragen  von  verschiedenen  Seiten  lernt  der  Leser  die 
Hauptprobleme  der  Pliilosophie  leicht  kennen  und  auch  verstehen 

Es  sei  noch  hervorgehoben,  dass  die  Verfasser  in  dem  Verfolgen  der 
Begriffsentwicklung,  wie  z.  B.  der  Bedeutung  der  Kausalität  bei  Hunie, 
niclit  vor  den  neuesten  Ansichten  der  Naturforschung  Halt  machen.  Dabei 
ist  allerdings  dem  Erläutern  von  Kant  auf  S.  188  in  der  Anm.  zu  171  f 
entgangen,  dass  die  mechanistische  auf  Darwin  zurückgehende  Naturer- 
klärung zum  crössten  Teil  bereits  wieder  überwunden  ist.  An  ihre  Stelle 
setzt  die  vitalistische  Biologie  eines  Reinke  u.  v.  a.,  die  zielstrebige,  klar- 
logische Betrachtungsweise.    Wie   weit   diese   Richtung   von   den   gleich- 


556 

arti^ei)  AnRchauungeti  Kant«  haeinflii^t  worden  ist,  wäre  vieUeLclit 
weiterer  Untersuchimg  luciit  iiiiwert. 

Detn  von  den  VerfÄsseni  hauptsächlich  ins  Aii^  g^tâssUn  Zwetlt 
1  lires  Buches j  erläuterndes  Anschauungsmaterial  zu  den  Vorlesungen  &b*f 
Ocsclii  elite  der  Philtmopliie  zu  liefern  uud  diese  zu  er7.eu4ren,  vermag  es 
lecht  wohl  stu  dienen.  Krst  mit  Hilfe  sulclier  Unterstiitsînug'  werden  die 
"Worte  des  vf>rt rodenden  Dosîeulen  Inhalt  und  Leben  erlinlten  und  dem 
Studenten,  der  su  mit  deu  leitenden  Gedanken  und  den  führenden  öeistero 
etwast  vertrauter  geworden  mU  wird  e.s  nicht  mehr  ergehen  wie  dem 
Schüler  im  Faust.  Wenn  das  Buch  somit  als  eiu  Fortsdiritt  im  Gebiet 
der  Huch»chulpäda|^ogik  hezeichnet  werden  kann,  ^ilt  dieser  Seid uss  jedaoh 
nicht  für  die  höheren  Lehranstalten  Von  den  vielen  mös^licheu  Ein- 
wendungen voui  Standpunkte  dieser  Schulen  aus  ^eien  hier  nur  iîwei  er* 
wälint:  Der  Stoff  ist  mehrfach  äu  lu*eh  und  xu  .sehwierijL''  «nd  herticksiditi^ 
ferner  den  erziehlichen  Zweck  der  Schule  nicht  |reiiüg^f:ii\K  Dii^  Phi]oÄi.*plüe 
darf  für  den  Schüler,  der  vielleicht  nie  xsieder  zn  ihr  xurückkebrt^  nkhi 
mit  der  Verne luuiig  des  Willens  zum  Lehen,  mit  einem  Nichts  tihschliesi^fij, 

Bad  Ems,  A.  G  il  le, 

Dietsf^n,  Joseph.  Das  Wesen  der  menschlichen  Ki^pfurheir. 
Eine  abermalige  Kritik  der  reinen  und  der  praktischen  Ver- 
nunft.   Mit  einer  Einleitung  van  Anton  Pounekrt-k.  Stuttj^iri  (üietE)  ÜKIS. 

Als  dies  Büchlein  des  »ozinlistischen  Philosophei^  I86£^  zum  er^ten^ 
mal  herauskam,  ward  es  im  Grunde  weniii'  beachtet ^  si^wuhl  in  wie  aa&^^^ 
halb  der  sog.  Partei.  Sie  stand  nocli  in  den  Anfangen  und  he^cliftftigt« 
sich  mit  anderen  Fragen.  Der  iibngen  Fîiiloi*ophie  nher  war  es  kauw 
zur  Kenntnis  gekommen,  und  docli  enthült  das  Werk  des  scharf  sinnigen 
Gerbermeisters,  der  seinen  Kant  und  manch  anderes  bejiser  4»tndiert  hatte. 
als  er  in  seiner  Einleitung  bescheiden  sagt.^  f^nr  manche  Gedankeu,  dîediïr 
Beachtung  wert  sind.  Wenn  er  aueli  nicht,  '»le  er  içlanUl,  weder  hier  nocb 
in  den  späteren  Schriften  (l^ber  dus  Acquisut  ârv  ï*hilusophie  und  Briefe 
über  Logik.  Stuttgart  1895)  eine  ausreichende  Begründung  für  die  Be- 
ziehung zwischen  uns  und  den  Dingen  geliefert  hat,  und  wenn  seine  Aus- 
drucksweise  in  manchem  zu  Beanstandungen  und  Missverständnissen  An- 
lass  ^iebt,  so  hat  er  doch  die  Grundlinien  einer  Gedankenrichtnng  klar 
gezeichnet,  die  man  im  Gegensatze  zu  Idealismus  und  Materialismus  viel- 
leicht passend  Korrelativismus  nennen  könnte,  und  die  im  Wesen, 
wenn  auch  nicht  in.  der  Begründung  und  in  allem  Einzelnen  auf  das  Rich- 
tige hinauslaufen  dürfte. 

„Gegenüber  der  idealistischen  Vorstellung,  dass  hinter  der  Ersdid- 
nung  ein  Wesen  versteckt  sei,  was  erscheine,  gilt  für  Dietzgen  die  Er- 
kenntnis, dass  dies  versteckte  Wesen  nicht  in  der  Aussenwelt,  sondern 
innen  im  Kopfe  des  Menschen  apart  wohnt  ...  Es  gilt  nicht  allein  von 
physischen,  es  gilt  auch  von  geistigen,  es  gilt  metaphysisch  von  allen 
Dingen,  dass  sie  das,  was  sie  sind,  nicht  an  sich,  nicht  im  Wesen,  sondern 
nur  im  Kontakt  mit  anderem,  in  der  Erscheinung  sind."  (S.  74  )  „Das 
Denkvermögen"  —  das  noch  S.  74  ein  wesentliches,  reales  Vermögen  ist — 
„im  Kontakt  mit  den  Erscheinungen  produziert  das  Wesen  der  Dinge.' 
(S.  75  u)  .Der  Satz:  Die  Dinge  sind  nicht,  sondern  ersehe inen^ 
bedürfen  den  Satz  zu  seiner  Er^nzung:  „Was  erscheint  das  ist"  jedoch 
und  soweit  als  es  erscheint.  „Die  Wärme  vermögen  wir  nicht  wahrzu- 
nehmen," sagt  die  Physik  des  Professor  Koppe,  j,wir  schliessen  nur  ans 
den  Wirkungen  derselben  auf  das  Vorhandensein  dieses  Agens  in  der 
Natur."  Dietzgen  sagt  dagegen:  „Die  Summe  ihrer  verschiedenen  Wir- 
kungen, das  ist  die  Wärme  selbst."  (S.  74  f.)  Die  Sinnlichkeit  ist  quiüi- 
tativ,  das  Denkvermögen  begreift  alles  als  Quantität.  Das  Allgemeine  ist 
das  wahre  Sein,  das  Wesen.  Dies  steht  aber  nicht  „hinter"  der  Erschei- 
nung, sondern  ist  nur  mittelst  derselben,  in  Relation  mit  dem  Erkenntois- 
vermögen,  nur  für  die  Vernunft  da  oder  wirklich,  und  umgekehrt  gewinnt 


fi.ecen8ionen  (ÏHcavet).  557 

die  Vernunft  keinen  Begriff  aus  sich,  sondern  nur  in  Kontakt  mit  der  Er- 
scheinung.   (89.) 

Wie  Dietzgen  zu  Kant  und  dem  Materialismus  steht,  ist  aus  folgen- 
der charakteristischer  Stelle  (S.  103)  zu  entnehmen. 

Nach  Hume  „enthält  der  Begriff  der  Ursache  nichts  weiter  als  die 
Erfahrung  dessen,  was  als  eine  Erscheinung  gemeiniglich  vorhergeht. 
Mit  Recht  macht  Kant  dagegen  geltend,  dass  der  Begriff  von  Ursache 
und  Wirkung  ein  viel  intimeres  Verhältnis  ausdrücken",  ....  dass  darin 
„Notwendigkeit  und  strenge  Allgemeinheit  enthalten  sei;  also  etwas,  was 
gar   nicht   erfahren   werden  kann,   was  sogar  über  alle  Erfahrung  hinaus- 

feht,  apriori  im  Verstand  müsse  enthalten  sein.  —  Die  Materialisten, 
ie  alle  Autonomie  des  Geistes  leugnen,  die  durch  Erfahrung  Ursachen  zu 
finden  meinen,  oft  zu  entgegen,  dass  die  Notwendigkeit  und  Allgemeinheit, 
welche  das  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung  voraussetzt,  eine  un- 
mögliche Erfahrung  darstellt.  Den  Idealisten  ist  dagegen  anderer- 
seits zu  bedeuten,  dass,  ob  auch  der  Verstand  Ursachen  erforscht,  die 
nicht  zu  erfahren  sind,  diese  Forschung  doch  nicht  apriori,  sondern  nur  a 
posteriori  auf  Grund  empirisch  gegebener  Wirkungen  statthaben  kann." 

Und  S.  107:  »Der  Idealist  sucht  die  Quelle  der  Erkenntnis  in  der 
Vernunft  allein,  der  Materialist  in  der  sinnlich  gegebenen  Welt.  Zur 
Vermittlung  des  Widerspruches  bedarf  es  nur  der  Emsicht  in  die  gegen- 
seitige Bedingtheit  dieser  beiden  Erkenntnisquellen.*  —  Hierin  offenbart 
sich  der  Korrelativismus  Dietzgen  am  deutliclisten.  Auf  ihre  Bestandteile 
freilich  analysiert  er  die  sinnliche  Wahrnehmung  nicht. 

Sehr  interessant  ist  auch  seine  Stellung  zur  Ethik  Kants.  Auch 
hier  tritt  Kants  abstraktes  Sittengesetz  sofort  in  Korrelation  zu  der 
Wirklichkeit.  „Die  Moral  ist  der  summarische  Inbegriff  der  ....  sitt- 
lichen Gesetze,  welche  den  gemeinschaftlichen  Zweck  haben,  die  Hand- 
lungsweise des  Menschen  gegen  sich  und  andere  deiart  zu  regeln,  dass  bei 
der  Gegenwart  auch  die  Zukunft,  neben  dem  einen  auch  das  andere, 
neben  dem  Individuum  auch  die  Gattung  bedacht  sei." 

Und  am  Schlüsse  heisst  es:  „Unser  Kampf  gilt  .  .  .  nur  der  Arro- 
ganz, welche  eine  bestimmte  Form  zur  absoluten,  zur  Sittlichkeit  über- 
haupt macht.  Wir  erkennen  die  Sittlichkeit  als  ewig  heilig  an,  soweit 
darunter  Rücksichten  zu  verstehen  sind,  welche  der  Mensch  sich  selbst  und 
seinen  Nebenmenschen  zum  Zwecke  gegenseitigen  Heiles  schuldig  ist. 
Aber  die  Art  und  Weise,  der  Grad  dieser  Berücksichtigung,  gehört  zur 
Freiheit  des  Individuums".  .  .  .  Dass  „das  vorgeschriebene  Recht  für  ab- 
solutes Recht,  für  eine  unübersteigliche  Schranke  der  Menschheit  gefallen 
sei,  deucht  uns  höchst  überflüssig  und  sogar  schädlich  für  die  der  Zukunft 
nötige  Energie  des  Fortschrittes  " 

F.  Staudinger. 

Emmanuel  Kant.  Critique  de  la  raison  pratique,  nouvelle 
traduction  française  par  François  Picavet.  2.  édition  XII,  XXXVII,  326  S. 
Paris  1902. 

Die  verliegende  Übersetzung  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft 
ist  in  2.  Auflage  erschienen.  (Die  erste  Auflage  stammt  aus  dem  Jahre 
1888.)  Dem  Text  sind  beigegeben  einige  Anmerkungen  des  Herausgebers 
am  Schluss  (S.  297—323),  meist  historischer  Natur,  auf  Geschichte  und  Ur- 
sprung der  Schrift  und  der  in  ihr  gebrauchten  Termini  Bezug  nehmend, 
auch  mit  Berücksichtigung  der  einschlägigen  Litteratur,  dagegen  unter 
Vermeidung  aller  kritischen  Bemerkungen.  Femer  enthält  das  Buch  zur 
Einführung  des  Lesers  zwei  Aufsätze  von  Picavet,  von  denen  der  eine  das 
Eindringen  der  Kantischen  Philosophie  in  Frankreich  behandelt  („sur  la 
philosophie  de  Kant  en  France  de  1773  à  1814",  37  S.),  der  andere  eine 
Anleitung  zum  Studium  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft  geben  will 
(„Comment  faut-il  étudier  la  morale  de  Kant?"  12  S.)  Diese  letztgenannte 
Einführung  ist  ein  Zusatz  der  zweiten  Auflage,  mit  dem  der  Herausgeber 


Reoeîisionen  (Picavei)* 


Wünschen    entsprochen    hat^    die    aus    dem  Leserkreis   an   ihn   ^richt< 
wurden. 

Für  den  deutschen  Leser  bietet  zweifellos  der  erwähnte  kurze  A 
Hss  zur  Gescliichte  der  Kantischen  Philosophie  in  Frankreich  das  meiste' 
Interesse,  zumal  er  sehr  gewissenhaft  eine  KüJle  von  Material  zusammen« 
trä*,^t.  Der  Natnr  der  Dinge  entsprechend  wei^den  am  ausführlichsten  be* 
handelt  der  Emisant  und  enthusiastische  Kanlverehrer  ViUers  („expo*' 
sit  ion  des  principes  fondamentaux  de  la  phih».sophie  transscendentale  de, 
Kant^  1901)  und  Frau  von  Staël,  denen  sich  aU  dritter  der  Akademiker 
Dégéra ndo  mit  seinem  grossen  Werk  Über  die  Geschichte  der  philoso- 
phischen Systeme  atisddiesst  (10l)î>).  Abgesehen  da%^on  aber  betont  deï^J 
Verfasjser  mit  besonderem  Nachdruck,  dass  schon  in  der  Mitte  der  90, 
Jahre  des  XV III  Jahrhunderts  der  Name  Kant«  in  Frankreich  durchauaj 
nicht  mehr  unbekannt  gewesen  sei  Unter  Atiderm  werden  drei  Über^ 
Setzungen,  der  .Betrachtungen  über  das  Gt^fühl  dc^  Sciiönen  und  Erhabe- 
nen**, der  Abhandlung  zum  ewigen  Frieden,  und  eine  mit  ausfülirlichen 
Anmerkungen  versehene  Übertragung  der  Religion  innerhalb  der  Grenze: 
der  reinen  Vernunft  von  Ph.  Huldiger,  die  letzte  besonders  ïobend  erwöJintJ 
Als  interessante  Thatsache  sei  eine  brief  hebe  Äusserung  des  Abbé  Sièjr^ 
hervorgehoben,  in  der  er  sich  für  eine  Popularisierung  der  Kantiseh« 
Philosophie  in  Frankreich  ausspricht.  Wie  bei  ihm  scheint  allgemein  da§^ 
damalige  Interesse  an  Kant,  das  natürlich  immerliin  sehr  vereinzelt  ist,; 
aus  dem  Bedürfnis  eutsprungen  zu  sein,  ein  Gegengewicht  für  den  Mate- 
rialismus zu  finden.  Weiterhin  sucht  dann  Picavet  nacliznweisen,  daas 
etwa  von  IfckK]  an  das  Kantische  System  in  der  Akademie,  wie  in  den 
philosoplnsclien  Zeitschriften  lebhaft  diskutiert  worden  sei  —  trotz  des 
immer  wiederholten  Vorwurfs  der  philosopiiiscben  Rîkkstândigkeit  und 
Indolenz,  den  ViUers  gegen  seine  Landsleute  richrete.  Die  französische 
Kantlitteratur  nach  1814  wird  von  Picavet  nur  kui-z  gestreift. 

In  der  Anleitimg  zum  Studium  der  praktischen  Philosophie  Kants, 
wie  in  den  Anrnerkuugen  macht  sich  m.  M.  n.  eine  Übei-setzuug  der  bis  to- 
risclien  Ankim|ifungspunkte  und  des  fremden  Einflusses  ^Voltaire!)  und 
enisp rechend  eine  Ünterschätzung  des  systematischen  Zusammenhangs  der 
Kantischen  Philosopliie  geltend.  Vor  allen  Diugen  kommt  der  wisseu- 
schaft liehe  Endzweck  der  Kantischen  Ethik,  ihre  Absicht,  Mural  zu  be- 
gründen, nicht  zu  predigen,  sein  Ziel,  dem  Imperativ  des  sittlichen  Welt^ 
bewusstseins  eine  wissenschaftlich  haltbare  Itormulierung  zu  geben,  zu 
wenig  zur  Geltung.  Und  was  soll  man  dazu  sagen,  wenn  eine  volle  Seite 
hmg  von  den  Lebensgewohnheiten  Kants  die  Rede  ist  mit  der  Begründung, 
die  peinliche  Pünktlichkeit  und  Pedanterie  seines  Wesens  habe  Kant  mit 
zur  Aufstellung  eines  formalen  Sittengesetzes  veranlasst!  —  Ein  ent- 
schiedener Vorteil  für  den  Leser  ist  eine  kurze  Inhaltsangabe  der  Gmnd- 
legung  zur  Metaphysik  der  Sitteu  und  der  Kritik  der  reinen  Vernunft, 
letzterer  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  angeblichen  Widersprüche 
zwischen  beiden  Kritiken. 

Die  Übersetzung  selbst,  übrigens  eine  zweifellos  recht  schwierige 
Aufgabe,  ist,  wie  man  sich  leicht  überzeugen  kann,  mit  grosser  Gennuig- 
keit  und  Sorgfalt  hergestellt  worden,  unter  Mitberflcksichtigung  einer 
lllteren  französischen  (Bami),  einer  lateinischen  tBorn)  und  einer  englisclieu 
Übersetzung  (Abbot).  Als  deutscher  Text  \^Tjrde  der  Hart4?nsteinsche  zu 
Grunde  gelegt,  aber  auch  die  Atisgaben  von  Rosenkranz  und  Kehrbach  zu 
Rate  gezogen.  Ausdrücke,  deren  Übertragung  Zweifel  erregte  oder  nur 
durch  Umschreibung  möglich  war,   sind    in  Klammem    deutscli    beigefügt, 

felegenthch  wird  die  gewühlte  Übersetzung  unter  dem  Text  gerechtfertigt. 
It  was  störend  wirken  die  ziemlich  zahlreichen  Dmckfehler    in  den  einge- 
fügten deutschen  Worten. 

Berlin,  v,  Aster. 


i 


Selbstanzeigen  (Wernicke— Kalweît).  659 


Selbstanzeigen. 


Wernicke,  Alex,  Prof.  Dr.  Die  Theorie  des  Gegenstandes 
und  die  Lehre  vom  Ding-an-sich  bei  Immanuel  Kant.  Ein 
Beitrag  zum  Verständnisse  des  Kantischen  Systems.  Braunschweig,  Joh. 
Heinr.  Meyer.    1904.    (32  S.  4P,) 

Die  Notwendigkeit,  eine  neue  Auflage  meiner  Schrift  „Kant  .  .  . 
und  kein  Ende?''  (Braunschweig  1894)  zu  veranstalten,  liess  es  mir  wün- 
schenswert erscheinen,  eine  altere  Arbeit,  welche  ich  seiner  Zeit  Herrn 
Vaihinger  in  Handschrift  für  seinen  Kant-Kommentar  (vgl.  dort  II,  7,  17, 
57)  zur  Verfügung  gestellt  hatte,  doch  noch  zu  veröffentlichen.  Sie  be- 
schäftig sich  hauptsächlich  mit  der  „Theorie  des  Gegenstandes'',  welche 
Kant  m  der  ersten  Auflas^  der  Kritik  entwickelt  und  in  der  zweiten 
Rubrik  festhält.  Wie  ich  miher  bereits  mehrfach  hervorgehoben,  scheint 
mir  die  gesamte  Geistesarbeit  Kants  durch  die  Schlichtnn^g  des 
Streites  zwischen  Freiheit  und  Notwendigkeit  bestimmt  zu 
sein.  Dieser  gebührt  die  unbestrittene  Herrschaft  (I^wton)  in  der  räum- 
lich-zeitlichen Welt,  jene  lebt  unbeanstandet  jenseits  dieser  Welt,  im 
Reiche  der  Ideen.  Wenn  aber  die  Gegenstände  der  räumlich-zeitlichen 
Welt  ein  gesetzmässiges  Ganzes  bilden,  und  zwar  so,  wie  es  den  Forder- 
ungen der  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Forschung  entspricht,  und 
wenn  trotzdem  für  die  Freiheit  als  Grundlage  aller  ethisch-rehgiösen  Be- 
stimmungen ein  Platz  übrig  bleiben  soll,  so  müssen  diese  Gegenstände 
etwas  anderes  sein,  als  was  sie  gemeinhin  zu  bedeuten  scheinen.  Demge- 
mäss  schafft  bei  Kant  die  produktive  Einbildungskraft  als  Ktlnst- 
lerin  nach  den  Gesetzen  des  Verstandes  die  Gegenstände  der  räumlich- 
zeitlichen Welt  in  ihrer  Formenfülle  aus  der  formlos  fi^gebenen  Masse 
der  Empfindungen  als  anschaulich-logische  Gebilae. 

Die  Empfindungen,  welche  als  ein  Gegebenes  auftreten,  weisen  auf 
das  Ding-an-sich  als  Ursache  zurück,  und  (fieses  ist  nur  be^fflich,  aber 
nicht  anschaulich  bestimmbar,  und  kann  darum  niemals  ein  Gegenstand 
unserer  Erkenntnis  werden. 

Dass  aber  die  Einbildungskraft  des  einzelnen  aus  dessen  Empfind- 
ungen in  ihrer  Freiheit  für  (fiesen  eine  räumlich-zeitliche  Welt  schafft, 
welche  mit  den  entsprechenden  Welten  anderer  eine  weitgehende  Ober- 
einstimmung zeigt,  ist  ein  Problem,  ein  Teil  des  grossen  Problems  der 
Übereinstimmung  zwischen  Natur  und  Freiheit,  dessen  Lösung  Gott  als 
A  und  ß  fordert. 

Für  die  theoretische  Vernunft  ist  das  Ding-an-sich  ein  Grenzbegriff, 
der  allenfalls  auch  entbehrt  werden  kann,  erst  die  praktische  Vernunft 
lehrt  uns,  dass  jedes  Ich  als  Träger  des  Sittengesetzes  über  die  Welt  der 
Erfahrung  hinausweist  und  darum  in  seiner  Freiheit  als  ein  Ding- 
an-sich  aufzufassen  ist,  welches  Unsterblichkeit  für  sich  fordern 
muss  und  erst  in  Gott  die  Lösung  aller  seiner  Fragen  theoretischer  und 
praktischer  Natur  findet. 

Die  Abhandlung  will  ein  Beitrag  sein  zum  Verständnisse  des  Kan- 
tischen Systems,  sie  will  keine  Kritik  der  Kantischen  Gedankenarbeit 
darstellen. 

Braunschweig.  A.  Wernicke. 

Kaiweit,  Panl,  Lie.  Dr.  Kants  Stellung  zur  Kirche.  Schriften 
der  S3modalkommission  für  ostpreussische  Kirchengeschichte.  Heft  2. 
Königsberg  i.  Pr.,  Ferd.  Beyer.    1904.    (88  S.) 

Die  Schrift  stellt  einen  Beitrag  einerseits  zur  Biographie,  anderer- 
seits zur  Religionsphilosophie  Kants  dar.    Ich  glaubte  beweisen  zu  können, 

Kaatttodi«n  IX.  36 


860 


3etbstAnzeigeD  (Neumann—  Âpel)- 


dttB  der  IBaflmM?  des  Köni^ber^r  I^etkmtis  auf  Kant  nicht  litieh  eü  vt> 
ansohlageil  ist.  Dabei  etg^b  sjeb  tnir,  da^  die  Nuulirichti^n  der  eMen 
Kaatbiogiwlieil  mit  aller  Voi^icht  aufzunehmen  sind  Die  g^j^^^enen  Zti- 
iammeiisteuiiligen  werden  hoffentlich  zeigen,  wie  wenig  wirkliche  Ân- 
sdianiuiff  und  wie  viel  Rhetorik  bei  ihnen  vorhegl.  Für  eigene  religiöse 
BedflrfiiliKe  brauchte  Kant  die  Kirche  nicht.  Sie  gew^änn  aber  für  ibn 
BedeiitiUM|[  als  Öffentliche  Institution^  als  Er?:ie herin  desVolkes^  nanientJicli 
In  ihrier  YeriiilKéLung  mit  dem  preussiiclien  Stant.  Kants  I^ebre  von  der 
Kirche  ist  rfneneits  von  d.^n  VoraussetEungen  der  kritiscben  Philosophie^ 
daaa  es  sich  auch  hier  um  (lewinnung^  von  synthetiscben  Urteilen  a  priori 
handehd  muss,  andererseitâ  von  der  kirchlichen  und  politischen  Lag«  »eil 
dem  BeciernngSDiitritt  Friedrich  Wilhelms  II.  her  zu  verstehen.  Als  wich- 
tigstes Froblem  wird  das  Verhältnis  des  Ewij^eu  7Mm  Historiseben  heraus- 
Mrtellt  und  EU  «eigen  versucht,  dass  in  dle^üer  Präge  eine  Fortbildung 
der  Kantischen  Anschauungen  notwendig  und  mî^glich  bt 

Naamborg  a.  d   Queiss.  P.  Kai  weit 

NeVttiiiiB.  Robert  Goethe  und  Fichte,  Pmgramm  des  Kôni^* 
slftdtisehen  Beal^vmnajiiunis  zu  Berliu.    Berlin,  Weidmann,  19Û4.    (Hb  S  ¥ï 

In  den  beiden  ersten  Bünden  der  Kant^studien  sind  die  Beziehungen 
(Goethes  an  Kuit  von  Karl  Vorländer  eingebend  dargestellt.  Ks  erschien 
mir  nnnm^ir  angebracht^  die  Beziehungen  Goethes  zn  dem  begabtesten 
und  eigenartigsten  Schtller  Kants,  zu  Fichte^  zu  behandeln,  der  nach  Bein- 
hi^ds^Tegffange  ab  Vertreter  der  Kantischen  Philoisophie  nach  Jena  be- 
mfen  wnraie.  Schon  Vorländer  macht  die  Bemerkui*|j.  dass  sich  das  an- 
fangs frenndsohaftliche  Verhältnis  Goethes  zu  Fichte  im  Laufe  der  Jahre 
mehr  nnd  mehr  abkühlte,  und  schreibt  dieses  dem  Einfluss  Sehillen»  tu 
JHe  nähere  Untersuchung  giebt  ihm  Eecht.  Der  Haupitgrund  zu  d^r 
Trennung  Goethes  von  Bichte  Ug  jedoch  in  der  eigenartigen  Peraönlich' 
keit  des  Philosophen  und  in  der  kühnen  Anwendung  seiner  Lehre  auf  das 
praktische  Leben. 

„Wie  mit  Sack  und  Packe  Musen  wandern,  wo  aufgeschlagen  wer- 
den Philosophische  Lehrsysteme.**    (Bückert.) 

Zu  der  Arbeit  boten  mir  reichliches  Material  die  Yeröffentlichongen 
in  den  Goethe-Jahrbüchern.  Im  Anhang  der  Schrift  gebe  ich  ausser  einem 
Verzeichnis  der  in  der  Goethe-Bibliothek  befindlichen  Schriften  Fichtes 
ein  genaueres  Bild  von  der  einzigen  Schrift  dieses  Philosophen,  die  Goethe 
durchgearbeitet  und  mit  Strichen  und  Anmerkungen  versehen  hat. 

Die  Arbeit  ist  als  wissenschaftliche  Beilage  des  Oster-Programms 
des  Königstädtischen  Real-Gymnasiums  zu  Berlin  im  Weidmannachen  Ver- 
lage erschienen. 

Wilmersdorf.  Robert  Neumann. 

Apel,  MaXf  Dr.  Immanuel  Kant.  Ein  Bild  seines  Lebens  und 
Denkens.  Mit  einem  Bildnis.  Ein  Gtedenkblatt  zum  hundertjährigen 
Todestage  des  Weltphilosophen.    Berlin,  Skopnick.    1904.    (VIII  -f  102  S.) 

Kant  glaubte  mit  seinen  Schriften  um  ein  Jahrhundert  zu  frflh  ge- 
kommen zu  sein;  nach  100  Jahren  würde  man  ihn  erst  recht  verstehen, 
seine  Bücher  aufs  neue  studieren  und  gelten  lassen.  Hundert  Jahre  und 
mehr  sind  nun  abgelaufen.  In  den  Werkstätten  der  Wissensd^aft  ist  Kant 
der  grosse  Lehrmeister  geworden,  er  wird  studiert,  er  gilt  etwas,  eine 
neue,  schöne  und  wertvolle  Ausgabe  lässt  sein  Werk  in  neuer  Pracht  er- 
stehen. Und  dennoch  will  es  scheinen,  als  ob  der  Königsberger  Weise 
mit  dem,  was  in  ihm  als  persönliche  Macht  lebte,  was  in  seinen  Werken 
einen  oft  ergreifenden  Ausdruck  fand,  was  in  den  Herzen  seiner  Zeit 
einen  beg^eisterten  Widerhall  weckte,  der  Welt  unserer  Tage  femer 
steht  als  aer  seinen. 

Was  soll  einer  Welt  voll  Oberflächlichkeit,  Unwahrhaftigkeit^  voll 
Unfähigkeit  zu  ernster  Begeisterung  für  ideale  Güter,  was  soll  ihr  der 
alte  Kant  mit  seiner  Tiefe,   mit  seiner  Grundehrlichkeit  und  mit  ~~' 


Selbstanzeigen  (Haber).  561 

heiligen  Feuer  für  Menschenrecht  und  Würde?  Man  sucht  andere  Pro- 
pheten und  findet  sie.  Man  ist  Sklave  seiner  Triebe  und  gesellschaftlicher 
Unsitten.    Was  bedeutet  solcher  Unfreiheit  die  Kantische  Freiheit? 

Nicht  mit  Gründen  der  Vernunft  wird  Kant  bekämpft,  sondern  aus 
der  Stimmung  heraus  abgelehnt.  Und  dabei  kommt  es  unserer  Zeit  sehr 
zu  statten,  dass  in  den  weitesten  Kreisen  ein  zu  falsches  Bild  des  grossen 
Denkers,  ein  wahres  Zerrbild,  lebt;  gezeichnet  von  kaltem  Unverstand, 
äusserlichem  Auffassen  und  oberflächlicher  Anekdotenspielerei.  Was  weiss 
das  deutsche  Volk  von  diesem  seinen  weisesten  Manne,  in  dem  die  Natur 
ein  so  einzigartiges  Wunderwerk  schuf?  Und  was  ist  Leben  geworden 
von  den  IdeiQen,  die  Kants  Seele  durchglühten? 

Die  Absicht  dieser  kleinen  Schrift  ist,  ein  Gefühl  dafür  zu  erwecken, 
was  uns  Kant  als  Persönlichkeit  und  als  Denker  ist.  Daher  behandelt  der 
erste  Teil  (S.  1 — B7)  Lebensgang  und  Persönlichkeit,  der  zweite  die  Philo- 
sophie Kants.  Ein  Mensch  wie  Kant,  in  dem  der  Genius  der  Wissenschaft 
Platz  genommen  hat,  darf  nicht  unter  dem  Massstabe  der  Alltagsmenschen 
betrachtet  werden.  Es  gilt  vielmehr  in  die  Tiefe  dieser  Denkerseele 
hinabzusteigen;  es  gilt  mitzufühlen  den  köstlichen  Wendeprozess  im  In- 
nersten der  Seele,  das  Wachen,  Kämpfen  und  endliche  Durchbrechen  der 
sieghaften  neuen  Gedanken.  Um  dies  wenij^tens  in  den  Grundzügen  zu 
zeigen,  sind  auch  die  so  anziehenden  vorkritischen  Werke  kurz  besprochen. 
Eingehender  behandelt  (S.  60 — 98)  ist  das  Hauptwerk,  die  Kritik  d.  r.  V. 
Hier  hofft  der  Verfasser  auch  manchen  schwierigeren  Punkt  etwas  ge- 
klärt zu  haben.  Im  ganzen  soll  das  Werkchen  einem  grösseren  Publikum 
ein  Bild  der  Kantischen  Weltanschauung  in  den  Grundzügen  darbieten. 
Die  Ethik  konnte  nur  kurz  in  den  wesentlichen  Punkten  berührt  werden, 
Kants  Stellung  zu  Religion,  Kirche  und  Staat  ist  im  1.  Teil  dargelegt. 
Die  Ästhetik  konnte  leider  nicht  mehr  berücksichtigt  werden. 

Charlottenburg.  Max  A  pel. 

Haber,  Georg.  Benedikt  Stattler  und  sein  Anti-Kant.  Ein 
Beitrag  zur  Geschichte  der  Kantischen  Philosophie  und  zur  hundert- 
jährigen Gedächtnisfeier  des  Todestages  Kants.  I.Teil:  Stattler  und  seine 
Kritik  der  transscendentalen  Ästhetik  und  Kategorieenlehre  Kants«  I.-D. 
München,  J.  J.  Lentner.    1904.    (109  S.) 

Ein  sicherlich  beachtenswerter  Zeitgenosse  und  Gegner  Kants  ist 
Dr.  Benedikt  Stattler.  Er  nennt  sich  selbst  den  Anti-Kant,  und  zwar,  wie 
er  glaubt,  mit  vollem  Rechte.  Denn  er  habe,  wie  Kant,  nicht  bloss  Jahre 
lang  grosse  Mühe  verwendet,  der  Philosophie  neue  BÜahnen  zu  weisen, 
auch  habe  er  nicht  bloss  ähnliche  Fragen  behandelt,  wie  die  Kr.  d.  r.  V., 
schon  lange  vor  dem  Erscheinen  derselben,  z.  B.  nach  der  „Allgemeinheit 
und  Notwendigkeit^  der  Urteile,  nach  der  Ableitung  der  Kategorieen, 
sondern  er  habe  auch  das  Seichte  und  Ungegründete  der  neuesten  Philo- 
sophie des  Herrn  Kant  bis  zur  Evidenz  aufzeigt. 

Was  den  ersten  Punkt  betrifft,  so  ist  sicher,  dass  St.  —  geb.  1728, 
später  Professor  an  der  Universität  Ingelstadt,  f  1797  zu  München  —  mit 
der  mittelalterlichen  Philosophie  grüncUich  gebrochen  hat  :  immensus  cultus 
Topices  et  Metaphysices  Aristotelis  maximo  detrimento  fuit.  Über  die 
neueren  philosophischen  Strömungen,  mit  denen  er  wohl  vertraut  ist,  sucht 
er  sich  zu  erheben.  Originelles  Denken  ist  dem  Anti-Kant  nicht  abzu- 
snrechen.  Aber  ein  Dualismus  durchzieht  doch  diese  eklektische  Philoso- 
phie: das  empiristische  und  rationalistische  Element  —  letzteres  vertreten 
durch  die  einseitige  Wertschätzung  des  Satzes  vom  Grunde  —  stehen  un- 
vermittelt einander  gegenüber  Oberhaupt  ist  das  gen.  Axiom  der  Nerv 
der  Stattlerschen  Phüosophie.  Die  Unmöglichkeit  synthetischer  Urteile 
a  priori,  der  Weg  zu  allgemeinen  und  notwendigen  Urteilen,  die  Realität 
von  Seele,  Welt  und  „Urwesen"  wird  mit  EUlfe  lenes  „Prinzipes"  darge- 
than.  In  der  Verwertung  des  Satzes  vom  Grunde  bekundet  St.  Leibniz 
gegenüber    einen    Fortschritt,    Kant    gegenüber   aber   einen    niedrigeren 

36* 


662  S6ltlitea«c%en  (FriedmaTin^, 


Staadpmikt^   wenngleich   der  Ânti-Eaut   ein   verhänge  ^volles  Nachwirken 
.d«B  teriidbien  Satzes  da  nnd  dort  in  der  Er.  d.  r.  V.  »lufssnzeiifen  vem^. 

ßer  Eweite  Funkt,  die  Polemik  ^eçen  Kant,  verrät  bei  St  wenig 
Verständnifl  für  die  suhjektive  Seite  der  Kntiachen  Philoi^ophie  nnd  für  dets 
Sinn  des  Apricpri.  Die  vyrliegende  Arbeit  spe^^ieîl  imifasst  die  Kritik, 
welche  Sfc.  atj  der  transscendtjntalen  Ästlietik  und  an  der  Kat^gutieenlehre 
Kants  übt.  Die  lierkiVTiimliche  Dreiteilung  der  Seelen  vermögen,  Siimhcli- 
keity  Vexvtand  und  Vernunft«  findet  sieb  bei  Kant  und  Stattlert  jedoch  mix 
yenlöhiedener  Beütimmun^.  Die  Binnlichkeit  betagt  nach  St.  nicht  àm 
Terwoirene  Denken,  auch  verhält  sie  sich  nicht  lediglich  passiv,  vHe  Kant 
meint  Sie  bildet  viejmelir  Urteile  und  Schlüsse^  aber  nur  von  eiuzelntü 
Subjekten  und  PrMikaten.  Da^  eigen t liehe  Geschäft  des  Verstanden 
iat  das  .Allgemeindenken  durch  unmittelbare  Urteile**,  während  die 
Vernunft  durch  mittelbare  Urteile,  d.  h.  Schlüsse  denkt.  —  Der  Statlie^ 
sehen  Theorie  des  Raumes  und  mutatis  mutandis  auch  der  Zeit  lieft 
ein  durcham  ungenügender  Begriff  ssu  gründe:  Das  Wesen  des  Baumes 
beet^ie  im  diâcrimen  locorum  rerum  simultaneanmi.  Um  hier  den  Anti- 
Hiant  richtig  zu  würdigen,  \^t  immer  ein  Doppelte«  7.u  unterscheiden:  die 
direkte  Bcastreitung  der  Lehre  Kants  und  die  positive  ErgEnsuug  der- 
selben durch  Stattler    LetKtere  ut  abzuweisen,  ert*tere  aber  beachtenswert. 

Die  Kategorienlehre,  welche  St.  an  der  Hand  des  Sat2e.s  vum 
Grunde  entwickelt,  glaubt  er  frei  von  allem  rhapstjdischen  Zuge  und  voll- 
kommener  ab  die  Deduktion  bei  Kant.  An  kti&terer  bekiimpft  St,  um 
«Fdnaip^  der  Ableitung,  nämlich  die  Tafel  der  Urteile,  den  losen  Zu- 
sammenhang zwi^ichen  den  Urteils  formen  luid  den  reinen  Verstandesbe- 
griffen  und  das  „architekt<mLsehe  lutaresse^.  Die  Tafel  der  ontologiaehea 
Begriffe  hfilt  St.  für  tinvollàtandig,  da  die  Begriffe  von  Eaum,  Zdt, 
Gleichheit  und  Cngleicblieit,  gut  und  bös  u.  s,  w/feiüen.  Auch  six^d  ain- 
selne  Begriffe  falsch  gruppiert,  und  die  Bei^aehung  der  ^Wechselwirkung'' 
aur  Form  des  disjunktiven  Urteil»  erscheint  unverständlich.  —  Die  Methode 
des  Anti-Kjxnt  ist  die  Wolfscbe.  Die  sprachîirbe  Darsteilung  ist  hart,  oft 
dunkel  und  derb. 

Die  vorliegende  Arbeit  bildet  den  ersten  Teil  einer  ^röeseren  Ab- 
handlung über  die  Polemik  des  Anti-Kant.  Hieraus  möge  sich  die  etwas 
ausgedehnte  biographische  Skizze  erklären!  Der  zweite  folgende  Teü 
wird  betrachten:  die  synthetischen  Urteile  a  priori,  das  Veiiiftltnis  von 
Mathematik  und  Philosophie,  die  Theorie  des  Schlusses,  die  Lehre  fiber 
Seele,  Welt  und  Gott,  die  Grundzüge  der  Ethik  und  Religionsphilosophie, 
endlich  die  Wirkung  des  Anti-Kant  auf  die  Zeitgenossen 

Zum  Schlüsse  muss  der  Verfasser  noch  um  Nachsicht  ob  der  mehr- 
fachen Druckversehen  in  vorliegender  Dissertation  bitten.  Die  Druck- 
legung fiel  leider  in  eine  ungünstige  Konjunktur  verschiedener  Umstftnde. 

München.  Dr.  phil.  Georg  Hub  er. 

Friedmann,   Jonas,  Dr.     Die   Lehre  vom  Gewissen  in  den 

Systemen     des     ethischen     Idealismus     historisch-kritisch 
dargestellt.    Budapest,  Geyer.    1904.    (80  S.) 

Unter  ethischem  Idealismus  verstehe  ich  die  sogenannte  formale 
Ethik,  wie  sie  ihre  Vertreter  in  erster  Reihe  in  Kant  und  Fichte  hat 
Die  Arbeit,  zu  der  mir  der  geehrte  Herausgeber  dieser  Blatter,  Herr  Prof. 
Dr.  Vaihinger  die  Anre^ng  gab,  soll  eine  historisch  kritische  Darstellung 
der  Gewissenslehre  beider  Denker,  beziehungsweise  eine  Vergleichung 
derselben  liefern.  Diese  Vergleichung  wird  auch  einen  Beitrag  ergeben 
zu  der  Frage  des  Verhältnisses  Fichte  zu  Kant  überhaupt.  Ich  habe 
daher  an  der  Spitze  des  ersten  Kapitel  Fichtes  Verhältnis  zu  Kant,  wie 
es  nach  den  Ergebnissen  der  Forschungen  in  den  letzten  Jahren  (wie 
z.  B.  nach  der  m  dieser  Zeitschrift  erschienenen  Studie  von  W.  Kabita: 
„Entwickelung  der  Fichteschen  Wissenschaftslehre  aus  der  Kantschen 
Philosophie")  als  sicher  festgestellt  zu  betrachten  ist,  kurz  dargelegt 
Meine  Ausführungen  sollen  diese  Ergebnisse  bestätigen.    Es  wird  geseigt, 


Selbstanzeigen  (Schmid).  563 

wie  in  der  Auffassung,  die  das  Gewissen  bei  den  beiden  Denkern  gefanden 
hat,  die  Verschiedenartigkeit  ihrer  Ethik  zum  Ausdruck  kommt.  Bei 
Fichte  finden  wir  das  Gewissen  in  dem  Mittelpunkt  seiner  Ethik, 
während  bei  Kant  die  Einführung  des  Gewissenspliänomens  in  seine  Ethik 
mit  dem  Bestreben  zusammenhängt,  die  Ethik  mit  der  Religionsphiloso- 
phie zu  verbinden.  Bei  Kant  ist  die  positive  Seite  des  Gewissens  das 
böse  Gewissen,  hingegen  bei  Fichte  das  gute. 

In  einem  anderen  Kapitel  kommt  die  Kritik,  die  die  Kantische  Ge- 
wissenstheorie gefunden  hat,  zu  Worte.  Femer  werden  auch  die  nach- 
kantischen,  von  Kant  verschiedenen,  modernen  Gewissenstheorien  kurz 
vorgeführt  und  ihr  Verhältnis  zu  Kant  dargelegt.  In  einem  abschliessen- 
den 3.  Kapitel  wird  gezeigt,  was  nach  Abzug  aller  berechtigten  Kritik 
als  das  bleibende  und  wertvolle  in  der  Kantischen  Gewissenslehre  ange- 
nommen werden  darf,  beziehungsweise  inwiefern  das  Gewissen,  wie  Kant 
es  wollte,  als  ein  ethischer  Faktor  betrachtet  werden  kann.  In  diesem 
Zusammenhange  wird  auch  untersucht,  wie  sich  diejenigen  das  Gewissens- 
phänomen erklären,  die  im  Grossen  und  Ganzen  auf  dem  Boden  der  Kan- 
tischen Ethik  stehen  oder,  wie  die  Neukantianer  in  einigen  wesentlichen 
Punkten  von  Kant  abweichen. 

Budapest.  Dr.  J.  Friedmann. 

Srhmid,  Friedrich  Alfred,  Dr.  Fichtes  Philosophie  und  das 
Problem  ihrer  inneren  Einheit.  (Die  Frage  nach  der  veränderten 
Lehre.)    iYeiburg  i.  Bç.,  G.  Ragoczy  (E.  Jedele).     1904.    (112  S.) 

¥j8  liegt  der  vielerörterien  Frage,  ob  sich  in  dem  System  der 
Fichteschen  Philosophie  zwischen  Früher  und  Später  eine  gegensätzliche 
Weltauffassnng  nachweisen  lasse,  eine  viel  tiefere  Bedeutung  zu  Grunde, 
als  etwa  die  blosse  Lust  an  der  historischen  Kritik.  Fichte  Philosophie 
steht  an  der  Wende  des  Jahrhunderts  der  deutschen  Denker  auch  als  ein 
Merkstein  in  der  entscheidenden  Wendung  des  Kantischen  Idealismus,  die 
dieser  mit  dem  neuen  Jahrhundert  nahm.  Es  ist,  aufs  kürzeste  gesagt, 
die  Wendung  von  der,  im  innersten  Wesen  notwendig  immer  rationalisti- 
schen, Kritik  als  System,  zu  dem  antirationalistischen  und  zuletzt 
immer  metaphysischen  System  transscendentaler  Werte,  deren 
eigentliche  Transscendenz  schliesslich  nur  noch  eine  Frage  des  persönlichen 
Geschmackes  bleibt. 

Derselbe  Schelling,  der,  neben  Hegel,  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie mit  Recht  als  der  Vollender  der  idealistischen  Metaphysik  gilt, 
war  denn  auch  der  Erste,  der  den  Umschwung  bei  dem  älteren  Fichte  der 
Welt  mit  einiger  Genugthuung  verkündigte.  Fichte  protestierte  leiden- 
schaftlich, und  seit  jenen  Tagen  ist  der  Streit,  dessen  Kernproblem  indessen 
das  Schicksal  der  deutschen,  klassischen  Philosophie  mit  Schopenhauer 
entschied,  nicht  mehr  erloschen. 

Unter  sehr  persönlichen  Interessegegensätzen  war  der  Streit  be- 
gonnen. Persönliches  Interesse  an  der  Macht  oder  der  Ohnmacht  des 
Fichteschen  Einflusses  setzte  ihn  fort.  Die  objektive  Beurteilung  scheint 
selbst  heute  noch  manchmal  dem  Kantisch-kntischen  oder  dem  antikriti- 
zistischen  Historiker  schwer  zu  fallen.  Denn  Fichte  ist  ein  Lebendiger: 
Es  hängt  allzuviel  von  dem  Urteil  über  diese  Frage  ab,  wie  die  Gesamt- 
beurteilung der  nachk  m  tischen,  oder  besser  der  nachfichteschen  Philoso- 
phie darnach  ausfalle. 

Ich  habe  versucht,  unter  ausdrücklicher  Beiseitesetzung  aller  herein- 
spielenden und  oft  vielfarbig  schillernden  Detailfragen,  das  Einheita- 
problem  der  Ficht  eschen  Philosophie  in  der  Verschlingung  seiner  Grund- 
oegriffe  zu  fassen. 

Nach  dreijährigem,  eingehendem  Fichtestudium  wollte  ich  ein  Urteil 
über  diese  Frage  finden,  das  sich  zwar,  mit  Rücksicht  auf  seine  Denk- 
voraussetzungen, ganz  seiner  nachkantisch-kritischen  Schulung  bewuast 
ist,  dabei  aber  dennoch  bemüt  blieb,   in  jedem  Punkte  die  möguchste  Ob- 


jfàgrtrxM    m    heviora.       Um    -»uoDscîk   fteNvLcac    »sm^r   r« 


air^  HjuM^Jr.i/taut  laid  Bmti^^  mil  d^mi  Lf>iiii£  Lexpoz«:  V«is  4  Co. 
»Vt    OClI  a.  «Ä  ^ 

riM  BvfUL  wiH  ZTi4<ii4*  -.3.  'Im  ^cvimni  'iitr  KjatsKÔca  ErÂik  eÏB.- 
ftam..     DïMsieiB  Zwecke   i«>r3i(a3L^i'iL   dsiïnc   <2ae  ^uùecciuie  Beczacknaur 

<>«  «fMuiMÛs  CaarA-*.  f«ni^  ^ii«»«».  iim  die  2»3idûeâriâca«&  B&ckbocke 
Z^!!9lpu^a  d^T  r^viea  erLiiczun.  Ha:xp<'.4cîinf*.«n.  ^if^r  ^Grxad>zTEZf  zur  K^e-tA- 

W^x^^rüE.  w^riîT.  »Tiç-r  i-iiîh.  di-t  HAapcproc-L«aL«!>.  di<^  Kac*^»  Ethik 

*3*f^r»/.isr  Biçr^i«/rh*izî2n«-  -ii*  *^:*  d«-  usôî^t:  Z3:^zr=L'«!ifidie^xMien  Dar- 
tfe;i^*4r  irj*«rf*  G^e^enÄaL«**:».  H.  Coc.*t*  W*rk  *Kaa**  Gnadlf  gnne  der 
Oîkik*  fB^in  I^TTT  er»eiii«c.<Tk  L«^:  «rufiirtWrh^  Asw'ûfcUfed'frwtzancen  mit 
«^rq^T^n  Eirhik^TT.  z.  B  mît  Hiç»:ncr>!-m.  Krir^r.  Sckwiuz,  Stanipe,  Scao- 
dÎAir^r  a.  a.  var^i  hier  Û£&x  zq  nmireben. 

Die  hieriker  r^h/Hicem  Kapitel  çrtzppierrii  «i^b.  am  zvei  zentnle 
Frac<^n.  die  Daeh  dem  We^^c  d#4  Si^ïicaet:.  r«exv.  dem  obeiïteii  Morml- 
prinzîp  md  die  oaeh  der  Willensfreiheit  Zor  eT«te&  «tehen  folçeDde 
Kapitel  io  Beziehimjr:  .VeriiäitEiit  der  pfaktiäcken  zur  theorerfeMrheii  Ver- 
nonft*,  .Vemanftapnori  «ader  Willei»aprifi<i?^.  .der  formale  Charakter  des 
katecroriAeheii  faiipentiT%*.  .die  Ucbeçreiflichkeit  des  kategorischen  fanpe- 
mtiri*.  .das  Verfaihais  der  KantischéB  Ethik  zum  Eadlmonismus*,  .der 
RirorismiM  der  Kantîachen  Ethik*,  .Kants  Lehre  vom  h^chsteii  Gut  and 
▼on  den  Priftiilaten*.  «4ias  Verfaihnis  der  wichtiesten  ethischen  Rieht nngeo 
der  Ge^enwan  zo  Kant*:  mit  der  zweiten  Fnee  be4chàftieirn  sich  die 
Kapitel'  .die  rerschiedenen  Bedeatan£en  des  Freiheitsheeriffs  bei  Kant", 
^die  I>hre  Tom  intelUçiblen  und  empirischen  Charakter*.  .Kants  Verhält- 
nif  zum  hentiiren  Deteiminismos  und  Indeterminismos*. 

Das  Ziel  dieser  Untemchnn^en  ist  nicht  nnr  das.  den  wahren  Sinn 
der  Kantischen  Lehren  festzustellen  and  irriçe  Deatonçen  abzuwehren, 
sondern  es  besteht  auch  darin,  vermittelst  einer  pietAtrollen  and  doch 
freimütigen  Kritik  an  Kant  selbst,  diejenigen  seiner  Grandçedanken  her- 
aosKoschAlen,  die  heute  noch  al«  iriltie  erscheinen  und  ihr  VerhältnLK  za 
den  bedeutsamsten  Richtun/Bren  der  modernen  Ethik  zur  Darstellung  zu 
brin^n.  Dies  forderte  einübende  Auseinandersetzun^n  mit  dem  Endft- 
monism  US,  Evolutionismus,  der  thomistischen  Ethik  imd  mit  dem  Deter- 
minismus. 

Oiessen.  Prof.  August  Messer. 

Roppelmann,  Wllhehn  Kritik  des  sittlichen  Bewusst seins 
vom  philosophischen  und  historischen  Standpunkt.  Berlin, 
Reuthcr  Ä  Reichard.     1904.    (MH  u.  385  S. 

Diose  rntersuchnnfr  des  sittlichen  Bewusstseins  gelang  zu  dem  Re- 
•ulUt.  dHH»  btM  aller  örtlichen  und  zeitlichen  Verschiedenartigkeit  der  sitt- 
lichen AimchHUungen  doch  ein  fester  Pol  vorhanden  ist,  nAmlich  das  stets 
uiwi  üboriill  Midi  findende  Bewusstsein  der  Pflicht  der  Wahrhaftigkeit  resp. 
dfr  /lUvnrllUMigkeit,  welche  nichts  anderes  ist  als  Wahrhaftigkeit  auf  dem 
pmkÜM'lirn  Ot^biot.  Und  zwar  ist  diese  Wahrhaftigkeit  resp.  Zuverlässig- 
kcli  niolii  rillte  laicht  neben  anderen,  sondern  die  Grundpflicht,  auf 
Wtlchl^r  Nllr  Mtulrrtii  ruhen,  sodws,  je  mehr  das  Bewusstsein  dieser  Pflicht 


Selbgtanzeigen  (Koppelmann).  Ö6Ö 

Abff«schwächt  und  erstickt  wird,  desto  mehr  das  Pflichtbewusstsein  auch 
auf  allen  anderen  Gebieten  ins  Wanken  s^erüt.  Denn  alle  anderen  Pflichten 
werden,  wie  im  3.  Kapitel  i^die  greschicntliche  Entwickelun^  des  sittlichen 
Bewusstseins*^)  nach/are wiesen  wird,  zu  wirklichen  Pflichten,  an  welche  das 
Individuum  sich  innerlich  gebunden  hält,  erst  durch  die  stillschweigende 
oder  ausdrückliche  Anerkennung  desselben,  also  durch  eine  Art  von  Selbst- 
verpflichtung, deren  ganze  Kraft  auf  der  Zuverlässigkeit  beruht.  Die 
Gründe  der  Anerkennung  dieser  sekundären  Pflichten  sind  verschieden  ; 
in  den  meisten  Fällen  liegen  sie  in  dem  eigenen  Bedürfnis  resp.  dem 
eigenen  Interesse.  Die  Gestaltung  der  sekundären  Pflichten  dagegen 
ist  ein  Produkt  der  Gesellschaft  und  vollzieht  sich  nach  organischen  Ge- 
setzen, sodass  auf  gleichen  Kulturstufen  die  sittlichen  Ansäauun^en  bei 
den  verschiedensten  Völkern  eine  überraschende  Ähnlichkeit  aufweisen. 

Das  Spezifisch-Ethische  liegt  demnach  in  der  Wahrhaftigkeit  resp. 
Zuverlässigkeit,  aus  welcher  sich  dann  weiterhin  bei  sehr  hoher  Entwicke- 
Inng  Liebe,  d.  i.  Drang  zur  innigsten  geistigen  Gemeinschaft  entwickelt 
Die  Pflicht  der  Wahrhaftigkeit  resp.  Zuverlässigkeit  ist  im  Gegensatz  zu 
den  sekundären  Pflichten  ohne  menschliches  Zuthun  und  unabhängig  von 
aller  Erfahrung,  d.  i.  in  Kants  Sinne  a  priori  da.  Das  Bewusstsein 
derselben  entspringt  nämlich,  wie  im  2.  Kapitel  dargestellt  ist,  mit  Not- 
wendigkeit aus  dem  Wesen  der  Vernunft  resp.  Venunftgemeinschaft. 
Durch  diesen  Nachweis  wird  zugleich  der  enge  Zusammenhang  des  ethi- 
schen Prinzips  mit  der  Erkenntnis thätigkeit  klar.  Da  die  Pflicht  der 
Widirhaftigkeit  resp.  Zuverlässigkeit  nicht  vorschreibt,  was  wir  sagen 
oder  thun  sollen,  sondern  nur  eine  gewisse  Form  des  Verhaltens  verlangt, 
nämlich  die  Einheit  und  Harmonie  des  Subjekts,  die  Übereinstimmung  des 
Inneren  und  Äusseren  bei  allem  Verhalten,  so  muss  das  ethische  Prinzip 
zugleich  als  rein  formal  in  Kants  Sinne  bezeichnet  werden. 

Das  Wesen  des  Bösen  besteht  dementsprechend  in  der  Falschheit 
und  ihren  verschiedenen  Erscheinun^formen.  Die  Motive  der  Falschheit 
fînde  ich,  wie  im  4.  Kapitel  im  einzelnen  entwickelt  ist,  in  einer  ge- 
wissen, durch  den  Intellekt  vermittelten  Entartung  des  Trieblebens,  welche 
zur  Genusssucht  sowie  zur  Ehr-  und  Herrschsucht  führt,  eine  Entartung 
der  Affekte  und  Stimmungen  im  Gefolge  hat  und  bei  fortschreitender 
Konzentration  des  Wollens  zur  bewussten  Selbstsucht,  dem  Gegenteil  der 
Liebe,  sich  entwickelt.  Den  Kampf  dieses  bösen  Prinzips  mit  dem  guten, 
die  Voraussetzungen  des  Sieges  des  einen  über  das  andere  sowie  den  Zu- 
sammenhang der  Sittlichkeit  mit  der  Religion  behandeln  die  letzten 
Kapitel. 

Das  Buch  sucht  also  die  Lösung  der  ethischen  Probleme  in  der  von 
Kant  gewiesenen  Richtung  und  stimmt  in  der  Grundüberzeugung  von 
dem  apriorischen  und  formalen  Charakter  des  ethischen  Prinzips  mit  ihm 
überein,  gelangt  aber  im  einzelnen,  insbesondere  bei  der  Fassung  des  sitt- 
lichen Grundprinzips,  zu  anderen  Resultaten.  Vor  allem  tritt  auch  der 
Zusammenhang'  der  empirischen  Elemente  der  Sittlichkeit  mit  dem  aprio- 
rischen Prinzip  derselben  hier  deutlich  zu  Tage. 

Leer.  W.  Koppelmann. 


2^  MtwuexJMii'i, 


MHteilangeiL 


Eft  ««r  ïm  riff^iwàn  zn  enrartu».  dan  der  li.  F<l)w  190t  ûcàt 
mmr  d^m  G^krbrteA  AdUm  m  Kaotleiem  cHw»  wnde  md  ■■■!:  r  ikaem 
»mA  deü  JfmrnMl»t0^  .S€//ff  »a  BmektKn  kierther  md  wîTTii—i  ii  G«> 
kgenlMrtt  zmn  Wî^rd^mMiffiiicb^m  a]t#rr  AnekdMdum.  toadcTB  daw  sack  die 
Emue  «if  ihre  Art  d«»  Pbil/ji^/pheD  pt/äenken  werde,  und  to  irt  «  auch 
geluMiiiien,  Zwar  J^mm  war  er*,  zu  keiner  tob  den  Kiasten  hat  er  in 
einem  Mff^is^tn  Verhelf  m»  i^e^^nden.  Ah^r  die  Kaust  ÛFt  reick,  äe  kt 
mitteilend  and  aiMt^^iletid,  »e  ideht  auch  da,  wo  se  nickt»  erkalten  kat. 
and  da  rielleiekt  am  allerfie(j«Um,  Wie  die  Maler  der  Renainance  nickt 
danach  i^^frai^  hahen,  ob  die  Heiliit^^  der  enten  Jahrhandote  Verehrer 
der  Kan^  waren,  «o  kann  auch  di^  doreham  ankân«tleriftche  Charakter 
Kanta  kein  Grund  für  die  Kamt  «ein,  an  ikm  vor&berzo^hen.  Wohl  aber 
kann  da«,  wa»  Kant  n^weaen  i«t,  kann  die  That*ache,  da»  in  ihm  eine  se- 
waltiire  Potenz  in  die  Welt  tnngtirtten  ist,  hinreichender  Gmnd  for  die 
Konst  «ein,  auch  ihn  in  ihre  Anneinandersetzoni^  mit  der  Wirklickkeit 
einzubeziehen. 

Man  kann  nan  nicht  «aipen,  dam  die  Kanjit  nicht  von  jeher  hiernach 
gehandelt  hAtte.  Ea  ipebt,  am  nnr  Ton  den  bildtrnden  Künsten  zn  ^rechen, 
eine  lan^  Reihe  von  Portrftta,  Bähten,  Medaillen.  Aber  wie  weniges  da- 
von kann  doch  aaf  wirklichen  Kanatwert  Anspruch  machen!  Im  groasen 
Ganzen  darf  man  behaupten,  daa«  die  vorhandenen  älteren  bildlichen  Dar- 
stellungen uns  zwar  ziemlich  genau  sagen,  wie  Kant  ausgesehen  hat,  dass 
aber  luum  eine  ,4>arstellung^  Kants  im  Ästhetischen  Sinne  des  Wortes 
darunter  ist.  So  war  hier  wirklick  noch  eine  Aufgabe  zn  lösen,  und  ohne 
Zweifel  :  die  Lösung  war  in  unseren  Tagen  leichter  als  zu  Kant«  Lebzeiten. 
Es  ist  durchaus  entschuldbar,  dass  unter  den  Malern  und  Zeichnern,  denen 
Kant  gesessen  hat,  kaum  Einer  war,  der  den  Gegenwärtigen  in  seiner 
flberra^enden  Grösse  zu  erfassen  vermocht  hätte.  Lnd  so  sind  denn  jene 
alten  Süder  auch  nicht  viel  mehr  als  Reproduktionen  der  Netzhautbilder. 
Dem  Kûnbtler  von  heute  liefern  sie  die  unentbehrliche  Unterlage,  sie  sind 
ihm  hinlänglicher  Ersatz  ffir  den  unmittelbaren  optischen  Eindnick.  Aber 
der  Künstler  von  heute  wird  ein  Bewusstsein  von  der  historischen  Grösse 
Kants  schon  mitbringen,  sofern  seine  Leistung  überhaupt  jener  Freiheit 
entspringt,  ohne  die  es  keine  wahrhaft  künstlerische  Leistunn^  giebt.  Und 
dieses  Bewusstsein  ist  auch  sicherlich  mehr  als  bloss  subiektive  Meinung: 
seinem  Hauptinhalt  nach  ist  es  unweigerlich  bestimmt  durch  das  Wissen 
davon,  was  Kant  als  historische  Persönlichkeit  gewesen  ist,  —  und  so 
schwankend  auch  demjenigen,  der  selbst  in  der  Kantforschung  steckt,  die 
Meinungen  der  Gegenwart  über  Kant  erscheinen  müssen:  vergleicht  man 
mit  den  Meinungen  aus  dem  letzten  Jahrzehnt  des  18.  Jahrhunderts,  so 
ist  docii  sofort  klar,  wie  viel  fester  die  Geschichte  Kants  Z^ge  um- 
riasen  liat. 

Vor  mir  habe  ich  die  Radierung  der  Berliner  Künstlerin  Clara 
Meilin  (Selbstverlag  der  Künstlerin,  Berlin  W.,  Kurfürstendamm  130; 
Prel»  (b*H  Blattes  8  Mk.).  Kant  im  Profil  nach  links,  in  der  Haltung  etwa 
wie  HUf  RnuciiH  Kantdenkmal  in  Königsberg  oder  auf  dem  Sockelfnes  am 
Denkmal  Kdrdrichs  des  Grossen  in  Berlin.  In  der  Ecke  links  oben  über 
der  dt»ninn«trirrend  vorgestreckten  rechten  Hand  das  Wappen  von  Königs- 
bafff,  VwiPt  (Inm  Ranae  des  Porträt«  rechts  Kants  Wonnhaus  von  der 
Qiil^lliHiltii,  linkN  die  Nachbildung  von  Kant«  Autograph.  Plattengrösse 
MXW  OJn.    Krinncrt  das  BiW  beim  ersten  Blick  stark  an  Rauch,  so  zeigt 


Mitteilungen.  567 

doch  schon  der  nächste  Blick,  dass  die  Ähnlichkeit  nur  in  dem  alleräusser- 
lichsten  besteht.  Wie  fein  ist  z.  B.  schon  die  Haltung  der  Hand  variiert, 
und  wie  völlig  anders  ist  hier  der  Kopf!  Und  geräe  in  diesen  beiden 
Partieen,  in  der  geistreich  aufgefassten  Hand  und  dem  ganz  gewaltig  wir- 
kenden Denkerkopf  liegt  der  Haupt  reiz  der  Radierung.  Imponierend 
wirkt  der  mächtige  Schädel  auf  dem  schmalen  Körper.  Aber  die  Haltung 
ist  nachlässig«  fast  kraftlos,  der  Kopf  hängt  nach  vorne  — wunder- 
bar klar  schaut  das  Auge  unter  der  hohen  freien  Stirn  hervor.  Man  sieht 
es  wohl:  „die  Höh'n  des  Olympos"  werden  nicht  erbeben,  wenn  diese 
Brauen  winken.  Kein  gewaltiger  Wille  zieht  uns  hier  in  seine  Macht«phäre 
hinein.  Aber  wer  die  P>habenheit  der  leidenschaftslosen  klaren  Ruhe  zu 
verspüren  vermag,  dem  wird  sie  hier  entgegentreten.  In  weite  Femen 
geht  der  Blick  des  Philosophen  :  Kant  hat  die  „Maulwurfsaugen "  verachtet; 
man  braucht,  um  klar  zu  sein,  nicht  beim  Nächstliegenden  Halt  zu  macheu. 
Die  Sicherheit  des  Intellektes  —  nicht  des  «gesunden  Menschenverstandes", 
sondern  des  weltumspannenden,  ja  weltbegründenden,  des  transscendentalen 
Bewusstseins  :  das  ist  es,  was  diese  Radierung  von  Fräulein  Meilin  dar- 
stellt. - 

Noch  eine  Dame  hat  dem  grossen  Königsberger  eine  künstlerische 
Huldigung  dargebracht:  Louise  Staudinger  in  Darmstadt,  die  Tochter 
des  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  wohlbekannten  Kantianers  Prof.  Dr. 
Franz  Staudinger.  Der  „Kant"  von  Fräulein  Staudinger  ist  eine  Plakette, 
13X13  cm  gi'oss,  eine  wohlgelungene  Übersetzung  des  in  Dresden  aufge- 
fundenen, jetzt  im  Museum  zu  Königsberg  befindlichen  Kantbildes  (v^l. 
das  Festheft  der  KSt.)  in  den  Reliefstiel.  Die  ästhetische  Leistimg  ist  hier 
wesentlich  verschieden  von  der  eben  besprochenen  :  denn  wenn  eine  ältere 
Darstellung  Kants  Anspruch  auf  Kunstwert  machen  darf,  so  ist  es  —  so 
weit  ich  nach  Kopien  urteilen  kann  —  das  Dresdener  Bild  aus  der  Graff- 
schen  Schule.  Allein  unter  den  vorhandenen  Abbildungen  ist  keine,  die 
einen  selbständigen  ästhetischen  Wert  hätte.  Auch  die  grosse  Photogra- 
phie des  Bildes  lässt  nur  ahnen,  wie  das  Original  wirken  mag.  Bei  der 
farblosen  mechanischen  Reproduktion  eines  Gemäldes  geht  eben  notwendig 
eine  Fülle  von  Akzenten  verloren,  die  für  die  ästhetisch  einheitliche  Wir- 
kung unerlässlich  sind.  Loui.se  Staudinger  hat  sich  die  schöne  Aufgabe 
gestellt,  das  ästhetische  Objekt  jenes  Gemäldes  mit  den  Mitteln  ihrer 
Kunst  zu  erfassen  :  diese  Aufgabe  bedeutet  mehr  als  eine  blosse  Kopie, 
das  Werk  musste  Nachschöpfung  und  teilweise  selbst  Neuschöpfung  werden. 
So  aber  ist  es  erst  möglich  geworden,  den  „Kant"  des  Königsberger  Mu- 
seums in  einer  künstlerisch  vollgiltigen  Reproduktion  zu  erhalten.  —  (Ab- 
güsse sind  durch  die  Künstlerin  zu  beziehen  :   Darmstadt,   Inselstrasse  26.) 

Fritz  Medicus. 


Kantmedaille. 


Ausser  durch  das  schöne  Bild  von  Clara  Mellin  und  die  Plakette 
von  Louise  Staudinger  ist  auch  in  einer  bei  A.  Werner  &  Söhne  in  Berlin 
erschienenen  Medaifle  von  Wolf  des  hundertsten  Todestages  Kants  künst- 
lerisch gedacht  worden.  Diese  Medaille  ^ebt  den  Philosophen  recht  gut 
nach  dem  bekannten  Döblerschen  Bilde  wieder.  Es  gereicht  dieser  —  so- 
wohl in  Silber,  wie  in  Kupfer  und  in  Bronze  ausgeführten  —  Medaille 
zum  Vorzuge,  dass  sie,  einmal  abweichend  vom  allgemeinen  Schema,  nicht 
ein  Profil-,  sondern  ein  Enfacebild  darstellt. 

Sie  hat  aber  auch  eine  Kehrseite  im  eigentlichen  und  im  übertrage- 
nen Sinne.  Denn  die  auf  der  Rückseite  ausgeführte  Darstellung  kann 
kaum  als  Bestimmung  einer  glücklichen  Idee  gelten:  Die  hoch  in  Wolken 
zum  Sternenhimmel  —  an  dem  deutlich  der  Saturn  mit  seinem  Ringe 
sichtbar  ist  —  aufschwebende  und  pathetisch  auf  ihr  Herz  weisende  Jung- 


568  Mitteilmigeii. 

fran  Wird  man  schwerlich  als  passende  Allegorie  der  Kantischen  Woite 
^der  bestirnte  Himmel  fiber  mir  und  das  mondische  Gesetz  in  mir^  —  an- 
sprechen dürfen. 

GraDdan;^  einer  polniachen  phflosophlfM^hen  Graellfichaft. 

Herr  Professor  Wartenberg  teilt  uns  aus  Lemberg  mit: 
Am  12.  Februar,  dem  hundertjährigen  Todestage  Immanuel  Kants, 
fand  in  Lemberg  die  Inaugurationsfeier  der  neu  gegründeten  JPol- 
nischen  Philosophischen  Gesellschaft*  statt.  Die  Eröffnungsrede 
hielt  der  Vorsitzende  der  Gesellschaft,  Prof.  Dr.  Twardovski,  die  Fest- 
rede Prof  Dr.  Chmielowski  über  das  Thema:  Kant  in  Polen. 


Ein  Kaut-Fnnd. 

In  einer  Umgebung,  die  eine  Handschrift  Kants  nicht  vermuten 
Hess,  in  dem  von  mir  aufgefundenen  Hamann-Nachlass  des  Präsidenten 
V.  Roth,  fand  sich  das  nicht  signierte  Schriftstück,  aus  dessen  Inhalt  ich 
sogleich  auf  Kants  Autorschaft  schliessen  musste.  Die  Vergleichnng  mit 
faksimilierten  Handschriften  Kants  bestätigte  die  Vermutung.  Das  Schrift* 
Stück,   acht   Seiten   gross  Folio  sUrk,   deckt  fünf  ençbeschriebene  Seiten, 

i'ede  etwa  mit  42  Zeilen  beschrieben.  Die  Handschrift,  anfangs  ungemein 
tlar  und  besonnen,  wird  im  Verlaufe  flüchtiger,  die  Korrekturen  häufiger. 

Dem  Inhalt  entnehme  ich  folgende  kurzen  Angaben  :  Der  Autor  will, 
um  die  Klippen  des  Dogmatismus  und  Skeptizismus  zu  vermeiden,  den 
Charakter  der  neugewonnenen  Denkungsart  feststellen;  er  findet  ihn  in 
der  strengen  Anwendung  der  Urteilskraft  auf  das  Fundament  aller  Be- 
hauptungen. Hierdurch  sei  es  möglich,  vom  blossen  Meinen  und  Glauben 
zum  Wissen  aufzusteigen.  Meinen,  Glauben  und  Wissen  werden  gegen- 
einander abgegrenzt,  wobei  Beispiele  aus  der  Geschichte  zum  Beleç  menen. 
In  der  Vernunftgewissheit  werden  wieder  apodiktische  und  intuitive  Ge- 
wisslieit,  Aximome  und  Mathemata  unterschieden  Die  moralische  Gewiss- 
heit wird  in  ihrer  Besonderheit  aufgezeigt.  Ein  summarischer  Begriff 
st^'llt  dann  Dogmatismus  und  Skeptizismus  einander  gegenüber  und  be- 
zeichnet den  Kritizismus  als  die  begrifflich  und  peschichtlich  geforderte 
Denkungsart.  Diese  Sätze  werden  endlich  in  geistvoller  Ausführung  er- 
weitert. 

Was  das  Ganze  darstellt,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden;  es  könnte 
vielleicht  ein  frühzeitiger  Entwurf  eines  Vorworts  zur  Krit.  d.  r.  V.  sein, 
worauf  einige  Anklänge  weisen.  Auch  die  Frage,  wo  die  Handschrift  in 
die  erwähnte  Umgebung  gekommen  sei,  lasse  ich  offen.  Gewisse  Spuren 
zeigen  auf  Jacobi.    Näheres  darüber  mag  die  Veröffentlichung  bringen. 

Die  Herausgabe  der  von  der  Königl.  Bibliothek  zu  Berlin  käuflich 
von  der  Eigentümerin  erworbenen  Handschrift  soll  durch  die  Kant-Kom- 
nii8bion  in  der  Akademie- Ausgabe  erfolgen. 

München.  Dr.  Heinrich  Weber. 


Kantgesellachaft. 

In  unserem  Festheft  IX,  1|2,  Seite  344  ff.  erschien  ein  Aufruf  ^An 
die  Freunde  der  Kantischen  Philosophie.  Bericht  über  die  Begründung 
einer  .Kantgesellschaft'  und  die  Efrrichtung  einer  jKantstiftung*  zum 
hundertjährigen  Todestag  des  Philosophen".  Gleichzeitig  brachten  'wir  das 
Verzeichnis  der  bis  damals  eingetretenen  Mitglieder  der  neuen  Gesellschaft, 
und  meldeten,  dass  die  erstmalige  Generalversammlung  am  Freitag,  den 
22.  April,  Kants  Geburtstag,  in  Halle  a.  S.,  Reichardtstr.  15,  stattfinden 
solle.  Diese  erste  konstituierende  Generalversammlung  fand  nun  auch 
wirklich  an  diesem  Tage  statt.  An  sämtliche  bis  dahin  angemeldeten 
Mitglieder  sowie  an  viele  Freunde  der  Sache  war  eine  Einladung  ergangea 
Diese  Einladung  enthielt  folgende 


Mitteilungen.  ô69 

Tagesordnung: 

1.  Begrüssung  der  Anwesenden  durch  den  Unterzeichneten. 

2.  Sonate  Op.  1  von  J.  Fr.  Herbart,   dem  Nachfolger   auf  Kants  Lehr- 
stuhl in  Königsberg,  vorgetragen  von  Fräulein  H.  Suchier. 

3.  Überreichung  des  gesammelten  Fonds  zur  Kant  Stiftung  an  den  Ku- 
rator der  üniversitÄt,  Herrn  Geh.  Reg -Rat  G.  Meyer. 

4.  Vortrag  von  Herrn  Privatdozent  Dr.  B.  Bauch:   „Kant  und  die  deut- 
schen Dichterfürsten". 

Pause. 

(Aussteilung  von  Kantbildem,  ersten  Drucken,  Festschriften  u.  dgl.) 
6.    Beratung  der  Statuten. 
6.    Wahl  der  Vorstandsmitglieder. 

Einen   ausführlichen   Bericht   über   diese   erste  Sitzung  brachte  die 
Gallische  Zeitung  No.  191,  sowie  die  Saalezeitung  No.  190  (letztere  brachte 
noch   in   No.  192   ein   ausführliches  Feuilleton   über  die  Kantausstellung), 
^us   diesen   Blättern   sind   dann  in  die  meisten  Zeitungen  kurze  Berichte 
tibergegangen.    An   dieser  Stelle   ist   folgendes   als   das  Wichtigste  zu  er- 
mähnen:   Bei   der  Beratung   der  Statuten  wurden  die  in  dem  Aufruf  vor- 
läufig  enthaltenen  Bestimmungen   angenommen,    kodifiziert   und  von  den 
Anwesenden   unterzeichnet.     Es   wurde    beschlossen,   dass  die  Kantgesell- 
schaft in  das  Vereinsregister  eingetragen  werden  soll.     Wir  können  daher 
die   Statuten    erst    zum   Abdnick    bnngen,    wenn    dieselben    den    vorge- 
schriebenen Weg  durch  das  hiesige  Amtsgericht  gemacht  haben.    Zu  Vor- 
standsmitgliedern sind  folgende  Herren  gewählt  worden: 

Geh.  Reg.-Rat  G.  Meyer,  Kurator  der  Universität  Halle. 

Hofrat  fiofessor  Dr.  A.  Riehl,  Halle. 

Geh.  Justizrat  Prof.  Dr.  Stammler,  z.  Z.  Rektor  der  Univ.  Halle. 

Dr.  C.  Gerhard,  Direktor  der  Universitätsbibliothek  Halle. 

Geh.  Kommerzienrat  H.  Lehmann,  Halle. 

Professor  Dr.  Hans  Vaihinger,  Halle  (Geschäftsführer). 

Es  ist  beschlossen  worden,  dass  die  Generalversanmilung  jedes  Jahr 
am  22.  April  stattfinden  soll.  Zum  Sitz  der  Gesellschaft  ist  Halle  be- 
stimmt worden. 

Beim  Erscheinen  des  Festheftes  hatt«  die  Sammlung  für  die  Kant- 
stiftung durch  die  einmaligen  Beiträge  der  Dauermitglieder  sowie  durch 
Geschenke  die  Summe  von  9185  M.  erreicht.  Bis  zum  22.  April  hatte  sich 
diese  Summe  auf  16000  M.  erhöht.  Dieses  Kapital  wurde  (vgl.  oben 
Punkt  8  der  Tagesordnung)  dem  Kurator  der  Universität,  Herrn  Geh. 
Regierungsrat  Meyer  als  Eigentum  der  Universität  Halle  zur  Verwaltung 
tibergeben.  Die  Zinsen  aus  diesem  Fonds  werden  von  der  Kantgesellschaft 
zur  Verwendung  gebracht.  Die  Sammlungen  zu  dieser  Stiftung  sind  auch 
bis  heute  weiter  fortgesetzt  worden  und  haben  auch  fernerhin  ein  sehr 
erfreuliches  Resultat  ergeben.  Doch  ist  die  Sammlung  noch  nicht  abge- 
schlossen, und  wir  bringen  daher  erst  in  einem  späteren  Hefte  die  Über- 
sicht über  die  weiteren  bisher  erfolgten  Einzahlungen  zu  Gunsten  des 
dauernden  Kantfonds.  In  sehr  dankenswerter  Weise  ist  diese  Sammlung 
von  verschiedenen  Seiten  energisch  unterstützt  worden,  und  e«  ergeht  die 
Bitte  an  alle  unsere  Freunde,  auch  weiterhin  noch  diesem  Fon£  Mittel 
zuzuführen,  um  für  alle  Zeiten  einen  Zentralpunkt  des  Kantstudiums  zu 
schaffen. 

Auch  an  Jahresmitgliedem  haben  wir  eine  grosse  Anzahl  neuer  Bei- 
tritte zu  verzeichnen  : 

Staatsminister  a.  D.  Oberprttsident  Dr.  v.  Bötticher,  Exe,  Magdeburg. 

K.  K.  Studienbibliothek  Klagen  fürt  (Gustos  Dr.  Ortner). 

Direktor  A.  Schulze,  Halle. 

Dr.  phil.  Max  Apel,  Berlin-Charlottenburg. 

Professor  Dr.  Fritz  Schnitze,  Dresden. 

Professor  Dr.  med.  Koblanck,  Berlin. 


570  Kitteiluni^eiL 

Prnltihhitr  P.  Tichomiroff,  Moskau. 

Vrohihhitr  Dr.  W.  Jerusalem,  Wien. 

Dr  phil.  Da  weft  Hicks,  London. 

Dr.  phil   J.  W.  Hicks  on,  Montreal  (Canada). 

Dr.  med.  Kalker,  KMn  a.  Rh. 

Ritter^utslHfsitzer  Siebert,  Corben  bei  Mollehnen  (Ostpr.). 

Kabrikdirektor  Kugen  Hecker,  Braunschweig. 

Buchdnickereibesitzer  Karl  Maisch,  Karlsruhe. 

FMvat^eiehrter  Dr.  R.  Wedel,  München. 

Friedrich  Freiherr  von  Hügel,  London 

Professor  Dr.  Karl  Kehrbach,  Charlottenburg. 

Professor  Dr.  A.  Hof  1er,  Prag. 

Privatdozent  Dr.  R,  Reininger    Wien. 

Rud.  Goldscheid,  Wien. 

Dr.  R.  HAnigswald.  Graz. 

Fabrikbesitzer  Friedr.  Curtius-Nohl,  Duisburg. 

Gr.li.  Kirchenrat  G.  H  ei  nr ici,  Leipzig. 

Professor  Dr.  Hu^o  M  uns  ter  b  erg,  Cambridge,  Mass. 

Dr.  Victor  Lowinski,  Berlin. 

Professor  Dr.  Victor  Delbos,  Paris. 

Professor  Dr.  Volkelt,  Leipzig. 

Frau  Bertha  Meyer,  Dresaen. 

Frau  Justizrat  Meyer,  Dresden. 

Dr.  Anton  Thorasen,  Kopenhagen. 

Dr.  Vaschide.  Paris. 

Hngifrungs-Referendar  Dr.  Sitzler,  Aurich. 

Professor  Dr.  A.  Wernicke,  Braunschweig. 

Htud.  Armin  Lusser,  Luzern. 

Privatmann  Gustav  Wagner,  Achern. 

Dr.  (Uy  V.  Brockdorff,  Privatdozent  der  Philosophie,  Braunschweig. 

Dr.  David  Wiktoroff,  Privatdozent,  Moskau. 

Magistrat  der  Stadt  Hildesheim  (für  die  Stadtbibliothek). 

Dr.  Karl  Gebert,  München. 

Professor  Dr.  Tb   Ruyssen,  Aix-en-Provence. 

Kommerzienrat  Edmund  Wirth,  Sorau. 

Professor  Dr.  J.  H.  Stirling,  Edinburg. 

Fiic.  Dr.  W.  Koppelmann,  Leer. 

->.  W.  N.  • 


Privatdozent  Dr.  W.  N.  Iwanovsky,  Kasan 
Generalarzt  Dr.  Kern,  Berlin. 
Dr.  R.  Jorges,  Düsseldorf. 
IVofessor  Dr   K.  B.  Hof  mann,  Graz. 
Dr.  med.  R  Gaul.  Stolp  1.  P. 
Philosophische  Gesellschaft, Wien. 
Proft>8sor  D.  Dr.  Fr.  Loofs,  Halle  a.S. 
Jacob  H.  Epstein,  Frankfurt  a.  M. 


Gleichzeitig  Dauennitglieder. 


Die  Verwendung  der  eingegangenen  Gelder  untersteht  der  Be- 
sohl ussfassuug  der  oben  genannten  6  Vorstandsmitglieder.  Eis  wird  da- 
rüber s.  Z.  in  den  KSt.  Rechenschaft  abgelegt  werden.  Wir  bitten  unsere 
Freunde.  nt>ch  weitere  Jahresmitglieder  für  uns  zu  werben,  und  indem  wir 
gleiohi^eitig  für  alle  bisherige  Thititiçrkeit  in  diesem  Sinne  danken,  wieder- 
holen wir  die  Bitte,  auch  für  die  weitere  Dotienmg  der  Kantstiftnng  thiti^ 
XU  sein.  .\lie  die  Kantgesellschaft  betreffenden  Mitteilungen  bitte  ich  an 
nüoli  KU  v^enden. 

Halle  a.  S.,  den  1.  August  1U04. 

Prof.  Dr.  H.  Vaihinger. 


Sach-Registcr. 


iube  115.  4G(). 

e,  das  497.  628. 

g  45 1.  4^5. 

nwahn  46(>. 

ienst  Gottes**  ACA)  ff. 

izismus  ß. 

in  18(>. 

zum  Guten  410. 
aung  266.  274  f. 
pologie  53.  99  f.  103. 
poinorphismus  19.  40. 
ponomie  53. 
ionalismus  39. 
»ranaturalismus  37  f. 
-iori  163. 

161.  267.  503. 
smus  14. 
k  513.  531. 
ling  46. 

mie  14.  427.  475. 
at  212.  223.  476. 
I  274  ff. 

nngsprinzip  279. 

omnium  in  omnes  463. 

tsein  161. 

tseinsiuhalt  226. 

3  ff.  76.  80.  372  ff. 

rsinhalt  242. 

e  221. 

rsetzung  538  ff. 

AS  Prinzip  des  Bösen  462. 

nheit  367. 
nliebe  419.  487. 
ntnm  27  f.  108.  .367. 


Dänemark  535. 
Determinismus  407.  410. 
Ding  an  sich  6  f.  15.  157. 
Dogmatismus  357. 

Empfindung  157.  168.  508. 

Rmpfiudungsquaiitäten  268.  495. 

Empirismus  6.  289. 

Endzweck  458. 

Energie,  das  Prinzip  von  der  Erhal- 
tung der  Energie  18.  265.  498. 

EntWickelung  17  f.  26  ff.  217.  504  f. 

Epigenesis  504. 

Erfahrung  (Begriff  u.  Bedingung  d.  E.) 
8.  163.  267.  290.  498. 

Erkenntnistheorie  6.  42. 

Erziehung  212  ff. 

Ethik  15.  17.  101.  427.  470  ff. 

Ethikotheologie  119  f. 

„Ethische  Gemeinschaft**  464  f. 

Eudämonismus  29.  128.  212.  429  f. 

„Faktum  der  reinen  Vernunft**  434. 
Flächenkrttmmung 
Familie  212. 
Freiheit  29.  78  f.  439. 

„Geistliche  Natur**  409. 
Geschichte  10  ff.  40  ff.  374  f. 
Geschichtephilosophie  60.  101.  119. 
Geschmacksurteile  216  ff. 
Gesetzeswissenschaft  16. 
Gesetzlichkeit  (Begriff  der  G.)  281. 
Glauben  34  f.  70  f.  357.  36«  ff. 
Glückseligkeit  31.  212.  480.  479. 
Gnadenlehre  77.  451. 


672 


ttegistei*. 


Onadenmittel  77. 

^Gute  Werk",  das  (verschiedene  Be- 
deutungen des  Begriffs  vom  g.  W.) 
386.  388.  390  f.  393  ff. 

Heiligkeit  441. 

Heilsgeschichte  75. 

Heteronomie  487. 

Höchstes  Gut  438  ff.  480. 

Idee  145.  602. 
Idealismus  164. 
Identitätsphilosophie  264  f. 
Illuminatismus  84.  466. 
Immanenz  Gottes  191. 
Impression  609. 
Individualismus  14.  50. 
Induktionsschluss  273.  280. 
Inspiration  466. 

Intelligibel  27  ff.  33.  120.  288.  449. 
Introduktion  der  Religion  143.  465. 
Irrationalismus  360. 

Kant  als  Persönlichkeit  197  ff.  523. 

als  Lehrer  529. 

als  Nationalphilosoph  527. 

sein  Leben  524. 

Bildnisse  Tit.  208.  820.  35Û. 

sein  Stil  517. 
Katechismus  (Königsberger)  37. 
Kategorie  181.  502. 
Kategorischer  Imperativ  145.  183. 
Katholizismus  39. 
Kausalprinzip  266. 
Kirche  73  f.  212  f.  488. 
Konnotationen  283. 
Kraft  273.  288. 
Kritizismus  5  ff.  17.  492  ff. 
Krümmungsmass  des  Raumes  277. 
Krümmungsradien  277. 
Kultur  60. 

Legal  437. 

^Leibliche  Natur"  409. 
Logik  101. 

Materialismus  156. 
Materie  273. 
Mathematik  160.  262.  274. 


Maxime  477. 
Mechanismus  18. 
Menschenrechte  124. 
Menschenwürde  225.  485  ff. 
Metaphysik  7  ff .   48  ff .  275.  288.  49^ 
Methodologie  16.  261.  501. 
Monismus  25. 
Monotheismus  110. 
Moralprinzip  427. 
Mystik  379  f. 

„Mftchste**,  der  417. 
Nächstenliebe  417.  485. 
Nativisuius  263.  280. 
Natur  12.  148. 
Naturalismus  288. 
Naturphilosophie  179.  495. 
Naturzustand  129.  463. 
Naturwissenschaft  160.  261  f. 
Neovitalismus  19.  530. 
Neukantianismus  7.  156. 
Noumenon  168. 
Nutzen  212. 

Offenbarung  66  ff. 
Ontogenie  217. 

Pädagogik  145.  211. 

Pantheismus  107  f.  194. 

Papsttum  387. 

Pathologische  Liebe  455.  487. 

Permanente  Möglichkeit  283. 

Persönlichkeit  403  f.  446. 

Person  446.  453. 

Pflicht  438.  460  ff. 

Pietismus  37. 

Phänomenal  33  f. 

Phylogenie  217. 

Physik  177. 

Physiologie  261.  500. 

Polytheismus  107  f. 

Positivismus  6  f.  156.  495.  498. 

Postulate  d.  pr.  Vem.  8.  29  f.  438  f* 

Prädetermination  405  ff. 

Praktische  Liebe  455.  487. 

Produktive  Einbildungskraft  155. 

Protestantismus  39  f. 

Psychologismus  48  f.  113. 


Register. 


57â 


Jnationsmetaphysik  405  f.  488. 
dlierte  Harmonie  54. 
des  Willens  406. 

alismus  6  f. 
167.  274  ff.  502. 
t  257.  5%. 
lation  124.  357. 
ivität  277. 

e  Verstand",  der  383  ff. 
Gottes"  128.  193.  460  ff.  477. 
Lsmus  14.  50. 

ität  des  sittlichen  Inhalts   415. 
usgemeinschaft  420  ff. 
nsphilosophie  21  ff   259.  457  ff. 
:ance  l*i4. 
ik  124 
imus  244. 

ung  451. 

rennögen  213. 

ebe  480. 

weck  234. 

Wahrnehmung  265. 

hkeit  145. 

he  Modalitat  260. 

he  Qualität  260. 

:esetz  74. 

i-religiöse  Gemeinschaft  403 

le  Bethatigung  413.  482. 

hen  Begriffe«,  die  433. 

I  46.  495. 

ädagik  213. 

sehe  Sinnesenergie  270  f.  495. 

ismus  108. 

aeitat  181.  447. 

>S. 

:esetzgebung  59. 

:irchentum  58. 


StatatarismuB  466  ff.  489. 
Stoicismus  109. 
Supranaturalismus  84. 
Syroboltheorie  70. 
Synthetisch  184. 

Textverschiebung  538  ff. 
Thaumaturgie  466 
Theismus  108  f. 
Theologie  63  ff.  458. 
Transscendental  22  f  261  ff. 
Transscendentaltheologie  358. 
Triebmechanismus  101.  145. 
Tugendgesetze  463  ff. 

Unterricht  240. 

Tehikel    des  Religionsglaubens    143. 

466. 
Verantwortlichkeit  407. 
Verinnerlichung  475  ff. 
Verdienst  438.  462.  479  f. 
Vernunft  161.  4. 
Vemunftwesen  189.  235. 
Völkerrecht  124.  244. 
Voluntarismus  406. 

Weltanschauung  15.  520. 
„Weltliebe«  419.  487. 
Weltstaatenbund  124. 
Wertfeindschaft  389. 
Wertindifferenz  389. 
Wertwissenschaft  16.  635. 
Wissen  36. 
Wissenschaft  10. 
Wunderglauben  19.  105. 

Zeit  167.  275.  502. 
Zweckmassigkeit  18. 


6?4 


fiegiBtet. 

Personen  -Register. 


Anaxagoras  109. 
Aristarcb  854. 
Aristoteles  208.  370  f. 
Arnoldt  20.   38.  67  f.  60. 
66.  77.96. 100  f.  109. 139. 
Athanasius  372. 
Augustin  406. 

Baader  293. 

Bac  ou  i*Ol. 

Baen.sch  Bô3. 

Bahrdt  92.  144.  151. 

Bauch  309. 

Baum^arten  513. 

Baur  35.  112. 

Beattie  224. 

Beck  51.  322. 

Bendavid  139. 

Bergemann  220  f. 

Berkeley  157.  162. 

Bernoulli  73. 

Biester  63. 

Bismarck  197.  391. 

Bock  47.  158. 

Boehiin5,  lac.  282. 293. 306. 

BohHus  B32, 

Borowski  203.  328. 

Bourignon  44. 

Bout  roux  132. 

Bröhmel  214. 

de  Brosse  96. 

Bruno,  G.  121.   209.   299. 

La  Bruyère  515. 

Burdach 

Caesar  296. 
Carus,  V.  305. 
Oharlevoix  453. 
Christiansen  551  f 
Cicero  370. 
Cohen  299. 
Coleridge  305. 
Condorcet  106.  124. 
Copernicus    161  f.    165. 

167.  864. 
Oouain  305. 


Crichton  309. 
Crusius  338. 

Dähnert  .302. 
Dalton  .303. 
Darwin  505. 
Democrit  293.  495. 
Descartes  337  f.  406.  493. 

495  f. 
Dieckhoff  406. 
Diels  324. 
Diestel  343. 
Diesterweg  220.  231. 
Dieterich    112.   125.  1.36. 

143. 
Düthey   63.   64.   66.    119. 

121.     130.    140.    322  ff. 

339  f.    356.    368  f.    3r.O. 

364.  402. 
Döhler  224. 
Dove  339. 
Dowden  299. 
Duns,  Scotus  3;)7.  406. 

£rasmus  357. 

Erdmann,  B.   37.  62.  100. 

102.    114.  118.  120.  124. 

127.  1.38.  540  ff. 
Eucken  17.  148 
Euklid  303. 

Faye  338. 

Fechner  637. 

Fessier  93. 

Fichte    7.    14.   68   167  ff. 

163.  177.  185.  198.   262. 

292  f.    300.    3'/.    444. 

504  f.  611.  546  f.  649. 
lâcher,  Kuno  21  f.  24.  28. 

38.  71.  80.  91.   99.    162. 

199.  206.  308.  343.  363. 

427.  442.  500.  511. 
Flint  47. 

Flügel  222.  224  ff.  231  ff. 
Fontenelle  318. 
Fortlage  292.  306. 


Frey  325.  381. 
Freytag,  G.  366. 
Friedrich  d.  Gr.  293.  SMj^ 

343. 
Fries  ;i03. 
V.  Funk  329. 

Galilei  493. 

Garve  62.  176.  514. 

Gauss  277. 

Gedan  325. 

Gensichen  336. 

Gerhard  66. 

Gibbon  86.  99.  148 

Gilbert  .304. 

Goethe   74.  90.   121.  14a 

196.  ^68.  292.  301.  905. 

317.  318.  320.  403.5461 
Görlitz  47. 
Goldstein  47.  104. 
Grimm,  H.  306. 
Gunkel  112. 

Ilaberkant  317. 
Haeckel  217. 
Hagen  336. 
V.  Haller  44. 
Hamann   142.  152.  290. 

514. 
V.  Hardenberg,  L.  H.  319. 
Hamack,  A.    361  f.    356. 

372  ff.  402  f.   420.  485. 

4^9. 
Hartenstein  321.  32a  329. 

.380.  331.  338. 
V.  Hartmann  208.  294. 
Hasbacli  47. 
Hasse  172   178. 
Haym  101. 
Hebbel  311. 
Hegel  7.  16.  17.  27.  118. 

140.   142.   162.  159.  168. 

185.    261  f.     290.     293. 

499. 
Hegler   53.    68.   87.    100. 

115.  12.5.  145. 


Register. 


675 


Seinrich  848. 
Seixirici  842. 
:Heiiize  824.  825.  827. 
-▼.  Helmboltz  261—286. 

499  f.  504. 
Hengstenberg  112. 
Herbart  7.  215  i.  224  f. 

228.  281  f.  285  ff.  241. 

248.  245.  298. 
Herbert,  M.  812. 
Herder  49.   56.   98.    101. 

118.  121.  128.  189.  142. 

148.  152  246-260.  818. 

514. 
Hersdiel  336 
Herts  12. 
Herz  42.  821. 
Hubert  279. 
Hobbes  118.  498. 
HOfler  325. 
Hoffmann  182. 
HoUmann  20.  87.  89. 
Huber  49. 
Hofeland  170. 
V.  Hnmboldt,  W.  286 
Hume   15.  47.  56.  86.  96. 

99.  103  ff.   107  ff.   119. 

130.  134.   187.  148.  266. 

272.  286.  289.  290.  800. 

308.  819.  353.  495.  497  ff. 

501.  509.  515.  536. 
Hutcheson  536. 
Huxley  302. 

JFachmann  205. 
Jacob  316.  819. 
Jacobi  14.  42.  48.  87.  88. 

132.  290. 
Jftsche  325.  326. 
Jesus  24.  26.  71.  77  f.  92. 

94.   97.    125.    129.    150. 

196.  299.  300.  368. 
Jung  151. 
Just  224.  226  f.  282. 

Kaftan  359. 
Kahl  406. 
Karl  V.  296. 

Kmtstudica  IL 


Karl  XU.  296. 
Kattenbusch  405.  411. 
Kawerau  370. 
Kehrbach  825. 
Kern  222. 
V.  Ketteier  891. 
Kiesewetter  102. 
Knutzen  339. 
Königsberger  262. 
Kömer  311. 
Krause  179. 
V.  Kügelgen  80. 
Külpe  325. 

Iiaas  57.  58. 

Lambert  289. 321. 358. 502. 

Lämmer  401. 

Lange,  F.  A.  292.  302.  600. 

Lange,  K  217. 

Lasch  35. 

Lask  54.  444. 

Lasswitz  330.  382.  388  f. 

Leber  843. 

Lehmann  219  f. 

Leibniz  81.  44.  54.  56.  86. 

98.  181  f.  189.  289.  299. 

306.  319.  323.  332.  494. 

501. 
Lenz  871.  406.  420. 
Lessing  81.   38  f.  56.  99. 

130.  132.  139. 161  f.  319. 
Lichtenberg  178. 
Liebmann  246.  292. 
Lipsius  35. 

Locke  3L  38. 44. 66. 86. 98. 

131.  132.   152.  268.  290. 
300.  494  f.  497  f.  601  f. 

Lommatzch  366. 
Lösche.)  401. 
Lotze  9.  17.  299. 
Lubowski  348. 
Lttdemann  33.  35. 
Luthardt   388.    400.   401. 

405  f.   408  f.   411.  416. 

419.  471. 
Luther   196.    306.   312. 

351-492. 
Lfitkens  406.  I 


Maeterlinck  294.  306. 
MaiiAon  157  1 
Maier,  H.  825. 
Medicus  54.  89.  103.   121. 

125. 
Melanchthon  66. 
Mendelssohn  43.  67.  151. 

289. 
Menzer  209.  824  f. 
Michaelis  34. 
Mill,  J.  St.  232.  266.  288. 
Moleschott  265. 
Montaigne  297.  806. 
Montesquieu  149. 
MüUer,  Joh.  262.  267.  268. 

270.  496. 
van  Mons  308. 
Musschenbroek  384. 

Napoleon  I.  196. 197.  296. 
Natorp  214  f.  217  1220  ff. 

231  f.  285  f.  248  1  826. 
Newton  276.  280.  808. 
Nietzsche  222.   294.   296, 

528. 
Nikolovius  821. 

Oettingen  388. 
Oerstedt  804. 
Oken  804. 

Pascal 

Paulsen  38.  39.   41.   146. 

359.  360.  391. 
Paulus  877.  883.  402.  406. 
Persius  320.  341.  685. 
Pestalozzi  214.  224.  886. 

241.  248. 
Piaton  76.  108  f.  208.  817. 

218.  301.  495. 
Plessing  56. 
Poincaré  888. 
Pope  318. 
du  Prel  302. 
Priestley  224. 
Protagoras  494.  495. 


87 


m 


Baioke  61.  66.  78.  7?  1 

84.  89.  68.  106  ft  416. 

114  ft    187.   188.   161. 

164.  166.189.  1441146. 

149.151.178.17411771 

806.  888  ff.  607. 
8dd884i 

BAimanii  86.  88.  V^ 
B«in  888  1  886.  8«1  1 
BdnlMfd  186.  141 
Beiiiliold64.166.a67.618. 

606.618. 

Bmn65.  66. 

Biokert  18.  84.  86.  116. 

444. 
Bi0hl854. 
Riamimn  877. 
Btjhdc  886. 
Bitelü  144.  4<X>. 
^QMnki^ni  681.  888. 660. 
Booa^a  89.  48.  86.  106. 

118.  184  1  184.  149. 
Bnskiii,  J.  296. 

Sabatier  35. 
Salwttrck  213. 
Singer  21.  29.  140.  152. 
SoheUing  17. 121. 140. 159. 

168.    177  ff.    185.    193. 

261  f.  272.293.299.  301. 

806.  511. 
Schüler  9.  198  f.  280.  286. 

294.  311.  317.  319.  320. 

439. 
Scbleiermacher  15.  27.  49. 

73.    94.    112.    140.    152. 

193.  2  3  f. 


SdüOtcer  48.  106. 
SolinM  848. 
Schmidt  884. 
Sehneider  886. 
SchOokh  86. 
Sehopenhanar   7.    808 1 

861.  87L  888.  800.  806. 

868.  485.  44s.  446.  60a 

504.  515. 
Sohabert  881. 
Schalte,  Fr.  Alb.  87. 
Schiilie(AeneatdemM)157. 
Schweiteer  80.  81.  88.  6}. 

41.  78.  152. 
Seinlar  87.  78.  128. 
Shafteabozy  41.  180.  586. 
Shakeapeare  800. 
Sigwart  9. 
Simmel  88 
Smith  47.  149. 
Sokratea  109.  298. 
SOmering  60.  688. 
Spencer  80a  808. 
Spener,  C.  612. 
Spener,  J.  886. 
Spinosa  89. 108.  17&  198. 

493. 
Stammler  216.  825. 
Stattler  547  ff. 
Staudinger  214. 
Stäudlin  60.  58.  63. 100  ff. 
Strauss,  D.  Fr.  369.  375. 
Stumpf  324. 
Swedenborg  303  ff. 

Tauler  357. 

Tetens  508. 

Thomas  330. 

Thomas  von  Aquino  359. 


Thnkydidee  ig|. 

Titius  861  H 

Tol^i84. 

ToriedU886. 

Troeltadi  860. 

Tmcfot  118. 181.  m.  MI 

Vsener  118. 

TaUen  884. 

Yaihiiiger    88.  141.  1«. 

178.  809.  816. 
Vogt^K.  865. 
Vogt,Th.«8|. 
Voltaire  56.  86. 89. 88.161 

119. 184. 18a  184.  m. 

149.  179. 

Weber  189  1 
Wegelin  47.  106. 
Weiaa  186.  144. 
Weisse  861. 
de  Wette  140. 
Wil]ii|ani|,0.888.»4.8fr. 

886.888.  845. 
Windelband  91.  108.  8S5. 

406.  444. 
WissQwa  3^ 
Wolff  37.  138.  88a 
WöUner  62.  71. 196.812  t 
Wolke  319. 

Zeller  384.  600. 
ZiUer  228. 
Zöllner  388. 
Zoroaster  17% 


BégÎ4tAr. 


677 


Besprochene  Kantische  Schriften. 


tokdanken  von  der  wahren  Schätzung 
der  lebendigen  Kräfte  etc.  (1747) 
276.  294.  832. 

TCTntersuchong  der  Frage,  ob  die  Erde 
in  ihrer  Umdrehung  um  die  Axe, 
wodurch  sie  die  Abwechselung  des 
Tages  und  der  Nacht  hervorbringt, 
einige  Veränderung  seit  den  ersten 
Zeiten  ihres  Ursprungs  erlitten  habe 
(1767)  334. 

Die  Frage,  ob  die  Erde  veralte,  physi- 
kalisch erwogen  (1764)  334. 

Allg.  Naturgeschichte  u.  Theorie  des 
Himmels  etc.  (1766)  386  ff. 

Keditationum  quarundam  de  igne  suc- 
cincta  delineatio  (1766)  338. 

Principiorum  primorum  cognitionis 
metaphysicae  nova  dilucidatio  (1756) 
338. 

Ton  den  Ursachen  der  Erderschütte- 
mngen  bei  Gelegenheit  des  Unglücks, 
welches  die  westlichen  Länder  von 
Europa  gegen  das  Ende  des  vorigen 
Jahres  betroffen  hat  (1766)  176.  338. 

Cheschichte  und  Naturbeschreibung  der 
merkwürdigsten  Vorfälle  des  Erd- 
bebens, welches  am  Ende  des 
1766  sten  Jahres  einen  grossen  Teil 
der  Erde  erschüttert  hat  (1756)  338. 

Fortgesetzte  Betrachtung  der  seit  eini- 
ger Zeit  wahrgenommenen  Erder- 
schtttterungen  (1766)  338. 
lietaphysicae  cum  geometria  junctae 
usas  in  philosophia  naturali,  cuius 
specimen  L  continct  monadologiam 
physicam  (1766)  339. 
^eue  Anmerkungen  zur  Erläuterung 
der  Theorie  der  Winde  (1766)  839. 

Beobachtungen  über  das  Gefühl  des 
Schönen  und  Erhabenen  (1764)  615. 

Xritik  der  reinen  Vernunft  (1781)  10. 
18.  29.  168  ff.  164  f.  176.  186.  263. 
269.  284.  327  f.  440.  604.  612. 

Prolegomena  (1783)  327.  638  ff. 


Idee  zu  einer  allgemeinen  GheschichtQ 

in  weltbürgerlicher  Absicht  (178^ 

60.  105.  118.  126.  29a 
Rezensionen  von  J.  G.  Herders  Ideen 

zur  Philosophie  der  Geschichte  der 

Menschheit  (1786)  49.  118. 
Grundlegung    zur    Metaphysik    der 

Sitten   (1786)  327.  429.  433.  436  f. 

444.  456  f.  469.  472. 
Mutmasslicher  Anfang  der  Mensoheo- 

geschichte  (1786)  81.  86.  106. 
Was  heisst  sich  im  Denken  orientieren 

(1786)?  44.  105. 
Metaphysische     Anfangsgründe     der 

Naturwissenschaft  (1786)  177.  327. 
Kritik  der  praktischen  Vernunft  (1788) 

29.  182.  429  ff.  433  ff.  440  ff.  460  ff. 
Kritik  der  Urteilskraft  (1790)  8.  17  f. 

30.  177.  327.  440. 

Ober  eine  Entdeckung,  nach  der  irfle 
neue  Kritik  der  reinen  Vamimft 
durch  eine  ältere  entbehrlich  ge- 
macht werden  soll  (1790)  85. 

Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen 
der  blossen  Vernunft  (1783)  87  ff. 
55  ff.  62  ff.  65  ff.  70  ff.  80  ff .  86  f. 
90  ff .  96  f.  106.  116  ff.  127  ff.  138. 
140  ff.  177.  326.  327.  448  ff .  466  ff . 
462  ff.  467  ff. 

Ober  den  Gemeinspruch:  das  mi^  in 
der  Theorie  richtig  sein,  taugt  fber 
nicht  für  die  Praxis  (1793)  62. 

Das  Ende  aller  Dinge  (1794)  82f.  96. 186. 

Über  Philosophie  überhaupt  (1794) 
92  ff.  326. 

Zum  ewigen  Frieden  (1796)  81.  88. 112. 
126.  214. 

Von  einem  neuerdings  er^qbeneu  vor- 
nehmen Tone  in  der  Philotopbit 
(1796)  44.  88  f. 

Die  Metaphysik  der  Sitten  (1797)  177. 

Der  Streit  der  Fakultäten  (1798)  89. 
66.  69  f.  67.  73.  78.  86.  87  ff.  105. 
134  ff.   170.  327.  461  ff.  468  f.  467. 


678 


Register. 


Anthropologie  in  pragmatischer  Hin- 
sicht (1796)  44.  68.  104.  126.  188. 
886.  826  f. 

Logik  (1800)  886.  828. 

Physische  Geographie  (1602)  826.  388. 

Pftdagogik  (1608)  181.  218  ff. 

Opus  postumum  62. 108. 169. 172  f.  176. 
179. 


Lose  Bl&tter  (Beicke)  86,  65.  73.  7«  & 

88  f.  92  f.  98.  105  ff.  118  ff.  131.186. 

141.  145  f.  148  ff.  176  ff.  607. 
Reflexionen  (Erdmann)  62.  78.  100  ft 

115.  127  ff.  148.  176. 
Briefe  41  ff.  51  ff.  54  ff .  60  ff.  64  ft 

98.  161  f.  311  ff.  316  f.  324. 


Verfasser  besprochener  Novitäten. 


Apel  660. 

Busse  619. 

Christiansen  646. 
Cohen  627. 

Beasoir  556. 
Dietcgen  566. 

grdmann  528. 

Falckenberg  681. 
TVeudenthal  624. 
IViedmann  662. 

Haber  561. 


Jerosalem  68a 

Kaftan  621. 
Kaiweit  569. 
Katser  568. 
Koppelmann  564. 
Kûhnemann  522. 
Külpe  529. 

laebmann  526. 
Lipps  622. 

Martins  529. 
Menzer  556. 
Messer  664. 


Hatorp  628. 
Neumann  560. 

Picavet  657. 

Riehl  526.  547. 

Schmid  668. 

Walter  619. 
Wernicke  569. 
Windelband  520. 


Verzeichnis  der  Mitarbeiter. 


Aall  535-537. 
Apel  560—561. 
T.  Aster  821—341. 

Bauch  196— 2ia  351-492. 

Friedmann  662—663. 

€>ille  555-566. 

Bemann  165—195. 
Hiokson  547-^58. 
Hnber  561—562. 

Kmlirat  659—660. 
K<^pelmann  664—665. 


Ktthnemann  246—260. 
laebmann  1—3. 

Medicos  645-547.  66&M7. 
Messer  564. 

M eunann  660. 

Pauken  286—291. 

Renner  518—534. 
Biehl  261—285.  488—617. 
Bunie  292-806. 


fikhmid  307-320.  56^^64. 
SitEler  538—639. 
Standinger  211—246.  566 

-567. 
Sülze  553—665. 

Troeltsch  21—154. 

Taihinger842-360.63»-M4. 

Weber  568. 
Wernicke  669. 
Windelband  5— »l 


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